Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintretenkönnen, müssen wir noch eine Reihe von Nachwahlenzu Gremien durchführen. Die Fraktion der CDU/CSUhat mitgeteilt, dass der Kollege Leo Dautzenberg ausdem Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabili-sierungsfondsgesetzes ausscheidet. Als sein Nachfolgerwird der Kollege Klaus-Peter Flosbach vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannist der Kollege Flosbach hiermit gewählt.Es wird ferner vorgeschlagen, den Kollegen Klaus-Peter Flosbach auch zum Nachfolger des KollegenDautzenberg im Verwaltungsrat bei der Bundesanstaltfür Finanzdienstleistungsaufsicht zu wählen. Neuesstellvertretendes Mitglied soll die Kollegin AntjeTillmann werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägenebenfalls einverstanden? – Auch das ist offenkundig derFall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt.Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt vor, dieKollegin Ingrid Nestle zum ordentlichen Mitglied imBeirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität,RedeGas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen unddie Kollegin Kerstin Andreae zum stellvertretendenMitglied zu wählen. Sind Sie auch mit diesen Vorschlä-gen einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die bei-den Kolleginnen gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Die öffentliche Diskussion über die Falsch-und Nichtunterrichtung des Deutdestages durch den Bundesvertenister zu Vorfällen in der Bundesw
zungen 27. Januar 20110.30 UhrZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 24Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelBas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBesserer Schutz vor Krankenhausinfektionendurch mehr Fachpersonal für Hygiene undPrävention– Drucksache 17/4452 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für GesundheitZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Schlaglochchaos beenden – Kommunale Fi-nanzen stärkenZP 4 Vereinbarte DebatteTunesien – Jetzt Grundlage für stabile Demo-kratie schaffenZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichtextKelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDAusbau der erneuerbaren Energien inDeutschland und Europa sicherstellen– Drucksache 17/4527 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-/DIE GRÜNENas Energiezukunft erneuerbar und si-estaltenschen Bun-idigungsmi-ehrNIS 90Europcher g– Drucksache 17/4544 –
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9712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie damiteinverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 bauf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNationaler Bildungsbericht 2010 – Bildung inDeutschlandundStellungnahme der Bundesregierung– Drucksache 17/3400 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten PriskaHinz , Katja Dörner, Kai Gehring, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBildungsberichte nutzen – Bildungssystem ge-rechter und besser machen– Drucksache 17/4436 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibtes Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dannist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Bundesministerin Professor Dr. AnnetteSchavan das Wort.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der Nationale Bildungsbe-richt, den Bund und Länder zum dritten Mal vorlegen,enthält zentrale Botschaften zur Leistungsfähigkeit desBildungssystems in Deutschland, zeigt Perspektiven un-seres Bildungssystems im demografischen Wandel undgeht auf die wichtigsten Problemlagen ein. Zusammenmit der zuletzt vorgestellten PISA-Studie kann er auchals so etwas wie eine Bilanz über zehn Jahre Bildungsre-form in Deutschland gewertet werden.Beide Studien zeigen, dass die Reformbemühungenzu positiven Ergebnissen führen. Ich sage vor allem mitBlick auf unsere Schulen: Wer immer den Eindruck er-weckt, dass sich in diesen zehn Jahren nichts veränderthat, der ignoriert die Anstrengungen in unseren Schulen.Anstatt anzufangen, uns über Bildungspolitik zu streiten,sollten wir den vielen Lehrerinnen und Lehrern an die-sen Schulen für ihre erheblichen Anstrengungen danken,die in den letzten Jahren zu Verbesserungen geführt ha-ben.
Wir wissen zugleich, dass es Problemlagen gibt, mitdenen wir uns schon geraume Zeit befassen und bei de-nen wir noch nicht am Ziel sind. Auch deshalb räumt diechristlich-liberale Koalition der Bildungs- und Hoch-schulpolitik Priorität ein und setzt Schwerpunkte dort,wo wir noch nicht gut genug sind. Ich appelliere aus-drücklich an die Länder, es ebenso zu tun. Bildungspoli-tik muss überall Priorität haben, braucht nicht immerneue ideologische Debatten, braucht nicht immer neueAlleingänge, die den Bürgern gar keine Chance mehr ge-ben, den Überblick zu behalten. Vielmehr muss alles,was in der Bildungspolitik in Deutschland geschieht, mitmehr Gemeinsamkeit unter den Ländern, mehr Ver-gleichbarkeit und dem konsequenten Abbau von Mobili-tätshindernissen verbunden sein.
Die zentralen Botschaften des Nationalen Bildungs-berichts lauten kurz zusammengefasst: mehr Krippen-und Kindergartenplätze, mehr Ganztagsschulen, bessereSchulleistungen in Mathematik, den Naturwissenschaf-ten und auch bei der Lesekompetenz, deutlich mehr Stu-dienplätze, mehr Ausbildungsplätze, weniger Schulab-brecher. Genau mit diesen Themen haben wir uns in denletzten Jahren befasst. Genau dazu haben Bund und Län-der eine Qualifizierungsinitiative gestartet. Sie zeitigterste Erfolge. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
Diese Stichworte – ich könnte noch mehr nennen; ichsage aber nur noch wenige Sätze dazu – zeigen auch:Wir können vor allen Dingen Erfolge sehen, wo sichBund und Länder jenseits von Parteigrenzen und jenseitsaller möglichen ideologischen Kämpfe durchgerungenhaben, zu gemeinsamen Strategien zu kommen.Ich nenne beispielhaft Bildung und Betreuung vor derSchule. Das Krippenprogramm – alle haben miteinandergerungen und es dann durchgesetzt – führt dazu, dass inDeutschland so viele Erzieherinnen wie noch nie zuvorin den Kitas tätig sind. Oder: Jede zweite Schule im Pri-mar- und Sekundarbereich in Deutschland ist bereitseine Ganztagsschule. Die Zahl der Schülerinnen undSchüler, die eine solche Schule besuchen und an den An-geboten teilnehmen, hat sich verdoppelt.Deutschland gilt in der OECD als ein Land mit signi-fikanten Verbesserungen in der mathematischen und na-turwissenschaftlichen Bildung. Darüber hinaus liegt unsallen besonders am Herzen, dass die Zahl der Schulab-
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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brecher kontinuierlich sinkt. Wir wollen eine konse-quente weitere Verringerung, weil wir wissen, dass derSchulabschluss für jeden Jugendlichen die Eintrittskartefür eine Ausbildung ist. Deshalb müssen wir das schaf-fen. Deshalb haben wir uns das mit Priorität vorgenom-men. Deshalb gibt es Bildungsketten, Bildungslotsenund viele andere Programme, damit in Deutschland jederJugendliche die Voraussetzung hat, um eine gute Ausbil-dung zu beginnen.
Wenn wir uns an die Debatte über den Ausbildungs-markt vor sechs bis sieben Jahren erinnern, ist jedem,auch jedem Fachpolitiker, klar, dass sich die Situationgrundlegend verändert hat. Es gibt wesentlich mehr Aus-bildungsplätze und durch die demografische Entwick-lung weniger Bewerbungen. Also liegt der Schwerpunktdes Ausbildungspakts jetzt – auch das ist übrigens einegemeinsame, ressortübergreifende Initiative von Bundund Ländern – auf der Qualifizierung, damit sich jederJugendliche erfolgreich auf eine Ausbildungsstelle be-werben kann. Das gesamte Potenzial auszuschöpfen, istein ganz wichtiger Beitrag mit Blick auf den Fachkräfte-mangel. Der Qualifizierung gilt vor allen weiteren Maß-nahmen der Zuwanderung unsere besondere Verantwor-tung. Die Verantwortung dieses Parlaments, dieserRegierung und jeder Landesregierung besteht darin, da-für zu sorgen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu-nächst eine gute Chance für Ausbildung und Studiumbekommt.
Ich habe in dieser Woche die Bilanz des Hochschul-pakts gezogen. Die erheblichen Bemühungen der Länderund des Bundes tragen Früchte. Statt geplanter90 000 Studienplätze sind es 180 000 geworden. Studie-ren ist attraktiv. Noch nie haben so viele junge Leute inDeutschland studiert wie im Moment. Wir sind bei46 Prozent. Jeder hier im Haus erinnert sich daran, dasswir uns jahrelang das Ziel gesetzt haben, die 40-Prozent-Marke zu erreichen. Jetzt stehen die Universitäten voreiner anspruchsvollen Aufgabe, zumal aufgrund derAussetzung der Wehrpflicht zusätzliche Studienanfängerkommen. Ich sage es auch an dieser Stelle: Wir lassendie Studierenden nicht im Stich. Jetzt ist es wichtig, alleAnstrengungen zu unternehmen, damit diese positiveEntwicklung auch in den nächsten Jahren weitergehenkann.Zum deutlich gewachsenen Interesse am Studium ha-ben ganz gewiss auch die deutlichen Verbesserungen beider Studienfinanzierung beigetragen. Ich nenne dasBAföG, das Deutschlandstipendium und das Aufstiegs-stipendium. Die Studierenden, die jungen Leute spüren,dass die Grundlagen für die Finanzierung ihres Studiumsvielfältiger, elterneinkommensunabhängiger und damitfür sie attraktiver geworden sind. Auf diesem Weg wer-den wir weitergehen.
Dessen ungeachtet zeigt der Bericht, wo wir nochbesser werden müssen, welche Problemlagen wir ab-bauen müssen. Das alles überragende Thema ist die Ent-koppelung von sozialer Herkunft und schulischer Leis-tung.
Die Überwindung von Bildungsarmut, das ist unser gro-ßes Thema.
– Schön, dass jetzt die Kollegen von der SPD klatschen.
– Herr Schulz, ich wollte gerade sagen, dass das erstaun-lich ist, weil die damalige rot-grüne Bundesregierung,als sie über Regelsätze nachgedacht hat, die Bildungschlicht vergessen hat.
Ich finde es bedauerlich, dass das, worüber am meis-ten geredet wird, wenn es um das Handeln geht, schlichtignoriert wird.
Deshalb sage ich auch: Wenn wir das jetzt korrigieren– das tun wir gerade; die Kollegin von der Leyen sowiedie Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen arbei-ten im Vermittlungsausschuss daran –,
dann sollten Sie wenigstens aufhören, zu blockieren. Wirwollen das korrigieren. Hören Sie auf, das Zustande-kommen des Bildungspakets weiter zu verzögern!
Die Überwindung von Bildungsarmut ist kein gutesThema für Rhetorik.
Es müssen Fakten geschaffen werden.
Helfen Sie deshalb mit und hören Sie auf, zu blockierenund zu feilschen! Vergessen Sie nicht, dass Sie selbst da-mals gar nichts zuwege gebracht haben!
Wir werden über das Bildungspaket hinausgehend mitAllianzen für Bildung Bildungspartnerschaften vor Ortauf den Weg bringen, weil für uns völlig klar ist, dass dieGruppe der Kinder, die mit Risikolagen leben und des-
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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halb eine schwierigere Bildungsbiografie haben, weitüber die Gruppe der Hartz-IV-Kinder hinausgeht. Des-halb werden wir in den nächsten Wochen in Kooperationmit Sportvereinen, Bibliotheken, der Stiftung „Lesen“,den Einrichtungen der kulturellen Bildung und mit vie-len anderen Partnern Allianzen für Bildung vor Ortschaffen. Wir wollen eine gesellschaftliche Bewegungfür Bildung mit dem Ziel einer besseren Bildungsteil-habe. Bildung ist nicht nur eine Frage des Staates. Dasist auch eine Anfrage an unsere Gesellschaft, die einebildungsbegeisterte und bildungshungrige Gesellschaftwerden muss.
Wir werden die Integration durch Bildung weiter ver-stärken. Nehmen Sie die Akzente, die wir im Bereich derfrühkindlichen Bildung setzen – ihr Erfolg ist augen-scheinlich –: die flächendeckende Sprachförderung, dieErzieherinnenfortbildung, die Häuser der kleinen For-scher. Jedes Kind hat Talente. Wir wissen, je stärker wirunsere Kindertagesstätten bei der frühkindlichen Bil-dung unterstützen, umso besser werden die Vorausset-zungen zu Schulbeginn sein und umso größer ist dieChance, dass sich die Bildungsbiografien der Kinder gutentwickeln.Das Thema Weiterbildung wird uns auch aufgrunddes demografischen Wandels in den nächsten Jahrenstärker beschäftigen als in der Vergangenheit. DerSchwerpunkt des Nationalen Bildungsberichtes ist dasBildungssystem im demografischen Wandel. Der demo-grafische Wandel wird vor allen Dingen bei Standortfra-gen im ländlichen Raum Konsequenzen haben. Wirbrauchen Veränderungen in der beruflichen Bildung. Wirmüssen von der Spezialisierung der Ausbildungen wegund hin zu den Berufsfeldern. Das werden wir im Laufedes Jahres angehen. Wir werden dafür sorgen müssen,dass der Hochschulpakt weiterentwickelt wird. Wir wer-den sehr genau beobachten, wie mit der demografischenRendite in den Ländern umgegangen wird. Es ist wich-tig, dass das Geld trotz rückläufiger Schülerzahlen wei-testgehend im System bleibt. Wir halten am 10-Prozent-Ziel für Bildung und Forschung in den nächsten Jahrenfest.
Alle Akteure im Bildungssystem – der Bund befindetsich da in einem guten Dialog mit einer Reihe von Län-dern – werden darauf achten müssen, dass die Wege hinzur Bildungsrepublik Deutschland zu mehr Leistungsfä-higkeit, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Vergleichbarkeitund zu weniger Alleingängen führen. Eltern müssen sichdarauf verlassen können, dass ihre Kinder, egal wo siezur Schule gehen, ob in Hamburg, in Dresden oder inBerlin, vergleichbare Leistungen, vergleichbare Bil-dungsabschlüsse und vergleichbare Schulmaterialien ha-ben. Das muss in einer globalen Welt so sein, und das istauch eine Frage der Gerechtigkeit.Deshalb lade ich Sie parteiübergreifend ein: LassenSie uns – dies hat sich in mancher Region in Deutsch-land schon bewährt – mit möglichst viel Konsens dieWege hin zur Bildungsrepublik Deutschland gestalten.
Das Wort hat jetzt der Minister für Bildung, Wissen-
schaft und Kultur des Landes Thüringen, Christoph
Matschie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Das ist die dritte Auflage des Bildungsbe-richts. Er zeigt nicht nur den aktuellen Zustand, sondernauch die zentralen Herausforderungen; Sie haben daseben erwähnt. Demografischer Wandel, Fachkräftebe-darf, Integration, Bildung als soziale Frage – es mangeltwahrlich nicht an neuen Herausforderungen, die wir an-packen müssen.Die Bundesregierung hat Antworten formuliert. Siehat die Bildungsrepublik ausgerufen und eine Qualifizie-rungsoffensive mit den Ländern gestartet. Das eine oderandere gemeinsame Programm ist sicher gut auf demWeg.
Wenn man der Bundesregierung dafür ein Zeugnis aus-stellen müsste, würde wahrscheinlich darin stehen: Siehat sich bemüht.
Die Frage ist nur: Reicht das aus? Die Hauptlast der Bil-dung tragen Länder und Kommunen. Deutlich über90 Prozent aller Aufwendungen für Bildung sind Auf-wendungen von Ländern und Kommunen. Der Bundträgt 7,8 Prozent. Deshalb sage ich hier ganz klar unddeutlich: Frau Kollegin Schavan, neue Sonderpro-gramme des Bundes, die die Bildungspolitik in Randbe-reichen der Bildung vorantreiben sollen, helfen nicht inallen Fällen. Manchmal mutet das an, als würden Sieversuchen, im Winterdienst auf der Autobahn mit demHandwagen das Streusalz zu verteilen. Nein, Frau Kolle-gin Schavan, wir brauchen eine andere Art von gemein-samer Bildungsanstrengung, wenn wir Bildung inDeutschland voranbringen wollen.
Die Sonderprogramme haben auch das Problem, dass sieauf äußerst unterschiedliche Situationen in den Bundes-ländern stoßen. Sie wissen ganz genau: In einem Bun-desland liegt der Schwerpunkt vielleicht auf der Schul-entwicklung, für die zusätzliche Mittel benötigt werden;in einem anderen Bundesland sind es gerade die Kinder-gärten oder die Hochschulen. Sonderprogramme nivel-lieren diese unterschiedlichen Entwicklungen, die in denBundesländern vorangetrieben werden müssen.Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen, beidem jeder Experte nur noch mit dem Kopf geschüttelthat. Sie haben im Rahmen der Qualifizierungsoffensivevorgeschlagen, lokale Bildungsbündnisse mit 1 MilliardeEuro zu fördern; das klingt erst einmal gut. Aber dassder Bund jetzt plötzlich versucht, über Schulvereine lo-
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Minister Christoph Matschie
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kale Bildungsbündnisse zu organisieren, haben alle Ex-perten als abenteuerlich eingeschätzt.
Das Gleiche gilt für Ihr eben angesprochenes Bildungs-paket. Frau Kollegin Schavan, es geht nicht darum, einsinnvolles Bildungspaket zu blockieren, sondern es gehtdarum, ein sinnvolles Bildungspaket überhaupt erst aufden Weg zu bringen.
Schauen Sie sich doch noch einmal an, was vorge-schlagen war. Da sollte eine Chipkarte oder ein Bil-dungsgutschein ausgeteilt werden. Ich frage michmanchmal, wie lebensfremd eigentlich die Vorstellungensind, die Sie in Ihrem Hause ausbrüten. Wie lebensfremdist das denn! Es hilft doch keinem Kind, wenn ich ihmeine Chipkarte oder einen Bildungsgutschein in dieHand drücke. Das Einzige, was wirklich hilft, ist, Struk-turen vor Ort zu verbessern,
ganztägige Angebote zu machen und mehr Sozialarbei-ter in den Schulen vorzuhalten. Darum geht es doch.Jetzt greife ich Ihr Angebot auf, 1 Milliarde Euro inlokale Bildungsbündnisse zu stecken. Warum nehmenSie nicht diese 1 Milliarde Euro und investieren sie inmehr Sozialarbeiter in den Schulen? Wir würden dieSchulentwicklung auf einen Schlag wirklich voranbrin-gen können.
Aber nein, genau an dieser Stelle blockiert bisher IhreKollegin Frau von der Leyen die Gespräche. Ich glaube,man kann zu einer sinnvollen Vereinbarung zum Bil-dungspaket kommen. Das setzt aber auch voraus, dasswir die Lebenswirklichkeit der Menschen ernst nehmenund nicht Programme ins Leben rufen, die über dieKöpfe hinweggehen und am Ende niemandem etwasnutzen.Der Bildungsgipfel und das 10-Prozent-Ziel sindeben noch einmal angesprochen worden. Die Länder ha-ben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen un-ternommen, um den Anteil ihrer Bildungsausgaben anden Gesamthaushalten zu steigern. 1995 machten dieBildungsausgaben 29 Prozent in den Gesamthaushaltender Länder aus. 2008 waren es 34 Prozent. Ich sage aberauch: Die Länder geraten hier an die Grenzen ihrer Mög-lichkeiten. Ich will das einmal am Beispiel eines Bun-deslandes wie Thüringen deutlich machen. Wir habenzusätzliche Mittel in die Hand genommen, um in dieKindergärten zu investieren. Über 100 Millionen Eurozusätzlich fließen in den Ausbau der Kindertagesstätten-infrastruktur, und das tun wir trotz schwieriger Haus-haltslage.Nun schaue ich mir an, was in den nächsten Jahrenauf ein Bundesland wie Thüringen zukommt. Nach dermittelfristigen Finanzplanung werden die Einnahmendes Landes aus Steuern, aus Bundeszuweisungen, ausSolidarpaktmitteln und aus europäischen Strukturfonds-mitteln von 9 Milliarden Euro in diesem Jahr auf etwa7,5 Milliarden Euro im Jahre 2020 sinken. Das heißt,Thüringen und andere neue Bundesländer müssen in denkommenden Jahren mit sinkenden Haushaltseinnahmenoperieren. Gleichzeitig sind wir verpflichtet – und daswollen wir auch –, die Schuldenbremse des Grundgeset-zes bis 2020 einzuhalten. Nun frage ich Sie: Wie sollman angesichts einer solchen Situation in den Ländernaus eigener Kraft die Bildungsfinanzierung ausweiten?Es wird nicht funktionieren, Frau Kollegin Schavan. Dahilft auch keine schöne Rede, mit der Sie hier mehr Ge-meinsamkeit einfordern. Da hilft nur eines: dass sich derBund endlich dazu bekennt, die Länder stärker bei derBildungsfinanzierung zu unterstützen. Das ist der Weg,den wir gehen müssen.
Ich sage deshalb hier ganz deutlich: Der Bildungsgip-fel im vergangenen Jahr ist klar gescheitert. Er ist ge-scheitert, weil die Bundesregierung nicht bereit war, dieLänder bei dieser Aufgabe stärker zu unterstützen. Siekönnen doch nicht ernsthaft versuchen, die Bildungspro-bleme in Deutschland zu lösen, indem Sie immer neueSonderprogramme auf den Weg bringen, anstatt die Län-der in ihrer Kernaufgabe zu unterstützen. Ich darf Sie andieser Stelle vielleicht daran erinnern,
dass Sie es waren, Frau Schavan, die im Zusammenhangmit der Föderalismusdebatte darauf bestanden hat, dassdie Länder noch mehr Kompetenzen in der Bildung be-kommen, dass noch weitere Rahmenkompetenzen vomBund abgezogen werden. Ich glaube – und ich sage dashier sehr deutlich –, dass die Entscheidung falsch war, sovorzugehen; das sage ich auch als Ländervertreter. Wirbrauchen in der Bundesrepublik Deutschland mehr ge-meinsame Rahmenbedingungen für die Bildung. Nur sokönnen Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit wirklichgarantiert werden.
Wir brauchen einen neuen Bildungsgipfel, und zwareinen Bildungsgipfel, der ehrliche Antworten gibt, derehrliche Antworten gibt auf die offenen Finanzierungs-fragen, der ehrliche Antworten gibt auf die Kompetenz-verteilung zwischen Bund und Ländern. Uns helfenkeine neuen Sonntagsreden, mit denen Gemeinsamkeitbeschworen wird. Ja, ich will, dass wir diese Aufgabegemeinsam anpacken; denn es geht darum, über die Zu-stände im Bildungssystem zu diskutieren und Lösungenzu finden, statt sich über Zuständigkeiten zu streiten.Das geht aber nur, wenn sich der Bund endlich bewegt.Also sorgen Sie dafür, Frau Schavan, dass ein neuer Bil-dungsgipfel einberufen wird und dass der Bund die Län-der bei der Finanzierung unterstützt! Diese Forderungwird von allen Ländern klar artikuliert. Die Länder brau-chen höhere Steueranteile, um dann diese Mittel in dieBildung investieren zu können. Machen Sie endlichErnst mit Ihren Sonntagsreden und helfen Sie den Län-dern bei ihrer Kernaufgabe Bildung!
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Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMinister Matschie, Sie haben sich bemüht.
Ich habe gerade gedacht, dass ich hier wirklich in derfalschen Veranstaltung sitze. Wir müssen in diesem Landklar anerkennen, welche Bildungsleistungen wir hier ge-meinsam erbringen. Diese Bundesregierung hat wiekeine andere Bundesregierung vor ihr Bildungsinvesti-tionen auf den Weg gebracht. Die Ausgaben für Bildungund Forschung werden in dieser Legislaturperiode um12 Milliarden Euro gesteigert; das ist die größte Steige-rung, die es in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland je gegeben hat.
Das ist eine Leistung, die anerkannt werden muss.
Wir können sehr gerne darüber diskutieren, was letz-tes Jahr beim Bildungsgipfel gut und was schlecht gelau-fen ist. Sie haben hier Ihre Sichtweise dazu dargelegt.Ich erinnere mich sehr gut an den Bildungsgipfel im letz-ten Jahr. Ich erinnere mich sehr gut, wer auf diesem Bil-dungsgipfel blockiert hat: in erster Linie die sozialdemo-kratisch regierten Länder, an vorderster Stelle Sie, HerrMatschie. Das ist Realität; das muss klar angesprochenwerden. Ein Bildungsgipfel kann nur dann zu einem Er-folg führen, wenn Bund und Länder bereit sind, aufei-nander zuzugehen, und nicht, wenn auf beiden SeitenBlockaden aufgebaut werden.
Es ist wichtig und richtig, dass wir hier darüber disku-tieren – das ist ein Ergebnis der Einführung des Nationa-len Bildungsberichtes –, wie wir die Finanzbeziehungenstärken können, mit welchen Maßnahmen wir das 10-Pro-zent-Ziel erreichen können. Aber eines kann und darfnicht sein: Während der Bund Investitionen tätigt, schaf-fen Länder, beispielsweise Nordrhein-Westfalen, vonsich aus die Studiengebühren ab – das kostet in Nord-rhein-Westfalen 250 Millionen Euro jährlich – und erhe-ben am gleichen Tag die Forderung an den Bund, für dieKosten, die durch die Abschaffung entstehen, einzu-springen und die entsprechenden Gelder zuzuweisen. Sodarf Bildungspolitik in diesem Land nicht laufen.
Zu den lokalen Bildungsbündnissen. Ich bin derMinisterin und der Regierungskoalition sehr dankbar,dass wir eine Debatte darüber führen, wie wir die ge-samtgesellschaftlichen Kräfte dieses Landes in einer Al-lianz für Bildung zusammenbringen können, damit es inden Regionen und insgesamt vernetzte Angebote gebenkann. Dort, wo ehrenamtliche Arbeit in Schulförderver-einen geleistet wird, wo Elternarbeit in besonderemMaße geleistet wird, müssen wir sie stärken; dort, wodas noch nicht der Fall ist, müssen wir die Menschen ak-tivieren. Das ist die Aufgabe der Politik: Wir müssen alldiejenigen stärken, die sich zusammen mit uns auf denWeg machen. Das ist in lokalen Bildungsbündnissenmöglich. Sie sind integraler Bestandteil einer erfolgrei-chen Bildungspolitik dieser Bundesregierung.
Man sollte den Nationalen Bildungsbericht – da esder dritte ist, kann man schon von einer Tradition spre-chen – kritisch betrachten. Man sollte schauen, an wel-chen Stellen wir Dinge auf den Weg gebracht haben. Ichfinde, es war ein tolles Zeichen, dass wir nach unserenBeratungen, die 2001 und 2002 im Deutschen Bundestagstattgefunden haben, trotz verschiedener Anträge – amAnfang stand der Antrag der FDP aus dem Jahr 2001 –am Schluss gemeinsam die Einführung eines NationalenBildungsberichts beschlossen haben. Damit können wirimmer wieder gemeinsam überprüfen, an welchen Stel-len wir stärker vorangehen müssen, an welchen Stellenes gut läuft und wo wir wirklich noch eine Schippenachlegen müssen. Ich sage es einmal so: Schon derZeitpunkt, zu dem wir diese Debatte führen, stellt einepositive Veränderung dar. Der erste Nationale Bildungs-bericht ist nachts um 2.30 Uhr aufgerufen worden. Heutesind wir in der Kernzeitdebatte. Vielleicht ist das auchein Zeichen dafür – jedenfalls würde ich mir das wün-schen –, dass die Bildung im Zentrum der gesellschafts-politischen Diskussion angekommen ist.
Ein Bildungsbericht muss aber auch Raum dafür las-sen, darüber nachzudenken, wo noch Verbesserungs-möglichkeiten für die Zukunft gegeben sind. Es ist rich-tig, dass wir noch sehr viel intensiver und kritischer aufall die Entwicklungen schauen müssen, bei denen wirVerbesserungen brauchen. So sehr wir uns darüberfreuen, dass die Zahl der Schulabbrecher rückläufig ist:Es ist trotzdem notwendig, immer wieder gemeinsamdarüber zu diskutieren, was möglich ist. Wir haben dieChance, gemeinsame Anliegen nach vorne zu bringen.Ein Nationaler Bildungsbericht muss aber auch dieEckpunkte dafür liefern. Beispielsweise war eines derzentralen Ergebnisse aller PISA-Untersuchungen derletzten Jahre, dass es einen unmittelbaren Zusammen-hang zwischen der Eigenverantwortung von Bildungsein-richtungen einerseits – der Eigenverantwortung von Schu-len, der Eigenverantwortung von Hochschulen, derEigenverantwortung von Kindergärten – und dem Bil-dungserfolg andererseits gibt. Deshalb wünsche ich mir,dass der Grad der Eigenverantwortung – was geleistetwird und wo wir uns noch auf den Weg machen müssen –endlich Bestandteil des Nationalen Bildungsberichtes
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Patrick Meinhardt
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wird. Denn mehr Bildungsfreiheit vor Ort zu schaffen, isteine Kernbotschaft aller PISA-Ergebnisse. Das muss sichauch endlich im Nationalen Bildungsbericht widerspie-geln.
Zoni Weisz hat uns vorhin in seiner sehr bewegendenRede als eine Botschaft seines Lebens weitergegeben,dass nur Bildung und Entwicklung der Weg in eine guteZukunft sind. Was er vorhin für sich selbst in sehr beson-derer Art und Weise beschrieben hat, muss auch dieGrundlage für uns hier in der Bundesrepublik Deutsch-land sein.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort für die Fraktion der Linken hat jetzt der
Kollege Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Recht,Herr Meinhardt, haben Sie auf die Worte von HerrnWeisz hingewiesen. Mich hat es auch beeindruckt, dasser gesagt hat: Die zentrale Frage bei den Entwick-lungschancen von Kindern ist die Bildung. – Aber dieSituation in Deutschland ist so, dass Sie ein klares Um-denken fordern müssen, statt sich in irgendeiner Formbestätigt zu sehen.
Der Bildungsbericht nennt drei Risikolagen: Arbeits-losigkeit der Eltern, geringes Einkommen der Eltern undschlechte bzw. keine Berufsausbildung. Der Bildungsbe-richt sagt: Diese drei Problemlagen setzen sich dann beiden Kindern fort. Aber er sagt nicht, was eigentlich ge-plant ist, wirksam dagegen zu tun. Das ist unsere Kritik.29 Prozent der 13,6 Millionen Kinder in Deutschland– das sind 4 Millionen Kinder – befinden sich in einerder drei Risikolagen. 29 Prozent der Kinder! Ich bitteSie, darüber nachzudenken.
Darunter sind 1,1 Millionen Kinder von Alleinerziehen-den; das ist fast die Hälfte der Kinder von Alleinerzie-henden. Darunter sind 1,7 Millionen Kinder mit Migra-tionshintergrund; das ist fast die Hälfte der Kinder mitMigrationshintergrund. Die Situation bezüglich der Risi-kolagen hat sich nicht geändert unter der Regierung vonSPD und Grünen, nicht geändert unter der Regierungvon Union und SPD und nicht geändert unter der Regie-rung von Union und FDP. Die Problemlagen sind überalldie gleichen geblieben.
Sie können das ganz einfach sortieren: Kinder vonreichen Familien gehen in der Regel auf höhere Schulenoder auf Privatschulen, Kinder armer Familien habendiesbezüglich viel schlechtere Chancen.Was übrigens auch interessant ist: In der Weiterbil-dung setzt sich das fort. Nichterwerbstätige oder Leutemit geringer Bildung haben viel schlechtere Chancen aufWeiterbildung als andere. Das System, das, wenn man sowill, schon in der Kindertagesstätte beginnt, setzt sichalso bis zum Ende des Lebens fort. Ich möchte auf dieUnterschiede in der frühkindlichen Bildung hinweisen.Die Angebote im Osten sind viel verbreiteter als die An-gebote im Westen. Das hat etwas mit der Geschichte zutun. Es wird höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass die Zahlder Kindertagesstätten in den alten Bundesländern min-destens so hoch ist wie in den neuen Bundesländern, ob-wohl auch dort ausgebaut werden muss.
Jetzt gibt es ein Gesetz, das besagt: Für 35 Prozentder Kinder müssen bis 2013 Kitaplätze entstanden sein.Heute glaubt wohl so gut wie keiner mehr daran, dassdas zu schaffen ist. Nicht einmal die Hälfte der Jugend-ämter geht davon aus, dass Sie das wirklich realisieren.Warum wird hier viel zu wenig getan?Das Entscheidende ist und bleibt die soziale Un-gleichheit. Sie setzt sich fort. Ich habe hier vor kurzemgesagt: Zwischen den Chancen zweier Neugeborener lie-gen tausend Welten. – Nur, Neugeborenen kann mannoch nichts vorwerfen. Nicht einmal die FDP kann ihnenLeistungsdefizite vorwerfen;
sie sind ja gerade erst herausgekommen und haben nochnichts gemacht. Ich sage Ihnen: Für linke Politik ist einganz entscheidendes Ziel, Chancengleichheit für Kinderzu erreichen, und zwar gerade und in erster Linie auch inder Bildung.
Herr Matschie, was Sie wahrscheinlich nicht mitbe-kommen haben: Dass der Bund für die Schulbildungnicht mehr zuständig ist, liegt an einer Grundgesetzände-rung, mit der der Rest seiner Zuständigkeit gestrichenwurde. Diese Grundgesetzänderung kam aber nur durchdie Stimmen von Union und SPD zustande; sonst gäbees sie gar nicht. Hier wäre also Selbstkritik in jeder Hin-sicht angesagt.
Das Kooperationsverbot ist übrigens völlig falsch; dassehen inzwischen selbst Bildungspolitiker der Union so.Nun möchte ich drei konservative Thesen aufstellen.Wissen Sie: Ich bin ja nicht konservativ. Aber ich bin einLogiker. Ich finde, selbst konservative Thesen müsstenin sich logisch sein.
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9718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Dr. Gregor Gysi
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Ihre erste These lautet: Die Deutschen haben zu we-nige Kinder. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber einesweiß ich: Sie haben es nicht handwerklich verlernt.
Das heißt, Sie von der Union müssten einmal über dieGründe nachdenken.Ihre zweite These lautet: Wir brauchen einen flexi-blen Arbeitsmarkt. Das heißt, die Lehrerin und der Ar-chitekt müssen immer dorthin gehen, wo sie gerade ge-braucht werden. Sie wohnen also einmal in Thüringen;wenn sie einen Job in Bayern kriegen, gehen sie nachBayern; dann gehen sie nach Schleswig-Holstein, unddann gehen sie nach Berlin. Sie müssen immer ganz fle-xibel sein und umziehen.Jetzt füge ich Ihre beiden Thesen zusammen: DiesesPaar hat drei Kinder und soll ständig umziehen, weilbeide am Arbeitsmarkt flexibel sein sollen. Erklären Siemir doch einmal, wie Ihre dritte These dazu passt: dasswir Wettbewerb brauchen und deshalb, weil wir16 Bundesländer haben, 16 verschiedene Schulsystemehaben. Das heißt, dass sich diese Eltern, die Sie geradeüberall herumschicken, gegenüber ihren Kindern völligverantwortungslos verhalten müssen. Bringen Sie dochwenigstens eine Logik in Ihre Politik! Dann müsstenauch Sie sagen: Das mit den 16 Schulsystemen läuftnicht.
Jetzt will ich es konkret machen: Nehmen wir einmalan, ein Kind aus Bayern beginnt gerade mit der sechstenKlasse und zieht nach Berlin um.
Dieses Kind war schon im Gymnasium und muss in Ber-lin wieder in die Grundschule gehen – leicht abenteuer-lich.
Aber – passen Sie auf! – der umgekehrte Fall ist nochschlimmer: Ein Kind aus Berlin zieht zu Beginn dersechsten Klasse nach Bayern, kommt dort auf ein Gym-nasium und hat im Vergleich mit den anderen Kindernzunächst gar keine Chance, weil die das Gymnasiumschon ein Jahr lang kennengelernt haben, das Kind ausBerlin aber aus der Grundschule kommt.
Jetzt komme ich zum zweiten Beispiel – da sehen Sienicht so gut aus –: Ein Kind – sagen wir einmal, es ist inder neunten Klasse – zieht von Bayern nach Sachsen-Anhalt. Dieses Kind aus Bayern ist fremdsprachlich et-was besser ausgebildet. Aber es hat ein Problem: Eshatte noch nie Chemieunterricht; der beginnt in Bayernerst in der neunten Klasse. In Sachsen-Anhalt hattenaber alle Kinder schon seit der siebten Klasse, seit zweiJahren, Chemieunterricht. Das heißt, dieses arme Kindaus Bayern hat wegen Ihres komischen flexiblen Ar-beitsmarktes überhaupt keine Chance.
Sagen Sie mal: Was soll dieser ganze Unsinn?
Warum sind wir denn nicht in der Lage, ein Top-Bil-dungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayernzu schaffen, sodass man umziehen kann, ohne sich ge-genüber seinen Kindern verantwortungslos zu beneh-men?
Jetzt gibt es noch eine neue Perversion – das allesmuss man den Leuten erzählen –: private Agenturen, dieUmziehende bei der Wahl der richtigen Schule unterstüt-zen.
Ich bitte Sie! Wo soll denn das alles enden?
Jetzt kommt eines hinzu: Unsere 16 Bundesländersind unterschiedlich finanzstark. Wenn Sie sagen, es seireine Ländersache, dann sagen Sie ja, man könne Glückoder Pech haben. In einem reicheren Bundesland gibt esvielleicht mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter,mehr Lehrerinnen und mehr Lehrer, und in einem ärme-ren weniger. Interessant ist, dass es so direkt nicht funk-tioniert. Berlin ist vieles,
aber sehr arm im Vergleich zu Bayern. Bayern ist auchvieles, aber vor allen Dingen deutlich reicher. Trotzdemwird in Berlin pro Kind für Bildung mehr ausgegeben alsin Bayern. Darüber sollten Sie bei der CSU einmal nach-denken.
– Passen Sie auf! Ich liebe Bayern: schöne Landschaft,schöne Städte. Ich mag auch München. Aber eine Metro-pole kennen Sie nicht. Das können Sie nur in Berlin ken-nenlernen; das ist noch etwas anderes.
Das heißt übrigens, dass es bei den Ländern dochmehr um die Einstellung der Landesregierung zu Bil-dungsfragen als ums Geld geht, wobei das Geld natür-lich auch eine Rolle spielt, Herr Matschie. Die Grundge-setzänderung gab es nur mithilfe der SPD.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9719
Dr. Gregor Gysi
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Dann haben Sie die Schuldenbremse beklagt. Diesteht im Grundgesetz. Ohne die Stimmen der SPD gäbees sie gar nicht; ich muss das einmal ganz klar sagen.
So, und jetzt, Herr Matschie, werfen Sie es der FrauBundesministerin vor und sagen, sie solle das Geld andie Schulen schaffen und solle dort Sozialarbeiterinnenund Sozialarbeiter beschäftigen. Ja, toll! Das würde ichauch sagen.
Aber das Grundgesetz erlaubt das wegen der Änderung,die Sie katastrophalerweise mitgemacht haben, nichtmehr.
– Ich wollte ja, dass Sie sich aufregen. Dass mir das im-mer wieder gelingt, darauf bin ich schon ein bisschenstolz.
Aber nun zu den Hauptschulen. Ich sage Ihnen: DieHauptschulen sind ein einziger sozialer Skandal. EinKind, das zur Hauptschule geht, ist schon sozial ausge-grenzt. Es wird abgeschrieben. Weil der Druck so zu-nimmt, entscheiden sich jetzt fast alle Bundesländer,Hauptschulen und Realschulen zusammenzulegen. Ichsage Ihnen erst einmal, was dabei herauskommt; nurBeispiele. Wie heißt diese zusammengelegte Haupt- undRealschule in Deutschland, in den einzelnen Bundeslän-dern? Sekundarschule oder Mittelschule oder Ober-schule oder Regelschule oder verbundene Haupt- undRealschule
oder erweiterte Realschule oder Stadtteilschule oder Re-gionalschule oder Realschule Plus oder Mittelstufen-schule? Erklären Sie den Leuten diesen Schwachsinneinmal! Die wissen ja gar nicht, wohin sie ihre Kinderschicken sollen.
– Ja, das sage ich Ihnen gleich; das kann ich Ihnen gleichsagen. Zu meinen Konsequenzen komme ich noch.Die Hauptschülerinnen und Hauptschüler haben esbei der Zusammenlegung aber nicht leichter, weil sie ineine Hauptschulklasse kommen und damit genauso aus-gegrenzt und abgegrenzt bleiben wie früher.In Sachsen-Anhalt regieren übrigens Union und SPD.Erstmalig in diesem Jahr ist es dort so, dass die Zahl derSchulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschlussoder nur mit Hauptschulabschluss größer ist als die Zahlderjenigen, die mit Abitur abgehen. Das ist neu. Deshalbsage ich Ihnen: Es wird in Sachsen-Anhalt höchste Zeit,dass die LINKE regiert.
– Ich wusste, dass Sie sich darüber freuen.In Bayern und in Baden-Württemberg ist das abernicht neu. In Bayern und Baden-Württemberg ist das seitJahren so. Jetzt sage ich Ihnen nur die Zahl für Bayernvon 2009: Mit Hauptschulabschluss bzw. ohne jedenAbschluss verließen 44 552 Schülerinnen und Schülerdie Schule und mit Hochschulreife – einschließlichFachhochschulreife – nur 33 188. Auch das ist ein Skan-dal. Es ist der Beginn und die Fortsetzung der sozialenAusgrenzung.
Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Zeit jetzt weit
überschritten.
Gut, dann sage ich Ihnen als Letztes, was wir brau-
chen.
Noch einen Satz.
Ein letzter Satz: Wir brauchen bildungsträchtige Ki-
tas, eine Förderung jedes Kindes und Jugendlichen. Wir
brauchen Gemeinschaftsschulen, wie es sie schon in gro-
ßer Zahl in Berlin gibt.
Es ist gut, Herr Gysi.
Bringen Sie auch den Kindern aus reichen Familien
das soziale Leben bei! Isolieren Sie sie nicht, wie Sie das
organisieren.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Priska Hinz vonBündnis 90/Die Grünen.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Dass ich das einmal von der Seite höre,
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Priska Hinz
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finde ich irgendwie amüsant. Herzlichen Dank.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Gysi, Sie können, wortreich geschickt und rheto-risch gut, am Redepult ja immer Ungereimtheiten auf-zeigen, aber leider sind Ihre Vorschläge ganz zumSchluss dann gemessen daran doch etwas sehr schwach.
Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie hier ein paarmehr und besser fundierte Vorschläge machen.
Frau Schavan, durch den Bericht werden Verbesse-rungen aufgezeigt, die es im Bildungswesen gegebenhat; das ist richtig. In dem Bildungsbericht wird abernach wie vor auch aufgezeigt – ich finde, darum solltenwir uns insbesondere kümmern –, wo in DeutschlandBildungsungerechtigkeiten bestehen und wo Kinder vonder Teilhabe ausgegrenzt sind. Vor allen Dingen wirdaufgezeigt, dass es auch aufgrund der demografischenEntwicklung nottut, alle Anstrengungen für Qualifizie-rung zu unternehmen, und zwar in Bezug auf die ge-samte Bildungsbiografie, weil wir auf einen Fachkräfte-mangel zusteuern. Das ist wirklich das Gebot derStunde: Qualifizierung von der Kita bis zur Weiterbil-dung.
Ich möchte hier kurz eine aktuelle Debatte aufgreifen,weil Sie darauf eingegangen sind, Frau Ministerin, näm-lich auf das Bildungspaket, über das jetzt gerade imZuge der Hartz-IV-Reform verhandelt wird. Die Unionhat das alles damals im Vermittlungsausschuss übrigensmit ausgehandelt und im Bundesrat mit beschlossen.Deswegen müssen Sie sich hier nicht so aufplacken.Viel wichtiger ist aber der Vorschlag, der jetzt von derSozialministerin gemacht worden ist. Sie hat nicht nureinfach die Bildungschipkarte vorgeschlagen, sondernsie hat schlicht und einfach gedacht und gesagt: 10 Europro Kind für die Vereinstätigkeiten reichen aus. – Für in-dividuelle Förderung und für Bildungsteilhabe reicht dasaber nicht aus. Es ist notwendig, zu verhandeln, damitmehr Angebote schulnah gemacht werden können, so-dass wir zu Bildungspartnerschaften zwischen den Kom-munen, der Jugendhilfe und den Schulen kommen, damitdie Kinder tatsächlich individuell gefördert werden kön-nen.
Hier brauchen wir noch Bewegung; hier müssen Sienoch etwas dazutun.Gemäß dem Bildungsbericht befindet sich ein Drittelder Kinder noch in Risikolagen. Das ist das große Pro-blem der mangelnden Teilhabe. Wir brauchen hier bes-sere Kitas, eine gute frühe Förderung und bessere undnoch mehr Ganztagsschulen.Frau Ministerin, Sie sagen, 52 Prozent der Schulenseien Ganztagsschulen. 52 Prozent der Schulen habenAngebote im Ganztagsbetrieb, aber das sind noch keineGanztagsschulen in dem Sinne, dass die Vormittage undNachmittage verbunden sind und eine echte Lernförde-rung stattfindet. Hier besteht noch Nachholbedarf. Daswird aber nur funktionieren, wenn wir es schaffen, dassBund und Länder die Finanzierung gemeinsam stem-men.In diesem Sinne habe ich mich heute Morgen darübergefreut – gestern schon, aber heute Morgen war es öf-fentlich –, dass Herr Rupprecht im Deutschlandfunk er-zählt hat, dass die CDU/CSU jetzt auch dafür ist, dasKooperationsverbot zu lockern. Wunderbar!
Es ist natürlich falsch, dass die Bildungspolitikerinnenund Bildungspolitiker schon immer gegen das Koopera-tionsverbot waren. Richtig ist aber – deswegen bin ichnicht nachtragend –,
dass es gelockert werden muss. Insofern sollten wir jetzt,da alle Fraktionen im Bundestag dieser Meinung sind,doch gemeinsam an die Arbeit gehen.
Lieber Herr Bildungsminister aus Thüringen, Sie soll-ten dafür sorgen, dass die SPD-Ministerpräsidenten end-lich auch verstehen,
dass man zu einer gemeinsamen Förderung nur kommenkann, wenn man das Grundgesetz in diesem Punkt auchgemeinsam wieder ändert. Das ist Ihre Aufgabe. Dazuhaben Sie hier heute leider nichts gesagt.
Meine Damen und Herren, wir verschenken Bil-dungspotenziale bei Migranten in höchstem Maße.31 Prozent der jungen Menschen mit anderer Herkunftzwischen 20 und 30 Jahren haben keinen beruflichenAbschluss. 31 Prozent der 20- bis 30-Jährigen! Das isteigentlich ein Skandal für diese Bildungsrepublik.
Herr Rupprecht, das hat nichts mit Multikulti zu tun.
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Priska Hinz
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Es hat vielmehr etwas damit zu tun, dass wir geringqua-lifizierte Menschen ins Land geholt haben und dass esviele Jahre eine Familienideologie gab, die davon ausge-gangen ist, dass zum einen die Familien irgendwannwieder in ihre Heimat zurückkehren und Bildung inso-fern nicht so wichtig ist und dass zum anderen die Kin-der nicht den Familien entfremdet werden sollen.
Sie haben sich noch bis ins Jahr 2000 hinein gegenGanztagskindergärten und Ganztagsschulen gesträubt.Es ist wichtig, dass wir gute Bildungsangebote star-ten, und zwar von der frühkindlichen Bildung über dieSchule bis zu Ausbildungs- und Weiterbildungsmodulen,mit denen wir jungen Menschen eine zweite Chance bie-ten, sich zu qualifizieren und am Erwerbsleben teilhabenzu können.
Wir verschenken Bildungspotenzial bei Menschenmit ausländischen Bildungsabschlüssen. Die Ministerintourt seit eineinhalb Jahren durch die Bundesrepublikund kündigt ein Gesetz an, durch das alles besser werdensoll. Inzwischen machen Sie Gott sei Dank keine Ver-sprechungen mehr in der Frage, wann der Gesetzentwurfendlich vorgelegt wird. Denn bisher haben Sie jeden Ter-min platzen lassen und jedes Versprechen gebrochen.Wir verschenken aber nicht nur Zeit, sondern auchBildungspotenzial von Menschen, die qualifiziert sindund gerne hier in ihrem Beruf arbeiten wollen. Es tutdringend not, dass Sie endlich zu Potte kommen und unseinen Gesetzentwurf präsentieren, damit die Qualifika-tion dieser Menschen endlich anerkannt wird.
Es gibt aber auch ein Problem bei Jungen und jungenMännern, die zum Teil nicht in dem Maße an der Bil-dungsexpansion der letzten Jahre teilgehabt haben wiedie jungen Frauen. Mädchen sind gut in der Schule;Frauen sind in der Ausbildung oder im Studium gut.Junge Männer sind in höherem Maße unterqualifiziertund ohne beruflichen Abschluss. Ich glaube, dass hierzielgruppenspezifische Angebote notwendig sind unddass wir auch einen Gender-Blick auf die Schule richtenmüssen.
Wir müssen aber nicht nur für die Jungen im Bil-dungsbereich etwas tun, sondern wir müssen auch etwasfür die jungen Frauen tun, die gut ausgebildet in den Be-ruf kommen und dann entweder an die gläserne Deckestoßen, weil sie nicht ihrer Qualifikation entsprechendeingesetzt werden, oder nicht weiter arbeiten können,weil es an den Rahmenbedingungen – Ganztagskinder-gärten und Ganztagsschulen – fehlt.Die Familien- und Frauenministerin sagt, dass sie mitFeminismus nichts am Hut hat. Das mag zwar ihre per-sönliche Meinung sein, aber es ist ihre Aufgabe, sich fürdie Gleichberechtigung von Frauen einzusetzen. DieseAufgabe hat sie bislang sträflich vernachlässigt.
Herr Präsident, ich sehe das Signal. Ich komme zumSchluss. Schade, ich hätte noch einige gute Vorschlägezu machen.Ich hoffe, dass wir den Bildungsbericht nicht nur ein-mal im Ausschuss behandeln, sondern auch, wie in denVorjahren, eine Anhörung dazu durchführen. Er ist es al-lemal wert, dass wir ihn uns zu Gemüte führen und unsmit der Frage befassen, welche politischen Handlungs-möglichkeiten wir aufgrund dieses Berichtes haben undwo wir bei entsprechenden Vorschlägen zusammenkom-men können.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Die Ministerin hat in ihrer Rede deutlich ge-macht, dass es nach zehn Jahren Bildungsreform an derZeit ist, Bilanz zu ziehen. Der Dank an die Bildungsbe-teiligten – Lehrer, Erzieher und andere, die in der Bil-dung aktiv sind – ist richtig; das muss unterstrichen wer-den. Es ist aber für uns im Bundestag auch an der Zeit,nach fünf Jahren Amtszeit der BildungsministerinSchavan Bilanz zu ziehen. Es ist eine gute Bilanz mitgroßen Erfolgen auch im Bildungsbereich.
Als junge Väter – es gibt einige jüngere Väter unteruns – mussten wir ein bisschen lächeln, als Herr Gysidas Thema Handwerk mit dem Kinderkriegen kombi-niert hat. Auch im Bildungsbereich kann man sagen: Esgibt ein Handwerk guter Bildungspolitik. Großes Mund-werk – gutes Handwerk: Das unterscheidet uns seit Jah-ren in der Bildungspolitik. Die Ergebnisse sind auch an-gekommen.
Es geht nicht nur um den Bildungsbericht, über denwir heute debattieren. Man kann auch auf die PISA-Er-gebnisse verweisen oder den Berufsbildungsbericht mitheranziehen. Wenn man sich das Gesamtkonstrukt an-schaut und sich fragt, was passiert ist, dann muss mansagen: Seit 2005 haben wir eine sukzessive, deutlichpositive Entwicklung hin zu einer Bildungsrepublik.
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Marcus Weinberg
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Wenn man sich die Leitlinien der verschiedenen Frak-tionen hier im Hause anschaut – da wird es doch etwaspolitisch –, dann muss man feststellen, dass es deutlicheUnterschiede gibt.
Für uns gilt: Mit den Maßnahmen, die wir ergriffen ha-ben, wollen wir eine Aufstiegsgesellschaft entwickeln,in der Chancengerechtigkeit mit Leistung kombiniertwird. Das ist der Unterschied zu Ihrem Bild von Bil-dung, Herr Gysi. Sie verfechten den Gleichheitsansatz,Sie wollen Gleichmacherei; wir aber wollen Chancenge-rechtigkeit und Leistung. Das unterscheidet unsere Leit-linien im Wesentlichen voneinander. Darin besteht dieAbgrenzung zu Ihnen.
Auch wir sind für Teilhabe und für Anerkennung. DieKollegin Hinz, mit der ich bald wieder befreundet seinwerde,
sprach vorhin vom Anerkennungsgesetz. Ja, auch wirwarten darauf. Im März möchten wir etwas sehen. In derHinsicht sind wir durchaus einer Meinung. Wir wollenauch – Herr Meinhardt hat das angesprochen –, dass dieVielfalt im Bildungssystem gestärkt wird und nicht dieGleichmacherei, wie andere das wollen.Wenn man das möchte und diesen Weg beschreitet,muss man zunächst einmal die finanziellen Mittel zurVerfügung stellen. Ich weiß, dass Sie es nicht mehr hö-ren können, ich sage es aber trotzdem noch einmal:12 Milliarden Euro zusätzlich werden bereitgestellt, imEtat 2011 11,65 Milliarden Euro für den Bereich Bil-dung. Verzeihung, liebe Opposition: Das sind 54 Prozentmehr als unter der letzten rot-grünen Regierung. Das istein deutlicher Unterschied. Hierauf haben wir die Priori-tät gesetzt.
Schauen wir uns an, wie sich das Konzept von Chan-cengerechtigkeit und Leistung in der Politik der Bundes-regierung konkretisiert! Bei der Vergabe der Bundesmit-tel werden insbesondere im Hochschulbereich diesebeiden Ziele verfolgt. Ich nenne die BAföG-Erhöhungund den Hochschulpakt mit den Ländern. Damit wird inKooperation mit den Ländern mehr jungen Menschendie Chance gegeben, zu studieren.
Auch wurde ein nationales Stipendienprogramm aufge-legt, um deutlich zu signalisieren, dass der Leistungsge-danke bei uns einen hohen Stellenwert hat. Das sind dieMaßnahmen.Jetzt kommen wir zum Ergebnis. Die Wirkung derMaßnahmen war, dass die Studienanfängerquote 200943 Prozent betrug.
Damit haben wir die Ziele deutlich übertroffen. Jetzt,nach fünf Jahren, kann man sagen: Frau MinisterinSchavan, darauf können wir aufbauen.
Richtig ist aber auch, dass wir im Bildungsbereich– auch das zeigt der Bildungsbericht – weiterhin vor gro-ßen Herausforderungen stehen. Bleiben wir bei den He-rausforderungen – da sind wir in diesem Hause weitest-gehend einer Meinung –: Ein großes Problem ist, dassjedes dritte Kind unter 18 Jahren in einer Risikofamilielebt und wir den Bildungserfolg noch nicht vom sozialenStatus der Familie lösen konnten. Trotzdem sei eine Zahlgenannt – ich beziehe mich auf PISA –: Es geht umLeistungsunterschiede im Lesen zwischen guten undschwachen Schülern. Wir haben es geschafft, die Zahlder schwachen Schüler von 22,6 Prozent auf 18,5 Pro-zent zu reduzieren. Das sind nach wie vor zu viele, aberdie Reformen wirken allmählich. Das spricht für eineVerbesserung im Bildungssystem. Oder schauen Sie sichdie Naturwissenschaften an! Der Anteil der Schüler mitgeringen Kompetenzen in den Naturwissenschaften – ichbeziehe mich wiederum auf die PISA-Studie – hat sichauf 14,8 Prozent reduziert. Der OECD-Durchschnittliegt bei 18 Prozent.Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, betref-fen insbesondere die soziale Herkunft und den Migra-tionshintergrund. Herr Gysi fragte, was wir denn ma-chen. Wir machen zwei Dinge: Wir fördern zielgenauerund früher. Es geht um den Ausbau im Bereich der Kin-dertagesbetreuung. Man sollte sich die Zahlen einmalanschauen und diese dann bewerten, Herr Gysi. Wir alsBund geben 4 Milliarden Euro dafür aus. Schauen Siesich den Bildungsbericht an! Die Bildungsbeteiligungder unter Dreijährigen ist um 7 Prozent gestiegen, beiden Zweijährigen hat sich die Bildungsbeteiligung von17 Prozent auf 30 Prozent deutlich erhöht. Mittlerweilesind 95 Prozent der Vier- und Fünfjährigen in der Bil-dungseinrichtung Kita.
Und wenn man dann als Minister hier ankommt undnur die Folie aufzieht: „Wir brauchen mehr Geld; derBund muss uns Geld geben, sonst schaffen wir das allesnicht“, dann muss ich sagen: Man muss auch seine ei-gene Verantwortung wahrnehmen. Ich kann für meinBundesland sagen: Wir haben damals den Etat im Be-reich der Kindertagesbetreuung von 300 Millionen Euroauf über 460 Millionen Euro erhöht. Damit haben wir ei-nen Schwerpunkt gesetzt. Für solche Maßnahmen hatein Minister – in diesem Falle ein Senator – die Verant-wortung.
Wir im Bund haben die Länder bei der frühen Förderungunterstützt. Wir erwarten von den Ländern aber auch,dass sie die Maßnahmen umsetzen. Es geht nicht, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9723
Marcus Weinberg
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sie das Geld nehmen und gleich neue Forderungen stel-len.
Ein nächster Schritt wird sein – das gilt gerade für denBereich der frühen Förderung –, von der Quantität zurQualität zu kommen. Von der Ministerin wurde bereitsdas „Haus der kleinen Forscher“ angesprochen. Die Me-dienkompetenz wird gestärkt. Ich erinnere daran, dass400 Millionen Euro über vier Jahre hinweg in die früh-kindliche Sprachförderung investiert werden. Das heißt,auch hier hat der Bund Akzente gesetzt, früher und ziel-genauer zu fördern.Wir wollen mehr Männer in den Kitas und möchten,dass die Tagespflege qualitativ ausgebaut wird. Um dieszu erreichen, haben wir mit dem Aktionsprogramm„Kindertagespflege“ und dem Programm „Mehr Männerin Kitas“ bedarfsorientiert und zielgenauer gehandelt.Auch zu dem großen und umfangreichen Bereich desAusbildungsmarktes könnte man noch Stellung nehmen.Die Verlängerung des Ausbildungspaktes, in den wir dasThema Migration aufgenommen haben, zeigt, dass wirdie Probleme und Herausforderungen erkannt haben unddass wir sie sukzessive lösen bzw. dass wir uns ihnenstellen.Bleibt als Fazit – Herr Präsident, ich komme zumSchluss –: Dieser Bildungsbericht dokumentiert stärkerals alle anderen Bildungsberichte, dass wir in der Bun-desrepublik in der Bildung insgesamt vorangekommensind. Da haben auch die Länder gut gearbeitet. Er doku-mentiert aber eines insbesondere, nämlich dass wir inden letzten fünf Jahren auf Bundesebene neue Impulsehin zu einer Aufstiegsgesellschaft erlebt haben. DieBundesregierung wird diesen Weg weitergehen, aller-dings nicht im Sinne der Opposition, sondern im Sinneder jungen Menschen. Ihnen müssen wir über Leistungs-und Chancengerechtigkeit eine Chance geben. DiesenWeg werden wir weitergehen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dr. Rosemarie Hein von der Fraktion Die
Linke.
Herr Weinberg, Sie haben gerade die Leistungsgerech-
tigkeit angesprochen und uns vorgeworfen, wir seien für
Gleichmacherei. Nun muss ich Ihnen aber sagen: Das
Schulsystem, das Sie präferieren, bietet weder Leistungs-
gerechtigkeit, noch ist es chancengerecht; es ist nicht ein-
mal chancengerecht und chancengleich schon gar nicht.
Wenn nämlich ein Viertel der Hauptschülerinnen und
Hauptschüler und ein Viertel der Realschülerinnen und
Realschüler genauso gut auf der jeweils höheren Schul-
form sein könnte, wie die PISA-Studie dies nachweist,
dann hat das mit Leistungsgerechtigkeit überhaupt nichts
zu tun. Wenn man aber in einer Gemeinschaftsschule, wo
man nach der vierten Klasse nicht aussortiert und ent-
scheidet, wen man hierhin oder dorthin verortet, eine
wirklich individuelle Förderung einführt, dann ist das
keine Gleichmacherei, sondern ein ganz individuelles
Eingehen auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und
Möglichkeiten jedes einzelnen Kindes. Das ist viel weni-
ger Gleichmacherei als das, was Sie mit Ihren drei Schul-
formen machen.
Was die frühe Förderung und Ihren Vorschlag betrifft,
man müsse jetzt von der Quantität zur Qualität kommen
– einmal abgesehen davon, dass uns auch bei der Quanti-
tät noch ein ganzes Stück fehlt –, gebe ich Ihnen selbst-
verständlich recht. Aber das werden Sie nicht mit
Sprachförderungsprogrammen hinbekommen, sondern
das bekämen Sie nur mit mehr besser ausgebildeten Er-
zieherinnen und Erziehern hin. Zwar hat die CDU/CSU
im letzten Haushalt ein Programm für mehr Erzieher in
Kindertagesstätten aufgelegt, aber unseren Vorschlag,
das auch für Erzieherinnen zu tun, haben Sie gestern im
Ausschuss abgelehnt. Da frage ich Sie schon, wie Sie
das mit der Qualität meinen.
Herr Kollege Weinberg, zur Erwiderung.
Als Hamburger – dort wollten wir einmal eine Schul-form mit einer sechsjährigen gemeinsamen Schule aufden Weg bringen – kann ich nur Folgendes sagen: Hin-sichtlich der Einheitsschule muss man die Frage stellen,wie man im Bildungsbereich mit Heterogenität in der Ge-sellschaft, mit Migration und mit immer weiter auseinan-derklaffenden Bildungsbiografien umgeht. Da ist der An-satz falsch, zwanghaft zu sagen, alle Kinder müssten ineiner Einheitsschule unterrichtet werden. Vielmehr mussman sie individueller fördern. Da stimme ich Ihnen zu; dasind wir gar nicht weit auseinander.
Dann entwickeln sich doch Schulsysteme.
Als Hamburger kann ich sagen: Wir haben noch eineZweigliedrigkeit. Wir haben eine sogenannte Stadtteil-schule – Herr Gysi hat es dankenswerterweise vorgele-sen –, und wir haben auch das Gymnasium. Es gelingtuns bestens, die Heterogenität der Gesellschaft genau indiesen Schulformen widerzuspiegeln, auch bei der Fragevon Talenten und Begabungen. Deswegen muss manaber nicht zwanghaft Einheitsschulen entwickeln, nurweil man das Motto hat: Ich will Gleichheit schaffen, wokeine Gleichheit ist.
Wir sprachen von Chancengerechtigkeit. Die Grund-lage für Chancengerechtigkeit wird im frühkindlichenBereich geschaffen. Da muss man mehr investieren, undda braucht man auch mehr Qualität. Zwar ist auch mehrQuantität erforderlich, aber im frühkindlichen Bereich
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9724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Marcus Weinberg
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braucht man in den nächsten Jahren zunächst einmalmehr Qualität, um später Chancengerechtigkeit zu er-möglichen.Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher habenSie selbst angesprochen. Die Bundesregierung hatProgramme aufgelegt, um auch die Länder dabei zuunterstützen, so beispielsweise das Aktionsprogramm„Kindertagespflege“, dessen eine Säule sich auf die Qua-lifizierung in der Kindertagespflege bezieht.Wir alle haben im Ausschuss eines gesagt: Wir disku-tieren gerne darüber, wie wir den Ländern finanzielleMittel bereitstellen und wie wir sie mit Kooperationenunterstützen können. – Das alles ist richtig. Aber einesmuss man auch sagen: Die Länder haben weiterhin dieVerantwortung. Alle Fraktionen – außer Ihrer Fraktion –haben das hinsichtlich Ihres Antrags auch kritisch be-merkt. Wir wollen, dass die Länder sich an diesem Punkteinbringen, dass sie Geld investieren. Wir, der Bund,werden das Ganze weiterhin begleiten und zielgenau för-dern; aber wir sind nicht diejenigen, die kompensato-risch Aufgaben der Länder übernehmen können.
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat, derBildungsbericht zeigt, dass wir wesentliche Verbesse-rungen im Bildungswesen erreicht haben; das muss manals Allererstes positiv bemerken. Das ist zunächst dasVerdienst all derjenigen Bürgerinnen und Bürger, diesich im Bildungswesen engagieren,
in Kitas, in Schulen, in Hochschulen, bei der beruflichenAusbildung. Ihnen gebührt zuallererst unser Dank.
Der Bildungsbericht ist ein Stück weit eine politischeBilanz, und zwar in erster Linie der Arbeit der GroßenKoalition; schließlich können die Daten, die in diesemBildungsbericht verarbeitet werden, so frisch, so aktuellnicht sein. Darin zum Ausdruck kommen auch Weichen-stellungen, die wir unter Rot-Grün vorgenommen haben.Zu der Bilanz gehört das, was gut gelaufen ist, aber auchdas, was mit neuen Herausforderungen verbunden ist,bzw. all die alten Probleme, die wir noch nicht ganz lö-sen konnten.Die Debatte über einen solchen Bildungsbericht istder richtige Zeitpunkt, um Schritt für Schritt zu prüfen,was die neue Regierungskoalition von CDU/CSU undFDP tut, um den beschriebenen Herausforderungen ge-recht zu werden. Das will ich einfach einmal systema-tisch tun.Es wird der Bereich der frühkindlichen Bildung ange-sprochen. Der Bericht würdigt Verbesserungen. DieseVerbesserungen haben wir unter Rot-Grün begonnen undin der Großen Koalition fortgeführt. Dieser Bericht be-sagt – ich zitiere –:Um das Ziel eines bundesdurchschnittlichen Platz-angebots von 35 Prozent für unter 3-Jährige bis2013 zu erreichen, sind allerdings noch erheblicheAnstrengungen notwendig … Insgesamt müssen …weitere Qualitätsverbesserungen der Kindertages-einrichtungen erreicht werden.Wir haben entsprechende Konzepte. Wir wollen mehrund verbesserte frühkindliche Bildung. Wir wollen zumBeispiel eine gebührenfreie Kindertagesstätte, damitkeine Hürden aufgebaut werden. Was macht die Regie-rungskoalition von CDU/CSU und FDP? Fast nichtsüber das hinaus, was wir in der Großen Koalition verein-bart haben. Das Einzige, worauf sie besonders Wert legt,ist das berühmte Betreuungsgeld. Ich will noch einmalsagen: Das ist wirklich Irrsinn.
Sie wollen Eltern dafür Geld geben, dass sie ihre Kindernicht in eine Bildungseinrichtung schicken. Das ist derfalsche Weg. Frau Schavan, Herr Kollege Weinberg,wenn Sie sagen, wie wichtig die frühkindliche Bildungist, dann frage ich Sie: Warum schreiten Sie an dieserStelle nicht ein? Warum verfolgen Sie da keinen ver-nünftigen Kurs?
Stichwort „Schule“: Es gibt eindeutig Verbesserun-gen; das hat auch die PISA-Studie, die wir bereits debat-tiert haben, gezeigt. Wir haben unter Rot-Grün ein Ganz-tagsschulprogramm auf den Weg gebracht, das erheblichdazu beigetragen hat. Gleichwohl gibt es noch einiges zutun. Im Bildungsbericht heißt es:Eine zentrale Herausforderung bleibt der nach wievor zu hohe Anteil an Schülerinnen und Schülern,die ohne Abschluss die Schule verlassen.Etwa ein Drittel der Kinder sind in sogenannten Risiko-lagen. Wir von der SPD wollen dahin kommen, dasswirklich alle optimal gefördert werden.
Wir haben vorgeschlagen, dass es an allen SchulenSchulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter gebensoll. Wir wollen hin in Richtung Ganztagsschulen.Was macht diese Regierungskoalition? Sie verweigertsich dem.
Wir sehen das jetzt gerade im Vermittlungsausschuss:Die zuständige Ministerin von der Leyen blockiert
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9725
Swen Schulz
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Schulsozialarbeit. Ich habe Sie, Frau Schavan, im letztenJahr im Ausschuss gefragt: Was ist mit dem ThemaGanztagsschulen? Planen Sie da eine Initiative? Sie ha-ben gesagt: Nichts gibt’s. – Das ist Arbeitsverweigerung.Das kann so nicht bleiben.
Stichwort „berufliche Ausbildung“: Es gibt eine Ent-spannung auf dem Ausbildungsmarkt. In diesem Berichtheißt es zu Recht:Die Verbesserung der Ausbildungsmarktsituationgibt allerdings keinen Anlass zur Entwarnung.Insofern haben politische Bemühungen um beruflicheIntegration der Jugendlichen nichts an Aktualität einge-büßt. Wir von der SPD haben noch mit unserem damali-gen Arbeitsminister Olaf Scholz die Förderung, die Un-terstützung von Jugendlichen, die in Schwierigkeitensind, ausgeweitet. Wir haben ein Recht auf das Nachho-len eines Schulabschlusses verankert. Was macht dieseRegierungskoalition? Sie streicht die Qualifizierungs-maßnahmen zusammen, und sie will das Recht aufNachholen eines Schulabschlusses kippen. Das ist derfalsche Weg. Das sind Rückschritte. So kommen wir inder Bildungsrepublik Deutschland nicht voran.
Mein nächster Punkt – man kann das tatsächlichPunkt für Punkt durchdeklinieren – ist die Hochschule.Es gibt mehr Studierende. Das ist wunderbar. Wir habenauch einiges dafür getan. Für die Ausweitung desBAföG und den Hochschulpakt haben wir in der GroßenKoalition die Weichen entsprechend gestellt. Aber zuRecht wird im Bildungsbericht darauf hingewiesen, dasses eine soziale Selektivität beim Übergang in die Hoch-schule gibt.Ein großer Teil der … Studienberechtigten, die sichgegen ein Studium entscheiden, betont neben demWunsch, möglichst bald selbst Geld zu verdienen,vor allem Finanzierungsprobleme … Hier zeigtsich, wie wichtig verlässliche Bedingungen der Stu-dienfinanzierung sind.Deswegen wollen wir das BAföG deutlich ausweiten.
Sie kleckern beim BAföG, klotzen aber bei den Stipen-dien, obwohl diese keine verlässlichen Rahmenbedin-gungen setzen.
Damit locken Sie niemanden, der finanzielle Schwierig-keiten hat, an die Hochschulen. Damit lösen Sie keineProbleme.In den letzten Jahren ist im Bildungsbereich tatsäch-lich eine ganze Menge erreicht worden. Doch anstatt da-ran anzuknüpfen, anstatt weiterzumachen, steuern CDU/CSU und FDP zusehends in die falsche Richtung. Ichwill gar nicht sagen, dass alles schlecht ist, was Sie ma-chen; das wäre übertrieben.
– Ja, ich möchte ganz fair Bilanz ziehen. Aber von demRichtigen machen Sie zu wenig, etwa beim BAföG, teil-weise machen Sie nichts – Thema Schulsozialarbeit undGanztagsschule –, und leider machen Sie häufig das Fal-sche wie beim Betreuungsgeld und dem Streichen derMittel für das Projekt „Zweite Chance“.Sie betonen, dass Sie eine Menge Geld im Etat zurVerfügung haben. Aber dieses Geld muss auch richtigausgegeben werden.
Herr Schulz.
Wir fürchten, dass Sie das gute bildungspolitische
Erbe schlichtweg verschleudern.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istschon erstaunlich, dass man heutzutage immer nochdenkt, dass man Schule ganz von oben, ganz zentral undganz allein regulieren kann. Ich denke, das ist effektivder falsche Weg. Im Moment haben wir 16 Bildungs-monarchien. Auch wenn wir eine einzige hätten – diesenzentralen Ansatz hat Herr Gysi vorgestellt –: Ich kannmir nicht vorstellen, dass ein solches Vorgehen wirklicherfolgreich sein kann.
Der Nationale Bildungsbericht bringt ein bisschenLicht, aber auch nicht mehr, in den Dschungel des deut-schen Bildungssystems. Diese aktuelle Bestandsauf-nahme zur Entwicklung des Bildungswesens machtdeutlich, vor welchen großen Herausforderungen wir an-gesichts des demografischen Wandels stehen. Bis 2025wird sich die Zahl der Schüler um 15 Prozent verringern,das heißt von 9 auf 7,3 Millionen fallen. In den Bal-lungsgebieten wird die Zahl vielleicht etwas steigen, inden ländlichen Gebieten hingegen wird sie dramatischsinken.Diese Entwicklung ist aber nicht nur in Deutschlandzu beobachten. Das Institut der deutschen Wirtschaftschrieb in dieser Woche:Zu den Megatrends, die für eine international starkverflochtene Volkswirtschaft wie die deutsche merk-liche ökonomische Auswirkungen haben, zählen
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9726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Sylvia Canel
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Wachstum und Alterung der Weltbevölkerung so-wie die Urbanisierung.Die Schlussfolgerung lautet dementsprechend:Volkswirtschaften und Unternehmen, die sich recht-zeitig darauf einstellen, werden zu den Gewinnernder Entwicklung gehören.Ich möchte gerne, dass Deutschland zu den Gewinnerngehört.
Wie stellen wir uns darauf ein? Der Nationale Bil-dungsbericht hat uns deutlich gezeigt, dass es positiveAnsätze gibt. Ich will sie nicht alle wiederholen, ichhabe auch nicht so viel Zeit. Es besteht jedoch deutlicherHandlungsbedarf: Zwar haben wir auf der einen SeiteFahrt aufgenommen und die Richtung stimmt, aber aufder anderen Seite hat die Zahl der Ungelernten einenneuen Höchststand erreicht. Das ist ein großes Problem.Der Abstand zwischen denen, die bestehende Angebotenicht annehmen und nicht erfolgreich nutzen können,und den anderen, die Erfolg haben, wächst stetig, dasheißt, wir haben eine edukative Schere, die stetig aus-einandergeht. Das können und das wollen wir uns in un-serer Gesellschaft nicht leisten.Der frühkindlichen Bildung kommt dabei eine ganzbesondere Rolle zu; denn die Potenziale aller Kindermüssen genutzt werden, und jedes, absolut jedes Kindhat ein Talent. Frühkindliche Bildung muss qualitativund quantitativ gestärkt werden. Hier liegt der Schlüssel.Denn ob Sprache, Bewegung, Musik, Gestaltung oderErziehung: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans schwe-rer, länger und manchmal überhaupt nicht mehr.Erfreulicherweise weist der Bildungsbericht für die-sen Bereich eine starke Dynamik aus. Dennoch decktdas Angebot nicht die Nachfrage. Die Qualität ist starkzu verbessern. Außerdem erhöht sich das Alter der täti-gen Fachkräfte weiter, während der Akademisierungs-grad leider gering bleibt. Der weitere Ausbau stellt daherauch künftig eine der größten Herausforderungen fürdiese Gesellschaft dar. Denn: Wir haben für alles Geld,aber in der frühkindlichen Bildung kommt es komischer-weise überhaupt nicht an.
Wer es mit der Chancengerechtigkeit, der Emanzipa-tion und der Wissensgesellschaft ernst meint, kommtnicht umhin, die frühkindliche Bildung zu professionali-sieren und endlich zu einem exzellenten Bildungsange-bot auszubauen.Meine Damen und Herren, das Kooperationsverbothat eine ganz komische Attitüde. Kooperationsverbotheißt nicht, dass die Länder untereinander nicht koope-rieren dürfen und zu Gemeinsamkeiten kommen können.
So hat es 60 Jahre gedauert, gemeinsame Bildungsstan-dards in der KMK zu entwickeln. Mit dieser Geschwin-digkeit können wir nicht erfolgreich sein.
Deshalb müssen wir in der Zukunft – meines Erachtenssollten wir in die Zukunft schauen, anstatt uns gegenseitigvorzuwerfen, was in der Vergangenheit versäumt wordenist – eine bessere Kooperation ermöglichen. Wir solltenVerbote aufheben und diese Kooperation nutzen, um ei-nen gemeinsamen nationalen Rahmen in Bezug auf dieBewertungsmaßstäbe, die Abschlussziele und die Bil-dungsstandards, die wir von den Schulen und allen ande-ren Akteuren verlangen, zu entwickeln.
Frau Canel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Dr. Sitte?
Ja, später; danach.
Nein, später ist das nicht mehr möglich, weil Ihre Re-
dezeit abgelaufen ist. Entweder jetzt oder gar nicht!
Na gut; wenn Frau Sitte das möchte, dann gerne.
Frau Canel, das ist nur ein Anfang, aber noch nicht
die Lösung. Sie haben jetzt über das Kooperationsverbot
und dessen Grenzen gesprochen. Ich hatte heute Morgen
das Vergnügen, Herrn Rupprecht, den bildungspoliti-
schen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, zum Thema
Kooperationsverbot zu hören. Er meinte, das Koopera-
tionsverbot habe sich nicht bewährt. Jetzt sprechen Sie
die gleiche Problematik an. Kann ich also davon ausge-
hen, dass in dieser Wahlperiode von der Koalition das
Kooperationsverbot gemeinsam mit den anderen Frak-
tionen hier aufgehoben wird?
Ich denke, dass das einer Debatte in diesem Hause be-darf.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9727
Sylvia Canel
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Ich stehe hier in erster Linie für mich sowie meine AGBildung und sage das, was ich als unabhängige Abge-ordnete hier auch sagen darf.
– Ja, gerne. – Für vernünftige Lösungen erwarten wir na-türlich auch Ihre Unterstützung.
Dann kommen Sie bitte auch zum Schluss, Frau
Canel.
Es ist sehr erfreulich, dass wir in diesem Punkt zuei-
nanderkommen. Es darf kooperiert werden. Die Hoheits-
rechte der Länder für die Bildung dürfen selbstverständ-
lich nicht angetastet werden, weil wir die Länder
brauchen, um eine gute Qualität sicherzustellen und bil-
dungsnah dort an den Problemen ansetzen zu können,
wo sie wirklich anfangen.
Außerdem ist – das haben wir im OECD-Bildungsbe-
richt gelesen – ganz dringend eine Eigenständigkeit der
Schulen erforderlich.
Vielen Dank. Bis zum nächsten Mal!
Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derbildungspolitische Eifer der unterschiedlichen Bundes-länder hat wahrscheinlich eine Ursache. Die Bildung istnämlich das letzte – und wichtigste – Feld, das den Län-dern überhaupt geblieben ist.Natürlich führt das zu einigen Blüten. Schauen wireinmal in mein Bundesland.
In Rheinland-Pfalz geht es ständig um Strukturdebatten.Eine Strukturreform wird von der nächsten gejagt. Bei-spielsweise wird die Hauptschule abgeschafft. Dabeiführt man aber keine besseren Strukturen ein. Vielmehrmacht man aus der Hauptschule die Realschule plus. DieKlassenmesszahl erhöht sich. Es gibt nicht genügend So-zialarbeiter und keine Aufstockung. Das ist die Proble-matik, mit der wir es zu tun haben.Ich komme auf ein Thema zurück, das schon ange-sprochen wurde. Wenn es um Bildungsinhalte geht,muss man sich um das kümmern, was wirklich wichtigist.
Unsere Chance liegt darin, dass wir gemeinsam das auf-greifen, was Ministerin Schavan vorgeschlagen hat,nämlich Deutschland Schritt für Schritt – also nicht vonheute auf morgen – zu einem Bildungsland zu machen,wo der Umzug in ein anderes Bundesland nicht die Wir-kung hat, als würde man den Kontinent verlassen.
Das ist eine große Chance. Die einzelnen Länder müssennatürlich darauf achten, dass sie zunächst einmal ihre ei-genen Hausaufgaben machen. Bevor also die SPD-Län-der fordern, dass der Bund einheitliche Standards vorge-ben soll, sollten sie zunächst ihre Hausaufgaben machen.
Ich schaue wieder nach Rheinland-Pfalz. Die Landes-regierung weigert sich als Einzige, vergleichbare einheit-liche Abschlüsse anzubieten
und sich gegenüber Anliegen der Arbeitgeber offen zuzeigen. Für die Arbeitgeber gleicht es nämlich manch-mal einem Lotteriespiel, sich auf die vermeintliche Qua-lifikation des Absolventen zu verlassen. Sie wissennicht, ob das Wissen, das mit dem Abschluss bescheinigtwird, auch tatsächlich vorhanden ist. Es ist aber nichtAufgabe der Kammern und der ausbildenden Unterneh-men, den Auszubildenden den Dreisatz sowie lesen undschreiben beizubringen. Wenn wir unter Beachtung derSubsidiarität, also einer Sichtweise von unten nach oben,nicht bereit sind, uns dem Vergleich zu stellen,
dann handelt es sich bei den Reden hier im DeutschenBundestag nur um Fensterreden. Sie lassen sich hier fürIhre Ideen feiern, aber blockieren in Ihren Bundeslän-dern letztlich das, was Fortschritt schafft.
Was letztlich zählt, ist das, was herauskommt. Es gehtnicht um die Struktur. Denn es ist doch unerheblich, wieder betreffende Schultyp heißt. Wichtig ist vielmehr, wasin der Schule passiert. Es ist wichtig, was am Ende he-rauskommt. An die Adresse des selbsternannten LogikersHerrn Gysi – ich sollte vielmehr sagen: Logistikers – willich sagen: Herr Gysi, tauschen Sie doch einmal Ihre Lo-gik gegen eine allgemeingültige Logik. Wenn Berlin proSchüler mehr Geld ausgibt als Bayern, aber dennoch we-niger dabei herauskommt, dann heißt die Gleichungdoch:
Wo die Roten ihre Ideologie hineinstecken, kommt trotzmehr Geld nicht mehr heraus. Das ist doch die Wahrheit.
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9728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Julia Klöckner
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Herr Matschie hat heute als Kultusminister im Deut-schen Bundestag gesprochen. Er hat aber nicht über Bil-dung, sondern über Geld geredet und angekündigt, dasssein Bundesland in den kommenden Jahren wenigerGeld für Bildung ausgeben wird.
Das ist nicht in Ordnung; das ist nicht richtig. Sozusagenmit Schallgeschwindigkeit immer nach Berlin zuschauen, zeigt, dass Sie überfordert sind.
In dieser Überforderung liegt die Chance der unions-regierten Länder. Ich bedanke mich bei den Unionslän-dern – sei es Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oderSachsen –, die sich darauf geeinigt haben, gemeinsamein Abitur zu entwickeln, das vergleichbar ist.
Wir wollen gemeinsam Bildungsstandards entwickeln.Wer das nicht will, will auch nicht die BildungsrepublikDeutschland.
Ich bin für einheitliche, vergleichbare Standards. Esgeht nämlich um den Rucksack, der den Kindern für einLeben mit gleichen Chancen gepackt wird. Aus diesemGrund ist die Bildungspolitik keine Spielwiese für dasAusprobieren von Ideologien.
Es geht jetzt um die Frage, wie wir es schaffen, dassdas, was für Kinder angedacht wird, auch bei ihnen an-kommt. Wer das Bildungspaket blockiert – Bildung istmehr, als nur in die Schule zu gehen – und auf Kostender Kinder Parteipolitik betreibt,
dem geht es nicht um die Sache, sondern um die Wir-kung und um Muskelspiele im Bundesrat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zukunft derKinder entscheidet sich nicht erst in der Schule. Die Zu-kunft der Kinder entscheidet sich bereits im Kindergar-ten und in den Kindertagesstätten.
Deshalb ist es wichtig, dass wir bei den Kindern schonim frühen Alter verbindliche Sprachtests einführen. Dasgilt nicht nur für Kinder aus Migrantenfamilien, sondernfür alle Kinder. Ich schlage vor, dass dies ab dem viertenLebensjahr geschieht, damit man zwei Jahre vor der Ein-schulung noch genügend Zeit hat, um kontinuierlich,aber vor allen Dingen auch individuell fördern zu kön-nen. Die Kinder sollen in der ersten Klasse nicht erstSprachhindernisse überwinden müssen, bevor mit demVermitteln des Lehrinhalts begonnen werden kann.
Da müssen Sie sich öffnen. Herr Gysi, hier wünsche ichmir, dass Berlin auf Rheinland-Pfalz einwirkt. Rhein-land-Pfalz hatte einen Bildungsminister, der nach Berlingegangen ist. Dort hat er Sprachtests ab dem Alter vondrei Jahren eingeführt, während das in Rheinland-Pfalzabgelehnt wird, weil das menschenverachtend sei. Ichmuss sagen: Man muss sich auf eine Richtung einigen.Ich finde es kinderunterstützend, sich darauf einzulas-sen, sie frühzeitig zu befähigen, dem Unterricht folgenzu können.
Wir stellen fest, dass gerade in SPD-regierten Län-dern die Ausgaben der Eltern für Nachhilfe immenshoch sind.
– In Rheinland-Pfalz zahlen die Eltern 40 MillionenEuro für Nachhilfe. – Wir sind dafür, dass die Bil-dungschancen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhän-gen.
Ich danke zum Schluss allen Erzieherinnen und Erzie-hern. Ich danke den Lehrern. Sie haben es nicht immereinfach.
Wenn etwa der Ministerpräsident aus Rheinland-Pfalzsagt, er habe dienstags schon das gesamte Pensum er-reicht, das Lehrer in der ganzen Woche machen,
ist das unanständig. Ich schaue auf die Schüler, die mor-gen ihre Halbjahreszeugnisse bekommen. Ich wünscheihnen alles Gute und eine bessere Bildungspolitik.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9729
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Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Klöckner, jeder hat durchschaut, was
Ihre Absicht war.
Ich glaube, der gemeinsame Wunsch im Hause war: Wä-
ren Sie doch im Verbraucherministerium weiterhin für
dioxinbelastete Eier zuständig geblieben.
Weil Sie immer über Rheinland-Pfalz gesprochen ha-
ben, möchte ich nur folgende kleine Anmerkung ma-
chen: Rheinland-Pfalz ist bundesweit dafür bekannt,
dass es den Spitzenplatz beim Krippenausbau einnimmt,
dass es kostenfreie, frühkindliche Bildung hat,
dass es mehr Ganztagsschulen als viele andere Bundes-
länder hat,
dass es die Umgestaltung des Schulsystems im Konsens
erreicht hat. Deshalb nehmen Sie es mir bitte bei allem
Charme, um den Sie sich bemüht haben, nicht übel,
wenn ich sage: Im Bundestag haben wir die satisfak-
tionsfähige Diskussion im Spannungsfeld zwischen Frau
Schavan und Herrn Gysi.
Ich komme auf zwei aus dem Bildungsbericht abge-
leitete Fragestellungen von Frau Schavan und von Herrn
Gysi zu sprechen: Erstens ist Bildung bei uns immer
noch an soziale Verhältnisse gekoppelt. Zweitens haben
wir in Deutschland komplexe Bildungsorganisationsver-
hältnisse zwischen Bund und Ländern.
Zum ersten Punkt hat Kollege Schulz herausgearbei-
tet, was Konsens werden kann: Natürlich muss frühkind-
liche Bildung vor allen Dingen in Bezug auf Kinder mit
Einwanderungshintergrund qualifiziert und ausgebaut
werden. Er hat ausgeführt, dass wir die Chance haben,
jetzt bei der Schulsozialarbeit und dem Ganztagsschul-
ausbau große Schritte voranzukommen. Er hat noch ein-
mal gesagt – auch das zeigt der Bildungsbericht auf –,
dass in der Lebensbiografie die berufliche Bildung nicht
von der Weiterbildung abgekoppelt sein darf. Wir haben
nicht die Zeit, nur über gute Primärausbildung zu ver-
nünftigen Ergebnissen zu kommen. So weit die klare
Zielrichtung, die wir hoffentlich nicht nur parteiintern,
sondern auch parteiübergreifend haben.
Aber jetzt zum Zweiten: Ich fand es bemerkenswert,
Frau Schavan, dass Sie durchaus auch das Mobilitätspro-
blem in Deutschland ansprachen. Es geht um – um ein-
mal Zahlen zu nennen – 100 000 Kinder, die Jahr für
Jahr von einem Bundesland in ein anderes umziehen.
Herr Gysi, Sie haben das sehr beredt im Detail ausge-
führt. Aber die Antwort auf die Frage nach möglichen
Verbesserungen sind Sie schuldig geblieben. Deshalb
nehme ich gern auf, was Frau Schavan gesagt hat: Wir
registrieren positiv, dass es gemeinsame Bildungsstan-
dards gibt, die vertieft werden. Es wird auch eine Ent-
wicklung hin zu gemeinsamen Prüfungspools geben. Es
wird aber aufgrund unserer föderativen Verfasstheit mit
16 Bundesländern und verschiedenen Ferienregelungen
in Deutschland keinen Zentraltag für das Abitur geben
können.
Wenn wir gemeinsame Qualitätsstandards und ge-
meinsame Prüfungspools haben, ergeben sich zwei of-
fene Fragen: Weshalb haben wir nicht auch einen Kon-
sens in Bezug auf die Schulstrukturen? Da hat Herr Gysi
recht: Wer oft umzieht, erlebt bei 16 Bundesländern
100 verschiedene Schultypen.
Wir Sozialdemokraten bieten an, was in Hamburg
nicht durch Bürgerentscheid abgeschafft worden ist,
nämlich das Zweiwegemodell mit dem Gymnasium mit
G 8 und der Stadtteilschule mit G 9. Dieses Zweiwege-
modell beinhaltet also zwei Schularten, die alle Ab-
schlüsse anbieten. Bei den Abschlüssen gibt es zwar
durchaus noch Differenzierungen, sie sind aber nicht
mehr hierarchisch zu verstehen. Es wäre eine Chance,
wenn wir nicht nur gemeinsame Bildungsstandards und
Prüfungspools, sondern auch das Zweiwegemodell als
im Konsens vereinbarte Struktur hätten. Aktuell schei-
tert das noch daran, dass, um es polemisch auszudrü-
cken, die „Lega Süd“ in Deutschland – Bayern, Baden-
Württemberg und Hessen – nicht mitmacht. Aber es gibt
eine Chance, das Zweiwegemodell im Konsens voranzu-
bringen. Das Zweiwegemodell steht dafür, dass Umzug
keinen Verlust von Schulerfahrung bedeutet.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der viel-
leicht auch einen Konsens erfordert; denn er ist brisant.
Die Ministerin hat uns schon manchmal darauf hinge-
wiesen – auch das macht der Bericht deutlich –, dass wir
in Deutschland bei den Konzepten, die infolge des
PISA-Schocks gemeinsam erarbeitet worden sind, ein
Desiderat haben. Das betrifft die Lehrerausbildung und
die Lehrerweiterbildung. Auch an dieser Stelle kann
man an Hamburg anknüpfen. Hamburg hat unter
Schwarz-Grün etwas Wichtiges auf den Weg gebracht,
nämlich die Weiterbildungspflicht für Lehrer, 30 Stun-
den jedes Jahr.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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9730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
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Den Gedanken möchte ich gerne zu Ende führen. –
Diese 30 Stunden jedes Jahr sind nicht unproblematisch,
weil es nicht unbedingt populär ist, für 800 000 Lehr-
kräfte eine Weiterbildungspflicht festzuschreiben. Wenn
wir das aber im Konsens tun, wenn SPD, CDU und an-
dere sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, dann
haben wir in Zukunft einen ganz großen Pluspunkt bei
der Qualifizierung der Lehrer. Dann haben wir eine bes-
sere Lehrerausbildung, eine bessere Lehrerauswahl und
auch eine Weiterbildungspflicht. Dann wäre auch der
Staat verpflichtet, gute Weiterbildungschancen zu eröff-
nen. Das wollen wir gerne in die Debatte einbringen. Ich
weiß, dass das nicht populär ist, aber es ist wichtig. So
etwas muss aus einem solchen Bildungsbericht erwach-
sen.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin
Hein zur Verlängerung Ihrer Redezeit? – Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, Sie kommen
aus dem Land Schleswig-Holstein. Sie haben gesagt,
dass wir Alternativen und Vorschläge brauchen. Eine
solche Möglichkeit, die wir bekanntlich vertreten, ist die
Gemeinschaftsschule, wie es sie in Schleswig-Holstein
bislang, glaube ich, noch gibt. Das ist das erste Land, das
versucht hat, in diese Richtung zu gehen. Heute Morgen
las ich in der Presse, dass in Kiel ein neues Schulgesetz
verabschiedet worden ist, nach dem Gemeinschaftsschu-
len und Regionalschulen zusammengefügt werden sol-
len. Nach dem, was Sie zu Hamburg gesagt haben, frage
ich Sie, ob Sie – ich weiß, dass Sie dort keine Verant-
wortung tragen, aber genau deshalb frage ich Sie – es
nicht für einen Rückschritt halten, wenn die Schulen
jetzt zu einer Schule zusammengelegt werden, die zwar
den Haupt- und den Realschulabschluss anbietet, aber
eben nicht das ist, was eine Gemeinschaftsschule eigent-
lich sein sollte.
Wenn ich im Landtag wäre, dann würden Sie jetzt
eine Philippika gegen das hören, was in Schleswig-Hol-
stein leider passiert. Dort wird gegen den Willen der
CDU das Rad zurückgedreht. Das ist zwar ein Erfolg der
FDP, doch insgesamt ist das ein Rückschritt. Diese Phi-
lippika will ich aber nicht halten. Lieber werbe ich für
das Zweiwegemodell, auf das wir uns in Deutschland
hoffentlich im Konsens einigen können.
Weil mir das wichtiger ist als die kleine Münze
Schleswig-Holstein, nehme ich noch einen anderen Ge-
danken aus dem Bildungsbericht auf. Die Bildungsko-
operation ist das Formale. Wir werden es erleben, dass
Sie Ihre CDU- und CSU-Ministerpräsidenten und wir
unsere SPD-Ministerpräsidenten überzeugen. Dann ha-
ben wir es geschafft. Dann können wir uns freuen. Jetzt
sollten wir nicht wechselseitig mit dem Finger aufeinan-
derzeigen. Sie und wir müssen das jetzt gemeinsam aus
dem Bundestag heraus schaffen. Die Bildungskoopera-
tion muss aber auch gelebt werden, und zwar insbeson-
dere an einer Stelle, die der Nationale Bildungsbericht
aufgezeigt hat; denn wir können es uns angesichts des
Fachkräftebedarfs nicht leisten, dass 1,5 Millionen junge
Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne Ausbildung
sind.
Wenn es eine Aufgabe für die nächsten Jahre gibt,
dann ist es die, diesen jungen Menschen in ökonomi-
scher, persönlicher und pädagogischer Hinsicht eine
Chance zu geben. Das ist die gemeinsame Aufgabe der
Länder und des Bundes. Dafür möchten wir ausdrück-
lich und nachdrücklich werben. Das ist die Botschaft
dieses Bildungsberichts. Lasst es nicht dazu kommen,
dass sich eine Perspektivlosigkeit dieser jungen Men-
schen verfestigt. Das zu sagen, war mir wichtig.
Danke schön.
Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wir haben als christlich-liberale Koalition in unseremKoalitionsvertrag die Bildungsrepublik ausgerufen. Dervorliegende Bildungsbericht zeigt uns, dass wir diesemZiel Stück für Stück näher kommen. Immer wenigerSchüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Der Trendgeht zu immer höheren Abschlüssen. Noch nie haben soviele junge Menschen eines Jahrgangs mit einem Hoch-schulstudium begonnen wie in diesem Jahr. Für diejeni-gen, die sich nicht für ein Hochschulstudium entschei-den, steigt die Chance auf einen Ausbildungsplatz. Icherwähne das deswegen als Erstes, weil wir in der Bil-dungspolitik oft zum Schlechtreden neigen. Natürlichzeigt uns der Bildungsbericht auch Punkte auf, wo wirbesser werden müssen. Genau das ist ja der Sinn einessolchen Berichts. Auf diese Punkte komme ich gleich zusprechen.Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter den guten Sta-tistiken, die der Bericht enthält, zahlreiche Schüler, Stu-denten, Lehrer, Erzieher, Eltern, Betriebe und viele an-dere Aktivposten im Bildungssystem stehen, die durchihr großartiges Engagement und ihre individuelle An-strengung dafür sorgen, dass wir insgesamt besser wer-den.
– Der Applaus ist berechtigt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9731
Dr. Reinhard Brandl
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Diese Leistungen müssen wir positiv herausstellen,und wir müssen die Menschen ermutigen, auf diesemWeg weiterzumachen. Das darf in einer solchen Debattenicht zu kurz kommen.Der Bericht zeigt uns auch Bereiche, in denen wirbesser werden müssen; das wurde heute häufig ange-sprochen. Wir erleben, dass die Kluft zwischen den Bil-dungsverläufen zunimmt. Der Bildungserfolg ist leiderimmer noch zu eng mit der sozialen Herkunft verknüpft,und fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren wächst in so-zialen, finanziellen und/oder kulturellen Risikolagen auf.Besonders häufig sind Kinder mit Migrationshintergrunddavon betroffen. Um diese müssen wir uns noch besserkümmern, und zwar von Anfang an.Der Schlüssel dazu liegt in der Sprache. Als die CSUvor einigen Jahren gefordert hat, dass jedes KindDeutsch können muss, bevor es in die Schule kommt,wurden wir noch verlacht.
Heute ist es fast flächendeckend Praxis, dass an Kinder-gärten Sprachtests und entsprechende Fördermaßnah-men durchgeführt werden. Aber das reicht noch nicht.Hier müssen wir besser werden. Vor allem müssen wirdie Eltern von Kindern in Risikolagen sensibilisierenund ihnen sagen, welche Chancen sie ihren Kindern ver-bauen, wenn sie ihnen nicht schon möglichst früh eineindividuelle Förderung zukommen lassen.Der Bund stellt für den Ausbau der Kinderbetreuungbis 2013 insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung.Überall im Land sehen Sie, dass neue Krippenplätze ent-stehen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dasswir bis 2013 insgesamt 12 Milliarden Euro mehr für Bil-dung und Forschung zur Verfügung stellen. Gerade auchvor dem Hintergrund, dass in allen anderen Bereicheneingespart werden muss, um die Schuldenbremse einzu-halten, sehen Sie, welchen Stellenwert wir diesemThema zumessen. Wir setzen auch unsere Politik derFörderung von Familien fort. Denn der Bildungsberichtzeigt: Überall dort, wo Familienstrukturen intakt sind,steigt die Chance auf eine gute Bildung.
Aber die Probleme sind nicht allein mit Geld zu lösen.Unsere Kinder brauchen Vorbilder, denen sie mit Ehr-geiz nacheifern können. Genauso wie im Sport müssenLeistung und Erfolg im Bildungssystem positiv belegtund erstrebenswert sein.
Das müssen wir vor allem bei den Kindern und Jugendli-chen unterstützen, denen Bildungsvorbilder im Eltern-haus fehlen und die auch in ihrem nächsten Umfeld nie-manden haben, dem sie im Bildungsbereich nacheifernkönnen.An dieser Stelle möchte ich beispielhaft die Kampa-gne „Raus mit der Sprache. Rein ins Leben“, die die„Deutschlandstiftung Integration“ seit letztem Jahrdurchführt, herausstellen. Prominente Sportler wieJérôme Boateng und Musiker wie Sido werben bei Ju-gendlichen mit Migrationshintergrund dafür, die deut-sche Sprache zu lernen. Die Botschaft ist: Wer gutdeutsch spricht, kann den sozialen Aufstieg schaffen.Solche Botschaften brauchen wir in unserem Land. Da-mit kommen wir auf unserem Weg zur BildungsrepublikDeutschland ein Stück weiter.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3400 und 17/4436 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Elke Ferner, Bärbel Bas, Dr. Edgar Franke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einführung einer Kopfprämie in der gesetzli-
chen Krankenversicherung
– Drucksachen 17/865, 17/3130 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen
Krankenversicherung wiederherstellen
– Drucksachen 17/879, 17/4476 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Ulrike Flach für die FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbin der SPD für die heutige Debatte äußerst dankbar. DaIhr Antrag und Ihre Anfrage fast ein Jahr alt sind, gebenSie uns damit die Gelegenheit, einmal zu vergleichen,welche Befürchtung – man kann eigentlich auch „Panik-mache“ sagen – hier verbreitet wurde und was die Bun-desregierung wirklich gemacht hat.
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9732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Ulrike Flach
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Zunächst einmal zum Titel „Paritätische Finanzierungin der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstel-len“. Man muss an dieser Stelle schon sehr klar sagen:Es war die SPD-Gesundheitsministerin, die die paritäti-sche Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmernaufgegeben hat.
Wir haben dieses Modell fortentwickelt und damit denFaktor Arbeit nachhaltig entlastet. Das war unser aus-drückliches Ziel, das Sie übrigens in Sonntagsreden sehrgerne fordern, aber werktags offensichtlich gerne wiedervergessen.Die Große Anfrage der SPD trägt den schönen Titel„Einführung einer Kopfprämie in der gesetzlichen Kran-kenversicherung“. Eine Kopfprämie – das will ich dies-mal wirklich zum letzten Mal sagen – hat niemand vonuns eingeführt, auch nie gewollt, und das ist hier auchimmer so diskutiert worden, liebe Kollegen.
Vielmehr haben wir die Zusatzbeiträge, die es übri-gens schon bei Ulla Schmidt gegeben hat, genau so, wiees im Koalitionsvertrag stand, fortentwickelt, und daswurde Gesetz: Jede Kasse entscheidet nun selbst, ob undin welcher Höhe sie von ihren Mitgliedern Zusatzbei-träge erhebt, und damit gibt es das, was für die FDP im-mer sehr wichtig war: Es gibt wieder mehr Beitragsauto-nomie bei den Kassen und wieder mehr Wettbewerb fürdie Versicherten.
Einen sozialen Ausgleich für Geringverdiener habenwir hinzugefügt. In Ihrer Anfrage wird interessanter-weise noch behauptet, es gebe kein Konzept für den So-zialausgleich. Inzwischen, liebe Kollegen von der SPD,steht es im Gesetz, und das Gesetz ist in Kraft. So weitzur Aktualität Ihrer Großen Anfrage.Ihr Antrag ist längst von der Realität überholt wor-den; da sind wir uns Gott sei Dank auch einmal mit denGrünen und den Linken einig, wie die Beschlussempfeh-lung des Ausschusses zeigt. An der Stelle herrscht alsogroße Einigkeit im Hause. Auch Ihre Angstmacherei istvon der Gesetzgebung und der Koalition längst überholtworden.Wenn man in Ihren Antrag schaut, kann man sichfreuen, dass alles nicht so gekommen ist, wie es die SPDprophezeit hat. Es ist nicht zur Masseninsolvenz der ge-setzlichen Krankenkassen gekommen. Im Gegenteil: DieGKV baut wieder Reserven auf. Es kommt durch denSozialausgleich auch nicht zu einer sozialen Umvertei-lung von unten nach oben.Nun möchte ich – schließlich nehmen Sie für sich im-mer so schön in Anspruch, alles besser zu wissen – Ihreeigenen Ideen einem Realitätstest unterziehen.
– Das wird sehr schwierig. Da hat Herr Lanfermann völ-lig recht.Sie fordern in Ihrem Antrag eine solidarische Bürger-versicherung. Sie haben über ein Jahr gebraucht, um da-rüber nachzudenken. Jetzt haben Sie vor wenigen TagenEckpunkte veröffentlicht, die allerdings deutlich vondem abweichen, was Sie in Ihrem alten Antrag formu-liert haben. Neuerdings sprechen Sie sich für eineSteuerfinanzierung aus – eine höchst interessante Ent-wicklung –, und zwar erstaunlicherweise mit der Be-gründung, dass das Steuersystem die Bürger nach ihrerLeistungsfähigkeit belaste und deshalb gerechter sei.Das haben wir, liebe Kollegen von der SPD, allerdingsschon lange erkannt. Deshalb haben wir den Sozialaus-gleich genau dort hingelegt, wo er hingehört, nämlich insSteuersystem, und das haben Sie an dieser Stelle oft ge-nug für Teufelszeug erklärt.
Die SPD legt Eckpunkte vor. Sie legen aber keindurchgerechnetes Modell vor. Das erstaunt uns wie-derum nicht. Denn auch etwas anderes versprechen Sienun schon seit einem Jahr.
Ihr Modell einer Bürgerversicherung löst keines derProbleme. Denn es bleibt konjunkturanfällig – das ist ei-ner der Hauptfaktoren, die wir mit unserem Modell ver-meiden –, weil eine höhere Arbeitslosigkeit negativ aufdie Finanzierungsgrundlagen durchschlägt. Darüber hi-naus bleibt es verfassungsrechtlich bedenklich, weil Siein den Tätigkeitsbereich der PKV eingreifen.Hingegen kann man unser Modell jetzt jeden Tag inder Realität besichtigen. Jeder weiß, dass Gesundheit ineiner alternden Gesellschaft mit einer wachsenden medi-zinischen Leistungsfähigkeit zwar nicht billiger werdenkann, aber bezahlbar bleiben muss. Diese Koalition sorgtdafür, dass Gesundheit bezahlbar bleibt.
Nur unser Freund Karl Lauterbach merkt das leidernicht: Kaum erkennen wir bei den Kassen bessere Zah-len, kommt er als Kai aus der Kiste und fordert Beitrags-senkungen. Lieber Herr Lauterbach, Sie müssen sichschon einmal entscheiden, auf welchen Zug Sie geradeaufspringen wollen. Offensichtlich springen Sie auf je-den Zug auf, der gerade vorbeifährt, und wundern sichdann, dass Sie nie ankommen.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich den Präsiden-ten des Bundesversicherungsamtes zitieren. Er hat ges-tern Folgendes zu den merkwürdigen Verlautbarungengesagt, die Sie bei Ihrem letzten medialen Ausflug ge-macht haben:Der Gesundheitsfonds sichert die finanziellen Grund-lagen der gesetzlichen Krankenversicherung im In-teresse aller Versicherten. Dies darf nicht durchkurzfristige Maßnahmen leichtfertig aufs Spiel ge-setzt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9733
Ulrike Flach
(C)
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Herr Lauterbach, das sollten Sie sich hinter die Ohrenschreiben. Es würde Sie von unüberlegten Presseerklä-rungen abhalten.Ansonsten sind wir optimistisch: Wir gehen in ein er-folgreiches Jahr. Ich freue mich auf die Debatte.
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal freut es mich, dass wir die FDP heute zumersten Mal in der Stärke sehen, in der wir sie in dernächsten Legislaturperiode sehen wollen: Sie sind ge-rade einmal fünf Leute; das wird bald üblich sein. DerWähler wird die gut gelaunte Polemik, mit der FrauFlach und Herr Lanfermann hier über die wichtigen The-men hinwegwischen, nicht akzeptieren; dafür werdenSie die Quittung bekommen. Erinnern Sie sich an meineWorte:
Wenn Sie nach der nächsten Wahl überhaupt noch hiersitzen werden, dann erreichen Sie gerade einmal 5 Pro-zent.
Was ist zum Jahreswechsel beschlossen worden? DieVorkasse ist eingeführt worden.
Es gibt Mehrzahlungen für Arzneimittel und Generika.Es gibt eine schnellere Zulassung von Krebsmedikamen-ten; dadurch werden weniger sichere Mittel zugelassen.
Die kleine Kopfpauschale ist eingeführt worden. Bei derprivaten Krankenversicherung hat es Vergünstigungen ge-geben: Ein Wechsel in die private Krankenversicherungist schneller möglich; die Arzneimittelrabatte der gesetz-lichen Krankenversicherungen werden sozusagen auf dieprivaten übertragen. Im Prinzip haben wir mehr Zwei-klassenmedizin bekommen.In der Medienpause gab es von Herrn Spahn und an-deren in der Union den Vorschlag, die Vierbettzimmerabzuschaffen. Damit soll demnächst die Möglichkeit ge-geben werden, sich im Zweibettzimmer ein bisschen vonder verschärften Zweiklassenmedizin, die Sie selbst ein-geführt haben, zu erholen. Das ist doch lächerlich; das istKosmetik bei den Betten. Wenn Sie ernsthaft an einemAbbau der Zweiklassenmedizin interessiert wären, dannwürden Sie sie nicht verschärfen. Lenken Sie nicht vonden Verschärfungen ab, die Sie selbst eingeführt haben.
Demnächst sollen sich die Krankenkassen stärker da-für engagieren, dass man einen Termin bei einem Spe-zialisten bekommt. Weshalb führen Sie, wenn Sie daranwirklich ein Interesse haben, die Vorkasse ein, die dazuführen wird, dass derjenige, der nicht in Vorleistung tre-ten kann, demnächst noch schlechter einen Termin be-kommt? Sie wollen doch nur davon ablenken, dass Siedie Zweiklassenmedizin in vielerlei Hinsicht verschärfthaben. Der Vorschlag, die Termine bei Spezialistenschneller zu vergeben – er stammt von Wilfried Jacobsvon der AOK Rheinland/Hamburg –, ist nur Kosmetik.Die Wahrheit ist – jeder erkennt sie –: Sie wollen Ver-günstigungen für die PKV und Verschlechterungen fürdie gesetzlich Versicherten.Im Übrigen sollen die Verschlechterungen bei derFDP hängen bleiben; während die Union für die kleinen,kosmetischen Verbesserungen eintritt. Dieses Systemkennen wir noch aus der Großen Koalition; die FDP,auch Herr Bahr, wird es noch lernen müssen. Wer zu-sammen mit der Union regiert hat, der versteht das Sys-tem: Die Union ist immer für das wenige Gute, für dieKosmetik zuständig; der Partner wird geschleift undsteht für all das, was in der Bevölkerung unbeliebt ist.Das ist das Prinzip der Union.
Herr Lindner und Herr Bahr, Sie werden das noch lernenmüssen.
Ich komme jetzt zu der Beitragssatzlüge. Herr Rösler,Herr Bahr und die Union haben immer gelogen, die SPDhabe ein riesiges Defizit zurückgelassen; es wurde von11 Milliarden Euro gesprochen. Die Wahrheit ist, dassim nächsten Jahr zum Jahresende 6,3 Milliarden Euroübrig bleiben werden.
Davon sind 3 Milliarden Euro die Liquiditätsreserve.3 Milliarden Euro nehmen Sie durch die Erhöhung desBeitragssatzes zusätzlich ein, um damit den Sozialaus-gleich für die Kopfpauschale aufzubauen.Das war doch von vornherein die Absicht. Sie wollenden Sozialausgleich für die Kopfpauschale in Wirklich-keit doch gar nicht mit Steuermitteln bezahlen, denn daswürde auch den PKV-Versicherten und den Gutverdienerbelasten. Das sollen die gesetzlich Versicherten zumSchluss selbst bezahlen. Darum geht es doch. Es geht umdas übliche Anliegen: Wie kann ich Arbeitgeber und Pri-vatversicherte schonen, und wie kann ich die gesetzlichVersicherten doppelt belasten? Sie werden für ihre ei-gene Kopfpauschale und für den eigenen Sozialaus-gleich bezahlen müssen. Darüber wird hier doch gespro-chen, und davon wollen Sie ablenken.Die unsoziale Kopfpauschale soll durch einen eben-falls unsozial finanzierten Sozialausgleich mitbezahltwerden. Das halten wir für falsch. Das ist eine Tricksereiund eine Lügerei!
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Dr. Karl Lauterbach
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An dieser Stelle auch eine Bemerkung in Richtungder Grünen: Die Grünen sagen, der Beitragssatz sollnicht um 0,3 Prozentpunkte gesenkt werden, damit manZusatzbeiträge verhindert. Damit macht ihr euch aber imPrinzip zum Steigbügelhalter der Kopfpauschale.
Denn die Kopfpauschale kann doch nur eingeführt wer-den, wenn ein Sozialausgleich erst einmal da ist. Norma-lerweise müsste folgendermaßen argumentiert werden:Eine unsoziale Kopfpauschale wird nicht durch einenunsozialen Sozialausgleich gerechter.
Es wird darauf hinauslaufen, dass die Beitragssätzesteigen werden. Es wird darauf hinauslaufen, dass wirkeine sinkenden Steuern haben. Die mittleren Einkom-men werden stärker belastet und nicht entlastet. Wir wer-den sehen, dass die mittleren Einkommen weniger Nettovom Brutto haben. Wir werden sehen, dass die FDP sichüber diese Politik weiter komplett diskreditiert. Denn eswerden nur die mittleren Einkommen belastet. Wer be-zahlt denn am Ende den Sozialausgleich durch die Bei-tragssatzerhöhung? Das sind die mittleren Einkommen.Die FDP ist angetreten und hat laut getönt, die mittle-ren Einkommen sollten entlastet werden. Die Grünen ha-ben mitgezogen. Die Wahrheit ist aber, dass wir nur zu-sätzliche Belastungen der mittleren Einkommen sehen.Es gibt überhaupt keine Entlastung. Somit kommt zurallseits bekannten Steuerlüge der FDP die Beitragssatz-lüge hinzu. Das ist meine feste Überzeugung, und daswird der Bürger auch verstehen. Die Union macht sicheinen schlanken Fuß und pflegt die beschriebene Ar-beitsteilung.Was wir in Wirklichkeit brauchen, ist ein paritätischfinanziertes System. Wir wissen, dass wir uns von derParität verabschiedet haben. Da brauchen wir nicht dieständigen Ermahnungen und Erinnerungen von derLinkspartei.
Wir haben keine Amnesie. Wir haben aber auch nie ge-sagt, dass wir abgewählt worden sind, weil wir allesrichtig gemacht haben. Es ist klar, dass wir zurück zurParität wollen. Wir wollen das System unbürokratischum eine Steuerkomponente ergänzen. Es ist übrigensauch völlig unwahr, zu sagen, dass wir erst jetzt aufdiese Idee gekommen sind. Schon in unserem ursprüng-lichen System der Bürgerversicherung hatten wir zweiModelle: entweder die anderen Einkommen direkt ver-beitragen oder eine Steuerkomponente. Das ist sozusa-gen ein altes System. Wir haben uns jetzt dafür entschie-den, die Steuern stärker heranzuziehen, sodass auchGutverdiener unbürokratisch und gerecht belastet wer-den.Im Sinne der Abschaffung der Zweiklassenmedizintreten wir in unserem Antrag dafür ein, dass die Hono-rare bei gesetzlich und privat Versicherten angeglichenwerden. Das ist ein gerechtes System. Unbürokratisch,Parität, Steuerkomponente, ein Honorarsystem für alle:Das führt zu einer Entlastung der mittleren Einkommen.Diesbezüglich sind, ehrlich gesagt, auch die Grünenauf dem Holzweg. Wenn man die anderen Einkommenverbeitragt und gleichzeitig die Beitragsbemessungs-grenze anhebt, dann trifft das fast nur die mittleren Ein-kommen.
Da man an die jetzt privat Versicherten nicht heran-kommt, werden diese geschont. Daher halte ich dasSPD-Konzept für das einfachste, unbürokratischste undgerechteste. Unser System wird auch das sein, das wirzum Schluss durchsetzen, wenn die Abwahl dieser er-schöpften schwarz-gelben Koalition vollzogen ist.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zum Ersten – das will ich vorneweg sagen – gibt uns dieDebatte heute morgen die Gelegenheit, auf das, was wirin dieser Koalition beschlossen haben, zurückzuschauen:auf das GKV-Finanzierungsgesetz. Die Frage lautet:Was ist damit eigentlich erreicht worden?
Wir haben es geschafft – das zeigen die Zahlen ganzoffensichtlich –, dafür zu sorgen, dass das drohende De-fizit von gut 10 Milliarden Euro, das, wenn wir nichtsgetan hätten, entstanden wäre, nicht entstehen wird
und dass die Krankenkassen stabil dastehen. Wir stelleneinen Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt zur Ver-fügung, um die nötige Unterstützung zu geben.Wichtig finde ich auch, dass die Zusatzbeiträge – dashaben die Zahlen von gestern und vorgestern gezeigt –die Lenkungswirkung, die Steuerungswirkung entwi-ckeln, die wir uns von ihnen erhofft haben. Es entstehtein neues Preisbewusstsein. Anders als damals bei denprozentualen Beitragssätzen, als die Beiträge direkt vomLohn abgezogen wurden, als keiner so recht wusste:„Was kostet meine Kasse eigentlich?“ und man einenDreisatz berechnen musste, um zu ermitteln: „Was bringtes eigentlich, die Kasse zu wechseln?“, haben die Zu-satzbeiträge in festen Eurobeträgen eine ganz anderePreissignalwirkung. Man überlegt sich: Ist mir meineKasse die 5 Euro, die 8 Euro oder die 12 Euro, die ich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9735
Jens Spahn
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zahlen muss, wert? Wenn ja, dann bleibt man bei derKasse, wenn nein, dann wechselt man. Das ist auch fürden Wettbewerb zwischen den Kassen ein wichtigesneues Instrument, das wir weiterentwickelt und auf si-chere Füße gestellt haben.
Aber man fragt sich: Warum führen wir heute zur bes-ten Zeit 75 Minuten lang diese Debatte über einen An-trag, lieber Kollege Lauterbach, der sich völlig überholthat?
Das Gesetz ist erstens beschlossen, und zweitens habenSie Ihren eigenen Antrag selbst überholt.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Steuerfinanzierungsei schlecht. Auch in Ihrem Antrag vom letzten Jahrsteht, Steuerfinanzierung habe keine Zukunft und seiganz furchtbar, weil der Finanzminister das Geld nichtzur Verfügung stellen werde.Wenige Wochen oder Monate später legten Sie ge-meinsam mit Frau Kollegin Nahles ein Papier vor, indem es heißt:Eine nachhaltige Finanzierung der Bürgerversi-cherung kann … nur über Steuermittel erreichtwerden …Sie haben es geschafft, Ihren eigenen Antrag innerhalbvon sechs Monaten zu überholen.
Aber es ist Ihnen nicht einmal peinlich, zur besten Zeitdiese Debatte für eine Dauer von 75 Minuten anzuset-zen.
Wie soll denn der Bürger, wie sollen wir überhaupt nochverstehen, wo Sie hinwollen?
Sie scheinen es selbst nicht zu wissen. Das, lieber Kol-lege Lauterbach, ist in den Debatten, die wir führen, dasProblem.
Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Debatte zumThema Beitragssatzsenkung,
die wir in diesen Tagen führen.
– Herr Präsident, ich glaube, der Kollege Lauterbach hateine Frage. Ich würde sie auch zulassen, wenn Sie sie zu-ließen.
Dann lasse ich sie nach Ihrer Bitte allergnädigst zu.
Herr Spahn, Sie müssen doch einräumen,
dass es ein Unterschied ist, ob man Steuermittel verwen-
den will, um damit die demografischen Herausforderun-
gen zu bewältigen und das Geld für die Versorgung ein-
zusetzen, oder ob man damit einen überflüssigen
Sozialausgleich für die Kopfpauschale bezahlen will.
– Herr Lanfermann, ich habe sogar Frau Flach zugehört,
was nicht leicht war.
In unserem Antrag unterscheiden wir. Wir lehnen le-
diglich den Einsatz zusätzlicher Steuermittel für einen
überflüssigen Sozialausgleich zur Einführung der Kopf-
pauschale ab,
weil wir die wertvollen Steuermittel dort für verschwen-
det halten.
Wir sind aber nicht der Meinung, dass der Einsatz von
Steuermitteln für die Versorgung und für die Bewälti-
gung der demografischen Herausforderungen überflüs-
sig ist; dafür sind Steuermittel geeignet.
Aber es ist doch ein Unterschied, ob man diese Mittel für
einen überflüssigen Sozialausgleich verschwendet oder
ob man sie sinnvoll für die Versorgung einsetzt.
Lieber Herr Kollege Lauterbach, Sie haben es inner-halb von zwei Monaten geschafft, schon wieder Ihre Be-gründung zu verändern.
In Ihrem Schreiben, das Sie gemeinsam mit der KolleginNahles verfasst haben, steht:Steuermittel für das Gesundheitssystem, um alleEinkommen unbürokratisch und sozial gerecht ander Finanzierung zu beteiligen.
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Jens Spahn
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So werden auch die hohen Einkommen und Vermö-gen gerecht einbezogen.Das heißt, Ihre Intention bei der Steuerfinanzierung istganz offensichtlich, einen Sozialausgleich durchzufüh-ren.Die Argumentation ist ja richtig: Geht es um die Bei-träge zur gesetzlichen Krankenversicherung, werden nurdie abhängig Beschäftigten und die Lohnbestandteile he-rangezogen. Bei einer Finanzierung über das Steuersys-tem werden aber auch Mieteinkünfte, Zinseinkünfte undübrigens auch Unternehmensgewinne herangezogen, undzwar nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Die Ar-gumentation ist richtig. Was an dieser Stelle aber so ver-logen ist – das zeigt sich jetzt übrigens schon wieder –:Sie ändern alle zwei Wochen Ihre Argumentation in die-ser Frage. Wir dagegen reden nicht nur über Dinge, son-dern setzen sie um, in dem Falle, weil wir es für richtighalten, eine bessere Steuerfinanzierung zu haben.
Das Gleiche passiert in diesen Tagen in der Beitrags-satzdebatte. In Ihrem Antrag, über den wir heute debat-tieren und der aus dem März 2010 stammt – Sie wolltenihn vorher nicht aufgesetzt haben; wir haben es Ihnenmehrfach angeboten –, malen Sie ein Szenario vonwachsenden Ausgaben an die Wand. Sie malen ein Sze-nario an die Wand, das besagt: Für 2010, 2011 und 2012muss auf Teufel komm raus gespart werden; die Koali-tion tut zu wenig. Sie haben hier mehrfach gesagt, wirsollten größere Anstrengungen beim Sparen unterneh-men, weil es in 2011 so furchtbar wird.Wir haben das, was wir für richtig halten, in einem, wieich finde, ausgewogenen Maß gemacht – Sparmaßnahmen,aber eben auch eine ausgewogene Beitragserhöhung –und sind zum alten Beitragssatz von 15,5 zurückgekehrt.Jetzt ist es glücklicherweise so, dass die gesetzlichen Kran-kenversicherungen stabil dastehen, dass wir im Gesund-heitsfonds eine Liquiditätsreserve haben, die gesetzlich– von uns gemeinsam in der Großen Koalition – vorge-schrieben worden ist, um auch Schwankungen ausglei-chen zu können. Nun, da wir endlich Stabilität ins Systemder gesetzlichen Krankenversicherung gebracht haben,nehmen Sie von Ihren Horrorszenarien Abschied, wiefurchtbar das bei den Ausgaben alles wird, und wollen aufeinmal die Beiträge senken. Wer, bitte schön, Herr Kol-lege Lauterbach, soll Ihnen denn da noch folgen können?Wo ist denn da Verlässlichkeit in Ihrer Politik? Sie sindnicht Kai aus der Kiste; Sie sind Karl aus der Kiste: Sieändern täglich nur der Überschrift wegen die Richtung.Das ist aber nicht konsistent, das ist nicht vertrauenerwe-ckend, und deswegen ist es gut, dass Sie da sitzen, wo Siesitzen, nämlich auf der Oppositionsbank. Da kann mantatsächlich ohne Folgen jeden Tag etwas anderes behaup-ten, als man vorher gesagt hat.
– Ja, man hat manchmal tatsächlich den Eindruck: Sieverwirren sich an dieser Stelle selbst.
Dann – das setzt dem Ganzen die Krone auf – könnenwir in diesen Tagen ein Konzept der SPD lesen und kön-nen sehen, wie sie jetzt in die Fläche gehen will, um eineKampagne zu machen, bei der es rundgehen soll. Wirkönnen in Ihrem Antrag vom März letzten Jahres lesen,was wir alles tun sollen. Wir finden, dass wir ausgewo-gen und vernünftig vorgegangen sind und die richtigeRichtung eingeschlagen haben. Als Stichworte sind zunennen: Umgang mit dem Defizit, Steuerfinanzierung.Dazu kommt die Frage, wie wir es langfristig schaffenkönnen, von der strikten Lohnbezogenheit der Gesund-heitsfinanzierung wegzukommen, sodass die steigendenGesundheitsausgaben den Lohn nicht automatisch im-mer teurer machen. Wir finden, was wir vorgelegt haben,ist ein gutes Gesetz. Das können Sie kritisieren, keineFrage.Aber jetzt machen Sie von der SPD eine Kampagne.Sie sind sich mal wieder nicht zu schade, die Menschenbewusst und wider besseres Wissen, Herr ProfessorLauterbach, in die Irre zu führen. Das macht allein derBegriff „Vorkasse“ deutlich, den Sie heute schon wiederverwendet haben. Sprechen Sie einmal mit schwerkran-ken Menschen, mit Krebskranken, mit HIV-Infizierten,mit Aidskranken.
Die haben Angst; das merkt man, wenn man mit denenspricht. Ich war letzte Woche auf einer Diskussion in ei-ner Parkinson-Selbsthilfegruppe. Die haben Angst, weilSie ihnen suggerieren, sie müssten ihre Behandlung undihre Medikamente in Zukunft zunächst selbst bezahlen,und irgendwann später würden sie das Geld wiederbe-kommen. Sie wissen, dass das nicht stimmt, aber Sienehmen billigend in Kauf, schwerkranke Menschen zuverängstigen, nur um populistisch einen Punkt zu ma-chen. Das ist völlig inakzeptabel, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD.
Das Gleiche gilt für das Gerede von der Drei-Klas-sen-Medizin. Sie wissen genau, was zur Kostenerstat-tung im Gesetz steht. Es ist übrigens – das merken Sie,wenn Sie einmal genau hinschauen – zu 70 bis 80 Pro-zent das, was wir gemeinsam auf den Weg gebracht ha-ben, weil wir es für richtig gehalten haben, dass dieMenschen ein Wahlrecht haben sollen. Diejenigen, diees wollen – keiner muss –, können sich für die andereRegelung entscheiden und sich die Rechnung schickenlassen. Die allermeisten Menschen werden sich wahr-scheinlich tatsächlich für das Sachleistungsprinzip ent-scheiden.Was dem Ganzen dann aber die Krone aufsetzt – jen-seits dieser Diffamierung, die Sie wider besseres Wissenbetreiben –, ist, dass wir in dem Schreiben Ihres Partei-vorsitzenden lesen können, dass Sie Verbände – Wohl-fahrtsverbände, die ohne Zweifel jederzeit berechtigtsind und die Legitimation haben, Gesundheitspolitik zukritisieren, konstruktive Vorschläge zu machen und an-dere Vorstellungen von Gesundheitspolitik zu haben; das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9737
Jens Spahn
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ist überhaupt keine Frage – als Kooperationspartner ver-einnahmen.
Wie sieht es denn mit der parteipolitischen Neutralitätvon AWO, von Caritas, von der Diakonie und von ande-ren Wohlfahrtsverbänden aus? Ich wundere mich schon.Die Pflegeeinrichtungen, die Krankenhäuser und die Be-hinderteneinrichtungen sind nicht Eigentum der SPD;das ist parteipolitisch neutraler Boden.
Deswegen gehört sich eine solche Kampagne nicht, dieSie hier an dieser Stelle versuchen quer durch die Repu-blik zu betreiben. Wir werden das nicht akzeptieren –nicht von Ihnen und auch nicht von den Wohlfahrtsver-bänden.
Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Wir akzeptie-ren Kritik von jeder Seite.
– Stellen Sie sich einmal vor, was Sie für ein Theatermachen würden, wenn wir so etwas machen würden! Siehalten sich immer für die Gutmenschen, für die Richti-gen und Guten, die zum Wohle für alle durch die Weltunterwegs sind, und wenden dabei Methoden an – dasgilt im Übrigen auch für Ihre Wortwahl; ich nenne dasBeispiel „Vorkasse“ –, durch die Sie bewusst mit denÄngsten spielen. Das ist völlig inakzeptabel für einenkonstruktiven Umgang in einer demokratischen Aus-einandersetzung. Das werden wir auch genau so benen-nen, und wir werden den Finger an dieser Stelle in dieWunde legen. Darauf können Sie sich verlassen.
Seien Sie versichert: Wir werden hier keiner Debatteaus dem Weg gehen, weil wir der festen Überzeugungsind, dass wir die besseren Argumente auf unserer Seitehaben. Wir haben die besseren Argumente in der Debatteüber die Frage, warum wir die gesetzliche Krankenversi-cherung so finanzieren, wie wir sie in Zukunft finanzie-ren wollen, nämlich eben nicht mehr rein lohnabhängig,sondern so, dass über den Steuerausgleich alle Einkom-mensarten mitberücksichtigt werden.Nachdem wir so viel über Ärztehonorare, Kranken-hausabrechnungen, Apothekenabschläge und die Phar-maindustrie geredet haben, halten wir es übrigens auchfür richtig – Herr Kollege Lauterbach, auch dagegen ha-ben Sie sich gewandt –, auch einmal über die Versor-gungsrealität der Patienten und darüber zu reden, was sieim Alltag tatsächlich erleben. Dabei geht es um monate-lange Wartezeiten, die Krankenhaushygiene und dieFrage, wie es in den Krankenhäusern vor Ort aussieht.Darüber wollen wir reden.Wir wollen in diesem Jahr auch über Patientenrechtereden. Gestern fand eine Anhörung statt, in der es um ei-nen Antrag der SPD zu diesem Thema ging. Es warüberschaubar, wie viele von Ihnen bei Ihrer eigenen An-hörung waren. Sie waren tatsächlich auch kurz da. Wirwollen in diesem Jahr auch die Frage in den Mittelpunktstellen, wie der Patient die Versorgungsrealität erlebtund wie wir die Situation für ihn ganz konkret verbes-sern können. Dazu brauchen wir natürlich die Hilfe undUnterstützung der Leistungserbringer. Ich fände es rich-tig, wenn Sie bei diesem Perspektivwechsel ein Stückweit stärker mitmachen würden.Es wäre doch schön, wenn Sie sich wenigstens an die-sen Debatten beteiligen würden, da Sie das letztes Jahrbei den Debatten über die Finanzierung schon nicht hin-bekommen haben. Durch Ihren alten Antrag vomMärz 2010 – ich sage es noch einmal: Er ist durch Ihreeigenen Äußerungen überholt und wird aufgrund IhresWunsches erst jetzt beraten – machen Sie deutlich, wieweit Sie sich noch in den Debatten der Vergangenheitbefinden. Es wäre schön, wenn Sie sich mit uns an denDebatten der Zukunft für eine gute Versorgung der Pa-tienten beteiligen würden. Dann würden wir schon einengroßen Schritt nach vorne kommen. Hinsichtlich derKrankenhaushygiene können Sie das schon im erstenHalbjahr beweisen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Herr Spahn, wennich mich richtig erinnere, haben Sie die Anhörung ges-tern auch nicht ganz bis zum Ende mitgemacht. Daranwill ich nur einmal ganz kurz erinnern.
– Nein, nein, nein, ich glaube, meine Beobachtung wardoch etwas genauer, Herr Lanfermann.
Zu dem Antrag der SPD. Er hat ja schon ein bisschenPatina angesetzt. Nachdem ich ihn gefunden hatte,musste ich den Staub ein wenig wegblasen. Schließlichstammt er aus einer Zeit, als wir noch heftig um die Ein-führung bzw. Verhinderung der Kopfpauschale gerungenhaben. Daher steht in dem Antrag auch die Forderung andie Bundesregierung, sie möge bis Ende 2010 ein Kon-zept für eine Bürgerversicherung vorlegen. Das ist ja inder Tat nun wirklich überholt. Wir haben etwas ganz an-
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Harald Weinberg
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deres vorgelegt bekommen, nämlich etwas, was weitausschlechter ist.Dennoch danke ich der SPD, dass die Diskussion überdiesen Antrag heute auf die Tagesordnung gesetzt wurde;denn so haben wir die Gelegenheit und einen weiteren gu-ten Anlass, über die katastrophale schwarz-gelbe Ge-sundheitspolitik zu reden. Wir haben dadurch aber auchdie Möglichkeit, hier über die veränderte SPD-Positionzur Bürgerversicherung zu sprechen.Der Kurs der SPD in Sachen Bürgerversicherung hatsich in der Tat verändert. Das ist gerade ja auch schondargestellt worden. Aus meiner Sicht besteht der Kursnun aus einer konsequenten Inkonsequenz.
Außerdem – das muss man auch sehen – ist die Parteiganz offensichtlich gespalten. Das will ich Ihnen auchgerne begründen.Auf der einen Seite gibt es die Arbeitsgemeinschaftfür Arbeitnehmerfragen in der SPD, die AfA. Das wareinst eine mächtige und einflussreiche Arbeitsgemein-schaft. Herbert Wehner hat sie einmal als „lebenswichti-ges Organ der SPD“ und zugleich „Auge, Ohr und Herz-kammer der Partei“ bezeichnet. Als ich damals nochJuso war – ich weiß, das sieht man mir jetzt nicht mehran, aber ich war es einmal –,
habe ich nicht in jedem Punkt mit den Vorsitzenden derArbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPDübereingestimmt. Aber jemand wie Rohde oder Dreßlerstellte in der SPD etwas dar.Auch der jetzige Vorsitzende Ottmar Schreiner ge-nießt meine volle Hochachtung. Aber er hat leider in sei-ner Partei nichts mehr zu sagen. Diese Partei hat sichdank Schröder, Clement, Müntefering, Steinmeier undCo. weitgehend von der Wahrung der Arbeitnehmerinte-ressen verabschiedet.
In der modernen Sozialdemokratie der Standortlogikgibt eine Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragennicht mehr den Ton an. So ist es möglich, dass zunächstOttmar Schreiner als AfA-Vertreter, also als Vertreter derArbeitsgemeinschaft, das Positionspapier der DGB-Re-formkommission unterschrieben hat. Dieses Papier ist inSachen Bürgerversicherung beachtenswert und wegwei-send, wenn man eine solidarische und gerechte Finanzie-rung will. Hier wird also der Schulterschluss mit gutengewerkschaftlichen Positionen geübt. Aber kaum hatteOttmar Schreiner das DGB-Reformkonzept unterschrie-ben, verkündeten Frau Nahles und Herr Lauterbach ganz„basisdemokratisch“ von oben herab, dass wesentlichePunkte des bisherigen Bürgerversicherungskonzeptesder SPD von den Füßen auf den Kopf gestellt werdensollen. Die beiden wollen im Gegensatz zum DGB, denGrünen und uns keine Kapitaleinkünfte mehr zur Finan-zierung heranziehen, sondern alle künftigen Mehrausga-ben der Krankenversicherung über Steuern finanzieren.
Die SPD will also eine zunehmend steuerfinanzierteBürgerversicherung. Das ist ein Widerspruch in sich.Dabei hat Herr Lauterbach selber noch 2004 in einemAufsatz zutreffend geschrieben, dass eine Steuerfinan-zierung Probleme bereitet. Er schrieb von der – ich zi-tiere – „Einheitsversorgung eines Steuersystems“ undvon „Haushaltsabhängigkeiten“ bei einer stärkeren Steu-erfinanzierung.
Recht hatte er aus unserer Sicht: Ein steuerfinanzier-tes Gesundheitssystem ist immer auch ein Gesundheits-system, in dem Leistungen nach Kassenlage gewährtwerden können und der Finanzminister der heimlicheGesundheitsminister wird.
Deshalb lehnen wir die Steuerfinanzierung ab und sindfür eine Beitragsfinanzierung.
Nahles und Lauterbach fordern also ein mehr undmehr steuerfinanziertes Gesundheitssystem. Gleichzeitigschreibt die SPD in dem vorliegenden Antrag völlig zuRecht, dass die Steuerfinanzierung des schwarz-gelbenSozialausgleichs bei der derzeitigen Haushaltslage undden Steuerplänen der FDP ein Wolkenkuckucksheim sei.Ja, was denn nun? Sie müssen schon erklären, warumIhre Milliarden an frischen Steuermitteln dauerhaft undsolide finanzierbar sein sollen, wenn das für ähnlicheGesetze der Bundesregierung nicht gelten soll.
– Ja, mir ist es auch so gegangen, Herr Spahn, als Siehier geredet haben, dass ich nämlich – leider – an vielenStellen zugestehen musste, dass der inkonsequente Kursder SPD von Ihnen durchaus richtig beschrieben wordenist.Fazit: Man weiß derzeit immer genau, woran man beider SPD nicht ist. Erst führt sie Zusatzbeiträge und diePraxisgebühr ein und schafft die Parität mit ab; jetzt willsie das Gegenteil. Das ist zu begrüßen. Das finden wirgut.
Erst will sie eine Bürgerversicherung; jetzt will sie Steu-erfinanzierung. Das ist schlecht. Das lehnen wir ab.
Für die SPD ist insgesamt nur zu hoffen, dass sie zu denPositionen der DGB-Kommission zurückfinden wird,die mit unseren Vorstellungen weitgehend übereinstim-men.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9739
Harald Weinberg
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Klar ist nun: Wer keine Bürgerversicherung extralight, sondern eine echte Bürgerversicherung will, musssich an die Linke halten. Die SPD darf nicht auf halbemWeg stehen bleiben.
Diesen Weg zu einer echten Bürgerversicherung solltesie weiter ausprobieren. Man sollte sie dabei zum Jagentragen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Reden wireinmal über Schwarz-Gelb!
Ihr Motto lautet: Es soll keiner merken, dass wir tatsäch-lich ein Kopfpauschalensystem planen. – Dafür habenSie, Frau Kollegin Flach, vorhin wieder ein gutes Bei-spiel geliefert. Sie versuchen nämlich, zu verschleiern,dass Sie den größten Systemwechsel aller Zeiten planen.
Noch nie ist ein Sozialversicherungssystem in Deutsch-land so gründlich und dabei so lautlos umgekrempelt wor-den, wie Sie es mit Ihrer jüngsten Finanzierungsreformgemacht haben. Das ist kein Kompliment. Es bedeutetnämlich, dass Sie sich den Versicherten und damit auchden Wählerinnen und Wählern nicht wirklich stellen undihnen nicht klarmachen, was es bedeutet, wenn zunächstder Weg beschritten wird, den Arbeitgeberbeitrag einzu-frieren, und dabei das Ziel einer Finanzierung über Kopf-pauschalen verfolgt wird, bei der die Geringverdienendenund die Gutverdienenden das Gleiche bezahlen. Dannentsteht ein Arbeitgeberparadies, allein finanziert von denVersicherten. Das ist Ihr Weg, und den werden wir be-kämpfen.
Sie stellen sich vor, weil man jetzt so schleichend vor-geht, dass Sie obendrein die Schuld auf die Krankenkas-sen abwälzen können. Herr Kollege Spahn hat dafür vor-hin ein gutes Beispiel geliefert, indem er das ach soschöne Wettbewerbsinstrument der kleinen Kopfpau-schale, also des Zusatzbeitrages, gepriesen hat. Da müs-sen Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben, und Schwarz-Gelb lehnt sich zurück und sagt: Wir haben doch den Bei-tragssatz gar nicht erhöht. Wenn die Krankenkasse zuteuer wird, müssen Sie sie wechseln. – Aber in Wirklich-keit ist genau das der Weg, den Sie beschreiten wollen.Diese Strategie des Tarnens und Täuschens findet sichauch in der Antwort der Bundesregierung auf die GroßeAnfrage der SPD zur Einführung einer Kopfprämie. Daheißt es ganz treuherzig:Eine vollständige Umstellung der einkommensab-hängigen Beiträge auf einkommensunabhängigePrämien ist … nicht beabsichtigt.Deswegen könne man auch – leider, leider – detaillierteFragen zu den Auswirkungen von Kopfpauschalen nichtbeantworten.Ist das wirklich so? Dann hieße das, dass die Bundes-regierung eine Komplettumstellung der Krankenversi-cherung betreibt, ohne belastbare Daten zu deren Aus-wirkungen zu haben.
Also behaupten Sie, Sie kennen weder die entstehendenEnt- noch die Mehrbelastungen einzelner Versicherten-gruppen; Sie wissen weder etwas über die benötigten Fi-nanzmittel für den Sozialausgleich noch über dessen Ge-genfinanzierung. Ich fürchte beinahe, dass das wirklichso ist. Das interessiert Sie nämlich nicht wirklich.
Was Sie interessiert, ist die Entlastung der Arbeitgeberund der Besserverdienenden und die Bedienung IhrerKlientel in der Pharmaindustrie, der privaten Kranken-versicherung und der Ärzteschaft. Alles andere rangiertunter „politischen Peanuts“, die man gar nicht klärenmuss.
Aus dieser Perspektive würde man nur Unruhe hervorru-fen, wenn man zugibt, was man eigentlich vorhat. Aberganz aberwitzig wird es, wenn Staatssekretär Bahr in ei-nem Interview sagt, anders als bei vorherigen Reformenwürde diese Gesundheitsreform nicht zu höheren Zuzah-lungen führen. Dazu kann ich nur sagen: Herr Staatsse-kretär, Ihre Reform wird in den nächsten Jahren zu einerVerschiebung der Belastung von Arbeitgebern zu Versi-cherten und von Gut- und Durchschnittsverdienenden zuGeringverdienern führen wie keine andere Gesundheits-reform vorher. Diese soziale Schieflage führen Sie ganzgezielt herbei. Sie sollten wenigstens politisch dazu ste-hen.
Die Kanzlerin aber möchte das lieber so. Sie hat schoneinmal ihre Erfahrungen im Bundestagswahlkampf 2005gemacht und erlebt, wie unpopulär ein Angriff auf dasSolidarsystem ist. Sicher passt es Ihnen gut, dass nach
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9740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Birgitt Bender
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den neuesten Berechnungen des Schätzerkreises so vielGeld im Gesundheitsfonds ist, dass zunächst Zusatzbei-träge nicht in großem Umfang zu erwarten sind und dasGeld sogar noch für den Sozialausgleich reicht.Allerdings, lieber Kollege Lauterbach, sollte man da-raus nicht den Schluss ziehen, zu fordern, das Geldgleich wieder wegzunehmen, damit Zusatzbeiträgeschneller kommen und womöglich kein Geld für den So-zialausgleich zur Verfügung steht, und somit eine Artpolitische Verelendungsstrategie betreiben. Das haltenwir ausdrücklich für falsch.
Es ist wichtig, dass wir die Kopfpauschale immerwieder zum Thema machen und Ihnen diese Durch-tauchstrategie nicht durchgehen lassen. Vor diesem Hin-tergrund ist es richtig, heute über diesen Antrag der SPDzu debattieren, auch wenn man ihm anmerkt, dass erschon etwas älter und in einigen Punkten überholt ist. Esgibt richtige Ziele, nämlich die Wiederherstellung derParität oder die Leitidee, dass die gesamte Gesellschaftfür die Finanzierung des Gesundheitswesens zuständigist. Deswegen teilen wir auch die Forderung nach einerBürgerversicherung. Wir haben dafür ein Konzept vor-gelegt.
Aber andere Berichte – das wurde schon angespro-chen – lassen vermuten, dass die SPD hinter den Standihrer eigenen Erkenntnisse, die in diesen Antrag einge-gangen sind, wieder zurückgefallen ist. In dem Antragsteht richtig, es müsse in den nächsten Jahren im Bun-deshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 MilliardenEuro geschlossen werden, wenn die Schuldenbremseeingehalten werden solle. Dies mache deutlich – ich zi-tiere –, „dass von einem steuerfinanzierten Sozialaus-gleich nach dem derzeitigen Stand nicht ausgegangenwerden kann“. Zu Deutsch: Das Geld ist nicht da. Auchwir sehen das so. Aber wenn das so ist, dann ist natürlichauch kein Geld für die Finanzierung der Bürgerversiche-rung über den Bundeshaushalt da. Das heißt, eine nach-haltigere und gerechte Finanzierung der gesetzlichenKrankenversicherung wird vornehmlich über Beiträgestattfinden müssen. Deswegen ist unsere Bürgerversi-cherung auch ein beitragsfinanziertes System.
Unsere Zustimmung zu dem SPD-Antrag ist als Er-munterung an die Kolleginnen und Kollegen von derSPD gedacht, die Kohärenz und Konsistenz ihrer Politikzu überprüfen.
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Daniel Bahr.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Sowohl die Debatte als auch der Antrag zeigen ei-nes ganz deutlich: Die SPD ist noch immer nicht in ihrerOppositionsrolle angekommen. Herr Gabriel und HerrLauterbach machen immer mit; Hauptsache, die Regie-rung wird kritisiert. Eine konsistente Linie ist jedochnicht erkennbar. Die bisherige Debatte hat das eindrück-lich gezeigt.
Ihr Antrag, aber auch Ihre Rede, lieber HerrLauterbach, soll offensichtlich nur eines zeigen: Sie wol-len die letzten neun Jahre, in denen die SPD Verantwor-tung in der Gesundheitspolitik getragen hat, vergessenmachen. Was haben wir denn vorgefunden, als wir denSchlüssel für das Gesundheitsministerium bekommenhaben?
Wir haben ein Milliardendefizit für das Jahr 2010 undein Milliardendefizit für das Jahr 2011 vorgefunden. Wirhaben ein Finanzierungssystem der gesetzlichen Kran-kenversicherung vorgefunden, das nicht in der Lage war,ein solches Milliardendefizit zu schultern. Wenn wirnichts getan hätten, wenn wir also das beibehalten hät-ten, was die SPD vorbereitet hat – Gesundheitsfonds,Zusatzbeiträge, Finanzierungssystem –, dann hätten wirKrankenkasseninsolvenzen erlebt. Die Versicherten hät-ten sich nicht mehr auf das Gesundheitswesen und aufihre Krankenversicherung verlassen können.Es war unsere Leistung, dass die Menschen inDeutschland in diesem Jahr, Anfang 2011, wissen: Siekönnen sich auf ihre Krankenversicherung und auf dasGesundheitswesen verlassen. – Das ist nicht Ihre Hinter-lassenschaft gewesen. Ihre Politik hätte dazu geführt,dass die Krankenkassen teilweise zusammengebrochenwären. Das hätte Versorgungsprobleme mit sich ge-bracht.
Wir hingegen haben dafür gesorgt, dass das Konzept mitZusatzbeiträgen und anderem überhaupt erst tragfähigwird. Sie diskreditieren das alles mit Begriffen wie„Kopfpauschale“ und „Vorkasse“.Gucken wir uns doch einmal an, was die SPD inDeutschland eingeführt hat: In Deutschland müssenMenschen unabhängig von ihrem Einkommen und ihrersozialen Situation zunächst 10 Euro bezahlen, wenn siezum Arzt gehen, bevor sie den Arzt überhaupt erst se-hen.
Das ist die Kopfpauschale und Vorkasse, wie sie dieSPD in Deutschland mit der Praxisgebühr eingeführt hat.Das, was wir machen, ist etwas völlig anderes.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9741
Parl. Staatssekretär Daniel Bahr
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– Das scheint wehzutun, Frau Ferner. Es scheint Ihnenrichtig wehzutun, dass hier endlich einmal die Wahrheitdarüber gesagt wird, wer Vorkasse und Kopfpauschale inDeutschland eingeführt hat.
Was machen wir denn? Wir führen eine gerechtereBeitragsfinanzierung für die Bürgerinnen und Bürgerein.Herr Präsident, ich muss daran erinnern, dass HerrLauterbach eine Frage stellen möchte.
Man muss nicht gleich in Sekundenschnelle darauf
reagieren, Herr Kollege.
Bitte schön, Herr Lauterbach.
Herr Bahr, ist es denn nicht richtig, dass die Länder,
in denen die FDP mitregiert, im Bundesrat der Praxisge-
bühr in Höhe von 10 Euro zugestimmt haben? In NRW
beispielsweise haben Sie mit zugestimmt. Ist es nicht
auch richtig, dass Sie fast anderthalb Jahre Zeit gehabt
hätten, die Praxisgebühr wieder abzuschaffen, wenn sie
Ihnen nicht gefällt?
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Lieber Herr Lauterbach, es tut mir leid, Sie korrigie-ren zu müssen, aber die schwarz-gelbe Regierung inNRW gab es leider erst ab 2005. Wir hätten sie gerneschon früher gehabt. Bis 2005 gab es in NRW noch einerot-grüne Regierung. Sie hat der Praxisgebühr im Bun-desrat in der Tat zugestimmt. Wie gesagt, damals war dieFDP nicht in der Regierung, sondern SPD und Grüne.Sie müssen also noch einmal nachschauen, wer im Bun-desrat zugestimmt hat.Die FDP hat der Praxisgebühr im Bundesrat nicht zu-gestimmt. Sie hat sie damals als einzige Partei im Deut-schen Bundestag abgelehnt, weil sie gesagt hat: Das istkeine Eigenbeteiligung, die wirklich einen Anreizschafft. – Natürlich brauchen wir eine Eigenbeteiligung;da haben Sie völlig recht. Aber die Praxisgebühr ist ebenkeine steuernde Eigenbeteiligung, die einen Zusammen-hang zur Leistung bringt, sondern sie ist eine Vorkasseohne Zusammenhang zur Leistung und unabhängig vonder sozialen Situation. Das ist eine Kopfpauschale. Das,was Sie kritisieren, haben in Wahrheit Sie in Deutsch-land eingeführt, lieber Herr Lauterbach.
Ich möchte auf die anderen Punkte zu sprechen kom-men, die genannt worden sind. Wir haben ein gerechtesBeitragsfinanzierungssystem zustande gebracht, damitdie Versicherten in Euro und Cent vergleichen können,was sie die Krankenversicherung kostet und was sie vonihr bekommen. Die ersten Erfolge zeigen sich: DieKrankenkassen, die jetzt zum Teil 8 Euro als – so nenneich es – Ulla-Schmidt-Gedächtnis-Preis verlangen, denZusatzbeitrag, unterscheiden sich von anderen Kranken-kassen zum Beispiel bei den Verwaltungskosten. Wennman das einmal vergleicht, stellt man fest: Die eine hatmöglicherweise um 10 Euro höhere Verwaltungskostenpro Beitragszahler als die andere. Hätte also die Kasse,die 8 Euro verlangen muss, nicht so hohe Verwaltungs-kosten wie die andere, müsste sie die 8 Euro gar nichtverlangen. Da ist es doch eine Form des Wettbewerbs,wenn die Versicherten vergleichen und schauen können,was ihnen die Leistungen der Krankenkassen wert sind.Wir wollen im Interesse der Wahlfreiheit der Bürgerin-nen und Bürger, dass Unterschiede erkennbar werden.Das ist ein fairer Wettbewerb.Das, was Sie im Kern wollen, lieber Herr Lauterbach,ist ja nicht konsistent. Sie haben erkannt, dass die Ur-sprungsidee der Bürgerversicherung tot ist, dass dasGanze nicht umsetzbar ist, zu viel Bürokratie, zu einemenormen Aufwand für die Krankenkassen führt, sodassKrankenkassen zu zweiten Finanzämtern werden: DieOma muss sozusagen erst einmal ihre Sparbuchzinsender Krankenkasse zum Zweck der Beitragserhebung zei-gen. Diesen Irrweg haben Sie erkannt und deswegenkorrigiert.Was Sie jetzt wollen, ist doch in Wahrheit der Ein-stieg in ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen, in einstaatliches, zentralistisches Gesundheitswesen, in demder Finanzminister jedes Jahr entscheidet, wie viel Geldes zusätzlich für den Gesundheitsfonds, für das Gesund-heitswesen gibt. Die Höhe der Mittel ist dann abhängigvon der Haushaltslage. Das, was Sie hier vorantreibenwollen, ist eine Gesundheitspolitik nach Kassenlage.Das zeigt auch Ihr aktueller Vorschlag. Er wird in ei-ner Situation gemacht, in der wir froh sein können, dasswir die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherungstabilisiert haben. Sie hingegen rufen nach einer Bei-tragssenkung, die nicht zu finanzieren ist. Das zeigt dieUnseriosität der SPD, nicht der Opposition; denn dieGrünen sind da seriöser. Sie haben erkannt, dass man fürdie Menschen in Deutschland verlässlich bleiben muss.Sie von der SPD fordern eine Beitragssenkung, ohnehier eine seriöse Finanzierung auf den Weg zu bringen.Wir können froh sein, dass wir einen Puffer haben. EinPuffer ist allemal besser als eine Politik, die auf Kantenäht. Das war bekanntermaßen die SPD-Politik der Ver-gangenheit, und daran orientieren wir uns nicht.
Zur Wahrheit gehört: Ja, wir brauchen eine gerechtereFinanzierung. Wir brauchen mehr Wettbewerb zwischenden Krankenkassen, damit die Versicherten entscheidenkönnen. Wir bringen das auf den Weg, damit die Versi-cherten sehen können, was ihre Krankenversicherungkostet und was sie dafür leistet. Das, was wir als deut-sches Gesundheitswesen zu schätzen wissen und wofüruns die Länder um uns herum beneiden, wird nicht zumNulltarif zu haben sein; es wird im Hinblick auf den me-dizinisch-technischen Fortschritt und die alternde Bevöl-
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9742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Parl. Staatssekretär Daniel Bahr
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kerung in den nächsten Jahren seinen Preis haben. Wirhaben für eine stabile Finanzierung in den nächsten Jah-ren gesorgt, während Sie immer noch kurzsichtig sind.Das bedeutet für die Bürgerinnen und Bürger keine Ver-lässlichkeit in der Gesundheitspolitik, und deswegensollten die Bürgerinnen und Bürger eher Union und FDPihr Vertrauen in der Gesundheitspolitik schenken.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Angelika Graf für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da-mit keine Legenden entstehen: Die festen Zusatzbeiträgesind von Ihnen, von der CDU/CSU, gekommen.
Wir wollten einkommensabhängige Zusatzbeiträge. Icherkläre nur, woher diese Beiträge kommen. Nicht alleskann man der SPD ans Bein binden.
Ich muss einer weiteren Legende widersprechen. Wieist es denn mit der Praxisgebühr? Die Praxisgebühr istvon der CSU erdacht worden. Wir haben ein Hausarzt-modell vorgeschlagen. Aber wie es so ist im politischenGeschäft – das wissen auch Sie, Herr Spahn –: Man ei-nigt sich am Ende irgendwo. Die Verantwortung für sol-che Entscheidungen allerdings ganz abzulehnen, dasgeht definitiv nicht.
Was ebenfalls nicht geht, ist, uns die Kooperation mitSozialverbänden vorzuwerfen. Auf gut Bayerisch ge-sagt: Sie packeln mit der Atomindustrie, mit der Phar-malobby, mit dem Bundesverband der Deutschen Indus-trie. Auch wir suchen uns unsere Bündnispartner, unddie finden wir eben bei den Sozialverbänden.Ein weiterer Aspekt ist der Zeitablauf. Es ist in derTat so, dass die Große Anfrage, die wir heute ebenfallsbesprechen, schon im Februar 2010 in das parlamentari-sche Verfahren eingebracht worden ist. Wenn Sie einknappes Dreivierteljahr brauchen, um diese Große An-frage zu beantworten, und wir diesen Antrag zusammenmit der Antwort auf die Große Anfrage behandeln wol-len, dann ist es nicht ganz fair, uns Vorwürfe zu machen.Das Problem lag wohl eher im Gesundheitsministerium.
Zum Thema Kopfpauschale ist schon viel gesagt wor-den. Ich benutze dieses Wort nach wie vor, weil das nachmeiner Auffassung eine Kopfpauschale ist. Tatsache ist:Die unbegrenzt wachsende Höhe der Kopfpauschalen,die durch die steigenden Kosten in der Gesundheitswirt-schaft verursacht werden, und die Verabschiedung derArbeitgeber aus der Finanzierung künftiger Ausgaben-steigerungen bergen die Gefahr – jedem, der rechnenkann, ist das klar –, dass die Bürger massiv belastet wer-den. Dies alles ist – das muss man deutlich sagen – vonIhnen in der Zwischenzeit beschlossen worden.Am Anfang hat es viel Theater gegeben, weil Sienoch nicht wussten, was Sie wollten. Deswegen habenwir die Große Anfrage zum Thema Kopfpauschale ein-gebracht. Zum einen haben Sie eine große Kopfpau-schale vorgesehen, zum anderen haben Sie etwas von ei-ner kleinen Kopfpauschale erzählt. All das war nichtsFestes. Mit dem Theater um die große Kopfpauschalewollen die meisten Menschen nichts mehr zu tun haben.
Sprechen Sie mit den Menschen; dann werden Sie fest-stellen, dass die Kopfpauschalen von den Menschen ab-gelehnt werden.Ich führe nochmals das Problem der Rentnerinnenund Rentner an. Eine Rentnerin bzw. ein Rentner kannsich heute noch nicht vorstellen, 30 bis 40 Euro zusätz-lich zu zahlen, ohne – wenn er bzw. sie Pech hat – einenCent Sozialausgleich zu bekommen. Das wird Ihnennoch auf die Füße fallen. Da bin ich ganz sicher.
Sie schlagen vor, dass der Rentner bzw. die Rentnerindie Kasse wechseln soll. Das macht deutlich, wie weitSie von der Lebensrealität vieler Menschen entferntsind. Gerade Ältere oder Hochaltrige sind absolut über-fordert damit, von einer Krankenkasse zur nächsten zuhüpfen und bald wieder zurück. Ihre Politik respektiertnicht die Lebensrealität der Menschen.Herr Spahn, Sie haben ausgeführt, dass die altenMenschen Angst haben. Sie haben zu Recht Angst: zumeinen vor der Vorkasse – die kommen wird; das ist garkeine Frage –,
zum anderen wenn sie verfolgen, wie die Debatte überdie Folgen der demografischen Entwicklung in unsererGesellschaft geführt wird. Alte Menschen sagen mir:Wir sind doch nicht schuld daran, dass wir so alt gewor-den sind. Warum diskutiert ihr die ganze Zeit so, als wä-ren wir die Schuldigen an den Ausgabensteigerungen imGesundheitswesen? – Das gibt mir schon zu denken. Diealten Menschen haben ein schlechtes Gefühl. Dabei ha-ben sie viel für unser Land getan und viel erlitten. Wirsind davon überzeugt: Um mehr Solidarität in das Sys-tem zu bekommen, ist die Bürgerversicherung der rich-tige Weg.Zur Bürgerversicherung. Viele Wege führen nachRom. Wir werden einen detaillierten Vorschlag unter-breiten, über den wir diskutieren können. Wir können all
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9743
Angelika Graf
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die Probleme und Argumente aufnehmen, die vonseitender Grünen, der Linken oder von Ihrer Seite vorgetragenworden sind.
Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Stephan Stracke für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Seit 1998, liebe Frau Kollegin Graf,versprechen Sie uns in diesem Hohen Hause, dass Sie et-was vorlegen, das mit der Bürgerversicherung in Ein-klang zu bringen ist, irgendetwas Greifbares, ein Kon-zept; aber nichts dergleichen kam. Nun kündigen Sie an,dass Sie das im April dieses Jahres machen wollen. EinSchelm, wer Böses dabei denkt. Am 27. März sind Wah-len. Sie sagen sich, dass man mit der Bürgerversicherunggut Wahlkampf betreiben kann.
Deswegen sparen Sie es sich, ein Konzept vorzulegen.Von Ihnen kommt nichts Konkretes, nichts Umsetzbares,nichts Tragfähiges.Wir als christlich-liberale Koalition hingegen habengehandelt und das Preismonopol der Pharmaindustriegebrochen.
Das hat dazu geführt, dass gerade für die VersichertenEinsparungen in Milliardenhöhe erzielt werden können.Wir haben das Defizit von 10 Milliarden Euro erfolg-reich bekämpft, und zwar durch einen Mix, der sowohldie Einnahme- als auch die Ausgabenseite betrifft, unddas ohne Leistungsausgrenzung, ohne Priorisierungenund ohne den Leistungskatalog einzuschränken. Was wirhier vorgelegt haben, ist wirklich à la bonne heure.Jetzt erklären Sie hier, mit dem Zusatzbeitrag hättenSie nichts zu schaffen. Haben Sie denn mitgestimmt,oder haben Sie nicht mitgestimmt? Natürlich haben Sieim Rahmen der Großen Koalition dafür gestimmt. Wirhaben diesen Zusatzbeitrag jetzt weiterentwickelt undihn sozial flankiert,
nämlich mit einem über Steuern organisierten solidari-schen Sozialausgleich. Ich halte das insgesamt für rich-tig und berechtigt.In Ihrem Antrag fordern Sie uns als christlich-liberaleKoalition auf, Ihre kruden Ideen einer Bürgerversiche-rung umzusetzen.
Es ist sicherlich nicht unsere Aufgabe, hierzu ein Konzeptvorzulegen. Unsere Aufgabe ist es aber, einmal daraufhinzuweisen, was das, was Sie mit Ihrer Bürgerversiche-rung einführen wollen, bedeutet. Im Ergebnis bedeutet esnämlich eine schlechtere Versorgung der Patienten inganz Deutschland;
denn die Leitidee, die diese Bürgerversicherung durch-wabert, ist Staatsdirigismus.
Sie wollen zunächst einmal möglichst viel Geld von denVersicherten einnehmen, um es dann wieder zu verteilen.Ihre Idee bedeutet Staatsmedizin.
Das gilt schon für die Positivliste, die von Ihnen immerwieder ins Feld geführt wird. So etwas bedeutet eineganz klare Begrenzung der Therapiefreiheit.Die sieben Eckpunkte, die Sie hier angedacht haben,führen zu alles anderem als zu den paradiesischen Zu-ständen und elysischen Verhältnissen, die Sie meinen. Essind nicht sieben Brücken in solche Verhältnisse, son-dern vor allem sieben Krücken in eine schlechtere Ver-sorgung in Deutschland.
Zunächst einmal versprechen Sie, im Rahmen einerBürgerversicherung die Parität zwischen Arbeitgeberund Arbeitnehmer wiederherzustellen. Das klingt beimersten Ton gut, wird aber sehr schnell dissonant, weil Siedie Entkopplung zwischen steigenden Gesundheitskos-ten auf der einen Seite
und steigenden Arbeitskosten auf der anderen Seite nichthinbekommen.
Aufgrund der demografischen Entwicklung werden dieGesundheitskosten nämlich steigen. Diejenigen, die sichnicht zutrauen, den Menschen die Wahrheit zu sagen,sind im Ergebnis diejenigen, die die Bürger hinters Lichtführen.
Wir halten das, was wir auf den Weg gebracht haben,für sinnvoll. Damit wird nämlich nicht die Einnahme-seite untergraben. Genau das wäre aber das Ergebnis derUmsetzung Ihrer Forderung.
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9744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weinberg?
Ja, gerne.
Werter Herr Kollege Stracke, ist Ihnen bekannt, dass
in den letzten 10 bis 15 Jahren die Ausgaben der gesetz-
lichen Krankenversicherung, gemessen am Bruttoin-
landsprodukt, die Quote von 6,5 Prozent niemals über-
schritten haben
und immer gleichbleibend waren? Wieso reden Sie in
diesem Zusammenhang von steigenden Gesundheitskos-
ten? Können Sie mir das bitte erklären?
Ein solcher Vergleich im Rahmen des Bruttoinlands-
produkts ist durchaus richtig. Allerdings müssen Sie
auch auf diejenigen schauen, die das Ganze erwirtschaf-
ten, und berücksichtigen, wie die Lohnentwicklung ins-
gesamt verläuft. Deswegen ist es durchaus sinnvoll, alles
dafür zu tun, dass Arbeit in diesem Land geschützt und
gestützt wird.
Gerade deshalb ist es der richtige Ansatz, hier die Parität
aufzuheben. Das tun wir, damit möglichst viele Arbeits-
plätze zur Verfügung stehen und damit auch ein entspre-
chendes Beitragsaufkommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage, diesmal der Kollegin Graf?
Ja. – Frau Kollegin, bitte schön.
Herr Kollege Stracke, wenn Sie sich schon so um die
Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sorgen: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass die flä-
chendeckende Einführung eines Mindestlohns ein Weg
dahin wäre?
Meine sehr verehrte Kollegin, Sie wissen, dass derMindestlohn viel debattiert und derzeit auch im Rahmenanderer Sachzusammenhänge behandelt wird. Im Be-reich des Gesundheitswesens hat diese Debatte – mitAusnahme der Pflegeversicherung, wo wir sie mit aufden Weg gebracht haben – meines Erachtens keine ziel-greifende Fundierung.
Entscheidend ist, dass das, was Sie als Bürgerversi-cherung verkaufen, ein breit angelegtes Belastungspro-gramm für die Bürgerinnen und Bürger ist. Sie schröpfenin erster Linie die Mittelschicht in diesem Lande.Schauen Sie sich nur einmal den Vorschlag der Grünenan, die Beitragsbemessungsgrenze um 47 Prozent zu er-höhen.
Sie haben ja eine Erhöhung von 3 750 Euro auf5 500 Euro beschlossen. Das ist eine enorme Belastung,
nicht überwiegend für die Privatversicherten, sondernzunächst einmal für die freiwillig gesetzlich Versicher-ten. Dieser Personenkreis, der zusätzlich belastet würde,umfasst 4 Millionen Menschen. Es träfe gerade diejeni-gen, die tagtäglich in der Früh aufstehen und zur Arbeitgehen, also die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
Sie arbeiten Tag für Tag dafür, dass die sozialen Siche-rungssysteme erhalten bleiben.
Die Bürgerversicherung ist ein Enteignungsinstru-ment;
denn Sie wollen sie auf sämtliche Einkommensarten er-strecken: auf Einnahmen aus Vermietung und Verpach-tung sowie auf Zinsen. Das trifft nicht überwiegend dieVermögensmillionäre. Ganz im Gegenteil: Der Dummeist der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer; es istdie breite Mittelschicht in unserem Land. Sie führen da-mit eine Sondersteuer ein, wohl wissend, dass sie einenerheblichen bürokratischen Aufwand und damit eine Er-höhung der Abgabenlast mit sich bringt, ganz zu schwei-gen von der damit ausgelösten Kapitalflucht.Was das Thema „Einbeziehung der Privatversicher-ten“ angeht, bin ich sehr zurückhaltend. Ich glaube Ihnennicht, dass Sie den Vertrauensschutz und die verfas-sungsrechtlichen Bedenken beachten werden.
Sie wollen an die Rückstellungen der privaten Kranken-kassen heran und damit an das Geld derer, die diese Bei-träge erarbeitet haben. Sie werden alles probieren undverfassungsrechtlich austesten, wie weit Sie gehen kön-nen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9745
Stephan Stracke
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Auch die Erweiterung des Kreises der versichertenPersonen, wie es bei der Bürgerversicherung der Fallwäre, ist keine Lösung; denn aus Beitragszahlern werdenKranke. Man muss sich nur einmal die Altersstruktur derBeamten anschauen. Man muss auch einmal darüber dis-kutieren – ich verweise in diesem Zusammenhang auf denverfassungswidrigen Haushalt von NRW, den Minister-präsidentin Hannelore Kraft zu verantworten hat –, wel-che Mehrausgaben dies für die Länder bedeuten würde.Die Bürgerversicherung, so wie die Grünen sie ange-dacht haben, ist nicht zuletzt ein Angriff auf Ehe und Fa-milie.
Sie haben schon im Zusammenhang mit dem Steuerrechtgesagt, Sie wollten das Ehegattensplitting abschaffen.
Genau diesen Gedanken übertragen Sie nun auf die ge-setzliche Krankenversicherung. Damit nehmen Sie Un-gerechtigkeiten zwischen kinderlosen Ehepaaren undnichtehelichen Lebensgemeinschaften in Kauf. Das Ent-scheidende ist aber: Die Abschaffung des Ehegatten-splittings an den Rechtsanspruch auf einen Kindergar-tenplatz zu koppeln, untergräbt unser Verständnis vonEhe und Familie. Es entspricht nicht unserem Verständ-nis von Verantwortungsgemeinschaft. Mit Ihrer Forde-rung bestrafen Sie im Ergebnis diejenigen, die Kindererziehen wollen. Sie wollen die Kinder in die Obhut desStaates geben und Helfershelfer bei der Erziehung sein.
Das ist Hedonismus pur und nichts, was unsere Gesell-schaft zusammenhält.
Die Bürgerversicherung ist ein Irrweg. Deswegen ma-chen wir ihn nicht mit. Wir haben für die gesetzlicheKrankenversicherung einen stabilen Finanzrahmen ge-schaffen. Wir werden mit dem Versorgungsgesetz denWeg, den wir uns vorgenommen haben, nämlich vomPatienten aus zu denken und Versorgungsstrukturen ent-sprechend zu gestalten, konsequent weitergehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kathrin Vogler für die Fraktion Die
Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Nach-dem uns die Kollegin Flach und der Kollege Bahr vonder FDP hier so schön mit Nebelkerzen beworfen haben,möchte ich einmal daran erinnern, worum es der FDP indieser Debatte eigentlich geht. Dazu zitiere ich aus einerZeitung, die Ihnen sicherlich deutlich nähersteht als uns,nämlich aus der Welt vom 9. Februar 2009:Die FDP will bei einer Regierungsbeteiligung nachder Bundestagswahl die gesetzliche Krankenversi-cherung abschaffen.
Weiter heißt es:Die FDP tritt seit längerem für die Privatisierungdes gesamten Krankenversicherungssystems ein.
Das hat sich aber kein Journalist ausgedacht, sondern derdamalige gesundheitspolitische Sprecher Ihrer Fraktion,der heutige Staatssekretär Daniel Bahr,
der jetzt im Gesundheitsministerium daran arbeitet,diese radikalen Pläne zur Zerschlagung unseres Gesund-heitssystems umzusetzen.
Entsolidarisieren, Privatisieren, Ruinieren – das ist dergruselige Dreisatz der FDP für unser Gesundheitswesen.
Das kann man mit uns wirklich nicht machen.
Statt eines solidarischen Systems, in dem Starke fürSchwache und Gesunde für Kranke einstehen, wollenSie ein System, in dem alle gemeinsam – von der Friseu-rin bis zum Bankmanager – die Renditen der Versiche-rungskonzerne steigern. Es ist aber so, dass die Friseurinmit ihrem Gehalt nur einen Basisschutz finanzierenkann, während sich der Bankmanager alles dazukaufenkann, was er möchte. Herr Bahr, Sie müssen ganz ent-täuscht gewesen sein, dass dieses Konzept dem Allianz-Versicherungskonzern nicht mehr als eine Spende inHöhe von 50 000 Euro für den Wahlkampf wert war, wodoch SPD, CDU, CSU und die Grünen jeweils60 000 Euro bekommen haben.Dann haben Sie auch noch von der CSU – der Kol-lege Stracke hat gerade gesprochen –
ordentlich Knüppel zwischen die Beine geworfen be-kommen. „Wildsau“ hat es geheißen, als Herr Seehoferdie Kopfpauschale als genau das bezeichnet hat, was sieist, nämlich als zutiefst unsozial.
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9746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Kathrin Vogler
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Auch hier möchte ich zitieren: „Kopfpauschale bringtzu hohe Belastung“ und „Die CSU lehnt eine Kombina-tion aus Beitragserhöhung und Kopfpauschale ab“. Dasstand im Juni 2010 auf Ihrer Website www.csu.de, undim September hat Herr Söder das Ganze noch einmalbestätigt. Da möchte ich Ihnen doch fast die Websitewww.wegweiser-demenz.de des Familienministeriumsempfehlen;
denn schon zwei Monate später, im November, habenalle CSU-Abgeordneten in diesem Haus beim GKV-Fi-nanzierungsgesetz genau für das gestimmt, was sie vor-her kritisiert haben:
eine Kombination aus Beitragserhöhung und Kopfpau-schale. Vielleicht war bei Ihrer Meinungsbildung auchder erneute Scheck von der Allianz vom Juli 2010 be-hilflich?
Aber Sie würden das am liebsten vergessen. Deswegenhaben Sie den Text von der Homepage gelöscht.Jetzt kommt der Kollege Spahn von der CDU daherund versucht, sich mit großem Getöse populistisch alsRächer der gesetzlich Versicherten und Vertreter der Pa-tientenrechte darzustellen.
Mich interessiert, Herr Spahn: Warum profilieren Siesich als Wahrer der Interessen von Patientinnen und Pa-tienten und haben gleichzeitig in der gestrigen Anhö-rung, in der es um die Patientenrechte ging, mit keinereinzigen Organisation gesprochen, die die Interessen derBetroffenen vertreten hat? Stattdessen haben Sie demVerband der privaten Krankenversicherung viel Raumgegeben, um darzustellen, was er unter Patientenrechtenversteht. Dafür sind Ihnen bzw. Ihrer Partei wahrschein-lich auch 2011 wieder die 60 000 Euro von der Allianzsicher.
Ich kann Ihnen versprechen: Die Linke wird weiter-hin für ein solidarisches und soziales Gesundheitswesenkämpfen. Dafür verzichten wir als einzige Partei in die-sem Haus gern auf den jährlichen Scheck von der Allianz.
Die Linke und die Gesundheit haben nämlich eines ge-meinsam: Beide kann man nicht kaufen; beide sind un-bezahlbar.
Das Wort hat nun Lothar Riebsamen für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nichts könnte anschaulicher machen als diese Vorlagen,die wir heute diskutieren, wie entscheidend und zu-kunftsweisend die christlich-liberale Koalition im abge-laufenen Jahr 2010 im Gesundheitswesen für unser Landvorangekommen ist. Wenn man die Große Anfrage undden Antrag liest, wird deutlich: Sie sind von der Ge-schichte längst überholt. Auf Schwäbisch würde man sa-gen: Sie sind so aktuell wie die alte Fastnacht.Genau in den von Ihnen angesprochenen Punkten ha-ben wir das Gesundheitswesen in unserem Land einStück weit zukunftsfester gemacht. Wir haben die Ar-beitskosten entlastet, nicht von den Kosten, die wir bis-her im Gesundheitswesen hatten, sondern von den zu-künftig anfallenden Kosten, die aufgrund derdemografischen Entwicklung und des medizinischenFortschritts entstehen. Diese Kosten wollen wir nicht zu-sätzlich in den Arbeitskosten haben. Zudem haben wirEntscheidendes für die Solidarität in diesem System zwi-schen den Gesunden, den Kranken, den Reicheren undden Ärmeren getan.
Wenn man Ihre Vorlagen liest, wird nicht deutlich,wie Sie reagieren und was Sie tun wollen. Sie akzeptie-ren, dass Jahr für Jahr die Gesundheitskosten deutlichsteigen. Sie müssen auch akzeptieren, dass sie in Zu-kunft noch viel deutlicher und progressiver steigen wer-den. Sie haben nichts anderes anzubieten, als zusätzlichSteuermittel ins System zu pumpen, ohne zu sagen, wo-her diese Steuermittel kommen sollen – vermutlich ausSteuererhöhungen –, oder diese Kosten zusätzlich aufdie Arbeitskosten abzuwälzen.
Wir können den Herausforderungen nicht begegnen,indem wir die Produktivität und damit die Wettbewerbs-fähigkeit unseres Landes belasten. Es ist doch kein Zu-fall, dass wir heute nur noch 3 Millionen Arbeitsloseoder weniger haben und Vollbeschäftigung anstreben,während wir zum Ende der rot-grünen Regierungszeit5 Millionen Arbeitslose hatten. Es ist doch auch kein Zu-fall, dass unsere deutsche Volkswirtschaft nach dieserKrise im Vergleich mit allen anderen Euro-Ländern ambesten dasteht; ein Stück weit gilt das sogar im weltwei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9747
Lothar Riebsamen
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ten Vergleich. Wir wollen die Volkswirtschaft unseresLandes wettbewerbsfähig halten. Dazu beigetragen ha-ben auch die Tarifpartner, die Arbeitgeber und die Ar-beitnehmer, die in der Krise Lohnzurückhaltung geübthaben und die Lohnkosten dadurch nicht zusätzlich be-lastet haben. Das hat uns starkgemacht und gut aus die-ser Krise herauskommen lassen.
Sie selbst haben diesen Weg einst als richtig erkannt.Die rot-grüne Regierung hat die Kosten um 0,9 Prozent-punkte in Richtung Arbeitnehmer verschoben,
und während der Großen Koalition wurden die Arbeitge-berbeiträge eingefroren. Auch dies geschah mit der Ab-sicht, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und dieArbeitsplätze in unserem Land zu erhalten.
Sie ignorieren die demografische Entwicklung. Wirhingegen haben im vergangenen Jahr zwei Gesetze ver-abschiedet, die deutliche Fortschritte bringen. Dem Defi-zit von 9 Milliarden Euro, das zu erwarten war, sind wirdadurch begegnet, dass wir den Zwangsrabatt auf16 Prozent erhöht haben und wir weniger im Bereich derambulanten und stationären Einrichtungen gegeben ha-ben. Das waren die kurzfristigen Maßnahmen.Durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz ha-ben wir einen Paradigmenwechsel auf der Kostenseiteerreicht.
Wir haben das erreicht, was unter einer sozialdemokrati-schen Ministerin elf Jahre lang nicht erreicht wurde: Diepharmazeutische Industrie und die gesetzlichen Kran-kenversicherungen begegnen sich auf Augenhöhe,
wenn neue Medikamente eingeführt werden. Grundlagedieser Verhandlungen ist der sogenannte Mehrnutzen.Das war ein ganz entscheidender Fortschritt im vergan-genen Jahr, den wir uns zugutehalten können. Es ist gut,dass wir im vergangenen Jahr die Regierungsverantwor-tung hatten. So konnten wir diesen Schritt gehen.
Sie preisen immer wieder die Solidarität, die in frühe-rer Zeit angeblich herrschte. Dazu muss ich Ihnen sagen:So weit war es mit der Solidarität nicht her. Die Solida-rität galt bis zur Beitragsbemessungsgrenze von3 750 Euro. Darüber hinaus gab es sie nicht. Die Solida-rität galt nicht beim Zusatzbeitrag, den es damals schongab. Wir haben zum ersten Mal einen Sozialausgleicheingeführt, der aus Steuermitteln finanziert wird.
Die reicheren Privatversicherten und die Wirtschaftmüssen sich an diesem Sozialausgleich beteiligen.
Wir haben keine Kopfprämie eingeführt. Ich sage esnoch einmal: Für uns ist dies ein Stück weit auch Fami-lienpolitik. Mit uns ist es nicht zu machen, dass Kinderauf der Grundlage einer Kopfprämie veranlagt werden.Das wollen wir schon aus familienpolitischen Gründennicht.
Es ist schlicht infam, diesen Punkt immer wieder anzu-sprechen; denn das ist schlicht und ergreifend unwahr.
Die SPD weiß nicht, was sie will. Sie nimmt Ab-schied von Hartz IV, sie nimmt Abschied von der Rentemit 67,
sie nimmt auch ein Stück weit Abschied von der Schul-denbremse. Nun geht sie auch noch auf Distanz zur Bür-gerversicherung, zumindest was die Lesart der Grünenanbelangt. Der Begriff „Bürgerversicherung“ ist eigent-lich durch die Grünen besetzt.
Sie müssen sich einen neuen Begriff überlegen. „Bürger-verunsicherung“ wäre ein guter Begriff. Das wäre meinRat.
– Oder „Schildbürgerversicherung“. – Wenn die Grünendie Dagegen-Partei sind, dann ist die SPD die Rolle-rückwärts-Partei. Das klingt zwar sehr sportlich, ist abernur Ausdruck dafür, dass sie das vorwärts nicht kann.
Das Wort hat nun Mechthild Rawert für die SPD-
Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf denAntrag eingehe, möchte ich auf einige der Äußerungeneingehen, die hier gemacht wurden.
Ich fange mit der Förderung im Bereich der Familien-politik an. Ihnen ist – ich empfehle Ihnen, es zu lesen –
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9748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Mechthild Rawert
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das Sachverständigengutachten für den ersten Gleich-stellungsbericht bekannt. Ihre Ministerin war zu feige, espersönlich entgegenzunehmen.
– Sie haben nur eine vermeintliche Frauenministerin. Sieheißt Kristina Schröder. – In diesem Gutachten für denGleichstellungsbericht – es wurde übrigens von Frau vonder Leyen in Auftrag gegeben – wird Ihnen eine Frauen-quote empfohlen. Darin wird Ihnen auch empfohlen,über das Ehegattensplitting nicht nur nachzudenken,sondern es auch zu reformieren. Ich sage ausdrücklich:Am besten wäre eine Abschaffung.
Das steht in dem Ihnen vorgelegten Sachverständigen-gutachten für den Gleichstellungsbericht. Es ist eine guteLektüre.Zweiter Punkt, Staatsobhut. Ich habe gerade einmalnachgeschaut, Herr Stracke: Sie sind Ende Dreißig, ge-ben an, ledig zu sein; ob Sie Kinder haben, weiß ichnicht. Ich empfehle Ihnen: Machen Sie es vor! MachenSie private Väterobhut! Schimpfen Sie aber nicht aufgute öffentliche Kitas, von denen Bayern mehr bräuchte,und auf gute Ganztagsbetreuung; denn diese dienen derBildung der Kinder und der Emanzipation der Frauen.
Zu einem weiteren Vorwurf. Es wurde gesagt, der An-trag und die Anfrage seien alt. Ja, sie sind nicht mehrjüngsten Datums; das gebe ich unumwunden zu. AberIhre Beantwortung unserer Großen Anfrage mit 28 Fra-gen hat sieben Monate gedauert.
Das Allerschärfste kommt noch: Sie sind noch nicht ein-mal in der Lage, alle 28 Fragen zu beantworten.
Bei den Fragen 4 bis 14 haben Sie es sich leicht gemachtund jeweils als Antwort geschrieben: „Siehe Antwort zuFrage 2“.
Mit diesen Vorwürfen wäre ich also sehr vorsichtig,wenn Sie nicht einmal eine Große Anfrage beantwortenkönnen. Außerdem zeigt dies, dass Sie unwillig sind,Transparenz zu schaffen und Ihre Politik auf den Prüf-stand zu stellen.
Jetzt kommen wir zum Antrag „Paritätische Finanzie-rung in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder-herstellen“. Sie haben abgelehnt, unseren Vorschlägennachzukommen, und sind der Meinung, dass Ihr GKV-Finanzierungsgesetz von Ende 2010 besser sei. Nein, dasist natürlich nicht so. Wir wollen die paritätische Finan-zierung in der gesetzlichen Krankenversicherung durchArbeitgeber und Arbeitnehmer. Wir wollen auch einensolidarischen Finanzausgleich zwischen gesetzlicher undprivater Krankenversicherung.Noch eines: Sie beschimpfen die Verbände der Liga,egal ob Caritas, AWO, Jüdische Gemeinde oder ähnli-che, und stellen diese als willfährige Bündnispartner an-derer Parteien dar. Das zeigt eindeutig mangelnden Re-spekt vor der Fachlichkeit und Autonomie der Sozialver-bände.
– Nein, nein. Wir arbeiten mit allen Fachverbänden zu-sammen, aber mit Respekt vor deren Autonomie undFachlichkeit.
Sie bekennen sich zu kassenindividuellen Zusatzbei-trägen, zur Kopfpauschale.
Sie bekennen sich auch zur Vorkasse. Darauf sind Sieauch noch stolz; dies war den Äußerungen von HerrnSpahn und Frau Flach vorhin zu entnehmen. Das Ganzeist eine Ausräuberung von Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern. Ihr Einfrieren der Arbeitgeberbeiträgezeigt eindeutig, dass Sie Ihre Aussage „mehr Netto vomBrutto“, wenn überhaupt, nur für Hoteliers, Erben undArbeitgeber wahrmachen wollen, aber auf keinen Fallfür Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Ein neuer Punkt: In den Medien war gestern undheute zu lesen, dass durch die gute und vorausschauendeSteuer- und Arbeitsmarktpolitik der Sozialdemokratin-nen und Sozialdemokraten in den Zeiten der Wirt-schafts- und Finanzkrise der Gesundheitsfonds 2010 gutgefüllt war. Wir haben jetzt einen Überschuss von3,9 Milliarden Euro.
Ich bin übrigens der Meinung, Sie sollten sich bei UllaSchmidt für diese gute und vorausschauende Politik be-danken.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9749
Mechthild Rawert
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– Sie haben eine gut gefüllte Kasse vorgefunden. Sie re-klamieren hier ständig ein Defizit. Sie reden von10 Milliarden Euro. Es waren 6,9 Milliarden Euro.
Ein anderer Punkt: Sie verschleiern die zukünftigenAusgabensteigerungen, die auf die Arbeitnehmer undArbeitnehmerinnen, aber auch – das finde ich perfider –auf die Niedrigverdienerinnen und -verdiener, also aufRentner, auf Alleinerziehende und auf Empfänger vonALG II, zukommen.Sie wissen – wir wissen es auch –, dass die Kassenschon jetzt Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, alsoauch Erwerbslose, drängen, die Kassen zu wechseln.Warum reklamieren Sie für die einen das Recht auf freieKassenwahl, nehmen aber billigend in Kauf, dass anderezu einem Kassenwechsel gezwungen werden? Das kanneinfach nicht sein. Das ist wirklich nicht in Ordnung.Sie machen es doch wie folgt – ich nenne ein Beispiel –:Ein Mensch sitzt im Wartezimmer seines Hausarztes.Der Doktor kommt. Er sagt aber nicht mehr: DerNächste, bitte! Er sagt eindeutig: Der Reichste, bitte!
Das ist eindeutig Zweiklassenmedizin.
Sie halten zwar an Steuersenkungen fest, aber diesenützen den Menschen mit geringem Einkommen nichts.
Ihre Mär, Sie seien so gerecht und so sozial, wird geradeauch an diesem Punkte immer wieder deutlich. Denndas, was Sie an Entlastungen proklamieren, kommt beiden Bürgerinnen und Bürgern mit geringem Einkommennicht an.Wir bieten mit unserem Antrag zur paritätischen Fi-nanzierung eine klare Alternative, und zwar im Interessevon Bürgerinnen und Bürgern. Wir stehen für die paritä-tische, wir stehen für die solidarische Finanzierung desLebensrisikos Krankheit.
Wir entlassen die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verant-wortung. Denn wir sind der Meinung, dass die paritäti-sche Finanzierung der Krankenversicherung einer derGrundpfeiler eines solidarisch verfassten Gemeinwesensist. Wir brauchen dieses gerechte System für einen ge-recht finanzierten Sozialstaat, für eine soziale Markt-wirtschaft. Ihre Umverteilung von oben nach unten be-deutet Zweiklassenmedizin, Vorkasse, Verunsicherung;all das kam schon.Wir werden Ihnen das Konzept der Bürgersozialversi-cherung in Kürze vorlegen,
und Sie werden vor allen Dingen überrascht sein, wiedies durchgerechnet ist,
während Sie – ich komme auf die Beantwortung derGroßen Anfrage zurück – einfach lapidar feststellen:Längerfristige Prognosen werden von der Bundes-regierung im Bereich der gesetzlichen Krankenver-sicherung insbesondere aufgrund der spezifischenUnsicherheiten im Ausgabenbereich nicht erstellt.Das heißt, Ihnen fehlen Daten, Ihnen fehlen Zahlen.Sie machen eine unklare Gesundheitspolitik. Wir hinge-gen werden ab 2013 eine klare sozialdemokratische Al-ternative bieten.Herzlichen Dank.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kol-
legin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Lauterbach, das war wohl nichts: Trost, Rat undZuspruch von den Linken, ein bisschen Angriff von Ih-nen, die Grünen spendeten eher Trost. Diese 75 Minutenhätten Sie sich schenken können.
Ich kann dazu einen Kinderreim bemühen: GetretenerQuark wird breit, nicht stark.
Frau Rawert, da hilft auch das Ausweichen in IhrLieblingsthema „Gender“ nichts. Es wird einfach nichtbesser.
Ihre Anträge waren bestenfalls überholt; sie waren vonAnfang an ungeeignet und überflüssig.Ich will es an dieser Stelle konkret zusammenfassen.Noch im März 2010 haben Sie einen „Finanzausgleichzwischen gesetzlicher und privater Krankenversiche-rung“ beantragt, ebenso die Streichung der kassenindivi-duellen Zusatzbeiträge, die Sie übrigens mit uns einge-führt haben, und die Rückkehr „zu paritätisch finanziertenBeitragssätzen“,
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Karin Maag
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von denen Sie sich aus guten Gründen mit uns abgekehrthaben. Darüber hinaus haben Sie die Bundesregierungaufgefordert, „ein Konzept zur Einführung einer solida-rischen Bürgerversicherung“ vorzulegen. Sie kündigenseit 1998 – Herr Stracke hat es bereits gesagt – ein sol-ches Konzept an, aber konnten es bisher nicht vorlegen.
Jetzt, nachdem wir, die christlich-liberale Koalition,die Finanzierung der gesetzlichen Kassen mit unseremKonzept in den Griff bekommen haben, kommen Sieund sagen, wir hätten alles ganz falsch gemacht: Eigent-lich habe es gar kein Defizit gegeben; wir hätten zu vielGeld gespart und es auch noch von den falschen Zahlerneingenommen, also zu wenig Strukturen geändert und zuviel gespart. Ich zitiere hier aus Ihrem eigenen Antrag.Jetzt gibt es angeblich Probleme bei der „Kopfpau-schale“ – so nennen Sie es – und bei den Effizienzreser-ven – da sind Sie in der letzten Ausschusssitzung „umge-switcht“ –, die angeblich noch nicht gehoben wordensind. Jetzt, nachdem erstmals Planungssicherheit einge-treten ist, wollen Sie dem Gesundheitsfonds Mittel ent-ziehen. Ihr Petitum ist weder aktueller noch besser ge-worden, aber populistischer; und das war Sinn undZweck der Übung.In Ihrem Antrag ist ausschließlich die von Ihnen ge-nannte Tatsache richtig, dass es Effizienzreserven imGesundheitssystem gab und gibt. Genau deshalb habenwir damit begonnen, diese Effizienzreserven zu heben,Ausgabenblock für Ausgabenblock. Wir haben mit denArzneimitteln begonnen; auch das ist heute schon gesagtworden. Erstmals werden Arzneimittel einer Nutzenbe-wertung unterzogen. Erst wenn Medikamente einen zu-sätzlichen Nutzen haben, besser sind als diejenigen, diebereits auf dem Markt sind, wird mit der Pharmaindus-trie überhaupt über einen Preis verhandelt. Bisher konn-ten die Pharmaunternehmen ohne Verhandlung jedenPreis durchsetzen. Das ist Innovation; das ist eine echteStrukturänderung, mit der wir angefangen haben.
Nun zum Finanzierungsdefizit. Der Schätzerkreis gingim März 2010 – das ist das Datum Ihres Antrags – voneinem Defizit in Höhe von 7,9 Milliarden Euro aus; imSommer waren es dann schon 9 bis 11 Milliarden Euro.Deshalb haben wir mit dem GKV-Finanzierungsgesetzreagiert: Wir haben die Ausgaben gesenkt und die Ein-nahmen erhöht. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SPD, stellt der Schätzerkreis in seiner aktuellenPrognose fest, dass der Gesundheitsfonds 2010 nichtmehr defizitär ist, die gesetzliche Mindestreserve erreichtwird und sie 2011 – das ist natürlich auch der guten wirt-schaftlichen Entwicklung geschuldet – voraussichtlichsogar überschritten wird. Die Mindestreserve liegt übri-gens bei einem Fünftel der Monatsausgaben der gesetzli-chen Krankenversicherung. Wir reden hier also nochnicht von einem Juliusturm.Unser Konzept funktioniert also. Wir haben es end-lich erreicht, wieder Planungssicherheit für mehrereJahre zu schaffen.
Da werfen Sie, die um das dramatische Defizit der GKVwussten und im eigenen Antrag sogar schriftlich daraufhingewiesen haben, uns vor, dass die Rückkehr zu demBeitragssatz, der vor der Krise galt, nicht notwendigwar; wir hätten das nur beschlossen, damit keine Kasseeinen Zusatzbeitrag verlangt. Das ist doch absurd undwidersinnig; das muss gar nicht weiter kommentiert wer-den.
Die Reserve ist dafür gedacht, schwankende Einnah-men der Kassen auszugleichen. Wir wollen die Sicher-heit für Patienten und Steuerzahler nicht wieder aus derHand geben. Ihre Forderung, die Beiträge jetzt zu sen-ken, ist für mich bestenfalls nicht nachvollziehbar;schlimmstenfalls handelt es sich um den Ihnen schoneingangs vorgeworfenen Populismus.Jetzt beklagen Sie die angebliche Abkehr von der so-lidarischen Finanzierung. Es war aber richtig, dass wirvor zwei Jahren gemeinsam – wohlgemerkt: gemeinsam –die Finanzierung der GKV umgestellt und sie damit vonden Arbeitskosten gelöst haben, indem wir den Anteilder Arbeitgeber am Beitragssatz eingefroren haben.
– Herr Weinberg, hören Sie einfach zu. Dann wird esauch Ihnen klar. –
Wenn Sie von der SPD bei Ihrer Kehrtwende bleiben wür-den, müssten Sie weiter mit den früheren Kostendämp-fungsgesetzen und Budgets leben. Sie würden nur Verliererproduzieren. Sie würden damit der Gesundheitswirt-schaft, einem Wachstumsmarkt, die Daumenschraubenanlegen. Sie könnten dann die Leistungserbringer, dieÄrzte, das Pflegepersonal, das Klinikpersonal, nicht an-nähernd leistungsgerecht bezahlen. Die Patienten und dieVersicherten würden dann Arbeitsplätze verlieren, weilunsere Wirtschaft infolge der hohen Lohnkosten im Ex-port nicht mehr wettbewerbsfähig wäre und ins Auslandabwandern würde.
Nachdem all Ihre Vorwürfe ins Leere gelaufen sind,haben Sie die Themen umgestellt, Herr Lauterbach. Jetztversuchen Sie, ein Alternativkonzept vorzulegen. Dazukann ich Ihnen nur sagen – das ist heute schon mehrfach
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9751
Karin Maag
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angesprochen worden –: Nachdem die Regierung Ihnenbei Ihren falschen Ideen nicht behilflich sein wollte, hatIhr Präsidium sieben Eckpunkte für die Bürgerversiche-rung vorgelegt. Inhaltlich gibt es aber weder konkreteAussagen noch Gesetzesvorschläge.
Die Idee der Verbreiterung der Einkommensarten – daswar übrigens der Wesenskern der Bürgerversicherung –wird bereits jetzt, zwei Monate später, nicht mehr wei-terverfolgt. Sie sagen, es sei sehr bürokratisch, denKrankenkassen die Funktion von Finanzämtern zuzu-weisen. Genau das haben wir auch gesagt. Die Realitäthat Sie auch diesbezüglich eingeholt.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Wirhaben bereits Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsreservenerschlossen. Wir werden auch weitere erschließen. Wirhaben den Weg für eine tragfähige Finanzierung der ge-setzlichen Krankenversicherung geebnet. Wir haben dieEinnahmen und die Ausgaben stabilisiert. Wir haben dasSystem der GKV zukunftsfest gemacht.
Unser System funktioniert. Die Bürgerversicherung istweder geeignet noch notwendig.Vielen Dank.
Ich schieße die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPDmit dem Titel „Paritätische Finanzierung in der gesetzli-chen Krankenversicherung wiederherstellen“. Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/4476, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/879 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen derSPD und der Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkten 24 a bis c sowieZusatzpunkt 2 auf:24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Friedrich Ostendorff, CorneliaBehm, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSchenkelbrand bei Pferden verbieten– Drucksache 17/4438 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT desAusschusses für Bildung, Forschung und Tech-nikfolgenabschätzung
Technikfolgenabschätzung
InnovationsreportStand und Bedingungen klinischer Forschungin Deutschland und im Vergleich zu anderenLändern unter besonderer Berücksichtigungnichtkommerzieller Studien– Drucksache 17/3951 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT desAusschusses für Bildung, Forschung und Tech-nikfolgenabschätzung
Technikfolgenabschätzung
PolitikbenchmarkingMedizintechnische Innovationen – Herausfor-derungen für die Forschungs-, Gesundheits-und Wirtschaftspolitik– Drucksache 17/3952 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelBas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBesserer Schutz vor Krankenhausinfektionendurch mehr Fachpersonal für Hygiene undPrävention– Drucksache 17/4452 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für GesundheitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of-fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 a bis o auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 25 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinieim Eichgesetz sowie im Geräte- und Produkt-sicherheitsgesetz und zur Änderung des Ver-waltungskostengesetzes– Drucksache 17/3983 –
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9752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/4559 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/4559, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/3983 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmender beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen vonLinken und Grünen bei Stimmenthaltung der SPD ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-vor angenommen.Tagesordnungspunkt 25 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Ver-ordnung der BundesregierungVerordnung zur Anpassung chemikalienrecht-licher Vorschriften an die Verordnung
Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau derOzonschicht führen, sowie zur Anpassung desGesetzes über die Umweltverträglichkeitsprü-fung an Änderungen der Gefahrstoffverord-nung– Drucksachen 17/4142, 17/4292 Nr. 2.1,17/4523 –Berichterstattung:Abgeordnete Ingbert LiebingFrank SchwabeDr. Lutz KnopekRalph LenkertDorothea SteinerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/4523, der Verordnung aufDrucksache 17/4142 zuzustimmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linkeangenommen.Tagesordnungspunkt 25 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zuder Unterrichtung durch die BundesregierungGrünbuch der KommissionOptionen für die Einführung eines Europäi-schen Vertragsrechts für Verbraucher undUnternehmen KOM 348 endg.; Rats-dok. 11961/10– Drucksachen 17/2994 A 16, 17/4565 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jan-Marco LuczakChristine LambrechtMarco BuschmannRaju SharmaIngrid HönlingerDer Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linken an-genommen.Tagesordnungspunkt 25 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Modernisierungspartnerschaft mit Russland –Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stär-kere Kooperation und Verflechtung– Drucksachen 17/1153, 17/1822 –Berichterstattung:Abgeordnete Karl-Georg WellmannFranz ThönnesDr. Bijan Djir-SaraiWolfgang GehrckeMarieluise Beck
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/1822, den Antrag der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/1153 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss-empfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP undLinken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung derGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 25 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Marieluise Beck , Volker Beck (Köln),Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENModernisierung braucht Rechtsstaatlichkeit –Partnerschaft mit Russland fördern– Drucksachen 17/2426, 17/4560 –Berichterstattung:Abgeordnete Karl-Georg WellmannFranz ThönnesMichael Link
Wolfgang GehrckeMarieluise Beck
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9753
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/4560, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2426 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDPund Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimm-enthaltung der SPD angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 25 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 200 zu Petitionen– Drucksache 17/4454 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 200 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 25 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 201 zu Petitionen– Drucksache 17/4455 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 201 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmender Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom-men.Tagesordnungspunkt 25 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 202 zu Petitionen– Drucksache 17/4456 –Wer stimmt dafür? – Enthaltungen? – Wer stimmt da-gegen? – Sammelübersicht 202 ist einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 25 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 203 zu Petitionen– Drucksache 17/4457 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 203 ist mit den Stim-men des Hauses bei Enthaltung der Linken angenom-men.Tagesordnungspunkt 25 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 204 zu Petitionen– Drucksache 17/4458 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 204 ist mit den Stim-men des Hauses gegen die Stimmen der Linken ange-nommen.Tagesordnungspunkt 25 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 205 zu Petitionen– Drucksache 17/4459 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 205 ist mit den Stim-men des Hauses gegen die Stimmen der SPD-Fraktionangenommen.Tagesordnungspunkt 25 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 206 zu Petitionen– Drucksache 17/4460 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 206 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmender Linken und der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 25 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 207 zu Petitionen– Drucksache 17/4461 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 207 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-men von SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 25 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 208 zu Petitionen– Drucksache 17/4462 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 208 ist mit den Stim-men von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen vonSPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenom-men.Tagesordnungspunkt 25 o:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 209 zu Petitionen– Drucksache 17/4463 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmender beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen derdrei Oppositionsfraktionen angenommen.
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9754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun denZusatzpunkt ZP 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKESchlaglochchaos beseitigen – Kommunale Fi-nanzen stärkenIch eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Katrin Kunert für die Fraktion der Linken.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AufDeutschlands Straßen ist der Teufel los. Wer von unstäglich auf die Straße geht oder die Straße bzw. den Fuß-gängerweg benutzen muss oder mit Radfahrern ins Ge-spräch kommt, muss erkennen, dass Autos, Busse, Fahr-räder und auch Kinderwagen stark gefährdet sind, ganzzu schweigen von dem Leben der Betroffenen. ÜberallSchlaglöcher und Risse auf den Straßen – das ist ein un-glaublicher Zustand in diesem reichen Land.
Der Verkehrsminister sagt, er mache zusätzlich2,2 Milliarden Euro für die Sanierung der Straßen lo-cker. Was er nicht sagt, ist, dass diese 2,2 MilliardenEuro bereits im Haushalt stehen, und er sagt nicht, dassdieses Geld nur für Bundesstraßen verplant ist.
Auf den anderen 80 Prozent der Straßen, den kommuna-len Straßen, dürfen wir die Schlaglöcher noch etwas län-ger genießen. Die Städte, Gemeinden und Landkreisestehen mit dem Rücken zur Wand. Das heißt, dass sienicht einmal die nötigsten Reparaturen erledigen kön-nen.Die ganze Sache treibt paradoxe Blüten. Im letztenWinter hat ein thüringischer Ort seine Schlaglöcher ver-kauft, um die Sanierungskosten einzutreiben. Ich weiß,Sie können es nicht mehr hören, aber die Kommunensind am Ende – durch Ihre Politik.
Das Schlimme ist, dass sich daran nichts ändert, HerrDöring. Die Linke sagt: Die Kommunen müssen finan-ziell endlich so ausgestattet werden, dass sie alle ihre öf-fentlichen Aufgaben ordentlich erledigen können.
Die Bundesregierung hat unter dem Motto „Wenn ichmal nicht weiter weiß, dann bilde ich einen Arbeitskreis“eine Gemeindefinanzkommission ins Leben gerufen, diegeheim tagt. Aber anscheinend weiß auch sie nicht wirk-lich weiter. Ergebnisse der wichtigsten Arbeitsgruppedieser Kommission sollen nun erst im Juni vorliegen. Ichbin einmal gespannt, was dabei herauskommt; denn esscheint weniger um die Ausstattung der Kommunal-finanzen zu gehen, als darum, wer dort am schadlosestenherauskommt: Land oder Bund. Das geht nun einmal garnicht. Der Finanzminister hat zwar kürzlich sein Herzfür die Kommunen entdeckt und meint, die Kommunenbrauchten natürlich einen größeren finanziellen Spiel-raum, aber getan hat er nichts.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Schlaglö-chern. Dresden braucht nur für Notreparaturen1,5 Millionen Euro, Zwickau 1 Million Euro, die StadtHalle 2,2 Millionen Euro, und die Stadt München – sowird durch die CSU im Stadtrat gefordert – braucht10 Millionen Euro als Sofortprogramm. Eine goldeneStraßenbauregel besagt, dass pro Jahr pro QuadratmeterStraße 1,30 Euro ausgegeben werden muss, um intakteStraßen zu haben. Da die Kommunen aber klamme Kas-sen haben, können sie nur die Hälfte davon aufbringen.Das bedeutet, dass 40 Prozent aller Straßen als schwergeschädigt eingestuft werden; das sagt der TÜV.Die Überschriften überschlagen sich derzeit – und dieRegierung auch. Die Wirtschaft boomt, sagen alle. Aberwarum kommt dieser Aufschwung nicht in den Kommu-nen an, frage ich Sie.Herr Brüderle hat beim Jahreswirtschaftsbericht seineEinschätzung vorgetragen: in Deutschland regiere dieZuversicht; in Deutschland regierten das Wachstum undder Fortschritt. Wenn Sie das mit Blick auf die Kommu-nen so einschätzen, haben Sie anscheinend wirklichnoch kein Schlagloch erwischt. Ich sage: Sie habenkeine Ahnung, was in den Kommunen tatsächlich los ist,und so sieht leider auch Ihre Politik aus.
Noch vor 20 Jahren zahlte der Bayer-Konzern110 Millionen Euro Gewerbesteuern an die Stadt Lever-kusen; heute sind es gerade noch 20 Millionen Euro.Fakt ist, dass die bisherigen Bundesregierungen durchihre Steuersenkungspolitik Großkonzerne in enormenGrößenordnungen entlastet haben, dass sie dadurch je-doch Steuereinbrüche bei den Kommunen verursacht ha-ben.
– Frau Kollegin, Sie sind nachher dran. – Alleine imZeitraum von 2008 bis 2009 gibt es für die Kommunenvorausberechnet bis 2013 ein Minus von 19 MilliardenEuro.Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Koalition, riss allein in 2010ein Loch von 6 Milliarden Euro in die kommunalen Kas-sen. Da wundert es mich überhaupt nicht, dass die Kom-munen das Jahr 2010 finanziell als das bisher schlech-teste Jahr der Nachkriegsgeschichte abgeschlossenhaben. Spätestens jetzt müssten Sie doch endlich in IhrerPolitik umsteuern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9755
Katrin Kunert
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Aber nein, Sie machen weiter so. Nach wie vor werdenhier im Haus mit Ihrer Mehrheit Gesetze verabschiedet,die immer zulasten der Kommunen ausgehen. Allein derelektronische Personalausweis bedeutet für die StadtKöln eine Mehrausgabe in Höhe von 1,25 MillionenEuro.Als ob das nicht reicht, kürzen Sie auch noch imHaushalt 2011.
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen: Sie kürzen beider CO2-Gebäudesanierung um 460 Millionen Euro, beiden Eingliederungsleistungen für Langzeitarbeitsloseum 1,3 Milliarden Euro und beim Programm „SozialeStadt“ um 67 Millionen Euro. Für Sachsen-Anhalt sinddas 900 000 Euro. Wir hatten im Land bisher 3 Millio-nen Euro für das Programm „Soziale Stadt“ zur Verfü-gung. Für Halle-Neustadt bedeutet dies das Aus für dasQuartiersmanagement, das Aus für interkulturelle Wo-chen, das Aus für die Stadtzeitung und das Aus für dieBürgerbeteiligung bei der Sanierung von Straßen, Fuß-und Radwegen.
– Sie können gerne mit den Betroffenen darüber reden,was hier Quatsch ist, Herr Kollege.
Die Linke fordert die Aufstockung der Mittel für dasProgramm „Soziale Stadt“ mindestens auf das Niveauvon 2010, und die Linke unterstützt ausdrücklich dasBündnis für eine Soziale Stadt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunensind die Lebensadern der Gesellschaft, und die Situationder Haushalte muss endlich grundlegend verbessert wer-den. Die Linke will endlich auch Ergebnisse der Ge-meindefinanzkommission auf dem Tisch haben, und dieLinke will ein Sofortprogramm für die Sanierung derkommunalen Straßen in Höhe von 500 Millionen Euro.
Wir sagen auch: Sanierung muss vor Neubau gehen undVorfahrt für Fußgänger und für Radfahrer!Herzlichen Dank.
Das Wort hat Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass die SED-Nachfolgepartei
diese Aktuelle Stunde auf die Tagesordnung gesetzt hat,ist besonders pikant. Viele von uns wissen noch sehr gut,wie die Straßen in den neuen Ländern unmittelbar nachdem Zerfall des Sozialismus ausgesehen haben. FrauKollegin, Sie wären deshalb besser still gewesen.
Die aktuellen winterbedingten Straßenschäden inDeutschland werden von den Kommunen auf etwa2,3 Milliarden Euro geschätzt. Das ist viel Geld. Wennwir nach draußen schauen, wissen wir: Der Winter istnoch nicht beendet. Eine funktionstüchtige Verkehrsin-frastruktur ist volkswirtschaftlich ein bedeutender Stand-ortfaktor, und dazu tragen die Kommunen maßgeblichbei.95 Prozent unserer Straßen sind kommunale Straßen,also in der Trägerschaft von Städten, Gemeinden undLandkreisen. Auch wenn wir in Berlin als Bund wederfür kommunale Straßen noch für Schlaglöcher zuständigsind, machen wir uns um die Entwicklung der Gemein-definanzen insgesamt große Sorgen.
Bei den Kommunen hat sich in den vergangenen Jahr-zehnten ein enormer Investitionsstau aufgebaut – übri-gens nicht nur beim Straßenbau. Allein damit, Schlaglö-cher zu stopfen, ist es schon lange nicht mehr getan. Inden meisten Fällen hilft wegen fehlender regelmäßigerStraßenunterhaltung nur noch eine Generalsanierung,und die ist bekanntermaßen besonders teuer. Das ist keinVorwurf gegenüber den Kommunen, sondern die Konse-quenz der permanenten Unterfinanzierung kommunalerHaushalte.Meine Damen und Herren, die Ursachen gehen weitzurück in die kommunalfeindliche Politik der Schröder-Regierung, als die Verschuldung in den Städten und Ge-meinden von Jahr zu Jahr stieg und stieg. Davon habensich bis heute viele noch nicht erholt. Das rächt sich jetztzunehmend.
– Das stimmt, auch wenn Sie von der SPD es nicht mehrhören können.
Trotz aller Anstrengungen der unionsgeführten Bundes-regierung kann dieser Rückstand nicht in wenigen Jah-ren aufgeholt werden,
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9756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
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zumal die finanziellen Spielräume durch die weltweiteFinanzmarkt- und Wirtschaftskrise auf allen politischenEbenen inzwischen weggebrochen sind.Das Ganze wird noch verschärft,
wenn die nach unserem Grundgesetz für die Gemeinde-finanzen verantwortliche Landespolitik auch noch kom-munalfeindlich ist. Schauen Sie nach Rheinland-Pfalz;dort wird das besonders deutlich. Das dortige Oberver-waltungsgericht hat der rheinland-pfälzischen Landesre-gierung erst vor wenigen Wochen die rote Karte gezeigtund festgestellt, dass die Schlüsselzuweisungen gegenden verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine angemes-sene kommunale Finanzausstattung verstoßen. Dasheißt, die SPD-geführte Landesregierung von Rhein-land-Pfalz lässt die Kommunen nachweislich, durch Ge-richtsurteil belegt, am langen Arm verhungern.
Alle staatlichen Ebenen müssen den Kommunendurch stabile Gemeindefinanzen wieder Luft zum Atmenverschaffen. Das gilt für den Bund und vor allem aberauch für die dafür eigentlich zuständigen Länder.Trotz schwierigster Haushaltslage, in der wir uns be-finden, sollten wir prüfen, wie wir die Kommunen bei densteigenden Sozialausgaben entlasten können. Gleichzei-tig müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, um diestrukturellen Defizite der Kommunalfinanzen zu beseiti-gen. Die von Finanzminister Wolfgang Schäuble einge-setzte Gemeindefinanzkommission beschäftigt sich mitdieser Aufgabe. Wir erwarten noch in diesem Frühjahrkonkrete Vorschläge.
Uns war es wichtig, dass die kommunalen Spitzenver-bände in dieser Kommission von Anfang an beteiligtsind und konkret und aktiv mitwirken.
Mit den kommunalen Spitzenverbänden ist verabredet,dass keine Entscheidungen gegen die Kommunen getrof-fen werden. Das sollten wir dankbar zur Kenntnis neh-men.
Wir wollen den Gemeinden mehr Eigenverantwor-tung geben und dadurch die kommunale Selbstverwal-tung stärken, damit die vielen ehrenamtlichen Räte inden Gemeinden, Städten und Kreisen ihre Heimat eigen-verantwortlich und motiviert gestalten können. Bei gu-tem Willen aller – dazu zähle ich auch Sie – kann diesgelingen. Ich fordere Sie deshalb im Interesse der Städteund Gemeinden eindringlich dazu auf.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Carsten Sieling
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Götz, draußen droht in der Tat dernächste Winter. Die Straßen sind schon aufgerissen undhaben tiefe Löcher, und in den Rathäusern schlackernden Bürgermeistern und Kämmerern die Hosen vorAngst davor, wie sie die Haushalte realisieren sollen.Sie aber erzählen uns hier das Märchen, Rot-Grünhätte die Löcher in die Haushalte der Kommunen geris-sen.
Das ist die größte Märchengeschichte; denn es warenRot-Grün und anschließend noch zum Teil die GroßeKoalition, die vor allem auf Druck der SPD dafür ge-sorgt haben, dass sich die öffentlichen Finanzen in denKommunen, in den Städten und Dörfern, verstetigenkönnen, Herr Götz.
Auch das sollten Sie sagen, lieber Kollege; denn Sie wa-ren ein gutes Stück weit dabei. Das ist notwendig, weiles der Ehrlichkeit dient.
Aber ich weiß, warum Sie das so aufblasen und wa-rum die Aufregung vor allem aufseiten der Liberalen,aber auch bei der CDU/CSU so groß ist: Weil diese Ko-alition, festgehalten in ihrem Koalitionsvertrag, die Ba-sis für die Dörfer, Städte und Landkreise kaputtmachenwill, indem sie die Gewerbesteuer, die deren zentraleEinnahmequelle ist, kaputtmachen will.
Dagegen müssen wir gemeinsam stehen.Wer die Löcher in den Straßen stopfen will, muss be-reit sein, die Löcher in den kommunalen Haushalten zustopfen und dafür zu sorgen, dass investiert werdenkann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9757
Dr. Carsten Sieling
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Das ist ganz einfach. Es gibt drei Ansätze, wie man dasmacht, Kollege Götz. Der erste Schritt ist: Sie müssendie Einnahmen der öffentlichen Hände auf der kommu-nalen Ebene stabilisieren.Ich bitte Sie: Lassen Sie Ihre Pläne sausen! SchließenSie sich dem Kommunalmodell an, das die Kommunenunterstützen! Das bedeutet die Verbreiterung der Bemes-sungsgrundlage bei der Gewerbesteuer für die Kommu-nen, indem auch die Freiberufler einbezogen werden.
Sie können dadurch die Einnahmen stabilisieren und er-höhen. Lassen Sie die Finger von der Streichung derHinzurechnung! Das ist ein Fehler. Finger weg von derGewerbesteuer!
Das ist der erste Schritt, um die Löcher in den Straßenstopfen zu können.
Der zweite Schritt ist, eine Entlastung bei großenAusgabenpositionen anzugehen. Es ist richtig – Sie ha-ben es angesprochen –: Die Kosten für Unterkunft, aberauch die Grundsicherung im Alter müssen angegangenwerden. Ich bin entsetzt. Die Rheinische Post hat in einerMeldung berichtet, dass sich das Bundesfinanzministe-rium endlich mit 1,9 Milliarden Euro an den Kosten derUnterkunft beteiligen will, Herr Koschyk.
– Genau. Sie sagen es, Kollegin Kressl. – Kaum war dieMeldung raus, wurde schon dementiert, dass an dieserStelle etwas getan werden soll.Entlasten Sie die Kommunen von den Soziallasten!Dann werden Mittel frei, um die Infrastrukturmaßnah-men anzugehen.
– Gut, dass Sie die elf Jahre ansprechen. Damit kommeich zu dem dritten Schritt. Wir brauchen in Deutschlandeine Infrastrukturoffensive. Es zeigt sich sehr deutlich:Wir brauchen wieder Investitionsmittel und eine Investi-tionsgrundlage auch für die Städte und Gemeinden, da-mit sie in die Infrastruktur investieren können. Dazukann ich nur sagen: Minister Ramsauer ist vielleichtnicht als Mitglied des Kabinetts, aber doch als Mitglieddes Koalitionsausschusses in den vier Jahren zwischen2005 und 2009 bei Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholzund Peer Steinbrück in die Lehre gegangen und hat gese-hen, was man mit einem klugen Konjunkturprogrammund einem Investitionsprogramm zugunsten der Kom-munen bewegen kann. Damals handelte es sich um einKonjunkturprogramm, jetzt brauchen wir – davon binich überzeugt – ein Sanierungsprogramm für die öffent-liche Infrastruktur in den Kommunen und Städten.Knüpfen Sie an das Konjunkturprogramm an. Die GroßeKoalition hat 10 Milliarden Euro bereitgestellt. Damit istfür die öffentliche Infrastruktur, insbesondere im Be-reich der Schulen, aber auch in vielen anderen Berei-chen, viel Gutes getan worden. Diese Koalition tut nichtsmehr in dieser Richtung. Tun Sie etwas, damit die öf-fentlichen Investitionen in Deutschland verstärkt wer-den. Das ist die wichtige Aufgabe, an der man arbeitenmuss.Daher sage ich zum Schluss: Die Löcher in den Stra-ßen werden immer größer, in der Tat. Aber diese Regie-rung sorgt dafür, dass die Löcher auch in den Haushaltender Kommunen und der Städte immer größer werdenund Deutschland in die Gefahr gerät, eine Bröckelrepu-blik zu werden. Das passiert, wenn Ihre Politik fortge-setzt wird. Unterstützen Sie endlich das, was notwendigist; dann haben wir auch vernünftige Verhältnisse imVerkehr und überall dort, wo die Menschen leben.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe mir jetzt die ersten drei Beiträge in dieser Debatteangehört und zumindest bei zwei Rednern, nämlichHerrn Sieling und Frau Kunert, festgestellt, dass sie ganzoffensichtlich weder willens noch in der Lage sind, dieDebatte, die berechtigt ist, wenigstens ein bisschen in dieaktuelle Finanz- und Haushaltslage dieser Republik ein-zuordnen. Vielleicht ist es Ihnen entgangen, dass diesesParlament, das die Verantwortung für die Bundesrepu-blik Deutschland trägt, eine Neuverschuldung von etwasmehr als 50 Milliarden Euro zu schultern hat. Angesichtsdessen hier neue Konjunkturprogramme auf Pump zufordern, finde ich schon bemerkenswert, Herr KollegeSieling.
Wer uns solide und kluge Politik ansonsten immer gerneabspricht, will jetzt das Defizit der Republik erhöhen.Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist.
Natürlich sind 11 Milliarden Euro Neuverschuldungin den Kommunen im Jahr 2009 auch ein Rekordwert,aber im Vergleich zu den über 50 Milliarden Euro, diewir als gewählte Parlamentarier hier zu vertreten haben,gilt der Satz: Die Kommunen sind immer noch die amwenigsten verschuldete staatliche Ebene in der Repu-blik.
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9758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Patrick Döring
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Ich war lang genug Mitglied eines Rates und Fraktions-vorsitzender. Sie alle wissen doch genau, dass es sehrunterschiedliche kommunale Situationen gibt. Es gibtübrigens auch schuldenfreie Städte und Gemeinden inDeutschland,
weil sie kluge Politik gemacht und sich von überflüssi-gen Vermögenswerten getrennt und ihre Schulden abge-baut haben. Das hat zum Beispiel in Düsseldorf zur Ent-schuldung geführt.
Wir können uns jeden Problempunkt in Deutschlandeinzeln anschauen, und jeder gibt darauf eine wie auchimmer geartete isolierte Antwort. Ich aber sage Ihnenganz ehrlich: Wer die Entwicklung der Gewerbesteuerverfolgt hat, wer die Erosion der Körperschaftsteuernach der falschen Körperschaftsteuerreform von Rot-Grün verfolgt hat, der stellt doch fest, dass die Gewerbe-steuer das Gegenteil einer soliden Finanzausstattung derKommunen ist. Sie ist viel zu konjunkturanfällig, viel zuschwankend und viel zu wenig planbar für die Kämme-rer, die Ratsfrauen und die Ratsherren.
Deshalb ist es gut, dass diese Koalition gemeinsam mitdem Bundesfinanzministerium und Experten ein neuesSystem einführen will. Die Kommission wird alsbald Er-gebnisse vorlegen. Ich sage aber auch: Es ist natürlichim hohen Maße scheinheilig, wenn sich hier Teile derOpposition über die Investitionstätigkeit des Bundes kri-tisch äußern, ohne bereit zu sein, zu schauen, was sie inihrem Verantwortungsbereich machen.Diese Koalition hat trotz Sparetats und trotz größterAnstrengungen, die Neuverschuldung so gut es geht he-runterzufahren, beim Erhalt für Straßen in der Verant-wortung des Bundes 100 Millionen Euro draufgelegt. ImLand Berlin und im Land Brandenburg gehen die Inves-titionen in die Straßen ausweislich des Berichts des Lan-desrechnungshofs seit Jahren kontinuierlich zurück. Dasist die politische Realität. Man sollte also aufpassen,wenn man solche Aktuellen Stunden beantragt.
Dass man Haushaltskonsolidierung betreiben und In-vestitionen erhöhen kann, beweisen zum Beispiel dieFreundinnen und Freunde in Hessen. Bei Regierungs-übernahme wurden 30 Millionen Euro und in diesemJahr werden 151 Millionen Euro für Landesstraßen zurVerfügung gestellt. Zudem wurde die Verschuldung zu-rückgefahren.Wenn man mit dem vorhandenen Geld, das die Bür-gerinnen und Bürger dem Staat zur Verfügung stellen,richtige Akzente setzt, dann kann man die Investitions-probleme offensiver angehen, als das die Ministerinnenund Minister von Sozialdemokraten und Linken in ihremVerantwortungsbereich bisher getan haben.
Deshalb bleiben wir dabei: Es ist klug und vernünftig,zu konsolidieren und die Verschuldung in unseren öf-fentlichen Haushalten – egal an welcher Stelle – abzu-bauen. Dafür brauchen wir eine solide Einnahmebasis.Die beste Einnahmebasis, die beste Entlastungspolitikfür die Kommunen ist die Wirtschaftspolitik dieser Re-gierung, die jeden Tag dafür sorgt, dass ein paar HundertMenschen weniger arbeitslos sind, sondern ihr eigenesLeben besorgen und finanzieren können, dass wenigersoziale Hilfe in Anspruch genommen wird und dass we-niger Menschen die Kosten der Unterkunft überhaupt inAnspruch nehmen müssen, weil sie einen Arbeitsplatzhaben und ihr Leben gestalten können.
Das ist die Politik dieser Regierung. Wir wollen wenigerMenschen in sozialen Sicherungssystemen. Das ist diebeste Entlastungspolitik für Kommunen, die man ma-chen kann. Das ist das Leitmotiv der nächsten Monate.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Toni Hofreiter von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben jetzt von den Regierungsfraktionenerfahren, dass die Ursache für die Misere der kommuna-len Finanzen an Regierungen liegt, die schon sehr langenicht mehr regieren. Wir haben davon erfahren, dass un-tergegangene Staaten daran schuld sein sollen. Wir ha-ben von der jetzigen Regierung erfahren, dass Kommis-sionen eingesetzt werden sollen. Ich frage mich, wie Siemit diesen Aussagen vor die Leute, vor Bürgermeisterund Gemeinderäte treten wollen, die im Moment Pro-bleme bei sich vor Ort haben.
Das ist gar kein triviales Problem. Die Frage ist: Wo be-kommt der Bürger unseren Staat mit? Wo nimmt er dieöffentliche Hand wahr? Wo nimmt er Demokratie amstärksten wahr? In unseren Kommunen vor Ort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9759
Dr. Anton Hofreiter
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Wenn man sich einmal anschaut, dass es viele Kom-munen gibt, in denen die gewählten Vertreter de factonicht mehr viel zu entscheiden haben, weil die Kommu-nen alle in der Haushaltssicherung sind und letztendlichkeinen genehmigten Haushalt mehr haben, dann stelltman fest, dass wir nicht nur ein Problem mit Schlaglö-chern, sondern ein Problem mit der Akzeptanz der Leis-tungen der öffentlichen Hand haben. Und was geben Siefür dieses Problem als Antwort? Irgendwer in der Ver-gangenheit war schuld – als wenn Sie gar nicht regierenwürden –, und wir haben eine nette Kommission. – Dasist armselig.
Wenn man sich die Kommunen anschaut, dann stelltman fest: Es mag zwar sein, dass die Kommunen im Ver-gleich zum Bundeshaushalt im Schnitt weniger Schuldenaufnehmen, aber man muss die Kommunen einzeln be-trachten. Es gibt Kommunen, die völlig überschuldetsind, und es gibt Kommunen, die in der sogenanntenVergeblichkeitsfalle stecken. Sie haben in der Vergan-genheit aufgrund der vielleicht nicht gerade intelligen-testen Politik oder aufgrund von Umständen, für die siewenig können – zum Beispiel wegen des Sterbens gan-zer Industriebereiche –, so viele Schulden aufgenom-men, dass sie, egal was sie tun, nicht mehr aus ihrenSchulden herauskommen. Dafür gibt es eine ganze Reihevon Beispielen.Was können wir diesen Kommunen anbieten? DiesenKommunen müssen wir etwas anbieten. Wir müssen ih-nen eine vernünftige Altschuldenhilfe anbieten, damitsie überhaupt die Chance haben, aus der Vergeblich-keitsfalle herauszukommen. Da hilft es nichts, wennman nur von Kommissionen spricht.
Ich komme jetzt zu dem eigentlichen Thema dieserAktuellen Stunde: Schlaglöcher beseitigen. Man kannsich fragen, ob dieses Thema wirklich vordringlich,eines für eine Aktuelle Stunde ist. Das gilt vor allem,wenn man bedenkt, wie eng bemessen in dieser Hinsichtder Bundeshaushalt ist. Die Lösungsvorschläge, die hiergemacht worden sind, bestanden vor allem darin, dassman irgendwie mehr Geld für Straßen ausgeben, dassman irgendwie mehr Straßen bauen sollte. Die Bundes-republik und Holland haben gemeinsam das dichtesteStraßennetz aller Flächenländer weltweit. Dennoch wirdvorgeschlagen, noch mehr Straßen zu bauen. Was ist dieFolge, wenn das Straßennetz bei abnehmender Bevölke-rungszahl noch engmaschiger wird? Danach gäbe es proMensch, der das Sozialprodukt mit erarbeiten muss, im-mer mehr Straßenkilometer. Das hieße, dass die Unter-haltskosten in Zukunft immer höher würden. Es ist dochvöllig logisch, dass ein größeres Straßennetz mehr Un-terhaltskosten bedeutet als ein kleineres. Ihr Vorschlagist, noch mehr Straßen zu bauen.Was ist unser Vorschlag?
Es gibt einen ganz einfachen Weg. Es ist dringend not-wendig, Geld für den Neubau und den Ausbau von Stra-ßen endlich so umzuwidmen, dass es für den Unterhaltvon Straßen zur Verfügung steht.
Aber warum passiert das so selten? Weil wir ein Ver-kehrsministerium haben, das unter Verkehrspolitik vorallem versteht, fröhlich einzelne Projekte zu verwirkli-chen und glücklich mit der Schere Bänder durchzu-schneiden. Das ist keine Verkehrspolitik, das ist eine feu-dale Einzelprojekt-Baupolitik, die den Staatshaushaltlangfristig eher ruiniert, als dass sie ihm hilft.
Um den Kommunen trotz aller verfassungsrechtli-chen Probleme, die man sich in der Vergangenheit mitden Föderalismusreformen geschaffen hat, konkret zuhelfen, sollte man sich etwas überlegen. Es gibt zumBeispiel eine Regelung, dass die Baulast für Bundesstra-ßen in Kommunen mit über 80 000 Einwohnern kom-plett bei den Kommunen liegt. Es gibt Unmengen vonKommunen mit 100 000, 200 000 Einwohnern, diegroße Schwierigkeiten haben. Warum nimmt der Bundden Kommunen nicht – das wäre verfassungsrechtlichunproblematisch – die Baulast für die Bundesstraßen ab?Dann wären zumindest die verkehrswichtigsten Bundes-straßen erhaltungsfähig. Dieses Beispiel könnte manohne Grundgesetzänderung sofort in die Tat umsetzen.Der Verkehrsminister könnte dann zwar nicht mehr ganzso viele Bändchen durchschneiden, aber die bedeuten-den Straßen in den Städten wären dann endlich gut un-terhalten. Setzen Sie diesen Vorschlag um, dann habenSie unsere Unterstützung.
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!„Schlaglochchaos“, „Schneechaos“, „Bahnchaos“, ichfinde, die Linken gehen in letzter Zeit sehr leichtfertigmit dem Wort „Chaos“ um.
Jedes Problem, jede Schwierigkeit wird von Ihnen im-mer gleich als „Chaos“ bezeichnet. Was sollen die Men-schen in Haiti oder in Pakistan oder anderswo auf derWelt denken, die tatsächlich Chaossituationen erlebt ha-ben oder erleben?
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9760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Karl Holmeier
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Ich finde, es ist das Normalste auf der Welt, dass es ein-mal harte und kalte Winter gibt. Das war vor 30 Jahrenso, das ist heute so, und es wird auch in Zukunft so sein.Jeder Winter verursacht Schnee- und Eisglätte. JederWinter bringt das eine oder andere Problem mit sich, undjeder Winter beeinträchtigt die Verkehrsstruktur – malmehr und mal weniger. In diesem Winter, zum Beispielbei 20 Zentimeter Neuschnee, haben wir keine Chaos-situation oder Katastrophe; vielmehr ist es ein ganz nor-maler Winter.
– Ja, kommen Sie einmal und schauen Sie sich das beiuns an.Es ist richtig, zu behaupten, dass jeder Winter Schä-den auf unseren Straßen verursacht hat. Vielerorts sindSchlaglöcher entstanden, die nun schnellstmöglich be-seitigt werden müssen. Hier aber gleich von einemSchlaglochchaos zu sprechen, ist übertrieben. Vielleichthätte man in der ehemaligen DDR von einem Schlag-lochchaos sprechen können. – Das ist der erste Punkt.
Ich möchte nun auf den zweiten Punkt, die Kommu-nalfinanzen, eingehen. Als langjähriger Bürgermeistereiner kleinen Gemeinde bin ich mit Leib und SeeleKommunalpolitiker. Gerade deshalb ist mir die aktuelleFinanzsituation der Kommunen bestens bekannt. Natür-lich würde ich gerne ein Schlaglochsanierungsprogrammoder Ähnliches fordern bzw. mir wünschen, aber wirmüssen auch realistisch bleiben. Wir können nicht nachjedem harten Winter ein Sonderprogramm fordern oderals Staat auflegen.
Das ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nichtmöglich, da der Bund infolge der Föderalismusreform IIden Kommunen kein Geld zur Verfügung stellen darf.Außerdem wäre es angesichts der eingangs erwähntenTatsache, dass wir auch in Zukunft harte Winter habenwerden – vielleicht schon der nächste –, unverhältnismä-ßig, jedes Jahr ein Konjunkturprogramm für die Straßen-sanierung aufzulegen. Dies hätte im Übrigen auch nichtsmit nachhaltiger und verlässlicher Politik zu tun.
Vielmehr brauchen wir sichere Kommunalfinanzen, undzwar unabhängig von kalten Winterperioden und un-abhängig von der aktuellen Schlaglochsituation. Ichglaube, das ist eindeutig. Nur mit dauerhaft verlässlichenEinnahmen kann nachhaltige und verlässliche Politik ge-macht werden.
Wir haben bereits verlässliche Einnahmen, die denKommunen zugute kommen, die zum Beispiel für denUnterhalt der Straßen oder für Neubauten verwendetwerden können. Der Bund stellt den Ländern 1,3 Milliar-den Euro jedes Jahr im Rahmen des Entflechtungsgeset-zes zur Finanzierung der kommunalen Verkehrsinfra-struktur zur Verfügung. Zudem erhalten die Städte undGemeinden aus dem Aufkommen der Länder an derKfz-Steuer Finanzhilfen. In Bayern etwa zahlt der Frei-staat den Gemeinden jährlich 1 200 Euro Straßenunter-halt pro Kilometer Orts- und Gemeindeverbindungs-straße. Außerdem erhalten die Landkreise Mittel für denErhalt der Kreisstraßen.
Letztlich kommt es darauf an, was die einzelnen Län-der für ihre Kommunen tun. So etwa hat Bayern kürzlichein Sonderprogramm für die Beseitigung der Straßen-schäden auf Staatsstraßen in Höhe von 30 MillionenEuro aufgelegt. Das könnte ein Ansporn für andere Bun-desländer sein, zum Beispiel Berlin oder Brandenburg.Außerdem steigert der Bund den Ansatz für die Erhal-tung der Bundesfernstraßen und damit auch für die Orts-durchfahrten in den Kommunen in diesem Jahr um100 Millionen Euro von 2,1 auf 2,2 Milliarden Euro. Da-mit können und sollen auch die Winterschäden finanziertwerden. Wie bereits im vergangenen Winter wird dasBundesverkehrsministerium die Länder auch in diesemJahr anweisen, mit den Erhaltungsmitteln vorrangig dieFrostschäden zu beseitigen.Dennoch ist mir bewusst, dass die genannten Maß-nahmen angesichts der angespannten Finanzsituation derKommunen nicht ausreichen.
Im Rahmen der geplanten Gemeindefinanzreform müs-sen wir daher für ein dauerhaft stabiles Fundament derKommunalfinanzen sorgen.
Hierzu brauchen wir zum einen auch in Zukunft die Ge-werbesteuer als zentrale Einnahmequelle der Kommu-nen. Eine Abschaffung dieser Steuer ist daher aus unse-rer Sicht inakzeptabel.
Zum anderen brauchen wir eine Entlastung der Kommu-nen bei den Sozialausgaben. Die Überprüfung der Ge-meindefinanzkommission hat ergeben, dass die Ausga-ben der Kommunen vor allem für soziale Leistungen seit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9761
Karl Holmeier
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Jahren so stark angestiegen sind wie kein anderer Ausga-benblock. Sie belaufen sich inzwischen jährlich auf über50 Milliarden Euro. Wenn man die Landes- und Bundes-beteiligungen abzieht, bleiben am Ende immer noch4,65 Milliarden Euro übrig.Eine signifikante und nachhaltige Verbesserung derkommunalen Finanzen setzt daher zwingend Verbesse-rungen im Bereich der Sozialausgaben voraus. Neben ei-ner Reform auf der Einnahmeseite der Kommunen musses gelingen, dass der Bund sein finanzielles Engagementim Bereich der Sozialausgaben spürbar und dauerhaft er-höht. Wenn wir dies schaffen und den Kommunen damitdauerhaft solide Finanzen ermöglichen, dann brauchenwir keine Schlaglochbeseitigungsprogramme und auchkeine Chaosbegriffe – wie von den Linken verwendet –für einen ganz normalen Winter, wie wir ihn heuer ha-ben.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegen Kirsten Lühmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-nen! Unsere dreijährige Enkeltochter hat letztens malwieder die Sendung mit der Maus gesehen. Da hat siegelernt: Im Winter gibt es Schlaglöcher auf den Straßen,und sie hat auch gelernt, wie sie entstehen. Wenn alsoselbst Dreijährige wissen, dass das so ist, dann könnenwir voraussetzen, dass das eigentlich Allgemeinwissensein sollte.
Insofern fragt man sich: Warum haben wir zu diesemThema eine Aktuelle Stunde? Sie ist aktuell; denn wirhaben Winter.Bei dieser Diskussion komme ich mir allerdings ähn-lich vor wie bei dem Film Und täglich grüßt das Mur-meltier; denn vor zwölf Monaten standen wir alle auchschon einmal hier. Es war ebenfalls Winter. Es warendasselbe Thema, derselbe Ort und augenscheinlich auchdieselbe Finanzlage der Kommunen.Darum möchte ich die Finanzlage der Kommuneneinmal etwas näher beleuchten. Dazu nehme ich meinBundesland Niedersachsen als Beispiel. In den letzten20 Jahren sind die Einnahmen der Kommunen in Nie-dersachsen um circa ein Drittel gestiegen, und zwar,Herr Döring, trotz oder vielleicht sogar aufgrund der Ge-werbesteuer. Allerdings sind in dieser Zeit auch jedeMenge Aufgaben dazugekommen. Diese Aufgaben sindnicht mit Haushaltsmitteln unterlegt worden.Schauen wir uns dann einmal an, was die Kommunenim Rahmen ihrer Bautätigkeit tun. Das Schlaglochchaos,das angeblich nur herbeigeredet wird, scheint immerhinso wichtig zu sein, dass der Verkehrsgerichtstag sich da-mit beschäftigt und auch der ADAC deutliche Maßnah-men in diesem Bereich fordert.Leider müssen wir feststellen, dass die Ausgaben derKommunen im Baubereich im selben Zeitraum um einDrittel zurückgegangen sind. Die Kommunen könnendie Löcher in den Straßen nicht stopfen, weil es die Lö-cher in ihren Haushalten nicht zulassen.
In diesem Bereich gibt es einige kreative Lösungen.Eine wurde bereits angesprochen, nämlich das Pro-gramm „Teer muss her“, bei dem Bürgerinnen und Bür-ger Geld zum Stopfen der Löcher spenden können. Ichnenne Ihnen ein anderes Beispiel aus meinem Wahlkreis.Beim „Bürgerpfad“ in Stadensen wird über Patenschaf-ten die erforderliche Kofinanzierung für einen dringendnotwendigen Fahrradweg am Rande einer vielbefahre-nen Kreisstraße aufgebracht.Das sind löbliche Beispiele. So etwas kann für unsaber keine dauerhafte Lösung sein.Ein Weg zu einer dauerhaften Lösung – der KollegeHofreiter hat es angesprochen – führt über die Altschul-denproblematik. Wir alle wissen, dass alle Ebenen – Bund,Länder und Kommunen – 1,8 Billionen Euro Schuldenhaben.Blicken wir noch einmal nach Niedersachsen. Dortmüssen im Haushalt 2011 2,3 Milliarden Euro Zinszah-lungen für Altschulden vorgesehen werden. Die Neuver-schuldung Niedersachsens beträgt – Sie ahnen es –2,3 Milliarden Euro. Das heißt, wir müssen uns weiterverschulden, um unsere Schulden zu zahlen.An dieser Stelle hilft auch die hier immer wieder an-geführte Schuldenbremse nicht weiter; denn damit sollennur die Ausgaben mit den Einnahmen in einen Ausgleichgebracht werden. Die Zinslast, die die Handlungsfähig-keit der Kommunen deutlich einschränkt, bleibt beste-hen.Wir müssen einmal offen über Wege sprechen, wiewir aus diesem Teufelskreis ausbrechen können. Hiermuss die Frage erlaubt sein, wie wir das tun können undob ein Altschuldenfonds uns weiterhelfen kann, um dieSchulden dann gezielt mit Einnahmen aus bestimmtenQuellen zu tilgen.Ein Beispiel für solche nationalen Anstrengungengibt es in unserer Geschichte. Ich verweise hier auf dasLastenausgleichsgesetz, das gleich zweimal in diesemBereich gute Hilfen geleistet hat, und zwar – das möchteich ganz deutlich sagen – mit den Mitteln einer Vermö-gensabgabe. Dieses Wort sollten wir auch wieder öfter inden Mund nehmen.
Das geht aber nur, wenn über Egoismen und Partiku-larinteressen hinweg gemeinsame Lösungen gefundenwerden. Leider erleben wir auf Länderebene gerade dasgenaue Gegenteil. Einzelne Länder haben nämlich dieSolidarität im Länderfinanzausgleich aufgekündigt. Sokann es nicht gehen. Wir müssen offen an das Problem
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9762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Kirsten Lühmann
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der Altschulden herangehen. Ich habe das Gefühl, dasswir im Moment versuchen, den Schwarzen Peter weiter-zuschieben und die Kosten einfach zu verlagern. Wirbrauchen eine dauerhafte Lösung, um den Kommunenwieder Handlungsfreiheit zu geben.Was trägt diese Bundesregierung dazu bei? Sie hat füreinen Zeitraum von zwölf Monaten eine Gemeindefi-nanzkommission eingerichtet. Wenn es Lösungen gab,wurden sie ignoriert oder innerhalb der Regierung zer-redet.Das geht nicht. Die ausgefahrenen Fahrspuren führenuns nicht weiter. Lassen Sie uns neue Wege bauen. Wirsollten nicht warten, bis wir uns auf den Schlaglochpis-ten der Haushaltskonsolidierung die Achsen brechen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Birgit Reinemund
von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Wir haben jedes Jahr die gleiche Situation: DerWinter kommt, und der Frost frisst tiefe Löcher in dieStraßen und noch tiefere in die kommunalen Finanzen.Das ist keine Überraschung, und es ist eigentlich auchkeine neue Erkenntnis. Es stellt sich daher die Frage, wieaktuell diese Aktuelle Stunde heute ist.Niemand bestreitet die angespannte, bisweilen drama-tische, aber auch sehr unterschiedliche Lage der Kom-munen. Niemand bestreitet das strukturelle Defizit überJahrzehnte, und niemand bestreitet, dass die Infrastruk-tur chronisch unterfinanziert ist und dass wir hier einenenormen Investitionsstau haben. Die KfW schätzt ihn al-lein im Bereich der kommunalen Verkehrsinfrastrukturauf 24 Milliarden Euro und im gesamten Infrastruktur-bereich auf 75 Milliarden Euro. Diese gigantischen Be-träge haben sich über viele Jahre aufsummiert, unabhän-gig von jeder Wirtschaftskrise und unabhängig vondieser guten Regierung. Es wurden in den vergangenen20 Jahren horrende Summen aus der Gewerbesteuerum-lage zum Aufbau der Infrastruktur der neuen Länder auf-gewendet. Das war richtig und notwendig; darüber gabes Konsens.In der Antwort der letzten Bundesregierung auf eineKleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion wurden dieFinanzierungsbeteiligungen der Kommunen der altenLänder für das Jahr 2006 mit 572 Millionen Euro für denFonds „Deutsche Einheit“ und mit 2,4 Milliarden Eurofür den Solidarpakt beziffert. Auch der Länderfinanzaus-gleich verursacht Finanzströme, unabhängig von der Ei-genleistung der Teilnehmer. Manch eine Kommunemuss sich jedoch auch fragen lassen, ob sie immer ganzverantwortungsvoll mit den Steuergeldern umgegangenist.
Zur kommunalen Selbstverwaltung gehört auch einekommunale Selbstverpflichtung zu einem sorgsamenUmgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln.
Als Stadträtin weiß ich davon ein Lied zu singen. MeineHeimatstadt Mannheim hat erst vor wenigen Wochen au-ßerplanmäßig ein Kunstwerk für über eine ViertelmillionEuro erstanden. Wie viele Schlaglöcher hätte man damitstopfen können!
Im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler sind un-zählige ähnliche Beispiele enthalten.Dass Sie mich jetzt nicht falsch verstehen: Wir habenunbestritten eine akute finanzielle Notlage der Kommu-nen. Schlaglöcher haben wir allerdings deutlich länger.Das mag auch mit der Prioritätensetzung in manchenGemeinderäten zusammenhängen. Es gibt sicher pres-tigeträchtigere Projekte als Straßensanierung.
Wir sind uns alle einig: Die Kommunen haben, was dieFinanzierung angeht, ein strukturelles Defizit. Zur Behe-bung brauchen wir strukturelle Lösungen.Wir alle wissen um die Schwankungsanfälligkeit derGewerbesteuer und deren ungleiche Verteilungswirkung.Die Prognosen besagen: Die kommunalen Steuereinnah-men werden im Bundesdurchschnitt bereits 2012 wiederdas Niveau des Rekordjahres 2008 erreichen, wie ge-sagt: im Bundesdurchschnitt. Die Situation der Kommu-nen ist aber sehr unterschiedlich. Ludwigshafen bei-spielsweise hat bereits im Jahr 2010 Rekordeinnahmenbei der Gewerbesteuer – doppelt so hoch wie erwartet –verzeichnet, und zwar aufgrund eines einzelnen Gewer-besteuerzahlers, nämlich der BASF. Die NachbarstadtMannheim kann davon nur träumen. Sie wird deutlichlänger brauchen, als es der Bundesdurchschnitt vermu-ten lässt.Diese Defizite der Gewerbesteuer sind seit Jahrzehn-ten bekannt. Nicht umsonst hat diese Regierung eineKommission zur Reform der Gemeindefinanzen einge-setzt. Sie soll im Rahmen eines Gesamtkonzepts Vor-schläge zur Sanierung der kommunalen Finanzen erar-beiten, die beides umfassen: verlässlichere Einnahmenund Entlastung auf der Ausgabenseite.
Die Kommission tritt seit Monaten auf der Stelle – rich-tig. Leider haben die kommunalen Spitzenverbände seitBeginn der Verhandlungen ihre Position zementiert undbewegen sich keinen Zentimeter.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9763
Dr. Birgit Reinemund
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Ein Kompromiss erscheint äußerst mühsam. Wenn eskeine Bewegung gibt, dann bewegt sich auch nichts nachvorne. Ob das tatsächlich im Interesse der gebeuteltenKommunen ist? Die Bundesregierung ist bereit, denKommunen kurzfristig unter die Arme zu greifen – beieiner Einigung. Das hat Minister Schäuble mehrfach be-tont.
Meine Damen und Herren, die AG „Kommunale Fi-nanzen“ der Kommission wird morgen, am 28. Januar,ihre abschließende Sitzung haben. Wir alle warten aufden Abschlussbericht und auf die ausstehenden Berech-nungen. Daraus erhoffen wir weitere Lösungsansätze,vielleicht Bewegung und vor allen Dingen neue Erkennt-nisse.
Welche neuen Erkenntnissen diese Aktuelle Stundeheute bringen soll, erschließt sich mir nicht wirklich.
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufder einen Seite hören wir, dass wir eine chronische Un-terfinanzierung der Kommunen haben. Auf der anderenSeite hören wir, das Thema sei nicht aktuell. Die Aktua-lität zeigt sich im Augenblick unter anderem daran, dassSchlaglöcher nicht mehr repariert werden können. Dabeigeht es nicht um Neu- oder Ausbau, sondern nur um einSchlaglochprogramm; das schlagen wir vor. Man hätteauch beliebige andere Felder nehmen können, um zu zei-gen, dass Kommunen nicht mehr in der Lage sind, ihrePflichtaufgaben zu erfüllen.
Uns ist wichtig, nicht in eine Situation zu kommen,von der man gestern bei Spiegel Online lesen konnte:Klamme Kommune – Britische Stadt will Schwimm-bad mit Krematorium heizenSparen bis zum bitteren Ende: Eine britische Stadtwill ihr Freizeitbad mit Abwärme aus dem Krema-torium heizen. Das diene auch dem Klimaschutz,werben die Verantwortlichen. Gewerkschafter kriti-sieren den Sparvorschlag als „krank“.Wir dürfen nicht in eine solche Situation kommen. Des-wegen müssen wir etwas tun. Ich möchte kurz zurück-schauen. Dass es den Kommunen so schlecht geht, hängtin der Tat mit der Steuerpolitik seit dem Jahr 2000 zu-sammen. Das muss man immer wieder sagen und in Er-innerung rufen.Weil ich gerade an einem Aufsatz über die Schulden-bremse arbeite, habe ich mir das genauer angeschaut.Wäre nicht eine solche Steuerpolitik seit dem Jahr 2000betrieben worden, hätten die Kommunen in den Jahren2006 bis 2009 überhaupt keine Neuverschuldung nötiggehabt, sondern Schulden abbauen können. Im großenKrisenjahr 2010 hätten die Schulden dann gerade einmal3,8 Milliarden Euro und nicht über 12 Milliarden Eurobetragen. Es liegt also an den massiv gesunkenen Steuer-einnahmen, die die Kommunen nicht kompensieren kön-nen. Deswegen ist es notwendig, strukturell für Steuer-mehreinnahmen zu sorgen und Mindereinnahmen zubekämpfen.
Die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzenist bisher keinen Schritt weitergekommen. Morgen findeteine vorläufige Zwischensitzung statt, bei der erst einmaldie beiden Rechenmodelle vorgestellt werden. Aber eswurde schon gesagt, dass die nächsten Rechenmodelle inAuftrag gegeben worden sind. Dann wird es weitergehen.Wir kommen keinen Schritt weiter. Der Minister hat er-neut angeboten, den Kommunen ein Zuschlagsrecht zurEinkommensteuer zu geben, wenn sie teilweise auf Ge-werbesteuereinnahmen verzichten. Das ist für uns völligunakzeptabel. Denn es bleibt dabei: Ein solches Einkom-mensteuerzuschlagsrecht führt dazu, dass die reichenKommunen reicher und die armen Kommunen noch är-mer werden.
Wenn man wirklich eine Verbesserung herbeiführenwill, dann darf man nicht an der Gewerbesteuer festhal-ten, sondern muss sie reformieren und weiterentwickeln.Ich habe mit Interesse von Herrn Holmeier gehört, dasszumindest die Union eindeutig sagt: Mit uns gibt eskeine Abschaffung der Gewerbesteuer. – Ich bin ge-spannt, wie Sie dann im Bundestag abstimmen werden.
Ich hoffe, dass Ihre Fraktion die Abstimmung freigibt.Dann kann man schauen, was dabei herauskommt. Aberzu befürchten ist, dass man an die Gewerbesteuer heran-geht.Aus unserer Sicht ist Folgendes zu tun – das habe ichschon früher ausgeführt –: Es gibt eine Empfehlung füh-render Raumwissenschaftlerinnen und Raumwissen-schaftler der Bundesrepublik, was zu tun wäre. Das sindim Wesentlichen die folgenden Punkte: Erstens ist beibesonders hoch verschuldeten Kommunen zu prüfen, obman einen Entschuldungsfonds auf Länderebene auflegt,damit diese Kommunen überhaupt wieder eine Chancehaben.Zweitens ist eine grundlegende Reform der Gewerbe-steuer vorzunehmen, die auch Selbstständige und Frei-berufler einbezieht und die langfristig die Gewerbe-steuerumlage abschafft.
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Dr. Axel Troost
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Drittens spricht sich die Kommission ausdrücklichgegen Hebesatzrechte aus.Ferner brauchen wir Entlastungen auf der Ausgaben-seite. Das betrifft insbesondere die Kosten der Unterkunftfür Langzeitarbeitslose und – das ist auf Dauer wahr-scheinlich noch wichtiger – die Grundsicherung im Alter;denn das ist der Posten, der sich im Augenblick am dyna-mischsten entwickelt. Letztlich ist dann wieder die „alte“Sozialhilfe für Ältere gefordert, die ausschließlich vonden Kommunen zu tragen ist. Dann sind wir genau an demPunkt, von dem wir eigentlich weg sein wollten. Deswe-gen kann ich Sie nur auffordern, jetzt wirksame Maßnah-men zu ergreifen. Die Kommunen und die Bürgermeisterder CDU – von der FDP gibt es nicht so viele –,
die diese Debatte verfolgen, werden über diese Debatteenttäuscht sein. Wir müssen dringend ein Sofortpro-gramm auflegen, um die Kommunen wieder handlungs-fähig zu machen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichknüpfe an die Ausführungen meines Vorredners, HerrnGötz, an, der, wie ich finde, zu Recht darauf hingewie-sen hat, dass es ein Ding ist, dass ausgerechnet die Linkeeine Aktuelle Stunde zum Thema „Schlaglöcher in Stra-ßen“ beantragt hat. Ich will gar nicht auf die Vergangen-heit verweisen. Nur so viel: Wir alle kennen die Schlag-lochstraßen, die es in den 90er-Jahren in den neuenBundesländern gab. Das war das Ergebnis der Wirt-schaftspolitik bzw. des wirtschaftspolitischen Konzepts,das Sie noch heute vertreten und letzten Endes immernoch anstreben. Das haben wir auch in der letzten Wochehier erfahren, als wir in der Aktuellen Stunde am Freitagüber das Thema Kommunismus debattiert haben.
Von daher ist es schade, dass Ihre wirtschaftspolitischeExpertin, die Vorsitzende der Kommunistischen Platt-form, Frau Wagenknecht, der Debatte heute leider nichtbeiwohnen kann. Es wäre spannend gewesen, zu hören,was sie uns zur Lösung der Probleme mitgeteilt hätte.
Ich habe von Ihnen heute nichts anderes als Ausga-benvorschläge gehört. Die Finanzlage der Kommunenhat es nicht verdient, dass wir in dieser Schlichtheit da-rüber sprechen; denn die Lage ist tatsächlich kritisch. Sieist ernst. Die Kommunen haben ein strukturelles Defizit.Das lässt sich auch nicht wegdiskutieren. Das hängt abernicht nur mit der Einnahmeseite, sondern vor allem mitder Ausgabenseite zusammen; das ist von einigen Red-nern hier zu Recht angesprochen worden. Das hängt vorallem mit den gestiegenen Sozialausgaben zusammen.Ich erinnere daran, dass die Kommunen im Jahr 2008,als die Gewerbesteuer ihre wesentliche Einnahmequellewar, einen erheblichen Überschuss erwirtschaftet haben,und zwar aufgrund der sprudelnden Einnahmen aus derGewerbesteuer.Damit bin ich beim nächsten Punkt. Sie haben gesagt,diese Bundesregierung sei aufgrund der Steuersenkun-gen, die sie vorgenommen habe, für die derzeit kritischeLage der Kommunen verantwortlich. Das genaue Ge-genteil ist der Fall.
Wirtschaft ist keine statische Veranstaltung, bei der wirden einen Geld wegnehmen, um es den anderen zu ge-ben, bei der wir nur Geld von einem Topf in den anderenverschieben. Die Tatsache, dass wir zum Jahresanfang2010 eine Entlastung in Höhe von 24 Milliarden Eurogewährt haben – das geschah auch auf Basis der Be-schlüsse, die wir mit Ihnen gefasst haben, Herr Sieling –,wirkt sich wirtschaftlich aus. Das sehen wir auch an denaktuellen Zahlen. Auch mit dem Wachstumsbeschleuni-gungsgesetz haben wir den Leuten doch kein Geld weg-genommen. Wir haben den „ganz normalen“ Menschen,den Familien in diesem Land 4,8 Milliarden Euro alsKaufkraft zur Verfügung gestellt, insbesondere über eineErhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages.
Ein großer Teil des Wachstums von 3,6 Prozent, das wirim letzten Jahr hatten, ist darauf zurückzuführen.
Natürlich ist das auch auf eine florierende Wirtschaftund eine gute Exportquote zurückzuführen.Fragen Sie die Volkswirte! Die sagen unisono: DieBinnennachfrage zieht an.
Das hängt doch auch mit der Kaufkraft zusammen, mitWachstumseffekten, die wir auslösen, mit mehr Mitteln,die der Einzelne zur Verfügung hat, mit mehr Menschen,die wir in Arbeit bringen. Wir haben in diesem Jahrwahrscheinlich eine Arbeitslosenzahl von 2,7 Millionenim Schnitt zu erwarten. Ich greife Ihr schönes Stichwortvon der „Bröckelrepublik“ auf, Herr Sieling: Als Sie diepolitische Verantwortung trugen, hatten wir 5 MillionenArbeitslose in diesem Land.
Das wirkt sich auf die kommunalen Kassen ganz brutalaus, gerade wegen der steigenden Sozialausgaben. Wer
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Dr. Mathias Middelberg
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ist denn verantwortlich für die „Bröckelrepublik“? Dasist Ihre „Bröckelrepublik“.
Die Gewerbesteuer ist hier schon verschiedentlich an-gesprochen worden. Ich finde, dass die Gewerbesteuereinige Schwächen hat. Diese Schwächen sind schon the-matisiert worden. Ich finde Ihre Vorschläge erstaunlich,Herr Sieling. Ich erinnere daran, dass Ihre Partei, als siein der Regierung war, die Gewerbesteuerumlage erhöhthat. 2005 haben Sie rückwirkend den Bundesanteil anden Kosten der Unterkunft auf null gesetzt.
Ich weise Sie auf das hin, was der Städte- und Ge-meindebund zu Ihren Forderungen im Hinblick aufHartz IV gesagt hat. Wörtlich wurde gesagt, die von derSPD geforderten Korrekturen an den Hartz-Gesetzenseien unbezahlbar. Das ist das Urteil über Ihre Vor-schläge. Ich finde es ziemlich heftig, dass Ihr Finanz-minister in Nordrhein-Westfalen durch die Gegend läuftund sich damit brüstet, dass er etwas für die Kommunenleistet, dass er Hunderte Millionen Euro für die Kommu-nen zur Verfügung stellt; denn das geschieht auf der Ba-sis eines höchstwahrscheinlich verfassungswidrigenHaushalts. Man kann Ihnen wirklich nur raten, erst ein-mal die Verhältnisse vor Ort in Ordnung zu bringen undsich dann als Ratgeber auf bundespolitischer Ebene zuempfehlen.
Ich glaube, wir sind mit der Kommission, die derBundesfinanzminister eingerichtet hat, auf dem richtigenWeg.
Es dauert etwas länger, weil die Fronten verhärtet sind.Ich gehe aber davon aus, dass wir einen brauchbarenKompromiss erzielen werden. Wenn sich die Kommu-nen bei dem Thema Hinzurechnung bewegen, dann wirdes auch auf der anderen Seite Bewegung geben, entwe-der in Richtung eines Anteils an der Einkommensteuermit Zuschlagsrecht oder – das hat der Finanzminister injedem Fall in Aussicht gestellt – in Richtung zusätzlicherBeiträge und eines zusätzlichen Engagements des Bun-des bei den sozialen Ausgaben, bei der Grundsicherungim Alter und bei der Integration Erwerbsgeminderter.Das halte ich für eine vernünftige Linie. Diese solltenwir jetzt mit aller Sachlichkeit und Nüchternheit verfol-gen.Danke.
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Petra Hinz von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eigenverantwortung übernehmen – das ist im-mer dann das Stichwort, wenn es darum geht, dass Sieden Kommunen Mittel entziehen. Es geht hier nicht umEigenverantwortung, sondern darum, dass Sie die Bür-gerinnen und Bürger, die jetzt hier zuhören, täuschenwollen. Das versuchen Sie, seit Sie in der Verantwortungsind. Sie behaupten, durch das sogenannte Wachstums-beschleunigungsgesetz sei der Konsum gesteigert wor-den. Ich bezweifle, dass falsche Aussagen durch perma-nentes Wiederholen wahrer werden.
Ich sage Ihnen: Durch die Gesetze, die Sie, seitdem Siemit der FDP in der Verantwortung sind, beschlossen ha-ben, entziehen Sie den Kommunen Finanzkraft. Umnichts anderes geht es hier.
Sie können Ihre Behauptung hier permanent wiederho-len; das glaubt Ihnen draußen niemand mehr.
Kann es sein, dass das marode Straßennetz – das Ge-fühl hat man, wenn man die Diskussion zwischen CDU/CSU und FDP hört – ein Spiegelbild dieser Albtraum-koalition ist? Sie bewirken, dass die Kommunen hand-lungsunfähig werden. Es hilft nicht, darauf zu verwei-sen, dass es auch reiche Kommunen gibt. Ja, da habenSie völlig recht. Aber die überwiegende Zahl der Kom-munen – gerade dort, wo es einen Strukturwandel gege-ben hat – ist derzeit am Limit. Sie haben auch keine wei-teren Einsparmöglichkeiten mehr. Ich frage mich, ob esIhnen wirklich um die Kommunen geht. Über alle Re-gierungen hinweg haben wir hier Gesetze beschlossen,die die Kommunen letzten Endes finanziell belastet ha-ben.
Das betrifft die Menschen vor Ort.Seitdem Sie in Verantwortung sind, haben Sie dieMenschen im Stich gelassen und durch Entscheidungenbzw. Nichtentscheidungen die Kommunen gezwungen,Kürzungen vorzunehmen bzw. die Gebühren oder – imRahmen Ihrer Möglichkeiten – die Steuern zu erhöhen.Das zahlen letzten Endes die Bürgerinnen und Bürgervor Ort. Sie versprechen ständig Steuererleichterungen.Diese werden aber dadurch kompensiert, dass die Bürge-rinnen und Bürger wesentlich mehr Gebühren und Abga-ben zahlen müssen; auch das muss deutlich gesagt wer-den.
Kommen wir zurück zu den Schlaglöchern. MeineKollegin hat schon auf ihr Bundesland aufmerksam ge-macht. Ich möchte gerne konkret meine Stadt, die StadtEssen, als Beispiel nennen. Das Problem der Schlaglö-cher haben wir nicht nur in diesem Jahr, sondern – da-rauf haben alle Redner hingewiesen – wir hatten es be-
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Petra Hinz
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reits in zurückliegenden Jahren. Meine Kommuneschreibt mir dazu ganz klar: Im letzten Jahr waren es2,3 Millionen Euro. In diesem Jahr geht es um weitere2,3 oder 2,5 Millionen Euro. Das sind kumuliert rund4,5 Millionen Euro. Die Kommune wird diese Geldergar nicht aufbringen können. Das heißt unter dem Strich– auch das hat mir die Baudezernentin in der Beantwor-tung meiner Fragen geschrieben –, dass man den Anlie-gern die Kosten des Straßenbaus und der Straßengestal-tung im Rahmen des KAG in Rechnung stellen wird.Das heißt, die Menschen vor Ort werden das bezahlen,weil sich unser Verkehrsminister herauszieht und sich ei-nen schlanken Fuß macht.
Er begründet es damit, dass wir den Kommunen auf-grund der Fördersystematik nicht helfen können.
– Wir haben schon ganz viele Förderprogramme aufge-legt, obwohl wir originär gar nicht zuständig sind. Wennwir gemeinsam etwas wollen, dann können wir es auchauf den Weg bringen.Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen aller-dings sehr deutlich feststellen können, in welche Rich-tung Herr Ramsauer geht. Vom Finanzministerium kamein ganz klares Nein zur Gewerbesteuer. Ich höre von Ih-nen keine Alternative zur Gewerbesteuer. Ich höre nur:Warten wir erst einmal ab! – Wir warten eigentlich seitSeptember, nein, seit Oktober, nein, seit November, nein,seit Dezember letzten Jahres. Nun sind wir im neuenJahr und warten weiter ab, ob die Kommission einen Be-richt vorlegt. Wenn die Kommission ein Ergebnis vor-legt, das nicht Ihren Vorstellungen – Wegfall der Gewer-besteuer – entspricht, dann bin ich sehr gespannt, ob Siedann frei abstimmen dürfen.
– Wie dieser parlamentarische Prozess abläuft, liebeKollegin, erleben wir im Finanzausschuss immer wieder,wenn es um Teilhabe und Informationsaustausch geht.Dann wird lediglich mit Mehrheit beschlossen.
Ich komme auf Ihr großartiges „Wachstumsverhinde-rungsgesetz“ und die Mehrwertsteuersenkung zurück. Siebehaupten, dadurch sei der Konsum gesteigert worden.Sie haben letzten Endes dazu beigetragen, dass den Kom-munen 1,6 Milliarden Euro fehlen. Unter dem Strichkann man sagen: Wer bei Ihnen keine Lobby hat, der be-kommt von der Regierung keinen Cent und keinen Euround der wird weder unterstützt noch gefördert.
Ich fasse schnell zusammen; denn ich sehe, dassmeine Zeit abläuft. Erstens. Bund und Länder müssen al-les Mögliche tun, um die Substanz des Straßennetzes zuerhalten und Reparaturen vorzunehmen. Hier erwarte ichvom Verkehrsminister eine intelligente Lösung und nichtnur die Aussage, was alles nicht geht.Zweitens. Nehmen Sie die Mittelkürzung beim Städte-bauförderungsprogramm zurück! Denn das Programm„Soziale Stadt“ muss fortgesetzt werden. Es war ein Er-folgsmodell, allerdings nicht Ihr Modell.
Drittens. Die Gewerbesteuer muss erhalten werden,um den Kommunen Planungssicherheit zu geben.Viertens. Nehmen Sie die Gesetze zurück, die dazugeführt haben, dass Mindereinnahmen das Handeln derKommunen bestimmen!Fünftens. Ihre sogenannten Steuererleichterungendürfen nicht zulasten der Kommunen gehen.
Sechstens. Stärken Sie die Kommunen! Das bedeutetzugleich eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Brackmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Alle Jahre wieder rieselt der Schnee. AlleJahre wieder gibt es Frost, und es kommt zu Frostaufbrü-chen. Alle Jahre wieder gibt es diese Debatte, und in die-sem Jahr stehen besonders viele Landtagswahlen an.Wenn ich mir diese Debatte hier vor Augen führe, dannstellt sich mir die Frage – und die Kollegen der SPD ha-ben schon darauf hingewiesen –, was daran eigentlichaktuell ist. Die Kommunen haben sich darauf eingestellt,dass es Frostschäden gibt. Eigentlich sind zwei Dingeneu: Erstens. Die Frostschäden erfordern – der KollegeGötz hat darauf hingewiesen – einen Aufwand von2,3 Milliarden Euro. Das ist viel Geld.Zweitens. Laut der neusten Steuerschätzung vom No-vember kommt es aufgrund der super Politik, die dieseRegierung macht,
bei den Kommunen zu Mehreinnahmen von 3,6 Milliar-den Euro. Es wäre typisch für Sie gewesen, wenn Sie da-rüber nachdenken würden, was man mit dem Differenz-betrag machen könnte. Sie, Frau Kunert, stellen sichdann hier hin und sagen, die Kommunen seien am Ende.
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Norbert Brackmann
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Dann schauen wir einmal zurück. Warum sind siedenn am Ende? – Wir wissen, worüber wir reden, wennwir über Schlaglöcher in den Straßen reden. Straßen ha-ben eine Lebensdauer von 30 Jahren.
– Ja, da lachen Sie noch. Ihr Erinnerungsvermögen wirdSie auch nicht verlassen.Die Steuerreform hat im Jahre 2000 dazu geführt –
– das ist nur ein Drittel der Zeit –, dass der größte Eingriffbei der Gewerbesteuer und der Körperschaftsteuer er-folgte. Die Einnahmen sind von 50 Milliarden Euro – ichhabe mir die Zahlen noch einmal geben lassen – auf25 Milliarden Euro gesunken. Wenn man das bis heutehochrechnet, dann stellt man fest, dass den Kommunen120 Milliarden Euro weniger zur Verfügung stehen, diesie in die Straßen hätten investieren können. Das istschon bemerkenswert. Ich wäre aufseiten der Linken et-was vorsichtig. Seinerzeit hat die Bundesregierung dieZustimmung des Bundesrates mit ein paar Ortsumge-hungen für das Land Mecklenburg-Vorpommern erkauft,das von Rot-Rot regiert wurde. Damit sind Sie geradezumitverantwortlich dafür, dass es diesen Aderlass gege-ben hat.Sie sprechen von einem reichen Deutschland, in demeine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen ei-gentlich kein Problem sein dürfte. Sie müssen sich aberauch vergegenwärtigen, dass wir hier mit unterschiedli-chen Welten konfrontiert werden. Wenn wir in den Kom-munen diskutieren – das wissen wir alle –, ist die Dis-kussionslage immer dieselbe: Gerade von den Linken,aber auch von anderen Parteien, die hier in der Opposi-tion sitzen, bekommen wir immer wieder den Hinweis,wir sollten bloß nicht so viel Geld in die Unterhaltungder Straßen stecken, sondern dieses Geld viel lieber fürInvestitionen im sozialen Bereich verwenden, damit esletztlich den Konsum steigert. Hinterher wundern wiruns, dass Sie sich hier hinstellen und davon reden, dasses sich die Kommunen nicht mehr leisten können, dieSchlaglöcher ordentlich zu sanieren. In den Kommunenschimpfen Sie auf den Bund, der sich darum kümmernsoll. Das ist ein falsches Spiel; das sind Taschenspieler-tricks, die wir hier im Bundestag nicht anwenden sollten.Stattdessen sollte jeder in seinem Zuständigkeitsbereichfür ordentliche Straßen sorgen.
Man muss einmal deutlich darauf hinweisen, dass derBund hier seiner Verpflichtung nachkommt. Es ist eindeutliches Signal, dass trotz der schwierigen Haushalts-lage der Etat für die Sanierung der Fernstraßen von2,1 Milliarden Euro um 100 Millionen Euro aufgestocktwurde.
– Es ist eine deutliche Erhöhung. – Obendrein hat derBundesverkehrsminister angewiesen, den Erhalt vonStraßen dem Neubau vorzuziehen. Das ist ein deutlichesSignal dafür, dass wir den Bestand in der Bundesrepu-blik sichern wollen.Sie haben in der Föderalismuskommission mitge-wirkt. Sie wissen also: Der Bund dürfte, selbst wenn erwollte, die Gemeindestraßen gar nicht finanzieren; erkönnte das aber aufgrund der Anforderungen auch nichtleisten. Der Bund tut bei den Bundesstraßen genau das,was richtig ist, nämlich alles erdenklich Mögliche, umauf den Schlaglochpisten keine Straßenkaries aufkom-men zu lassen. Dafür sei dem Verkehrsminister gedankt.Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:Vereinbarte DebatteTunesien – Jetzt Grundlage für stabile Demokra-tie schaffenNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejeni-gen, die nicht daran teilnehmen wollen, den Plenarsaalzu verlassen, damit die anderen den Ausführungen inRuhe folgen können.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelledas Wort.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in diesenTagen, welche Kraft die Idee der Freiheit entfalten kann.Wir erleben das nicht nur in Tunesien, sondern zurzeitauch in Ägypten. Als diese Debatte vereinbart wordenist, hatte man noch die Ereignisse in Tunesien im Kopf.Mittlerweile sehen wir, dass auch in anderen Ländernderartige Demonstrationen, mindestens aber derartigeDiskussionen in der Gesellschaft stattfinden. Das ist dieandere Seite der Globalisierung, die oft vergessen wird:Es ist eine Globalisierung der Werte, eine Globalisierungdemokratischer Prinzipien. Es geht um den Respekt vorden Menschenrechten und den Bürgerrechten. Hier ha-ben wir über alle Parteigrenzen hinweg eine gemeinsame
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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Haltung. Die deutsche Bundesregierung und – ich habekeinen Zweifel daran – auch der Deutsche Bundestagstehen ohne Wenn und Aber an der Seite und auf derSeite der Demokratie – sei es in Tunesien, sei es inÄgypten.
Ich will fünf Bemerkungen machen, weil es natürlichein Prozess sein wird, der uns noch lange beschäftigt,und zwar nicht nur im Deutschen Bundestag, nicht nur inder Arbeit der Regierung, sondern natürlich darüber hi-naus in Europa und im gesamten Westen, der zu Recht jaauch als Wertegemeinschaft bezeichnet wird.Erstens. Was wir derzeit erleben, widerlegt die Be-hauptung, dass Demokratie und dass FreiheitsrechteLänder instabil machen würden. Wir erleben hier dasglatte Gegenteil. Nicht die Bürgerfreiheiten machendiese Länder instabil, nicht die Gewährung von Freiheitmacht diese Länder instabil, sondern die Verweigerungvon Bürgerfreiheiten, die Verweigerung von Bürgerrech-ten destabilisieren diese Länder. Das ist auch ein klarerAuftrag für uns, da, wo wir es können, auf Demokrati-sierung zu setzen. Der Weg zur Stabilität führt über dieDemokratie. Das ist der Grund dafür, dass wir uns auchals Europäer hier besonders engagieren.
Dazu zählt die Wahrung der Menschenrechte, dazuzählt der Respekt vor den Bürgerrechten, und dazu zäh-len ausdrücklich auch die Presse-, Meinungs- und Ver-sammlungsfreiheit. Das ist die Botschaft, die von Tune-sien ausgegangen ist, und das ist die Botschaft, die jetztauch in Ägypten gehört werden soll; Demokratie, Frei-heitsrechte, Bürgerrechte, Versammlungsfreiheit, Presse-freiheit, Meinungsfreiheit, das sind genau die Rechte,die jetzt von den Bürgerinnen und Bürgern auf derStraße verlangt und eingeklagt werden. Diejenigen, diediese Rechte wollen, haben unsere Solidarität und unserepolitische Unterstützung.
Wir sind eine Wertegemeinschaft, und diese Werte wol-len wir auch verbreiten.Zweitens. Sehr oft wird als Rechtfertigung für Gewalterklärt, dass man diese Gewalt zur Unterdrückung ein-setzen müsse, um der Gefahr einer Islamisierung, um derGefahr von Fundamentalismus entgegenzutreten. Genaudas ist etwas, was in diesen Tagen auch widerlegt wurdeund gerade widerlegt wird.Diejenigen, die jetzt Gewalt gegen ihre Bürgerinnenund Bürger und deren Sehnsucht nach Freiheit und De-mokratie einsetzen, fördern Islamismus und Radikalität;denn sie treiben diejenigen dahin, die aus einer ganz nor-malen Mittelschicht heraus in Wahrheit nach Bildung,Freiheit und Aufstieg drängen; sie sorgen dafür, dass ge-nau diese moderaten Kräfte geschwächt und die radika-len gestärkt werden. Nicht der, der Gewalt einsetzt, be-kämpft den Islamismus, sondern der, der jetzt Gewaltgegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger einsetzt,sorgt für Fundamentalismus, Islamismus und eine Radi-kalisierung in diesen Gesellschaften.
Drittens. Wir werden am Montag im europäischenKreis in Brüssel besprechen, wie wir in Tunesien kon-kret helfen können. Natürlich ist es jetzt, bevor dieseMaßnahmen gemeinsam verabredet sind, zu früh, Ein-zelheiten zu nennen. Aber ich kann Ihnen versichern– das habe ich auch in meinem Telefongespräch mit mei-nem tunesischen Amtskollegen noch einmal deutlich ge-macht –: Wenn Tunesien den Weg in Richtung Demo-kratie geht, dann werden wir nicht nur als Deutschland,sondern auch als Europäische Union bei diesem Prozessbehilflich sein.Wichtig ist eine unabhängige Justiz. Dort, wo jetzteine unabhängige Justiz als wesentliche Voraussetzungfür Stabilität aufgebaut wird, werden wir mit Rat und Tat– auch mit Ratgebern und praktischer Hilfe – dabei seinund unterstützend mitwirken.Viertens. Man erkennt, dass in unserem elektroni-schen Zeitalter Meinungen eben nicht mehr allein überdas Staatsfernsehen kontrolliert werden können. Das isteine ganz neue Realität der Gedankenfreiheit. Deswe-gen: Wenn ich von Pressefreiheit spreche, dann meineich damit auch die Freiheit im Internet. Sie ist ganz au-genscheinlich auch ein Motor für Demokratisierung ge-worden. Wir begrüßen diese Entwicklung und appellie-ren deswegen auch an die Regierung in Kairo, dieFreiheit im Internet nicht durch Abschalten zu beein-trächtigen.
Fünftens und letztens möchte ich mich bedanken, vorallen Dingen für die Zusammenarbeit mit sehr vielenKolleginnen und Kollegen hier, aber, wenn Sie mir er-lauben, auch für die Zusammenarbeit mit Reiseveran-staltern, für das Engagement unserer Diplomaten, unse-rer deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vorOrt.Bitte vergessen wir nicht, was es für eine großartigeLeistung war, dass 7 000 deutsche Touristen innerhalbeines Wochenendes, so sie es wollten, ausgeflogen wer-den konnten. Das war eine gigantische logistische Leis-tung. Deswegen erlauben Sie mir bitte, dass ich schließemit einem Dank an die Beamten, die das organisiert ha-ben, aber natürlich auch an unsere Mitarbeiter in denLändern, die unter persönlicher Gefahr dort arbeiten,und insbesondere an die Reiseveranstalter und die vielenUnternehmen, die daran mitgewirkt haben, dass unsereStaatsangehörigen unversehrt zurückkehren konnten, so-fern sie dies wollten.Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9769
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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Das Wort hat der Kollege Dr. Gloser für die SPD-
Fraktion, dem ich herzlich zu seinem heutigen Geburts-
tag gratuliere.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Aber den akademi-
schen Titel habe ich immer noch nicht erworben.
Dann müssen Sie mit Ihrer Geschäftsführung klären,
was sie meldet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mutige Bürgerinnen und Bürger Tunesiens haben einWunder bewirkt. Die sogenannte Jasminrevolution istauch ein historischer Einschnitt in der Geschichte Tune-siens. Wenn man im Lexikon „Arabischer Jasmin“ nach-schlägt, dann liest man dort: Er wächst als aufrechterund kletternder Strauch. – Ich meine, viele tunesischeBürger können aufgrund ihres Mutes aufrecht gehen. IhrMut ist auch ein Beispiel für andere. Wir wissen: DerStrauch klettert weiter. Aus den Bewegungen in Ägyptenund im Jemen wissen wir das.Heute ist vielleicht auch ein kurzer Augenblick desGedenkens an die vielen Opfer dieser Revolution ange-zeigt. Unsere Wünsche zur Genesung gehen an die vie-len Verletzten. Noch immer steht das Land vor schwieri-gen Herausforderungen. Dazu gehören der Aufbau vonhandlungsfähigen Strukturen, auch einer handlungsfähi-gen Übergangsregierung, die Organisation von Wahlen,die Herausbildung einer freien Zivilgesellschaft, aberauch die unumkehrbare Sicherung der Grundfreiheiten.Jetzt gilt es, seitens der Europäischen Union, seitensDeutschlands ein wichtiges Zeichen zu setzen. Es istrichtig: Die Tunesier haben die Umwälzung allein ge-schafft. Es war ihr Mut, gegen Missstände aufzubegeh-ren, um sich endlich die Luft zum Atmen der Freiheit zuverschaffen. Dennoch: Gerade während dieses histori-schen Umbruchs genügen warme Worte nicht. Wennnicht jetzt, wann dann erfolgt die Unterstützung diesesLandes?
Angesichts der Demonstrationen in anderen arabi-schen Ländern kristallisieren sich übereinstimmendeForderungen heraus. Die Menschen, insbesondere diejungen Menschen, wollen politische, wirtschaftliche undsoziale Teilhabe. Sie wollen Grundfreiheiten in An-spruch nehmen. Sie wollen sich eigene Perspektiven er-arbeiten können.Die Menschen, die in verschiedenen Orten Tunesiensauf die Straße gegangen sind, nehmen eigentlich nur dasin Anspruch – vielleicht haben wir das vergessen –, wasdie Staats- und Regierungschefs des Nordens und desSüdens in der Erklärung von Barcelona am 27./28. No-vember 1995 vereinbart haben: die Verpflichtung auf dieCharta der Vereinten Nationen und die AllgemeineErklärung der Menschenrechte, die Anerkennung derMenschenrechte und der Grundfreiheiten wie der Mei-nungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit. In dieserErklärung ist aber auch von der Entwicklung der Demo-kratie die Rede. Es ging also nicht, wie mancher Kritikersagt, nur um finanzielle und wirtschaftliche Partner-schaft.Unstrittig: Letztere hat natürlich auch die Entwick-lung in Tunesien befördert. Dieses Land hat eben zweisehr unterschiedliche Gesichter – dies sollte bei all denUmwälzungen und in so manchem klugen Leitartikelnicht vergessen werden –: Zum einen gibt es das Land,in dem im Vergleich zu anderen arabischen Ländern einebessere Rechtsstellung und Lage der Frauen, eine ver-hältnismäßig gute Ausbildung, Infrastruktur – ja, es gibtauch einen Mittelstand – und die Trennung von Religionund Staat vorhanden sind, und zum anderen gibt es dasUrlaubsland Tunesien.Heute geht so mancher kritische Kommentar zur Si-tuation Tunesiens auch in Richtung der Politik. Ich erin-nere daran, dass in der Lektüre der letzten Jahre Tune-sien immer unter einem bestimmten Bild zu finden war,nämlich als Touristenland auf den Reiseseiten der Zei-tungen, aber nie mit dem anderen Gesicht.Ich bin froh darüber, dass wir Sozialdemokraten beiunseren Begegnungen kritische Themen nicht ausgesparthaben. Ja, wir mussten auch mit der Regierung sprechen;aber genauso trafen wir uns mit Vertretern der Opposi-tion – wohlgemerkt: nicht nur der Opposition, die vonBen Ali zugelassen war – und auch mit vielen NGOs mitMenschenrechtsaktivitäten. Noch im Dezember letztenJahres habe ich in Tunis mit Vertretern dieser Oppositiongesprochen. Zwei davon waren für 24 Stunden Mitglie-der der Übergangsregierung. Ich hoffe, sie kehren unteranderen Umständen wieder zurück.Wir haben mit verschiedenen Ministern und der RCDüber diese Themen gesprochen, vor allem unsere Erwar-tungen in Bezug auf eine gesellschaftliche Öffnung for-muliert, gerade vor dem Hintergrund der Perspektivlo-sigkeit vieler junger Menschen. Die Kolleginnen undKollegen aus allen Fraktionen, die bei dem Besuch derParlamentariergruppe des tunesischen Parlaments imNovember letzten Jahres dabei waren, wissen, wie wirdas deutlich gemacht haben.In den letzten Monaten wollte die Regierung Tune-siens Unterstützung bei den Verhandlungen mit der EUüber einen privilegierten Status. Ich denke, eine solcheUnterstützung sollte grundsätzlich gewährt werden. Siemuss aber mit den Forderungen einhergehen, die wir alsEuropäische Union haben. Herr Außenminister, wenn
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Günter Gloser
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am kommenden Montag die Entscheidungen des Außen-ministerrates getroffen werden, halte ich es für wichtig,dass hier Zeichen gesetzt werden, damit nicht der Ein-druck entsteht, wir brächen an dieser Stelle Verhandlun-gen einfach ab, die wir zuvor geführt haben. Wir müssenPerspektiven aufzeigen. Möglicherweise kann dann eineneue Regierung eine neue Vereinbarung treffen.Jetzt äußern sich auf einmal viele klug, als hätten sieschon immer alles gewusst. Ich stelle noch einmal fest:Angesichts der vielen Verflechtungen, angesichts der un-mittelbaren Nachbarschaft, aber auch angesichts vielergemeinsamer Themen mussten wir auch mit den Regie-rungen reden, sei es nun in Tunis, in Algier oder in Kairo –ob es uns gefiel oder nicht.Die Frage ist doch: Sprechen wir nur mit der Regie-rung oder auch mit den anderen, den kritischen Grup-pen? Hinterfragen wir kritische Situationen oder biedernwir uns an? Tunesien liegt für uns nur etwa zwei bis dreiFlugstunden entfernt. Das ist nicht weit weg. Diese geo-grafische Nähe legt nahe, viele Herausforderungen ge-meinsam anzugehen. Unser in Europa vorhandenes Be-dürfnis nach Sicherheit in unserem sogenanntenVorgarten in den südlichen Regionen darf nicht als Vor-wand für Repression der dortigen Bevölkerung genom-men werden. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um auf diegrundlegenden Vereinbarungen zwischen dem Nordenund dem Süden im Rahmen des Barcelona-Prozesses zu-rückzukommen.Auch wenn es ein heißes Eisen ist, müssen wir unsdoch selbstkritisch fragen, wie wir es mit einer Überprü-fung der europäischen Flüchtlingspolitik halten.
Angesichts der Perspektivlosigkeit von 60 bis70 Prozent der Jugendlichen und jungen Menschen unter30 Jahren in Nordafrika müssen wir uns auch demThema der möglicherweise temporären Öffnung der le-galen Migration widmen. Ich weiß, das ist ein schwieri-ges Feld.Dennoch, sehr geehrter Herr Außenminister, habenSie seitens der SPD – ich glaube, ich kann das sagen –die volle Unterstützung, wenn Sie sich, wie ich erfahrenhabe, gegenüber manchem südlichen Nachbarn in derZielrichtung durchsetzen. Es ist nicht hinnehmbar, dassnoch vor wenigen Tagen eine Außenministerin Unter-stützung für ein System Ben Alis gegeben hat.
Ich glaube, das sollte schnellstmöglich korrigiert wer-den.Es ist wichtig, die Vielzahl der Menschen, die auf dieStraße gegangen sind, die diese Umwälzung herbeige-führt haben, auch in der Zukunft zu unterstützen. Ichhabe eingangs das Beispiel vom Jasmin genannt. Überden Arabischen Jasmin heißt es aber auch: Er ist ein ein-heimisches und kein importiertes Gewächs. – Vielleichtwar die Jasminrevolution gerade deshalb so erfolgreich,weil sie sich von innen heraus entwickelte und nicht vonaußen erzwungen worden ist.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Polenz für die Unionsfrak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Arbeit, Freiheit, Würde – das waren die zentralen Forde-rungen, für die die Tunesierinnen und Tunesier mutigauf die Straße gegangen sind. Ihre Forderung war: Endeder Korruption und der Unterdrückung. Sie haben fürMeinungsfreiheit gestritten, und sie wollten freie undfaire Wahlen. Die Tunesier wollen selbst entscheiden,wer regieren soll.Wir haben diese Debatte heute deshalb vereinbart,weil wir das Signal senden wollen: Ja, wir unterstützendiese Forderung nach einem Rechtsstaat und einer De-mokratie, nach einer Gesellschaft, in der jeder und jedein Würde leben kann und die Armut und Arbeitslosigkeitüberwindet.
Wir wollen ein Signal dafür senden, dass wir Respekthaben und dass wir die mutigen Tunesierinnen und Tu-nesier bewundern, die sich nicht haben einschüchternlassen, als sie auf die Straße gegangen sind, und die aucherfolgreich darin waren, den autoritären Machthaber BenAli zu stürzen.Wir sollten uns aber auch selbstkritisch noch einmalvergegenwärtigen, dass wir uns vielleicht zu lange voreine falsche Alternative gestellt haben, weil wir der Mei-nung waren, in der Region des Nahen und Mittleren Os-tens im Grunde nur die Alternative zwischen autoritärenRegierungen und islamistischem Chaos zu haben.
Ich glaube, wenn man das richtig durchdenkt, dannkommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass eine au-toritäre Herrschaft nicht vor Islamismus schützt, sondernim Gegenteil eher wie ein Brutkasten für Islamismuswirkt.Warum ist das so? Autoritäre Regierungen lassenkeine Meinungsfreiheit, keine politische Opposition undkeine politische Diskussion in der Öffentlichkeit zu. DieBevölkerungsmehrheit ist muslimisch, und den Glaubenkann auch eine totalitäre Regierung nicht verbieten. Des-
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Ruprecht Polenz
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halb verlagert sich die politische Diskussion dann in dienoch einigermaßen geschützten Räume der Moscheen.Man kann das ein bisschen mit dem vergleichen, was wirin den 80er-Jahren in der DDR in den Kirchenräumen er-lebt haben. Durch diese Verlagerung der Diskussion indie Moscheen wandelt sich die politische Bewegung na-türlich ein Stück weit auch in Richtung religiöser Bewe-gung.Es kommt dann noch dazu, dass autoritäre Regierun-gen dabei versagen, die Grundfunktionen in Sachen Bil-dung und soziale Sicherheit zu erfüllen, die alle vomStaat erwarten. Wir alle wissen, dass es zum Handwerks-zeug der islamistischen Bewegung gehört, Kindergärten,Schulen und Krankenhäuser zu offerieren. Dies ist daszweite Element, durch das autoritäre Herrschaft Islamis-mus begünstigt.Wenn man dann noch sieht, dass alle diese Länder imGrunde auf der Suche danach sind, welche Staats- undRegierungsform zu ihnen passt, dann verfängt natürlichso eine einfache Formel wie „Der Islam ist die Lösung“.Wir müssen also lernen, dass diese Alternative, die unsnatürlich auch von den autoritären Herrschern eingeredetworden ist – autoritär oder islamistisch –, in Wirklichkeitkeine ist.Die Tunesier haben sich jetzt die Chance auf eine de-mokratische Entwicklung selbst erkämpft, und wir soll-ten sie auf diesem weiteren Weg unterstützen.
Wir sollten unsere Hilfe allerdings – auch dazu möchteich etwas sagen – an klare Bedingungen knüpfen. Es gibtjetzt eine Übergangsregierung, die im Grunde zwei Auf-gaben hat: Sie muss für Sicherheit und Ordnung sorgen,und sie muss den Übergang vorbereiten, sprich: freieund faire Wahlen sowohl für das Präsidentenamt, aber,ich denke, alsbald auch für ein neues Parlament organi-sieren.Das kann nach so langer Unterdrückung ohne politi-sche Diskussion nicht innerhalb ganz kurzer Frist ge-schehen; denn dann hätten nur die Kräfte der alten Zeiteine Chance, organisiert anzutreten. Deshalb wird maneinen Zeitraum von etwa einem halben Jahr brauchen.Länger sollte es aber auch nicht dauern. Wir müssen vondieser Übergangsregierung einen klaren Zeitplan fürdiese Wahlen erwarten.Natürlich müssen dann Parteien neu gegründet undzugelassen werden. Sie brauchen ein Wahlgesetz. Dabeikann die Europäische Union und können wir technischeHilfe anbieten. Es gehört eine Amnestie für die politi-schen Gefangenen dazu,
übrigens auch für diejenigen, die aus Angst vor dem Re-gime ins Ausland geflohen sind und jetzt gerne zurück-kehren würden.
Jetzt will ich etwas sagen, was vielleicht nicht jederteilt. Ich glaube, wir sollten uns aktiv darum bemühen,dass sich auch islamistische Parteien an diesem Prozessbeteiligen.
Warum? Nach demokratischen Wahlen sind die Pro-bleme ja nicht weg. Es hat ja nicht sofort jeder Jugendli-che einen Job, und es bricht nicht im ganzen Land sofortder Wohlstand aus. Dann ist es wichtig, dass der Streitüber den richtigen Weg dahin in einem Parlament mit al-len politischen Kräften ausgetragen wird, statt dassKräfte außerhalb dann das ganze System diskreditierenund das, was man in der Vergangenheit zu Recht der au-toritären Herrschaft angelastet hat, der neuen Demokra-tie anlasten.Deshalb sollten wir aktiv dafür werben, dass auch is-lamistische Parteien in diesen Prozess einbezogen wer-den. Dafür sind allerdings klare Vorbedingungen nötig.Erstens. Jeder, der sich am politischen Prozess betei-ligt, muss sich dazu bekennen, zur Durchsetzung seinerpolitischen Ziele ausschließlich friedliche Mittel anzu-wenden.Zweitens. Jeder, der sich daran beteiligt, nach diesenRegeln Politik zu machen, muss die Regeln auch gegensich gelten lassen, wenn er die Mehrheit einmal verlierensollte. Das heißt, die Bereitschaft, sich abwählen zu las-sen, ist für demokratische Parteien konstitutiv.Drittens. Das kommt in Tunesien dazu: Es gibt einensehr fortschrittlichen Code du Statut Personnel, der fürdie Gleichberechtigung der Frauen enorm viel bewirkthat. Wir sollten, weil sich diese Frage islamistischenParteien gegenüber stellt, von vornherein von ihnen ver-langen, dass sie ihn unangetastet lassen. Er gehört prak-tisch zum Verfassungskonsens der tunesischen Gesell-schaft.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ägypten sagen.Dort gehen die Demonstranten auf die Straße, und zwarnicht mit der Parole „Der Islam ist die Lösung“, sondernmit der Parole „Tunesien ist die Lösung“.
Wir müssen der ägyptischen Regierung sagen: KeineGewalt gegen friedliche Demonstranten! Das Demon-strationsrecht ist ein Grundrecht, das ihr eurer Gesell-schaft eröffnen müsst!
Wir müssen auf Meinungsfreiheit und die freie Nutzungdes Internets drängen. Es ist ein Skandal, dass Facebookund andere Möglichkeiten, miteinander zu kommunizie-
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Ruprecht Polenz
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ren, abgeschaltet worden sind. Wir müssen fordern, dassdie Präsidentschaftswahlen, die in diesem Jahr turnusge-mäß anstehen, fair und frei verlaufen.
Die Europäische Union hat sich im Zuge der Ent-wicklung der Mittelmeerunion leider immer stärker aufeine eher technische und wirtschaftliche Zusammenar-beit mit der Region fokussiert. Im Barcelona-Prozess hatman seinerzeit noch stärker das Ziel verfolgt, wirtschaft-liche Reformen mit politischer Öffnung zu verbinden.Zu dieser Politik muss auch die Europäische Union wie-der zurückfinden, Herr Außenminister.
Welches Fazit ist als Zwischenergebnis zu ziehen?Erstens. Stabilität kann trügerisch sein. Autoritäre Re-gime garantieren keine nachhaltige Stabilität.
Zweitens. Die Annahme, es gäbe Völker, die für De-mokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht geeignet sind, istüberheblich und falsch.
Lassen Sie mich mit einem Zitat des tunesischenSchriftstellers Abdelwahab Meddeb schließen, das ichheute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesenhabe:Für das Verlangen nach Demokratie ist kein Volk zuunbegabt. Das tunesische muss nun in seiner demo-kratischen Ungeduld nur noch lernen, dass nach derSchnelle des Aufbruchs die Langwierigkeit derÜbergangsphasen mit Vertretern des Regimes undneubekehrten Glaubenseiferern kommen wird. Wirwerden es meistern.Ich füge hinzu: Wir sollten dabei unsere Hilfe undUnterstützung anbieten.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Movassat
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die guteNachricht vorweg: Die tunesische Bevölkerung hat er-folgreich den jahrelang von der Europäischen Union un-terstützten Diktator Ben Ali aus dem Land gejagt. DieLinke erklärt sich mit dieser Revolution solidarisch, wiesie sich auch mit den Protesten solidarisch erklärt, diederzeit in Ägypten gegen Mubarak stattfinden.
Ben Ali war für Vetternwirtschaft, Unterdrückungund Inhaftierung politischer Gegner wie auch für dieChancenlosigkeit der Jugend verantwortlich. Tunesienhat jetzt die Chance auf Freiheit, Demokratie und sozialeGerechtigkeit.
Aber worüber wir hier und heute reden müssen, ist dieRolle Deutschlands und der Europäischen Union. Natür-lich, wir alle kennen die unsägliche Story – sie wurdeschon angesprochen – der französischen Außenministe-rin, die Ben Ali kurz vor seiner Flucht, nachdem bereitsmehrere Demonstranten erschossen worden waren, dasKnow-how ihrer Sicherheitskräfte zur Verfügung stellenwollte. So heftig ging es in der deutschen Politik nicht zu– keine Frage –, aber man duckte sich weg. Als man dieRevolution in Tunesien nicht mehr ignorieren konnte,übte man sich in lauwarmen Phrasen. Erst am Tag vorder Flucht Ben Alis haben Sie, Herr Westerwelle, sicheinen Kommentar entlocken lassen und fordertenschwammig ein Ende der Gewalt. Bei der Kanzlerindauerte es mit einer Wortmeldung gar bis einen Tag nachder Flucht. Wenn man dann noch weiß, dass auf der In-ternetseite des Auswärtigen Amtes steht: „Die Beziehun-gen zwischen Deutschland und Tunesien sind gut und in-tensiv“, muss sich einem der Eindruck aufdrängen, dassman es sich mit dem geschätzten Partner Ben Ali nichtverderben wollte, solange noch die Möglichkeit bestand,dass er im Amt bleibt.Wie sah es eigentlich in den letzten Jahrzehnten aus?Warum hat die Bundesregierung gemeinsame Sache miteiner der schlimmsten Diktaturen dieser Welt gemacht,obwohl Sie, Herr Westerwelle, hier heute gesagt haben,dass wir eine Wertegemeinschaft sind und dass wir De-mokratie und Freiheit unterstützen? Deutschland ist dritt-größter Handelspartner Tunesiens. Die EU hat Tunesiensogar in die Euro-Mediterrane Partnerschaft aufgenom-men und so der Diktatur einen privilegierten Status zu Eu-ropa verschafft. Gekoppelt war dies eigentlich an die Ein-haltung von Menschenrechten und Demokratie. Dochman pickte sich heraus, was einem wichtig war – dieWirtschaftspartnerschaft –, und ignorierte die Menschen-rechtsverletzungen in Tunesien. Auch Rüstungsgüter lie-ferte man – wie übrigens auch in andere Diktaturen in derRegion wie Ägypten, Saudi-Arabien und Jemen. Auchwenn es darum geht, afrikanische Flüchtlinge, die vorKrieg, Verfolgung und Hunger fliehen, von Europa fern-zuhalten, hat man kein Problem damit, mit den nordafri-kanischen Diktaturen zusammenzuarbeiten. Was aller-dings als Grund für die Unterstützung Ben Alis vielschwerer wiegen dürfte: Er war ein stabiler Bündnispart-ner im sogenannten Kampf gegen den Terror. Dafürwurde gelassen in Kauf genommen, dass Tausende Men-schen unrechtmäßig gefangen gehalten wurden, dass Mil-lionen unterdrückt wurden und dass es Folter und Tötun-gen gab. Das ist wirklich eine Schande.
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Niema Movassat
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Eine ähnliche Politik verfolgen Sie von der Bundesre-gierung auch in Ägypten, wo Mubarak unterstützt undmit Waffen beliefert wird, solange er nur die muslimi-sche Opposition unterdrückt. In der deutschen Außen-politik galt bisher: Was „muslimisch“ im Namen trägt,ist potenziell terroristisch. – Null Differenzierung, nullKenntnis. Diese pauschalen Vorverurteilungen derer, dienicht sehen, dass es verschiedene Parteien und verschie-dene Strömungen gibt, stärken am Ende die wirklichfundamentalistischen Kräfte. Da muss endlich ein Kurs-wechsel stattfinden. Herr Westerwelle, lassen Sie Ihrenheutigen Worten Taten folgen!
Tief blicken lässt übrigens auch die Einschätzung desVizepremierministers der sogenannten einzigen Demo-kratie im Nahen Osten – Israel –, der sagte, es würde dieisraelische Sicherheit gefährden, wenn autoritäre Re-gime der Region durch Demokratien ersetzt werden wür-den. Da sich die Bundesregierung im Gegensatz dazu,wie heute deutlich wurde, über die Demokratiebewe-gung freut, sind wir gespannt, wie die Bundeskanzlerindieses Thema bei der deutsch-israelischen Kabinettssit-zung Ende Januar zur Sprache bringen wird.Die Bundesregierung spricht Demokratie und Men-schenrechte anscheinend nur dann offensiv an, wenn esim eigenen Interesse ist, wie beispielsweise beim Iran.Aber was war – bisher jedenfalls – mit Ägypten, woMubarak seit Jahrzehnten die Opposition unterdrücktund wo Gegner der Diktatur jahrelang in dunklen Zellenverschwinden und gefoltert werden? Was ist mit Saudi-Arabien, wo Parteien verboten sind und Peitschenhiebeeine normale Strafe darstellen? Was ist mit dem Jemen,wo Präsident Salih regelmäßig Proteste blutig nieder-schlagen lässt? All diese Regime werden als verlässlichePartner eingestuft. Demokratie und Rechtsstaatlichkeitsind dann wohl verzichtbar.Unter Rot-Grün war es übrigens nicht anders.Schließlich hat Ex-Außenminister Fischer gegenüberBen Ali, Mubarak und Co. dieselbe Bündnispolitik be-trieben wie die Bundesregierung heute. Wir haben eshier insgesamt in der deutschen Außenpolitik mit eineminstrumentellen Verhältnis zu Menschenrechten zu tun.Das lehnt die Linke ganz klar ab.
Wie sagte doch der Afrika-Beauftragte der Bundesre-gierung Nooke letzte Woche? Man kann künftig nichtmehr die Augen vor undemokratischen Entwicklungenverschließen. – Das heißt doch im Klartext, dass man ge-nau dies jahrzehntelang getan hat. Man hat bewusst dieAugen verschlossen.Was hat es nun auf sich mit dieser vordergründigenSelbstkritik? Man könnte sich darüber freuen, wäre sienicht so durchsichtig. Jetzt, da der EU und Deutschlanddie Felle davonschwimmen und nicht mehr zu verheim-lichen ist, dass man Ben Ali jahrzehntelang unterstützthat, jetzt, da hoffentlich eine Regierung in Tunesien ge-schaffen wird, die mit Ben Ali nichts mehr zu tun hat,schaut man kritisch auf die Ära zurück.Herr Westerwelle, Sie haben heute angeboten, denÜbergangsprozess hin zur Demokratie aktiv zu unter-stützen. Das ist schön und gut. Aber glauben Sie denn,dass noch irgendwer in Tunesien oder im Nahen OstenIhre Hilfe haben will, nachdem sich die deutsche Politikdurch jahrelanges Schweigen vollkommen diskreditierthat und jetzt schon wieder drauf und dran ist, die Mario-nettenregierung des alten tunesischen Regimes als Über-gangsregierung zu akzeptieren? Wenn Sie Ihre Glaub-würdigkeit wiederherstellen wollen, dann ziehen Siejetzt die richtigen Konsequenzen: Beenden Sie Ihre Ko-operation mit Diktatoren!
Belassen Sie es im Fall von Ägypten nicht bei ein paarWorten, sondern entziehen Sie Mubarak sofort die kom-plette Unterstützung und machen Sie sich dafür auch inder EU stark! Dann wird er sich nicht mehr lange haltenkönnen.
Dann werden sich auch andere Diktaturen in der Regionnicht mehr lange halten können.Die Menschen, die sich nun auch in Ägypten, Jorda-nien, Jemen, Marokko und der Westsahara unter Lebens-gefahr gegen ihre Unterdrücker erheben und für daskämpfen, was in Tunesien bereits erreicht worden ist,verdienen Respekt und Unterstützung. Wir Linke sindsolidarisch mit dem Kampf gegen jede diktatorischeHerrschaft.
An die verbliebene alte Garde Ben Alis in Tunesien,an Mubarak und alle anderen Herren Diktatoren: Machtden Weg frei für Demokratie von unten! Eure Zeit istvorbei.Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin, gute Besserung! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich kann vieles teilen, was Sie in IhrenVorreden hier gesagt haben. Die Menschen der Jasmin-revolution in Tunesien haben Geschichte geschrieben.Sie haben das Regime Ben Ali quasi über Nacht friedlichgestürzt. Wir müssen zunächst einmal ganz bescheideneinsehen, dass kaum jemand in Europa – sei es die Poli-tik oder seien es Experten – damit gerechnet hat.Möglicherweise steht die gesamte arabische Welt amAnfang einer neuen Ära. Ich glaube, heute kann undwird niemand mehr voraussagen, ob das vielleicht so ist,obwohl die Situation in den verschiedenen Ländern
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Kerstin Müller
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schwer vergleichbar ist. Mit Blick auf die heutigen undgestrigen Demonstrationen in Ägypten kann wohl nie-mand voraussagen, ob die friedliche Revolution in Tunisnicht doch auf andere Länder der Region übergreift
und ob Tunis am Ende nicht doch so etwas wie das Dan-zig des Nahen Ostens wird. Wir haben das in Osteuropaeinmal erlebt. Ich habe in dieser Woche mit Expertengesprochen, die gesagt haben: Ich würde meine Handnicht mehr dafür ins Feuer legen, dass das nicht pas-siert. – Egal, mit wem man spricht – beispielsweisemit Menschen aus der Region –, stellt man fest, dassdie Menschen elektrisiert sind. Sie hoffen auf eineChance.Fest steht: Ob Tunesien zu einer Erfolgsgeschichtewird oder erneut in einer autoritären Herrschaft endet, istfür die gesamte Region und auch für uns, auch für Eu-ropa von entscheidender Bedeutung. Deshalb – dies istmein erstes Anliegen – müssen wir, muss die Europäi-sche Union jetzt alles tun, damit das Land eine Chanceauf eine dauerhafte Demokratisierung erhält, damit die-ser Prozess unumkehrbar wird und vielleicht auch dieNachbarstaaten eine Chance auf den Wandel erhalten.
In Tunesien wurde die Revolution von allen Teilender tunesischen Gesellschaft getragen, vor allen Dingenauch von einer gut ausgebildeten Mittelschicht, von Ge-schäftsleuten und Rechtsanwälten. Das mag in vielenNachbarstaaten anders sein, beispielsweise in Algerien,aber auch in Ägypten scheint sich so etwas anzubahnen.Fest steht: Die Probleme, die Auslöser für dieschreckliche Selbstverbrennung des jungen Gemüse-händlers waren, sind Probleme vieler Araber: hohe Ar-beitslosigkeit und hohe soziale Ungleichheit, vor allembei gut ausgebildeten unter 30-Jährigen, Dominanz vonSicherheitsdiensten und Militär, Folter und Menschen-rechtsverletzungen, Korruption und Machtmissbrauchbei gleichzeitigem völligen Fehlen von politischenRechten.Im Zeitalter von Internet, Twitter und Facebookkommt hinzu, dass nicht mehr geheim bleibt, was dieRegime alles beiseiteschaffen. Über WikiLeaks sind Kor-ruptionen und Bereicherungen bekannt geworden. ÜberFacebook und Twitter wurde die Demonstrationorganisiert. Al-Dschasira und andere Sender haben dieseBilder in der gesamten arabischen Welt verbreitet. Daswäre vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen.Jetzt steht die fragile Übergangsregierung vor derAufgabe, faire und freie Wahlen zu organisieren, undzwar in einer Situation, in der sich die demokratischeOpposition erst formieren muss. Geht das schief, dannhätte das eine verheerende Wirkung auf künftige Demo-kratisierungsprozesse in der Region.Meine Kritik richtet sich in erster Linie an die Euro-päische Union. Wir dürfen diese Debatte nicht wieBuchhalter führen. Auch dürfen wir uns nicht – wieLady Ashton – mit feinziselierten Erklärungen hervor-tun. Ich glaube, die Menschen in der Region erwarten ei-nen Kurswechsel, eine entschlossene, umfassende Un-terstützung, und zwar jetzt.
Die bisherige Politik der Europäischen Union gehörtgrundsätzlich auf den Prüfstand. Wann, wenn nicht jetzt,müssen wir einsehen, dass die Strategie des Westens indieser Region – Herr Polenz, Sie haben es angesprochen;ich teile Ihre Auffassung völlig –, den Islamismus zu be-kämpfen, indem man auf säkulare, aber autoritäre undkorrupte Regime setzt, gescheitert ist? Es ist eben nureine vermeintliche Stabilität ohne Demokratie undRechtsstaat. Sie steht auf tönernen Füßen. Irgendwannklagen die Menschen ihre Rechte ein und fegen Regimewie dieses hinweg. Außerdem liefert eine Diktatur gera-dezu den Nährboden für Radikalisierungen jedwederArt; Herr Polenz, Sie haben das Wort „Brutkasten“ be-nutzt. Die bisherige Strategie muss beerdigt werden; wirmüssen jetzt einen Strategiewechsel einleiten. Das er-warten die Menschen in der Region.
Unser stärkster Partner in der EU, Frankreich, istam Rande erwähnt worden. Ich fände es begrüßenswert– auch das kann man im Bundestag einmal sagen –,wenn Frankreich jetzt einmal in die zweite Reihe tre-ten würde. Die Behauptung, man habe vom Ausmaß undder Brutalität des Regimes nichts gewusst, ist nichtglaubwürdig. Wir brauchen eine neue Politik gegenüberTunesien, gegenüber allen Ländern in dieser Region.Frankreich wird eine solche Politik nicht glaubwürdigbetreiben können.Was Tunesien angeht, teile ich vieles, was hier gefor-dert wurde. Wir müssen den Demokratisierungsprozessmassiv unterstützen. Das heißt, wir müssen finanzielleund institutionelle Hilfe für den Aufbau demokratischerStrukturen leisten. Wahlvorbereitungen und Wahlbeob-achtungen sollten schon jetzt angegangen werden. Wirmüssen dabei alle Kräfte in den Demokratisierungspro-zess einbinden, auch die moderaten Islamisten; wir stim-men Ihnen zu, Herr Polenz. Wir müssen auch an dieserStelle die Strategie verändern; das wäre das richtige Zei-chen. Wir müssen aber auch die Zivilgesellschaft för-dern, damit nicht wieder dasselbe passiert. Die eingelei-teten Prozesse müssen unumkehrbar werden. Gefördertwerden müssen auch Projekte zur wirtschaftlichen Ent-wicklung.Die Mittelmeerpartnerschaft – sie ist hier nicht er-wähnt worden – gehört auf jeden Fall auf den Prüfstand.Herr Außenminister – Sie haben dazu leider nichts ge-sagt –, ich wüsste gerne einmal, was aus der Mittelmeer-union – von Sarkozy geboren, von Frau Merkel abgeseg-net – geworden ist. Eigentlich müsste die Mittelmeer-partnerschaft jetzt eine Sternstunde erleben. Gestern lasman aber, dass just jetzt der Generalsekretär der Mittel-meerunion zurückgetreten ist, weil die Aktivitäten lahm-gelegt seien, kein Geld fließe und alle Gipfeltreffen ab-gesagt worden seien; deshalb hat er jetzt aufgegeben.
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Kerstin Müller
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Die Mittelmeerpartnerschaft ist also ein Potemkin’schesDorf. Da passiert gar nichts, und das ist total bedauerlich.Wir brauchen jetzt einen Strategiewechsel im Hin-blick auf diese Region. Das heißt – ähnlich dem, wasman beim Barcelona-Prozess gesagt hat –: Wirtschaftli-che und politische Reformen müssen miteinander ver-bunden werden. Wir dürfen eben nicht mehr in hohemUmfang Budgethilfe oder gar Militärhilfe leisten, ohneauf demokratische Reformen und auf die Einhaltung vonMenschenrechten zu bestehen. Dahin müssen wir kom-men.
Der Lackmustest für einen solchen Strategiewechselwird die Entwicklung in Ägypten sein. Ist die EU zudem bereit, was ich gefordert habe, oder nicht? Die Men-schen gehen jetzt auf die Straße. Sie haben es erwähnt,Herr Polenz: Diese Menschen werden brutal niederge-schlagen. Wir müssen jetzt von Mubarak fordern: Dasmuss beendet werden. Mubarak muss freie und faireWahlen zulassen. Er könnte einen guten Beitrag dazuleisten, indem er nicht seinen Sohn als seinen Nachfol-ger installiert oder sich selbst erneut als Kandidat zurVerfügung stellt. Ich wiederhole: Es muss dort faire undfreie Wahlen geben. Die EU muss klarmachen: Es gibtkeine Hilfen mehr, wenn das Regime in Ägypten keinefreie Wahlen zulässt.Zum Schluss. Wir können aus unseren Fehlern lernen,und wir müssen jetzt handeln. Ich glaube, die EU hateine riesige historische Chance. Wir dürfen diese nichtleichtfertig durch Zaudern und Zögern verspielen.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Stinner
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Auch von mir besteWünsche für Ihre Stimme. Ich kann Ihnen sagen: Wirvon der FDP haben seit Jahren gute Erfahrungen mit derZweitstimme gemacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gesternAbend im Fernsehen eine sehr interessante und sehr be-wegende Sendung über die Journalisten in Tunesien ge-sehen. Sie sind jetzt dabei, in einem Selbstfindungspro-zess zu überlegen: Wie gehen wir mit der neuenSituation eigentlich um?Was schreiben wir in die Zeitung hinein? Wer bestimmt,was hineinkommt? Welche Tendenzen schreiben wir hi-nein? Können wir offen schreiben? Es war berührend, zusehen, wie dieser Selbstfindungsprozess bei den Journa-listen vorangeht.Das ist das Thema insgesamt. Dieses Land befindetsich in einem beeindruckenden Selbstfindungsprozess,von dem wir alle noch nicht wissen, wo er enden wird.Wir sind guter Hoffnung, und wir rufen denjenigen zu,die dieses ermöglicht haben: Sie haben unsere volle Un-terstützung! Wir unterstützen sie dabei, diesen Prozessfortzusetzen. Tunesien soll selbst entscheiden, wie es indie Zukunft gehen möchte, wobei wir sehr deutlich ma-chen möchten: Welche Ordnung sich auch immer in Tu-nesien künftig durchsetzt, es soll sichergestellt sein – derAußenminister ist darauf eingegangen –, dass die Mög-lichkeit einer Veränderung in demokratischer Weiseauch in Zukunft gegeben ist. Wir werden nicht akzeptie-ren und wir werden es nicht unterstützen, dass ein autori-täres Regime durch ein anderes ersetzt wird.
Glücklicherweise gibt es dafür bisher keine Ansatz-punkte, aber man weiß nie, wie es ausgeht. Wir müssenalle abwarten, wie es ausgeht.In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wiegehen wir damit um? Was können wir konkret tun? Eswurde bereits gesagt – ich unterstütze das voll –, dass dieEuropäische Union in zwei Richtungen unmittelbar hel-fen kann, nämlich erstens Hilfe beim Prozess der Selbst-findung, der Organisation von demokratischen Struktu-ren, von Rechtsstaatsstrukturen, von Wahlen etc. anzu-bieten. Aber, Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kol-legen, es gibt noch eine zweite Möglichkeit, nämlichdass wir Tunesien in Handelsfragen konkret entgegen-kommen.
In Tunesien gibt es bereits einen freien Handel, was In-dustriegüter angeht. Ich plädiere aber nachhaltig dafür,dass wir das erweitern und uns dafür einsetzen, dass wirdas endlich auch auf landwirtschaftliche Güter ausdeh-nen.
Das wäre eine konkrete Maßnahme, die wir einleitenkönnten, um Tunesien aktuell zu helfen.Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Der Fall Tune-sien, aber auch die Situation beispielsweise in Ägyptenund im Jemen, sollte für uns Anlass sein, uns selbstkri-tisch mit der Rolle der Europäischen Union in den letz-ten zehn Jahren zu beschäftigen.
Das gilt für alle, die in unterschiedlicher Kombinationüber die Jahre hinweg Regierungsverantwortung getra-gen haben.
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Dr. Rainer Stinner
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Im Prinzip haben wir immer drei Instrumente disku-tiert: erstens den Barcelona-Prozess, von dem man sagt,er sei tot. Zweitens haben wir die Mittelmeerunion, vonder man sagt: Gut gemeint, aber schlecht ausgeführt.Drittens wir haben die Europäische Nachbarschaftspoli-tik, unter deren Dach die Mittelmeerunion gegründetworden ist, bei der wir selbstkritisch feststellen müssen,dass nicht genug dabei herausgekommen ist.Ich habe mir die Projekte der Europäischen Nachbar-schaftspolitik angeschaut. Es gibt 39 Projekte, die auchfür Tunesien Gültigkeit haben. Ich bezweifle, dass dieseProjekte alle sinnvoll sind, und ich bezweifle vor allem,dass sie konsequent durchgeführt und zum Nutzen Tune-siens eingesetzt werden. Ich bitte die Bundesregierungdringend, im Rahmen der Europäischen Union darauf zudrängen, dass wir unsere Instrumente schärfen, dass wirsie fokussieren und konzentriert einsetzen, um den Pro-zess in Tunesien entsprechend zu unterstützen.Es wurde darauf hingewiesen, dass das, was in Tune-sien passiert, Auswirkungen auf die Region hat. Auchhier wissen wir noch nicht, ob es ein gutes Ende nehmenwird, aber ich sage in Bezug auf Tunesien und auch aufandere Staaten: Beurteilen wir die Spieler, die sich indem Selbstfindungsprozess positionieren, nicht danach,was obendrauf steht, sondern danach, was drin ist, wassie inhaltlich wirklich machen. Herr Ghannouchi zumBeispiel, der 22 Jahre lang unter dem Siegel des Islamis-mus in London residiert hat, kehrt dieser Tage nach Tu-nesien zurück. In seinem Interview im Spiegel konnteman nachlesen, dass er unter dem Label des Islamismusdurchaus einige Grundfesten europäischer Werteord-nung verinnerlicht hat, nämlich das demokratische Sys-tem und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Deshalbplädiere ich dafür, genau zu beobachten, was passiertund nicht anhand von Überschriften zu argumentieren.Unsere Hoffnung ist, dass Tunesien den richtigenWeg geht. Wir Europäer wollen das; denn es ist in unse-rem europäischen Interesse, dass wir um die EU herumein Cordon von Staaten legen, die am Ende des Tages soähnlich funktionieren wie wir. Wir wollen keinen Re-gimewechsel von außen, wir wollen aber, dass sie soähnlich funktionieren wie wir. Dafür sollten wir gemein-sam die Bundesregierung unterstützen und sie bitten,nachhaltig und nachdrücklich in der EU daran zu arbei-ten.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Wieczorek-
Zeul das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle haben in dieser Diskussion unsere Bewunde-rung für den Mut und das Engagement der tunesischenBevölkerung ausgedrückt. Was wir tun können, damitdiese Revolution ein Erfolg wird, sollten wir alle tun;denn Tunesien hat dank seiner engagierten Zivilgesell-schaft, dank seiner engagierten Männer und Frauen, einegroße Chance, die historische Wende unumkehrbar zumachen.Übrigens waren an dieser Revolution keine Islamistenoder islamistischen Gruppen beteiligt. Es ist wichtig, daseinmal zu erwähnen.Es zeigt sich, dass in Zeiten der grenzüberschreiten-den Informationsmedien die nationale Unterdrückungder Meinungsfreiheit nicht mehr funktioniert. Das ist gutso. Wir sollten dies weiterhin unterstützen.
Die über Jahre hinweg immer wieder aufgestellte Be-hauptung, in den arabischen Ländern sei der Wunschnach Freiheit und Demokratie nicht verbreitet, ist schonim Jahr 2004 durch eine Untersuchung des World ValuesSurvey widerlegt worden, bei der festgestellt wurde,dass die arabischen Staaten an der Spitze der Länder la-gen, die sich für die Ablösung von Despoten und einedemokratische Regierungsführung engagierten. Ich haltees für wichtig, unsere Wahrnehmung in dieser Richtungzu verändern.Wie hier von allen gesagt wurde, ist es jetzt wichtig,den Öffnungs- und Übergangsprozess transparent zu ge-stalten, alle zu beteiligen sowie Rat und Tat wie ge-wünscht zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel zur Vor-bereitung der Gesetze zur Medienfreiheit oder derWahlgesetze.Zwei weitere Aspekte halte ich ebenfalls für wichtig.So sollten die Guthaben des geflohenen Präsidenten inden europäischen Ländern eingefroren werden und imSinne der Initiative zur Rückführung von Potentatengel-dern der tunesischen Bevölkerung zurückgegeben wer-den. Das kann von der Europäischen Union entspre-chend beschlossen werden.
Der Aufstand war ein Aufstand der Jungen für Arbeitund gegen Perspektivlosigkeit. Worte sind wichtig. Dastimme ich Herrn Stinner zu. Unterstützung ist ebenfallswichtig. Es ist aber auch wichtig, dass die EuropäischeUnion praktisch handelt. Ob sie dies ernst nimmt, wirdsich daran zeigen, ob das Abkommen, mit dem der Ex-port von landwirtschaftlichen Gütern aus Tunesien er-leichtert werden soll, schnell beschlossen wird, um sodie ökonomische Entwicklung in Tunesien zu stabilisie-ren. Wir erwarten, dass die Regierung das entsprechendaufnimmt.Die anhaltenden Demonstrationen und Proteste inÄgypten zeigen, dass auch dort die Menschen Beteili-gungschancen und eine Verbesserung ihrer Lebensver-hältnisse wollen. Angesichts der Verschlechterung derLebensverhältnisse der ärmeren Schichten ist das ganzbesonders verständlich. Es ist völlig unbegreiflich, dassin einem potenziell wohlhabenden Land wie Ägypten,das im Übrigen eines der NEPAD-Gründungsländer ist,rund 40 Prozent der Bürger von 2 US-Dollar am Tag le-ben müssen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9777
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Wenn sich die ägyptische Regierung und Staatspräsi-dent Mubarak nicht für die Prinzipien verantwortlicherRegierungsführung öffnen und nicht für freie und unge-hinderte Wahlen eintreten, laufen sie Gefahr, dass einAufstand der Jugend und ein Aufstand des Zorns für eineÖffnung von unten sorgen.Deshalb rufen wir die ägyptische Regierung auf: Ver-schließen Sie sich nicht dem Demokratiewillen der Men-schen. Setzen Sie auf Kooperation und Respektierungder Menschenrechte statt auf Gewalt und Repression.
Die Haltung der Europäischen Union und der interna-tionalen Gemeinschaft gegenüber der Region sollte vondem geprägt sein – schließlich versuchen wir heute, einegemeinsame Grundposition zu finden –, was AmartyaSen vor vielen Jahren wie folgt ausgedrückt hat: Ent-wicklung ist ein Prozess der Ausweitung der realen Frei-heiten für die Menschen.Gegen diese Position haben Teile der internationalenGemeinschaft – unter anderem die USA, aber auch vielearabische Länder – in den zurückliegenden Jahren ver-stoßen. Vermeintliche geostrategische Stabilität – Sie ha-ben es angesprochen, Herr Polenz – wurde auf Kostender politischen Entwicklung erkauft. Das gilt zum Bei-spiel für Ägypten. Dieses Handeln muss der Vergangen-heit angehören; es ist ein Irrweg, der überwunden wer-den muss.Dabei wurden vor allem die Hoffnungen und Erwar-tungen von Jugendlichen, die Jobs und Bildung verlan-gen, enttäuscht und missachtet. In vielen arabischenLändern haben die Menschen unter 18 Jahren einen An-teil von bis zu 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Eswächst die jüngste Generation heran, die in dieser Re-gion jemals lebte.Ich bin froh, dass wir zu unserer Regierungszeit imEntwicklungsministerium Initiativen aus der arabischenRegion unterstützt haben. Sie stehen für das, was man-cher hier als neue Erkenntnis verkauft. In dem letztenArab Human Development Report von 2009, den zu le-sen ich Ihnen allen ans Herz legen möchte, wird gesagt,dass bis 2020 in den arabischen Ländern 51 Millionenneue Jobs geschaffen werden müssen.Wie können wir dazu beitragen, den Prozess zur Aus-weitung der realen Freiheiten in diesen Ländern zu för-dern? Seit 2002 gibt es diese Berichte über die menschli-che Entwicklung in den arabischen Ländern, die von derUN und arabischen Fachleuten aus der Region erstelltwerden. Deren Überzeugungen sollten wir zur Grund-lage unseres Handelns machen. In dem Bericht von 2009wird gefordert: Respektierung des Selbstbestimmungs-rechts aller Menschen, Respektierung der Menschen-rechte und öffentlicher Respekt vor unterschiedlichenReligionen und Denkschulen, funktionierende parlamen-tarische Systeme, Garantie der politischen Rechte undpolitischer Pluralismus. Ich füge hinzu: Das gilt aberauch für andere Fälle.Allerdings gilt: Wenn demokratische Wahlen stattge-funden haben, dann gehört es zur Demokratie, dass dieinternationale Gemeinschaft anschließend nicht ent-scheidet, ob sie das Wahlergebnis akzeptiert oder nicht.Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, wie wir bezogenauf Palästina erlebt haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob der Demokrati-sierungsprozess in den südlichen Nachbarländern Euro-pas gelingt, hängt also auch vom Verhalten der Europäerab. Aufgrund meines langjährigen Engagements in die-sem Bereich kann ich sagen, dass die wunderbareChance besteht, dass wir durch Zusammenarbeit die Re-formkräfte in den Zivilgesellschaften und die Reform-kräfte in den jeweiligen Regierungen stärken können.Das ist das Prinzip „Wandel durch Zusammenarbeit“. Esbesteht eine wunderbare Chance für die EuropäischeUnion: Durch eine Partnerschaft für nachhaltige Ener-gieerzeugung und -versorgung kann das gemeinsame In-teresse an Klimaschutz und Ressourcenschonung, an Ar-beits- und Ausbildungsplätzen in allen Ländern derRegion gefördert werden. Wir sollten diese Chance er-greifen und sollten alles vermeiden, was diese Chance inirgendeiner Form mindern könnte.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Pfeiffer das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin 1951 geboren. Ich kenne keine andere Staats-form als die Demokratie. Es gibt nur einige wenige vonuns – im Moment sitzt anscheinend niemand von ihnenhier –, die sich noch daran erinnern können, wie es an-ders war.Manchmal frage ich mich: Wissen wir eigentlich,welch kostbares Gut es ist, in einer Demokratie zu leben?Dazu gehören freie Wahlen, Pressefreiheit, Meinungs-freiheit und eine Verfassung, die die Grundrechte einesjeden Einzelnen schützt. Wir sollten ein wenig Demutzeigen und die Demokratie als Geschenk begreifen.Auch dieser Aspekt gehört zu der Debatte über ein Land,dessen Menschen genau dieselben Chancen haben wol-len, die wir eigentlich als selbstverständlich annehmen.Wir merken jedoch, dass dieses Demokratieverständnissogar in unserem Land – übrigens können wir nur des-wegen hier sitzen – nicht überall gleich ausgeprägt ist.Deshalb ist es eigentlich eine wunderbare Sache, wasin Tunesien passiert. Ich hätte mir gewünscht, dass dergesellschaftliche und der gesellschaftspolitische Um-bruch in Tunesien so erfolgt, wie es 1989 beim Mauer-fall passiert ist, als die Menschen in der DDR genau dashaben wollten, was wir schon lange hatten, nämlich Frei-heit und Demokratie.
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Sibylle Pfeiffer
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Wir wissen auch, dass noch nicht einmal die Hälftealler Staaten auf dieser Welt eine Demokratie hat. Daher,lieber Kollege Movassat, können wir uns unsere Partnernicht immer so aussuchen, wie wir es gerne hätten. Dasheißt aber nicht, dass wir es fraglos hinnehmen, wennDemokratie nicht stattfindet und wenn Menschenrechtenicht beachtet werden. Dies nicht hinzunehmen, ist Teilunserer politischen Arbeit.Aber bei Bewegungen wie zum Beispiel in Tunesienoder in Algerien – laut heutiger Tickermeldung passiertauch etwas im Jemen – stellt sich die Frage, wie unter-stützend wir eigentlich tätig sein können. Können wir alsDeutschland und als Europa anderen die Demokratieaufdrücken? Nein, sie muss aus dem Volk selbst kom-men. Sie muss gewollt sein. Aber wenn sie dann gewolltist, ist die Frage: Wie können wir unterstützend tätigsein?
Natürlich können wir helfen. Wir können Hilfe beider Vorbereitung der Wahlen anbieten. Darin sind wirdoch wirklich ganz gut, nicht nur in Deutschland, son-dern auch in Europa. Wir können natürlich auch bei derErarbeitung einer Verfassung mithelfen. Auch bei Wah-len können wir durch Wahlbeobachtung und Ähnlichestätig werden, wenn es darum geht, die sich im Momentin Tunesien etablierende Demokratiebewegung zu unter-stützen, damit sie nachhaltigen Bestand hat.Auch auf europäischer Ebene können wir etwas tun.Der Staatsvertrag in Bezug auf die privilegierte Partner-schaft mit Tunesien, die die EU vor einiger Zeit ange-strebt hat, ist letztlich an der Diskussion um Menschen-rechte und Demokratie gescheitert. Wenn es dort jetztStabilität in dieser Richtung gibt, ist die Frage, ob dieEU dies als Basis für die privilegierte Partnerschaft anse-hen kann. Sie sieht es vielleicht auch ein kleines biss-chen als Anreiz oder als Bonbon und verspürt vielleichtauch Dankbarkeit über die dortigen Geschehnisse. Ichglaube, das können wir tun.Aber wir können auch versuchen, die vor Ort lebendenMenschen – viele junge Menschen sind bestens durch einHochschulstudium und Ähnliches ausgebildet – in Ar-beit, Lohn und Brot zu bekommen. Es gibt nichts Frus-trierenderes als Menschen, die ausgebildet sind, keineArbeit haben und ihre Familien nicht selbst ernährenkönnen.Das heißt, wir müssen auch dort unterstützend tätigwerden, wo es darum geht, Unternehmensgründungen zubegleiten. Wir müssen kleine Unternehmen unterstützen,deren Start gefährdet ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute habe ich auchetwas Tolles gehört. Herr Gloser, Sie waren dabei. Zweigroße deutsche Unternehmen haben versprochen, ihreProduktion in China aufzugeben, um sie in Tunesien ein-zurichten.Liebe Zuhörer, liebe Zuschauer, liebe Unternehmerin-nen und Unternehmer, liebe Manager deutscher Unter-nehmen, die irgendwo im Ausland investieren wollen,schauen Sie sich junge Demokratien an. Schauen Siesich Länder an, die demokratische Bewegungen haben,und prüfen Sie, ob man dort investieren kann. NutzenSie die Gelegenheit, um zusammen mit der Politik dieMenschen zu unterstützen, die nichts anderes wollen, alsin ihrem Land zu leben, die jedoch auch ihr Aus- undEinkommen haben möchten. Sie wollen auch, dass dieMenschenrechte beachtet werden, und sie wünschen sichdemokratische Strukturen.Ich glaube, es ist es wert, darüber nachzudenken, woman investiert und dass es unter Umständen auch einegute Idee sein kann, in solchen Ländern zu investieren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Götzer für die Unions-
fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Das tunesische Volk hat durch eine Revolution, dieim arabischen Raum einmalig ist und wohl die allermeis-ten ausländischen Beobachteter überrascht hat, seinendiktatorischen Staatspräsidenten Ben Ali aus eigenerKraft gestürzt und das Land innerhalb weniger Tagegrundlegend verändert.Auch wenn es sicherlich zu früh ist, um endgültig zubeurteilen, ob sich die Hoffnungen auf Freiheit und De-mokratie in Tunesien erfüllen werden, kann man heuteschon sagen: Es besteht eine echte Chance für einenpolitischen Neuanfang des Landes. Die Bildung einerÜbergangsregierung unter Einbeziehung der Oppositionist ein erster wichtiger Schritt hin zu einem nachhaltigenund dauerhaften Reformkurs, dessen Ziel ein demokrati-scher Rechtsstaat sein muss.Von entscheidender Bedeutung wird dabei die rascheSchaffung eines echten Mehrparteiensystems sein, indem sich verschiedene Ansichten und Überzeugungen ineinem pluralistischen Miteinander widerspiegeln und be-haupten. Unabdingbar sind neben der Entwicklung de-mokratischer Parteistrukturen der Aufbau eines unab-hängigen Justizwesens und einer ordnungsgemäßenVerwaltung sowie die Gewährleistung von Meinungs-,Presse- und Versammlungsfreiheit, um nur einige derwichtigsten Grundpfeiler zu nennen. Die künftige tune-sische Regierung muss des Weiteren umgehend konkreteMaßnahmen ergreifen, um Polizei und Armee an dieneuen, demokratischen Grundlagen zu binden und umdie im Land herrschende Korruption erfolgreich zu be-kämpfen.Ich glaube, wir sind uns einig, dass sich die Vergan-genheit in Tunesien nicht wiederholen darf. Ich möchtedaran erinnern, dass die Einheitspartei RCD ursprüng-lich ebenfalls als fortschrittlich galt und schließlich in ei-nem diktatorischen, korrupten System endete. Uns mussklar sein: Tunesien braucht bei seinem Demokratisie-
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Dr. Wolfgang Götzer
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rungsprozess umfassende und rasche Hilfe. Auch dieökonomischen Probleme, insbesondere die hohe Jugend-arbeitslosigkeit, wird die neue Regierung nicht alleinund nicht von heute auf morgen lösen können. Auchhierbei ist Tunesien auf die Unterstützung durch andereLänder angewiesen. Deutschland und die EU müssen ih-ren Beitrag leisten; denn die neue Demokratie wird erstdann gefestigt sein und von breiten Schichten der Bevöl-kerung akzeptiert werden, wenn mit der Demokratieauch eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisseeinhergeht.Ich möchte in Stichworten das anführen, was in die-sem Zusammenhang angedacht werden kann und muss:das Wiederaufgreifen der privilegierten Partnerschaft– das hat meine Vorrednerin gerade angesprochen –, dieBeseitigung von noch bestehenden Handels- und Export-restriktionen, möglicherweise die Einrichtung eines Not-finanzierungsfonds für Tunesien für den Fall, dass dieauf kriminelle Weise ins Ausland gebrachten Staatsgel-der nicht rechtzeitig zurückgeholt werden können. Mankönnte auch an steuerliche Sonderabschreibungen fürUnternehmen aus Europa denken, die jetzt in Tunesieninvestieren wollen. Das sind nur einige Beispiele füreine ökonomische Unterstützung des Landes.Lassen Sie mich zusammenfassen: Tunesien hat dasPotenzial, sich zu einem demokratischen Land zu ent-wickeln; denn es hat nicht nur eine Mittelschicht, einWirtschaftswachstum und ein hohes Bildungsniveauvorzuweisen, sondern vor allem auch eine engagierte Ju-gend und aktive Intellektuelle. Kurz gesagt: Tunesien hateine Zivilgesellschaft – so ist das schon formuliert wor-den –, auf der man aufbauen, mit der man arbeiten kann,die dieses Land gestalten kann und will.Dieser Demokratisierungsprozess bedarf – ich sage esnoch einmal – der tatkräftigen Unterstützung Deutsch-lands und der Europäischen Union. Eine demokratischeEntwicklung in Tunesien ist auch im Interesse Deutsch-lands und Europas. Die Vorgänge in Tunesien müssenuns bewusst machen: In diesen Tagen besteht die histori-sche Chance, ein neues Kapitel der Beziehungen Euro-pas mit der arabischen Welt zu beginnen. Bislang habendie radikalen Islamisten in Tunesien keine Chance. Siehaben auch bei der Revolution keine Rolle gespielt. Da-mit es so bleibt, muss der Demokratisierungsprozessweitergehen. Ich stimme dem Bundesaußenminister un-eingeschränkt zu, wenn er sagt: Autoritäre Systeme ver-hindern nicht den radikalen Islamismus, sondern sind imGegenteil ein Nährboden dafür.Ich möchte noch einmal festhalten: Die zum Sturz derDiktatur führenden Proteste waren zu keiner Zeit religiösmotiviert, sondern sie waren Ausdruck der Unzufrieden-heit mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialenVerhältnissen. Die Tageszeitung Die Welt schreibt heutedazu – ich zitiere –:In den vergangenen Jahren ist diese Region– gemeint ist der Nahe Osten –vor allem durch ihre Radikalen aufgefallen, derenAnschläge und Hassausbrüche im Westen Furchtvor dem auslösten, was auf die autoritären Regimenoch folgen könnte. Nun jedoch artikulieren sichauch all die anderen Araber, die ihr Heil nicht inRevolutionen nach iranischem Vorbild suchen. Son-dern die endlich die Sonderstellung der arabischenWelt überwinden möchten.Wir müssen Tunesien nun aktiv dabei unterstützen,mit der Tradition autoritärer Strukturen zu brechen. DasLand muss sich eine Gesellschaftsordnung geben, in dersich alle Bürger wiederfinden, vor allem auch die bis-lang Benachteiligten, eine Gesellschaftsordnung, in derFreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewähr-leistet sind und sich Wohlstand entwickeln kann. Dassind die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen fürpolitische Stabilität und eine gute Zukunft für die Men-schen im Land.Der Wandel in Tunesien kann Vorbildcharakter fürandere Länder in der Region haben. Ich zitiere abschlie-ßend noch einmal Die Welt vom heutigen Tage:Es weht ein Hauch von 1989 durch den Nahen Os-ten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe
– zu dem Antrag der Abgeordneten FrankHeinrich, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPMenschenrecht auf sauberes Trinkwasserund Sanitäreinrichtungen – Versorgungweltweit verbessern– zu dem Antrag der Fraktion der SPDDas Menschenrecht auf sauberes Trinkwas-ser und Sanitärversorgung umsetzen– zu dem Antrag der Abgeordneten TomKoenigs, Marieluise Beck , VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Anerkennung des Menschenrechts aufsauberes Trinkwasser und Sanitärversor-gung weiterentwickeln– Drucksachen 17/2332, 17/3652, 17/1779,17/4526 –Berichterstattung:Abgeordnete Frank HeinrichUllrich MeßmerPascal KoberAnnette GrothTom Koenigs
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Drei-viertelstunde zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sieeinverstanden.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatdas Wort die Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sauberes Trinkwasser ist die elementare Vo-
raussetzung für unser Leben. Doch nach wie vor haben
fast 900 Millionen Menschen keinen Zugang zu saube-
rem Trinkwasser und 2,6 Milliarden Menschen keinen
Zugang zu ausreichend hygienischer Abwasserentsor-
gung. Angesichts dieser Zahlen, dieses Zustands war es
umso wichtiger, dass der Menschenrechtsrat im Septem-
ber 2010 eine von Deutschland und Spanien initiierte
Resolution „Menschenrechte und Zugang zu sauberem
Trinkwasser und Sanitäranlagen“ verabschiedet hat. Sie
folgt der Resolution der Generalversammlung vom Juli
letzten Jahres. Ich glaube, das ist ein weiterer Schritt hin
zur weltweiten Anerkennung des Menschenrechts auf
sauberes Wasser und Sanitäranlagen.
In der neuen Resolution des Menschenrechtsrats wird
auch die juristische Herleitung aus dem VN-Sozialpakt
klargestellt. Mir ist bewusst, dass es gerade bei diesem
Punkt keinen Konsens hier im Haus gibt. Die Grünen
fordern zum Beispiel ein eigenes Zusatzprotokoll. Für
uns ist das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
aber bereits ein Bestandteil des Menschenrechts auf ei-
nen angemessenen Lebensstandard. Jetzt muss es um die
politische Umsetzung gehen. Eine juristische Neukodifi-
zierung durch ein Zusatzprotokoll würde eine Schwä-
chung bedeuten und den ganzen Prozess quasi wieder
auf Null setzen. Man müsste von vorne anfangen. Da-
durch wird dem Menschenrecht auf Wasser nicht zu
mehr Anerkennung verholfen.
Es ist also unerlässlich, dass sich mehr und mehr Ent-
scheidungsträger weltweit für dieses Menschenrecht ein-
setzen und es Schritt für Schritt praktisch umsetzen.
Hierauf sollten wir unsere Kraft und Energie verwenden.
In diesem Punkt sind wir uns in den verschiedenen An-
trägen, die heute zur Debatte vorliegen, einig. Ziel muss
es sein, dass alle Menschen Schritt für Schritt diesen Zu-
gang bekommen. Die Situation ist in den jeweiligen
Ländern sehr unterschiedlich. Dies liegt sowohl am Be-
darf als auch an den klimatischen Verhältnissen. Auch
die Bedürfnisse der Menschen ändern sich. Je nach Auf-
enthaltsort und Kulturkreis wird es unterschiedliche
Wege geben, um das Ziel, diesen Zugang zu gewährleis-
ten, zu erreichen.
Die Bundesregierung hat dieses wichtige Thema vor
langer Zeit erkannt und sich entschlossen, einvernehm-
lich dafür zu kämpfen und für eine weitere Umsetzung
zu werben. So haben die Bundesminister Westerwelle
und Niebel dieses Thema gemeinsam angepackt, und wir
unterstützen die Expertinnen – sei es beim Deutschen In-
stitut für Menschenrechte, sei es bei der Hochkommissa-
rin für Menschenrechte in Genf. Wir unterstützen es
politisch, aber natürlich auch finanziell.
Wir unterstützen ausdrücklich, dass die bisherige
Unabhängige Expertin der UN, Frau Catarina de
Albuquerque, nun auch zu einer Sonderberichterstatterin
werden soll; das wird auf einer der nächsten Sitzungen in
New York entschieden. Denn dieses Mandat verleiht ihr
und dem Thema noch mehr Bedeutung.
Ich freue mich sehr, dass es die Aufklärungskampa-
gne „WASH United“ gibt. Diese war hier sehr aktiv, als
wir die Fußball-WM in Deutschland ausgerichtet haben.
Ich freue mich, dass alle Fraktionen bei dieser Kampa-
gne aktiv sind. Wir werden diese Aktionen natürlich
auch im Rahmen der Fußball-WM der Frauen hier in
Deutschland unterstützen. Diesen Weg werden wir ge-
meinsam gehen. Die politische Umsetzung Schritt für
Schritt in den jeweiligen Ländern – davon bzw. dafür
müssen wir andere überzeugen und gewinnen. Ich freue
mich, dass wir diesen Weg gemeinsam konsequent ge-
hen.
Nächster Redner ist der Kollege Ullrich Meßmer für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Vorrednerin hat es schon gesagt: Wasser istdie Quelle allen Lebens, gleichzeitig aber auch – und da-rauf sollte man immer wieder hinweisen – der größteKrankheitsüberträger auf der Welt. Schmutziges Wasserund mangelnde sanitäre Versorgung töten alle zwanzigSekunden ein Kind. Es sterben also mehr Kinder anschlechtem Wasser, an schlechter Sanitärversorgung alsan Malaria, Masern oder HIV.Die Unabhängige Expertin für Wasser und Sanitärver-sorgung der Vereinten Nationen, Catarina de Albuquerque,beschreibt daher die Entscheidung – diese haben Sieeben auch angesprochen –, das Recht auf Wasser und Sa-nitärversorgung als Menschenrecht anzuerkennen, nichtumsonst als bahnbrechende Entscheidung, die die Krafthat, das Leben von Millionen Menschen zu verändern,die noch immer keinen ausreichenden Zugang zu Wasserund sanitärer Versorgung haben.Erst der Status als Menschenrecht sichert für alleMenschen, also auch für jeden ganz persönlich, eine An-spruchsgrundlage gegen ihren jeweiligen Staat. Aberwas viel wichtiger ist: Die Staaten wiederum erhalten sodie unumstößliche Verpflichtung, das Menschenrechtauf Wasser und Sanitärversorgung zu schützen, zu erfül-len und vor allen Dingen auch die nichtstaatlichen Ak-
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Ullrich Meßmer
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teure zur Einhaltung dieses Menschenrechts zu ver-pflichten.Damit kommen wir zum Wesentlichen, nämlich zurschnellen Umsetzung dieses Themas. Es muss schnellgelingen, hier eine Wende herbeizuführen. Wenn Aussa-gen von „Brot für die Welt“ stimmen, wird sich die sani-täre Lage weiter, und zwar dramatisch, verschlechtern.Bevölkerungswachstum und Klimawandel tun einWeiteres dazu, dass der Druck auf die Ressource Wasserzunimmt. Immer häufiger gelangen unzureichend odernicht gereinigte Abwässer zu den Quellen des Trinkwas-sers. Dies löst einen Kreislauf aus, der Krankheiten undEpidemien verbreitet, und diesen Kreislauf gilt es drin-gend zu durchbrechen.Wir von der SPD wissen auch, dass es dies nicht kos-tenlos gibt. Die Deutsche Bank schätzt den jährlichenglobalen Investitionsbedarf im Wassersektor auf über500 Milliarden Euro. Das können Entwicklungs- undSchwellenländer alleine nicht heben. Dies führt dazu– und hier gibt es den einen oder anderen Unterschied;das werden wir gleich hören –, dass viele Länder dazuübergehen, ihre Wasserversorgung zu privatisieren. Obdas ein Königsweg ist, wage ich zu bezweifeln.Die Erfahrungen vieler NGOs, die sich in diesem Be-reich engagieren, zeigen, dass es nicht entscheidend ist,ob die Wasserversorger staatlich oder privat sind. Viel-mehr ist entscheidend, ob sie einer staatlichen Aufsichtunterliegen und effizient arbeiten. Die Erfahrungen zei-gen aber auch – um das nur einmal am Rande zu sagen –,dass die privaten Einrichtungen nicht immer effizientersind als staatlich organisierte.Es besteht auch die Gefahr – das ist einer der Gründe,weshalb wir diesem Thema kritisch gegenüberstehen –,dass menschenrechtliche Verpflichtungen hinter priva-tem Gewinnstreben zurückstehen würden. Wir als So-zialdemokraten lehnen die Privatisierung der Wasserver-sorgung allerdings nicht grundsätzlich ab.Wir definieren aber in unserem Antrag ziemlich genau,welche Verpflichtungen Private bei der Versorgung derBevölkerung erfüllen müssen. Wir wollen sicherstellen,dass die menschenrechtlichen Verpflichtungen tatsäch-lich eingehalten werden. Der Zugang zu sauberemTrinkwasser und sanitärer Versorgung muss – das ist un-abdingbar – diskriminierungsfrei gewährt werden. Ermuss für alle Bürger eines Landes bezahlbar und zu-gänglich sein; er muss für alle Gruppen, auch für kleineMinderheiten, jederzeit verfügbar sein.Die Ausgangslage – meine Vorrednerin, KolleginSchuster, hat darauf hingewiesen – ist zurzeit nichtschlecht: Der UN-Sozialpakt weist einen erfreulich hohenRatifizierungsstand auf. Der Prozess der Zeichnung undRatifizierung des Zusatzprotokolls über ein Individualbe-schwerdeverfahren ist mittlerweile gut vorangekommen.Hier würden wir uns wünschen, dass auch die Bundesre-gierung endlich diesen Schritt tut, um allen Menschendieses Individualrecht zu eröffnen, vor allen Dingen aber,um anderen Staaten ein gutes Beispiel zu geben.
Wir sehen die Frage eines weiteren Zusatzprotokollsähnlich wie meine Vorrednerin: Auch wir meinen, dass essinnvoller wäre, einen allgemeinen Kommentar zu ver-fassen, der die besten Beispiele für die Entwicklung desRechts auf Wasser und Sanitärversorgung sammelt, umdaraus möglichst konkrete Pflichten der Staaten abzulei-ten und diese möglichst genau zu definieren. Ein neuesVerfahren der Erstellung und Ratifizierung eines Zusatz-protokolls würde nach unserer Auffassung zu einer wei-teren Verzögerung führen. Deshalb sollte dies nichtvorangetrieben werden.Erst wenn befriedigende Lösungen in der Frage dersanitären Versorgung gefunden sind und der Teufelskreisvon verunreinigtem Wasser, Krankheiten und erneuterWasserbelastung durchschlagen wird, haben die Men-schen eine sichere Zukunft. Wir fordern von der Bundes-regierung, die Möglichkeiten als nichtständiges Mitgliedim UN-Sicherheitsrat zu nutzen und die begonnene Poli-tik, die übrigens schon von mehreren Regierungen ver-folgt worden ist – auch unter der spanischen EU-Rats-präsidentschaft –, fortzusetzen und zu verstärken, alsosicherzustellen, dass das Recht auf Wasser und sanitäreVersorgung durchgesetzt wird und sich viele Staaten an-schließen.Ich persönlich freue mich sehr darüber, dass wir unsin dem Ziel sehr einig sind. Vielleicht gelingt es uns, beiGelegenheit zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen;denn ich meine schon – Kollege Heinrich, Sie werden si-cherlich gleich darauf eingehen –, dass sich bei dieserFrage eine ganze Menge entwickelt hat. Vielleicht ge-lingt es uns, erst einmal gemeinsam das Ziel zu formu-lieren, die richtigen und schnellen Wege zu gehen. Dannwerden wir bei dieser Frage weltweit Erfolg haben;Deutschland kann hier ein gutes Beispiel abgeben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Frank Heinrich für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir reden hier von einer Problematik, die unsselber selten zum Problem geworden ist. Dafür könnenwir aus unserer Perspektive dankbar sein. Heute geht esum das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser. Wasser-knappheit und Unterversorgung mit sauberem Trinkwasserhaben verschiedene Ursachen. Eine Ursache ist: Der welt-weite Wasserverbrauch stieg in den letzten Jahrzehnten un-ter anderem wegen des Bevölkerungswachstums an. NachZahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung werdenwir in diesem Jahr die Weltbevölkerungszahl von 7 Mil-liarden übertreffen. Hinzu kommen Verstädterung undein hoher Lebensstandard; das schlägt auf unserer Seite
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Frank Heinrich
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zu Buche. Eine weitere Ursache ist: Der Klimawandelund geografische Ereignisse verursachen in verschiede-nen Regionen unserer Welt niedrige und sinkende Nie-derschlagsmengen.Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sa-nitärversorgung kann dem Spagat entgegenwirken, dersich daraus ergibt. Deshalb ist diese Debatte sehr gut.Herr Meßmer, ich gebe Ihnen recht, dass wir da eine sehrgroße Schnittmenge haben. Das macht mich hoffnungs-voll, dass wir tatsächlich an einer Stelle landen, an derwir bei diesem Thema wirklich etwas bewegen können.Ich will aber nicht sagen, dass wir nicht schon jetzt et-was bewegen können; ich werde gleich darauf zu spre-chen kommen.Das Wasser spielt – das habe ich bei vielen Auseinan-dersetzungen und Gesprächen immer wieder gehört –nicht nur buchstäblich eine lebenswichtige Rolle; hinzukommt, dass Wasser in vielen Kulturen, in den Religio-nen, in Ritualen eine hohe Bedeutung hat. Es ist einegroße Metapher im Christentum, und es gibt Waschun-gen im Judentum und im Islam. Es geht dabei im über-tragenen wie im direkten Sinne um ein Lebenselixier:das Wasser. Die Oase in den Bereichen unserer Welt, woes nur wenig Wasser gibt, ist nicht nur der Punkt, woman tatsächlich Wasser bekommt, sondern auch derPunkt, wo Begegnungen stattfinden; das ist weit mehrals Wasser.Ich möchte auf drei Punkte eingehen. Erstens: Wasserals Menschenrecht; das ist auch die Formulierung desheutigen Antrags. Zweitens: Wasser als ein Schwerpunktder deutschen Entwicklungszusammenarbeit; dazu möchteich ein paar Zahlen nennen. Drittens: Wasser und kon-krete Projekte und das, was möglicherweise auch wir– und zwar nicht nur wir als Abgeordnete, sondern auchwir als Bürger und Käufer – mit bewegen können.Erstens: Wasser als Menschenrecht. Frau Schuster hatangesprochen, dass wir im letzten Jahr in den VereintenNationen die allgemeine Erklärung aufgenommen haben,dass reines Wasser jetzt Menschenrecht genannt wird.1,1 Milliarden Menschen – 18 Prozent der Weltbevölke-rung – haben laut offizieller UN-Statistik keinen regelmä-ßigen Zugang zu sauberem Trinkwasser; das wären circa70 bis 80 von uns 600 Abgeordneten. 2,6 MilliardenMenschen – 42 Prozent der Weltbevölkerung – habenkeinen Zugang zu sanitärer Versorgung; das wären schon250 von uns.90 Prozent – ich glaube, Sie haben die Zahl eben schongenannt – aller tödlichen Durchfallerkrankungen sind aufverunreinigtes Trinkwasser, fehlende Sanitärversorgungbzw. mangelnde Hygiene zurückzuführen. Durch schmut-ziges Wasser sterben mehr Menschen – ich glaube, Sie ha-ben das gerade schon gesagt, Herr Meßmer – als an AIDS,Malaria und Masern zusammen. Laut Weltgesundheitsor-ganisation sterben täglich 5 000 Kinder daran; das ist un-gefähr alle zwanzig Sekunden eines. Es ist die zweithäu-figste Todesursache in dieser Altersgruppe.In Ländern mit Wasserknappheit hängt der Zugang zuWasser von verschiedensten Faktoren ab. Erstens: Ist esverfügbar? Ist irgendwo ein Brunnen oder ein Gewässer?Zweitens: Sind Investitionen aus privater oder öffentli-cher Hand vorhanden, damit das Wasser auch nutzbarwird? Drittens: Welche Belastungen kommen insbeson-dere auf Frauen zu, die in der Regel viel Zeit damit ver-bringen, zum Wasser zu gehen und es zu holen? Vier-tens: Welche Preise müssen die Haushalte bezahlen?Was muss dafür aufgebracht werden? Fünftens: Welcheverfügbaren Wasserquellen, die der Trinkwasserversor-gung dienen könnten, werden durch andere Nutzungs-zwecke blockiert?Ein erstes Fazit: Das Menschenrecht auf Wasser istein Instrument, mit dem Regierungen an ihre menschen-rechtliche Verantwortung erinnert und zur Rechenschaftgezogen werden können. Wir wollen Regierungen damitherausfordern, und das tun wir auch. Ich bin dankbar,dass unsere Regierung das immer wieder tut, dass auchbei knappen Ressourcen die Mittel prioritär für beson-ders benachteiligte Gruppen eingesetzt werden. DasRecht auf Wasser ist ein besonders für arme Gruppenwichtiges Instrument. Das internationale Recht stärktinsbesondere das Selbstbewusstsein derer, die in einemvielleicht nicht hinreichend funktionierenden Rechts-staat leben.Bei den verschiedenen Anträgen, die uns vorliegen,gibt es sehr viele Unterschiede, aber lange nicht so vieleUnterschiede wie Gemeinsamkeiten. Das haben Sie vor-hin richtig bestätigt. Es ist sehr gut, dass wir, grob gese-hen, schon in eine Richtung unterwegs sind, und zwarsowohl was den Inhalt der Anträge als auch was denAustausch in unseren Ausschüssen angeht.Das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trink-wasser leitet sich aus Art. 11 und 12 des UN-Sozialpaktssowie aus dem Allgemeinen Kommentar Nr. 15 des So-zialpaktausschusses ab. Daraus lässt sich auch das Men-schenrecht auf sanitäre Grundversorgung ableiten. Mitder Verabschiedung der genannten Resolution Mitte letz-ten Jahres wurde kein neues Menschrecht geschaffen.Vielmehr erkennt die Generalversammlung damit aus-drücklich an, dass ein Menschenrecht auf Zugang zusauberem Wasser und angemessenen sanitären Einrich-tungen bereits existiert.Zu dem Antrag von Ihnen, liebe Kollegen von derSPD, in dem gefordert wird, die UN-SonderbeauftragteCatarina de Albuquerque nachdrücklich zu unterstützen,ist Folgendes zu sagen: Die Bundesregierung betont ge-nau das. Auch in unserem Antrag gehen wir darauf ein.Im Rahmen der Berichterstattung hat sie deutlich ge-macht, dass ihr das besonders wichtig ist. Schon bei ihrerInstallierung, aber auch im Hinblick auf ihre möglicheWeiterbeschäftigung, zu der es hoffentlich kommenwird, wurde der entsprechende Wille gezeigt. Da sindwir uns einig.Zur Forderung Ihres Antrags hinsichtlich der Zeich-nung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls. Hier sindwir, wie Sie treffend gesagt haben, auf die laufendenRessortabstimmungen, die noch nicht abgeschlossensind, angewiesen. An dieser Stelle sollten wir deswegenkeinen besonders großen Druck machen. Hier ist keine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9783
Frank Heinrich
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Eile geboten. Ich hoffe, dass dabei ein gutes Ergebnisherauskommt.Weiterhin zu Ihrem Antrag. Dieses Thema wird mei-nes Erachtens – Sie wissen das; das habe ich auch inmeiner Stellungnahme im Ausschuss deutlich gemacht –unzulässigerweise mit dem Individualbeschwerdever-fahren verknüpft. Dadurch könnte es zu einer Instrumen-talisierung kommen, die ich Ihnen zwar nicht direkt un-terstellen will, die aber zumindest möglich ist, auchwenn die Zielrichtung natürlich absolut legitim ist undich sie mittragen kann.Zweiter Punkt. Das Thema Wasser ist ein Schwerpunktder deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Wenn manzurückschaut, kann man auch ein bisschen stolz daraufsein, was in und von unserem Land beim Thema Wasserschon geleistet wurde. Die GIZ sagt, dass heute 1,6 Mil-liarden mehr Menschen Zugang zu sauberem Trinkwas-ser haben als noch vor 20 Jahren. Damit sich diese posi-tive Entwicklung fortsetzt, engagiert sich die deutscheEntwicklungszusammenarbeit lokal, national und inter-national.Ich will die Unterschiede kurz benennen. Die deutscheEntwicklungszusammenarbeit engagiert sich lokal, damitFinanzierungen zur Unterstützung konkreter Projekte vorOrt möglich werden und damit die Bevölkerung mitTrinkwasser und Toiletten versorgt werden kann, sie en-gagiert sich national in beratenden Institutionen, um dieWasserpolitik in Partnerländern zu verbessern, und sieengagiert sich international – dieses Engagement kann inder Zukunft sogar noch stärker werden – bei der Klärungglobaler Fragen, die zum Beispiel durch den Klimawan-del ausgelöst wurden oder Handelsfragen betreffen.Schließlich sagen viele, es könnte auch zu Kriegen umsWasser kommen. Das ist nicht nur eine Zukunftsvision.Letztes Jahr wurde dieses Konfliktpotenzial zum Beispielin Nordkenia sehr deutlich, als sich Nomaden und Bauernhandfeste Auseinandersetzungen geliefert haben.Die deutschen Akteure engagieren sich schon seitJahrzehnten im Bereich der Trinkwasser- und Sanitär-versorgung. Heute gibt es auf diesem Gebiet allerdingsnoch mehr bedeutende Herausforderungen. Für denSchutz, die effektive Nutzung von Wasserressourcen unddie Abwasserreinigung müssen Versorger, private oderöffentliche, Behörden, aber auch die Bürger sensibili-siert werden. Wer sich, wie die Mitglieder unseres Aus-schusses, im Bereich der Entwicklungszusammenarbeitengagiert, der weiß, dass das vor Ort in den Köpfen derNutzer von Wasser in vielen Ländern noch lange nichtpräsent ist.Das BMZ ist im Wassersektor mit 350 MillionenEuro in 28 Schwerpunktländern engagiert. Damit istDeutschland der zweitgrößte bilaterale Geldgeber in die-sem Sektor, in diesem Fall nach Japan.Was die Millenniumsentwicklungsziele betrifft, mussich sagen: Auch wenn es beim siebten Ziel konkret umWasser geht, sind auch alle anderen Ziele direkt mit die-sem Thema verknüpft. Auch das Ziel der Senkung derKindersterblichkeit, das fünfte Ziel, die Senkung derMüttersterblichkeit, und die Förderung der Grundschul-bildung, all dies hat direkt mit dem Zugang zu gesun-dem, sauberem Wasser zu tun. Deshalb spielt es einewichtige Rolle, sich für die Einhaltung unserer Verspre-chen einzusetzen.Initiativen wie die vor kurzem vorgestellte Micha-Ini-tiative sollten unsere Unterstützung erfahren. Sie, FrauSchuster, haben die Initiative „WASH United“ erwähnt,die bei der Fußball-WM eine Rolle spielte und die, wieich glaube, auch bei der Cricket-WM in Pakistan einegroße Rolle spielen soll. Sie hat einen großen Unter-schied gemacht. Wenn man Menschen auf diese Initia-tive im letzten Jahr anspricht, dann ist dieses Thema aufeinmal präsent.Wichtig ist aber auch, was die Bürger und Bürgerin-nen tun können. Damit bin ich beim dritten Punkt: beikonkreten Projekten, bei denen wir als Abgeordnete,aber auch als Bürger und Käufer ins Spiel kommen. Esgeht darum, im Rahmen von Bürgerinitiativen Verlet-zungen des Rechts auf Wasser zu dokumentieren, sei es,wenn bei uns Wasser verschwendet wird, sei es, dassman auf Reisen darauf hinweist und die Untätigkeit vonRegierungen dokumentiert.Für uns Verbraucher bedeutet dies, dass wir mit derRessource Wasser verantwortungsvoll umgehen. Dabeiweiß ich natürlich, dass die Hauptverbraucher von Was-ser nicht die privaten Haushalte sind. Wir müssen aberauch als Käufer und Kunden bei unseren Einkäufen auf-merksam sein. In dem Zusammenhang möchte ich einStichwort nennen, das ich selbst in der Auseinanderset-zung mit diesem Thema gelernt habe, nämlich das Stich-wort „virtuelles Wasser“. In den letzten Jahren sind wirimmer wieder auf den Carbon Footprint, also den Koh-lenstofffußabdruck, hingewiesen worden. Dieser besagt,dass wir durch unser Nutzerverhalten, beispielsweise beiFlugreisen, einen Fußabdruck hinterlassen. Dadurchwird der negative Einfluss, den jeder von uns auf dieUmwelt hat, dokumentiert.Stichwort: virtuelles Wasser. Damit ist die unsicht-bare Wasserlast in Lebensmitteln und Industriegüterngemeint; der World Wildlife Fund hat das wie folgt defi-niert: Man versteht darunter die Menge an sauberemFrischwasser, die zur Herstellung eines bestimmten Pro-dukts verwendet wurde, das dafür verbraucht, verdunstetoder verschmutzt wurde.Hierzu möchte ich einige Beispiele nennen. Die für0,2 Liter Orangensaft aufgewendete Wasserlast beträgt170 Liter. Die Menge virtuellen Wassers, die für die Pro-duktion eines T-Shirts aufgewendet wird – denken Sienur an die Bewässerung der Baumwolle –, beträgt circa4 000 Liter, und bei einem einfachen Hamburger sind es2 400 Liter Wasser.Es lohnt sich also, auf sein Kaufverhalten zu achten.Es lohnt sich auch, regional einzukaufen. Langfristigsollte es unser zentrales Ziel sein, den sparsameren Um-gang mit Wasser zu erlernen und zu lehren. Das muss fürden alltäglichen Wassergebrauch und auch in Bezug aufden Import von Lebensmitteln gelten.
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9784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Frank Heinrich
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Ich persönlich habe einen starken Fokus auf dasThema Afrika; das kann auf verschiedene Initiativenübertragen werden. Vor kurzem hatten wir einen rundenTisch zum Thema Wasserknappheit, bei dem Botschafteraus den verschiedensten Ländern mit uns zusammensa-ßen. Viele afrikanische Länder sind diesbezüglich nochnicht untereinander vernetzt. Es wurde von einem sehrpositiven Beispiel berichtet, in dem Fall aus Marokko,wo innerhalb der letzten 15 Jahre durch Partizipation derBevölkerung der Zugang zum Trinkwasser von 13 Pro-zent auf 88 Prozent gesteigert wurde.Jetzt gilt es, solche Ergebnisse zu multiplizieren. Wirreden hier von einer Nord-Süd-Süd-Kooperation. Davonkönnen andere profitieren. Momentan beginnen wir da-mit auf unserer nördlichen Seite. In meinem Wahlkreisin Chemnitz haben wir einen runden Tisch ins Leben ge-rufen. Verschiedene Firmen kamen aufgrund dieser Ini-tiative auf uns zu und sagten: Wir verfügen über Know-how auf diesem Feld, sei es logistisch, sei es im Klima-bereich, sei es in der Verwaltung oder bei den unter-schiedlichsten Themen. Hier gilt es, eine Sensibilisie-rung zu erreichen, Ressourcen zu bündeln und mit demGegenüber ins Gespräch zu kommen. Das Know-how-Wachstum kann auf der einen Seite in den BereichenTechnik oder Wissenschaft möglicherweise Arbeits-plätze schaffen, auf der anderen Seite kann es, beispiels-weise in Afrika, Investitionen ermöglichen.Ich möchte zum Schluss kommen. Die Schnittmengeder Gemeinsamkeiten führt mich nicht nur dazu – diegroße Schnittmenge in den verschiedenen Anträgenmöchte ich bei 95 Prozent ansetzen –, zu sagen: Weiterso! Sie macht auch nicht nur dankbar und stolz, dass vonunserem Lande so viele Impulse ausgehen. Vielmehrmöchte ich auch sagen: Wir dürfen an dieser Stelle nichtHalt machen. Das ist auch der Grund für den Antrag un-serer Fraktion. Genug ist es letztlich erst dann, wenn je-der wirklich Zugang zu Trinkwasser hat. Genug ist eserst dann, wenn niemand mehr aufgrund mangelndenZugangs zu sauberem Wasser und sanitärer Versorgungsterben muss. Mögen Sie von der Regierung, mögen wirals Abgeordnete des Bundestages und als Bürger diesesLandes Vorbild sein für a) die Bewertung dieses Anlie-gens, b) die Kommunikation dieses Themas und c) dieNutzung dieses Lebenselixiers auf verantwortlicheWeise.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bald istwie jedes Jahr wieder Valentinstag. Abertausende Rosenwerden wieder an die Liebsten verschenkt werden. Ke-nia ist das Land, aus dem zwei Drittel der in Deutschlandjährlich verkauften Rosen herkommen. Gerade zurzeit,kurz vor dem Valentinstag, blühen dort die Rosen beson-ders intensiv, und auf den Blumenfarmen herrschtSchichtbetrieb.Was hat das mit dem heutigen Thema, dem Menschen-recht auf Wasser, zu tun? Viel, ganz viel; denn in Keniaherrscht das ganze Jahr über Wasserarmut. 40 Prozent derKenianer haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Diesmuss man wissen, und man muss auch wissen, dass5 Liter Wasser nötig sind, um eine einzige Rose zu pro-duzieren. Das ist eine Schande!
Sicherlich ist Kenia nur eines von vielen Beispielenfür die Verletzung des Menschenrechts auf Wasser, aberes ist besonders dramatisch, da genügend Wasserquellenvorhanden sind, um alle Kenianer mit sauberem Trink-wasser zu versorgen. Doch das Wasser wird an den Men-schen vorbei auf die Blumenfarmen umgeleitet oderdort, wo es noch vorhanden ist, durch die Abwässer ausden europäischen Blumenplantagen verunreinigt. Damithier also schöne Rosen verkauft werden können, wirddort den Menschen das Wasser weggenommen und ver-dreckt. Das sind unhaltbare Zustände.
Weltweit leiden heute 884 Millionen Menschen untermangelndem Zugang zu sicherem Trinkwasser. 2,6 Mil-liarden Menschen sind nicht mit grundlegenden Hygie-neeinrichtungen, wie einer Toilette, versorgt. Opfer vonWasserverunreinigungen sind vor allem Kinder unterfünf Jahren. Bei ihnen sind Durchfallerkrankungen welt-weit die zweithäufigste Todesursache. Diese Kinderwürden noch leben, hätten sie Zugang zu sauberem Was-ser und einer Sanitärversorgung.Doch während in Kenia mit dem sauberen Trinkwas-ser die Blumenfarmen bewässert werden, trinken dieKinder in den Slums aus Pfützen. Sie schöpfen Wasseraus Teichen, in denen sie sich auch waschen, aus denenTiere trinken und die mit Chemikalien verseucht sind.Wir wären wochenlang krank, würden wir nur einen ein-zigen Schluck von diesem Wasser trinken. In den Län-dern des Südens ist selbst dieses schmutzige Nass kost-bar. Für diese katastrophale Situation sind die Blumen-farmen und damit auch deutsche Unternehmen verant-wortlich. Sie müssen endlich zur Rechenschaft gezogenwerden.
Die Annahme der UN-Resolution im letzten Jahr, mitwelcher das Recht auf Wasser und Sanitärversorgungfestgeschrieben wird, ist ohne Frage zu begrüßen. Beidieser Resolution darf es angesichts der Zustände wie inKenia aber nicht bleiben. Wir brauchen die völkerrecht-liche Verbindlichkeit dieses Rechts, damit das Recht aufWasser so umgesetzt wird, dass es einklagbar und nichtnur ein Papiertiger, sondern eine reale Verbesserung ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9785
Niema Movassat
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Dazu muss Deutschland endlich das Zusatzprotokollzum UN-Sozialpakt ratifizieren, mit dem die Rechtezum Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Le-bensbereiche und damit auch das Recht auf Trinkwassereinklagbar gemacht werden.
Die Bundesregierung widersetzt sich der Ratifizierungaber. Daher ist der Koalitionsantrag leider nur ein Lip-penbekenntnis.Dabei ist diese Forderung gerade vor dem Hinter-grund des zunehmenden Handels mit Wasser besondersdringlich. Der Wassersektor ist ein gigantischer Markt,auf den immer mehr private Unternehmen drängen. Dasist eine Tatsache, die Sie, meine Damen und Herren vonder Koalition, aber auch von der SPD, in Ihren Anträgensogar unterstützen. Töchter großer internationaler Kon-zerne, wie zum Beispiel der deutschen RWE, haben be-reits die Wasserversorgung zahlreicher Städte in denEntwicklungsländern übernommen. Beim Kauf der Was-sernetze versprechen sie hohe Investitionen, die sie je-doch oft nicht tätigen. Stattdessen erhöhen sie die Was-serpreise um ein Vielfaches und erschweren so derarmen Bevölkerung den Zugang zu sauberem Wasser.Wasser ist ein grundlegendes Gut. Die Erfahrungenmit dem privatwirtschaftlichen Engagement im Wasser-sektor sind durchweg erschreckend. Daher muss einePrivatisierung der Wasserversorgung generell abgelehntwerden, und die bestehenden Verträge müssen zurückge-nommen werden;
denn Unternehmen wie Nestlé und Coca-Cola habensich mittlerweile die Nutzungsrechte an Trinkwasserres-sourcen gesichert und verkaufen Wasser in Flaschen biszu 40-mal teurer als Leitungswasser. Diese Privatisie-rungspolitik ist eine Katastrophe. Internationalen Kon-zernen und lokalen Eliten wird es dadurch ermöglicht,die Wasserversorgung zu Profitzwecken zu drosseln.Daher steht fest: Das Menschenrecht auf Wasser kannund wird nicht durch private Investoren durchgesetztwerden.
Die einzelnen Staaten und die internationale Gemein-schaft müssen gewährleisten, dass jeder Mensch mitWasser versorgt wird. Der Zugang zu Wasser muss des-halb auch in diesem Hause mehr Priorität erhalten. Nichtzuletzt deshalb werden wir dem Antrag der Grünen zu-stimmen.Die Erklärung des Rechts auf Wasser hat einen hohensymbolischen Wert. Die Anstrengungen zu einer weite-ren Verbesserung müssen jedoch noch verstärkt werden.Denn Wasser ist kein Privileg; es ist auch keine Ware. Esist ein Menschenrecht.Danke für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Tom Koenigs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Über das Menschenrecht auf Wasser im Allge-meinen besteht offensichtlich Konsens. Damit dies auchim Konkreten erreicht wird, muss es normiert werden.Deshalb ist mit der Resolution der UN-Generalver-sammlung und der Resolution des UN-Menschenrechts-rates vom vergangenen Jahr ein großer Fortschritt erzieltworden, der auch von Ihnen, Frau Schuster, HerrHeinrich und Herr Meßmer, angesprochen wurde.Einen Fortschritt sehe ich auch darin, dass zum erstenMal das Recht auf Sanitärversorgung explizit als Men-schenrecht anerkannt wird. Das hat die internationaleStaatengemeinschaft bisher noch nicht getan. Es reichtaber noch nicht aus, dieses Recht im Allgemeinen undan sich anzuerkennen; es fehlt noch die eindeutige Klä-rung, welche Inhalte dieses Recht umfasst und welchemenschenrechtlichen Pflichten sich hieraus für die ver-schiedenen Akteure ergeben.Genau diese Aufgabe erfüllt üblicherweise der Gene-ral Comment, der Allgemeine Kommentar, der vom UN-Sozialpakt-Ausschuss zu den einzelnen Rechten des So-zialpaktes erstellt wird, so auch zum Menschenrecht aufTrinkwasser. Das ist der Allgemeine Kommentar Nr. 15,der schon seit dem Jahr 2002 existiert. Dieser Kommen-tar hat wesentlich zur Konkretisierung des Menschen-rechts auf Wasser beigetragen und ist eine wichtigeOrientierungshilfe bei dessen Umsetzung, wie es zumBeispiel Herr Heinrich eben zu den verschiedenen Berei-chen geschildert hat.SPD und Grüne sind sich einig, dass ein AllgemeinerKommentar auch für das Menschenrecht auf Sanitärver-sorgung hilfreich wäre.
Der Antrag der Regierungsfraktionen ist zwar in allenPunkten richtig, aber dieser Punkt fehlt. Wir werden demAntrag der Regierungsfraktionen zwar zustimmen, ha-ben aber deshalb selber einen weiter gehenden Antragvorgelegt.Ich will noch einmal erklären, warum der AllgemeineKommentar zur Sanitärversorgung, zu dem zwischenSPD und Grünen Konsens besteht, sehr wichtig ist. Da-für gibt es fünf Gründe. Er ist erstens wichtig, damit dieStaaten ihre rechtlichen Pflichten kennen. Denn erstdann können sie diese in nationale Gesetzgebungen um-setzen. Zweitens, damit kontrolliert werden kann, obStaaten ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen ein-halten. Drittens, damit Einzelpersonen ihre Rechte imBereich der Sanitärversorgung kennen. Denn erst dannkönnen sie zum Beispiel ihr Recht auf erschwinglicheund menschenwürdige sanitäre Anlagen einklagen. Indiesem Zusammenhang spielt das erwähnte Zusatzproto-koll zum Sozialpakt eine wesentliche Rolle. Wir hoffen,dass die Bundesregierung nicht bis zum Sankt-Nimmer-
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9786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Tom Koenigs
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leins-Tag prüft und prüft, wie sie das bisher sehr langegemacht hat, sondern endlich entscheidet. Er ist viertenswichtig, damit ein diskriminierungsfreier Zugang zu sa-nitären Anlagen sichergestellt wird. Fünftens trägt erdazu bei, dass Sanitärversorgung in unmittelbarer Nähevon Haushalten, öffentlichen Institutionen und Schulenzur Verfügung steht und zum Beispiel Kinder nicht mehrweite Strecken zu sanitären Anlagen zurücklegen müs-sen und ihren Unterricht verpassen.All dem dient ein Allgemeiner Kommentar, der aller-dings nicht von heute auf morgen zustande kommt. Erwird vom UN-Sozialpakt-Ausschuss verfasst. Das ist einunabhängiges internationales Fachgremium, das aberbisher noch keinen offiziellen General Comment zur Sa-nitärversorgung, sondern nur ein Statement verfasst hat.Das Gremium ist unabhängig. Trotzdem kann dieBundesregierung etwas dazu beitragen, indem sie demSozialausschuss systematisch über die Umsetzung desRechtes berichtet. So kann der Ausschuss Beispiele vonBest Practices sammeln und daraus menschenrechtlichePflichten ableiten.Im letzten deutschen Staatenbericht von 2008 kamdas Recht auf Sanitärversorgung leider gar nicht vor.Außerdem: Deutschland kann im Rahmen des allge-meinen periodischen Überprüfungsverfahrens bei denBerichten der anderen Staaten zum Menschenrecht aufWasser und zur Sanitärversorgung immer wieder Nach-fragen stellen und dieses zur Diskussion stellen. Schließ-lich kann Deutschland das Thema Sanitärversorgung im-mer wieder auf die Tagesordnung des Menschenrechts-ausschusses setzen. Das alles dient zur weiteren Forma-lisierung des Rechts. Ich glaube, ohne einen allgemeinenKommentar als eine Art Gebrauchsanleitung für dasMenschenrecht auf Sanitärversorgung kommen wir beider Umsetzung dieses Rechts nicht voran. Deshalb bitteich Sie gerade dabei um Unterstützung.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschenrechtspolitik ist mehr als der Appell an
Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit. Menschen-
rechtspolitik kann sehr konkret werden. Der Einsatz für
Menschenrechte und auch für das Menschenrecht auf
sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung kann sehr
konkret werden. Ich möchte das am Ende dieser Debatte,
in der sich im Grundsatz alle Fraktionen dazu bekannt
haben, dass das Menschenrecht auf Trinkwasser und Sa-
nitärversorgung durchgesetzt werden muss, an einem
konkreten Beispiel deutlich machen.
Ich war gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen
der Oppositionsfraktionen zusammen mit dem Bundes-
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung, Dirk Niebel, in Südamerika. Nun ist Südame-
rika nicht unbedingt der Kontinent, den man als Erstes
mit Wassermangel in Verbindung bringt. Aber tatsäch-
lich ist es so, dass 20 Prozent der Peruanerinnen und Pe-
ruaner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
In den Städten, in denen es Wasserleitungen und eine
Wasserversorgung gibt, gehen bis zu 60 Prozent des sau-
beren Trinkwassers durch löchrige Leitungen verloren.
Wir haben uns gemeinsam mit dem Bundesminister dort
ein Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
angeschaut. Dort hat die Bundesregierung zwei Partner
zusammengebracht, einerseits einen Wasserversorger vor
Ort in Tarapoto, andererseits ein kleines, innovatives
deutsches Familienunternehmen, das Geräte herstellt,
die Lecks durch die geschlossene Straßendecke aufspü-
ren können; dann kann die Straßendecke aufgebrochen
werden, und die Lecks können repariert werden. Das ist
ein konkretes Beispiel deutscher Entwicklungszusam-
menarbeit, die Partner auf Augenhöhe zusammenbringt,
um ein Menschenrecht wie das Menschenrecht auf
Trinkwasser zu verwirklichen.
Binnen kurzer Zeit konnte tatsächlich der Wasserverlust
reduziert werden. 85 Lecks wurden bis heute schon ge-
funden, und der Wasserversorger konnte seine Einnah-
men stabilisieren, um weitere Investitionen in das Was-
serversorgungsnetz zu tätigen. Somit ist die Abwärts-
spirale gestoppt und eine Aufwärtsspirale in Gang ge-
setzt worden.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir als Menschen-
rechtspolitiker den Appell an Gesprächspartner in der
Welt richten. Es ist wichtig, dass wir Dialoge führen. Es
ist auch wichtig, dass wir unter Umständen zu men-
schenrechtspolitisch motivierten Sanktionen greifen. Es
ist aber auch wichtig, dass wir an solchen Beispielen ler-
nen, wie Menschenrechte tatsächlich konkret umgesetzt
werden. Das war ein kleines Beispiel, das zeigt, wie wir
zusätzliche Potenziale heben können, nämlich indem wir
die Neugierde und Innovationskraft kleiner Unterneh-
men aus Deutschland nutzbar machen, wenn wir sie mo-
tivieren, sich in der Welt zu engagieren.
Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichfreue mich, dass wir einige der wenigen Gelegenheitenhaben, im Bundestag einmal über Wasser zu reden; denndas ist ein Thema, das für viele in Deutschland selbstver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9787
Oliver Kaczmarek
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ständlich ist, weil es hier überall Wasser gibt, in höchsterQualität und zu bezahlbaren Preisen. Aber Wasser istnicht nur eine lebensnotwendige Ressource, sondernauch eine hochsensible. Ich möchte mich als letzter Red-ner in dieser Debatte bemühen, einen weiteren Aspekthinzuzufügen; denn die Ressource Wasser gerät weltweitunter großen Druck.Die Auswirkungen des Klimawandels belasten denWasserhaushalt und die Verfügbarkeit von Wasser zu-sätzlich. Wir haben anhaltende Trockenperioden undsaisonal schwankende Niederschläge, die sich auf dasSüßwasserdargebot erheblich auswirken werden. Ab-schmelzende Gletscher beeinflussen den Wasserstandder Flüsse. Allein in den Gletschern Zentralasiens lagertWasser, das Flüsse speist, die rund 2 Milliarden Men-schen und zahlreiche Ökosysteme versorgen. Durch dasAnsteigen des Meeresspiegels ergibt sich das Problem,dass ganze Landstriche unter Wasser gesetzt werden undSalz in Süßwasservorräte gerät.Diese klimatisch bedingten Zuspitzungen betreffenhäufig Länder, die ohnehin schon durch die demografi-sche Entwicklung und die fortschreitende Urbanisierungunter erhöhtem ökologischen Druck stehen. Wenn wiralso über das Menschenrecht auf Trinkwasser und sani-täre Versorgung sprechen, dann müssen wir auch überdie ökologischen Herausforderungen reden; denn Was-ser steht an der zentralen Stelle unserer Ökosysteme.Wir brauchen deshalb meiner Überzeugung nach einintegriertes Verständnis einer Politik für Wasser; denndas Menschenrecht auf Wasser ist eine entwicklungspo-litische und humanitäre, aber auch eine ökologische undumweltpolitische Herausforderung, der wir uns ganz-heitlich stellen müssen.Ich möchte drei Anmerkungen zu einer integriertenPolitik für das Recht auf Trinkwasser und sanitäre Ver-sorgung machen.Erstens – das zu sagen, ist fast banal –: Politik fürWasser kann man nur international machen. Oberflä-chengewässer und Grundwasserspeicher halten sichnicht an nationale Grenzen. Wasser kann nur einmal ver-teilt werden, und Wasser kann nicht eingezäunt werden.Das sehen wir nicht zuletzt bei den vermehrt auftreten-den Hochwasserereignissen und ihren Folgen, die wir inden letzten Jahren beobachten konnten. Deshalb ist eineinternational vereinbarte und zwischenstaatliche Politikunter dem Dach der Vereinten Nationen absolut notwen-dig. Ich sage das auch, weil Foren wie das Weltwasserfo-rum und andere hilfreiche Beiträge liefern, aber ebennicht an die Stelle der politischen Mechanismen der Ver-einten Nationen treten können.
Zweite Anmerkung. Wenn man international glaub-würdige Politik betreiben will, dann muss man das hal-ten, was man einmal zugesagt und versprochen hat. Ichhabe zu Anfang gesagt: Durch den Klimawandel kom-men zusätzliche Anforderungen an die Bereitstellungvon Trinkwasser und die sanitäre Versorgung auf ökolo-gisch ohnehin schon belastete Regionen zu. Gerade daszeigt – das, was Herr Heinrich gerade zu der zusätzli-chen Belastung ausgeführt hat, war sehr anerkennens-wert –, dass die Bundesregierung falsch handelt, wennsie ihre Zusagen aus dem Klimagipfel in Kopenhagennicht einhält. Zur Erinnerung: Dort hatte Deutschlandden Entwicklungsländern versprochen, von 2010 bis2012 pro Jahr zusätzlich 420 Millionen Euro, also insge-samt mehr als 1,2 Milliarden Euro, bereitzustellen, umAnpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen zu finanzie-ren. Doch bereitgestellt hat die schwarz-gelbe Koalitionlediglich 150 Millionen Euro, nicht pro Jahr, sonderninsgesamt. 150 Millionen Euro statt 1,2 Milliarden Euro,die zugesagt waren – das ist beschämend, meine Damenund Herren.
Schlimmer noch: Mit diesem Buchhaltertrick ist das in-ternationale Ansehen Deutschlands beschädigt worden;denn damit sind die Staaten getäuscht worden, die dieFolgen eines Klimawandels bewältigen müssen, dennicht sie, sondern die Industriestaaten wesentlich verur-sacht haben. Das ist kein Umgang zwischen Staaten, derin Ordnung ist.Dritte und letzte Anmerkung.Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern einererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entspre-chend behandelt werden muss.Das ist der erste Satz aus der Europäischen Wasserrah-menrichtlinie. Dieser Satz beschreibt für uns, dass Was-ser eben keine Ware ist und auch nicht so behandelt wer-den darf. Deshalb darf es aus unserer Sicht keineFixierung auf die Privatisierung der Wasserwirtschaftgeben. Stattdessen müssen wir dafür Sorge tragen, dasses einen staatlichen Rahmen gibt, der Verfügbarkeit, Zu-gänglichkeit, hohe Qualität von Wasser und akzeptableWasserpreise garantiert, und zwar egal, in welcherRechtsform die Wasserwirtschaft organisiert ist.Das Menschenrecht auf Trinkwasser und sanitäre Ver-sorgung darf keine reine Deklaration sein, gerade fürDeutschland nicht. Das ist ein politischer Auftrag; dennjeder Mensch bekommt damit das Recht auf Trinkwas-ser, egal wo er lebt. Ich sehe für uns an einigen Stellennoch Handlungsbedarf.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe aufDrucksache 17/4526. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahmedes Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufDrucksache 17/2332 mit dem Titel „Menschenrecht aufsauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen – Ver-sorgung weltweit verbessern“. Wer stimmt für diese Be-
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9788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Gibt es Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damitangenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim-men der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/3652 mit dem Titel„Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sa-nitärversorgung umsetzen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Wir sind unshier im Sitzungsvorstand über das Ergebnis der Abstim-mung nicht einig.
Das heißt, ich kann Ihnen ein bisschen Gymnastik nichtersparen und muss Sie um Geduld bitten. Wir werdenauszählen, um das Ergebnis deutlich feststellen zu kön-nen. Ich bitte Sie, dafür den Saal zu verlassen, bis ich Siewieder hereinbitte.Haben nun alle Kolleginnen und Kollegen den Saalverlassen? – Das ist der Fall. Sind an jeder der Eingangs-türen Schriftführer? – Das ist der Fall. Dann eröffne ichdie Abstimmung.Darf ich nachfragen, ob noch Kolleginnen und Kolle-gen vor der Tür stehen? –
Ich darf diese Kolleginnen und Kollegen bitten, in denPlenarsaal zu kommen.Sind alle Kolleginnen und Kollegen, die vor der Türstanden, nun im Saal? – Das ist der Fall. Dann schließeich die Abstimmung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwasAufmerksamkeit. Es gibt aufgrund der Mitteilungen derSchriftführer eine Unklarheit; denn auf zwei Zetteln sindJastimmen mit jeweils unterschiedlichem Ergebnis no-tiert. Ich bitte Sie deshalb um Verständnis, dass ich dieSchriftführer, die an den Türen standen, jetzt bitte, kurzzu mir zu kommen; denn ohne Rücksprache kann ich dasErgebnis nicht feststellen.Jetzt haben wir das aufgeklärt. Es hat sich herausge-stellt, dass einer der Schriftführer auf dem Zettel „Ja-stimmen“ vermerkt hat, obwohl es die Neinstimmen wa-ren. Das kann vorkommen.Ich gebe Ihnen nun das von den Schriftführerinnenund Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstim-mung bekannt: Für die Beschlussempfehlung haben223 Abgeordnete gestimmt, gegen die Beschlussemp-fehlung 138; es gab 40 Enthaltungen. Die Beschluss-empfehlung ist damit angenommen.Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit für eine weitere Ab-stimmung. – Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/1779 mit dem Titel „Die Anerkennung des Men-schenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversor-gung weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke so-wie bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, bitte ichdie Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte folgenwollen, Platz zu nehmen. Diejenigen, die anderes zu tunhaben, bitte ich, sich dieser Arbeit außerhalb des Plenar-saals zu widmen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenDr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEGesundheitliche Ungleichheit im europäischenJahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung– Drucksachen 17/2218, 17/4332 –Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbeStunde zu diskutieren. – Ich sehe, dass Sie damit einver-standen sind.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieKollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linkedas Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, IhreGespräche vor dem Plenarsaal zu führen. Das gebietetder Respekt vor den Rednern. Wir wollen uns auf dieDebatte konzentrieren. – Frau Kollegin, ich denke, dasses jetzt ruhig genug ist.
Danke, Frau Präsidentin. – Verehrte Kolleginnen undKollegen! Praxisgebühr und Zuzahlungen müssen weg,ohne Wenn und Aber. Das fordert die Linke.
Dieses Erfordernis belegt auch die Antwort der Bun-desregierung auf die Große Anfrage, die wir anlässlichdes Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armutund sozialer Ausgrenzung im Jahr 2010 an die Bundes-regierung stellten. Die Bundesregierung ist sich in etli-chen Antworten mit uns einig, beispielsweise darüber,dass Menschen mit niedrigem Einkommen kränker sindals Menschen mit hohem Einkommen. Sie schreibt, dassfür sozial Benachteiligte das Risiko, einen Herzinfarktzu erleiden, an Diabetes mellitus oder Lungenkrebs zuerkranken, bis zu zweieinhalbmal höher ist. Die Bundes-regierung ist sich mit uns einig, dass sozial benachtei-ligte Menschen stärkeren Gesundheitsbelastungen aus-gesetzt sind durch den Arbeitsplatz, durch die Umwelt,durch die Wohnbedingungen und vieles andere. Dies al-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9789
Dr. Martina Bunge
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les führt dazu, dass Menschen mit niedrigem Sozialsta-tus im Durchschnitt bis zu zehn Jahre früher sterben alsMenschen mit hohem Sozialstatus. Wenn Sie in Berlinbeispielsweise vom reichen Zehlendorf in das ärmereMarzahn fahren, können Sie das abzählen: Von S-Bahn-Station zu S-Bahn-Station sterben die Menschen imSchnitt ein Jahr früher.Die Bundesregierung weiß das alles; aber sie tutnichts dagegen. Suchen Sie beispielsweise einmal einZitat von Minister Rösler, in dem er diesen Missstandbenennt oder anprangert. Fehlanzeige! Ich habe ge-googelt. Der Minister verdankt es unserer Anfrage, dasser im Internet überhaupt im Zusammenhang mit sozialerUngerechtigkeit auftaucht. Das ist allerdings nicht sehrschmeichelhaft. „Rösler lässt Armut kalt“, heißt es dort.Soziale Ungleichheit führt zu ungleicher Gesundheit.Um das umfassend zu ändern, müssen wir die Lebensbe-dingungen der Menschen ändern. Das kann die Gesund-heitspolitik in der Tat nicht allein; aber sie kann ihrenTeil dazu beitragen.
Das Mindeste ist doch wohl, dass unser Gesundheitssys-tem das Problem, dass unterschiedliche Gesund-heitschancen bestehen, nicht noch verstärkt. Darin müss-ten wir doch übereinstimmen.
Dazu müssen alle Menschen den gleichen Zugangzum Gesundheitssystem haben. Das steht auch im jüngs-ten Bericht der Weltgesundheitsorganisation – ich darfzitieren –:Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen aufdie Gesundheit. Menschen im Moment der Inan-spruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davorab, Leistungen in Anspruch zu nehmen.Die WHO sagt, dass solche Zahlungen vor allen Dingenarme Menschen betreffen. Praxisgebühr und Zuzahlun-gen in Deutschland sind solche Zahlungen. Sie verstär-ken die Ungleichheit bei den Gesundheitschancen nochmehr. Das können wir doch wohl nicht wollen.
Praxisgebühr und Zuzahlungen sind allein von ge-setzlich Versicherten zu zahlen und nicht von Privatver-sicherten, wenn ich von den Beihilfeberechtigten einmalabsehe. Diejenigen, die zumeist sehr gut verdienen,brauchen also nichts zu zahlen. Das ist total ungerecht.
Praxisgebühr und Zuzahlungen wurden eingeführt, weilman die Anzahl angeblich unnötiger Arztbesuche verrin-gern wollte. Aber keine Studie kann diesen positiven Ef-fekt nachweisen. Im Gegenteil: Studien zeigen, dassarme Menschen notwendige Arztbesuche verschieben.Die Bundesregierung weiß das; aber es bleibt dabei.Schließlich kommen 5 Milliarden Euro rein – von denKranken allein.Was hat die Bundesregierung im Europäischen Jahrzur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzunggetan? Mit den Zusatzbeiträgen als Kopfpauschale durchdie Hintertür setzt sie bei der sozialen Ungerechtigkeitnoch eins drauf. Sie haben zutiefst versagt. Sie habennicht zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung gehan-delt. Deshalb fordern wir Sie heute auf, wenigstens einenkleinen Schritt zu unternehmen und die Praxisgebührund sämtliche Zuzahlungen sofort abzuschaffen. EineFinanzierungsmöglichkeit haben wir aufgezeigt: die Er-höhung der Beitragsbemessungsgrenze. Geben Sie sicheinen Ruck, und stimmen Sie zu!Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Stefanie Vogelsang
von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wenn man sich die Vorbemerkungen in dieser GroßenAnfrage der Linksfraktion anschaut und sich, FrauDr. Bunge, Ihre Rede anhört, dann könnte man meinen,wir diskutierten hier über das Gesundheitssystem einesEntwicklungslandes und nicht über das der Bundesrepu-blik Deutschland, nicht über das Gesundheitssystem, umdas uns die meisten Menschen dieser Welt beneiden.Wenn man sich dann etwas genauer mit Ihren Fragenbeschäftigt, werte Frau Kollegin, stellt man fest, dass Siefleißig waren: eine Große Anfrage, unterteilt in 209 Un-terfragen. Allerdings sagt die Quantität noch langenichts über die Qualität aus.
Ich habe mich etwas intensiver mit dem Inhalt Ihrer Fra-gen beschäftigt. Rund 140 Fragen sind Wissensabfragen.Nun könnte man die Hoffnung haben, dass Sie aus die-sem gewonnenen Wissen etwas Produktives für die ge-sundheitliche Versorgung der Bevölkerung entwickeln.Aber ich bin zugegebenermaßen skeptisch geblieben;denn über 60 Fragen dieser 209 Fragen
bedienen allein ideologische Positionen.
Ich war gespannt, was Sie mit diesem gewonnenen,für Sie neuen Wissen anfangen. Wird sich die Linke in-tensiv mit ihrem Erkenntnisgewinn auseinandersetzen?
Wird es hier und da einen an den Interessen der Men-schen und nicht an ihrer Ideologie ausgerichteten Vor-schlag geben? Gestern haben Sie dann die Katze aus
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9790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Stefanie Vogelsang
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dem Sack gelassen; gestern lag mir Ihr Entschließungs-antrag zu dieser Großen Anfrage vor. Ich hätte lachenkönnen, wenn es nicht so bitter gewesen wäre. Ihnengeht es wieder einmal nicht um eine ernsthafte Diskus-sion. Ihnen geht es wieder einmal nicht um das Wohl derMenschen.
Ihnen geht es wieder einmal nicht um die Zukunft unse-rer Gesundheitsversorgung. Ihnen, meine Damen undHerren von der Linken – ich werde Ihnen das gleich de-zidiert aufzeigen –, geht es wieder einmal nur um dieFortsetzung Ihrer Sozialneiddebatte und um billigen par-teipolitischen Klamauk.
Sie fordern zum hundertsten Mal die Abschaffung derPraxisgebühr und die völlige Koppelung der Gesund-heitskosten an den Faktor Arbeit.
Alle gesundheitlichen Belastungen der Menschen führenSie darauf zurück, dass es Menschen mit mehr und Men-schen mit weniger Einkommen gibt. Die Wurzel allenÜbels ist aus Ihrer Sicht, dass die Politik der Bundesre-publik Deutschland davon ausgeht, dass derjenige, derarbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbei-tet.
Letzten Freitag haben wir hier im Hause über IhreWege zum Kommunismus debattiert. Im Konsens allerDemokraten ist deutlich geworden, dass Sie mit diesemWeg hier alleine dastehen. In Ihren Fragen zur gesund-heitlichen Situation in Deutschland vermeiden Sie zwardas Wort Kommunismus; aber in jeder dritten Frage un-terstellen Sie den Weg der Gleichmacherei als den besse-ren.
In diesem Haus will außer Ihnen, meine Damen undHerren von den Linken, niemand zurück zu einem Sys-tem, in dem einige gleicher sind als andere und in dem esden normalen Bürgern gleich geht, und zwar allen gleichschlecht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das System derGleichmacherei jämmerlich und schändlich gescheitertist.
Frau Kollegin, es gibt zwei Bitten um eine Zwischen-
frage, und zwar von Frau Kollegin Vogler und von Frau
Dr. Bunge.
Ja, gerne.
Lassen Sie beide zu?
Aber selbstverständlich.
Frau Vogler, bitte.
Liebe Kollegin Vogelsang, stimmen Sie mit mir darin
überein, dass man soziale Ungleichheit nicht mit mehr
sozialer Ungleichheit bzw. mehr sozialer Ungerechtig-
keit bekämpfen kann? Ich verstehe Ihre Argumentation
insofern überhaupt nicht,
als Sie uns unterstellen, wir wollten alle gleichmachen.
In Wirklichkeit ist es diese Regierungskoalition, die für
alle den gleichen Krankenkassenbeitrag und die gleichen
Praxisgebühren erheben möchte, egal ob sie sich das
leisten können oder nicht.
Wenn wir feststellen müssen – das hat die Bundesre-
gierung getan –, dass das ärmste Zehntel der Bevölke-
rung durchschnittlich zehn Jahre eher stirbt als das
reichste Zehntel der Bevölkerung, muss dann nicht un-
sere Schlussfolgerung sein, dass es darum geht, soziale
Ungleichheiten bzw. soziale Ungerechtigkeiten zu be-
kämpfen, um für alle eine bessere Gesundheit zu erwir-
ken?
Es geht hier doch darum, die Auswirkungen dieser Si-
tuation so zu diskutieren, dass wir Wege finden, damit
sich auch die Ärmsten der Bevölkerung guter Gesund-
heit und einer möglichst langen Lebenszeit erfreuen kön-
nen.
Wenn ich jetzt das Wort zur Antwort auf Ihre Frage
habe, Frau Kollegin: Ich teile mit Ihnen die Überzeu-
gung, dass sich der Staat um Menschen, die aufgrund ih-
rer persönlichen Lebensumstände gesundheitliche Defi-
zite aufweisen, kümmern muss. Ich bin Bürgerin von
Berlin. Ich weiß ganz genau, was es bedeutet, in einer
Stadt zu leben, in der eine Gesundheitssenatorin von den
Linken seit zehn Jahren Verantwortung trägt. Im Laufe
meiner Rede werde ich darauf sehr dezidiert zurückkom-
men.
Nun Frau Dr. Bunge.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9791
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Frau Kollegin Vogelsang, Sie haben uns vorgeworfen,
in der Großen Anfrage eine übergroße Anzahl, ich nenne
es jetzt einmal so, ideologischer Fragen gestellt zu haben.
Sie meinten, wir wollten das hier nur ansprechen, um im
Zusammenhang mit Armut den Mindestlohn als nächste
Forderung zu bringen. Stimmen Sie mir zu bzw. was sa-
gen Sie dazu, dass sich die Hartz-IV-Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss als ein zähes Ringen gestalten,
um etwas Angemessenes zu finden? Haben wir tatsäch-
lich ein Riesenproblem, oder stellen alle Länder ledig-
lich ideologische Forderungen?
Wir diskutieren hier über die gesundheitliche Versor-gung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2010.
– Nein, Ihre Anfrage bezieht sich auf das EuropäischeJahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung sowie aufdie Auswirkungen auf die Gesundheit. Das war das Jahr2010, und in diesem Zusammenhang diskutieren wirheute Ihren Antrag.Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass sich dieje-nigen, die in den Ländern, und diejenigen, die im BundVerantwortung haben, einigen werden und dass wir mitden Hartz-IV-Reformen ein gutes Paket für die Men-schen in der Bundesrepublik schnüren werden.
Unser Gesundheitssystem, meine Damen und Herren,ist bei allen Problemen, um deren Lösung wir hierselbstverständlich miteinander ringen müssen, immernoch ein System, um das wir weltweit beneidet werden.Zu einer flächendeckenden gesundheitlichen Versorgungkombiniert mit weltweit führender medizinischer Spit-zentechnologie hat in Deutschland jeder – hören Sie gutzu – unabhängig vom sozialen Status jederzeit Zugang.
Im Ernstfall erhält bei uns jeder – egal ob er arm istoder reich, ob er jung ist oder alt, ob er stark ist oderschwach – die bestmögliche medizinische Versorgung.Niemand fragt hier: Lohnt sich das bei dem noch? Dasunterscheidet unser System von denen in vielen anderenLändern. Darauf können wir stolz sein, und wir müssendafür arbeiten, dass das auch so bleibt. Genau dafür stehtunsere Koalition, die christlich-liberale Koalition.
Von Ihnen kam kein einziges Wort zum rasanten me-dizinischen Fortschritt in Deutschland. Krankheiten, dieman vor 30 oder 40 Jahren noch nicht einmal feststellenkonnte, sind heute heilbar. Hier wird die soziale Fragenach Lebensqualität oder sogar nach zusätzlichen Lebens-jahren auch mit deutscher Spitzentechnologie beantwor-tet. Vieles von dem, was früher noch unvorstellbar war,ist heute möglich, und wir alle wissen: Diese Entwick-lung geht rasant weiter. Das ist gut für die Patienten. Dasist aber auch gut für die gesunden Menschen, die wissen,dass sie im Fall der Fälle anständig und bestmöglich ver-sorgt werden.Klar ist allerdings auch: Diesen Fortschritt gibt esnicht zum Nulltarif. Vielmehr verursacht er enorme Kos-ten.
Wir wissen, vor welch enorme Herausforderungen unsder demografische Wandel – auch darauf beziehen sichetliche Fragen von Ihnen – im Gesundheits- und Pflege-bereich in Zukunft stellen wird. Dass vor diesem Hinter-grund und dem Ziel, auch in Zukunft alle Menschen inDeutschland daran teilhaben zu lassen, die Gesundheits-kosten nicht sinken werden, wird inzwischen nicht ein-mal mehr von Ihnen bestritten.Wir alle wissen, welche Finanzierungslücken bei dergesetzlichen Krankenversicherung bestanden haben. Wirhaben das ganze letzte Jahr immer wieder an dieserStelle gekämpft. Wir haben beispielsweise das Reform-gesetz zur gesetzlichen Krankenversicherung und auchdas Arzneimittelneuordnungsgesetz verabschiedet. Da-mit haben wir einen weiteren Beitrag dazu geleistet, denKollaps in unserem System zu verhindern.In diesem Jahr werden wir weitere Probleme in denGriff bekommen, Lösungen gründlich erarbeiten unddann auf den Weg bringen: im Bereich der Versorgungs-sicherung, im Bereich der Pflege und vieles andere mehr.Frau Kollegin, natürlich wissen wir, dass gebildeteund informierte Menschen gesünder leben als ungebil-dete. Wir wissen, dass ärmere Menschen im Durch-schnitt kränker sind als die Mittelschicht. Wir wissenaber auch, dass wir mit unseren Präventionskampagnender Vergangenheit hauptsächlich die ohnehin schon Inte-ressierten erreicht haben, dass wir Menschen, die im un-teren Einkommensbereich liegen, schlechter oder garnicht erreichen; das betrifft auch viele Kinder mit Migra-tionshintergrund.
Selbstverständlich wissen wir, dass wir uns darum küm-mern müssen. Selbstverständlich wissen wir, dass es einAuftrag an die Regierungskoalition ist, in diesem Be-reich Abhilfe zu schaffen und Lösungen anzubieten.Solche Lösungen können aber nicht nur aus einemFlyer bestehen, den man herumschickt; denn es gibt tie-fergehende Ursachen für die Probleme. Deshalb habenwir jetzt mit der großen Initiative der Bundesregierungim Bereich der Versorgungsforschung einen riesigenSchritt gemacht. Wir wollen dem Problem in der Versor-gungsforschung näher kommen und das Dilemma lösen.
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9792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Stefanie Vogelsang
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Es ließen sich noch viele weitere Punkte aufzählen, nurreicht meine Redezeit dafür nicht aus.Es ist mir wichtig, auf einen anderen Punkt zu spre-chen zu kommen, und zwar auf die Verantwortung vonLändern und Kommunen. Im Antrag der Linksfraktionheißt es – ich zitiere –:Das Gesundheitssystem kann natürlich nicht alleFolgen sozialer Ungleichheit ausgleichen. Die Mini-malforderung muss aber lauten, dass die Unter-schiede durch das Gesundheitssystem nicht ver-stärkt werden.Frau Dr. Bunge, Sie haben vorhin die gleiche Passage zi-tiert.
Vor diesem Hintergrund ist es doch besonders interes-sant, sich einmal anzuschauen, ob Sie von der Links-partei hier in Berlin, wo Sie seit zehn Jahren Regierungs-verantwortung tragen, Ihre eigene Minimalforderungumgesetzt haben.Hier in Berlin wurden von Rot-Rot Zigmillionen Eurofür Gesundheitsprojekte gestrichen. Sowohl die Sozial-senatorin als auch die Gesundheitssenatorin werden seitzehn Jahren von Ihrer Partei, von den Linken, gestellt.Die Streichliste lässt sich beliebig fortsetzen: Sie habenSozialhilfe und Pflegeleistungen gekürzt. Sie haben dasBlindengeld gestrichen. Sogar bei der Beförderung be-hinderter Menschen haben Sie zugelangt und die Eigen-beteiligung der Betroffenen insgesamt um über 1 MillionEuro erhöht; damit haben Sie die Betroffenen an ihreWohnungen gefesselt. Sie haben Beratungsstellen fürSehbehinderte und Tuberkulosefürsorgestellen geschlos-sen. Sie haben die Streichung der zahnärztlichen Versor-gung für schwerstbehinderte Kinder betrieben. Sie habenBeratungsangebote für Sinnesbehinderte aufgehobenund die Gesundheitsförderung – koste es, was es wolle –gestrichen.Es ist ein echter Skandal, wie die Linkspartei mit denGesundheitseinrichtungen in den Berliner Bezirken, alsoin den Kommunen, umgeht. Die Aufgaben der dortigenGesundheitsämter reichen von Präventionsprojekten bishin zu Kinderschutzmaßnahmen, zum Infektionsschutzund zur Einschulungsuntersuchung. Rot-Rot hat alleinhier 550 Stellen gestrichen, mit dem Ergebnis, dass dieEinschulungsuntersuchungen in Berlin zum Teil erstdann stattfinden, wenn die Kinder schon längst einge-schult sind. Sie haben die Ausgaben für Kinder aus so-zial schwachen Familien reduziert, deren Eltern nichtmit ihnen zum Arzt gehen, die sich nicht um die zahn-medizinische Versorgung kümmern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rawert?
Ja, klar. Aber ich möchte einen letzten Satz zu dieser
Passage sagen. Dann bin ich mit diesem Teil fertig.
Ich finde, dass man bei dem, was Sie in Berlin in der
Gesundheitspolitik hingelegt haben – auch Frau Kolle-
gin Rawert kommt aus Berlin –, eine desaströse Bilanz
ziehen muss.
Frau Kollegin Rawert, bitte.
Frau Kollegin Vogelsang, Sie waren Bezirksstadträtin
für Gesundheit und Soziales in Berlin-Neukölln. Heißt
das, Sie haben eine desaströse Bilanz hingelegt?
Frau Rawert, ich danke Ihnen geradezu für diese Zwi-
schenfrage. Ich war ab 1995, als die Regierungsverant-
wortung in Berlin noch von anderen getragen wurde, Be-
zirksstadträtin für Gesundheit und Soziales. Nachdem
ich eine Zeit lang ausgeschieden war, wurde ich Bezirks-
stadträtin für Gesundheit. Sie wissen ganz genau, dass
ich über ein Jahr lang dafür kämpfen musste, dass der
SPD-geführte Senat, Ihre Regierung, überhaupt einen
einzigen Kinderarzt im öffentlichen Gesundheitsdienst
zugelassen hat.
Frau Vogelsang, Frau Kollegin Rawert möchte gerne
nachfragen.
War Ihre persönliche Bilanz also desaströs?
Nein, meine persönliche Bilanz war von großem En-gagement und inhaltlicher Auseinandersetzung mit denLeistungen des SPD-geführten Senats geprägt.
Interessant ist es auch, sich das in der letzten Woche vor-gestellte Monitoring „Soziale Stadtentwicklung 2010“anzuschauen. Die Zahlen belegen: Wo die LinksparteiRegierungsverantwortung trägt, werden die Menschenarm und krank.Unsere Hauptstadt, meine Damen und Herren, ist einetolle Hauptstadt. Sie entwickelt Strahlkraft, sodass Men-schen aus aller Welt sie besuchen. Aber die Menschen,die in Berlin leben, werden durch Ihre Politik ärmer undärmer. Wir hatten heute die Schlagzeile in der BerlinerMorgenpost, dass Berlin auch die Hauptstadt der Gering-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9793
Stefanie Vogelsang
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verdienerhaushalte ist. In Berlin leben über 600 000Menschen von Transferleistungen. Das ist auch das Er-gebnis Ihrer Politik.
Frau Kollegin Vogelsang, jetzt muss ich Sie noch ein-
mal unterbrechen, weil die Frau Kollegin Graf noch eine
Zwischenfrage stellen möchte.
Bitte schön. Aber danach bitte keine Fragen mehr. Ist
das okay?
Sie entscheiden.
Frau Kollegin Vogelsang, wenn Sie die segensreiche
Einrichtung „Soziale Stadt“ so loben und sagen, dass sie
so wichtig ist, können Sie mir dann erklären, warum die
jetzige Bundesregierung die Mittel für das Programm
„Soziale Stadt“ gekürzt hat?
Ich bin sehr froh, Frau Kollegin, dass der nächste Teil
meiner Rede nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Als Antwort möchte ich Ihnen gerne die Position der
Linksfraktion dazu nennen. Die Linke sagt nämlich, dass
durch die Maßnahme „Soziale Stadt“ in einzelnen Berei-
chen eine Aufwertung von Quartieren stattgefunden
hätte und dass es zu Gentrifizierung gekommen wäre.
Sie fragt, wie die Bundesregierung die Probleme der
Gentrifizierung in einzelnen Stadtteilen von großen Bal-
lungsräumen lösen will. Schließlich hätte der Bund diese
mit seinem Programm „Soziale Stadt“ verursacht.
Ich bin noch nicht allzu lange Mitglied des Deutschen
Bundestags. Seit etwas mehr als einem Jahr höre ich mir
hier Ihre Anträge und Ihre Ideologien immer wieder an.
Dort, wo Sie regieren und Verantwortung tragen,
herrscht aber organisierte Verantwortungslosigkeit.
Mit Blick auf Ihre Leistungen für die Berlinerinnen und
Berliner würde ich mich an Ihrer Stelle eher schämen als
lachen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Liebich das Wort.
– Herr Kollege Liebich, die Kurzintervention erfolgt
vom Platz aus.
Das ist das Problem, wenn man so lange im BerlinerAbgeordnetenhaus war. Das passiert mir immer wieder,weil die Kurzinterventionen dort vom Rednerpult aus er-folgen.Weil ich so lange im Berliner Abgeordnetenhaus war– 15 Jahre; davon 7 Jahre in der Regierung und davonwiederum lange Zeit als Fraktionsvorsitzender –, kenneich die Berliner Politik natürlich gut. Ich kenne auch dieArbeit von Frau Vogelsang. Ich kenne da bessere undschlechtere Beispiele – je nach politischer Bewertung.Ich will jetzt aber etwas zu den Gruselgeschichten sagen,die Sie hier über Berlin erzählen, nicht nur etwas zu Ih-nen.Erstens zum Programm „Soziale Stadt“. Die Links-partei und die SPD, die zusammen in Berlin regieren,halten die Kürzungen bei dem Programm „SozialeStadt“ für falsch und haben deshalb einen Antrag imBundesrat eingebracht, die Kürzungen zurückzunehmen.Dem hat der Bundesrat zugestimmt. Das heißt, der Bun-desrat ist auf der gleichen Seite wie das Land Berlin unddie Linkspartei. Sie folgen nur nicht den Vorschlägen,die der Bundesrat unterbreitet.
Zweitens. Bei Ihnen beginnt die Berliner Gruselge-schichte immer im Jahr 2002. Was Sie dabei ausblendenist der Grund, aus dem die Linkspartei – damals nochPDS – in Berlin in die Regierung gekommen ist. In einerStadt, die zu zwei Dritteln aus Westberlin besteht und inder früher Eberhard Diepgen unangefochten regiert hat,hat man ja nicht unbedingt erwartet, dass ausgerechnetdie PDS regiert.Da müssten Sie sich einmal selbst befragen. Es ist dieCDU gewesen, die zusammen mit der SPD in dieserStadt einen Schuldenberg von 50 Milliarden Euro ange-häuft hat. 50 Milliarden Euro!
Dann sind wir in die Regierung gekommen. Es stimmt,dass wir in dieser Stadt eine Menge Entscheidungen ge-troffen haben, die sehr schmerzhaft waren. Darüber gabes auch durchaus Auseinandersetzungen.Aber wissen Sie, was bei genau dem Haushalt passiertist, auf den Sie Bezug genommen haben, in dem wir dasBlindengeld übrigens nicht gestrichen haben, sonderndas sehr breit gefächerte Geld für Behinderte zwar in derBreite, aber – zugegeben – in der Höhe nicht ganz erhal-ten haben? In Berlin hatten wir nämlich, wie es in Berlinoft der Fall ist, von allem das Höchste: die höchsten Gel-
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Stefan Liebich
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der, die meisten Betroffenengruppen. Wir mussten dieseGelder reduzieren – eine schmerzhafte Entscheidung.Wir haben diesen Haushalt beschlossen. Was hat IhrePartei gemacht? Sie, die FDP und Bündnis 90/Die Grü-nen haben gegen diesen Haushalt geklagt und gesagt,wir hätten zu wenig gespart und wir sollten noch mehrsparen. Das war Ihre Position.
Weil Sie über Gesundheitspolitik gesprochen haben,noch ein Drittes. Als wir in Berlin an die Regierung ge-kommen sind, waren die Privatisierungspläne für dengroßen Berliner Krankenhauskonzern Vivantes fertig.Vivantes war von der Rechtsform her bereits umgewan-delt und stand kurz vor der Privatisierung. Finanziell warder Konzern natürlich am Boden. SPD und Linkspartei– damals hieß sie noch PDS – haben sich entschieden,den größten Krankenhauskonzern, den es deutschland-weit gibt, nicht zu privatisieren, sondern in öffentlicherHand zu behalten.
Das haben wir durchgesetzt. Das ist bis heute so. Heutesteht der Konzern gesund da. Deswegen: Wir machen inBerlin eine gute Gesundheitspolitik. Ihre Partei steht inaktuellen Umfragen in Berlin völlig zu Recht bei17 Prozent, –
Sie haben Ihre Redezeit ausgeschöpft, Herr Liebich.
– das bürgerliche Lager insgesamt bei 20 Prozent. Ich
halte Ihre Einlassung zur Berliner Politik für völlig ab-
wegig.
Wollen Sie antworten, Frau Kollegin?
Ja, sehr gerne, Frau Präsidentin.
Bitte sehr.
Herr Liebich, ich habe fast damit gerechnet, dass Sie
nach meiner Rede eine Kurzintervention machen. Aber
Sie haben jetzt schon wieder so viele Fehlinformationen
breitgetreten, dass ich überhaupt nicht weiß, auf welche
ich in der kurzen Zeit reagieren soll.
Der Unternehmenskonzern Vivantes, gebildet aus vie-
len städtischen Kliniken in Berlin, hat eine private
Rechtsform bekommen. Es gab weder zu den Zeiten des
Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen noch da-
nach die Absicht, dieses Krankenhaus zu verkaufen oder
sonstige Dinge damit zu machen.
Der Wohnungsverkauf und die Privatisierungspolitik
gehen von Ihrem Senat aus.
Ihr Senat hat Tausende von Wohnungen, auch in sozial
schwierigen Gebieten, auch in Gebieten, in denen Men-
schen wohnen, die arm sind, die einen schlechten Ge-
sundheitszustand haben und denen man helfen müsste,
an Hedgefonds verkauft.
Aber jetzt stellen Sie sich hier hin, klagen über Gentrifi-
zierung und beklagen sich noch dazu, dass Sie dafür Prü-
gel bezogen haben.
Der Unternehmenskonzern Vivantes feiert in den
nächsten Tagen seinen zehnten Geburtstag. Dass dieser
Unternehmenskonzern gesund ist, sagen Sie. Ich sage
aber genau das Gegenteil. Das Land Berlin, das, wie alle
anderen Bundesländer auch, die Verpflichtung hätte, sei-
nen landeseigenen Krankenhäusern Geld zur Verfügung
zu stellen, stellt die Investitionen hier fast auf null, so-
dass der Unternehmenskonzern Vivantes gezwungen ist,
sich auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
der Krankenschwestern und der Krankenpflegeschüle-
rinnen zu sanieren. Da die benötigten Investitionen vom
Senat nicht getätigt werden, muss der Konzern gegen-
steuern. Das geschieht auf Kosten des Personals und am
Ende auf Kosten der Qualität der Pflege und der Versor-
gung kranker Menschen.
Über das Gesundheitssystem und über die Gesund-
heitssituation in Berlin, lieber Herr Liebich, können wir
beide lange diskutieren. Aber bevor Sie gegen mich auch
nur einen einzigen Punkt machen würden, würde ich Ih-
nen eher eine Kiste Champagner ausgeben.
Das Wort hat nun die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es geht hier nicht um Champagner. Es geht hier um Ar-mut.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9795
Hilde Mattheis
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Wir alle hier im Hohen Hause sollten uns einig sein: Ar-mut ist in diesem reichen Land eine Schande. Da wettenwir nicht um Champagner.
Wir müssen feststellen, dass die sozial bedingte Un-gleichheit von Gesundheitsrisiken in unserem Land undin unserer Gesellschaft etwas ist, was uns wirklich be-schäftigen muss.
Wir wissen: Die Ungleichheiten nehmen zu.
Forschungen belegen: Die höhere Gefährdung untererStatusgruppen ergibt sich unter anderem aus deren gerin-ger Teilhabe an Präventionsmaßnahmen, aus schlechte-rer Sanierung von kranken Zähnen, aus weniger häufi-gen Besuchen beim Facharzt und aus aufgrund vonKostengründen vermiedenen Arztbesuchen. Wir haben– übrigens unter Rot-Grün – im Jahre 1999 in § 20 SGB Verstmals festgeschrieben, dass sozial bedingte ungleicheGesundheitschancen benannt werden und den Kranken-kassen der Auftrag erteilt wird, durch ihre Leistungendazu beizutragen, solche Ungleichheiten zu vermindern.
Das war ein guter Schritt. Uns als Sozialdemokratengeht dieser Schritt aber noch nicht weit genug. Zur Be-kämpfung gesundheitlicher Ungleichheit braucht es ausunserer Sicht Weichenstellungen in den unterschied-lichsten Bereichen. Das ist wichtig, und darüber sind wiruns hoffentlich einig – vielleicht Sie nicht. Der ersteSchritt ist eine Bürgerversicherung zur Bekämpfung ei-ner Zweiklassenmedizin und zur Vermeidung einer Drei-klassenmedizin.
Wir wollen eine Garantie für die öffentliche Infra-struktur, die wohnortnahe, niedrigschwellige Gesund-heitsversorgung und die Gesundheitsprävention. Wirwollen den Zugang zu einer barrierefreien Bildung undBetreuung für alle, auch zur Stärkung der Kompetenzenund zum verantwortlichen Umgang mit der eigenen Ge-sundheit. Wir wollen eine Gesundheitswirtschaft, die at-traktive Beschäftigungsverhältnisse anbietet, und zwarsozialversicherungspflichtige und von einem Mindest-lohn geprägte Beschäftigungsverhältnisse. Wir wollennatürlich auch Maßnahmen zur Überwindung der mate-riellen Armut und der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen ge-gen Ausgrenzung verschiedenster Personen- bzw. Be-völkerungsgruppen aufgrund von Alter, Geschlecht undBildungsstand, aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, derMuttersprache oder aufgrund des sozialen Status. Dasdarf es in unserem Land nicht geben.
Jeder braucht den gleichen Zugang zu bezahlbarerBildung und zu bezahlbarer Gesundheit. Denn wir wis-sen: Armut, Bildung und Gesundheit lassen sich wiePerlen auf eine Schnur ziehen und gehören damit zusam-men. Wenn ich das eine Übel bekämpfe, muss ich diebeiden anderen Aspekte ebenfalls berücksichtigen.Welchen Beitrag leistet nun Ihre Große Anfrage undder Entschließungsantrag, um diesen Weichenstellungennäherzukommen? Die Große Anfrage – da muss ich et-was Wasser in Ihren Wein gießen – ist eine Fleißarbeit,bei der meines Erachtens am Ende jeglicher Zusammen-hang mit den grundlegenden Strukturen der Ausgestal-tung des Sozialstaates und des Gesundheitssystems ver-loren gegangen ist. Wer sich mit der Großen Anfrageund mit der Antwort der Bundesregierung auf diese An-frage näher beschäftigen will, versinkt in einem Meeraus insgesamt 209 Fragen. Wir haben alle Fragen gele-sen. Sie sind zum Teil mit einer Vielzahl von Spiegel-strichen versehen und wurden entsprechend beantwortet.Das Thema der Anfrage verschwimmt im Ozean derDifferenzierungen und Details. Sowohl die Vorbemer-kung zu den Fragestellungen als auch die Antwort derBundesregierung hinterlässt mehr Ratlosigkeit, als dasssie die erwünschte Aufklärung schafft. Die vielfältigen,ausufernden Aspekte, die in der Anfrage aufgelistet sind,schrumpfen dann im Entschließungsantrag auf nur nochzwei Forderungen zusammen.
Das, muss ich sagen, ist mir etwas zu dünn. Dadurchmisslingt im Entschließungsantrag eine logische Ablei-tung der Großen Anfrage. Es gelingt kein umfassenderProblemaufriss.Unter Schwarz-Gelb wird die gesundheitliche Un-gleichheit weiter zunehmen.
Die Politik der Bundesregierung wird mit ihren Ideenvon Kopfpauschale und Vorkasse eine Dreiklassenmedi-zin etablieren. Immer größeren Bevölkerungsgruppenwird der Zugang zur medizinischen Versorgung und dieTeilhabe am medizinischen Fortschritt verwehrt werden.Die Antworten der Bundesregierung auf diese GroßeAnfrage sind wie gewöhnlich verteidigungspragmati-sche Mischungen: teils verschleiernd, teils beschöni-gend. Die meist benutzte Antwort lautet: „Darüber lie-gen keine Angaben vor.“
Was die Bundesregierung auf die Worte für Taten fol-gen lässt, belegt folgende Antwort – ich zitiere –:Es gilt, die Chancen von Kindern aus niedrigen so-zialen Schichten umfassend zu stärken. Die ver-stärkte Integration dieser Kinder in vorschulische
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9796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Hilde Mattheis
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Angebote und ihre individuelle Förderung imSchulsystem und im Freizeitbereich sind Heraus-forderungen, denen sich die Bundesregierung be-reits stellt. Mit dem im Entwurf des Gesetzes zurErmittlung von Regelbedarfen und zur Änderungdes Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz-buch angekündigten Bildungspaket für hilfebedürf-tige Kinder wird dazu ebenfalls ein Beitrag geleis-tet.Wer auch nur ein bisschen Zeitung liest und mitbe-kommt, was im Vermittlungsausschuss zu dem passiert,was das Bundesverfassungsgericht der Regierung aufge-tragen hat, der muss schon sagen: Dort wird ein Miss-brauch von Worten betrieben. Das hat nichts damit zutun, die Herausforderungen, die Sie selber formulieren,anzunehmen. Ich muss sagen: Das ist mehr als peinlich.Abschließend möchte ich gerne betonen, dass wir dieGrundbotschaft, die in der Großen Anfrage enthalten ist,teilen. Gesundheitsrisiken und Krankheiten sind nichtrein zufällig über die gesamte Gesellschaft verteilt, son-dern verlaufen entlang der Grenzen sozialer Gruppierun-gen. Die Verhinderung von Krankheiten ist nicht nur ab-hängig vom medizinischen Bereich, sondern wird imWesentlichen auch durch die Lebenssituationen und Le-benslagen beeinflusst, in denen die Menschen lernen, ar-beiten, leben. Die wichtigsten Einflussfaktoren auf dieGesundheit finden sich außerhalb der traditionellen Ge-sundheitssysteme und werden von der Wirtschaftspoli-tik, der Arbeitsmarktpolitik, der Finanzpolitik, der So-zialpolitik, der Regionalpolitik und allen anderenPolitiken beeinflusst und geprägt.Deshalb: Dass Sie diesen breiten Ansatz von209 Fragen auf zwei Forderungen „zusammenkneten“,lässt sogar Wohlmeinende zu der Beurteilung kommen,dass die Große Anfrage eher eine Praktikumsarbeit istund die Fraktion mit gleichlautendem Entschließungsan-trag nur Routineaussagen von sich gibt.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Deshalb möchte ich wenigstens etwas versöhnlich
schließen.
Auf die Frage 4 der Linken zu den Thesen von
Wilkinson nimmt die Bundesregierung nicht Stellung.
Wilkinson und Pricket haben in ihrer Untersuchung mit
Datenmaterial aus vielen Ländern nachgewiesen, wie
wachsende Ungleichheit schadet. Die Eindeutigkeit die-
ses Befundes ist beeindruckend.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Sie sagen und belegen: In
ungerechten Gesellschaften ist die Selbstmordrate höher,
ist die Depressionsrate höher, ist die Kriminalitätsrate
höher usw. Egal wie reich die Gesellschaft insgesamt ist:
Frau Kollegin, die Ankündigung, dass Sie zum
Schluss kommen, reicht nicht.
Durch Ungleichheit werden Ungerechtigkeit, unge-
rechte Lebensverhältnisse und weit auseinanderliegende
Lebenssituationen produziert.
Frau Kollegin, ich bitte Sie wirklich, jetzt zum
Schluss zu kommen.
Deshalb sage ich zum Schluss: Machen Sie die Ge-
sellschaft gerechter. Das ist kostengünstiger, hilft allen
und macht die Gesellschaft gesünder.
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die Große Anfrage der Linken zumThema „Gesundheitliche Ungleichheit im europäischenJahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ gibt uns dieMöglichkeit, über die Faktoren zu sprechen, die Einflussauf unsere Gesundheit haben. Auf der einen Seite sinddie genetischen Faktoren zu nennen und auf der anderenSeite das Gesundheitsverhalten jedes einzelnen Men-schen. Letzteres ist auch abhängig von der Bildung undder Stellung in der Arbeitswelt.
Auf den ersten Punkt, die genetischen Faktoren, hatder Mensch nur sehr geringe Einflussmöglichkeiten. Ichmöchte der Diskussion in diesem Hohen Hause nichtvorgreifen. Wir werden uns noch mit der Präimplanta-tionsdiagnostik auseinandersetzen. Das wird eine Mög-lichkeit sein, diesen Faktor mit zu beeinflussen.
Für den zweiten Punkt, das Gesundheitsverhalten, dasvon Bildung und Arbeit abhängig ist, tut die Bundesre-gierung, tut unsere Koalition sehr viel.
Im Bildungsbereich werden wir 12 Milliarden Euro aus-geben. 12 Milliarden Euro sollen in die Hochschulen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9797
Jens Ackermann
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investiert werden. Im Bildungsbereich wird es keineKürzungen geben. In allen anderen Etats müssen wireinsparen. Die Weltwirtschaftskrise zwingt uns dazu.Aber im Bildungsbereich wird es nicht dazu kommen.Auch im Zuge der Hartz-IV-Reformen wird ein Bil-dungspaket auf den Weg gebracht werden, das besondersden Kindern zugutekommt.Auch was die Arbeitsplätze anbetrifft – ein Arbeits-platz ist wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen –,bin ich froh, dass sich die Arbeitsmarktzahlen sehr gutgestalten. Nur noch 3,5 Millionen Menschen sind ohneJob. Diese Zahl kann sich sehen lassen. Das ist der nied-rigste Stand der Arbeitslosenzahlen seit langer Zeit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gerne.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
Ackermann, ich habe eine Nachfrage. Wir reden heute
über Armut und Gesundheit. Können Sie uns bitte noch
einmal auseinandersetzen, wie Sie mit der PID das Pro-
blem Armut angehen wollen? Das ging so schnell und
kam sehr lasch daher. Haben Sie eine besondere Vorstel-
lung davon, wie Sie das machen wollen?
Sehr gerne, Herr Kollege Terpe. Ich gehe auf die Fra-
gen der Fraktion Die Linke und auf die Antworten der
Bundesregierung auf die Fragen ein. Die Fragen waren,
was unsere Gesundheit beeinflusst und wo es zu Un-
gleichheiten in der Gesundheit kommt. Dabei muss man
auch über die Faktoren sprechen, die die Gesundheit der
Menschen beeinflussen.
Diese Faktoren – das geht auch aus der Antwort der
Bundesregierung hervor – sind zweierlei. Der erste
Faktor – dafür kann der Mensch nichts – sind die geneti-
schen Bedingungen. Der andere Faktor, der zu gesund-
heitlicher Ungleichheit führt, ist das Gesundheitsverhal-
ten jedes einzelnen Menschen. Ich wollte auf den ersten
Faktor, weshalb es zu Krankheiten kommen kann, nur
sehr bedingt eingehen, weil wir die Diskussion darüber
in diesem Hohen Hause noch führen werden.
Die genetischen Faktoren, die in uns angelegt sind
und zu Erkrankungen führen können, kann der Mensch
nur sehr bedingt beeinflussen. Wann eine Erbkrankheit
auftritt oder nicht, kann man durch Früherkennungs-
untersuchungen herausfinden. Auch die Präimplanta-
tionsdiagnostik – –
Der Kollege Ackermann hat jetzt das Wort.
Ich wollte der Diskussion nicht vorgreifen, Herr Kol-
lege Terpe. Ich wollte nur auf Ihre Frage antworten.
Stichwort Arbeitsplätze: Ob jemand einen Job hat, ist
wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen. Deshalb
bin ich froh, dass wir eine gute wirtschaftliche Entwick-
lung und niedrige Arbeitslosenzahlen haben. Wir lassen
auch diejenigen nicht im Stich, die noch ohne Arbeit
sind.
Die Fragen der Linksfraktion, die suggerieren, dass
wir die Arbeitslosen im Stich lassen, sind falsch und
nicht hinnehmbar.
Der Staat unterstützt jeden erwerbsfähigen Hilfebedürf-
tigen und auch denjenigen, der in einer Bedarfsgemein-
schaft mit ihm zusammenlebt.
Ich möchte das kurz aufzählen. Er unterstützt den
Menschen bei der Ernährung, bei der Kleidung, bei der
Körperpflege, beim Hausrat, bei Energie, bei der Hei-
zung, er ermöglicht ihm Teilhabe am sozialen und kultu-
rellen Leben, und er fördert die berufliche Eingliede-
rung. Unser Ziel ist es, die Teilhabe dieser Menschen zu
verbessern und sie aus der Abhängigkeit von staatlicher
Fürsorge herauszuholen. Summa summarum: Unser
Staat hat die Schwachen im Blick. Er gibt Hilfe und Un-
terstützung in großem Umfang. Wir sind an einem Punkt
angelangt, wo wir auch diejenigen nicht aus dem Blick
verlieren dürfen, die das alles erwirtschaften. Das gehört
zur Gerechtigkeit dazu.
Zum Gesundheitswesen im Speziellen: Wenn wir von
guten Gesundheitschancen für alle Menschen sprechen,
müssen wir die Finanzierung und die Vorsorge im Auge
haben. Wir haben die Herausforderung des demografi-
schen Wandels und die Herausforderung des medizi-
nisch-technischen Fortschritts zu bewältigen. Schwarz-
Gelb hat mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial
ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Kranken-
versicherung einen Beitrag dazu geleistet. Was die Vor-
sorge betrifft: Jeder Einzelne ist jetzt gefordert, durch
sportliche Aktivitäten und durch gesunde Ernährung zu
seiner Gesunderhaltung beizutragen. In einigen Berei-
chen ist noch Motivation und Aufklärung wichtig und
nötig, und ich bin froh, dass das Gesundheitsministerium
im ganz konkreten Fall mit den Betrieben vor Ort Prä-
vention und Aufklärung betreibt.
Wenn man über soziale Ungleichheit oder Unter-
schiede im Gesundheitswesen spricht, muss man auch
ansprechen, dass es einen unterschiedlichen Zugang zu
medizinischer Versorgung gibt.
Kollege Ackermann, gestatten Sie eine Zwischen-frage des Kollegen Wunderlich?
Metadaten/Kopzeile:
9798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(C)
(B)
Aber bitte.
Ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass ich
dabeibleibe, dass wir maximal zwei Fragen in jedem Re-
debeitrag zulassen, damit wir die Debattenzeit nicht ver-
doppeln.
Jetzt haben Sie es provoziert, Herr Ackermann. Sie
sprachen vom BMG, vom Bundesministerium für Ge-
sundheit, das Angaben gemacht hat, und es fiel das
Stichwort Prävention. Gestern gab es eine öffentliche
Anhörung der Kinderkommission über Prävention und
gesundes Aufwachsen von Kindern, bei der gerade die
Bezüge zur sozialen Struktur in den Familien hergestellt
wurden. Dort waren etliche Sachverständige. Wir hatten
tollerweise auch ein Schreiben unseres Bundesgesund-
heitsministers, des Herrn Rösler, in dem er zu dem frak-
tionsübergreifenden Antrag von 2002, in dem Präventiv-
maßnahmen im Bereich der Pädiatrie gefordert wurden,
sagte: Es ist nichts weiter erforderlich als das, was bis
jetzt gelaufen ist. Gerade auch im Hinblick auf den de-
mografischen Wandel und die sinkenden Kinderzahlen
müssen wir im Bereich der Pädiatrie und Prävention
nichts machen. – Alle Sachverständigen haben gesagt,
das ist definitiv falsch. Einer hat sich nach der Sitzung
sogar bereit erklärt, das Wörtchen „Lüge“ zu verwenden.
Da frage ich mich natürlich: Wie können Sie sich hin-
stellen und solche Aussagen über das Gesundheitsminis-
terium machen? Was hat man von solchen Aussagen zu
halten? Ist es ähnlich wie beim Verteidigungsministe-
rium? Wird hier das Parlament wieder falsch informiert?
Jedenfalls was die Prävention und das gesunde Auf-
wachsen von Kindern betrifft, haben dieser Gesundheits-
minister und dieses Gesundheitsministerium nach der
gestrigen Anhörung nach meiner vollen Überzeugung
und der der übrigen Mitglieder der Kinderkommission
– davon muss ich ausgehen – versagt.
Herr Kollege Wunderlich, Ihre Frage macht unsereunterschiedliche Weltanschauung deutlich.
Gerade auch im Zusammenhang mit der Prävention beiKindern ist es meine Auffassung, dass man die Verant-wortung der Eltern nicht außen vor lassen kann. Mankann nicht erlernen, wie die gesunde Lebensweise einesKindes aussieht, indem man es in staatliche Hände gibt.Die Eltern haben auch eine Fürsorgepflicht für ihre Kin-der. Sie müssen ihnen Vorbild sein. Sie müssen ihnen inden Kindergarten und in die Schule ein gutes Pausenbrotmitgeben.
Ich möchte nicht, dass das vom Staat übernommen wird.Jede Familie hat ihre Fürsorgepflicht.Die Maßnahmen, die das Ministerium im Bereich derPrävention ergreift und die ich angesprochen habe, sindmotivierende und sehr zielgenaue Maßnahmen. Diesewerden auch mit den Betrieben vor Ort ergriffen, weilnatürlich auch die Arbeitgeber ein Interesse daran haben,dass sich die Arbeitnehmer gesund erhalten, damit derBetrieb weiterläuft. Es handelt sich um motivierendeund informative Maßnahmen, wie sich der einzelneMensch gesund ernähren und wie er mit Sport seine ei-gene Lebensweise so gestalten kann, dass er gesundbleibt.
Der Unterschied ist, dass wir das dem Individuum über-lassen wollen. Sie wollen es dem Kollektiv überlassen.Das sind die Unterschiede zwischen uns beiden.
Unterschiede bestehen in der medizinischen Versor-gung – dies habe ich gesagt – zwischen Stadt und Land.Dieses Problem wollen wir angehen. Wir wollen ein Ver-sorgungsgesetz auf den Weg bringen, das Ärzte- undFachkräftemangel auch in ländlichen Regionen be-kämpft.In den Vorbemerkungen der Großen Anfrage der Lin-ken stehen einige Dinge, über die ich nur den Kopfschütteln kann. Dort ist zu lesen, dass sich seit fast ei-nem halben Jahrhundert auf dem Gebiet der gesundheit-lichen Ungleichheit nichts verbessert habe. Das istschlicht falsch. Das Robert-Koch-Institut hat veröffent-licht, dass sich die Lebenserwartung verbessert hat. Somusste ein ostdeutscher Mann 1990 noch 3,2 Jahre frü-her sterben als ein westdeutscher, und eine ostdeutscheFrau ist 1990 2,3 Jahre früher gestorben als eine west-deutsche. Das hat sich verbessert. Ich bin dankbar dafür,dass sich auf diesem Gebiet etwas getan hat.
Die Hauptursache für die gesundheitliche Ungleich-heit, für die unterschiedliche Entwicklung in den Ein-kommen, in den Lebensbedingungen und in der Umwelt– hier ist Berlin angesprochen worden – ist ja wohl dieBerliner Mauer. Ihre Politik der Unfreiheit führte zu Un-terschieden, die Sie heute beklagen.
Insofern, meine Damen und Herren von den Linken,stellen Sie Fragen zu Problemen, die wir ohne Sie garnicht hätten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9799
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(B)
Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsi-
dentin! Diese halbe Stunde war eigentlich eine ver-
schenkte halbe Stunde, weil man darüber hätte reden
können: Was tun wir alle gemeinsam hier im Saal gegen
Armut und gegen den engen Zusammenhang zwischen
Armut und Gesundheitschancen? Wie gehen wie vor?
Was machen wir in der Prävention? Geben wir den
Kommunen ausreichend Mittel, um in den Kitas, in den
Schulen und in den Altenheimen präventiv tätig zu wer-
den? Wie schaffen wir es, eine vernünftige betriebliche
Gesundheitsförderung hinzubekommen? Wie schaffen
wir es, Arbeitslose zu erreichen, die heute von präventi-
ven Maßnahmen so gut wie gar nicht erreicht werden?
Das sind Fragen, denen wir uns hätten stellen können.
Wir hätten uns weiterhin die Frage stellen können:
Was machen wir eigentlich mit den Ursachen von Armut
insgesamt? In den nächsten Wochen haben Sie einen we-
sentlichen Schlüssel für die Bekämpfung von Armut in
der Hand, und zwar bei den Verhandlungen über den Re-
gelsatz und bei den Verhandlungen über einen Mindest-
lohn sowie eine ausreichende Bildungsausstattung in den
Kommunen. Das sind die eigentlichen Fragen.
Was haben wir hier erlebt? Ich weiß gar nicht, was die
Leute oben auf den Rängen denken. Ist überhaupt über
Armut und Gesundheit geredet worden? Ich habe gehört,
dass es um eine Sozialneiddebatte, um eine Kommunis-
musdebatte geht. Insgesamt hatten wir eine Debatte über
Berliner Verhältnisse. Aber eigentlich geht es doch da-
rum, die Notwendigkeiten zu erkennen, die uns mittler-
weile seit Jahrzehnten durch verschiedenste Gesund-
heitsberichte, durch Gutachten immer wieder deutlich
vor Augen geführt werden und bei denen wir bislang zu
keinen vernünftigen Lösungen gekommen sind. Das ist
die Wahrheit, mit der wir uns als Fachpolitik endlich ein-
mal hätten auseinandersetzen müssen. Diese Chance
wurde wieder einmal massiv vertan.
Und warum? Weil Sie sich vonseiten der Regierungs-
koalition letztendlich nicht darüber einig sind, mit wel-
chen Verfahren und welchen Mitteln Sie Prävention vo-
ranbringen wollen. Es stellt sich die Frage, ob Sie sich
überhaupt eingestehen wollen, dass es bei der Gesund-
heit so etwas wie eine soziale Benachteiligung gibt, oder
ob es nicht mehr darum geht, dass jeder eigenverant-
wortlich sein Leben gestalten muss. Das sind die Fragen,
die Sie bewegen.
Die anderen wiederum haben eine weitere Chance
vertan. Natürlich müssen wir über die Praxisgebühr re-
den. Natürlich müssen wir über Zuzahlungen reden.
Aber dafür haben Sie einen Antrag laufen. Dafür ist
noch eine Anhörung im Spiel. Warum inszenieren Sie
hier eine Entscheidung, durch die die fachliche Aus-
einandersetzung vorweggenommen wird? Ich kann das
nicht nachvollziehen.
Jetzt kommen wir zum eigentlichen Punkt. Was wer-
den Sie im nächsten halben Jahr tun? Wie werden Sie die
Prävention voranbringen? Bisher habe ich noch nichts
außer lauen Worten über Vorhaben gehört. Sie sagen,
dass Sie das, was da ist, auf den Prüfstand stellen und
schauen, was Sie daraus machen.
Was wir eigentlich brauchen, ist eine wirkliche Präven-
tionsoffensive gemeinsam mit Bund, Ländern, Kommu-
nen, mit den Betrieben, mit den Krankenkassen, ein
Konzept, aus dem hervorgeht, wie Sie die Zusammenar-
beit der verschiedenen Ebenen zustande bringen wollen.
Außerdem müssen Sie mit uns eine Auseinandersetzung
darüber führen, ob es ein Präventionsgesetz braucht. Wir
sind jederzeit bereit, uns anzuhören, welche Vorschläge
Sie an den Tag legen, um das Ganze wirklich voranzu-
bringen. Wir glauben, ohne ein Präventionsgesetz wer-
den wir das nicht schaffen.
Ich bin gespannt, was Sie uns in den nächsten Wo-
chen und Monaten vorlegen. Herr Singhammer, Sie sind
der Einzige, der bislang vorangegangen ist und immer-
hin eingestanden hat, dass es so etwas wie eine gesund-
heitliche Unterversorgung von sozial Benachteiligten
gibt. Ich hoffe, dass Sie in den beiden Regierungsfraktio-
nen als Trendsetter und Meinungsbildner wirken kön-
nen.
Wir werden die Meinungsbildung jedenfalls massiv un-
terstützen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/4556. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-schließungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols,
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9800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Vizepräsidentin Petra Pau
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weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten MiriamGruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPProgramme zur Bekämpfung von politischemExtremismus weiterentwickeln und stärken– Drucksache 17/4432 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten SönkeRix, Daniela Kolbe , Petra Crone, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDemokratieoffensive gegen Menschenfeind-lichkeit – Zivilgesellschaftliche Arbeit gegenRechtsextremismus nachhaltig unterstützen– Drucksache 17/3867 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussSportausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Dorothee Bär für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selbstverständ-lich begrüßen wir es als Abgeordnete des DeutschenBundestages, wenn sich Menschen politisch engagieren,und zwar völlig unabhängig davon, ob sie sich in Initiati-ven oder Parteien engagieren, ob sie in der Mitte der Ge-sellschaft stehen bzw. rechts oder links von der Mitte.Das gilt natürlich nur dann, wenn diese Initiativen, dieseParteien auf dem Boden unserer freiheitlich-demokrati-schen Grundordnung stehen, sprich: dem demokratischlegitimierten Spektrum angehören. Für uns macht esnämlich schon einen großen Unterschied – den Unter-schied zum SPD-Antrag werde ich herausarbeiten –, objemand politisch rechts oder links steht. Für uns ist das,offensichtlich anders als für die Kolleginnen und Kolle-gen der SPD, nicht das Gleiche. Etwas vollkommen an-deres ist es natürlich, politisch rechts- oder linksextre-mistisch zu sein.Wir sind in unserem demokratischen VerfassungsstaatDemokraten genug, um Links- und Rechtsextremistenabzulehnen. Diese sind nicht bereit, ihre politischen Auf-fassungen im demokratischen Ringen mit Andersden-kenden auszutauschen. Auch wir wissen – auch das er-kennt die christlich-liberale Koalition an –, dass dieseArt der Auseinandersetzung immer mehr zunimmt. Dasbelegt natürlich auch die wachsende Zahl politisch moti-vierter Gewalttaten. Wir sind aufgerufen, uns dieses Pro-blems anzunehmen. Darüber hinaus werden wir dasGanze mit den Programmen, die wir schon ins Leben ge-rufen haben, fortführen.
Deswegen haben wir einen Antrag vorgelegt, und wirhaben für die Bekämpfung von politischem Extremis-mus sehr viel Geld in die Hand genommen. Im Haushaltunseres Familienministeriums sind insgesamt 29 Mil-lionen Euro für Präventionsprogramme zur Verfügunggestellt. Es gelingt natürlich nicht allein mit einer Maß-nahme, den Extremismus zu bekämpfen, weil wir einZusammenspiel verschiedener Maßnahmen brauchen.Ich möchte das an drei Punkten festmachen. Punkt eins:Jugend- und Präventionsarbeit. Punkt zwei: Förderungdes gesellschaftlichen Zusammenhalts. Punkt drei: Diekonsequente Verfolgung politisch motivierter Straftaten.Wir haben das bereits in unserem Koalitionsvertrag fest-gehalten.Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP habenwir die Entwicklung und Stärkung von Toleranz und De-mokratieverständnis als unser zentrales Ziel der Kinder-und Jugendpolitik festgeschrieben. Wir wollen Unter-stützungsprogramme etablieren. Die sollen kontinuier-lich evaluiert werden und besonders Kinder und Jugend-liche in ihrem Engagement für Vielfalt, Toleranz undDemokratie, Menschenwürde und Gewaltfreiheit moti-vieren – und damit natürlich auch stark gemacht werden.Wir beziehen das Ganze nicht nur auf Rechtsextre-mismus und Linksextremismus, sondern wir beziehen esnatürlich auch auf religiös motivierten islamistischenExtremismus. Die Bilanz der Ende 2010 ausgelaufenenProgramme unseres Ministeriums „Vielfalt tut gut. Ju-gend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ und „kom-petent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegenRechtsextremismus“ kann sich wirklich sehen lassen. Inden letzten drei Jahren – von 2007 an – haben wir über90 lokale Aktionspläne mit fast 5 000 Einzelprojektenunterstützt. Damit haben wir weit über 2 Millionen Men-schen erreicht.
Wir haben uns jetzt aber entschlossen, diese Pro-gramme unter dem Dach „Toleranz fördern – Kompe-tenz stärken“ zu einem Programm zusammenzuführen.Für dieses Programm haben wir in den Haushalt 201124 Millionen Euro eingestellt.
Die bisherigen Aktivitäten zur Extremismuspräventiondes Familienministeriums haben wir aber auf die Berei-che Linksextremismus und islamistischer Extremismusausgeweitet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9801
Dorothee Bär
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Diese Neuausrichtung und Bereitstellung von zusätzlich5 Millionen Euro begrüßen wir als CDU/CSU und FDPausdrücklich.
Ich komme jetzt zu den großen Unterschieden. DieseKoalition ist eben nicht auf einem politischen Augeblind.
Wir sehen, dass der Demokratie Gefahr von vielen Sei-ten droht. Wenn ich mir den Antrag der Kolleginnen undKollegen der SPD anschaue, sehe ich, dass er sich alleinder Bekämpfung des Rechtsextremismus widmet undunser Vorgehen diskreditiert.
Dazu muss man ganz einfach sagen: Sie haben es nichtkapiert.
Der Antrag der SPD ist unsäglich. Die Linke hat hier denBegriff des Kommunismus wieder neu in die Debatte ge-bracht. Wir wollen eben, dass unser demokratischer Ver-fassungsstaat durch Demokraten geschützt wird. Extre-mismus kann nicht mit Extremisten bekämpft werden.
Aber leider Gottes sind auch einige da, die eher unterdieses Spektrum fallen.
– Ja, ich weiß, dass die sich bei Ihrer Strategie freuen.Wir aber bestärken die Bundesregierung mit unseremAntrag, bei ihrer Strategie zu bleiben und konsequentdafür Sorge zu tragen, dass sowohl die Träger von Maß-nahmen als auch die Partner finanziell unterstützt wer-den.Ich wundere mich schon: Wir werden nächste Si-zungswoche wieder an derselben Stelle zu demselbenThema sprechen, weil die Grünen und auch die SPD, so-weit ich weiß, nächste Woche Anträge vorlegen werden,
etwa „Demokratieinitiative nicht verdächtigen, sondernfördern – Bestätigungserklärung im Bundesprogramm‚Toleranz fördern – Kompetenz stärken‘ streichen“,
weil sie der Meinung sind, man müsse sich nicht zu un-serem Grundgesetz bekennen.
Das ist natürlich wirklich unsäglich. Wir werden dasnächste Woche erneut diskutieren. Niemand hat Geldvom Steuerzahler verdient, wenn er sagt, dass er nichtauf dem Boden des Grundgesetzes steht, und wenn ersich nicht zu unserer freiheitlich-demokratischen Grund-ordnung bekennt.
Sie haben es einfach nicht verstanden, wenn Sie sagen:Da werden Leute unter Generalverdacht gestellt. – Wennunsere Minister hier ihren Eid schwören und auch sagen,dass sie ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkeswidmen werden, dass sie das Grundgesetz und die Ge-setze des Bundes wahren wollen, dann wird auch keinersagen: Warum sollen die das in Zukunft denn machen?
Deswegen muss man ganz ehrlich feststellen, dass sie imIdealfall am Schluss sagen: So wahr mir Gott helfe. Unddeswegen – –
Tut mir leid, Sie müssen zum Schluss kommen, da Sie
leider die Redezeitverlängerung mit Unterstützung des
Kollegen Beck nicht mehr in Anspruch nehmen können.
Sie sind schon über die Zeit.
Der macht dann bestimmt eine Kurzintervention,
dann werde ich ihm antworten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Genau. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der
Kollege Beck.
Nur eine kurze Frage: Wenn Sie es für notwendig er-achten, dass sich jeder, der Geld von Staat nimmt, zumGrundgesetz bekennen muss, verlangen Sie das dannauch von den Zuwendungsempfängern des Bundes derVertriebenen und seiner Mitgliedsverbände? Dort gab esin der Vergangenheit nämlich die einen oder anderenAusrutscher. Das wäre dann nur konsequent.
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9802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
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Frau Bär, Sie haben das Wort.
Ich hätte nicht gedacht, dass wir schon Fasching ha-
ben. Diese Frage muss gar nicht beantwortet werden,
weil die Antwort darauf eine Selbstverständlichkeit ist.
Es ist eine Frechheit, so etwas überhaupt infrage zu stel-
len.
Das Wort hat der Kollege Rix für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fahrten nach Auschwitz, Zeitzeugengespräche mit
Schülerinnen und Schülern, Podiumsdiskussionen, Aus-
stellungen über Verfolgte im Dritten Reich, Konzerte
und Festivals gegen Rechtsextremismus, Vorträge, De-
mokratiecamps usw., all das sind Aktionen und Projekte,
die aus der Zivilgesellschaft heraus von Bürgerinnen und
Bürgern zum Schutz der Demokratie und zur Förderung
von Toleranz ins Leben gerufen werden. Kirchen, Ge-
werkschaften, Vereine, Verbände, Gruppeninitiativen
und Kommunen beteiligen sich an solchen Aktionen.
Wir, der Bundestag, und natürlich auch die Bundesregie-
rung stellen dafür im Haushalt des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mittel zur Ver-
fügung. Den Menschen ist es wichtig, dass sie für ihr
Engagement Anerkennung bekommen und gewürdigt
werden. Deshalb an dieser Stelle ein Dankeschön an all
diejenigen in der Zivilgesellschaft, die solche Aktionen
durchführen.
Wir sollten diesen Menschen nicht nur am heutigen
Tag, an dem wir der Opfer des Naziregimes gedenken, in
dieser Debatte oder in unseren Sonntagsreden danken.
Unser Dank sollte sich auch anhand unserer politischen
Tätigkeiten bemerkbar machen. Die Verantwortung, die
wir aufgrund der Geschichte tragen – der Bundestags-
präsident hat das heute deutlich gemacht –, tragen wir
als Bund und als Bundestag natürlich auch. Deshalb ha-
ben wir unter Rot-Grün, unter der Großen Koalition und
auch unter Schwarz-Gelb Mittel für Demokratie und To-
leranz im Bundeshaushalt für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend bereitgestellt. Ich muss Ihnen sagen: Wir
waren positiv überrascht, dass Schwarz-Gelb zumindest
an der Summe nicht viel verändert hat und diese Gelder
auch weiterhin bereitstehen. Ich bin froh, dass wir in die-
sem Hause einen Konsens haben.
Über die Jahre haben sich aber die Programme und
die Ansprüche, die man an die Zivilgesellschaft hat, ver-
ändert. Deshalb werden wir die Programme Jahr für Jahr
neu gestalten. Es ist wichtig, dass wir das gemeinsam
mit der Zivilgesellschaft tun. Das ist bei der Ausarbei-
tung der neuen Programme leider nicht genügend getan
worden. Das kritisieren wir hier an dieser Stelle.
Im Laufe der Jahre ist auch klar geworden, wie sehr
wir Kontinuität brauchen. Das haben wir bereits 2008,
als wir uns um das Thema Antisemitismus gekümmert
haben, festgestellt. Wir brauchen Kontinuität in der För-
derung. Das gilt auch für Projekte gegen Rechtsextre-
mismus. Das ist eine dauerhafte Aufgabe. Deshalb soll-
ten wir uns gemeinsam daranmachen, dies in eine
dauerhafte Finanzierung zu überführen, und den an den
Projekten Beteiligten nicht jedes Jahr Angst machen.
Das bedeutet natürlich auch, dass wir Projekte för-
dern. Wir dürfen ihnen nicht unterstellen, im Gegensatz
zu anderen Institutionen, denen wir Geld geben, nicht
auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Denn den-
jenigen, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen
und Projekte starten, das zu unterstellen, ist infam.
Einen letzten Satz noch: Wir diskutieren im Hinblick
auf die sogenannten Extremismusprogramme immer
wieder über die Unterschiede zwischen Links- und
Rechtsextremismus. Uns liegt jetzt ein Antrag der So-
zialdemokraten vor, der sich mit dem Thema Rechts-
extremismus, aber eben nicht mit dem Thema Links-
extremismus beschäftigt. Einen solchen Antrag können
wir gerne jederzeit auch vorlegen.
Dies aber miteinander zu vermischen und zu sagen:
„Es sind quasi die gleichen Dinge, die wir mit den glei-
chen Mitteln bekämpfen können“, das geht auf keinen
Fall.
Rechtsextremismus ist eine menschenverachtende
Ideologie. Um dagegenzuhalten, brauchen wir einen
breiten zivilgesellschaftlichen Konsens. Wir brauchen
auch einen breiten Konsens in diesem Hause im Hin-
blick auf effektive Strukturen zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus.
Danke schön.
Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir beraten heute unter anderem über einen An-trag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP,der es Ihnen und uns als demokratische Fraktionen die-ses Hauses ermöglicht, einem ganzheitlichen Ansatz im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9803
Florian Bernschneider
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Kampf gegen Extremismus in diesem Land zuzustim-men. Wenn ich „ganzheitlich“ sage, dann meine ich da-mit zunächst einmal, dass dieser Antrag die erste Initia-tive innerhalb der aktuellen Diskussion ist, mit derressortübergreifend versucht wird, die bestehenden Pro-gramme im Familien- und Innenministerium sowie imArbeits- und Sozialministerium bestmöglich aufeinanderabzustimmen
und Verbesserungspotenzial aufzuzeigen, um Reibungs-verluste oder Doppelungen zu vermeiden und so diebestmögliche Aufstellung gegen Extremismus zu errei-chen. Allein das zeigt, wie ernst wir dieses Thema neh-men.
Wenn ich „ganzheitlich“ sage, meine ich aber auch,dass wir uns allen Gefahren für unsere Demokratie ent-gegenstellen müssen. Es ist nicht einmal eine Woche her,dass das Plenum des Deutschen Bundestages über dieÄußerungen der Parteivorsitzenden der Linken diskutierthat, die nach neuen Wegen zum Kommunismus sucht.Wir alle – SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP – waren unseinig, dass diese neuen Wege zum Kommunismus amEnde immer zu Gewalt, Unterdrückung und weg von alldem führen werden, was uns als Demokraten am Herzenliegt.
Ich habe mich über die Einigkeit, die wir an dieser Stelleerreichen konnten, gefreut. Deswegen bitte ich Sie, liebeKolleginnen und Kollegen von Grünen und SPD: ZeigenSie heute Mut und Verantwortung, indem Sie sagen, dassdas Handeln der Koalition, nämlich gegen die Gefahrendes Linksextremismus, aber eben auch des religiösenExtremismus im Rahmen der Präventionsarbeit anzuge-hen, genau der richtige Weg ist.
Dass die Linke dem nicht zustimmen kann, kann ich gutverstehen. Wenn es uns nämlich tatsächlich gelingt,junge Menschen für Demokratie, Toleranz und Vielfaltzu begeistern, dann sind sie eben weniger empfänglichfür die unbefleckte Utopie, die Ihre Parteivorsitzende zuverkaufen versucht.Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ver-lieren Sie sich doch in dieser Frage bitte nicht in philoso-phischen Debatten, was wir mit Linksextremismus mei-nen, wo er anfängt und wo wir da die Grenze ziehen –nach dem Motto „Können Sie das definieren, HerrBernschneider?“.
Ich hatte das Gefühl, dass wir uns am vergangenenFreitag sehr einig darin waren, wo wir da die Grenze zuziehen haben.
Deswegen lade ich Sie ein: Lassen Sie uns gemeinsamdarüber sprechen, welche Initiativen und Programme wirbrauchen, um den Gefahren von Linksextremismus undreligiösem Extremismus bestmöglich zu begegnen.Schauen Sie nicht länger weg, wenn Frau Lötzsch beimkommunistischen Kaffeekränzchen sitzt und draußenvor der Tür wehrlose Demonstranten zusammengeschla-gen werden!
Ich sage aber auch: Nehmen Sie die Aufrufe von Isla-misten bei YouTube genauso ernst wie rechte Schulhof-CDs!
Am Ende möchte ich noch auf einen Punkt eingehen,den wir in den Debatten über Prävention viel zu seltenansprechen. Die Aussicht auf Arbeits- und Ausbildungs-plätze und auf Wachstum, das am Ende auch sozialenAufstieg ermöglicht, ist ein weiteres gutes Mittel gegenExtremismus.
Bildung, Arbeit und Ausbildung sind wichtige Voraus-setzungen für Teilhabe in der Gesellschaft. Diese Teil-habe wirkt am Ende wie ein Anker in der Mitte unsererGesellschaft und ist damit ein gutes Mittel gegen Extre-mismus. Ganz gleich, von wem der aktuelle wirtschaftli-che Aufschwung kommt, von Rot-Grün mit den mutigenArbeitsmarktreformen von Herrn Schröder, von denendie SPD sowieso nichts mehr wissen will, von der Gro-ßen Koalition oder von uns: Wir als Fachpolitiker im Be-reich Prävention können froh darüber sein; denn er istein gutes Mittel in der Präventionsarbeit.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Korte für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es war wieder einmal dieselbe Platte; es wird langsamein bisschen eintönig.
Um eines klarzustellen: Die Verhältnisse infrage zu stel-len und Armut und Reichtum zu thematisieren, ist drin-gend notwendig, aber kein Extremismus. So viel zu Ih-rem Gelaber.
Zunächst will ich im Namen der Linksfraktion herz-lich Dank sagen für die couragierte Arbeit der Projekte,
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9804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Jan Korte
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Vereine und Verbände, die hervorragend und unter gro-ßem persönlichem Einsatz für die Zivilgesellschaft strei-ten.
Heute liegen zwei Anträge vor: zum einen ein Antragder Koalitionsfraktionen, der eher ideologisch ausge-richtet ist,
und zum anderen ein Antrag der SPD-Fraktion, der dieSache trifft und deswegen unsere volle Unterstützung er-halten wird.
Die Vermischung verschiedenster Programme undAnsätze sowie eine von Ihnen geschaffene Misstrauens-kultur sind falsch und im Übrigen auch wissenschaftlichnicht haltbar.
Deswegen ein Ratschlag: Lesen ist sinnvoll!
Wenn man diese wissenschaftlichen Erhebungen vonHeitmeyer und anderen ernst nimmt, kann man feststel-len, dass Rassismus, Antisemitismus und andere men-schenfeindliche Strömungen nicht nur Phänomene amRand der Gesellschaft sind, sondern dass man sie ebensoin der Mitte der Gesellschaft finden kann. Das ist dasKernproblem. Deswegen hat Gesine Schwan natürlichrecht.
Ich darf sie zitieren:Wie irreführend die Verwendung des Extremismus-begriffs ist, kann man u. a. an den neuesten empiri-schen Befunden zum Rechtsextremismus erkennen,die diese antidemokratische Einstellung soziolo-gisch eben nicht an den „extremen Rändern“ derGesellschaft, sondern in ihrer Mitte vorgefundenhaben.Das sollte uns doch umtreiben und nicht zu solchen ideo-logischen Spielchen führen.
Dazu will ich Folgendes sagen – das ist im MomentIhre Dauerplatte; eine andere haben Sie nicht mehr –: Esist in Ordnung, wenn Sie sich mit uns auseinandersetzen,uns beschimpfen und uns gewisse Dinge unterstellen.Sie setzen sich gern mit der Linkspartei auseinander.
Dafür gibt es ein paar Indizien. Das alles können Siegern tun. Das ist Demokratie. Da muss man halt durch.Nutzen wird es Ihnen im Übrigen nichts. Es ist jedochnicht akzeptabel, dass Sie dieses Spielchen bei der Aus-einandersetzung mit der Linken auf dem Rücken vonProjekten und Initiativen austragen; das geht nicht.
Deswegen freue ich mich darüber, dass heute – die Pres-seerklärung ist eben verschickt worden – die Sozialsena-torin des Landes Berlin, Carola Bluhm, Rechtsmittel ge-gen Ihre sogenannte Demokratieerklärung eingelegt hat.Ich hoffe, sie wird erfolgreich sein.
Fassen wir zusammen: Man muss um eine Langfris-tigkeit der Projekte kämpfen und die Angestellten aus ei-ner temporären Prekarität herausholen. Das wurde imSPD-Antrag richtig aufgelistet. Das unterstützen wir.Das ist eine ganz entscheidende Frage. Sorgen wir allegemeinsam dafür, dass nicht immer wieder am Beginneines neuen Jahres die Finanzierung infrage gestelltwird! Gestatten Sie einen guten Hinweis, um die Zivil-gesellschaft zu stärken: Verballern Sie das Geld nicht fürJunge-Union-Kaffeefahrten zu besetzten Häusern nachBerlin! Das ist völlig sinnlos.
Eine Frage interessiert mich; vielleicht wird sie nochbeantwortet. Ich bin offen und nicht ideologisch wie Sie.
Wenn Sie empirische Befunde liefern, denke ich darübernach. Mich interessiert, wo Sie eigentlich Islamismus imländlichen Raum ausgemacht haben und wo Sie dortGelder aufwenden. Wenn ich das weiß, diskutiere ichdiese Fragen auch weiter mit Ihnen. Uns geht es hiernicht um Ideologie wie Ihnen,
sondern uns geht es um eine engagierte Zivilgesell-schaft.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Lazar für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach der beeindruckenden Gedenkstunde heute Morgenhabe ich gehofft, dass diese Diskussion auf einem ande-ren Niveau stattfindet. Ich beginne mit dem Positiven.Schön ist, dass jetzt von allen Fraktionen in diesem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9805
Monika Lazar
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Hause Anträge zur Demokratiestärkung vorliegen. EinVergleich zeigt, dass es durchaus gemeinsame Ansätzegibt. Das ist positiv. Aber es gibt natürlich gravierendeUnterschiede; das zeigt die Diskussion. Sie sind bekannt.Das Themenfeld ist wichtig und brisant. Ein geeintesVorgehen, auch im Parlament, wäre wünschenswert.Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz und einefreie Entfaltung der Persönlichkeit sollten in unserer Ge-sellschaft für alle gegeben sein. Dieses Ziel wird von al-len hier selbstverständlich geteilt. Doch zu viele Men-schen in unserem Land teilen dies nicht. Es ist nicht nurso, dass die NPD und ihre Verbündeten in Landtagenund Kommunalparlamenten vertreten sind und – wie dieStatistik zeigt – die rechte Gewalt auf hohem Niveaubleibt, sondern es gibt auch Orte in unserem Land, in de-nen die Rechtsextremen das öffentliche Bild maßgeblichprägen. Ein Beispiel ist das Dorf Jamel in Mecklenburg-Vorpommern, in dem der Rechtsextremismus zum All-tag gehört. Dort lebt Sven Krüger, der zum NPD-Kadergehört und mit seinen Kameraden versucht, das Dorfaufzukaufen. Unerwünschte, die nicht ausziehen wollen,werden terrorisiert. Derartige Zustände findet man zu-meist in ländlichen und strukturschwachen Gegendenvor.Orte, in denen vermeintlich Linksextreme oder Isla-misten das gesamte öffentliche Leben dominieren, kenneich nicht. Deshalb ist es überhaupt nicht nachvollzieh-bar, dass die Koalition in ihrem Antrag Rechts- undLinksextremismus in einem Atemzug nennt.
Immerhin gesteht sie in einem Halbsatz zu, dass „dieMehrheit der extremistischen Kriminalität ihren Ur-sprung im ‚rechten‘ Milieu hat“. Doch leider geht siedem Problem nicht auf den Grund, sondern schwenktwieder zu altbekannten Extremismusformen über.Es ist aber dringend notwendig, die Unterschiede zubenennen. Sonst kommen praxisferne Konzepte dabeiheraus, und man stellt Verbündete unter Verdacht. EinIndiz dafür ist die heute schon zitierte sogenannte Extre-mismuserklärung, die Initiativen und Kommunen, dieFördermittel von Bund und einigen Ländern haben wol-len, unterzeichnen und so für sich und ihre Partner ver-bindlich versichern müssen, auf dem Boden des Grund-gesetzes zu stehen.
Wie macht man das? Ein kleiner Tipp der MinisterinSchröder, den sie in der gestrigen Sitzung des Familien-ausschusses gab: Man soll seine Partner googeln. – Ichfinde das armselig.
Diese Klausel ist ein Misstrauensvotum gegen die Zi-vilgesellschaft und völlig unnötig. Das Bekenntnis zurDemokratie ist nicht das Schlimme. Wenn schon einesolche Erklärung unterzeichnet werden muss, dann sol-len sich bitte auch andere – das hat der Kollege Beckvorhin erwähnt –, zum Beispiel der Bund der Vertriebe-nen, zur Demokratie erklären. Es geht um das Miss-trauen gegenüber den Initiativen, die auch noch ihrePartner ausspionieren sollen. Das ist rechtlich fragwür-dig und praktisch kaum umsetzbar.Eine Blüte der Absurdität trieb das Verfahren in dersächsischen Stadt Riesa, die Fördermittel beantragt hatund sich jetzt zur Verfassung bekennen muss.
Der Riesaer Finanzbürgermeister zeigte sich zu Recht ir-ritiert, weil er sich mit seiner Unterschrift automatischauch für die Grundgesetztreue der NPD-Stadträte ver-bürgen musste. Liebe Koalitionskolleginnen und -kolle-gen, das ist doch kontraproduktiv. Liebe Kollegen vonder Koalition, ein solches Verfahren ist eine Farce undist völlig an den Haaren herbeigezogen.
Bündnis 90/Die Grünen stehen auf der Seite derKommunen und der zivilgesellschaftlichen Initiativen,die sich mutig und engagiert gegen Rassisten und Anti-semiten stellen. Wir vertrauen diesen Akteuren und un-terstützen sie. Wir freuen uns, dass sich in diesem Punktalle Oppositionsfraktionen einig sind. Eine solche Unter-stützung würde ich mir auch von den Koalitionsfraktio-nen wünschen.Über den Antrag der Grünen und den der Linksfrak-tion haben wir hier schon vor einigen Wochen diskutiert.Heute reden wir nicht nur über den Koalitionsantrag,sondern auch über den Antrag der SPD, den wir für un-terstützenswert halten.
Erfolg können unsere Vorschläge allerdings nur haben,wenn sie in eine gesamtgesellschaftliche Demokratie-initiative eingebunden sind. Dazu gehört, dass sich De-mokratinnen und Demokraten nicht gegenseitig desExtremismus verdächtigen, sondern vertrauensvoll zu-sammenwirken. Ich wünsche mir und hoffe gerade andiesem Tag, dass wir in den Beratungen zu tragfähigenErgebnissen kommen.Danke.
Der Kollege Pols hat für die Unionsfraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2009gab es insgesamt circa 25 000 politisch motivierte Straf-taten in Deutschland. Das sind für uns 25 000 Gründe,
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9806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Eckhard Pols
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den Extremismus weiter zu bekämpfen. Nach wie vorstellt der Rechtsextremismus eine große gesellschaftli-che Bedrohung dar. Zwar ist das Personenpotenzial derrechtsextremen Szene nach Erkenntnissen des Verfas-sungsschutzes zurückgegangen, aber deshalb dürfen wirim Kampf gegen Rechtsradikale nicht nachlassen.Wir haben im vergangenen Jahr die beiden Pro-gramme „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranzund Demokratie“ und „kompetent. für Demokratie – Be-ratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ auslaufenlassen. Wir haben – Frau Bär hat das schon gesagt –5 000 Einzelprojekte gefördert und weit über 2 Millio-nen Menschen damit erreicht. Im Abschlussbericht stehtsogar, dass hier von vielversprechenden Modellprojek-ten auszugehen ist. An dieser Stelle sage auch ich Dankan alle Initiativen, die dazu ihren Beitrag geleistet haben.
Diesen guten Weg wollen wir fortsetzen. Wir als christ-lich-liberale Koalition wollen ab 2011 diese Programmeunter einem Dach – dem Bundesprogramm „Toleranzfördern – Kompetenz stärken“ – weiterführen. Wir wer-den in diesem Jahr 24 Millionen Euro allein für denKampf gegen Rechtsextremismus zur Verfügung stellen.Auch halten wir als christlich-liberale Koalition ander Extremismusklausel für die Projektträger fest. Wirwollen verhindern, dass sich extreme Kräfte unter demDeckmantel des Antifaschismus Steuergelder erschlei-chen und damit ihren Kampf gegen unseren Staat finan-zieren.
Ein klares Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischenGrundordnung sollte für Initiativen, die sich dem Kampfgegen politischen Extremismus verschrieben haben, eineSelbstverständlichkeit sein, Frau Lazar.
Dies hat überhaupt nichts mit Misstrauen zu tun.
Der Steuerzahler hat ein Recht darauf, zu wissen, wohinsein Geld geht und dass es für ihn ausgegeben wird undnicht gegen ihn.
„Linke Gewalt erlebt eine Renaissance“, stellte derPräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, HerrFromm, in einem Interview mit der Berliner Zeitungfest. Dass dies so ist, belegen nicht nur zahlreiche vonlinken Chaoten gelegte Pkw-Brände in den Großstädtenund auch in der Provinz, in meiner Heimatstadt, sonderndies wird auch und vor allem durch einen massiven An-stieg der Zahl linker Gewalttaten belegt. Wir dürfen denLinksextremismus nicht unterschätzen. Er ist – wie auchder Rechtsextremismus – kein Randphänomen.
Mit der Initiative „Demokratie stärken“ wird deshalb dieExtremismusprävention des Bundesfamilienministeriumsauf die Bereiche Linksextremismus und islamistischerExtremismus erweitert. Dafür werden weitere 5 Millio-nen Euro zur Verfügung gestellt. Die Ausweitung desProgramms auf andere Extremismusarten bedeutet imÜbrigen nicht, liebe Freunde von der SPD, dass derRechtsextremismus dadurch automatisch verharmlostwird, wie Sie es in Ihrem Antrag behaupten.
Die SPD bleibt in ihrem Antrag leider die Antwortschuldig, wie sie gegen Linksextremismus und Islamis-mus vorgehen will. Auch wenn Sie in drei Ländern inder Bundesrepublik mit der Partei koalieren, die demKommunismus zum Comeback verhelfen will, liegt esdoch bestimmt nicht in Ihrem Interesse, dass links-extreme Ideologien in Deutschland wieder Fuß fassen.
Deutschland ist schon länger im Visier islamistischerTerroristen. Dies haben uns die Schreckensmeldungenüber die Bedrohungslage in Deutschland vom vergange-nen Herbst noch einmal deutlich gemacht. Selbst derReichstag, in dem wir heute diskutieren, ist zum gefähr-deten Ort geworden. Diese Bedrohung ist nicht nur eineBedrohung von außen, sondern auch von innen. Islamis-mus gibt es ebenso wie Links- und Rechtsextremismusinnerhalb unserer Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dassdas Bundesinnenministerium im Sommer 2010 das Aus-steigerprogramm HATIF gestartet hat. Ich bin vor allemdankbar, dass muslimische Organisationen in unseremLand dies nach Kräften unterstützen.Wie kommt es zu Extremismus? Herr Bernschneiderhat dies kurz angesprochen. Extremismus hat seinenNährboden in Perspektivlosigkeit. Junge Menschen brau-chen eine Perspektive; denn das macht sie immun gegentotalitäre Ideologien. Dazu bedarf es zuallererst einer so-liden Finanz-, Wirtschafts- und Bildungspolitik, wie sievon der christlich-liberalen Koalition gestaltet wird.
Aber auch damit erreichen wir nicht alle Menschen in un-serer Gesellschaft. Bei vielen Jugendlichen ist die rassis-tische und antidemokratische Ideologie schon sehr ver-festigt. Von heute auf morgen werden sie ihre Gesinnungsicherlich nicht ablegen. Hier setzen wir auf das Pro-gramm „Xenos – Leben und Arbeiten in Vielfalt“ und dasXenos-Sonderprogramm „Ausstieg zum Einstieg“. Ju-gendliche und junge Erwachsene, darunter auch Ausstei-ger, sollen mit berufsbezogenen Maßnahmen wieder in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9807
Eckhard Pols
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den Arbeitsmarkt integriert werden. Dabei werden sie mitMaßnahmen für Toleranz, Demokratie und Vielfalt be-gleitet. Hier können wir uns gut eine Förderung aus demEuropäischen Sozialfonds vorstellen.
Junge Menschen müssen gegen extremistische undtotalitäre Ideologien aus allen Richtungen immun wer-den.
Mit unserem Antrag verfolgen wir deshalb einen ganz-heitlichen Ansatz. Ich finde es schade, Herr Rix, dass indem Antrag der SPD Linksextremismus und Islamismusnicht aufgegriffen werden. Ich glaube, hier sind Sie einbisschen zu kurz gesprungen. Es ist richtig und wichtig,null Toleranz gegen Extremismus jeglicher Art zu ha-ben. Das sollte Konsens aller demokratischen Fraktionenin diesem Hause sein.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Kolbe für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich war gestern Po-diumsgast auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zur FES-Studie „Die Mitte in der Krise“. DieseVeranstaltung war sehr gut besucht. Bei den Teilnehmen-den hat sich angesichts der Zahlen dieser Studie eine pes-simistische bis irritierte Stimmung breitgemacht. In derBevölkerung gibt es Zustimmungsraten von 30 Prozentund mehr bei rassistischen, ausländerfeindlichen Aussa-gen. Die Zustimmung zu chauvinistischen, antisemiti-schen Aussagen ist eklatant hoch. Ebenso erschreckendist die Zustimmung zur Verherrlichung der NS-Diktatur.Ich habe versucht, dieser pessimistischen Stimmung
ein bisschen Optimismus entgegenzusetzen. Ich binnämlich der Auffassung, dass die Gesellschaft und wir inder Politik in der Tat etwas gegen diese manifesten Ein-stellungen in der Mitte der Gesellschaft tun können.
Das können wir durch die Förderung der Beteiligungund mehr Demokratie erreichen. Laut der Studie habennämlich 90 Prozent der Bevölkerung den Eindruck, dasssie Politik nicht mitgestalten können. Wir können es aberauch durch gute politische Bildung, durch Programme,die die Zivilgesellschaft stärken, erreichen; denn – dasist meine persönliche Erfahrung und vielleicht auch dieErfahrung anderer – die Nazis sind insbesondere dortstark, wo die Zivilgesellschaft schwach ist.
Deshalb sind die Programme, die Rot-Grün ins Lebengerufen hat, die die Große Koalition fortgeführt hat unddie auch Sie fortsetzen wollen, so positiv zu bewerten.Ich möchte Ihnen zugestehen und positiv hervorheben,dass Sie genau das erkannt haben.
Schön an Ihrem Antrag fand ich auch, dass Sie geradedie Bundeszentrale für politische Bildung
als einen Initiator von sehr guter politischer Bildung be-wertet haben. Ich hoffe daher, dass wir alle gemeinsamin den nächsten Haushaltsberatungen gegen die ange-kündigten Kürzungen des Innenministeriums streitenwollen. Die Mittel für die Bundeszentrale sollen auf denStand von vor der Wiedervereinigung gekürzt werden.Wenn Sie es mit Ihrem Engagement gegen Extremismuswirklich ernst meinen, dann lassen Sie uns bitte gemein-sam dagegen einsetzen.
Bei all dem Positiven gibt es im Bereich „Kampf ge-gen Rechtsextremismus“ zwei Dinge, die mir Sorgen ma-chen. Das eine klingt ein wenig wie eine Krankheit: Pro-jektionitis. Die herrscht nämlich, wenn es um Förderungim Kampf gegen Rechtsextremismus geht. Unglaublichgute Träger, die bereits seit Jahren eine sehr gute, nach-haltige Arbeit machen, hüpfen von Programm zu Pro-gramm und haben nicht die Möglichkeit, eine stetige Fi-nanzierung zu erhalten. Das betrifft auch Träger, die nichtnur in einem Bundesland, sondern bundesweit aktiv sind.Wir haben in unserem Antrag Vorschläge gemacht, wiewir etwas dagegen tun können.Als weiteres Problem sehe ich den Diskurs. IhreMinisterin und auch die Koalition bestehen offenbar da-rauf, in jedem Satz, in dem das Wort „Rechtsextremis-mus“ vorkommt, auch die Begriffe Linksextremismus,Ausländerextremismus – oder was auch immer – unter-zubringen. Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, dass SieLinks- und Rechtsextremismus gleichsetzen wollen. Beivielen Leuten kommt es allerdings genauso an. Nicht nurdas: Sie manifestieren den Eindruck, dass es sich bei Ex-tremismus und insbesondere beim Rechtsextremismusum ein randständiges Problem handelt, das nur an denEnden der Gesellschaft vorkommt. Aber gerade die„Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung widerspre-chen dem. Wir haben heute den 27. Januar. An diesemTag gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus.Man kann aus der Geschichte, aus dem, was damals ausder Mitte der Gesellschaft heraus passiert ist, durchausetwas lernen, und genau das tun die Träger, die Sie miteiner „Demokratieerklärung“ hier unter Generalverdachtstellen.
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9808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Daniela Kolbe
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Diese Träger fördern Demokratie
und arbeiten gegen Menschenfeindlichkeit. Sie beratenOpfer und Kommunen. Bitte tun Sie alles, damit dieseTräger weiterhin ihre Arbeit verrichten können. Sie ver-lieren hier viele schöne Worte über die Träger, aber mitIhren Taten diskreditieren Sie sich selbst.
Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich bin an einem solchen Tag nach wie vor be-stürzt, wenn ich lese, dass in Deutschland etwa 15 Pro-zent der Menschen auf die Frage, ob Juden in dieser Ge-sellschaft zu viel Einfluss haben, eine positive Antwortgeben. Das Phänomen des Antisemitismus ist in unsererGesellschaft leider – das muss man an einem solchenTag einmal sagen – nach wie vor weit verbreitet. Deswe-gen ist es mein Anliegen – so mein Appell –, genauer zuschauen, wo Antisemitismus, Extremismus und Rassis-mus ihre Wurzeln haben.
Ich gestehe, dass mich die heutige Debatte in dieserHinsicht etwas enttäuscht hat. Es ist einfach schade, dassman in das klassische Links-rechts-Schema verfällt.
Es ist schade, dass man sich nicht traut, genau hinzu-schauen, wo Straftaten und Mentalitäten auftreten, dieder freiheitlich-demokratischen Grundordnung diametralzuwiderlaufen.Die Ebene der Straftaten ist nur eine Ebene. Ich kannIhnen sagen: Ich bin mehrfach Opfer linksextremer Ge-walt geworden. Dann redet man über ein solches Themaanders, als wenn man einfach das Gefühl hat, die Men-schen täten einem nichts.
Die Geschäftsstelle in meinem Wahlkreis ist zerstörtworden. Ich bin bedroht worden, weil ich hier ein be-stimmtes Abstimmungsverhalten an den Tag gelegthabe. Ich bitte Sie, gerade die Vertreter der Grünen undder SPD, eindringlich: Verschließen Sie nicht die Au-gen! Keiner will das schlimme Phänomen des Rechts-extremismus in irgendeiner Form verniedlichen; keinerwill so tun, als ob das nicht das vorrangige Problem sei.Wir müssen aber einfach einen realistischeren Blick aufall diese Gegebenheiten richten, als Sie es leider in die-ser Debatte – vielleicht mit Ausnahme der letzten Red-nerin der SPD – getan haben.
Ich verstehe, dass die Bekämpfung der rechtsextre-men Gesinnung gerade in Ihren Parteien, die große Ver-dienste bei der Bekämpfung dieser Gesinnung erworbenhaben, deren Mitglieder oft auf die Straße gegangen sindund sich bei Demonstrationen persönlich eingesetzt ha-ben, die Wurzel des Kampfes gegen Extremismus dar-stellt. Aber schauen Sie bitte hin! Schauen Sie hin, wennStraftaten geschehen, wenn es Überzeugungen gibt, dieweit über das hinausgehen, was wir auf linker Seite ak-zeptieren können.
Bitte hören Sie auf, Anträge zu stellen, in denen ein ein-seitiger und empirisch nicht fundierter Extremismusbe-griff auftaucht.
– Das ist eine interessante Frage.
Das Phänomen des Linksextremismus in Deutschland istdurchaus sehr disparat. Ich gebe Ihnen recht: Es ist nichtdie Übertragung der Mittel von rechts auf links; es sindandere Milieus.
– Ja. Das heißt aber nicht, dass es diese Milieus nichtgibt.
– Ja, man muss sie auch anders bekämpfen. Dafür mussman dieses Phänomen zur Kenntnis nehmen und es ernstnehmen.
Ich komme zum Schluss. Ich würde mich freuen, ein-mal sachlich und ruhig darüber zu reden. Vielleicht istder Ausschuss dafür der bessere Ort; dann müssen Sienicht diese Bekenntnisse ablassen. Die Linke hat sich inder Debatte leider, wie so häufig, völlig diskreditiert;aber von ihr war auch nicht mehr zu erwarten.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9809
(C)
(B)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4432 und 17/3867 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach
2013 – Förderung auf nachhaltige, bäuerliche
Landwirtschaft ausrichten
– Drucksache 17/4542 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach
2013 weiterentwickeln
– Drucksache 17/2479 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Versetzen wir uns doch einmal in das Jahr
2020 und fliegen über die ländlichen Räume Europas!
Was sehen wir unter uns? Sehen wir vielfältige Land-
schaften, gegliedert durch Hecken, Bäume, Bäche und
Dörfer, vielseitige Feldfrüchte, Wiesen und Weiden, be-
lebt von Tieren?
Oder sehen wir in den fruchtbaren Gebieten vor uns aus-
geräumte Landschaften, Maismonokulturen, hier und da
eine Tierfabrik, die weniger fruchtbaren Gebiete verödet
und ehemals grüne Mittelgebirge verbuscht und verwal-
det?
Beides ist möglich. In den nächsten Monaten werden
die Weichen dafür gestellt, welche Richtung die Ge-
meinsame Agrarpolitik und damit die Landwirtschaft in
Europa nach 2013 nehmen wird. Bäuerliche Landwirt-
schaft oder Agrarindustrie? Das ist die Frage, über die
wir hier heftig streiten, weil sie keine Geschmacksfrage,
sondern die landwirtschaftliche Zukunftsfrage ist.
Spätestens seit dem Dioxinskandal pfeifen doch die
Spatzen von den Dächern, dass etwas faul ist im Staate
Sonnleitner,
dass die alte Agrarpolitik an ihr Ende gekommen ist und
dass es Zeit ist für einen Neuanfang, Zeit für die Agrar-
wende 2.0.
Die Entscheidung der Bundeskanzlerin, als Antwort
auf die Dioxinkrise Herrn Kollegen Bleser, der wie
kaum ein anderer die Kumpanei zwischen CDU, Groß-
genossenschaft und Bauernverband verkörpert, zum
Staatssekretär im BMELV zu machen, ist entweder
dumm oder dreist.
Kollege Ostendorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bleser?
Ich sage noch einen Satz; dann haben wir den Zusam-
menhang, damit der Kollege Bleser alles bearbeiten
kann. – In jedem Fall zeigt es uns, dass die CDU die Zei-
chen der Zeit nicht einmal ansatzweise verstanden hat.
Jetzt der Kollege Bleser.
Bitte.
Herr Kollege Ostendorff, können Sie mir sagen, wa-rum Sie so verbittert sind und gegen die Genossenschaf-ten wettern, die im vorletzten Jahrhundert als Notge-meinschaften der Bauern gegründet wurden und indenen die Landwirte – etwa in Molkereigenossenschaf-ten oder Warengenossenschaften – ihren Absatz selbstorganisieren? Halten Sie es für falsch, dass in den Füh-rungsgremien dieser Genossenschaften nicht Vertretervon irgendwelchen Kapitalgesellschaften sind, sondernBauern, die für ihre Mitglieder dafür sorgen, dass dasentsprechende Geschäftsgebaren eingehalten wird?
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9810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Peter Bleser
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(B)
Gestatten Sie, Herr Kollege Bleser, dass ich Ihre Fra-gen in umgekehrter Reihenfolge beantworte. Ja, ich haltees für falsch, dass gewählte Vertreter der Bürgerinnenund Bürger dieses Landes gleichzeitig interessengelei-tete Aufsichtsratsvorsitzende in sehr großen Genossen-schaften sind. Das halte ich in der Tat für falsch.
Schon aus politischer Hygiene sollten wir eine gewisseDistanz an den Tag legen und uns entscheiden, ob wirInteressenvertreter einer Genossenschaft, eines Wirt-schaftsunternehmens sind oder ob wir unseren Auftraggegenüber dem deutschen Volk wahrnehmen.
– Ich bin noch nicht fertig. Bitte bleiben Sie noch stehen.Sonst kann ich Ihre erste Frage nicht beantworten. –Jetzt läuft aber meine Redezeit schon wieder.
So ist es; denn ich kenne die Großzügigkeit, mit der
bei Zwischenfragen wechselseitig gerne gearbeitet wird.
Gut, dann antworte ich in meiner Redezeit.
Ja, ich bin Genosse. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.
Ich habe im letzten Jahr mit 49 anderen Bäuerinnen und
Bauern eine neue Genossenschaft gegründet.
Das ist eine Genossenschaft, in der alle mitreden und
alle etwas zu sagen haben. Den Filz, Herr Bleser, den Sie
und Leute wie Sie verkörpern, haben die Leute aber end-
gültig satt.
Niemals zuvor sind in Deutschland wie am Samstag
20 000 Menschen mit dem Motto „Wir haben es satt!“
auf die Straße gegangen, weil sie eine andere Landwirt-
schaft und eine andere Agrarpolitik wollen. Nie zuvor
gab es ein so breites Bündnis gesellschaftlicher Grup-
pen, die wollen, dass aus dem Subventionsbetrieb Agrar-
politik ein Gestaltungsinstrument für Europas Land-
schaft und Landwirtschaft wird, ein starkes Instrument
für gesunde Ernährung, fairen Handel und lebendige
Dörfer.
Der Vorschlag von EU-Kommissar Ciolos für eine
Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik liegt auf dem
Tisch.
Ob es ein großer Schritt vorwärts oder ein Schritt in die
Vergangenheit wird, hängt entscheidend davon ab, wie
sich Deutschland verhält. Bisher zeigen Sie wenig Mut
und reden den Ewiggestrigen das Wort.
Bisher ist Deutschland der schwerste Klotz am Bein der
Reformkräfte. Die Bundesregierung ist leider auch hier
wieder auf dem besten Weg, eine historische Reform zu
verhindern,
weil sie nicht den Willen und den Mumm hat, dem alten
System Paroli zu bieten,
jenem System, das uns gerade wieder Gift in Eiern auf-
getischt hat.
Nein, meine Damen und Herren, Rumeiern gilt heute
nicht mehr.
Wer jetzt den Bäuerinnen und Bauern und den Bürgerin-
nen und Bürgern sagt, dass alles so bleiben kann, wie es
ist, der muss auch ehrlich sein und sagen, was das be-
deutet. Das bedeutet: kein Klimaschutz, kein Tierschutz,
kein Artenschutz, kein Wasserschutz, keine Kühe auf der
Weide, keine Bauernhöfe, keine internationale Fairness,
kein Ende der Lebensmittelskandale, keine gemeinsame
Perspektive für das ländliche Europa.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns eine mutige
Agrarreform wagen, damit der ländliche Raum eine
große Zukunft hat!
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Josef Rief für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Der Koalition ist an einer zukunftsgerechten Weiter-entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik gelegen. Ja,wir werden alles tun, damit die Landwirtschaft, der länd-liche Raum Zukunft behält. Wir sind selbstverständlichfür eine europäische Landwirtschaft im Wettbewerb, dienicht nur die europäische Bevölkerung sicher mit Nah-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9811
Josef Rief
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rungsmitteln versorgt, sondern auch einen Beitrag zurWelternährung und zur umweltgerechten Energieversor-gung liefert.
Was wäre denn die Alternative? Die Vorschläge derSPD und der Grünen würden zu geringeren Direktzah-lungen für die deutschen Bauern führen und die bürokra-tischen Lasten für die Betriebe zusätzlich erhöhen. Des-halb lehnen wir diese Vorschläge ab.
Wir müssen dafür kämpfen, dass die Direktzahlungennicht vermindert werden und kein europaweiter Sockel-betrag, wie Sie ihn nennen, eingeführt wird – und das al-les noch vor dem Hintergrund, dass sich dadurch dieNettozahlerposition Deutschlands massiv verschlechternwürde.
Natürlich – ich möchte das gar nicht kleinreden – pro-fitieren wir von der EU. Wir sollten und müssen auchunserer Wirtschaftsleistung und Bevölkerungszahl ent-sprechend zum Haushalt der Union beitragen. In mei-nem Wahlkreis gibt es viele mittelständische Unterneh-men wie den Baumaschinenhersteller Liebherr oder denPharmaproduzenten Boehringer Ingelheim, die weit überdie Hälfte ihrer Produkte ins europäische Ausland expor-tieren. Nur, eines geht nicht: Eine Verschlechterung un-serer Nettozahlerposition darf nicht auf dem Rücken derBauern ausgetragen werden.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen jetzt einmaletwas als praktizierender Landwirt: Für viele meiner Be-rufskollegen machen die Direktzahlungen bis zu50 Prozent der Einkommen aus. Deswegen: Bitte mehrSensibilität bei diesem Thema!
Es gibt nur Leistungen, wenn der Landwirt nicht we-niger als 2 680 Auflagen und 590 Standards, sogenannteCross-Compliance-Regelungen, einhält, Auflagen, dievon Tier- und Pflanzengesundheit über Lebensmittel-sicherheit bis hin zu Umweltschutz und Tierschutz rei-chen. Die Zahlungen sind auch keine Geschenke. Dafürpflegen die Landwirte die Landschaft, damit wir alle siegenießen können.
Und von wegen, die ökologische Landwirtschaftwerde zu wenig gefördert! Schon jetzt erhält zum Bei-spiel jeder ökologisch wirtschaftende Betrieb in Baden-Württemberg eine um durchschnittlich 190 Euro höhereFörderung pro Hektar als der Betrieb des konventionellwirtschaftenden Kollegen.
Sollte die Höhe der Direktzahlungen auf europäischerEbene vereinheitlicht werden und sinken, werden nochmehr Höfe aufgeben müssen. Wollen Sie wirklich, dassder ländliche Raum ausblutet? Wir wollen das jedenfallsnicht.
Ohnehin war der Strukturwandel, also die Aufgabe vonBetrieben, in der rot-grünen Regierungszeit – ich kannIhnen das nicht ersparen – um 50 Prozent höher als inden letzten Jahren.
Meine Damen und Herren, es geht hier aber nicht umein Ausspielen der konventionellen Landwirtschaft ge-gen die ökologische Landwirtschaft. Wir sind gegen dieAusspielerei.
Von einer Umverteilung der Mittel oder – ich sage esklar – von einer Kürzung der Mittel wären beide Berei-che betroffen. Nach der BSE-Krise – das ist schon einigeJahre her, aber ich bin sicher, die Bürgerinnen und Bür-ger wissen das noch – haben SPD und Grüne schon ein-mal die Agrarwende ausgerufen.Gebracht hat es gar nichts.
Bezahlt aber haben es die Bauern mit geringeren Ein-kommen und die Verbraucher mit Verunsicherung. Dasist doch die Wahrheit!
Meine Damen und Herren, die Probleme in der Bio-branche sind heute weitgehend dieselben wie in der kon-ventionellen Landwirtschaft; denn auch beim Biomarktwird das Preisniveau von Lieferanten aus dem Auslandbegrenzt. Woher sollen die Milliarden für eine noch stär-kere Förderung der Ökolandwirtschaft kommen? Ichsehe das Geld in Brüssel nicht.Wir brauchen konventionelle und ökologische Land-wirtschaft. Jeder – das ist meine Auffassung – soll sei-nen Betrieb führen, wie er es möchte. Auch für die Bau-ern muss gelten: Jeder soll nach seiner Fassonwirtschaften. Am Ende wird ohnehin der Verbraucherentscheiden, wofür es einen Markt gibt und wofür nicht.
Wir treten klar ein für Qualität in Freiheit und sind ge-gen den Zwang zum Ökosozialismus.
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9812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Josef Rief
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Es ist einfach falsch, die ökologische Landwirtschaftals Allheilmittel zur Welternährung anzupreisen und beijeder Debatte die Systemfrage zu stellen. Gleichzeitigwird bei einem – zugegebenermaßen umfangreichen –Skandal, der wohl, so habe ich es gelesen, von einemMann mit Stasivergangenheit verursacht wurde, derWeltuntergang beschworen und den Menschen sugge-riert, alle gewöhnlichen Lebensmittel seien schädlich.Damit helfen wir niemandem.
Was soll das anderes sein als Wahlkampf pur? So gehtdas nicht.
Die Unionsfraktion wird sich in den nächsten Mona-ten bei Gesprächen auf EU-Ebene für eine umsichtigeWeiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik ein-setzen, die für Verbesserungen offen ist und an Bewähr-tes anknüpft. Wir fordern die Beibehaltung des Zwei-Säulen-Modells mit starker erster Säule und die Beibe-haltung des bisherigen Gesamtbudgets für die GAP. Ver-schiebungen zwischen den Säulen lehnen wir ebenso abwie eine weitere Belastung mit Cross Compliance.Sogenannte Fachpolitiker, die von vornherein, alsonoch bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen,auf viel Einkommen der Landwirtschaft verzichten unddabei noch die Nettozahlerposition Deutschlands ver-stärken wollen, gehören – mit Verlaub gesagt – aus Re-spekt vor unserem ehemaligen Ministerpräsidenten nichtzum Teufel gejagt, aber doch mit viel Wasser in die poli-tische Wüste geschickt.Herzlichen Dank.
Lieber Kollege Rief, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen des Hauses
herzlich gratuliere.
Ich erteile nun das Wort als nächstem Redner dem
Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleichtauch von mir Glückwünsche von hier vorne an den Kol-legen Rief, wenn er denn zuhört.Noch eine kurze Bemerkung aus dem grünen Idyllvon „Kater Krümels Bauernhof“, den der KollegeOstendorff hier beschrieben hat: Kräht der Rief auf demMist, ändert sich die deutsche Agrarpolitik oder siebleibt, wie sie ist.
Das ist mein Fazit der Rede.
Wenn wir uns mit dem Thema einmal ernsthaft aus-einandersetzen, dann erkennen auch Sie, dass wir Sozial-demokraten im Hinblick auf die Reform der GAP docheiniges vorzuweisen haben. Wir haben Ihnen bereits vorfast einem Dreivierteljahr – vor allen anderen Parteienhier im Hause und auch vor vielen Verbänden – ein ent-sprechendes Konzept dazu vorgelegt und in unseren Vor-schlägen eine ganz klare Linie dafür formuliert, wo esmit der Agrarpolitik in Zukunft hingehen könnte. Dieshaben wir auch aus der Erkenntnis heraus getan, dass dieAkzeptanz der jetzigen Agrarpolitik in verschiedenenBereichen – auch in der Gesellschaft – weitestgehendverlorengegangen ist.Darum begrüße ich natürlich auch das Konsultations-verfahren, das der EU-Agrarkommissar eingeleitet hat.6 000 Stellungnahmen aus ganz Europa sind schon einErfolg. Ich kann Ihnen sagen: Wir waren auch dabei.Deshalb freuen wir uns, dass wir den mit den Bürgernbegonnenen Dialog auch auf der politischen Ebene ziel-gerichtet zu Ende führen können. Es wird nach meinerEinschätzung keinen radikalen Bruch geben, und es isthier auch nicht unbedingt die Systemfrage zu stellen,aber es muss dringend Veränderungen geben; denn esbesteht ein großer Korrektur- und Handlungsbedarf.Wenn man sich das von uns vorgelegte Papier an-schaut, dann sieht man, dass darin schon die zentraleForderung enthalten ist, über die heute in Europa disku-tiert wird, nämlich die „Begrünung“ der GemeinsamenAgrarpolitik. Für uns gilt primär der Grundsatz „Öffent-liches Geld für öffentliche Güter“. Die Begrifflichkeitdieses Grundsatzes lassen wir uns von Frau Höhn natür-lich nicht stehlen. Das steht in unserem Papier und nichtin dem Papier der Grünen.Wir müssen wegkommen von der Belohnung für dieEinhaltung an sich selbstverständlicher fachlicher Vor-gaben und hinkommen zu einer wirklichen Entlohnungkonkreter gesellschaftlicher Leistungen, was der Steuer-bürger in Europa auch erwarten kann und von der Land-wirtschaft erwarten muss.
Für uns ist nicht allein die Systematik der ersten undzweiten Säule ausschlaggebend, sondern das Ergebnisder Reform dieser Strukturen. Das ist für uns das Ent-scheidende. Insofern ist das von uns vorgeschlageneModell an sich weiß Gott kein Dogma, aber am Endemuss doch ein gesellschaftlicher Mehrwert für alle Men-
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Dr. Wilhelm Priesmeier
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schen in Europa stehen. Das sollte uns bei der Reformder europäischen Agrarpolitik antreiben.Wir freuen uns, dass unsere Vorschläge in der Weiseeingeflossen sind, dass wir fast alles aus unserem Papierin dem Ciolos-Vorschlag wiederfinden. Leider ist diePosition der Bundesregierung nicht klar erkennbar. Mansieht zwar, dass es Diskussionen und Handlungsbedarfgibt, aber bislang gibt es keine konkreten Vorstellungen.Ich habe den Eindruck, als sei die Position der Bundesre-gierung völlig identisch und deckungsgleich mit derPosition des Deutschen Bauernverbandes. Ich weißnicht, ob das der richtige Ansatz ist. Das liegt aber wahr-scheinlich daran, dass die Ministerin und die Bundesre-gierung keine eigene Strategie haben.
Ich sage dazu nur: einfallslos, ideenlos und vielleichtauch – zumindest habe ich die Befürchtung – erfolglos.
Das ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt dasErgebnis der schwarz-gelben Koalition. Ich finde, das istaufgrund der Rolle, die Deutschland bei Agrarverhand-lungen und am Brüsseler Tisch immer gespielt hat, einArmutszeugnis und der deutschen Landwirtschaft mit ih-rem Einfluss und ihrer Bedeutung auch nicht angemes-sen.Die Ministerin hat wohl den falschen Kurs einge-schlagen. Sie fährt auf der falschen Spur, sie fährt in diefalsche Richtung, sie erkennt den Gegenverkehr nicht,und wenn sie nicht aufpasst, dann fährt sie zumindestden Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik, der uns betrifft,an die Wand. Das ist das typische Verhalten, das Geister-fahrer zeigen.Paris, Warschau, Rom: Wo ist das Konzept? Ichglaube, mit der gemeinsamen Positionierung von Frank-reich und Deutschland hat die Ministerin für die weitereDiskussion auf der europäischen Ebene mehr Schadenangerichtet als Nutzen gestiftet.Uns allen ist klar: Wir brauchen eine grundlegendeReform des Systems. Man kann im Zusammenhang mitden landwirtschaftlichen Einkommen darüber philoso-phieren, ob wir eine Grundsicherung brauchen. Wir ha-ben sie in Form eines Sockelbetrags vorgeschlagen.Klar ist aber auch: Agrarpolitik ist keine Sozialpoli-tik. Insofern ist das nach dem Subsidiaritätsprinzip Auf-gabe der einzelnen Mitgliedstaaten und kann nicht zurGänze aus dem Agrarhaushalt dargestellt werden. Dasgilt auch im Hinblick auf die erforderlichen Konsolidie-rungsbemühungen, die wir alle zu leisten haben, sei es inunseren Haushalten, in den Haushalten der anderenEU-Mitgliedstaaten oder im EU-Haushalt. Der Hand-lungsrahmen ist sehr begrenzt. Deshalb brauchen wir einKonzept, um unter Umständen auch mit einem bisschenweniger ein bisschen mehr zu erreichen.Für uns ist es wichtig, dass die Werte und öffentlichenGüter, die die Landwirtschaft bietet, honoriert und aner-kannt werden, zum Beispiel die Sicherheit unserer Le-bensmittel, die Kulturlandschaft in Europa. Höhere Pro-duktionskosten müssen berücksichtigt werden. Auchdafür gibt es in unserem Modell einen entsprechendenVorschlag.
Wir müssen aber auch im Hinblick auf die zweiteSäule die Ausrichtung der europäischen Agrarpolitik re-formieren. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhält-nis zwischen erster und zweiter Säule. Das lässt sichaber erst dann darstellen, wenn wir den konkreten Finan-zierungsrahmen kennen. Auch hierzu machen wir kon-krete Vorschläge. Wir wollen, dass die zweite Säule soausgestaltet ist, dass wir eine echte Politik zu einer inte-grierten Entwicklung in den ländlichen Räumen darstel-len können. Das ist die unbedingte Voraussetzung.Für uns als Sozialdemokraten zählt nicht so sehr dieideologische Auseinandersetzung über Groß oder Klein;für uns zählen vielmehr die Arbeitsplätze in den ländli-chen Räumen. Das unterscheidet uns von den Grünen,
deren Modell vielleicht nicht mehr so typisch ist. Manmuss sich aber den Herausforderungen stellen und sichdazu bekennen, dass man gelegentlich nachsteuern oderauch umsteuern muss.In Deutschland gilt es für uns auch in der Konsequenzaus der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpoli-tik, unser zentrales Instrument vor allem in der Umset-zung der zweiten Säule, die GAK, gezielt weiterzuentwi-ckeln. Wir müssen in der Perspektive die Synergienzwischen ELER und EFRE nutzen. Aus diesem Grundefordern wir die Weiterentwicklung der GAK zu einerGemeinschaftsaufgabe für ländliche Räume.
Auf all die offenen Fragen der Landwirte, aber auchder Gesellschaft haben Sie bisher keine Antwort angebo-ten. Welche Strategien haben Sie zum Beispiel ange-sichts des demografischen Wandel in den ländlichenRäumen? Ich nehme an, dass das in Bayern nicht andersist als in Niedersachsen.Mit unserem Antrag und unserer Positionierung zurGemeinsamen Agarpolitik haben wir eine klare Roadmapvorgelegt, an der Sie sich orientieren können, wenn Sieden Kurs verloren haben. In dem Zusammenhang kannich Sie nur auffordern, das, was wir vorlegen, ernsthaft inIhre Überlegungen einzubeziehen und dafür zu sorgen,dass es in Europa umgesetzt wird.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Edmund Geisen ist der nächste Red-ner für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieInternationale Grüne Woche, die uns alle im Augenblickfest im Griff hat,
zeigt wieder einmal eindrucksvoll, welches Potenzial inder Landwirtschaft liegt. Sie ist eine Schlüsselbranche,ohne die die großen Herausforderungen der kommendenJahrzehnte – Klimaschutz, Welternährung, Energiever-sorgung, Erhaltung der Artenvielfalt – nicht zu lösen sind.
Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir eineGemeinsame Agrarpolitik – kurz: GAP –, die die mo-derne, effiziente und nachhaltig wirtschaftende Land-wirtschaft stärkt.Die FDP-Fraktion steht für eine zukunftsfeste, unter-nehmerische und marktorientierte Landwirtschaft. Einenach der Produktionsweise differenzierte Subventions-politik mit staatlicher Gängelung – wie in den vorliegen-den Anträgen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ge-fordert – ist für uns definitiv keine Lösung.
Die Gemeinsame Agrarpolitik war ein Kernelementder Römischen Verträge von 1957.Es ging damals vor allem um die Verbesserung derlandwirtschaftlichen Produktivität. Einige von Ihnenwerden sich noch gut an damals erinnern. Es war eine re-lativ arme Zeit, mit sehr viel Handarbeit verbunden, dieProdukte der Landwirtschaft dienten in erster Linie derSelbstversorgung, der Versorgung von Mensch und Tier.Die Produktpalette war primitiv, die Qualitätsstandardsließen viel zu wünschen übrig. Ich selbst erinnere michals Kind der Landwirtschaft an Missernten und an vieleKrankheiten bei Pflanzen und Tieren. Es gab noch rich-tige Mangelperioden.Warum sage ich das? Weil ich klarmachen will: Werdie Vergangenheit idealisiert, der irrt. Die Zukunft darfniemals wieder in die Verhältnisse der Vergangenheitmünden.
Technische Entwicklungen, Nährstofftransfers, Züchtungs-methoden und Krankheitsbekämpfung haben uns in denvergangenen vier Jahrzehnten in Westeuropa Wohlstandund natürlich auch Überschüsse beschert. Bei der Lö-sung des Problems der Überschüsse hat sich die EUlange mit Lagerhaltungsmethoden und Mengenbegren-zungen über die Zeit gerettet, ohne dabei dem Problemdes Welthungers zu begegnen und ohne die EU-Land-wirtschaft auf die Zukunft auszurichten. Unsere jetzigeDevise muss lauten: Lasst uns aus der Vergangenheit ler-nen und die Zukunft neu ausrichten!
Unsere Parameter sind die rasant steigende Weltbe-völkerung mit ihrem Bedarf an Nahrungsmitteln undEnergie sowie der Klimaschutz. Für die FDP heißt dieZukunft: Stärkung der bäuerlich-unternehmerischen Land-wirtschaft, die standortgerecht, nachhaltig und effizientwirtschaftet, die arbeitsteilig, technisiert, tier- und um-weltgerecht ist, kurz: die gemäß dem Leitbild der gutenfachlichen Praxis arbeitet.
Landwirtschaft ist kein Wirtschaftszweig wie jeder an-dere; das wird in der öffentlichen Diskussion oft verges-sen. Landwirtschaft ist für Mensch und Tier von existen-zieller Bedeutung, die Produktionsverfahren sind – wiesonst nirgendwo – abhängig von stetig vorhandenen Kli-maschwankungen und lebenden Organismen. Gleichzei-tig ist Landwirtschaft verantwortlich für den Erhalt unse-rer Kulturlandschaften und der attraktiven ländlichenRäume. Diese gesamtgesellschaftlichen Leistungen müs-sen auch weiterhin in der ersten Säule der GAP honoriertwerden.
Natürlich müssen diese Prämien an die Einhaltung vonUmwelt- und Tierschutzstandards gebunden sein, den so-genannten Cross-Compliance-Vorschriften. Sie dürfen abererstens nicht zu noch mehr Bürokratie auf den heimischenHöfen führen und müssen zweitens für alle EU-Mitglied-staaten gleich gelten.
Ich jedenfalls wende mich entschieden gegen eine soge-nannte Flatrate, die in allen Mitgliedstaaten gleich ist.Dafür sind die Kaufkraftunterschiede noch zu groß, wo-durch es zu Wettbewerbsverzerrungen käme.Mit der zweiten Säule der GAP sind besondere, da-rüber hinausgehende gewünschte Leistungen zu beglei-ten, um eine flächendeckende Landwirtschaft und pros-perierende ländliche Räume zu erhalten und weiterefreiwillige Umweltmaßnahmen zu unterstützen.Die europäische Landwirtschaft ist seit der GAP-Re-form 2003 eigentlich auf einem guten Wege. Sie mussjetzt nicht wieder neu erfunden, sondern lediglich wei-terentwickelt und optimiert werden. Sie wissen: Nichtsist so gut, als dass man es nicht noch verbessern könnte.Nehmen wir das von Kommissar Ciolos immer wiedereingeforderte Greening der GAP. Das unterstützen wir,solange anerkannt wird, dass unsere heimische Land-wirtschaft schon weiter ist als andere. Wir in Deutsch-land haben zum Beispiel bereits Sachkundenachweise inallen Produktionssparten, die uns zu nachhaltigem Wirt-schaften gemäß guter fachlicher Praxis befähigen.
Wir haben auf die Flächenprämie umgestellt. In keinemanderen EU-Mitgliedstaat werden Ackerland und Grün-land völlig gleich behandelt. Schätzungsweise die Hälfteder deutschen landwirtschaftlichen Fläche unterliegt be-
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Dr. Edmund Peter Geisen
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reits jetzt einem Greening. Wir in Deutschland habenschon heute die geringsten Emissionen zum Beispiel proKilogramm Milch EU-weit. Ich sage Ihnen: Die deut-sche Landwirtschaft ist gelebtes Greening.
Ideologisierung und Emotionalisierung der landwirt-schaftlichen Produktion führen ganz sicher nicht zu bes-seren Produkten, eher zur Verblendung der Verbraucher.Stattdessen wollen wir die europäische Landwirtschaftzukunftsfest machen, indem wir die Chance zu einemgrünen Wachstum ermöglichen – nachhaltig, effizient,qualitativ hochwertig. Die heimische Landwirtschaft istauf einem guten Weg. Sie kann sich der Unterstützungder FDP-Fraktion auch künftig sicher sein.Uns allen möchte ich noch Folgendes empfehlen: Wirsollten uns nicht immer darüber beschweren, dass dieRosen Dornen tragen, sondern wir sollten uns auch ein-mal darüber freuen, dass die Dornen Rosen tragen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Steffen Bockhahn für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Wir alle kennen den Wert der Land-wirtschaft für unser Land: Ohne gute Landwirtschaft ha-ben wir alle nichts Gutes zu essen.Wir sprechen heute darüber, wie die gemeinsame eu-ropäische Planung, die Förderpolitik für die Landwirt-schaft aussehen soll. Wir sprechen über den einzigenPolitikbereich, in dem es eine wirkliche Harmonisierungder Politik in ganz Europa gibt. Angesichts dessen,meine lieben Kolleginnen und Kollegen, muss ich miteiniger Überraschung feststellen, dass es der Koalitionscheinbar nur darum geht, deutsche Interessen durchzu-setzen, anstatt über eine gemeinsame europäische Agrar-politik zu sprechen. Das finde ich ein bisschen schwach.
Klar ist wohl, dass wir die Förderung der Landwirt-schaft auch über das Jahr 2013 hinaus brauchen, undzwar auch und gerade durch Europa und mit Mitteln ausdem europäischen Haushalt.Die Frage ist aber: Welche Landwirtschaft wollen wirdenn fördern? Wir, die Linke, wollen eine Landwirt-schaft, die gesunde Produkte aus gesunder Natur vonMenschen erzeugt, die gute Löhne und gute Arbeitsbe-dingungen haben.
Das ist kein Wolkenkuckucksheim, sondern das ist realmöglich. Das bedeutet für uns, dass wir landwirtschaftli-che Betriebe fördern wollen, die in der Hand der Land-wirte und nicht in der Hand von großen Kapitalgesell-schaften oder von Menschen sind, die Landwirtschaftnur als Hobby betreiben, aber damit kein echtes Produk-tionsinteresse verfolgen. Wir wissen, dass gerade Pro-duktionsgenossenschaften am verantwortungsvollstenmit den Böden und mit der Natur umgehen und dass siesich am verantwortungsvollsten darum bemühen, tat-sächlich gute Produkte zu erzeugen.
Gerade deswegen wollen wir diese Produktionsgenos-senschaften fördern.Wir wollen aber große Agrarunternehmen, die in Pro-duktionsgenossenschaften organisiert sind, und den öko-logischen Landbau nicht gegeneinander ausspielen. Wirglauben, dass beides geht und dass beides nebeneinanderexistieren kann und muss. Das heißt, dass wir schon des-wegen jeden Versuch kategorisch ablehnen werden, dieZahlungen von der Größe der bewirtschaftenden Flächeabhängig zu machen – Stichwort „Degression“ oder„Kappung“. Das würde gerade ostdeutsche Landwirt-schaftsbetriebe diskriminieren und ist in der Sache auchunbegründet.
Wir wollen – das ist ganz klar – die Landwirtschaftweiter unterstützen; denn flächendeckende, gute Land-bewirtschaftung ist nicht selbstverständlich. Die Kultur-landschaft zu erhalten, ist eine wichtige Aufgabe, um diesich gerade die Bäuerinnen und Bauern in Deutschlandverdient machen. Dabei müssen wir sie weiterhin unter-stützen. Wir brauchen eine gute Landwirtschaft, umauch die ländlichen Räume zu erhalten und lebenswertzu halten.
Die Linke schlägt Ihnen deswegen in ihrem Konzeptvor, die Fördermittel für die Landwirtschaft künftig ziel-genauer an soziale und ökologische Leistungen zu bin-den. „Soziale Bindung“ heißt, die Zahl der Arbeitsplätzezu berücksichtigen. Das würde tierhaltenden Betriebenzugutekommen.Selbstverständlich muss die Arbeit existenzsicherndund, wo vorhanden, nach dem nationalen Mindestlohnbezahlt werden. Das will auch die EU-Kommission, mitder wir uns an der Stelle sehr einig sind. In Deutschlandsind wir aber die einzige Partei, die eine solche Bindungwill.
Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, die Umweltpoli-tik weiter auf die Förderprogramme für die ländlichenRäume zu beschränken. Es muss Anliegen und Verant-wortung aller Betriebe sein, die biologische Vielfalt aufund neben dem Acker tatsächlich zu erhalten und einen
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Steffen Bockhahn
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Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, zur Ressourcen-schonung beizutragen und die Gewässer reinzuhalten.Das alles sind Aufgaben, die für die europäische Land-wirtschaftspolitik insgesamt gelten sollten.Wir haben an dieser Stelle die Chance, mit deutschemKnow-how deutsche Unternehmen zu fördern und da-rüber hinaus gute Standards in ganz Europa zu verankernund damit eine wirkliche gemeinsame europäischeAgrarpolitik zu ermöglichen.
Die bisher bekannten Vorstellungen der EU-Kommis-sion – dies habe ich bereits kurz angesprochen – kom-men unseren Vorstellungen schon sehr stark entgegen.Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher forderneine Debatte über die Neuausrichtung der Agrarpolitik.Ich denke – das muss man klar sagen –, dass auch beiden Landwirten ein Umdenken erforderlich ist. Es gibtein großes Bedürfnis, einiges zu ändern; nicht alles, abereiniges. Das sollte man wahrnehmen und ernst nehmenund sich dann auch mit den Konsequenzen auseinander-setzen.Ich danke Ihnen.
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Marlene Mortler für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu-
nächst zum Kollegen Priesmeier: Ihre Rede kam mir
ziemlich konzeptlos vor.
Dass gerade Sie der Ministerin Vorwürfe machen, das
trifft den Nagel wirklich nicht auf den Kopf. Was glau-
ben Sie, wozu unsere Ministerin Aigner pausenlos und
in jedem Mitgliedstaat unterwegs ist? Um ihr überzeu-
gendes Konzept einer gemeinsamen Agrarpolitik vorzu-
stellen!
Wer die Genossenschaften vor allem im Agrarbereich
an dieser Stelle schlechtredet, der soll mir erst einmal ein
besseres Modell nennen. Wir sollten froh sein, dass wir
es haben.
Nun zum Antrag der Grünen – ich kann nicht alles
aufgreifen –: Es ist schon eine Ungeheuerlichkeit, wenn
man lesen muss: „Die Landwirtschaft darf Biodiversität
nicht länger zerstören …“. Man muss lesen, dass die
Landwirtschaft Teil des Problems ist. Selbst wenn wir
Menschen allein auf dieser Welt wären, wären wir Kon-
kurrenten zur Biosphäre.
Wir können in unserem Land und weltweit auf vieles
verzichten, aber nicht auf Nahrungsmittelerzeugung,
weil sie die Grundlage unserer Menschheit ist.
Deshalb ist die Landwirtschaft nicht das Problem, son-
dern sie ist Teil der Lösung.
Selbst das Europäische Parlament bestätigte letzte Wo-
che die strategische Bedeutung des EU-Agrarsektors für
die Welternährung.
Zu Ihnen, Kollege Ostendorff, ganz persönlich: Auch
ich verarbeite in meinem Betrieb Bioprodukte; aber ich
habe einen anderen Anspruch und einen anderen Ansatz.
Ich bin nämlich Vertreterin einer Volkspartei, der Union,
und ich habe das Ganze im Blick. Das ist mein An-
spruch.
Ich betreibe Politik nicht nur für eine Klientel, für
5 Prozent der Bauern, sondern für alle Bauern. Alle Bau-
ern, die nach bestem Wissen und Gewissen wirtschaften,
das heißt, sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens be-
wegen, verdienen unsere Anerkennung.
Wissen Sie, was Sie für mich sind? Sie sind ein Nestbe-
schmutzer; ich möchte das ganz deutlich sagen.
Was Sie hier betreiben, ist Kulturkampf. Wir sollten end-
lich zur Kenntnis nehmen, dass wir alle in einem Boot
sitzen.
Übrigens – nehmen Sie es nicht persönlich –, auch
Ökoschweine müssen am Ende ihres Nutztierlebens ge-
schlachtet werden.
Frau Kollegin Mortler, gestatten Sie eine Zwischen-frage des Kollegen Ostendorff?
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Nein.
Das besprechen wir hinterher.
Selbst der größte Bioland-Geflügelbetrieb – auch das
gehört zur Wahrheit – hat immerhin 300 000 Nutztiere
im Stall.
Wenn wir über Landwirtschaft und gemeinsame Agrar-
politik reden, reden wir eben über Nutztierhaltung und
nicht über Kuscheltierhaltung.
Wir teilen an dieser Stelle selbstverständlich die drei
strategischen Ziele von EU-Kommissar Ciolos: Ernäh-
rungssicherheit, hochwertige und sichere Nahrungsmit-
tel sowie Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im
ländlichen Raum erhalten. Wir sagen aber: Dieser An-
satz muss erweitert werden. Wir brauchen in Zukunft
mehr denn je eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft.
Wir teilen mit Ihnen den Ansatz einer nachhaltigen
Landwirtschaft. Vor allem geht es uns um eine flächen-
deckende Landwirtschaft.
Wir wollen eine Landwirtschaft, die modern, innovativ
ausgerichtet ist. Sie muss im Einklang mit Wissenschaft
und Forschung stehen; ihr sollten die neuesten Erkennt-
nisse zugrunde liegen. Sie muss darauf ausgerichtet sein,
Ressourcen zu sparen und so zur Optimierung beizutra-
gen.
Es ist eben keine Frage von Klein oder Groß, sondern es
ist eine Frage von Können und Wissen.
In meinem alten Kuhstall zu Hause – er war wirklich
alt – hatten die Tiere fast keinen Platz. Er war dunkel
und miefig, und ich musste das Futter mit der Gabel
quasi über die Kühe hinüber schmeißen, weil so wenig
Platz war. Heute haben wir Ställe – und Möglichkeiten –,
in die ich gerne gehe und sage: Hallo, wie schön ist die
Welt auch für unsere Tiere.
Ich denke, wir haben ein gemeinsames Thema und
auch ein gemeinsames Anliegen: Das ist der Erhalt der
Gebietskulisse für benachteiligte Gebiete. Wenn Sie uns
wirklich helfen wollen, dann treten Sie mit dafür ein.
Wir wissen, was die Kommission hier vorhat. Wir wissen
aber auch, dass es hier maximalen Aufwand und am Ende
maximalen Ärger – zumindest aus deutscher Sicht – ge-
ben wird.
Noch eines: Nehmen Sie – auch auf der linken Seite
dieses Hauses – zur Kenntnis, dass mein Bundesland
Bayern seit vielen Jahren über 40 Prozent der Direktzah-
lungen, also der Zahlungen aus der ersten Säule, ins
Grünland, in den Bereich Leguminosen und in den Be-
reich extensive Bewirtschaftungsformen steckt. Das
heißt, wir haben mit der Ökologisierung längst begon-
nen. Wir sind den anderen Mitgliedstaaten viele Schritte
voraus, und wir wollen auch weiterhin Vorbild sein. Wir
lassen es aber nicht zu, dass Sie am Fundament unserer
bewährten Umweltprogramme rütteln, was die Folge Ih-
rer Ideen und Konzepte wäre.
Es ist und bleibt aus meiner Sicht unseriös, wenn Sie
behaupten, wir, Europa, würden die Märkte der Entwick-
lungsländer zerstören und zuschütten. Sie wissen, wir
sind ein Hochlohnland, und wir liefern in der Regel in
Hochlohnländer. Sie kennen natürlich die Fakten genau,
aber Sie unterstreichen auch mit diesen Falschaussagen
Ihr ideologisches Weltbild. Wirklich schade, meine Da-
men und Herren!
Ich komme zum Schluss. Unsere Landwirte brauchen
Planungssicherheit. Sie sind darauf angewiesen, dass das
Geldvolumen bekannt ist, bevor Gelder verteilt werden.
Wir setzen uns für sichere heimische Lebensmittel, für
eine gepflegte, schöne, flächendeckende Kulturland-
schaft und auch dafür ein, dass Landwirtschaft in Zu-
kunft ihren Beitrag zur Energieversorgung und zum Kli-
maschutz leistet.
Frau Kollegin.
Das heißt, wir kämpfen für eine starke europäische
Agrarpolitik auf einem soliden finanziellen Fundament.
Für diese starke europäische Agrarpolitik, Herr Präsi-
dent, wollen wir uns alle hier in dieser Koalition auch in
Zukunft gemeinsam einsetzen.
Danke schön.
Die Bereitschaft des Präsidenten, an dieser starkeneuropäischen Landwirtschaftspolitik mitzuwirken,kommt auch in den Zuschlägen zu den Redezeiten ein-deutig und eindrucksvoll zum Ausdruck – auch noch inder Möglichkeit, die der Kollege Ostendorff jetzt nochfür eine Kurzintervention erhält.
Schönen Dank, Herr Präsident! – Nach diesem Feuer-werk an Angriffen auf mich lassen Sie mich einige we-nige Anmerkungen machen. Ich glaube, dass bisher füralle hier in diesem Haus unbestritten war, dass wir biszum Anfang des 20. Jahrhunderts im mitteleuropäischenRaum die höchste Artendichte hatten. Das war, glaube
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Friedrich Ostendorff
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ich, der bisherige Erkenntnisstand – auch in Bayern undin Franken, Frau Mortler.Ich glaube auch, dass wir nach dem bisherigen Er-kenntnisstand in der Agrarbiologie, im Naturschutz usw.sagen können, dass durch die Intensivierung der Land-wirtschaft Druck auf die Artenvielfalt entstand.
Ich denke, das ist der gemeinsam getragene Erkenntnis-stand.Wie Sie zu der Aussage kommen, dass der Menschdurch sein Erscheinen auf der Erde die Artenvielfaltnach unten gedrückt hat, entzieht sich meiner Kenntnisund, ich glaube, auch der Erkenntnis der meisten Fach-leute hier im Raum. Ich denke, dass die bäuerliche Be-wirtschaftung – eine bestimmte Bewirtschaftungsform –die höchste Artendichte geschaffen hat. Das ist das, wasbisher an Allgemeinwissen zur Verfügung steht. WennSie da widersprechen wollen, tun Sie es bitte energischoder schweigen Sie bei diesem Punkt.
Ich glaube, dass wir auch überlegen sollten, ob esklug ist, zu versuchen, uns bzw. die Landwirtschaft vonder übrigen Gesellschaft abzugrenzen. Ich werbe aus-drücklich dafür, dass wir versuchen, mit den 20 000 De-monstranten vom Samstag einen konstruktiven Dialogzu führen. Ich glaube, dass das für die Zukunft der Land-wirtschaft wichtig ist. Ich würde mich auch freuen, eineAussage Ihrerseits darüber zu erhalten, wie Sie diese Be-wegungen bewerten. Wenn Sie das aufrechterhalten,dann bin ich stolz auf die Titulierung „Nestbeschmut-zer“. Dann sage ich schönen Dank an Sie.
Zur Erwiderung Frau Kollegin Mortler.
Herr Kollege, ich werde Ihre verschiedenen Fragen
nicht in einem scharfen Ton, sondern in meinem Ton be-
antworten. Zur letzten Frage: Nein, ich war bei dieser
Bewegung bzw. dieser Demo nicht dabei. Das macht
deutlich, dass ich wenig davon halte. Denn ich stehe hin-
ter der Mehrheit meiner Bäuerinnen und Bauern. Was
hier betrieben worden ist, war in hohem Maße Nestbe-
schmutzung und Verdummung der Leute. Wenn Sie
mehr darüber wissen wollen – damit beantwortet sich
schon die nächste Frage; Sie haben mir einfach nicht zu-
gehört –, dann kommen Sie zu mir in die Nachhilfe-
stunde.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4542 und 17/2479 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entschädigungsleistungen für Opfer der
Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in
der Zeit des Nationalsozialismus
– Drucksache 17/4543 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Antrag derFraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen fordert der Deutsche Bundestag die Bundes-regierung auf, die laufenden monatlichen Leistungen fürZwangssterilisierte und Überlebende von „Euthanasie“-Maßnahmen nach den AKG-Härterichtlinien ab dem1. Januar 2011 von monatlich 120 auf monatlich291 Euro zu erhöhen.Es ist kein Zufall, dass wir diesen Antrag heute, am27. Januar 2011, in den Deutschen Bundestag einbrin-gen. Denn gemeinsam mit den europäischen Juden, denSinti und Roma und anderen waren auch die auf derGrundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkrankenNachwuchses vom 14. Juli 1933 Zwangssterilisierten so-wie die Betroffenen von „Euthanasie“-Maßnahmen Op-fer nationalsozialistischen Unrechts.Das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkrankenNachwuchses wurde am 14. Juli 1933, kurz nach derMachtergreifung der Nationalsozialisten, auf der Grund-lage des seit März 1933 geltenden Ermächtigungsgeset-zes von der Reichsregierung allein in Kraft gesetzt undbetraf die Sterilisation geistig Erkrankter und Schwerbe-hinderter, auch gegen deren Willen. Das Gesetz beruhtenicht auf einem vorherigen preußischen Gesetzentwurf;denn ein solcher hatte als unabdingbare Voraussetzungnoch die Einwilligung des zu Sterilisierenden gefordert.Die Zielsetzung des Gesetzes war rassistisch, wie sichaus einer Ausführungsverordnung eindeutig ergibt:Ziel der dem deutschen Volk artgemäßen Erb- undRassenpflege ist eine ausreichend große Zahl erb-gesunder, für das deutsche Volk rassisch wertvoller,kinderreicher Familien zu allen Zeiten. Der Zucht-gedanke ist Kerngehalt des Rassegedankens.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9819
Manfred Kolbe
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Aufgrund dieses Gesetzes wurden im Dritten Reichbis 1945 circa 350 000 Menschen zwangssterilisiert, vondenen etwa 6 000 Frauen und 600 Männer an den Folgenstarben. Über 200 000 Menschen wurden im Rahmen so-genannter „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet.Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai1949 traten Rechtsnormen außer Kraft, die dem Grund-gesetz widersprachen, so nach heutiger Rechtsauffas-sung auch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-wuchses, insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 2Abs. 2 des Grundgesetzes. Die wenigen als Bundesrechtfortgeltenden Regelungen über Unfruchtbarmachungund Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung bei Le-bens- und Gesundheitsgefahr sind endgültig durch Art. 8Nr. 1 des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechtsvom 18. Juni 1974 aufgehoben worden.Der Deutsche Bundestag hat außerdem in seinen Ent-schließungen vom 5. Mai 1988 und 29. Juni 1994 fest-gestellt, dass die auf der Grundlage des Gesetzes zurVerhütung erbkranken Nachwuchses durchgeführtenZwangssterilisationen nationalsozialistisches Unrechtwaren. Er ächtete in seinen Entschließungen diese Maß-nahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialisti-schen Auffassung vom lebensunwerten Leben. DerDeutsche Bundestag bekräftigte dies zuletzt in seinerEntschließung vom 24. Mai 2007 erneut und bezeugteden Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“sowie ihren Angehörigen seine Achtung und sein Mitge-fühl.Den Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthana-sie“ werden ab 1980 durch einen Erlass des Bundes-finanzministeriums und ab 1988 nach den Richtliniender Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer vonnationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmendes Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes – AKG-Härte-richtlinien – Leistungen gewährt. Nach den jetzt gültigenRichtlinien können Opfer einmalige Beihilfen in Höhevon 2 556 Euro, damals 5 000 DM, erhalten. Zusätzlichkönnen laufende monatliche Leistungen in Höhe von120 Euro gezahlt werden. Für Opfer der Zwangssterili-sierung und „Euthanasie“ kommen im Falle einer Not-lage ergänzende laufende Leistungen in Betracht.Die vier den Antrag einbringenden Fraktionen haltenunter Bezugnahme auf die Ächtung des Gesetzes zurVerhütung erbkranken Nachwuchses und in Anbetrachtder lebenslangen, schweren Beeinträchtigungen eine Er-höhung der monatlichen Leistungen auf 291 Euro abdem 1. Januar 2011 für erforderlich, wohlwissend, dassnatürlich auch mit diesem erhöhten Betrag das Unrechtnicht wiedergutgemacht werden kann. Der Betrag orien-tiert sich an den Leistungen für jüdische Opfer des Na-tionalsozialismus, die Haft in einem Konzentrationslageroder Getto erlitten und keine Leistungen aus dem Bun-desentschädigungsgesetz erhalten haben. Am ZweitenGesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgeset-zes als Schlussgesetz halten wir fest.Abschließend möchte ich auch namens meiner Frak-tion den Opfern, von denen nur noch wenige leben, nocheinmal unser Mitgefühl und unsere besondere Solidaritätversichern. In diesem Sinne schließe ich mit einem Zitatvon Valentin Hennig, einem engagierten Vertreter für dieRechte der Opfer von Zwangssterilisation in den 60er-und 70er-Jahren: Unrecht kann Recht nicht verdrängen.Vielen Dank.
Das Wort erhält der Kollege Joachim Poß für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirlegen heute diesen von vier Fraktionen getragenen An-trag vor, um, wie Kollege Kolbe erwähnt hat, zwei Grup-pen von Opfern des Nationalsozialismus, den Zwangs-sterilisierten und den „Euthanasie“-Opfern, unserenRespekt zu erweisen und sie auch finanziell etwasbesserzustellen.
Dabei wissen wir natürlich, dass nichts deren Leid auf-wiegt. Herr Kolbe hat den Sachverhalt, der auch im An-trag beschrieben wird, erläutert.Auch dieser Antrag zeigt indes, dass es jenseits desvon uns allen betriebenen politischen Kampfes gegen-einander auch wichtige Bereiche unseres Amtes alsParlamentarier und Volksvertreter gibt, in denen wir– zumindest mit großer Mehrheit – einmütig zusammen-stehen. Auch das kennzeichnet den bundesrepublikani-schen Parlamentarismus, dass es immer wieder Situatio-nen und Entscheidungen auch jenseits historischerWeichenstellungen gab und gibt, in denen wir einig undgeschlossen auftreten.Ohne unsere heutige Debatte und das Anliegen unse-res Antrags überhöhen zu wollen, bemerke ich nurgrundsätzlich: Ohne Probleme und mit Engagement so-wie Überzeugung aller beteiligten Seiten wurde der frak-tionsübergreifende Antrag einvernehmlich formuliert. Erliegt jetzt dem Hohen Hause zur Abstimmung vor.Es passt, dass wir ihn heute, am Tag des Gedenkensan die Opfer des Nationalsozialismus, beraten. Die Op-fergruppen erwarten zu Recht unsere Achtung und unserMitgefühl. Sie können das auch einfordern. Das ist si-cherlich auch eine Frage des Gerechtigkeitsempfindens.Wir sind fraktionsübergreifend zu der Auffassung ge-langt, dass sich das auch in einer Anpassung derEntschädigungsleistungen niederschlagen sollte. Die„Euthanasie“-Opfer haben bisher keine monatlichen lau-fenden Leistungen bekommen. Das Parlament zeigt da-mit tätiges und aktiv gestaltendes Gedenken mit Bedeu-tung für das Alltagsleben. Es handelt sich um Menschenmit lebenslangen schweren Beeinträchtigungen, derenLos wenigstens ein bisschen erleichtert werden kann.Unser Anliegen – da sind wir sicher – wird auchdurch die Bundesregierung geteilt werden. Wir stehenalle in der Verpflichtung, darauf hinzuwirken, die überle-
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9820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Joachim Poß
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benden Opfer des Naziregimes und des Holocausts ge-recht und ihrem Schicksal angemessen zu behandeln, so-weit das überhaupt möglich ist.Nicht nur wir auf sozialdemokratischer Seite werdendaran beständig und mit Nachdruck von Hans-JochenVogel erinnert, der seit fast 20 Jahren gegen Vergessenund für Demokratie mit der ihm eigenen Vehemenz undKonsequenz eintritt. Auch für die Initiierung des heutezu beratenden Antrags war Hans-Jochen Vogel maßgeb-lich mitverantwortlich.Wir sollten die heutige Beratung nutzen, um uns zuvergegenwärtigen, welch eine wichtige und großartigeInitiative der von Hans-Jochen Vogel und anderen über-parteilich gegründete Verein „Gegen Vergessen – FürDemokratie“ ist. Seinerzeit waren Hanna-RenateLaurien von der CDU, die damals in Berlin war – vorherwar sie in Rheinland-Pfalz –, und andere dabei. Er wirdpolitisch und gesellschaftlich breit getragen und solltemit Blick auf die Vergangenheit sogar noch stärker ge-tragen werden.Großer Dank gebührt meinem Kollegen MichaelMeister, der als Vertreter der Regierungskoalition diewesentlichen Recherchen und Abstimmungsarbeiten fürden Antrag geleistet hat. Er hat sich damit sehr für dasgemeinsame Anliegen des Gedenkens an die Opfer desNationalsozialismus eingesetzt.Für die Fraktion der FDP sei dem Kollegen VolkerWissing, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen demKollegen Volker Beck gedankt, der sich auch in der Ver-gangenheit schon mit diesen Themen engagiert aus-einandergesetzt hat.
Das war die Voraussetzung, damit wir gemeinsam diesenAntrag dem Parlament zur Abstimmung vorlegen kön-nen. Allen, die daran mitgewirkt haben, gilt mein herzli-cher Dank.Vielen Dank.
Die Kollegin Gabriele Molitor ist nun die nächste
Rednerin für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Auch heute fällt es schwer, die richtigen Wortezu finden, wenn wir uns mit den Gewalttaten des Nazi-regimes befassen. So unfassbar und menschenverach-tend sind die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozia-lismus gewesen.In der sehr bewegenden Feierstunde heute Morgenhaben wir gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismusgedacht. Heute Mittag fand eine Gedenkfeier des Beauf-tragten der Bundesregierung für die Belange von Men-schen mit Behinderung in der Tiergartenstraße 4 statt.An diesem Ort verhängte das Naziregime den „Euthana-sie“-Beschluss, der die systematische Massentötung psy-chisch kranker und geistig behinderter Menschen inGang setzte. Von 1939 bis 1945 wurden mehr als200 000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Lebenwurde als „lebensunwert“ bezeichnet. Ihre Ermordunghieß „Euthanasie“. Allein dieser Begriff – „guter Tod“ –zeigt, dass die damaligen Machthaber skrupellose Mör-der waren, die kein Unrechtsbewusstsein hatten.Schon 1933 verabschiedete die Reichsregierung einGesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Einezwangsweise durchgeführte Sterilisation sollte die Wei-tergabe von Erbkrankheiten auf die nächste Generationverhindern. Unter die willkürliche Definition „erbkrank“fielen Menschen mit körperlicher und geistiger Behinde-rung, aber auch sogenannte Asoziale, Hilfsschüler, Für-sorgezöglinge, Tuberkulosekranke und Alkoholabhän-gige. Mehr als 350 000 Frauen und Männer mussten sicheinem erniedrigenden Eingriff unterziehen. Ihnen wurdedas Recht abgesprochen, zu heiraten, weiterführendeSchulen zu besuchen oder einen Beruf im Bildungs- oderSozialbereich zu ergreifen.Warum gehe ich so ausführlich auf diese Hinter-gründe ein? Ich tue dies, weil wir die Erinnerung andiese furchtbaren Verbrechen wachhalten müssen. So et-was darf sich niemals wiederholen.Heute reden wir über einen fraktionsübergreifendenAntrag, der höhere Entschädigungsleistungen für dieMenschen fordert, die der Zwangssterilisation und der„Euthanasie“ in der NS-Zeit zum Opfer fielen. In den80er-Jahren und erneut 2007 hat der Bundestag bekräf-tigt, dass das für die „Euthanasie“-Morde wegbereitendeGesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von1933 ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz war. Seit1980 bzw. 1988 werden Entschädigungsleistungen fürOpfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ über dasAllgemeine Kriegsfolgengesetz geleistet.Ich bin sehr froh, dass wir gerade heute, am Gedenk-tag für die Opfer des Nationalsozialismus, über diesenfraktionsübergreifenden Antrag beraten. Die Entschädi-gungsleistung für die Opfer der Zwangssterilisation zuerhöhen, ist richtig. Wir wissen, dass die seelischen Fol-gen der Misshandlungen und das zugefügte Leid nichtmit Geld aufzuwiegen sind. Viel wichtiger ist es, denMenschen zu zeigen, dass wir ihnen beistehen und ausder Geschichte lernen. Für Bürger wie Politiker heißtdas: Wir müssen alles tun, um Intoleranz, Ausgrenzungund Benachteiligung zu verhindern.In den vergangenen 60 Jahren hat sich zwar viel ge-tan, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Erst seit den90er-Jahren denken wir in Richtung Inklusion. Nicht derbehinderte Mensch hat sich auf die Bedingungen der Ge-sellschaft einzustellen, sondern die Gesellschaft hat sol-che Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Behinde-rung nicht als Beeinträchtigung verstanden wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9821
Gabriele Molitor
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1994 wurde in Art. 3 des Grundgesetzes die Formu-lierung aufgenommen:Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-teiligt werden.2002 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft.In der UN-Behindertenrechtskonvention sind die Rechtevon Menschen mit Behinderungen festgeschrieben. Siesind geltendes Menschenrecht. Deutschland hat dieseKonvention 2009 unterschrieben.„Euthanasie“ war und bleibt ein Verbrechen gegen dieMenschlichkeit und darf nie wieder passieren. Orte derErinnerung, Mahnmale, Gedenkstätten und Ausstellun-gen ermahnen uns, das nicht zu vergessen. Es muss füruns eine immerwährende Aufgabe sein, mit jungen Men-schen über die NS-Zeit zu sprechen, damit die schlimms-ten Verbrechen der Menschheitsgeschichte nicht in Ver-gessenheit geraten.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die so-
genannte Euthanasie war ab 1934 eines der ersten furcht-
baren Vernichtungsprogramme der Nazis. Hunderttau-
sende Menschen wurden zwangsweise sterilisiert. Viele
starben dabei. Über 200 000 Menschen wurden im Rah-
men der „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet. Vernich-
tung angeblich lebensunwerten Lebens – schon dieser
Begriff ist so ungeheuerlich, dass einem beinahe die
Sprache fehlt.
Natürlich stimmt die Linke heute dafür, die Opfer-
rente für Zwangssterilisierte von 120 auf 291 Euro zu er-
höhen und diese Regelung auf die Opfer von „Euthana-
sie“-Maßnahmen auszudehnen. Das ist das Mindeste,
was wir für die Überlebenden bzw. Angehörigen tun
können.
Es hat viel zu lange gedauert, bis das Erbgesundheits-
gesetz hierzulande als NS-Unrecht erkannt worden ist.
Die Opfer wurden nicht als NS-Verfolgte anerkannt, und
sie erhielten – dies ist übrigens bis heute so – keine Leis-
tungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, weil die-
ses Gesetz eine Frist enthielt, die längst abgelaufen ist.
Erst seit Ende der 90er-Jahre erhalten die Betroffenen
kleine Opferrenten. Für SS-Mitglieder und Nazibeamte
wurden solche Befristungen im Übrigen nie eingeführt.
Auch das ist ein Unrecht, das benannt werden muss.
Die Vorstellung, es gebe Menschen, die ein größeres
Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben als an-
dere, ist auch heute leider nicht überwunden. Ich will nur
daran erinnern, dass der CDU-Abgeordnete Philipp
Mißfelder hier vor einigen Jahren die Auffassung vertre-
ten hat, dass alten Menschen keine künstlichen Hüftge-
lenke mehr zu gewähren seien. Gesundheitspolitik nach
dem Geldbeutel ist leider auch die Linie dieser Bundes-
regierung. Ausreichende medizinische Versorgung nur
noch für jene, die über entsprechende Einkommen verfü-
gen und die ihre Versorgung privat finanzieren können –
das ist weit entfernt von dem, wozu die NS-Verbrechen
mahnen, nämlich zu einer Gesundheitsversorgung, die
sich eben nicht an Nützlichkeit, sondern an Menschlich-
keit orientiert.
Es ist sehr bedauerlich – ich finde es gerade am heuti-
gen Gedenktag sehr beschämend –, dass alle Fraktionen
dieses Hauses die Linke bei der Einreichung dieses An-
trags wiederum ausgegrenzt haben. Gerade die Linke hat
sich in den vergangenen Jahren immer auf die Seite der
NS-Opfer gestellt, und viele meiner Kolleginnen und
Kollegen haben frühzeitig und seit Jahren immer wieder
– ich selber übrigens auch – für die Entschädigung der
Zwangsarbeiter, aber auch anderer Opfer gekämpft.
Gerade deswegen wäre es an dem heutigen Tag sinnvoll
gewesen, ein Zeichen des gesamten Hauses zu setzen
und, liebe Kollegin, eben nicht mit Ausgrenzung zu ar-
beiten. Sie haben es ja eben selbst moniert.
Ich will zum Schluss sehr deutlich machen, dass es
immer noch viele NS-Opfer gibt, die bis heute nicht ent-
schädigt worden sind. Ich will an die Massaker der SS
und der Wehrmacht, beispielsweise in Distomo in Grie-
chenland, erinnern. Auch die italienischen Militärinter-
nierten, die Zwangsarbeit für die Nazis und die Rüstungs-
industrie leisten mussten, sind bis heute nicht entschädigt
worden.
Ich denke, es ist eine zynische Missachtung, dass man
aufgrund des häufig öffentlichen Drucks immer wieder
Gruppen herausgegriffen und in Entschädigungsrechte
einbezogen, aber andere immer wieder ausgegrenzt hat.
Deswegen sage ich für meine Fraktion: Hören Sie auf,
die Opfergruppen zu spalten, und geben Sie den Opfern
das, was für ihre Anerkennung und Entschädigung not-
wendig ist. Dazu gehört eben nicht Ausgrenzung. Alle
müssen einbezogen werden.
Danke schön.
Nun hat das Wort der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfangsgesagt: Auch ich finde es unnötig und albern, dass mandie Linke bei so etwas außen vor lässt. Aber ich muss
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9822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Volker Beck
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auch sagen: Beim Mittelteil Ihrer Rede haben Sie sichselbst ein bisschen aus dem Zentrum der Debatte kata-pultiert.
Mit dem heutigen Beschluss des Deutschen Bundes-tages gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt bei derAnerkennung und Entschädigung der Zwangssterilisier-ten und der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wir ha-ben, auch unter Rot-Grün, lange darum gerungen, dieLeistungen sukzessive zu verbessern. Ich bin froh, dasswir es heute schaffen, die außergesetzlichen Leistungenauf das Niveau der Leistungen anzuheben, die jüdischeOpfer, die in Konzentrationslagern waren oder 18 Monatein einem Ghetto gelebt haben, bekommen können. Es sindsehr geringe Leistungen – das wollen wir uns auch einge-stehen –, aber ich bin froh, dass das heute gelingt.Gleichwohl bleiben wir den Opfern des „Euthanasie“-Programms und den Zwangssterilisierten eines nach wievor schuldig: Damit meine ich nicht Geld, sondern dieAussage, dass sie rassisch Verfolgte sind. Die Nichtaner-kennung der rassischen Verfolgung für die der Opfer desErbgesundheitsgesetzes ist die Rechtsgrundlage gewe-sen, warum sie nicht Opfer im Sinne des Bundesentschä-digungsgesetzes waren. Nach dem Bundesentschädi-gungsgesetz können seit 1969 keine neuen Anträge mehrgestellt werden. Deshalb wäre es eigentlich ein Leichtes,dass der Deutsche Bundestag hier eine klare Aussagetrifft. Das ist in dem Antrag leider noch nicht gelungen;das kann man allerdings auch ohne Kostenrelevanz zueinem späteren Zeitpunkt nachholen.
Was die Geschichte angeht, so ist das Erbgesundheits-gesetz, das unmittelbar nach der Machtergreifung 1933in Kraft gesetzt wurde, das erste Rassegesetz der Natio-nalsozialisten gewesen. Ärzte waren nun verpflichtet,Menschen zu ihrer Sterilisation zu melden, und sie tatendies mit unterschiedlich viel Eifer. Mehr als 5 000 Men-schen starben an diesen Eingriffen. Andere suchten denFreitod. Über 400 000 Menschen wurden zwangsweiseunfruchtbar gemacht. 90 Prozent von ihnen warenFrauen.Einer der eifrigen Ärzte hat mit der Nichtanerken-nung dieser Opfergruppe sehr viel zu tun. Es war derPsychiater Werner Villinger, der als Chefarzt in einerAnstalt in Bethel bei Bielefeld praktizierte. In der Zeitzwischen 1934 und 1936 meldete allein er 2 854 Men-schen zur Zwangssterilisation – 2 854 Menschen, dieheute keine Enkelkinder haben und meist allein ihr rest-liches Leben verbringen müssen, sofern sie noch leben.Ärzte wie Villinger gab es viele, und wie er machtenviele in der jungen Bundesrepublik – auch das gehört zurtraurigen Kontinuität unserer Geschichte dazu – Karriere,statt vor Gericht für ihre Verbrechen zur Verantwortunggezogen zu werden. Ein Skandal! Und ein noch größererSkandal: Als Sachverständiger des Ausschusses desDeutschen Bundestages für Wiedergutmachung wandtesich Werner Villinger damals vehement gegen eine fi-nanzielle Entschädigung seiner Opfer und tat deren Ent-schädigungsbegehren als „Entschädigungsneurose“ ab.Villinger wurde Rektor der Universität Marburg und be-kam das Große Bundesverdienstkreuz.Er war der Ratgeber für unser Haus – auch das gehörtzu unserer Geschichte als Deutscher Bundestag dazu –,und da sind wir dem Falschen gefolgt. Ich finde, wir ha-ben diesbezüglich etwas historisch aufzuarbeiten undwiedergutzumachen. Deshalb appelliere ich an alle Frak-tionen, die den Antrag heute getragen haben, eine wei-tere Initiative auf den Weg zu bringen, um deutlich zusagen, dass wir anerkennen: Die Opfer des „Euthana-sie“-Programms, die Zwangssterilisierten waren rassischVerfolgte, und die frühere Falscheinteilung durch denBundesgerichtshof, durch den Deutschen Bundestag warein historischer Fehler. Insofern hat sich unser Haus ge-genüber diesen Opfern schuldig gemacht.
Zur ganzen Wahrheit gehört übrigens, dass dieseschreckliche Geschichte der Ausgrenzung der Zwangs-sterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten nicht nurein Fehler der Bundesrepublik Deutschland war. Viel-mehr wurden die Zwangssterilisierten auch in der DDR1952 sogar ausdrücklich aus der Liste der NS-Verfolgtengestrichen. Daher konnten sie in der DDR keinen An-spruch auf Entschädigung verwirklichen.Überlebende dieses Unrechts, wie die Geschäftsfüh-rerin der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, kämpfen bisheute um diese Anerkennung. Es leben nur noch wenigeDutzend der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wirsollten mit der klaren Aussage, wie wir zu diesem histo-rischen Sachverhalt stehen, nicht warten, bis die Letztengestorben sind.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter
Aumer für die CDU/CSU-Fraktion.
In der Verblendung, Leben könne lebensunwertsein, wurden in der Zeit des Nationalsozialismus638 Frauen, Männer und Jugendliche von hier ausnach Hartheim bei Linz gebracht und ermordet,mehr als fünfhundert weitere gegen ihren Willensterilisiert. Viele hundert Menschen litten und star-ben in diesem Krankenhaus an den Folgen staatlichverordneter extremer Überbelegung und Mangeler-nährung.Gedenket der Opfer … und derer, die in der Not ge-holfen haben!Sie alle waren Menschen wie wir.Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eine Tafel mit dieser Inschrift wurde im Jahr
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9823
Peter Aumer
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1990 in einem Klinikum in meinem Wahlkreis ange-bracht, im Gedenken an die Transporte aus dieser Klinikim Rahmen des zynisch als „Euthanasie“ bezeichnetenmenschenverachtenden und verbrecherischen Mordpro-gramms und zur Zwangssterilisierung.Dieses Beispiel aus meinem Wahlkreis ist im damali-gen Deutschland sicher nur eines von vielen gewesen.Mit einem auf den 1. September 1939 rückdatierten Er-lass gab Hitler persönlich den schändlichen Auftrag zurTötung allen nicht arbeitsfähigen „lebensunwerten Le-bens“. Für mich stellt sich die Frage: Was kann über-haupt „lebensunwertes Leben“ sein? Kann es so etwasgeben? Leben kann niemals lebensunwert sein. Leben istnicht nur um der Arbeit willen lebenswert. Der großePhilosoph Immanuel Kant drückt es treffend aus:Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deinerPerson, als in der Person eines jeden anderen jeder-zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittelbrauchst.Jedes Leben ist lebenswert. Deswegen ist die Achtungvor dem anderen, die Anerkenntnis seines Rechts, zu exis-tieren, und die Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleich-wertigkeit aller Menschen Fundament eines guten undtragfähigen Miteinanders.
Unser Grundgesetz gibt die richtige Antwort:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-lichen Gewalt.
Herr Kollege Aumer, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Seifert?
Nein. – Diesem Auftrag sind wir alle verpflichtet.
Wir bringen heute, am 27. Januar, am Gedenktag der
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, einen
fraktionsübergreifenden Antrag ein, um die Entschädi-
gungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und
der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu
erhöhen. Wir wissen, dass keine Entschädigung das him-
melschreiende Unrecht, das furchtbare Leid und das
grenzenlose Unheil ausgleichen kann, das die National-
sozialisten bei der Verfolgung ihrer Rassenziele über
Menschen und deren Angehörige gebracht haben.
Es ist richtig und gut, diese Entschädigungsleistungen
zu erhöhen. Es ist richtig und gut, sich an einem Tag wie
heute zu erinnern und Verantwortung zu übernehmen. Es
ist richtig und gut, den Betroffenen zu zeigen: Wir haben
das Schicksal, das ihnen widerfahren ist, nicht verges-
sen. Es ist richtig und gut, zu zeigen, dass solch tiefes
und erschütterndes Unrecht in Deutschland nicht mehr
möglich ist; denn wir haben aus unserer Geschichte ge-
lernt.
Papst Benedikt XVI. hat bei seinem Besuch im Kon-
zentrationslager Auschwitz im Jahr 2006 gesagt:
Das Vergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns
an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dür-
fen und welche wir suchen müssen.
Zukunft braucht Erinnerung.
Bundespräsident Roman Herzog hat bei der Einfüh-
rung des heutigen Gedenktages im Jahr 1996 gesagt:
Wer Unfreiheit und Willkür kennt, der weiß Freiheit
und Recht zu schätzen.
Die Selbstverständlichkeit aber, mit der unser Volk
Freiheit und Recht erleben darf, vermittelt mitunter
zu wenig Gespür für die Gefahren von Willkür und
Unfreiheit.
Es ist unsere Aufgabe, diesem großen Auftrag gerecht
zu werden. Wir müssen mithelfen, die Lebensbedingun-
gen in unserem Land weiter so zu gestalten, dass alle
Menschen in Einigkeit und Recht und Freiheit leben
können. Eingedenk unserer Geschichte und der Verant-
wortung, die daraus resultiert, müssen wir uns in einem
starken Europa gemeinsam für Frieden und Freiheit in
der Welt einsetzen.
Die Inschrift eines anderen Denkmals in meinem
Wahlkreis, das an die Verbrechen der Nationalsozialisten
erinnert, endet mit einem Zitat von Victor Hugo:
Die Vergangenheit nennt sich Hass, die Zukunft
heißt Liebe.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kol-
lege Seifert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Aumersprach gerade sehr salbungsvoll davon, dass wir einan-der achten sollen. Ja, das finde ich auch, Herr Aumerund liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion. Aber Sie alle wissen so gut wie ich, dass dieFraktion Die Linke und die Vorgängerfraktionen derPDS in jeder vorherigen Wahlperiode ähnliche Anträgeeingebracht haben. Wir haben uns immer engagiert dafüreingesetzt, dass die Nazi-Unrechtsgesetze für von An-fang an null und nichtig erklärt werden und dass den Op-fern beizeiten ordentliche Entschädigungen geleistetwerden.Jetzt grenzen Sie uns aus, wir dürfen noch nicht ein-mal auf Ihrem Antrag erscheinen. Wir stimmen ihmselbstverständlich zu, weil er vernünftig ist. Aber wennSie von Achtung voreinander sprechen, dann achten Siewenigstens Ihre Kollegen in diesem Hause. Achten Sieunsere Arbeit, weil auch wir den Opfern helfen wollen.
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9824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Dr. Ilja Seifert
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Ich finde, es gehört zum Anstand in diesem HohenHause, dass man einander achtet und die Arbeit der an-deren nicht dadurch diskreditiert, dass man sie nicht ein-mal mitmachen lässt. Ich will ausdrücklich hinzufügen:Gerade weil die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangsste-rilisierung in der DDR nicht gebührend geachtet und ge-würdigt wurden, haben wir diese Anträge eingebracht.Wir haben gelernt und wollen dieses Unrecht wiedergut-machen. Sie geben uns dazu aber keine richtige Chance.Gehen Sie in sich und überlegen Sie sich, ob das wirk-lich sein muss.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/4543 mit dem Titel „Ent-
schädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisie-
rung und der ,Euthanasie’ in der Zeit des Nationalsozia-
lismus“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Ist jemand
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Energieeffizienz verbessern – Auf dem eu-
ropäischen Sondergipfel zur Energiepolitik
am 4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmen
vereinbaren
– Drucksache 17/4528 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
EU-Klimaschutzziel erhöhen
– Drucksache 17/4529 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutsch-
land und Europa sicherstellen
– Drucksache 17/4527 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Europas Energiezukunft erneuerbar und si-
cher gestalten
– Drucksache 17/4544 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
dass Sie damit einverstanden sind. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am 4. Februar 2011 findet der EU-Sondergipfel zurEnergiepolitik statt. Und siehe da: Das ist kein Thema,zu dem der Wirtschaftsminister oder die Bundeskanzle-rin eine Regierungserklärung abgibt. Wir diskutieren dasauf Antrag von Fraktionen zu später Stunde. Aber das istnatürlich leicht zu erklären: Die Bundesregierung unddie sie tragenden Fraktionen wissen selbst, dass sie aufdem Gebiet der Energiepolitik nichts zu bieten haben.
Um Ihnen zu zeigen, dass Ihre Einsicht – wenn siedenn vorhanden ist – berechtigt ist: Ein Schwerpunkt beidiesem Gipfel wird die Energieeffizienz sein. Die Euro-päische Kommission hat eine ganze Reihe von Mitglied-staaten kritisiert, weil ihre eingereichten Energieeffi-zienzpläne nicht ausreichen, um die selbst gesetztenZiele zu erreichen. Insbesondere hat sie Deutschland kri-tisiert, weil die Pläne, die Sie eingereicht haben, besten-falls reichen, um etwa 12 Prozent Effizienzerhöhung biszum Jahre 2020 zu erreichen. Mindestens 20 Prozentwaren das gesetzte Ziel; eigentlich hatten wir sogar nochmehr vor.
Das zeigt, wie bescheiden Sie in Ihren Zielsetzungenund Ihren Planungen geworden sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9825
Rolf Hempelmann
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Noch deutlicher wird das an dem, was Sie in den letz-ten anderthalb Jahren Ihrer Regierungspolitik im Bereichder Effizienzpolitik tatsächlich getan haben. Im Gebäu-debereich gab es ein äußerst erfolgreiches Programm,das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Es hat sich überdie eingehenden Steuern selbst finanziert. Es hat mehrals 200 000 Handwerker in Arbeit gebracht. 1 MillionWohnungen wurden in wenigen Jahren saniert. Jetzt ha-ben Sie die Mittel auf die Hälfte zurückgefahren, obwohlalle Experten gesagt haben: Eher wäre es an der Zeit, dasProgramm sogar auszuweiten. – Strukturen, die imHandwerk entstanden sind, werden wieder schrumpfen.Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir brauchen.
Auch auf der Erzeugungsseite greift Ihre sogenannteEffizienzpolitik zu kurz. Ja, Sie bekennen sich lautstarkzur Kraft-Wärme-Kopplung. Aber was Sie tatsächlichtun, ist das Gegenteil. Steuerlich stellen Sie sie schlech-ter. Auch den Ausbau der Fernwärmenetze belasten Siezusätzlich, sodass keiner in der Branche mehr glaubt,dass die selbst gesetzten Ziele – 25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung bis zum Jahre 2020 – von Ihnen er-reicht werden.Meine Damen und Herren, die SPD hat zu diesemThema einen Antrag eingebracht. Wir haben einen gründ-lich vorbereiteten Effizienzaktionsplan angemahnt: mitverbindlichen Vorgaben, insbesondere für den Gebäude-,aber auch für den Verkehrsbereich, mit einem klugen Mixaus steuerlichen Anreizen, mit anderen Förderinstrumen-ten und, wo notwendig, auch mit Ordnungsrecht. Auchdie Entwicklung von Finanzdienstleistungen wird vonuns vorgeschlagen. Sie sind diesen Weg bisher nicht ge-gangen. Chancen, die zum Beispiel in Energiedienstleis-tungen, im Contracting, liegen, werden nicht wahrge-nommen, obwohl viele Marktakteure schon lange daraufwarten.Der zweite Schwerpunkt sind die erneuerbaren Ener-gien; auch damit werden Sie sich auf dem Gipfel am4. Februar dieses Jahres befassen. Was haben wir dazu inletzter Zeit nicht alles gehört? Der Energiekommissar, einDeutscher, seines Zeichens ehemaliger CDU-Minister-präsident von Baden-Württemberg, Herr Oettinger, griffdas EEG an und sagte: Wir brauchen die Harmonisierung,die Konvergenz der Förderinstrumente in Europa. – Jetztist er zurückgerudert und hat gesagt: Das habe ich eigent-lich nie so gemeint.
Er hat nämlich festgestellt, dass das in Europa überhauptnicht durchsetzbar ist.Er hat vielleicht noch etwas anderes gemerkt: Wenn erHarmonisierung und Konvergenz ernst nehmen würde,dann müsste er eigentlich dafür sorgen, dass endlich auchdie 6 der 27 Mitgliedstaaten, die noch kein EEG haben,ein solches Instrument einführen. Denn das EEG ist dasRegelinstrument, nicht etwa die Quote, die Sie so gernehaben möchten.
Jedenfalls gilt in 21 Mitgliedstaaten von der Strukturher genau das, was auch in Deutschland gilt, nämlich einEinspeisevorrang für erneuerbare Energien und festeEntgelte für die Einspeisung mit einem Degressionspfad.Dieses System – das wissen die anderen – müssen wirerhalten, gerade wenn wir die Marktfähigkeit der erneu-erbaren Energien vorantreiben wollen; auch das sagenIhnen mittlerweile viele Experten.Erst jüngst ist ein Gutachten von Prognos vorgelegtworden, das deutlich macht, dass in diesem Bereich ganzerhebliche Chancen liegen. Wenn die Markt-, aber auchdie Systemintegration der Erneuerbaren mit den entspre-chenden Instrumenten und gemeinsam mit den Marktak-teuren vorangetrieben wird, dann erreichen Sie sowohlökologische als auch ökonomische Ziele. Die erneuerba-ren Energien werden billiger und werthaltiger.
In dieser Prognos-Studie wird eines deutlich: Es wirdnichts passieren, wenn ein Akteur ausfällt. Dieser Akteurist die Politik. Wenn Sie nichts tun, wenn Sie die Ak-teure nicht an einen Tisch holen, wenn Sie nicht dafürsorgen, dass sich das System zugunsten der EinspeisungErneuerbarer fortentwickelt und flexibler wird, dannwird nichts passieren.Die Akteure, um die es geht, werden in der Studie be-nannt. Es sind all diejenigen, die beim Netzausbau enga-giert sind, und zwar auf der Übertragungs- wie auf derVerteilebene.
Dazu gehören unter anderem die Stadtwerke. Bei der letz-ten Anhörung habe ich sehr deutlich gemerkt, welcheAversionen viele von Ihnen gerade gegen diesen Markt-akteur haben.
Es sind aber auch andere Anbieter, die sich insbeson-dere mit intelligenten Netzen, mit intelligenten Energie-dienstleistungen befassen und sich im Grunde in einBoot mit den Kunden begeben wollen, indem sie näm-lich Effizienz zu ihrem Geschäftsmodell machen. Dastun die Großen, die Sie mit Ihrer Atompolitik unterstüt-zen, nämlich gerade nicht. Sie wollen Mengen verkau-fen, und das ist ein Prinzip, mit dem Ihre Ziele und un-sere Ziele niemals erreicht werden.
Meine Damen und Herren, ökonomische und ökologi-sche Chancen bleiben zurzeit leider ungenutzt. Ich kannSie nur auffordern, Ihre Politik zu ändern, einen Kurs-wechsel herbeizuführen. Sie haben ja gemerkt, in Europastoßen Sie auf Unverständnis. Man erwartet dort vonDeutschland eine ganz andere Rolle, eine führende
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9826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Rolf Hempelmann
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Rolle, eine, die auch dazu führt, was Sie ja angeblichwollen, dass die Erneuerbaren demnächst 35 Prozent, ir-gendwann mehr als 50 Prozent und auch nach IhrenZielsetzungen einmal 80 Prozent Anteil am Strommarkthaben. Wenn Sie das erreichen wollen, dann erhalten Siedas EEG auf Sicht – so habe ich es genannt, nicht aufEwigkeit – in der Struktur und sorgen Sie dafür, dass dienotwendigen Instrumente zur Markteinführung entwi-ckelt werden.Vielen Dank.
Der Kollege Thomas Bareiß ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
men! Meine Herren! Lieber Kollege Hempelmann, Sie
haben heute das hohe Ziel ausgerufen, dass zu diesem
Thema eine Regierungserklärung abgegeben werden
soll. Ich kann Ihnen nur entgegnen: Manchmal ist es gut,
wenn zu solchen Themen Fachpolitiker reden und das
Ganze auf eine sachliche Ebene bringen.
Aber leider hat Ihre Rede nicht dazu beigetragen, dass
das Thema fachlich angegangen worden ist. Ich sage
„leider“, weil ich eigentlich anderes von Ihnen gewohnt
bin.
Ich glaube, es ist richtig und gut, dass die SPD das
Ziel, über Energieeffizienz zu diskutieren, in ihrem An-
trag thematisiert hat. Ich finde, Energieeffizienz – wir ha-
ben es hier im Hause schon unterschiedlich diskutiert – ist
enorm wichtig und kommt in den energiepolitischen De-
batten sicherlich viel zu kurz. Wir werden es in den
nächsten 15 Jahren erleben, dass der Energiehunger in
der Welt sich gegenüber dem, was wir heute haben, um
50 Prozent steigern wird. Wir werden sehen, dass nach
wie vor ein großer Teil der Energieerzeugung auf endli-
chen Rohstoffen basiert.
Allein aus diesen Gründen ist es nicht nur notwendig,
sondern auch wirtschaftlich vernünftig, dass wir bei der
Energieeffizienz führend in der Welt und auch tonange-
bend sind. Ich glaube, es ist nicht nur ein sehr wichtiger
energiepolitischer, sondern auch wirtschaftspolitischer
Aspekt, den wir aufgreifen müssen. Es ist auch gut, dass
nicht nur wir in Deutschland uns um dieses Thema küm-
mern, sondern dass vor allen Dingen auch die Europäi-
sche Union dies tut.
Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Hempelmann: Wir
sind in Deutschland nicht nur auf einem guten Weg, son-
dern wir sind führend in Europa.
– Herr Kelber, das gilt auch für Sie. – Wir haben im letz-
ten Jahr ein Energiekonzept vorgelegt, was Sie in acht
Jahren Regierung nicht hinbekommen haben, ein Ener-
giekonzept, das einzigartig in Europa und in der Welt ist.
Die ganze Welt schaut auf Deutschland, wie es dieses
Energiekonzept umsetzt.
Beispielhaft sei erwähnt, dass bis 2020 35 Prozent des
Stroms aus erneuerbaren Energien stammen soll, dass
die CO2-Reduktion bis 2020 40 Prozent – unkonditio-
niert – betragen soll und dass der Verbrauch primärer
Energien in den nächsten zehn Jahren um noch einmal
20 Prozent reduziert werden soll.
Das sind Ziele, die gerade für eine Wirtschafts- und In-
dustrienation wie Deutschland eine enorme Herausfor-
derung darstellen.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr Kelber
möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein.
Nein.
Was das Thema Energiekonzept und Energieeffizienzangeht, so sind wir derzeit schon sehr gut. 1,6 Prozent istnicht spitze in Europa.
Aber wenn man einmal sieht, von welchem Niveau wirin Deutschland ausgehen, wie effizient unsere Wirtschaftschon arbeitet und wie unsere energiepolitischen Wei-chenstellungen sind, dann muss man sagen, dass dieZielsetzung, eine Steigerung der Energieeffizienz auf2,1 Prozent zu erreichen, eine große Herausforderungist, die wir konsequent angehen. Das wird uns entspre-chend nach vorne bringen, und wir werden auch Europain dieser Frage mitziehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9827
Thomas Bareiß
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Wir wollen aber nicht das, was Sie wollen, nämlichKompetenz an die Europäische Union abgeben, sondernwir wollen nach wie vor, dass der Bereich der Energieef-fizienz Kernbestandteil der nationalen Politik bleibt,
weil eine Verschiebung in die Europäische Union bedeu-ten würde, dass wir zwangsläufig solch unsinnige Dingewie die Glühbirnen-Verordnung
oder die Duschkopf-Verordnung bekämen. Das sindDinge, die ich in der Europäischen Union nicht will. Ichglaube, wir können die Wettbewerber und die mündigenBürger auch dazu bringen, dass die Energieeffizienz ver-bessert wird.Energieeffizienz hat viel mit innovativen Energie-technologien zu tun. Hier muss man beide Seiten – so-wohl die Erzeugerseite als auch die Verbraucherseite –sehen.
Zur Verbraucherseite. Damit komme ich auch gleichzu Maßnahmen. Herr Hempelmann, darin sind wir unseinig:
Der größte Bereich ist der Wärmebereich. 40 Prozentdes Primärenergiebedarfs entfällt auf die Wärme.
Deshalb brauchen wir auch im Bereich der Gebäudesa-nierung mehr Geld, um Anreize dafür zu schaffen, dassetwas geht.
Ihr Herr Tiefensee hat 2009 aber alles Geld verbraten,das für diese Aufgabe eigentlich vorgesehen war.
Auch aufgrund der Verlängerung der Laufzeiten ha-ben wir den Energie- und Klimafonds mit Geld gefüllt,sodass wir damit auch wieder mehr Geld für die Gebäu-desanierungsprogramme zur Verfügung stellen können.In diesem Jahr haben wir 500 Millionen Euro dafür ein-gestellt, und das werden wir in den nächsten Jahren wei-terführen, damit die Gebäudesanierung nachhaltig undgut finanziert wird.
Es geht aber nicht nur um die Nachfrageseite, sondernauch die Erzeugerseite ist entscheidend. Ich schaue Siehier ganz genau an. Wir brauchen auch in Zukunft effi-ziente und gute Braun- und Steinkohlekraftwerke.
Das beste und effizienteste Kohlekraftwerk in Datteln,die größte KWK-Anlage in Europa, wird nicht weiterge-baut und nicht vorangebracht, weil Sie dieses Projekt inder rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen ver-hindern.
Wir könnten etliche Kohlekraftwerke mit einer Effizienzvon 30 Prozent vom Netz nehmen und dafür dieseshocheffiziente Kohlekraftwerk mit einem Wirkungsgradvon knapp 50 Prozent ans Netz bringen.
Sie verhindern die effizienten Kraftwerke in Deutsch-land und verfolgen damit eine konsequente Linie: Sie sa-gen immer, wogegen Sie sind, aber nicht, wofür.
Damit wollen wir Schluss machen. Deshalb haben wirein Energiekonzept vorgelegt, durch das die Energiepoli-tik ordentlich und in sich stimmig angepackt wird.In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling-
Schröter für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir wissen, Herr Röttgen ist dafür, die Bundesregierungals Ganzes aber offensichtlich nicht. Um was geht es? Esgeht darum, die EU dazu zu bewegen, bis 2020 unkondi-tioniert nicht nur 20 Prozent, sondern 30 Prozent weni-ger Treibhausgase auszustoßen.Natürlich ist es so, dass das WirtschaftsministeriumWiderstand dagegen leistet. Eigentlich ist das seltsam;denn neben dem Klimaschutz würden uns dadurch keineWettbewerbsnachteile, sondern im Gegenteil Vorteileentstehen. Schließlich hat sich Deutschland ja zu minus40 Prozent bis 2020 bekannt. Das EU-Ziel läge dannalso nicht mehr 20 Prozent, sondern nur noch 10 Prozentunter den deutschen Ambitionen. Damit würde sich na-türlich unsere Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU
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9828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Eva Bulling-Schröter
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verbessern. Sachverständige haben uns das auch schonbestätigt.Wir Linke fordern in unserem Antrag darum, dasssich die Bundesregierung beim EU-Gipfel mindestensdafür einsetzt, das 30-Prozent-Minderungsziel nichtmehr abhängig davon zu machen, dass es auf der UN-Ebene zu einem Klimavertrag kommt. Wir meinen, EU-weit wären sogar 40 Prozent weniger drin, wenn es denpolitischen Willen dazu gäbe.
Ein Ziel zu vertreten, ist das eine. Die Frage, wie mandahinkommt, ist das andere. Damit sind wir beim euro-päischen Sondergipfel zur Energiepolitik. Wie Sie wis-sen, hat EU-Energiekommissar Oettinger kürzlich einestärkere Harmonisierung der europäischen Fördersys-teme für erneuerbare Energien ins Spiel gebracht; Kol-lege Hempelmann hat das bereits angesprochen. Gleich-zeitig fordert Bundeswirtschaftsminister Brüderle imTagesspiegel, das Erneuerbare-Energien-Gesetz durcheine Marktprämie zu ersetzen. Auch NiedersachsensFDP-Umweltminister Sander will das EEG insgesamtkippen. Aus den Reihen der CDU/CSU hören wir stän-dig, die nächste EEG-Novelle solle marktnähere Ele-mente enthalten.Zählt man eins und eins zusammen, kommt man zudem Schluss: Hier braut sich etwas zusammen, das demwichtigen Treiber im Klimaschutz das Genick brechenkönnte: dem Ausbau der dezentralen regenerativen Ener-gieerzeugung.
Sie können in Ihrer Rede darauf eingehen, Herr Nüßlein.Der EU-Grünstromzertifikatehandel, welcher Oettingervorschwebt, ist nichts Neues. Er hätte zur Folge, dass na-tionale Anstrengungen zum Ausbau erneuerbarer Ener-gien entwertet würden. Mit Mitteln der deutschen Ver-braucherinnen und Verbraucher würde dann nicht mehrdie Energiewende in Deutschland finanziert, sondernvielleicht die in Spanien oder Dänemark, wo öfter dieSonne scheint oder der Wind heftiger weht.Wir haben nichts gegen einen grenzüberschreitendenAustausch von Ökostrom. Er sollte aber ergänzend zurnationalen Erzeugung erfolgen, sonst werden hierzu-lande über kurz oder lang Forschung und Produktionzum Erliegen kommen. Viele Arbeitsplätze bei Herstel-lern und im Handwerk würden verloren gehen.Um es unmissverständlich zu sagen: An den drei Eck-punkten des EEG – Einspeisevorrang, garantierte Ein-speisevergütung und stufenweise Senkung der Vergü-tung – darf unserer Meinung nach nicht gerüttelt werden.
Sie sind die Erfolgsgarantien des EEG. Man kann nurhoffen, dass sich hier die Vernunft durchsetzt. Das giltim Übrigen auch für die nächste EEG-Novelle: Absen-ken der Vergütung bei Solarstromeinspeisung und Grün-stromprivileg ja, aber mit Augenmaß.
Was die EU zur Energieeffizienz sagt, ist meiner Mei-nung nach unmissverständlich, nämlich dass das, wasbislang passiert ist, enttäuschend ist.
Ich meine, dass auch die Vorgaben der EU sehr lau sind.Herr Oettinger und Herr Brüderle sollten einmal gemein-sam in Klausur gehen und sich fragen, was Energieeffi-zienz wirklich bedeutet.Im Übrigen stimmen wir den Anträgen von SPD undGrünen zu.
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Breil für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Morgen in einer Woche tagen in Brüssel dieStaats- und Regierungschefs, um über eine europäischeEnergiestrategie zu beraten. In einem der hier zu bera-tenden Anträge fordert die SPD-Fraktion ein rechtsver-bindliches EU-Ziel von 20 Prozent mehr Effizienz undverbindliche Maßnahmen zur Verbesserung der Energie-effizienz.
Das hört sich gut an, aber es ist ein entscheidenderUnterschied, ob wir uns national eine solche Orientie-rungsmarke im Energiekonzept gesetzt haben oder obwir uns gegenüber der EU dazu verpflichten. Ziele, dieum jeden Preis eingehalten werden müssen, fördern einDenken in dirigistischen Maßnahmen wie beim europäi-schen Glühbirnenverbot.
Sie führen dazu, dass die Wirtschaftlichkeit außer Achtgelassen wird. Wir wollen nicht noch mehr europäischeTechnikregulierung und von oben verordnete Effizienz-maßnahmen, die den Verbraucher gängeln.
Die deutschen Verbraucher sind energiebewusst undzum Energiesparen bereit. Wir brauchen eine klareKennzeichnung des Energieverbrauchs von Produktenund von Pkw, eine verbesserte Beratung über Energie-einsparmaßnahmen und mehr Beistand durch die neueBundesstelle für Energieeffizienz.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9829
Klaus Breil
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Sie kann helfen, wenn Bürger spezialisierte Energie-dienstleister suchen.
– Hören Sie doch einmal zu. Hier können Sie etwas ler-nen.
Das sind nur wenige Beispiele, wie wir den Menschendas freiwillige Energiesparen erleichtern.Auch die Beratung mittelständischer Unternehmenund effizientere Produktionsprozesse werden wir zusam-men mit vielen anderen Maßnahmen mithilfe eines Ener-gieeffizienzfonds fördern. Insgesamt kann in der Indus-trie ein jährliches Einsparpotenzial von geschätzten10 Milliarden Euro gehoben werden.
Bekanntlich ist die Sanierung des Gebäudebestandes derSchlüssel zur Erreichung jedes Klimaschutz- und Effi-zienzziels.
Die SPD findet das Energiekonzept der Bundesregierungim Punkt Gebäudesektor so gut, dass sie es von der EUfür verbindlich erklären lassen will. Danke für diesesLob an dieser Stelle.
Aber wir werden unser Ziel eines klimaneutralen Gebäu-des bis 2020 auch ohne die EU erreichen.
Die einzige Freiheit, die Parlamenten der Mitgliedstaa-ten nach Meinung der SPD noch bleiben soll, ist die Ver-teilung verbindlicher Effizienzziele auf einzelne Sekto-ren. Die Opposition will die Wirtschaft, denVerkehrsbereich und die Gebäudeeigentümer mit einerVielzahl von staatlichen Effizienzvorgaben zupflastern.Sie will die EU-Kommission als Kontrolleur einsetzen.
Das ist nicht unsere Vorstellung von Europa und auchnicht von Subsidiarität. Das ist ökologische Planwirt-schaft. Die wird es mit uns nicht geben.
Da wir schon beim Thema Planwirtschaft sind: In Ih-rem eigenen Antrag fordern Sie grenzüberschreitendeNetze als starkes wettbewerbliches Instrument. In einemanderen drängen Sie auf die Rekommunalisierung derNetze. Sie wollen also das Gegenteil von dem, was Sieam Montag im Wirtschaftsausschuss zum Anlass derAnhörung machten.
– Hören Sie doch zu, Herr Hempelmann, Sie können et-was lernen.
Die Experten haben uns erklärt, dass das Klein-Kleinim Netzbetrieb zulasten von Effizienz und Wettbewerbgeht.
Sie ignorieren ökonomische Grundwahrheiten und be-zeichnen dann auch noch die Erkenntnisse von Expertenals dumm. Das ist schon sehr bemerkenswert.
Sie ignorieren Grundwahrheiten immer dann, wenn siemit roten oder grünen Dogmen hausieren gehen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Nestle für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fast möchte ich diese Rede mit einem Lob beginnen, miteinem Lob an die Regierung;
denn es ist richtig, aber auch höchste Zeit, dass Sie ge-gen eine schädliche EU-Harmonisierung der Förder-instrumente für erneuerbare Energien Position beziehen,die von Anfang an als Attacke auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz gedacht war, das EEG, das die größteTechnologieentwicklung der letzten zehn Jahre ausgelösthat, das unser bestes Klimaschutzinstrument ist und Zu-kunftsmärkte eröffnet. Das erfolgreiche EEG darf nichtabgeschafft werden.
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9830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Ingrid Nestle
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Leider ist diese Position gegen diese fatale Attacke, dieauch noch aus Ihren eigenen Reihen stammt, das einzigSinnvolle, was Sie zu diesem EU-Gipfel beizutragen ha-ben.Ich möchte einige Beispiele nennen. Es wurde heutesehr viel über Energieeffizienz geredet. Beim EU-Gipfelgeht es darum, das 20-Prozent-Ziel verbindlich zu ma-chen. Das ist ein unbürokratisches Instrument, weil jedesLand selbst entscheiden kann, wie es dieses Ziel erreicht.Es schafft dadurch Anreize für Kreativität, und es nutztunserem Standort. Was ist Ihre Reaktion darauf? Nein,kein verbindliches Ziel. Lieber nur in die Richtung von20 Prozent. – Stellen Sie sich einmal vor: 27 Firmenwollen gemeinsam ein Projekt starten, und wenn manüber das Budget redet, dann heißt es: Na ja, vielleichtgebe ich so in Richtung 20 000 Euro, aber verbindlichfestlegen will ich mich nicht. – Das ist doch absurd. Eswürde überhaupt nichts in der Wirtschaft passieren. Ge-nau das ist die Durchschlagskraft, die Ihre Energiepolitikhat.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege Staffeldt.
Liebe Kollegin Nestle, sind Sie in der Lage, mir zuzu-
stimmen, wenn ich sage, dass es in den einzelnen euro-
päischen Ländern unterschiedliche Startvoraussetzungen
gibt? Das heißt, in Spanien, Italien, Portugal, Rumänien
oder sonst wo ist das Ziel von 20 Prozent relativ schnell
und einfach erreichbar. Bei uns in Deutschland ist es
aber deutlich schwieriger, weil wir gerade im Bereich
der Energieeffizienz, beispielsweise in der Industrie, be-
reits seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten sehr viel
aktiver sind als andere Länder, auch aus Kostengründen.
Insbesondere im Bereich der Gebäudesanierung machen
wir schon sehr viel mehr, als andere Länder gemacht ha-
ben. Aus diesem Grund können die 20 Prozent nur bei
gleichen Startvoraussetzungen gelten.
Werter Herr Kollege, ist Ihnen erstens bekannt, dassdas 20-Prozent-Ziel ein Ziel verglichen zu Business asusual, zum normalen Pfad, und kein absolutes Ziel ist,dass also jedes Land, verglichen mit seinem Pfad, dashinterher abrechnen kann?
Ist Ihnen zweitens bekannt, dass es durchaus Debattendahin gehend gibt, unterschiedliche Ziele für unter-schiedliche Staaten festzulegen? Auch beim Erneuer-bare-Energien-Ziel haben wir ein verbindliches Ziel ge-habt. Sie stellen sich aber grundsätzlich gegen einverbindliches Ziel und suchen gar nicht nach Lösungenwie: Jeder Staat kann nach Business as usual abrechnen,oder es gibt eventuell differenzierende Faktoren. – Sielehnen das einfach grundweg ab.Bei den erneuerbaren Energien haben Sie sich zwarnoch dafür eingesetzt, aber bei Effizienz hört es ganzschnell auf. Das ist sehr traurig. Bei Energieeffizienzmachen Sie den Mund am weitesten auf. Sie fordernEnergieeffizienz. Aber wenn es darum geht, etwas kon-kret zu machen und weiterzudenken, dann gibt es nurdieses Abblocken.
Genau das haben wir heute in den Beiträgen gesehen.Wenn wir nach konkreten Maßnahmen zur Energieeffi-zienz fragen, dann heißt es: Halbierung der Fördermittelund neue Kohlekraftwerke. – Wir haben von einem kla-ren Pkw-Label gehört, das nach Ihren Vorstellungen Ge-wicht belohnt: Je schwerer das Auto ist, desto bessersteht es da. Gewicht wird also belohnt. Das ist eine ab-sichtliche Falschinformation und kein klares Label, wieSie es gefordert haben.
Nicht zuletzt sieht man auch an den faktischen Zah-len, dass Ihre Politik nicht greift; denn Sie werden mitIhren Instrumenten gerade einmal 12 Prozent schaffenund nicht die 20 Prozent, die wir brauchen. Sie sind dieRegierung des Stillstands.
Zweites Beispiel aus der EU, die Infrastruktur. Es gehtdarum, den stockenden Ausbau der Stromnetze voranzu-bringen. Auch Sie finden das sehr wichtig. Die EU machteinen Vorschlag, aber Sie lehnen den Vorschlag ab undsagen: Nein, das sollen die Unternehmen finanzieren. –Diese sind aber heute offensichtlich nicht in der Lageoder nicht willens, dies zu tun. Sie bringen keine eigenenVorschläge ein. Sie sind die Regierung des Stillstands.Wir hingegen haben vor zwei Wochen ein Stromnetz-konzept vorgelegt, das deutlich konkreter ist als alles,was ich von Ihnen gehört habe, inklusive Ihres Energie-konzepts.
Drittes Beispiel, der Binnenmarkt. Warum haben Siedas einzig wirklich wirksame Instrument, um in der EUWettbewerb zu schaffen, immer abgeblockt, nämlich dieeigentumsrechtliche Entflechtung von Netz und Erzeu-gung? Immer haben Sie sich dagegengestellt. So könnteman aber Wettbewerb schaffen. Sie sind die Partei desStillstands und die Regierung des Stillstands. Wir kämp-fen mit der eigentumsrechtlichen Entflechtung von Netzund Erzeugung für wirklichen Wettbewerb.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9831
Ingrid Nestle
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Die Ölpreise haben sich verdreifacht. Was machenSie? Nichts.Der Ausbau der Stromnetze stockt. Das ist ein Pro-blem. Ihr Kommentar: Das sollen die Unternehmen ir-gendwie machen.Effizienz ist unsere Zukunftschance. Wir können ba-res Geld sparen und Zukunftsmärkte erobern. Wir kön-nen Klimaschutz effektiv und kostengünstig gestalten.Ihre Position: Bloß kein verbindliches Ziel; denn dannmüsste man womöglich wirklich etwas machen.
Eines kann ich Ihnen ganz konkret vorschlagen, was Siejetzt bei diesem EU-Gipfel machen können: Es gibt Re-gelungen zur energieeffizienten öffentlichen Beschaf-fung, die sich nur auf Neubauten beziehen, die sowiesostrikten Regeln unterliegen. Weiten Sie diese Regeln aufden Bestand, auf die Altbauten und auf den öffentlichenBestand aus, dann haben Sie bei diesem EU-Gipfel et-was erreicht! Das möchte ich Ihnen mitgeben. WendenSie sich von der rückwärtsgewandten Politik des Still-stands ab! Bringen Sie uns, Deutschland und Europa vo-ran, aber bitte in die richtige Richtung!
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Esgibt momentan zwei Politikfelder, die an Akzeptanz inder Öffentlichkeit verlieren:
Das ist auf der einen Seite die europäische Politik, unddas ist auf der anderen Seite all das, was sich rund umdas Thema „erneuerbare Energien“ abspielt. Ich sage beibeiden Themen: leider Gottes. Es ist an uns, an dieserStelle etwas zu tun. Wir reden heute über die Schnitt-menge dieser beiden Politikfelder.Ich will mit dem Thema Erneuerbare-Energien-Ge-setz beginnen. Einiges wird unter dem beschönigendenOberbegriff „Harmonisierung“ diskutiert. Ich möchte ei-nen Blick werfen auf die Wurzeln des Erneuerbare-Ener-gien-Gesetzes, nämlich auf das Stromeinspeisungsge-setz. Ich tue das nicht, weil ich, lieber Kollege Fell,irgendjemandem die Vaterschaft an dieser Stelle abspre-chen möchte, sondern weil ich ganz deutlich den regula-torischen Ansatz herausstellen möchte, der seinerzeiteine christlich-liberale Koalition bewegt hat, die Grund-lagen für eine solche Systematik zu schaffen. Es ging da-rum, in einem Energiebereich, der von natürlichen Mo-nopolen im Netz und von einer verdichtetenVersorgerstruktur gekennzeichnet ist – vier Anbieter pro-duzieren heute 80 Prozent des Stroms –, die Vorausset-zungen dafür zu schaffen, dass Mittelständler, Landwirte,Produzenten von Wasserkraft und Windkraft in diesemKonzert mitspielen können, dass sie die Chance haben,einzuspeisen, und dass staatlich geregelt ist, zu welchenKonditionen dies passiert.
Ich sage das ausdrücklich deshalb, weil es ein Hinweisdarauf ist, dass man so etwas aus regulatorischen Erwä-gungen braucht.Wir haben über das Erneuerbare-Energien-Gesetz eineTechnologieeinführungskomponente dazubekommen, diein weiten Teilen das Ihre leistet, auch wenn sie immerwieder nachgesteuert werden muss. Wir werden das innaher Zukunft in großer Einmütigkeit zwischen Regie-rung und Opposition – jedenfalls wird das momentan sosignalisiert – auch tun. Wenn man heute sieht, wie er-folgreich sich dieses ganze Thema entwickelt hat, dannwird einem klar, dass Harmonisierung doch nicht heißenkann, dass man jetzt über die Europäische Union ver-sucht, dieses Erfolgsgesetz durch eine Quotenregelungzu ersetzen. Durch eine Quotenregelung würden wir ei-nen Strukturbeitrag und Wertschöpfung im eigenen Landverlieren. Außerdem hätten wir bei einer Quotenrege-lung nicht mehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem ei-genen Land unabhängiger zu werden.
Ich sage das in dem Bewusstsein, dass man momen-tan ganz deutlich zeigen kann – jedenfalls besagen dasdie Zahlen des Bundesumweltministeriums, das eben-falls CDU-geführt ist –, dass die Alternativen keine Vor-teile bringen. In Großbritannien kostet die Megawatt-stunde Windenergie 65 Euro. Dort hat man einQuotensystem mit Zertifikatehandel. In Italien, wo manein ähnliches System hat, kostet die MegawattstundeWindenergie 85 Euro. In Deutschland mit seinem vielge-scholtenen EEG kostet die Megawattstunde Windenergie50 Euro.
Das heißt, wir haben politisch offenbar die Möglichkeit,die Preise präziser zu steuern und darüber hinaus anderepolitische Ziele zu erfüllen.
Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil man es demKollegen Oettinger, der aus meiner Sicht auf einemkomplett falschen Dampfer ist, entgegenhalten muss.
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9832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Dr. Georg Nüßlein
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Eine Quotenregelung würde weder ihm noch uns etwasbringen. Sie würde gewachsene Strukturen kaputtma-chen. Deshalb bin ich über das, was der ehemalige CDU-Ministerpräsident an dieser Stelle vorschlägt, nicht sobegeistert. Das muss man ihm in dieser Klarheit sagen.Ich hoffe, dass er sich, wenn er über Harmonisierung aufder europäischen Ebene redet, dem Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz, das auf dem Stromeinspeisungsgesetz ausder Ära Helmut Kohl fußt, zuwendet. Das halte ich fürganz entscheidend.
Im Übrigen kann man zu dem Thema „europäischePolitik“ sagen: Die Versuche einer europäischen Anglei-chungspolitik – plötzlich will man den Wettbewerb derSysteme nicht mehr; man stellt die Subsidiarität hintan –halten wir, auch an anderen Stellen, für ausgesprochenproblematisch.Ich sage Ihnen ganz offen: Beim Thema Klimaschutzsehe ich das ganz genauso. – Da wird der Applaus aufder linken Seite des Hauses etwas weniger werden. – Ichhabe immer geglaubt, dass ich beim Thema „Emissions-handel und Klimaschutz“ nicht erklären muss, dass manso etwas nur international betreiben kann. Nun lese ichmit großer Verwunderung im Antrag der Linken:Auf internationale Vorgaben als Taktgeber für na-tionale oder EU-Klimapolitik zu setzen, wäre ver-hängnisvoll.Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von ganz links,verhängnisvoll wäre es, eben nicht auf internationalePolitik zu setzen, weil es doch eine Hybris ist, anzuneh-men, Deutschland könne das Klimaproblem der Welt lö-sen. Das ist falsch. Gucken Sie sich doch einmal an, wasin China passiert. Die Chinesen haben von 2000 bis2008 ihren CO2-Ausstoß verdoppelt. In der Zeit von2006 bis 2008 war der Zuwachs an CO2-Emissionen grö-ßer als die gesamten CO2-Emissionen in Deutschland.
Herr Kollege Nüßlein, Sie sind zwar schon fast am
Ende Ihrer Redezeit. Frau Bulling-Schröter würde aber
gerne noch eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie
diese?
Herzlich gern.
Danke schön. – Kollege Nüßlein, es liegt mir fern, die
CDU/CSU zu ärgern.
Sie haben recht, wenn Sie sagen: Der CO2-Ausstoß
Chinas wird immer höher; er ist ungefähr so groß wie
der der USA. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass
die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, einen sehr guten Vor-
schlag gemacht hat, den wir vielleicht gemeinsam wei-
terverfolgen könnten. Dabei geht es darum, für jeden
Menschen den gleichen Umweltraum zu definieren.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Pro-Kopf-
Ausstoß an CO2 in der Bundesrepublik Deutschland oder
in den USA wesentlich höher ist als in China. Wie stehen
Sie denn dazu? Wir wissen alle, dass es mehr wird. Ich
bestreite nicht, dass wir auf internationaler Ebene etwas
machen müssen. Aber wenn Deutschland auf diesem
Gebiet die Vorreiterrolle behalten oder wiedererlangen
will, heißt das doch, dass wir jetzt auf EU-Ebene etwas
tun müssen. Es gibt genügend EU-Papiere, die belegen,
dass das 30-Prozent-Ziel auf EU-Ebene nicht so einfach
zu erreichen ist. Sie kennen diese Papiere sicher genauso
wie ich. Meine Frage: Wie schaut es denn mit dem Pro-
Kopf-Verbrauch aus?
Liebe Kollegin, ich habe ja nicht kritisiert – das lägemir auch völlig fern –, was die Kanzlerin auf internatio-naler Ebene anstößt. Ich meine, da macht sie nicht nureine hervorragende Figur, sondern auch eine hervorra-gende Klimapolitik. Ich habe kritisiert, dass Sie uns inIhrem Antrag explizit zu nationalen Alleingängen aufru-fen, ganz unabhängig von der Frage, ob andere mitzie-hen oder nicht. Genauso ist der Satz, den ich gerade an-geführt habe, doch wohl zu verstehen.Dazu sage ich ganz ehrlich: Das wird am Schluss inkeiner Weise zielführend sein; denn wenn wir etwas inder Welt bewegen wollen, dann müssen wir doch in ei-nem anderen Sinne Vorbild sein. Wir müssen nämlichden Entwicklungsländern – damit komme ich auch zuIhrem Thema, dem Pro-Kopf-Kontingent – zeigen, dassman auf der einen Seite wachsen und an Wohlstand ge-winnen, auf der anderen Seite aber gleichzeitig dasKlima schützen und weniger Ressourcen verbrauchenkann. Wenn uns bei unserer Klimapolitik genau dieserBeweis misslingt, wenn es uns also nicht gelingt, zu zei-gen, dass Ökologie und Ökonomie miteinander verzahntwerden können, dann wird uns letztendlich auch nie-mand folgen.
Das ist doch genau der Punkt. Ich kann nur dazu raten,
zu verstehen, dass wir in Bezug auf die Ausgangslageschon jetzt ein hohes Niveau haben und dass wir uns ge-nau überlegen müssen, wie wir bei dieser Thematik wei-termachen.Wenn wir heute – lassen Sie mich das noch abschlie-ßend sagen – über das Thema „Vereinbarung eines EU-weiten 30-Prozent-Zieles“ diskutieren, muss uns einesklar sein: Es könnte für uns Deutsche, die wir momentandas Ziel einer Reduktion von 20 Prozent erfüllen, aberdas 40-Prozent-Ziel anstreben wollen, ganz gut sein,wenn die anderen nachziehen. Das Problem ist nur dasSolidaritätsprinzip in der EU; denn danach wird der Er-folg wieder nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopfverteilt. Am Schluss heißt es dann wieder: Die Deut-schen müssen mehr tun. Das ist auch in ökonomischerHinsicht eine Gleichmacherei, die zu einer Deindustria-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9833
Dr. Georg Nüßlein
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lisierung in Deutschland führt. Das wollen wir beim bes-ten Willen nicht.In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für dieAufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon bemerkenswert, dass der Redner der SPD hier er-
klärt, Deutschland sei vom Energieeffizienzziel von
20 Prozent weit entfernt.
Ich möchte an dieser Stelle einfach einmal fragen: Wer
hat denn elf Jahre regiert? Wer hat sieben Jahre den
Wirtschaftsminister gestellt? Wer hat vier Jahre den Um-
weltminister gestellt? Es war die Sozialdemokratische
Partei. Es ist Ihre Bilanz, die Sie hier kritisieren.
Herr Kollege Kauch, darf ich Sie unterbrechen? –
Herr Kelber möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte fortfahren.
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat ein we-sentliches Instrument der Energieeffizienz auf den Weggebracht, das hier von der gesamten versammelten Op-position kritisiert wurde. Der Energie- und Klimafondswird aus den Gewinnabschöpfungen der Kernkraftwerkeund erstmals aus 100 Prozent der Versteigerungserlöseaus Emissionsrechten gespeist. Der Energie- und Klima-fonds speist einen Energieeffizienzfonds, der so groß istwie kein Programm zuvor. Er sichert die Mittel für dieGebäudesanierung über das Jahr 2011 hinaus; das ist eingroßer Erfolg. Das ist eine Maßnahme zur Energie-effizienz, die Sie vorhin eingefordert haben.
Schauen wir uns einmal an, was im Bereich der er-neuerbaren Energien geschieht. Die SPD hat nochschnell vor der Debatte einen Fünfzeiler aufgesetzt, derbesagt, was die Bundesregierung machen soll. Ich kannnur sagen: Was Sie da fordern, tun wir bereits – deshalbmüssen wir Ihren Antrag auch nicht annehmen –; dennwir – insbesondere meine Fraktion – haben im Energie-konzept verankert, dass der unbegrenzte Einspeisevor-rang für erneuerbare Energien erhalten bleibt. Im Ener-giekonzept finden Sie ein klares Ja der FDP bzw. dieserKoalition zum EEG. Sie führen hier Phantomdebatten,die jeder realistischen politischen Grundlage entbehren.
Wir als FDP – das sage ich sehr deutlich – haben un-terschiedliche Haltungen.
Es gibt aber einen klaren Parteitagsbeschluss mit ei-ner Mehrheit von weit über 60 Prozent für das EEG imWahlprogramm und im Koalitionsvertrag, der von mei-ner Partei einstimmig angenommen wurde. In unsererPartei kann jeder seine persönliche Meinung äußern.Entscheidend ist aber, was auf dem Bundesparteitag be-schlossen wird. Das ist pro EEG, meine Damen und Her-ren von den Grünen.
Ich möchte gern auf die Glaubwürdigkeit der Grünenzu sprechen kommen. Frau Nestle sagt hier: Wir habenein tolles Netzkonzept.
– Ja, das haben Sie vielleicht. Ich habe es noch nicht ge-lesen;
aber es ist bestimmt ganz toll, da es ja von Ihnen kommt. –Ihre Glaubwürdigkeit misst sich allerdings an dem, wasvor Ort passiert: In jeder Bürgerinitiative gegen den Netz-ausbau finden sich Ihre grünen Aktivisten.
Deshalb ist das, was Sie hier vertreten, eine unglaubwür-dige Politik: hier für die erneuerbaren Energien, dort ge-gen die Netze. Aber wer die Netze nicht bekommt, wirddas Ziel im Bereich erneuerbarer Energien nicht errei-chen.
Ihre Hintertür heißt dann hier in Berlin: Na ja, wennnoch Atomstrom im Netz ist, können wir den Menschendas ja auch nicht richtig verkaufen. – Das ist der Weg,auf dem Sie Ihre unglaubwürdige Politik bis zum letztenTag verteidigen werden. Solange wir zu 99 Prozent undnicht zu 100 Prozent erneuerbare Energien haben, wer-den die Grünen vor Ort immer gegen die Netze und da-mit gegen die erneuerbaren Energien sein.
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9834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
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Zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Kelber
das Wort.
Herr Kollege Kauch, unabhängig von dem, was wir
von der Bundesregierung einfordern, sprechen Sie im-
mer eine Minute lang über die Frage „Wer hat denn elf
Jahre lang regiert?“.
Die EU-Kommission sagt, dass Deutschland bei der
Energieeffizienz deutlich schlechter als der Durchschnitt
aller Mitgliedsländer ist. Ich zitiere aus der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom Montag:
Alle anderen EU-Staaten, die bisher ihre Energie-
sparpläne in Brüssel angemeldet haben, verfehlen
das 20-Prozent-Ziel klar. Frankreich und Spanien
liegen mit rund 16 Prozent aber immer noch über
dem deutschen Wert.
Dieser Wert liegt bei 12,8 Prozent.
Sie haben aus dem Anfangsteil hinsichtlich des Ener-
giesparplans vielleicht mitbekommen, dass die EU-
Kommission keine Bewertung der Politik der letzten
Jahre, sondern eine Bewertung dessen abgegeben hat,
was Ihr Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der
sich selber schon manchmal als kommender FDP-Partei-
chef feiern lässt, in Brüssel als Politik der Bundesregie-
rung für die nächsten Jahre angemeldet hat. Die EU-
Kommission hat dazu gesagt: Ihr schafft noch nicht ein-
mal die Hälfte von dem, was ihr euch vorgenommen hat. –
Glauben Sie nicht, dass es für ein Hightechland, das
diese Technologie weltweit verkaufen will, ein Armuts-
zeugnis ist, wenn es schlechter als der Durchschnitt der
Europäischen Union dasteht?
Ihre Antwort, Herr Kauch.
Lieber Herr Kelber, wir haben in den letzten Jahren
eine Politik erlebt
– das mag ja sein –, die auch Sie für richtig gehalten ha-
ben. Herr Gabriel, Ihr jetziger Parteivorsitzender, hat uns
erklärt, er sei der große Held der Umweltpolitik und
bringe die Sache jetzt voran. Die Maßnahmen, die Sie
mit dem Integrierten Klima- und Energieprogramm be-
gonnen haben und die wir jetzt fortführen,
sind gemäß Ihrer Aussage offensichtlich falsch. Das
kann doch nicht sein.
Wir haben auf das IKEP die Projekte des Energiekon-
zeptes aufgesetzt.
Die Zeitperspektive für diese Projekte geht bis 2050. Wir
werden die Ziele in puncto Energieeffizienz und in Be-
zug auf erneuerbare Energien im Rahmen dieses Ener-
giekonzeptes erreichen, Herr Kelber.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4528, 17/4529, 17/4527 und 17/
4544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordi-
nierung der Rechts- und Verwaltungsvor-
schriften betreffend bestimmte Organismen
für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren
– Drucksache 17/4510 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver-
standen. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk das
Wort für die Bundesregierung.
H
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf will dieBundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Stärkungder Qualität des Investmentfondsgeschäftes, aber aucheinen Beitrag für die Verbesserung des Anlegerschutzesin unserem Land leisten. Unter Anpassung an geänderteeuropäische Vorgaben soll der InvestmentfondsstandortDeutschland durch eine Modernisierung des Aufsichts-und Regulierungsrahmens gestärkt werden.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir dieneugefasste Investmentfonds-Richtlinie der Europäi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9835
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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schen Union umsetzen, die bis zum 1. Juli dieses Jahresin nationales Recht umgesetzt werden muss. OGAW– das ist die Abkürzung für „Organismen für gemein-same Anlagen in Wertpapieren“ – ist die europäischeKunstbezeichnung für Wertpapier-Investmentfonds.Man muss solche schönen Begriffe den Menschen drau-ßen im Land erklären.Das heute umzusetzende neue Konzept der Europäi-schen Union sieht Folgendes vor:Es wird ein Kurzinformationsblatt mit den wesentli-chen Anlegerinformationen eingeführt. Auf zwei Seitensollen dem Anleger prägnant die wesentlichen Merkmaleseiner Anlage erläutert werden. Beispielsweise sollenChancen und Risiken sowie die mit der Anlage verbun-denen Kosten für den Anleger verständlich dargestelltwerden. Er soll auch einen Überblick über die bisherigeWertentwicklung dieses Investmentfonds erhalten.Ein wesentlicher Punkt zur Verbesserung der Effi-zienz des Investmentgeschäfts wird die Ermöglichunggrenzüberschreitender Fondsverwaltung sein. Damitkönnen künftig auch ausländische Fondsverwaltungsge-sellschaften in Deutschland ohne inländische Tochterge-sellschaft deutsche Investmentfonds auflegen. Ebenfallsdürfen zukünftig aber auch deutsche Kapitalgesellschaf-ten Investmentfonds im Nachbarland auflegen, ohnedurch eine eigene Gesellschaft vor Ort zu sein und ohnedass dies mit Personalverschiebungen vom Inland insAusland verbunden ist.Eine wesentliche Verbesserung wird zudem beimgrenzüberschreitenden Fondsvertrieb eingeführt. Bishermusste sich eine deutsche Fondsgesellschaft bei einemVerkauf ihrer Produkte im Ausland mit ausländischenAufsichtsbehörden in einem mehrwöchigen Verfahrenbis zu zwei Monate über die Markteinführung auseinan-dersetzen. Zukünftig wird dieses bislang sehr bürokrati-sche Verfahren im Sinne der Marktteilnehmer verein-facht, ohne dass Anlegerschutzbelange vernachlässigtwerden. Die Fristen für die sogenannten Vertriebsanzei-gen werden stark verkürzt. Erforderliche Unterlagen wer-den innerhalb der Aufsichtsbehörden übermittelt. Damitwerden im Sinne des europäischen Binnenmarktes dieRahmenbedingungen für den grenzüberschreitenden Fonds-verkauf ganz wesentlich verbessert, und es wird ein we-sentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau geleistet.Fondsgesellschaften sollen zukünftig bessere Mög-lichkeiten bekommen, ihre Angebotspalette zusammen-zufassen und effizienter zu verwalten. Hierzu sollengrenzüberschreitende Fondsverschmelzungen und soge-nannte Master-Feeder-Konstruktionen ermöglicht wer-den. Bei Letzterem handelt es sich um eine zweistöckigeFondsstruktur. Hierbei investiert ein sogenannter Fee-derfonds nahezu sein gesamtes Vermögen in einen soge-nannten Masterfonds. Beide Maßnahmen dienen eben-falls der Effizienzsteigerung des Investmentgeschäfts.Gleichzeitig wird die Anlegerinformation bei Nutzungdieser neuen Möglichkeiten erheblich ausgebaut.Vergleichbar dem bereits bestehenden Schlichtungs-wesen für Banken soll zudem ein Schlichtungswesen beiInvestmentfonds eingeführt werden, das dem Verbrau-cher eine einfache Möglichkeit bietet, sich über Miss-stände zu beschweren. Dies verbessert seine Positiondeutlich, da er eine einfache Möglichkeit bekommt, seinRecht durchzusetzen, ohne den Kosten des ordentlichenGerichtsweges ausgesetzt zu sein.Der Gesetzentwurf sieht zudem eine deutliche Ver-besserung des Anlegerschutzes im Bereich der Anleger-information vor. Wenn Fondsgesellschaften zukünftigKosten erhöhen oder ihre Anlagepolitik umstellen, sollder Anleger direkt informiert werden. Gebührenerhö-hungen, die der Anleger kaum wahrnimmt, weil sie nurin Tageszeitungen oder im Bundesanzeiger veröffentlichwerden, sind in Zukunft nicht mehr möglich.Ein wichtiger Punkt aus dem Koalitionsvertrag, der indiesem Umsetzungsgesetz aufgegriffen wird, ist die Ver-besserung der Rahmenbedingungen für sogenannte Mi-krofinanzfonds. Hier sollen bestehende Hemmschwellenabgebaut werden; denn die bisherigen restriktiven Anfor-derungen des Investmentgesetzes an Mikrofinanzinstitutehaben dazu geführt, dass keine Mikrofinanzsonderver-mögen in Deutschland aufgelegt wurden. Die Anforde-rungen an die Mikrofinanzinstitute werden deshalb durchdieses Gesetz auf ein angemessenes Maß zurückgeführt.Gestatten Sie zum Schluss noch den Hinweis, dassdas Gesetz neben den aufsichtsrechtlichen auch wichtigesteuerliche Regelungen enthält. Das betrifft insbeson-dere Anpassungen wegen der nach der OGAW-IV-Richt-linie zugelassenen grenzüberschreitenden Fondsverwal-tung. Wichtig ist dabei der Hinweis auf eine steuerlicheRegelung, die keinen unmittelbaren Bezug zu dieserEU-Richtlinie hat, die sich aber strikt gegen missbräuch-liche Steuergestaltungen mit Aktienleerverkäufen rich-tet. Akteure der Finanzbranche versuchen gegenwärtignämlich, durch Auslandsgeschäfte mit deutschen Aktienden deutschen Fiskus zu schädigen, indem ungerechtfer-tigte Quellensteuererstattungen veranlasst werden. Ge-gen solche missbräuchlichen Gestaltungen gehen wir mitdem vorgelegten Gesetzentwurf unverzüglich und kon-sequent vor.Wir sind davon überzeugt, dass mit den in dem Gesetz-entwurf vorgesehenen Maßnahmen die europäischen Vor-gaben zur Steigerung der Effizienz des Investmentfondserreicht werden, der Investmentfondsstandort Deutsch-land gestärkt, aber auch der Anlegerschutz weiter ent-scheidend verbessert wird.Ich bitte um zügige Beratung und dann um Zustim-mung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Carsten Sieling.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Staatssekretär hat eben dargelegt, dass dieses Ge-setzgebungsvorhaben, das auf eine Vorgabe der EU zu-
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9836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Dr. Carsten Sieling
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rückgeht, unterschiedliche Facetten hat. Auf den erstenBlick scheint dieser Gesetzentwurf sehr technisch zusein. Man hat insgesamt den Eindruck, dass er außerhalbder Fondsbranche noch keine großen Wellen schlägt.Herr Staatssekretär, wir stehen in der Tat am Anfangder Beratungen. Ich will Ihnen an dieser Stelle gerne sa-gen, dass auch wir ein Interesse daran haben, diesen Ge-setzentwurf zügig zu beraten. Ich kann Ihnen heute abernoch nicht zusagen, dass wir auch Ihrem Wunsch ent-sprechen, zuzustimmen.
Wir müssen uns erst einmal die weiteren Schritte an-schauen.Wenn wir genauer hinschauen, stellen wir auf jedenFall fest, dass man diesen Gesetzentwurf keineswegs nurals technisches Klein-Klein bezeichnen kann. Es ist schonso, dass eine Reihe von Änderungen im Investmentbe-reich geplant sind, die immerhin einige HunderttausendeKleinanlegerinnen und Kleinanleger betreffen werden,die ihr Geld in diesem Bereich investiert haben, undzwar sehr oft als Altersvorsorge. Von daher ist das einThema, dem wir uns sehr stark widmen müssen. BeimThema Investmentfonds wird man ohnehin hellhörig an-gesichts der Tatsache, dass mittlerweile etwa 25 Milliar-den Euro Anlegergeld in kriselnden Fonds gesperrt sind.Das muss man sich immer wieder vor Augen führen.Das ist ein guter Grund, genau zu schauen, was wir hiervorliegen haben.Staatssekretär Koschyk hat die verschiedenen As-pekte vorgestellt; ich will das nicht wiederholen. Ichmöchte mich in dieser ersten Lesung auf zwei Punktekonzentrieren und dazu einige Aspekte ansprechen. Zumeinen geht es mir um die Möglichkeiten der Fondsver-schmelzung, um Übernahmemöglichkeiten und derenKonsequenzen. Zum Zweiten geht es mir um den vomStaatssekretär angesprochenen Beipackzettel, um das so-genannte Key Investor Document, KID genannt, das eszukünftig geben soll und das für die Anlegerinnen undAnleger eine Art Produktinformationsblatt darstellt.Ich komme zum ersten Punkt, zur Möglichkeit derVerschmelzung. Es ist deutlich gemacht worden, dass esinfolge der Richtlinie, die wir umsetzen sollen, für Fondseinfacher wird, deutschland- und europaweit zu Ver-schmelzungen zu kommen. Es kann leichter zu gegen-seitigen Übernahmen kommen. Das gesamte Vermögensoll dann in sogenannten Master-Feeder-Konstruktionen,deren genaue technische Ausgestaltung wir uns, glaubeich, noch anschauen müssen, zusammengebracht wer-den. Die EU verspricht sich davon ausweislich der Vor-lagen einen Effizienzgewinn in Höhe von mehreren Mil-liarden Euro. Das ist eine Dimension, die uns dazubringen sollte, sehr genau hinzuschauen.Wenn diese Fonds effizienter arbeiten können, dannkönnen sie auch mehr Geld für die Anlegerinnen undAnleger ausschütten; das ist völlig klar. Ich glaube, da-rauf muss man hinweisen und hinarbeiten. Eine Gefahrsehe ich darin – ich denke, im Gesetzgebungsverfahrenmüssen wir sorgfältig darauf achten –, dass größere kri-selnde Fonds versuchen könnten, sich sozusagen ge-sundzukaufen, indem sie sich kleinere, gut funktionie-rende Fonds einverleiben. Ich habe in einem Fachaufsatzgelesen, dass diese Regelungen durchaus dazu führenkönnen, dass in Europa so etwas wie Fondsfabriken ent-stehen. Ich will hier sagen, dass wir diesen Aspekt genaubeachten müssen; denn wir können nicht wollen – daswäre nicht im Interesse der Anlegerinnen und Anleger –,dass gute Arbeit derart belastet wird.In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen,dass die Aufsicht in besonderer Weise strukturiert wer-den muss; denn gerade bei grenzüberschreitenden Fondswird man darauf achten müssen, dass dies sicher und or-dentlich abläuft. Ich bin gespannt, welche VorschlägeSie machen werden und wie die BaFin gestaltet oderstrukturiert werden soll, damit sie dieses durchaus neueProblem präzise erfassen kann.Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte,betrifft die Produktinformationsblätter. Das OGAW-IV-Umsetzungsgesetz wird kein reines Anlegerschutzge-setz, sondern – das wurde richtig gesagt – soll die Fondsstabiler machen. Nichtsdestotrotz möchte ich im Zusam-menhang mit der von uns sehr intensiv geführten Dis-kussion über das Anlegerschutzgesetz der Bundesregie-rung sagen, dass es eindrucksvoll ist, was die EU aufdiesem Gebiet plant und wie sie versucht, das Produktin-formationsblatt zu regeln. Sie sprechen von zwei Seiten;aber diese zwei Seiten haben es in sich. Vor allen Dingenan die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU undFDP gerichtet sage ich, dass wir einmal schauen müssen,ob wir uns davon für das Anlegerschutzgesetz, das inBeratung ist, nicht eine Scheibe abschneiden können.Die Richtlinie der EU sieht vor, dass Angaben zurIdentität der Fonds gemacht werden und Anlageziele undAnlagestrategien beschrieben werden. Die Risiken sollensehr detailliert und aufgeschlüsselt in Kreditrisiko, Liqui-ditätsrisiko, Ausfallrisiko usw. dargelegt werden. DieWertentwicklung muss sich in diesem Blatt gegebenen-falls in Performanceszenarien wiederfinden. Ebensomüssen Kosten und Gebühren sowie Ausgabeauf- undRücknahmeabschläge dargestellt werden. Das ist eineLehre aus der Lehman-Pleite, aus dem Verlust, den vieleMenschen erlitten haben. Die Regelungen sind sehr weit-reichend und umfassen immerhin 15 Seiten der Verord-nung.Wenn ich mir anschaue, was wir zurzeit bezüglich ei-nes Produktinformationsblattes im Bereich Anleger-schutz beraten, muss ich sagen, dass das weit dahinterzurückfällt. Dort heißt es nur dürr – sozusagen „Made byBundesregierung“ –, dass die damit verbundenen Risi-ken – ohne nähere Erläuterung – und die Kosten des Pro-dukts – ohne nähere Aufschlüsselung – behandelt wer-den sollen. Ich denke, diese OGAW-Richtlinie kann einrichtiger und wichtiger Schritt sein, um den Anleger-schutz in Deutschland zu verbessern.Wenn gleich das Argument vorgebracht wird, manmache das, wenn die sogenannte PRIPs-Initiative derEU kommt, dann muss ich sagen: Es ist natürlich eineMöglichkeit, abzuwarten. Die andere Möglichkeit wäre,schon jetzt den vorliegenden Vorschlägen der Verbrau-cherverbänden und der Fraktionen hier im Hause, auch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9837
Dr. Carsten Sieling
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von uns als SPD, zu folgen und den Anlegerschutz in al-len Bereichen zu stärken; denn wir müssen – ich habe Ih-ren Koalitionsvertrag so verstanden, dass Sie dafür sor-gen wollen; dann tun Sie das auch – für eineneinheitlichen Anlegerschutz und eine einheitliche Hand-habung der Investmentfonds in Deutschland sorgen. Las-sen Sie uns früh damit anfangen und es genau machen.Wir befinden uns heute in der ersten Lesung. Es gehtdarum, sich diesem Gesetzentwurf und den vielen ver-schiedenen Anforderungen zu nähern. Wir werden imFinanzausschuss alsbald eine öffentliche Anhörung dazudurchführen. Ich kann hier nur sagen: Wir als SPD wer-den sehr genau darauf schauen, wie dieses Umsetzungs-gesetz für Deutschland aussieht; denn wir wollen einestarke Investmentfondslandschaft mit einer effizientenAufsicht und geringen Kosten für die Anlegerinnen undAnleger. Das muss dieses Verfahren hergeben. Wenn dasermöglicht wird, dann können wir darüber reden, wiewir eine gemeinschaftliche Beschlussfassung erreichen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Björn Sänger für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der Investmentfonds hat unterschiedliche Di-mensionen; eine Dimension ist die sozialpolitische. In-vestmentfonds bieten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern die Möglichkeit, sich aktiv am Produktivkapital zubeteiligen. Der Investmentfonds stellt damit einen Er-folgsweg in der sozialen Marktwirtschaft dar. Die Formder Beteiligung der Werktätigen am Kapital, Herr Kol-lege Koch, ist aus unserer Sicht erfolgversprechender alsandere Wege, bei deren Suche Sie sich gerne als Pfadfin-der beteiligen.Der Investmentfonds ist als Altersvorsorgeproduktsehr geeignet; denn auf lange Sicht lassen sich hiermitgute Renditen erzielen. Auf die letzten 30 Jahre betrach-tet schwanken diese je nach Produktklasse zwischen5,5 Prozent und 8,8 Prozent. Deswegen wird er auchsehr gerne beim Riester-Sparen eingesetzt.Er hat eine finanzierungspolitische Dimension. Erfungiert als Kapitalsammelstelle. Die Investmentfondsnehmen eine Fristentransformation vor, die durchaus in-teressanter ist als die der Banken. Schließlich ist dieFristentransformation bei Krediten auch mit Risiken be-haftet.Er hat einen volkswirtschaftlichen Nutzen bei der pri-vaten Vermögensvorsorge bzw. -bildung. Mit kleinenBeiträgen ist es den Anlegerinnen und Anlegern mög-lich, ein diversifiziertes Portfolio aufzubauen.Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Umsetzungder OGAW-Richtlinie dar. OGAW IV sagt ja schon aus,dass dieser Gesetzentwurf eine lange Geschichte hat. Esgab OGAW I und OGAW III; OGAW II ist ausgefallen.Nun gibt es OGAW IV. Ich denke, im Prinzip sind alleUmsetzungsgesetze – dies gilt sicherlich auch für diesesvierte – von der Branche begrüßt worden, weil das Pro-dukt und der Rechtsrahmen Stück für Stück weiterentwi-ckelt wurden. Auch innerhalb der politischen Klasse istes nicht sonderlich umstritten.Dieses Gesetz ist nicht der Finanzkrise geschuldet.Vielmehr befand es sich ohnehin in der Pipeline, hat einelange Vorgeschichte und ist gewissermaßen Business asusual, um den Investmentfonds attraktiver zu machen.Allerdings sind auch in diesem Gesetzentwurf die Pro-bleme der Finanzkrise aufgegriffen worden. Ein Kindkommt auf die Welt: das KID, das Key Investor Docu-ment; auch Herr Staatssekretär Koschyk hat es erwähnt.Insgesamt kann man feststellen: Die Branche wirddurch eine stärkere Europäisierung gestärkt. Es werdenMöglichkeiten geschaffen, vermehrt grenzübergreifendzu investieren.Wir müssen in den Beratungen schauen, ob die tech-nische Umsetzung reibungslos gelingt: Erfüllen die Re-gelungen den Sinn, für den sie gedacht sind? Werdennicht nutzlose Informationen geschaffen? Entstehennicht überflüssige Kosten? Schließlich knabbern zusätz-liche Kosten sehr stark an der Rendite.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir solltendieses Gesetz auch nutzen, um eine im Prinzip fertigefinanzpolitische Innovation dranzuhängen und denFondsstandort Deutschland und den FinanzplatzDeutschland noch weiter zu stärken: Wir sollten darübernachdenken – das ist ebenfalls im Sinne der Bundes-regierung; auch Staatssekretär Koschyk hat gesagt, derFondsstandort Deutschland solle gestärkt werden –, obwir nicht auch das sogenannte Pension Pooling in diesesGesetz integrieren.Zurzeit ist es so, dass große, international tätige Kon-zerne ihre Altersvorsorgeeinrichtungen in den unter-schiedlichen Ländern separat ansiedeln. Mithilfe einesPension Poolings würde man diese an einem Standortbündeln können. Man würde weitere Effizienzgewinneerzielen und damit schlussendlich auch die Rendite fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhen. DieRede ist von 0,5 Prozent Rendite; auf 30 Jahre betrachtetist dies doch schon einiges. In anderen Ländern wird dasschon gemacht. Belgien, Luxemburg, Großbritannien,Irland und die Niederlande haben bereits entsprechendeVorkehrungen getroffen.Dabei gibt es möglicherweise eine Schwierigkeit; daswill ich gar nicht verschweigen. Denn die entsprechen-den Regelungen müssen DBA-konform gestaltet wer-den. Dies bedürfte einer umfangreichen Prüfung undwäre ein ambitioniertes Ziel. Wir sollten diese Chanceallerdings nutzen, um dieses Pension Pooling an das Ge-setz anzudocken und einen weiteren Schritt hin zu einemattraktiven Fondsstandort Deutschland zu machen.Insgesamt freuen wir uns auf die weiteren Beratungenund sind guter Hoffnung – ich denke, das zeigt auch die
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9838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Björn Sänger
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bisherige Debatte –, dass wir am Ende zu einem gemein-samen Ergebnis kommen können.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Harald Koch für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass
die Bundesregierung nichts aus der Finanzkrise gelernt
hat und weitermacht wie bisher, dann wäre dieser Ge-
setzentwurf der Beweis.
Teile der Fondsbranche werden zu Recht als Schatten-
bankensystem bezeichnet. Das bedeutet nichts anderes,
als dass jene Hochrisikogeschäfte, die bisher von Ban-
ken betrieben wurden und die Krise mit ausgelöst haben,
zunehmend von Investmentfonds und Hedgefonds aus-
geübt werden. Exakt davor warnte am 20. Januar dieses
Jahres der Chefkorrespondent der Finanzzeitung Han-
delsblatt, Robert Landgraf:
Dieses gefährliche Ausweichmanöver muss ge-
stoppt werden.
Schattenspieler sind harten Regeln zu unterwerfen.
Sonst werden die Schattenbanken von heute zum
Wachstumssektor der Finanzindustrie von morgen.
Niemand wird ernsthaft glauben, dass deren Risi-
ken nur reiche Privatleute treffen, …
Meine Damen und Herren, dass Sie auf die Linke hö-
ren, erwartet ernstlich niemand. Aber nehmen Sie sich
doch wenigstens die Empfehlung Ihrer Hauspostille zu
Herzen.
Ich sage Ihnen: Vor lauter Effizienz- und Wettbe-
werbsdenken blenden Sie gesamtwirtschaftliche Risiken
wieder einmal völlig aus. Stattdessen tun Sie alles dafür,
dass sogenannte Feeder Fonds immer größer werdende
Master Fonds noch besser füttern können. Sie wollen,
dass bestehende Fonds noch besser über Grenzen hin-
weg miteinander verschmelzen können. Ihre größte
Sorge ist, dass die Aufsichten jener Länder, in die die
Fonds expandieren wollen, zu viele lästige Fragen stel-
len.
Sie geben folglich vor, Sie wollten mit dem Gesetz
den angeblich zu kleinteiligen Markt der Investment-
fonds straffen, um Gebührensenkungen für die Anleger
zu erreichen. Wenn Sie das tatsächlich wollen, dann
schaffen Sie eindeutige und transparente Regeln über
Obergrenzen für Gebühren! Ebenso haben Sie es ver-
säumt, die Kennzahl der Gesamtkostenquote zu überar-
beiten, um eine umfassendere Kostentransparenz für die
Verbraucher herzustellen. Dazu müssten Ausgabeauf-
schläge, erfolgsabhängige Vergütungen und anderes
berücksichtigt werden. In Anbetracht dieser Unterlas-
sungen ist die Einführung der „Wesentlichen Anleger-
informationen“ als Element des Verbraucherschutzes
nichts anderes als eine schlechtsitzende Tarnkappe zur
Verschleierung der weiteren Deregulierung.
Solange eine durchgreifende Finanzmarktregulierung
unterbleibt, die das Schattenbankensystem umfasst, so
lange können Sie dem Dilemma einer angemessenen
Anlegerinformation – zu viele Informationen sind für
den Kleinanleger nicht zu bewältigen; übersichtliche In-
formationen verweisen vielleicht doch nicht auf die ent-
scheidenden Risiken – auch mit diesem Instrument nicht
entkommen.
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit fördert die
OGAW-IV-Richtlinie Konzentration und Monopolisie-
rung im Fondssektor. Riesige Kapitalüberschüsse strö-
men auf der Suche nach Profit um den Globus. Aufgrund
dieser Überliquidität bilden sich immer neue, gefährli-
che Spekulationsblasen; das hatten wir schon einmal.
Die Überliquidität ist Folge der massiven, sich verschär-
fenden Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich.
Die neuen Vorschriften leisten dem Trend zu immer
größeren, scheinbar profitträchtigeren Fonds mit ent-
sprechend größeren Hebelwirkungen Vorschub. Es ist
doch offensichtlich, dass zunehmend übermäßige Risi-
ken eingegangen werden. Dementsprechend wird über
kurz oder lang viel Geld einer noch größeren Zahl von
Anlegern verbrannt. Verbraucherschutz sieht anders aus.
Auch werden immer größere Heuschrecken herange-
züchtet. Hinterher, wenn die Heuschrecken solide Ziel-
unternehmen ruinieren und auszehren, wird geklagt.
Wir brauchen endlich Rahmenbedingungen, die diese
Fonds zu längerfristigen Investments und zu weniger
spekulativem Agieren verpflichten. Wir brauchen stabile
Finanzmärkte und eine entsprechend strikte Regulie-
rung.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schickfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Koch, jetzt war ich doch ein wenig überrascht. Ichglaube, es ist nicht so ganz klar geworden, was genau IhrWunsch ist, was man bei dem Gesetz, das hier vorliegt,eigentlich anders machen sollte. Ich glaube, wir müssenuns schon klarmachen: Wenn wir Konsequenzen aus derFinanzkrise ziehen, dann hilft es nicht, auf der großenOberfläche zu bleiben; vielmehr geht es um ganz kon-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9839
Dr. Gerhard Schick
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krete Regeln. Dazu müssen Sie ganz konkrete Vor-schläge machen.
Ich muss zugeben, dass ich dieses relativ dicke Gesetzmit dem Datum 24. Januar 2011 – es ist noch nicht solange her, dass es eingebracht worden ist – noch nichtvollständig durchdrungen habe. Ich glaube, dass ich da-mit nicht der Einzige bin, weil all die Fragen der grenz-überschreitenden Fusionen, Schließungen von Fondsusw. eine relativ komplexe Materie sind, die nicht täg-lich bei uns aufschlägt.Es gibt eine Herausforderung, bei der ich mir nochnicht sicher bin, ob wir ihr gerecht werden können. Dieverschiedenen Gesetzgebungsprozesse, die auf der euro-päischen und auf der nationalen Ebene laufen, interagie-ren. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich schaffen,ein konsistentes Anlegerschutzrecht und eine konsistenteFinanzmarktregulierung sicherzustellen. Das ist einegroße Sorge. Ich glaube deswegen, dass wir im Rahmendieses Gesetzgebungsprozesses zu OGAW IV auch ei-nen Input für den OGAW-V-Prozess brauchen, weil dieSachen offensichtlich gerade parallel diskutiert werden,wir gleichzeitig an zwei Schrauben drehen und wissenmüssen, was an welcher Stelle jeweils gemacht wird.Ich will ein paar Punkte nennen, die für uns in derDiskussion wichtig sein werden. Der erste Punkt wurdeschon genannt und betrifft die „Wesentlichen Anleger-informationen“. Für uns ist es wichtig, dass es wirklichzu einer knappen, präzisen, aber auch entscheidungsrele-vanten Informationsgrundlage kommt und dass das mitdem zusammenpasst, was wir den Anlegern bei anderenProdukten vorschlagen.Der zweite Punkt ist, dass wir Konsequenzen aus demMadoff-Skandal ziehen müssen. Bisher schien es so, alswürde das in der OGAW-V-Richtlinie angesprochenwerden. Wir müssen schauen, dass das Thema nicht un-tergeht. Denn ich befürchte, dass die Europäische Unionkeine wirklichen Konsequenzen daraus zieht, dass es imBereich der Fonds eine Regulierungsarbitrage vonLuxemburg gibt. Diese ist bisher nicht abgestellt wor-den, und ich sehe keine konkreten Vorschläge, mit dersie abgestellt werden kann. Das führt dazu, dass Anleger– eher in Frankreich als in Deutschland; aber das hätteauch umgekehrt sein können – einen Schaden aus die-sem Anlagebetrug in den USA erlitten haben, weil De-potbanken in Luxemburg, von der luxemburgischenAufsicht durchaus bewusst nicht kontrolliert, ihre Arbeitnicht getan haben. Daraus müssen Konsequenzen gezo-gen werden.
Bei der Fusion von Fonds ist die Frage zu regeln,wann die Anleger Informationen bekommen müssen.Das geschieht bisher zu spät. Es ist das Eigentum derAnleger, mit dem gewirtschaftet wird. In dem Umset-zungsgesetz und der Richtlinie, die ihm zugrunde liegt,ist diesbezüglich jetzt ein richtiger Schritt gegangenworden. Wir werden schauen müssen, ob das so aus-reicht oder ob man da nachsteuern muss.Ich habe wahrgenommen, dass Sie beim REIT-Gesetzjetzt noch einmal mit der Exit Tax nachsteuern. Da wärevielleicht die Frage zu klären, ob das heißt, dass Sie Ih-ren Fehler im Koalitionsvertrag, die Einbeziehung vonWohnimmobilien, jetzt korrigieren und sich auf die vor-geschlagene Änderung beschränken oder ob Sie nochWeiteres vorhaben.Ich habe bereits im Ausschuss angesprochen, dassauch die Frage zu klären ist, wie wir auf kritische Ent-wicklungen im Mikrofinanzbereich reagieren können.Man hat inzwischen Erfahrungen, welche Modelle funk-tionieren und welche nicht. Wir sollten jetzt nicht nur aufdie deutsche Regulierung schauen, sondern auch berück-sichtigen, was in den Zielländern der Investitionen vorOrt im Einzelnen geschieht, damit wir ein sicheres Pro-dukt schaffen, das seinem Zweck, der Förderung vonMikrofinanzierungen, auch wirklich dient und nicht ir-gendwann, wie es in einzelnen Fällen von Mikrofinanz-instituten der Fall war, zu einem Nachteil für die Anlegerwird.Es gibt viele andere – auch steuerlich relevante – Fra-gen, bei denen wir noch ganz stark in die Tiefe gehenmüssen. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, in dieserersten Lesung ein paar Punkte anzusprechen, die imRahmen dieser Diskussion eine Rolle spielen sollten.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu spä-ter Stunde beschäftigen wir uns hier mit einem Gesetz,das – wenn man die Ausführungen meiner Vorrednerwahrgenommen hat – für den einen oder anderen sehresoterisch klingen mag. Es ist schon sehr speziell. Es isteine Sache, bei der man sagen könnte, es handele sich janur um die Umsetzung von europäischem Recht, ange-reichert um einen Restanten aus dem Restrukturierungs-gesetz: die Mikrofonds und die Schließung von Steuer-schlupflöchern.Aber ich glaube, es ist trotzdem wichtig, dass wir unshier an dieser Stelle mit diesem Gesetz beschäftigen,weil ich es eigentlich nicht mag, wenn wir sagen: Das istja nur die Umsetzung von europäischem Recht. – Zu sa-gen: „Das ist nur die Umsetzung von europäischemRecht“, wertet dieses Haus ab. Wenn man sich die Quan-tität der Vorhaben, die wir uns hier vornehmen, ansieht,stellt man fest: Das ist oftmals nur die Umsetzung voneuropäischem Recht.
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9840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Ralph Brinkhaus
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Wir Finanzpolitiker wissen, dass die Umsetzung voneuropäischen Rechten ziemlich wichtig ist. Sie ist des-wegen wichtig, weil wir in den letzten Jahren aus derKrise gelernt haben, dass wir mit nationaler Gesetzge-bung oft an unsere Grenzen stoßen. Was hätte es uns ge-nutzt, Ratingagenturen nur in Deutschland zu regulieren,nicht aber in anderen Ländern? Was würde es uns nut-zen, Leerverkäufe hier zu verbieten, wenn die entspre-chenden Finanzmarktakteure dann nach London abwan-dern? Was würde es uns nutzen, deutsche Banken mitEigenkapitalregelungen zu belasten, die in den USA sonicht übernommen werden? Das Ganze könnte man be-liebig weiterführen.Meine Damen und Herren, wir haben die Erkenntnisgewonnen, dass große Probleme eigentlich nur interna-tional zu lösen sind, am besten weltweit. Aber wir habenauch lernen müssen, dass das nicht möglich ist. Es istdeswegen nicht möglich, weil einige Länder sagen: Daswar damals eure Finanzkrise. Was interessiert uns eureRegulierung? Wir brauchen das nicht.Das geht auch deshalb nicht, weil es Länder gibt, lei-der auch in der EU, die mangelnde Regulierung – HerrSchick hat es gerade angesprochen – als Standortvorteilbegreifen; man spricht in diesem Fall von Regulierungs-arbitrage oder – böse – von Regulierungsdumping. Ir-land war kein gutes, sondern ein sehr schlechtes Beispieldafür.Ich bin nachhaltig der Überzeugung: Wenn es unsnicht gelingt, auf globaler Ebene Lösungen zu finden,dann müssen wir uns bemühen, zumindest mit unserenengsten Partnern, unseren Freunden in der EuropäischenUnion, Lösungen zu finden, mit denen wir die Regelun-gen, die das OGAW-IV-Umsetzungsgesetz vorsieht, um-setzen. Wir müssen einen gemeinsamen Markt organi-sieren und ein Level Playing Field schaffen, mit gleichenStandards, mit guter Aufsicht, mit Austausch von Infor-mationen, mit Kommunikation.Ich bin nachhaltig davon überzeugt, dass wir diewichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betreffen, nureuropäisch lösen können. Ich wiederhole das: Wir kön-nen die wichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betref-fen, nur europäisch lösen. Dabei werden wir den einenoder anderen Kompromiss, der nicht unbedingt deut-schen Interessen entspricht, eingehen müssen, an dieserStelle und, wie ich befürchte, auch in dem einen oder an-deren Bereich, über den momentan im europäischenKontext diskutiert wird.Umso wichtiger ist es, dass wir als Parlament uns alsaktiven Teil dieses europäischen Richtlinien- oder Ge-setzgebungsprozesses begreifen, so wie Art. 23 Grund-gesetz das eigentlich auch vorsieht. Ich glaube, da habenwir noch eine Menge Potenzial nach oben. Wir dürfenuns zum Beispiel nicht erst dann mit den Richtlinien be-schäftigen, wenn sie uns vorgelegt werden und kaumnoch zu ändern sind, sondern wir sollten uns früh ein-schalten. Wir als Deutscher Bundestag sollten unserePosition deutlich machen, indem wir der Bundesregie-rung für die Diskussionen im Rat ein Mandat mitgeben.Wir sollten den Dialog mit den Verantwortlichen in derKommission suchen und mehr als in der Vergangenheitmit unseren Kollegen im Europäischen Parlament Handin Hand arbeiten. Ich denke, hier haben wir durchausnoch einigen Nachholbedarf. Es ist wichtig, dass wir niesagen: Das ist ja nur die Umsetzung von europäischemRecht.Im Übrigen befreit uns die Nur-Umsetzung von euro-päischem Recht nicht von der Notwendigkeit, einensorgfältigen Gesetzgebungsprozess durchzuführen. Esist nämlich auch eine Herausforderung, die europäischenVorgaben an die nationalen deutschen Besonderheitenanzupassen.Ich bin sehr froh, Herr Sieling, Herr Schick, Herr Kol-lege Sänger – Herr Koch, was Sie betrifft, gilt das leiderein bisschen weniger –, dass Sie diesen Prozess sehrernst nehmen und die Bereitschaft geäußert haben, dasGanze nicht einfach nur durchzuwinken, sondern sichdurchaus auch mit den Details zu beschäftigen. Ich haltedas für richtig.Sie haben es angesprochen: Wir werden am23. Februar dieses Jahres eine Anhörung zu diesemThema durchführen. Wir werden die Anregungen undHinweise aus dieser Anhörung erwägen und bewerten.Wir werden dieses Gesetz gegebenenfalls ändern. Wirwerden unsere Arbeit dann im Sinne von HerrnKoschyk, der ein zügiges Vorgehen erbeten hat, aller Vo-raussicht nach Ende März dieses Jahres abschließen.Wie ich gehört habe, werden wir das gemeinsam ma-chen. Das ist gut und, wie ich glaube, auch ein gutesEnde dieses Tages. In diesem Sinne freue ich mich aufdie Beratungen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/4510 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damitsind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Über-weisung so beschlossen. Wir kommen nun zu einerReihe von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten,bei denen keine Aussprache mehr vorgesehen ist. Darfich davon ausgehen, dass Sie einverstanden sind, wennich die Namen derjenigen Kolleginnen und Kollegen,die ihre Rede zu Protokoll geben, nicht jeweils vorlese?Sie können sie dann im Protokoll nachlesen. – Das istder Fall.Dann beginnen wir mit dem Tagesordnungspunkt 12:Beratung des Antrags der Abgeordneten JosipJuratovic, Anton Schaaf, Anette Kramme, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFaire Mobilität und soziale Sicherung – Vo-raussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügig-keit ab 1. Mai 2011 schaffen– Drucksache 17/4530 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie Reden sind zu Protokoll gegeben worden.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4530 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN150 Jahre diplomatische Beziehungen zwi-schen Deutschland und Japan– Drucksache 17/4545 –Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben wor-den.2)Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/4545 mit dem Titel„150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischenDeutschland und Japan“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion derSPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der Fraktion Die Linke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEDie Agrarwissenschaften in Deutschland aufhöhere Anforderungen ausrichten– Drucksache 17/4531 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAuch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4531 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sindSie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15:Beratung des Antrags der Abgeordneten KaiGehring, Volker Beck , Ingrid Hönlinger,1) Anlage 22) Anlage 33) Anlage 4weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSchwule, lesbische und transsexuelle Jugendli-che stärken– Drucksache 17/4546 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungDie Reden wurden zu Protokoll gegeben.4)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4546 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sindSie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 16 a und16 b:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SevimDağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKeine Unterstützung für die völkerrechtswid-rige Besatzungspolitik Marokkos in der West-sahara– Drucksache 17/4271 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Tom Koenigs, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMenschenrechtslage in Westsahara– Drucksache 17/4440 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich der Deutsche
Bundestag heute mit dem Thema Westsahara beschäf-
tigt. Dieses Thema steht in Deutschland nicht unbedingt
ganz oben auf der Tagesordnung, obwohl es sich um ei-
nen Jahrzehnte andauernden regionalen Konflikt han-
4) Anlage 5
Jürgen Klimke
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delt. Deshalb würde ich mir wünschen, wenn wir dies
mit dieser Debatte ein wenig ändern könnten.
Ich vertrete – ähnlich wie Volker Rühe das kürzlich
geäußert hat – die Auffassung, dass Deutschland sich in
den nächsten Jahren als Mitglied des Sicherheitsrates zu
Themen positionieren muss, denen wir Deutsche bisher
bequemerweise aus dem Wege gehen konnten. Die Frage
des Westsahara-Konflikts gehört sicherlich zu diesen
Themen.
Die Westsahara-Problematik ist eine zentrale Frage
für die Zukunft Marokkos und der gesamten Region von
Algerien bis Mauretanien. Sie bindet große militärische
Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen
Marokko und Algerien und steht der Kooperation und
Entwicklung im Maghreb entgegen. Es ist in einer
30 Minuten langen Debatte leider nicht möglich, die
Entwicklung des Konflikts mit seinen Ursachen und Er-
eignissen seit mehr als 30 Jahren zu analysieren. Des-
halb möchte ich mich kurz fassen und zunächst auf die
Inhalte der Anträge eingehen:
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist aus meiner
Sicht tendenziös. Er richtet sich eindeutig gegen Ma-
rokko, wie schon der Titel belegt, in dem von „völker-
rechtswidriger Besatzungspolitik“ die Rede ist.
Bedenklicher finde ich, dass im Antrag bei der Schil-
derung der Ereignisse im Lager Gdaim Izyk nahe
Laayoune verschwiegen wird, dass offenbar zehn der
zwölf Opfer marokkanische Sicherheitskräfte waren,
dass die Proteste also keineswegs so friedlich waren,
wie im Antrag der Linken hervorgehoben. Ich wundere
mich, dass diese auch im Antrag der Grünen erwähnte
Tatsache einfach verschwiegen wird. Das ist aus meiner
Sicht unredlich. Die marokkanische Seite spricht in die-
sem Zusammenhang übrigens von einer Situation, dass
sich eine Gruppe der Lagerinsassen während der Ver-
handlungen mit der marokkanischen Seite radikalisiert
habe und die Personen, die bereit waren, das Lager zu
verlassen, als Geiseln genommen habe. Erst daraufhin
hätten die Sicherheitskräfte ohne den Gebrauch von
Waffen eingegriffen.
Auch in der Frage des 14-jährigen getöteten Jungen,
der angeblich Nahrungsmittel und Medikamente in das
Lager Gdaim Izyk bringen wollte, gibt es andere Infor-
mationen. Diese berichten von bewaffneten Personen in
zwei Allradfahrzeugen, die einen Angriff gegen das
Wachpersonal in Laayoune ausübten und in deren Be-
gleitung sich auch der Junge befand.
Ich möchte hier gar nicht den Richter spielen und die
Ereignisse jener Tage abschließend beurteilen, jedoch
möchte ich festhalten, dass es offensichtlich unter-
schiedliche Versionen gibt. Wir sollten uns als Deut-
scher Bundestag nicht dazu hinreißen lassen, die Dar-
stellung einer Konfliktpartei eins zu eins für unsere
Argumentation zu übernehmen und daraus unrealisti-
sche Forderungen abzuleiten. Damit kommt die Linke
dem Ziel einer Lösung des Konflikts nicht näher, sie
sorgt nur für Radikalisierung und eine Verhärtung der
Positionen.
Zu Protokoll
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bildet eine
weit bessere Diskussionsgrundlage. Ich halte die Her-
vorhebung der Bedeutung der Menschenrechtslage in
der Westsahara zwar grundsätzlich für richtig, aber
dann muss man auch andere Fragen stellen, nämlich
nach der Rolle Algeriens in dem Konflikt oder der Situa-
tion in den von der POLISARIO geführten Flüchtlings-
lagern.
Es ist uns ja nicht einmal möglich, die Zahl der
Flüchtlinge in diesen Lagern unabhängig zu erfassen.
Im Antrag der Grünen steht eine Zahl von 160 000, in ei-
ne
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Die Weigerung der sahrouischen Behörden, einer Re-gistrierung zuzustimmen, legt jedoch nahe, dass ihrewirkliche Anzahl weit darunter und wahrscheinlichkaum über 90 000 liegt.“Wir müssen uns bei allen Fragen der Menschen-rechte, wo ich mir auch vonseiten Marokkos Verbesse-rungen wünsche, auch nach grundsätzlichen Lösungs-möglichkeiten des Konflikts fragen.Hier laufen ja derzeit die direkten Verhandlungenzwischen der POLISARIO und Marokko unter demneuen UN-Vermittler Christopher Ross. Und hier habenwir weiterhin die Situation, dass die Marokkaner von ei-ner Souveränität Marokkos über die Westsahara ausge-hen, während die POLISARIO ein Referendum mit Ein-schluss der Unabhängigkeit fordert. Da liegt dann derTeufel im Detail über die Frage, wer dann abstimmendarf und wie die Abstimmung erfolgt. Der Streit überdiese Frage hat letztlich ja schon früher ein Referendumverhindert.Marokko ist 2007 immerhin mit einem weitreichendenAutonomievorschlag von seiner bisherigen harten Ver-handlungslinie abgerückt, einem Vorschlag, den der Si-cherheitsrat in seiner Resolution 1871 vom April 2009als „ernsthafte und glaubwürdige Bemühungen“ cha-rakterisiert hat. Unter dem Aspekt der Menschenrechteund der wirtschaftlichen Entwicklung einer von einemjahrzehntelangen Konflikt betroffenen Region ist derAutonomievorschlag eine mögliche Lösung. Schließlichsind weitreichende Befugnisse für die Region in wirt-schaftlichen, sozialen und Haushaltsfragen vorgesehen.Ich möchte diese marokkanische Position nicht ein-fach übernehmen, vielmehr ist es immer Maßgabe deut-scher Außenpolitik gewesen, die Bemühungen der Ver-einten Nationen bei der Herbeiführung einer Lösung zuunterstützen. Hier hat es ja durch die Wiederaufnahmevon vertrauensbildenden Maßnahmen in Form von Fa-milienbesuchen und der wahrscheinlichen zukünftigenEinigung über solche Familienbesuche auch auf demLandweg durchaus Fortschritte gegeben.Wenn aber auch der neue UN-Vermittler ChristopherRoss bei der Suche nach einer Lösung letztlich nichtweiterkommen sollte, halte ich es für wichtig, dassDeutschland zukünftig klarer Position bezieht. DieFrage der Menschenrechte in der Westsahara sollte da-bei dann ebenso eine Rolle spielen, wie die Fragen der
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9842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
gegebene RedenJürgen Klimke
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Legitimation marokkanischer Ansprüche. Die Berechti-gung der Vertretungsansprüche der POLISARIO für dieBevölkerung in der Westsahara ist dabei auch zu hinter-fragen, und schließlich sollte es natürlich auch um einerealistische Einschätzung der machbaren Lösungswegegehen.Insofern begreife ich die heutige Debatte losgelöstvon Ihrem Anlass als einen Auftakt, sich auch im Deut-schen Bundestag verstärkt mit den Fragen jenes überJahrzehnte schwelenden Konflikts zu beschäftigen. Viel-leicht kann es uns Deutschen ja gelingen, hier eine Posi-tion zu entwickeln, die der Komplexität der Situation ge-recht wird und letztlich dazu beiträgt, eine tragfähigeLösung herbeizuführen.
Wir alle sind über das menschliche Leid, das durchden Westsahara-Konflikt verursacht wird, tief betroffen.Allein die jüngste Tragödie von Laayoune im Nordwes-ten der Sahara zeigt, welch dramatisches Ausmaß dieserKonflikt angenommen hat. Die unzähligen Toten, die esbei der Räumung eines Zeltlagers gegen die soziale undwirtschaftliche Lage am 8. November 2010 durch ma-rokkanische Sicherheitskräfte gab, zeigen das eindrück-lich.Dabei schwelt der Konflikt schon seit langem. Um ihnbesser verstehen zu können, lohnt ein Blick in die Entste-hungsgeschichte des Konflikts. Seit Mitte der 60er-Jahredes letzten Jahrhunderts wurde Spanien wiederholt vonder UN aufgefordert, die Westsahara in die Unabhän-gigkeit zu entlassen. Parallel dazu gründete sich diesahrauische Befreiungsfront Frente POLISARIO, die füreine politische Unabhängigkeit der Westsahara kämpfte.Nach dem Tod Francos 1975 zogen die Spanier ab, undMauretanien und Marokko besetzte den Großteil des Ge-biets der Westsahara. 1976 erklärte Marokko die Anne-xion der nördlichen zwei Drittel des Westsahara-Gebie-tes und 1979 des restlichen Territoriums, nachdem sichMauretanien aus dem Gebiet zurückgezogen hatte.Diese Annexionen wurden von den Vereinten Nationennicht anerkannt. Ebenso wenig wurden ohne die Abhal-tung des von den Vereinten Nationen geforderten Refe-rendums die Ansprüche der Demokratischen ArabischenRepublik Sahara auf das Gebiet der Westsahara aner-kannt.Zwar wurde 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarungzwischen Marokko und der POLISARIO geschlossen,aber auch dies reichte nicht, um das geforderte Refe-rendum abzuhalten. Daher leben bis heute etwa100 000 Sahrauis in Flüchtlingslagern nahe der StadtTindouf in der algerischen Sahara. Hinzu kommt, dassdas Gebiet von Westsahara aktuell durch eine befestigteund verminte Grenzanlage geteilt ist, die von Marokkoentlang der Waffenstillstandslinie errichtet wurde.Vor diesem Hintergrund scheint eine kurzfristige Lö-sung des Westsahara-Konflikts kaum realistisch. Trotzaller Bemühungen sowohl der Bundesregierung alsauch der internationalen Gemeinschaft war es bislangnicht möglich, die Konfliktparteien zu einer einvernehm-lichen und friedlichen Lösung zu bewegen.Zu ProtokollWoran liegt das? Zuallererst an den Konfliktparteienselbst. Weder die Regierung Marokkos noch die Saha-rawi Liberation Movement, Frente POLISARIO, warenund sind bis heute in der Lage, aufeinander zuzugehenund in der Sache voranzukommen. Selbst die Resolution1754 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, in derdie Konfliktparteien dazu aufgefordert wurden: „enterinto direct negotiations without preconditions and ingood faith“, führten bislang nur zu ergebnislosenGesprächen. Die Ursache dafür liegt in den unter-schiedlichen Zielsetzungen, die die Konfliktparteien inden Verhandlungen verfolgen. Marokko wäre bis zu ei-nem gewissem Grad bereit, einen Autonomiestatus derRegion zu akzeptieren, solange dies innerhalb des ma-rokkanischen Staatsverbandes geschieht. Die sahraui-schen Aktivisten berufen sich aber auf das Selbstbestim-mungsrecht der Völker und fordern einen unabhängigenStaat Westsahara.Dieses Dilemma von außen zu lösen, scheint kaummöglich, und daher stellt sich die Frage, wie die Bun-desregierung und die internationale Gemeinschaft mitdiesem Konflikt umgehen.Zunächst einmal ist es eine Selbstverständlichkeit,dass wir uns bemühen, das menschliche Leid zu lindernund humanitäre Hilfe beispielsweise für die schon ange-sprochenen vier Flüchtlingslager in der Nähe der StadtTindouf in der algerischen Sahara leisten. Auch enga-gieren wir uns im Rahmen von Familienzusammenfüh-rungsprogrammen und unterstützen die ständige VN-Beobachtermission MINURSO, die seit dem Waffenstill-stand und der Resolution 690 des Sicherheitsrats derVereinten Nationen vom 29. April 1991 im Land ist. ImRahmen des Programms Deutsche Akademische Flücht-lingshilfe beim UNHCR werden derzeit Stipendien fürmehr als 20 sahrauische Studierende finanziert, und dasAuswärtige Amt prüft, wie wir die Räumung von Minenaus dem Westsahara-Konflikt in Mauretanien unterstüt-zen können.Neben all diesen humanitären und vertrauensbilden-den Maßnahmen müssen wir alles tun, um das seit lan-gem geforderte Referendum über die Zukunft der West-sahara und die entsprechenden Gespräche zwischen denKonfliktparteien unter Einbindung von Algerien undMauretanien zu unterstützen – auch wenn sie bislangnicht erfolgreich verlaufen sind.Außer dieser Unterstützung arbeitet Deutschland be-sonders mit Blick auf Frankreich und Spanien an einerkohärenteren Haltung der Europäischen Union zumWestsahara-Konflikt und bemüht sich, auch Algerienkonstruktiv in die Gespräche einzubinden. Die Regie-rung in Algier unterstützt die Frente POLISARIO undsieht den Westsahara-Konflikt hauptsächlich als Deko-lonialisierungsproblem an.Darüber hinaus gibt es aber kaum diplomatischeoder wirtschaftliche Hebel für die Bundesregierung,eine der Konfliktparteien kurzfristig zu entscheidendenZugeständnissen zu drängen. Auch wenn dies vor demHintergrund des menschlichen Leids schwer fällt zu ak-zeptieren, so müssen wir auch unseren Einfluss realis-tisch einschätzen und dürfen ihn nicht überbewerten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9843
gegebene RedenSibylle Pfeiffer
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Das wäre fatal und würde nur falsche Erwartungen undHoffnungen bei den Betroffenen und Opfern schüren.Und das können wir auch nicht wollen.
Bis zum heutigen Tage ist es nicht zu einem wirkli-chen Durchbruch im Sinne einer dauerhaften, völker-rechtlich verbindlichen Verhandlungslösung für denKonflikt um die Westsahara gekommen, der nun schonseit 1975 andauert. Seit 1991 besteht zwar formell einWaffenstillstand zwischen der POLISARIO und Ma-rokko. Der Konflikt und vor allem die durch ihn betrof-fenen Menschen in der Westsahara warten dennoch wei-terhin auf eine dauerhafte und tragende Lösung. EinReferendum in der Westsahara wäre, im Sinne desSelbstbestimmungsrechtes der Völker, ein wichtiger ers-ter Schritt in Richtung einer Konfliktlösung gewesen.Doch schon der Versuch des ersten Schrittes, ein Refe-rendum auf dem Gebiet der Westsahara durchzuführen,ist im Jahr 2000 am Streit über den Teilnehmerkreis ge-scheitert.Die gewaltsame Räumung des Protestcamps im sah-rauischen Camp Gdaim Izyk bei El Aaiun im November2010 durch marokkanische Sicherheitskräfte zeigt, dassder Konflikt auch 36 Jahre nach seinem Ausbruch nochimmer in tödliche Gewalt umschlagen kann. Dieser Ge-waltausbruch am 8. November 2010 fiel ausgerechnetmit dem Beginn der dritten Runde der informellen Ge-spräche über den Status der Westsahara zusammen, zudenen sich Marokko, die POLISARIO und die Beobach-terstaaten Algerien und Mauretanien in New York tra-fen.Das Blutvergießen vom 8. November 2010 wecktgroße Befürchtungen hinsichtlich einer neuen Eskala-tion des Konfliktes und muss alle Mitglieder des Deut-schen Bundestages und die Bundesregierung zu größterSorge veranlassen. Den Konfliktparteien – insbesondereder Regierung des Königreiches Marokko – muss un-missverständlich erklärt werden, dass Gewaltverzichteine Conditio sine qua non für alle weiteren Schritte zurhumanitären Unterstützung und zur Konfliktbeilegungist. Hier sehe ich die Bundesregierung in der Pflicht.Die erneute Gewalteskalation ist auch deshalb umsobedauerlicher, da es in der Vergangenheit umfangreicheAktivitäten der Vereinten Nationen zur Einhegung undBeilegung des Konfliktes gegeben hat: So haben die Ver-einten Nationen 1991 eine eigene Mission für die Ein-haltung des Waffenstillstandes und zur Verbesserung derhumanitären Situation, die MINURSO, ins Leben geru-fen. Die Verlängerung des MINURSO-Mandates stehtfür den April diesen Jahres an.Im Zuge dieser Mandatsverlängerung besteht nun einKonflikt zwischen der POLISARIO und der marokkani-schen Regierung über die Aufnahme eines Menschen-rechtsmechanismus in das Mandat der MINURSO-Mis-sion. Dieser Konflikt muss – im Sinne der Präventioneiner weiteren Eskalation und für die Verbesserung derhumanitären Lage der sahrauischen Bevölkerung – un-bedingt schnell beigelegt werden.Zu ProtokollDie Bundesregierung muss in dieser Situation allesihr Mögliche unternehmen, um die Verlängerung desMINURSO-Mandates zu erreichen. Ohne dieses Mandatwäre die Grundlage für das humanitäre Handeln derVereinten Nationen in der Westsahara-Region gefährdet.Dies darf auf gar keinen Fall zugelassen werden.Ich will es an dieser Stelle auch nicht versäumen, aufdie Baker-Pläne I und II hinzuweisen, in denen die Ver-einten Nationen ein umfangreiches Konfliktlösungssze-nario entwickelten. Ich halte deren Ziele nach wie vorfür aktuell:Der Westsahara sollte entsprechend Baker-Plan IIeine weitgehende Autonomie unter marokkanischer Sou-veränität zugestanden werden. Wesentlicher Bestandteilwar ein Abkommen, das folgende Regelungen vorsah:Freilassung der Verhafteten und Kriegsgefangenen.Drei Monate nach Unterzeichnung des Abkommensbeidseitige Reduzierung der Streitkräfte. Nach einemJahr sollen ein Parlament und ein Oberhaupt der Exeku-tive gewählt werden. Sie sollen den territorialen Haus-halt der Westsahara verwalten und für die Steuereinnah-men und die Polizei zuständig sein. Allerdings wäre dermarokkanische König der Souverän geblieben, der inden Außenbeziehungen, in Verteidigungsfragen und beider Kontrolle der Waffen weisungsbefugt wäre. Vieroder fünf Jahre nach der Unterschrift wäre nach demBaker-Plan II ein Referendum durchgeführt worden, indem die Wahlberechtigten über drei Optionen hätten ab-stimmen können: Erstens, ob die Westsahara einen Au-tonomiestatus innerhalb Marokkos erhält; zweitens Un-abhängigkeit oder drittens die volle Integration in dasmarokkanische Staatsgebilde.Die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/DieGrünen und FDP haben im Jahre 2004 in ihrem inter-fraktionellen Antrag „Eine politische Lösung für denWestsaharakonflikt voranbringen – Baker-Plan unter-stützen“, Drucksache 15/2391, eindringlich für diesenPlan geworben. Obwohl die Vereinten Nationen mit ih-rer Resolution 1495 vom 31. Juli 2003 alle Konfliktbe-teiligten und Verhandlungspartner aufgefordert haben,dem Plan zuzustimmen, ist dieser aufgrund der Vorbe-halte Marokkos gegen den offenen Endstatus geschei-tert. Dies soll mich hier aber nicht davon abhalten,nochmals die Grundsätze und Forderungen des Baker-Planes und unseres Antrages von 2004 zu unterstreichenund für ihre Umsetzung zu werben.Die Vereinten Nationen verfolgen die Umsetzung derZiele des Baker-Planes nach dessen Scheitern durch di-rekte Verhandlungen. Hierin sind sie durch alle Bundes-regierungen ebenso unterstützt worden wie bei den so-genannten „guten Diensten“ wie zum Beispiel diskretenVerhandlungen um die Freilassung von gefangenenPOLISARIO-Kämpfern.Die EU engagiert sich mit ihrem ECHO-Programmseit vielen Jahren in der Konfliktregion in der humani-tären Hilfe. Das Europäische Parlament hat in deminterfraktionellen Entschließungsantrag zur Lage in derWestsahara vom 24. November 2010 seine Besorgnisüber die jüngste Entwicklung in der Region zum Aus-druck gebracht.
Metadaten/Kopzeile:
9844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
gegebene RedenGünter Gloser
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In die Frage des Zuganges zu den Fischressourcen imAtlantik vor der Küste der Westsahara ist Bewegung ge-kommen. Die Legitimität der Teilhabe der Sahrauis anden Fischvorkommen des eigenen Lebensraumes stehtfür mich außer Frage.Die marokkanische Regierung hat nach dem Gemein-samen Ausschuss von EU und Marokko im Februar2010 die Frage immerhin aufgegriffen, und die EU-Kommission erwartet nun nach dem EU-Marokko-Asso-ziationsausschuss vom 28. Oktober 2010 eine Wirkungs-analyse von Marokko. Diese Analyse ist unbedingt ein-zufordern und seitens der EU und der Bunderegierungkritisch zu begutachten.Gerade angesichts der jüngst wiederaufflammendenGewalt muss erneut alles dafür getan werden, dass sub-stanzielle Verhandlungen zwischen den Konfliktparteienüber eine dauerhafte Lösung des Konfliktes unter demDach der Vereinten Nationen auf den Weg kommen. DasFormat der Verhandlungen ist dabei nachrangig. Ent-scheidend ist es, dass sie – im Sinne der Krisenpräven-tion und Deeskalation – zunächst eine Verbesserung derLebensbedingungen der Menschen in der Westsaharaerreichen.Ich denke, dass alle, die sich länger mit dem West-sahara-Konflikt beschäftigt haben, nicht der Illusion an-hängen, diesen Konflikt kurzfristig lösen zu können. Dieinternationale Gemeinschaft muss den Westsahara-Kon-flikt aber wieder verstärkt auf die politische Agendasetzen. In diesem Sinne appelliere ich an die Bundes-regierung, in ihren Aktivitäten für die Menschen der Kri-senregion im Rahmen der Vereinten Nationen, in derEuropäischen Union und auch bilateral nicht nur nichtnachzulassen, sondern sie zu forcieren.Ein Mehr an regionaler Stabilität im NordwestenAfrikas ist nicht nur im Interesse der EU und der gesam-ten Weltgemeinschaft, es sollte vor allem im Interesseder Anrainerstaaten der Konfliktregion liegen. Die neu-esten Entwicklungen im Maghreb zeigen, dass die Re-gion in eine Phase sozialer und politischer Veränderun-gen eintritt. Aus diesem Grund liegt in der Verbesserungder regionalen Integration des Nordwestens des afrika-nischen Kontinentes eine Entwicklungschance – auchfür neue Wege zur Lösung der Westsahara-Frage. DieStaaten der Region müssten erkennen, welche Vorteileeine regionale Integrationspolitik zwischen den Nach-barn nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpoli-tisch und ökonomisch für sie brächte.Die unbestreitbaren Vorteile der Geschichte der Inte-gration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg könntenfür sie eine Inspiration für mehr regionale Integrationsein. Wir Europäer dürfen nicht müde werden, den größ-ten Gewinn der EU-Integration, die Sicherung des Frie-dens innerhalb ihrer Grenzen, allen Weltregionen alsnachahmungswürdig zu empfehlen.Daher möchte ich aus aktuellem Anlass mit dem Auf-ruf zu einer verbesserten Süd-Süd-Kooperation in Nor-den Afrikas enden.Zu Protokoll
Der Westsahara-Konflikt kann nur unter Beteiligungder Vereinten Nationen gelöst werden, da er von vielenungeklärten Fragen geprägt ist. Die Rechtsauffassungendivergieren, der völkerrechtliche Status der Westsaharaist ungeklärt. Bereits der Titel des Antrags der Linken isttendenziös und der Antrag einer nachhaltigen Lösung indiesem Konflikt abträglich.Selbstverständlich ist der Westsahara-Konflikt regel-mäßig Gegenstand politischer Gespräche und Kontakteder Bundesregierung und in der Europäischen Unionmit Partnern in der Region. Auch in dem Fall der sah-rauischen Aktivistin Aminatou Haidar haben wir Parla-mentarier klar Position für Frau Haidar und für dieMenschenrechte bezogen.Nach unserer Auffassung liegt der Schlüssel in einererfolgreichen politischen Vermittlung durch die Verein-ten Nationen. Wir setzen daher weiterhin auf Bemühun-gen der Vereinten Nationen, im Einverständnis zwischenden Beteiligten und auf Grundlage bestehender UN-Re-solutionen, eine friedliche Lösung des Westsahara-Kon-flikts zu finden.Der Sondergesandte der Vereinten Nationen für dieWestsahara, Christopher Ross, bereiste im Oktober2010 erneut die Region. Er plant eine neue, dritte Rundeinformeller Konsultationen im Laufe des Novembers.Die zweite Runde informeller Konsultationen hatte An-fang Februar in den Vereinigten Staaten stattgefunden.Neben Marokko und der POLISARIO waren auch Alge-rien und Mauretanien präsent. Es kam jedoch wiederumnur zu einem Austausch bekannter Positionen. Die Kon-sultationen sollen auch zur Vorbereitung formeller Ver-handlungen im Rahmen des sogenannten Manhasset-Prozesses dienen. Die FDP-Bundestagsfraktion appel-liert daher an alle Parteien, die Gespräche unter derFührung des Sondergesandten Christopher Ross soschnell wie möglich fortzusetzen, um die Lösung desKonflikts aus sich heraus zu lösen.Ebenso wie die Resolution des Sicherheitsrates 1754
ruft die Resolution 1871 (2009) die Parteien auf,
Verhandlungen direkt zu führen. Das Mandat der Verein-ten Nationen für das Referendum in der Westsahara,MINURSO, sichert diese Verhandlungen ab. DiesemAufruf schließt sich die FDP-Bundestagsfraktion voll-umfänglich an.Unabhängig vom völkerrechtlichen Status ist jedocheines klar: Auch auf dem Gebiet der Westsahara müssendie Menschenrechte stärker geachtet und verteidigt wer-den. Es darf nicht sein – und wir werden dies nicht hin-nehmen –, dass die Augen vor der Menschenrechtslageverschlossen werden. Deswegen sind Menschenrechteimmer Thema bei Gesprächen mit Vertretern des König-reichs Marokko.Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung derMenschenrechtslage in den von Marokko besetzten Ge-bieten intensiv. Das Thema wird regelmäßig bei bilate-ralen Gesprächen auf allen Ebenen angesprochen. Au-ßenminister Westerwelle hat im Gespräch mit seinemmarokkanischen Amtskollegen am 15. November 2010
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9845
gegebene RedenMarina Schuster
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die Bedeutung einer friedlichen, konsensuellen Lösungdes Westsahara-Konflikts im Rahmen der Vereinten Na-tionen unterstrichen. Der marokkanische Außenministerhat seinerseits die Bereitschaft zu und das Interesse Ma-rokkos an fortgesetzten Verhandlungen auf Grundlageder Resolutionen der Vereinten Nationen betont. Diesgilt es weiter zu fordern und zu fördern.Deutschland wird auch weiterhin alle Bemühungender Vereinten Nationen unterstützen, um zu einer friedli-chen und konsensuellen Lösung des Konfliktes zu gelan-gen. Das Auswärtige Amt trägt zu den vertrauensbilden-den Maßnahmen des UNHCR bei. In den Jahren 2008bis 2010 wurden hierfür zusammen gut 600 000 Eurozur Verfügung gestellt. Das BMZ hat von 1981 bis 2006knapp 12 Millionen Euro im Rahmen der Nahrungsmit-tel-, Not- und Flüchtlingshilfe beigetragen. Über dieEU, ECHO, wurden seit Bestehen des Konfliktes rund130 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfü-gung gestellt, das jährliche ECHO-Budget für dieFlüchtlingslager beträgt rund 10 Millionen Euro. Überdie Vereinten Nationen, Mediationsfonds, unterstütztDeutschland indirekt den Sondergesandten. Über dasProgramm „Deutsche Akademische Flüchtlingsinitia-tive“ beim UNHCR werden derzeit Stipendien für über20 sahrauische Studierende finanziert.Auch im EU-Rahmen fordern die Bundesregierungund ihre Partner regelmäßig schriftlich und überDemarchen Aufklärung zu akuten Vorfällen bei den Kon-fliktparteien Marokko, der POLISARIO und den Nach-barstaaten, insbesondere Algerien. Im Rahmen dereuropäischen Nachbarschaftspolitik werden regelmäßigdie Themen Menschenrechte, Demokratie und Rechts-staatlichkeit angesprochen. Der politische Dialog desAktionsplans mit Marokko sieht dies genauso vor wiedas Assoziierungsabkommen, welches den Menschen-rechten eine grundlegende Bedeutung für die Innen- so-wie Außenpolitik der EU und Marokkos zuweist.
Ein von der Welt verdrängter Konflikt ist neu ent-flammt. In der Westsahara, dort, wo seit 35 Jahren Ma-rokko völkerrechtswidrig als Besatzungsmacht regiert.Der Konflikt begann bereits mit der Berliner Afrika-Konferenz, sogenannte Kongo-Konferenz, 1884 bis 1885in Berlin, als die Kolonialmächte Afrika unter sich auf-teilten. Spanien wurde die Westsahara zugesprochen.Nachdem die UNO-Generalversammlung von Spanienab 1965 wiederholt in Resolutionen die Dekolonialisie-rung der Westsahara verlangte, zog die spanische Kolo-nialmacht 1975 ab. Doch eine Dekolonisation schei-terte, da Marokko und Mauretanien die Westsaharamilitärisch besetzten. Nachdem sich Mauretanien 1979zurückgezogen hatte, besetzte Marokko das gesamteTerritorium und erklärte 1976 die Annexion des Territo-riums. Seitdem wurden Hunderttausende Sahrauis ausihrer Heimat vertrieben. Sie leben in Flüchtlingslagernin Algerien, oft getrennt von ihren Familienangehöri-gen, die zurückblieben. Diejenigen, die nicht vertriebenwurden oder geflohen sind, müssen abgeriegelt hintereinem 2 700 Kilometer langen elektronisch gesichertenZu Protokollund verminten Wall leben. Sie sind den alltäglichenSchikanen und Diskriminierungen der marokkanischenPolizei und Besatzungsbehörden ausgesetzt. Regelmä-ßig kommt es zu willkürlichen Inhaftierungen und An-klagen. Hinsichtlich Inhaftierter berichtet Amnesty In-ternational über Folter. Prozesse insbesondere gegenSahrauis, die sich für die Unabhängigkeit der West-sahara aussprechen, halten laut zahlreichen Menschen-rechtsorganisationen nicht den internationalen Stan-dards für faire Gerichtsverfahren stand.Sowohl der Hungerstreik der Menschenrechtsaktivis-tin Aminatou Haidar im November/Dezember 2009,aber auch der Protest von circa 20 000 Sahrauis im Ok-tober 2010 in dem „Camp der Würde“ drängte den letz-ten Kolonialkonflikt in Afrika in den Blickpunkt derWeltöffentlichkeit. Diese protestierten friedlich gegenihre soziale Benachteiligung, gegen die massiven Men-schenrechtsverletzungen durch die marokkanischenSicherheitsbehörden und die Besetzung. Am Morgen des8. November 2010 räumten marokkanische Sicherheits-kräfte gewaltsam das Protestcamp in der Wüste vor denToren der Stadt El-Aaiún. Dabei starben nach sahraui-schen Angaben zwölf Menschen, Marokko spricht vonzwei getöteten Polizisten und einem Feuerwehrmann.Mehrere Hundert Demonstranten wurden schwer ver-letzt. Das Camp wurde dem Erdboden gleichgemacht,die Zelte in Brand gesteckt. Dabei haben diese Men-schen zu Recht gegen die völkerrechtswidrige Besetzungder Westsahara durch Marokko, gegen die illegale Plün-derung ihrer Naturschätze sowie gegen ihre Diskrimi-nierung protestiert.Das alles passierte und passiert in unmittelbarerNachbarschaft der EU, unweit von beliebten Reisezielenauch deutscher Touristinnen und Touristen wie den Ka-narischen Inseln. Und die Bundesregierung schweigt.Aber sie schweigt nicht nur und schaut nicht einfach nurweg. Nein, die Bundesregierung belohnt auch noch Ma-rokko dafür, dass es durch die Besatzung Völkerrechtbricht und sich kontinuierlich schwerster Menschen-rechtsverletzungen schuldig macht. Sie lässt diesahrauische Bevölkerung für die schmutzigen DiensteMarokkos bei der vermeintlichen Bekämpfung des inter-nationalen Terrorismus und der Flüchtlingsabwehr be-zahlen.Die Linke sagt deutlich, wie die BundesregierungMarokko belohnt: Die Bundesregierung belohnt Ma-rokko, indem sie seit 1966 militärische Ausbildungshilfefür die marokkanischen Streitkräfte leistet, obwohl siean der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsaharabeteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere habenLehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der Bundes-wehr und Studiengänge an den Hochschulen der Bun-deswehr absolviert.Die Bundesregierung belohnt zusammen mit der EUMarokko durch Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen fürmarokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte, alsogenau jene, die auch an der Räumung des „Camps derWürde“ und den Gewalttaten gegen die sahrauische Be-völkerung beteiligt waren und sind.
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9846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim DağdelenDie Bundesregierung belohnt Marokko auch, indemsie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zuguns-ten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 einge-stellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung mehr fürdie Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge imRahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfewurde bereits 2007 eingestellt.Und auch die EU belohnt Marokko – mit wohlwollen-der Zustimmung der Bundesregierung – seit Jahren inder EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobe-nen Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen 1 Mil-liarde Euro allein zwischen 2007 und 2010.Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völ-kerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierli-chen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen derFlüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Ver-längerung des EU-Fischereiabkommens – und das trotzder Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiab-kommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in2002. Damit missachten Bundesregierung und EU dieunveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohneSelbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Dasmeint auch der Juristische Dienst des Europaparla-ments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass derFischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fische-reiabkommens zwischen der EU und Marokko weder inKonsultation mit der sahrauischen Bevölkerung derWestsahara stattfindet, noch die Bevölkerung die Ein-nahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichenFischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völ-kerrechtswidrig.Alle diese erwähnten Belohnungen waren nicht um-sonst und sollen es natürlich auch in Zukunft nicht sein.Die reichen Fischgründe vor den Küsten und die großenPhosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollenweiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfang-flotten und internationalen Konzernen preisgegebenwerden. Auch der nationale Energieplan Marokkos, dermithilfe der Deutschen Gesellschaft für Technische Zu-sammenarbeit, GTZ, erstellt wurde und ganz selbstver-ständlich Standorte in der Westsahara miteinschließt,soll deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Ein-führung und Privatisierung erneuerbarer Energiendurch gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, dieals Vorstufe des Desertec-Projektes gelten. Der Plan desvon deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Mün-chener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bankdominierten und von der Bundesregierung unterstütztenProjekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der inEuropa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagenin Nordafrika zu beziehen – ohne Befragung und Hinzu-ziehung der Saharauis oder deren Interessenvertretun-gen bei den Planungen. Die Linke lehnt das Projekt„Desertec“ ab. Dieses Projekt wirft neben umweltpoliti-schen vor allem außenpolitische, menschenrechtlicheund entwicklungspolitische Fragen auf, die auch mit dervon Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsaharazusammenhängen.Zu ProtokollDie Bundesregierung darf nicht weiter die sahraui-sche Bevölkerung für die schmutzigen Dienste Marokkosbei der vermeintlichen Bekämpfung des internationalenTerrorismus, der Flüchtlingsabwehr und den Profitinte-ressen der deutschen Wirtschaft opfern. Sie muss endlichdie permanenten Rechtsverletzungen der marokkani-schen Regierung deutlich öffentlich verurteilen undKonsequenzen ziehen. Sie darf Marokko nicht weiter da-rin bestärken, ungehindert das seit über 20 Jahren fäl-lige Referendum über den Status der Westsahara und da-mit das Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, dasihnen im Zuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zukönnen.Ich stelle nun dar, welche Konsequenzen die Linkefordert:Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür ein-zusetzen, dass Marokko endlich die Resolution 690 desUN-Sicherheitsrates vom 29. April 1991 umsetzt und dasReferendum über die Zukunft der Westsahara unter UN-Aufsicht nicht weiter blockiert.Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die ge-waltsame Auflösung des Protestcamps Anfang Novem-ber 2010 und die Niederschlagung der anschließendenDemonstrationen zu verurteilen und eine internationaleUntersuchung der Vorfälle einzufordern.Jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für ma-rokkanische Polizei- und Armeekräfte ist einzustellen.Wir fordern, dass sich die Bundesregierung innerhalbder EU endlich energisch dafür einsetzt, dass das Asso-ziationsabkommen der EU mit Marokko sowie der fort-geschrittene Status der Beziehungen zur EU zumindestsolange ausgesetzt werden, bis Marokko seine völker-rechtswidrige Besatzung beendet hat.Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sichin der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiab-kommen bis zum 27. Februar 2011 gekündigt wird, da-mit es sich nicht automatisch verlängert. Eine automati-sche Verlängerung des Fischereiabkommens zwischender EU und Marokko muss so lange verhindert werden,wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertrag ausge-schlossen ist.Die Linke fordert die Bundesregierung auf, insbeson-dere im Lichte der aktuellen Ereignisse in Tunesien undÄgypten, ihre Unterstützung gegenüber autoritären Re-gimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- undSozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orien-tieren.
Beide vorliegenden Anträge benennen die Schikanenund Menschenrechtsverletzungen durch marokkanischeBehörden in Westsahara und die unerträgliche Situa-tion, in der große Teile des Volkes der Sahrauis seitJahrzehnten leben und weisen darauf hin, dass der StaatMarokko sich beharrlich weigert, die UN-Resolution690 aus dem Jahre 1991 umzusetzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9847
gegebene RedenHans-Christian Ströbele
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Schon in den 70er-Jahren habe ich den Befreiungs-kampf der Frente POLISARIO gegen die Kolonialherr-schaft Spaniens mit großem Interesse verfolgt. Wir ha-ben versucht, diesen solidarisch zu unterstützen.Als Bundestagsabgeordneter befasse ich mich seitvielen Jahren mit der verzweifelten Lage der Sahrauisund dem ungelösten Problem des politischen und recht-lichen Status der Westsahara. Die Repression des ma-rokkanischen Staates hat ständig zugenommen, wie auchdie Ungeduld und Unzufriedenheit der Sahrauis.Ich war im Gebiet Westsahara. Dort gibt es einen un-passierbaren Schutzwall, der Westsahara teilt. Die140 000 Flüchtlinge, die in Lagern in der Sahara leben,können nicht ins Gebiet Westsahara reisen, Besucherder Lager werden nicht durchgelassen. So hätte auch ichTausende von Meilen fliegen müssen, um über Algier zuden Flüchtlingen zu gelangen.Ich bin im andauernden Kontakt mit dem Vertreterder POLISARIO. Ich habe mich 2009 mit der Menschen-rechtsaktivistin Frau Haidar solidarisiert, als diese über30 Tage im Hungerstreik in Lanzarote festsaß, weil ihrdie Rückkehr in ihre Heimat Westsahara von Marokkoverweigert wurde.Ich weiß, dass 1991 die POLISARIO den Kampf ein-gestellt und einen Waffenstillstand verkündet hatte, weildie UNO einen Friedensplan vorgelegt hatte, der demsahrauischen Volk versprach, mit einer Volksabstim-mung darüber entscheiden zu können, ob es in einem ei-genen Staat oder im Staat Marokko mit einem autono-men Status leben will. Dieses Versprechen wurde vomWeltsicherheitsrat der UN in der Resolution 690 bekräf-tigt.20 Jahre warten die Sahrauis auf die Einlösung die-ses Versprechens der Völkergemeinschaft vergebens.Marokko weigert sich, überhaupt ernsthaft über dieVolksabstimmung zu reden. Die Sahrauis sind wütendund enttäuscht, auch von der UN und dem Sicherheits-rat. Sie sehen sich von der Völkergemeinschaft, derUNO im Stich gelassen, von der EU, den Regierungender europäischen Länder verraten und vergessen. ZuRecht. Ich habe auch mit Vertretern Marokkos gespro-chen, nicht nur mit dem Botschafter in Berlin, und auchmit Marokkanern in Marokko. Daher weiß ich, wieschwer eine Lösung des Problems heute ist. Durch daslange Zuwarten mit der Umsetzung der UN-Resolutionist großer Schaden entstanden.Große Teile der Bevölkerung Marokkos sehen heuteWestsahara als untrennbaren Teil des eigenen Landes.Das gilt nicht nur für den König und die Regierung Ma-rokkos. Schon 1975 hatte der König 350 000 Marokka-ner nach Westsahara in Marsch gesetzt. Seither ist weitmehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Viel hat sichgeändert. Es wurden Fakten geschaffen. Viele Marokka-ner wurden inzwischen in Westsahara angesiedelt. So istes zum Beispiel heute ein Problem, zu bestimmen, wer inWestsahara bei dem Referendum abstimmungsberechtigtist.Die Zugehörigkeit von Westsahara zu Marokko ist zurnationalen Frage hochstilisiert worden. Schon als Kin-Zu Protokollder haben die Marokkaner in der Schule gelernt, dassWestsahara ein Teil Marokkos ist. Ein durchaus liberaleingestellter Regierungsvertreter Marokkos hat mirdazu gesagt, keine Regierung könnte sich im Amt halten,die der Loslösung der Westsahara von Marokko zustim-men würde.Die Propaganda ist allgegenwärtig. Die Überhöhungder Westsahara-Frage habe ich in Marokko in den Me-dien, in der Öffentlichkeit und in der Bevölkerung viel-fach bestätigt gefunden. Gerade das macht heute einevernünftige Lösung so schwer. Kein Premier verhandeltgern über eine Lösung, die seinen Sturz bedeutet. Dasheißt nicht, dass die Verschleppung des Referendums ho-noriert werden darf, weil die Durchsetzung schwierigergeworden ist. Das rechtfertigt vor allem nicht die Auf-rechterhaltung der Vertreibung von 160 000 Sahrauis inLager in der Wüste Sahara, nicht die Gewalt gegen die15 000 Menschen in dem Zeltlager bei El Ajun, die Tö-tung des 14-jährigen Nayem El-Garhi, die willkürlicheVerhaftung von Sahrauis durch marokkanische Sicher-heitskräfte, die Einschränkung der Medienfreiheit undall die vielen Menschenrechtsverletzungen.Marokko tut seinen wohlverstandenen Interessen kei-nen Gefallen und verspielt sein internationales Prestige.Immer mehr Verbote, Repression und Gewalt sind fal-sche Reaktionen auf das Freiheits- und Unabhängigkeit-streben der Sahrauis.Deshalb fordern wir die marokkanische Regierungauf: Öffnet den Schutzwall zwischen den Flüchtlingsla-gern und dem übrigen Land. Auch diese Mauer mussweg. Alle Sahrauis, Journalisten, humanitären Organi-sationen, internationalen Beobachter und Abgeordnetemüssen freien Zugang nach Westsahara und die Mög-lichkeit haben, sich frei zu bewegen. Gefängnisse undStrafverfahren müssen internationalen Standards ent-sprechen. Die Meinungs- und Pressefreiheit muss auchin Westsahara und für Sahrauis gelten. Diese Forderun-gen zu erfüllen, ist eine Selbstverständlichkeit und im In-teresse Marokkos. Das wäre der richtige Beitrag zur De-eskalation. Die Bundesregierung muss das deutscheVerhältnis zu Marokko von der Erfüllung dieser Forde-rung abhängig machen.Ansehen und Glaubwürdigkeit der UNO und der Völ-kergemeinschaft leiden, wenn UN-Beschlüsse durchjahrzehntelanges Nichtstun und Nichtbefolgung faktischaußer Kraft gesetzt werden können und stattdessen Men-schenrechte verletzt werden. Deshalb sollte die UNOihre Verantwortung wahrnehmen, die Ereignisse derletzten Monate, die Todesfälle und das Verschwindenvon Personen durch ein internationales Gremium unter-suchen, die Einhaltung der Menschenrechte überwachenund eine konstruktive Rolle bei der Lösung des Westsa-hara-Konflikts übernehmen. Das heißt, Gespräche undVerhandlungen müssen aufgenommen werden, um einefaire, dauerhafte und für alle Seiten akzeptable politi-sche Lösung im Einklang mit den UN-Resolutionen zuerreichen. Die Bundesregierung als Mitglied des Sicher-heitsrates muss die Initiative dafür ergreifen.Ehemals reiche Fischgründe und Ölfunde vor derKüste Westsaharas sowie Bodenschätze im Land dürfen
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9848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9849
Hans-Christian Ströbele
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nicht zum Fluch werden, sondern können eine großeChance für die geschundene sahrauische Bevölkerungund die Lösung der Probleme sein. Auch Marokkokönnte davon profitieren.Der Westsahara-Konflikt muss auf der Tagesordnungbleiben, hier und international, bis er gelöst ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 17/4271 und 17/4440 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da-
mit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Die Überwei-
sungen sind so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke,
Britta Haßelmann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
rung des Wertpapierhandelsgesetzes
– Drucksache 17/4053 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/4507 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Dr. Gerhard Schick
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Der vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/DieGrünen zielt darauf ab, die Situation von Anlegern zuverbessern, die Ansprüche aus Falschberatung geltendmachen wollen. Ziel des Gesetzentwurfes ist es, einerbestimmten Gruppe von Anlegern eine längere Verjäh-rungsfrist für die Geltendmachung Ihrer Schadenser-satzansprüche zu gewähren.Hintergrund des Gesetzentwurfes ist, dass Schadens-ersatzansprüche aus Falschberatung bis zum 4. August2009 einer Sonderverjährungsfrist von drei Jahren abEntstehung des Anspruchs unterlagen. Durch das Gesetzzur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver-schreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesser-ten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern ausFalschberatung wurde diese Sonderverjährung abge-schafft. Damit gilt grundsätzlich auch im Bereich derFalschberatung das allgemeine Verjährungsrecht. Nachder damals mitbeschlossenen Übergangsregelung giltfür bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes entstandeneAnsprüche die alte Sonderverjährungsfrist. Für nachdem 4. August 2009 entstandene Ansprüche gilt die re-gelmäßige Verjährungsfrist.Der vorliegende Gesetzentwurf will auch Ansprüche,die vor dem 4. August 2009 entstanden und noch nichtverjährt sind, den allgemeinen längeren Verjährungs-fristen unterstellen. Von dieser Gesetzesinitiative wür-den insbesondere Geschädigte aus der Insolvenz vonLehman profitieren. Denn eine erhebliche Zahl der spä-ter ausgefallenen Lehman-Zertifikate wurde Anfang2008 auf den Markt gebracht. Mögliche Ansprüche ge-gen die Banken, die diese Zertifikate vertrieben haben,würden nach geltendem Recht gegebenenfalls in dennächsten Monaten verjähren.Diesem Umstand möchten die Grünen durch ihrenGesetzentwurf zur Verlängerung der Verjährungsfristenabhelfen. Leider ist der vorliegende Gesetzentwurf nursehr schwer verständlich und so, wie er formuliert ist,nicht umzusetzen. Trotzdem möchte ich die Gelegenheitnutzen, die Argumente für und wider diesen Gesetzent-wurf gegenüberzustellen.Für den Antrag sprechen die erheblichen Auswirkun-gen der Finanzkrise auf Privatanleger. Das gilt insbe-sondere für die Insolvenz von Lehman. Durch dieseInsolvenz ist gerade Kleinanlegern ein erheblicherSchaden entstanden. Viele Anleger wussten definitivnicht, was für ein Risikopapier sie gekauft haben. Da-runter sind tragische Fälle: Bürgerinnen und Bürger, dieteilweise ihre kompletten Ersparnisse verloren haben.Besonders betroffen sind ältere Menschen, die ihre Al-tersversorgung auf diese Zertifikate aufgebaut und einenerheblichen Schaden erlitten haben. Aufgrund ihres Al-ters haben sie in ihrem Leben nicht mehr die Chance,das verlorene Geld wieder hereinzuholen. Sie haben bis-her nie etwas mit Gerichten zu tun gehabt und sind ver-ständlicherweise mit ihrer Situation überfordert.Für die schwierige Situation dieser Anleger habe ichallergrößtes Verständnis. Ihre Bank oder ihr Finanz-dienstleister haben sie in vielen Fällen nicht richtig be-raten und über die Risiken der Anlage aufgeklärt. Siestehen jetzt vor der schwierigen Frage, ob sie – trotz derKosten einer Klage und deren ungewissen Erfolgsaus-sichten – gerichtlich gegen ihre Bank oder ihren Finanz-dienstleister vorgehen sollen. Auf den ersten Blick würdeihnen eine Verlängerung der Verjährungsfrist für dieKlageeinreichung durchaus helfen, vor allem helfen,wenn man davon ausgehen könnte, dass durch die Ent-scheidung bereits anhängiger Klagen bzw. durchhöchstrichterliche Rechtsprechung mehr Klarheit fürdie Betroffenen entsteht.Was wären aber die Nachteile einer Verlängerung derVerjährungsfristen?Die Verjährungsvorschriften dienen dem Zweck,Rechtsfrieden herbeizuführen. Unjuristisch ausgedrücktheißt das: Irgendwann soll es dann auch einmal gut sein.Verjährungsfristen an sich sind daher nicht zu kritisie-ren. Zu kritisieren war aber, dass für Wertpapierge-schäfte abweichend von anderen Rechtsgebieten einekurze dreijährige Sonderverjährungsfrist galt. Aufgrundder Erfahrungen aus der Finanzkrise hat man daher imSommer 2009 den die Sonderverjährungsfrist begrün-denden § 37 a WpHG abgeschafft. Für alle Fälle vordem Inkrafttreten des Gesetzes am 4. August 2009 sollteaber aus Gründen der Rechtssicherheit die alte Verjäh-rungsfrist von drei Jahren weitergelten.In diesem Zusammenhang hat sich der Gesetzgeberbewusst für die jetzt geltende Übergangsregelung mitRalph Brinkhaus
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dem Stichtag 4. August 2009 entschieden. Er hätte sichdamals auch anders entscheiden und alle noch nichtverjährten Ansprüche dem allgemeinen Verjährungs-recht unterstellen können. Dies hat er aber gerade nichtgetan. Es sollte einen klaren Schnitt geben.Eine nachträgliche Änderung dieser Übergangsvor-schrift ist grundsätzlich möglich, auch wenn eine Über-gangsregelung bisher wohl kaum jemals nachträglichnoch einmal geändert worden ist. Durch jede Änderungdes Verjährungsrechts entsteht aber Unsicherheit. Esbedarf daher gewichtiger Gründe für Änderungen.Gegen die Annahme gewichtiger Gründe spricht,dass nur verhältnismäßig wenige Anleger von dieser Än-derung profitieren würden. Denn auch bei einem schnel-len Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfeswären wohl nur Ansprüche betroffen, die zwischenFrühjahr 2008 und Anfang August 2009 entstandensind. Im Fall Lehman dürfte es sogar nur um Ansprüchegehen, die bis September 2008 entstanden sind. Dennnach der Eröffnung des Lehman-Brothers-Insolvenzver-fahrens dürfte es kaum noch neue Fälle in diesem Zu-sammenhang geben. Allen Anlegern, die bereits vor demFrühjahr 2008 Lehman-Zertifikate erworben haben,hilft der Gesetzentwurf nicht mehr. Ihre Ansprüche wä-ren, sofern sie in den letzten Jahren nichts unternommenhaben, zum Zeitpunkt eines möglichen Inkrafttretensdieses Gesetzesvorschlags bereits verjährt.Aber auch der Gruppe Anleger, die ab Frühjahr 2008Lehman-Zertifikate erworben haben, hilft der Vorschlagnur sehr begrenzt. Die Regelverjährung träte nach demvorliegenden Entwurf in den meisten Fällen nicht mehrim Laufe des Jahres 2011, exakt drei Jahre nach demEntstehen ihres individuellen Anspruchs, sondern erstmit Ablauf des 31. Dezember 2011 ein. Sie gewännenalso lediglich einige Monate.Doch selbst für diese begrenzte Anzahl von Fällenund diesen begrenzten Zeitraum könnte man ja eine Ge-setzesänderung in Betracht ziehen, wenn die Betroffenendadurch etwas gewännen. Aber auch dagegen sprechengute Argumente:Denn es ist nicht zu erwarten, dass sich ihre unbefrie-digende Situation im Hinblick auf die oben ange-sprochene Rechtsunsicherheit in diesen Monaten ent-scheidend klärt. Zwar ist ein Verfahren vor dem BGHanhängig. Allerdings betrifft es eine sehr spezielleRechtsfrage, die nur für einen Teil der Anleger relevantist. In den meisten Schadensersatzfällen dürfte es auf dieFrage der individuellen Anlagesituation und -beratungankommen. In diesen Fällen ist von anderen Verfahrenkeine Klärung der Erfolgsaussichten zu erwarten. Da-her würde es durch die vorgeschlagene Änderung derÜbergangsvorschrift auch nicht einfacher, eine indivi-duelle Entscheidung über die Klageerhebung zu fällen.Weiterhin ist zu beachten, dass viele Anleger dieseEntscheidung trotz unsicherer Erfolgsaussichten bereitsgetroffen und Klagen eingereicht haben. Ihnen droht da-her keine Verjährung mehr. Aber auch Anlegern, die mitihren Banken über mögliche Ersatzansprüche verhan-delt haben, droht oftmals keine sofortige Verjährung.Zu ProtokollDenn diese Verhandlungen – auch die im Rahmen einesKulanzverfahrens mit Beteiligung der Verbraucherzen-trale, eines Güteverfahrens oder Ombudsmannverfah-rens – hemmen gegebenenfalls ebenso den Eintritt derVerjährung. Anleger hatten und haben also vielfältigeMöglichkeiten, den Eintritt der Verjährung zu verhin-dern, auch kostengünstiger als mit einer Klage.Verbraucherschützer und Rechtsanwälte, die Anlegervertreten, können bestätigen, dass die Verjährung vonErsatzansprüchen nicht das entscheidende Problem ist.Denn in vielen Fällen haben in irgendeiner Form Ver-handlungen beziehungsweise Güteverfahren stattgefun-den.Durch die intensive Berichterstattung in den Medienwissen viele Anleger von ihren Ansprüchen – und auchvon der Verjährungsproblematik. Schwieriger als dieVermeidung des Verjährungseintritts ist aber die Be-weisführung für einen schadensersatzauslösenden Bera-tungsfehler der Bank. Dieses Problem wird vom vorlie-genden Gesetzentwurf nicht gelöst.Die Situation der Betroffenen würde sich daher durchdie vorgeschlagene Änderung der Übergangsvorschriftnicht wesentlich verbessern. Für eine Neubewertung derÜbergangsregelung besteht auch deshalb kein Grund,weil alle Umstände, die wir heute diskutieren, auchschon im Sommer 2009 bekannt waren.Die grundsätzliche Verlängerung der Verjährungs-frist von drei auf maximal zehn Jahre erfolgte im Übri-gen nicht, um dem Anleger die Gelegenheit zu geben,länger darüber nachzudenken, ob er in das Klagerisikogeht. Die Verlängerung erfolgte deshalb, weil Schädenaus Falschberatung vom Anleger oftmals erst Jahrenach dem Beratungsvorgang entdeckt werden. Daherbeginnt die regelmäßige dreijährige Verjährungsfristjetzt erst mit Kenntnis des Anlegers von allen anspruchs-begründenden Umständen. In den Lehman-Fällen dürfteallen Betroffenen aber zumindest seit dem Zusammen-bruch bekannt sein, dass sie möglicherweise Ansprücheaus Falschberatung haben.Im Übrigen ist es schwer zu erklären, warum ein An-leger, der im Frühjahr 2008 ein Lehman-Zertifikat er-worben hat, anders behandelt werden sollte als ein An-leger, der im Januar 2008 oder Herbst 2007 Zertifikateerworben hat. Einen sachlichen Grund dafür gibt esnicht. Dem Gesetzentwurf stehen somit gewichtige Argu-mente entgegen.Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Vorteile, diemithilfe des Gesetzesvorschlages erreicht würden, sindsehr begrenzt. Für wenige Anleger würde der Ablauf derVerjährungsfrist hinausgezögert, für die meisten von ih-nen wohl auch nur um einige Monate. Dies können Be-troffene aber auch auf anderen Wegen kostengünstig er-reichen. Auf der anderen Seite ist aber zu bedenken, dassVerjährungsfristen unabhängig vom Ansehen der Par-teien Rechtssicherheit schaffen und den Rechtsfriedenschützen sollen. Der Gesetzgeber hat sich im Sommer2009 bewusst dafür entschieden, die Aufhebung der Son-derverjährung auf neue Sachverhalte zu beschränken.
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9850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
gegebene RedenRalph Brinkhaus
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Diese beiden Aspekte, die möglichen Vorteile für ge-schädigte Anleger und die Nachteile aufseiten derRechtssicherheit, sind gegeneinander abzuwägen. DieRichtung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen istnachvollziehbar. Ich denke, wir haben alle sehr großesVerständnis für jeden einzelnen von der Lehmann-Insol-venz betroffenen Kleinanleger. Es sprechen aber sehrgewichtige Argumente gegen den Gesetzentwurf vonBündnis 90/Die Grünen. In Abwägung der verständli-chen Interessen der Anleger und der Argumente gegeneine Änderung haben wir uns daher entschlossen, denGesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.Damit aber eine derartige Häufung von Fällen vonFalschberatungen, wie wir sie mit Anlagen in Lehman-Zertifikaten erlebt haben, nicht wieder vorkommt, habenwir einiges für den Verbraucherschutz im Finanzbereichgetan:So beraten wir aktuell das Anlegerschutzgesetz, daswir in der nächsten Sitzungswoche verabschieden wol-len. Ganz ausschließen können wir Beratungsfehlerauch durch dieses Gesetz nicht; das können wir nie.Aber wir sind auf einem guten Weg, Strukturen zu schaf-fen, die eine bessere Beratungsqualität ermöglichen.Das hilft den Lehman-Altanlegern aber nicht weiter.Ich weiß, dass sich gerade einige dieser Anleger erhoffthaben, dass durch den Antrag der Grünen die Verjäh-rungsfrist verlängert wird. Es ist bedauerlich, dass wirdiese Erwartung nicht erfüllen können. Ich denke aber,die Argumente gegen eine Änderung überwiegen, wieausführlich ausgeführt, eindeutig.
Im Jahr 2009, in den Hochzeiten der Finanz- undWirtschaftskrise, hat die Große Koalition das soge-nannte Schuldverschreibungsgesetz auf den Weg ge-bracht, das eine ganze Reihe von Verbesserungen für dieAnlegerinnen und Anleger zum Inhalt hatte. So wurdedamals unter anderem die Protokollpflicht bei der Anla-geberatung eingeführt und damit einhergehend auch Be-weiserleichterungen für die Anlegerinnen und Anleger,sollten sie falsch beraten worden sein. Außerdem hat dieSPD damals gegen den Widerstand der Union das Son-derverjährungsrecht für die Banken bei Falschberatungabgeschafft. Jetzt haben potenzielle Geschädigte bis zuzehn Jahre Zeit, ihre Ansprüche durchzusetzen. Davorwaren es maximal drei Jahre. In der Gesetzesbegrün-dung hieß es damals:… teilweise kann ein Anleger erst nach Jahren er-kennen, dass er nicht richtig beraten wurde. Es istdeshalb sachgerecht, für den Beginn der dreijähri-gen Verjährung an die Kenntnis des Anlegers anzu-knüpfen.Das gilt noch heute.Von dieser Regelung profitieren schon heute viele An-legerinnen und Anleger und werden das auch in Zukunfttun. Die Große Koalition hat damit eine Menge ge-schafft. Das sehen offenbar auch die Grünen so, die ineinem Punkt das umfassende Gesetzesvorhaben aus demJahr 2009 behutsam weiterentwickeln wollen: BisherZu Protokollprofitieren nur die Anlegerinnen und Anleger von derverlängerten Verjährungsfrist, die nach dem 5. August2009 falsch beraten wurden. Der vorliegende Gesetzent-wurf will die Verjährungsvorschrift noch weiter ausdeh-nen und auch Fälle erfassen, in denen der Wertpapier-kauf ab 1. Januar 2008 stattfand. Gerade die vielzitierten Lehman-Zertifikate wurden in den Jahren 2007und 2008 verkauft. Wenn Sie sich jetzt nicht mit einerKlage beeilen, sind die Ansprüche verjährt und nichtmehr einklagbar.Wie lief denn damals die Beratung? Da kamen – so istder Bankjargon – die „A&D-Kunden“, die „Alt-und-dumm-Kunden“, in die Bank und wollten ihre Erspar-nisse für die Altersvorsorge anlegen. Und der Beraterhatte einen schicken Hochglanzprospekt von derLehman-Bank. Die ging pleite und die Altersvorsorgewar futsch. Das sind Geschäftsgebaren, die unverant-wortlich sind. Dem wollen wir entgegentreten.Jetzt sagen manche, die Pleite von Lehman hat ja nie-mand vorhersehen können. Das stimmt. Aber wenn inDeutschland eine Bank pleitegeht, dann greift die Einlagen-sicherung, die für jeden Kunden mindestens 50 000 Euroabsichert, seit diesem Jahr sogar 100 000 Euro. Abereine solche notwendige Einlagensicherung gab es fürdie Lehman-Bank nicht. Das stand natürlich nicht indem glänzenden Prospekt, nicht einmal im Kleinge-druckten. Das hat kein Bankberater den Kunden gesagt.Das war schlicht Fehlberatung der Banken.Von den Koalitionsfraktionen wird jetzt kommen: DieOpfer hätten doch in den letzten Monaten schon längstklagen könnten. Längere Fristen braucht es nicht. – Daszeigt wieder einmal: Die Koalitionsfraktionen habendas Problem nicht verstanden. Eine Klage gegen eineBank muss gut vorbereitet sein, die Beweislage istschwierig, ganz zu schweigen von den drohenden Kos-ten. So eine Entscheidung und Vorbereitung brauchtZeit, die wir den Menschen geben müssen, die um ihregesamten Ersparnisse bangen.Die Koalition hat in der Plenardebatte und im Aus-schuss auch immer wieder das Argument der Rechtssi-cherheit vor sich hergetragen. Doch das Argument istwirklich schief: Rechtssicherheit ist das Argument fürjede Verjährungsvorschrift, gleich welcher Dauer. Undwenn man sich die Genese der Sonderverjährungsvor-schriften im Bankenbereich einmal genauer anschaut,dann hat das auch nicht viel mit Rechtssicherheit zu tun:Für die § 34 b Abs. 4 und § 34 c Abs. 4 Wertpapierhan-delsgesetz wurde mit dem Vierten Finanzmarktförde-rungsgesetz die absolute Verjährung von drei Jahreneingeführt, für § 46 Börsengesetz, § 13 Abs. 5 Verkaufs-prospektgesetz und § 127 Abs. 5 Investmentgesetz wur-den die Verjährungsfristen dagegen von sechs Monatenauf ein Jahr verlängert. Die Sonderverjährung des § 37 dAbs. 4 Wertpapierhandelsgesetz wurde wiederum 2007abgeschafft. Für § 37 a Wertpapierhandelsgesetz hatdas die SPD, wie schon erwähnt, gegen den Widerstandder Union in der Großen Koalition dann 2009 gemacht.Das ist mittlerweile auch mehr als unübersichtlich undträgt sicher nicht unbedingt zum Rechtsfrieden bei – ge-rade wenn man erst nach Jahren merkt, dass man falsch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9851
gegebene RedenDr. Carsten Sieling
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beraten wurde. Deshalb fordert die SPD: Weg mit allenSonderverjährungsvorschriften für die Banken und An-passung an die normalen Verjährungsfristen des bürger-lichen Rechts.Was in diesem Zusammenhang auch immer wiedergesagt wird: Rückwirkende Verlängerungen von Verjäh-rungsvorschriften gehen rechtlich nicht. – Das ist nunwirklich juristischer Unfug. Auf diesem Niveau müssenwir nicht diskutieren.Ursprünglich hatte das Finanzministerium im aktuel-len Anlegerschutzgesetz immerhin die Streichung derSonderverjährung bei falschem Börsenprospekt vorge-sehen. Die ist sang- und klanglos wieder aus dem Gesetzherausgeflogen – wie die ganze Regulierung des grauenKapitalmarkts, die jetzt auf Druck der betroffenen Lobbyund des Wirtschaftsministeriums den Gewerbeämternüberlassen werden soll.Das hat wenig mit umfassendem Anlegerschutz zutun. Deshalb setzt sich die SPD hier für ein Gesamtkon-zept ein, das alle Produkte und Vertriebswege umfasstund geeignet ist, die Transparenz, Verständlichkeit undSicherheit für die Anleger zu erhöhen. Das hierzu not-wendige Maßnahmenpaket, das wir „Finanz-TÜV“ nen-nen, bezieht mit den Finanzvermittlern und -beratern,den Instituten, der Finanzaufsicht und den Verbraucher-organisationen alle Akteure ein und stellt auf ihre spezi-fische Rolle bei der Vermögensanlage der Privatanlegerab.Die von den Grünen mit diesem Gesetzentwurf vorge-schlagene behutsame Weiterentwicklung des Gesetzesder Großen Koalition ist auf diesem Weg ein richtigerSchritt. Deshalb stimmen wir der Vorlage zu.
Die Übergangsvorschrift im § 43 des Wertpapierhan-
delsgesetzes ist eine breite Lösung, die kleine und pri-
vate Sparer und Anleger vor den Folgen von Fehlbera-
tung auf weiter Ebene schützt, indem die regelmäßige
Verjährungsfrist aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur
Basis genommen wird. Die Änderungswünsche der grü-
nen Fraktion, die noch weitere Einzelfallgerechtigkeit
herstellen möchte, sind zwar sicherlich gut gemeint, wir-
ken in diesem Fall aber leider kontraproduktiv.
Es können durchaus viele weitere Szenarien existie-
ren, welche von der Übergangsregelung nicht im Detail
abgedeckt werden. Wenn man nun diesen ersten Schritt
geht und dann beginnt, für alle weiteren Einzelfälle Son-
derregelungen zu finden, so entsteht zum einen eine
bürokratische Zumutung, deren Verwaltung wohl mehr
Kosten verursacht, als sie Nutzen bringt. Zum anderen
treffen die vom Finanzminister geäußerten Bedenken zu,
dass ein rückwirkender Eingriff in den Anlegerschutz
nur noch weiter das Vertrauen der Anleger in eine sta-
bile Situation untergräbt und damit womöglich viel
Schaden für einen verhältnismäßig kleinen, da selten
auftretenden Nutzen und politische Profilierung in Kauf
genommen wird.
Die für jeden Bürger bestehende Rechtsweggarantie
mag wie hier für Einzelne auch mal etwas ungünstigere
Zu Protokoll
Rechtswege bereithalten; diese Wege stehen ihnen
gleichwohl offen. Wenn es, wie von den Grünen in der
ersten Beratung vorgetragen, an den nötigen Mitteln für
einen Rechtsstreit fehlt, blieb es ihnen unbenommen, in
der dreijährigen Verjährungsfrist einen Zusammen-
schluss zu bilden und einen Musterprozess zu führen.
Einfach nur abzuwarten, dass andere die juristischen
Kastanien aus dem Feuer holen, war vielleicht doch et-
was überschlau; und das kann dann auch einmal schief-
gehen. Wir werden den Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen daher ablehnen.
Bei dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünengeht es um die Verjährungsfrist bei Falschberatung.Dies ist ein berechtigtes Anliegen bei der Verbesserungdes Anlegerschutzes. Denn in der Tat steht die Bundesre-gierung hier nach wie vor in der Bringschuld. Das, wassie bislang in Sachen Anlegerschutz auf den Weg ge-bracht hat, ist völlig unzureichend. Lehren aus Falsch-beratungen etwa bei Lehman-Zertifikaten wurden nichtgezogen, dem milliardenschweren Verlust vieler privaterKleinanlegerinnen und Kleinanleger zum Trotze. Hiersetzt die Initiative von Bündnis 90/Die Grünen an: Sieschafft auf kurze Sicht mehr Rechtssicherheit für diehiervon betroffenen Anleger entgegen der bisherigen(Übergangs-)Regelung, welche die Anlagebanken be-günstigt. Dieser Schritt geht zweifelsohne in die richtigeRichtung. Doch reicht er auch aus, um Anlegern beiProdukten mit längeren Laufzeiten angemessene Sicher-heit zu bieten?Zunächst einmal muss man sich Folgendes zur gegen-wärtigen Rechtslage vor Augen führen: Nach der letzteneinschlägigen Gesetzesänderung verjähren Schadenser-satzansprüche nicht mehr drei Jahre nach Erwerb einesWertpapiers, sondern drei Jahre, nachdem der bzw. dieGeschädigte von der Schädigung Kenntnis erlangt hat.Spätestens aber endet die Frist nach zehn Jahren ab demschadensbegründenden Ereignis – der Falschberatungbzw. dem anschließenden Erwerb. Diese zweifellos bes-sere Rechtslage kommt aber nur für solche Fälle zur An-wendung, in denen die Falschberatung nach dem 4. Au-gust 2009 stattgefunden hat. Für all diejenigen Anleger,bei denen die Falschberatung bis zu diesem Datum ge-schah, gilt weiter die alte Rechtslage.Vonseiten der Koalitionsfraktionen war in der De-batte über den Gesetzentwurf mit der rechtlichen Unver-einbarkeit einer Rückwirkung argumentiert worden, ge-mäß dem Motto: Wir würden ja, wenn wir könnten.– Doch dass Sie tatsächlich wollen, nehmen wir Ihnennicht ab – das geäußerte Verständnis mit der Gruppe derLehman-Geschädigten in allen Ehren. Denn rechtlichgesehen dürften sich überhaupt keine Bedenken stellen:Es soll nämlich nicht die Rechtslage für gegenwärtig be-reits abgeschlossene Sachverhalte verändert werden,also nach der bisherigen Rechtslage endgültig verjährteAnsprüche. Nein, die Regelung soll nur für solche An-sprüche gelten, bei denen die Verjährungsfrist nochläuft, wegen noch nicht eingetretenem Schadensereignisoder aus Unkenntnis der Betroffenen von ihrer eigenenSchädigung, die aber demnächst verjähren könnte.
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9852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
gegebene RedenDr. Axel Troost
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Ein solches Herumreden um den heißen Brei benach-teiligt eine ganze Reihe von Kleinanlegern, die damit umdie Möglichkeit gebracht werden, einen Anspruch we-gen Falschberatung geltend zu machen. Doch darf ausunserer Sicht gerade beim Anlegerschutz nicht in zu kur-zen Fristen gedacht werden. Zu bedenken ist, dass imZuge der privaten Altersvorsorge viele Menschen dazuübergehen, auch Papiere mit einer viel längeren Lauf-zeit als zehn Jahre zu erwerben. Die „Stiftung Waren-test“ hat 2010 errechnet, dass Bundesbürgern jährlichSchäden von insgesamt 700 Millionen Euro durchRiester-Verträge mit zu hohen Dispozinsen und Abgabe-gebühren entstehen. Stellen Sie sich vor, Sie bemerkeneine derartig hohe Schädigung erst nach Ablauf dieserZeitspanne von zehn Jahren. Der Gesetzentwurf nütztIhnen dann gar nichts. Aus diesem Grund haben wir inunserem Antrag vom März 2010 gefordert, dass die Ver-jährungsfrist bei Falschberatung und fehlerhafter Infor-mation auf 30 Jahre ab Kaufdatum des Finanzproduktszu erhöhen ist.Verbraucherinnen und Verbrauchern muss ein fairerUmgang garantiert werden, auf den sie gegenwärtig alsAnlegerinnen und Anleger nachweislich nicht vertrauenkönnen. Hierzu gehören lange Fristen, um Falschbera-tung und Ansprüche auf Schadensersatz geltend machenzu können. Auch sind längere Fristen aus Verbraucher-sicht noch am ehesten dazu geeignet, das Dilemma einerangemessenen Anlegerberatung zu lösen. Dieses Di-lemma besteht einerseits darin, dass für den Kleinanle-ger zu viele Informationen nicht mehr zu bewältigensind. Und andererseits verweisen übersichtliche Infor-mationen dann vielleicht doch nicht auf die entscheiden-den Risiken.
Ich möchte heute erneut dafür werben, unserem Ge-setzentwurf zuzustimmen und damit einen Fehler zu kor-rigieren, welcher der Großen Koalition im Rahmen derNovellierung des Schuldverschreibungsrechts unterlief.Damals wurde die kurze Sonderverjährungsfrist des§ 37 a Wertpapierhandelsgesetz gestrichen. Das war zubegrüßen, da Sonderverjährungsfristen im Kapital-marktrecht vor allem im Hinblick auf das mit demSchuldrechtsmodernisierungsgesetz verfolgte Ziel derVereinheitlichung aller zivilrechtlichen Verjährungsfris-ten keine Rechtfertigung haben. Vor allem das immerwieder ins Feld geführte Argument der Schnelllebigkeitdes Geschäftsverkehrs als besondere Gegebenheit desWertpapierbereichs sprach seit jeher eher für eine Ver-längerung als für eine Herabsetzung der Verjährungs-fristen.Ganz konkret war die Aufhebung der kurzen Sonder-verjährungsfrist von § 37 a Wertpapierhandelsgesetzaber deshalb erfreulich, weil Schadensersatzansprüchewegen schuldhafter Verletzung von Beratungspflichtenfortan nicht länger bereits drei Jahre nach Erwerb desWertpapiers, sprich regelmäßig dem Zeitpunkt derFalschberatung, verjährten, sondern die Dreijahresfristerst dann zu laufen begann, wenn die Anlegerin oder derAnleger von dem schadensbegründenden Ereignis er-Zu Protokollfuhren. Unabhängig von der Kenntnis bzw. grob fahrläs-sigen Unkenntnis der fehlerhaften Beratung verjährendie Ansprüche seitdem spätestens in zehn Jahren. Damiteröffnete man Verbraucherinnen und Verbrauchern einefaire Chance, Schadensersatzansprüche zu erkennenund durchzusetzen. Bis dato waren die Auswirkungen ei-ner Fehlberatung – infolge der Langfristigkeit einerFinanzanlage – oftmals erst nach Ablauf der alten anobjektive Umstände anknüpfenden Verjährungsfrist zuerkennen.Ein gesetzgeberischer Fehler war es jedoch, die neue,günstigere Verjährungsfrist lediglich für jene Anlagebe-ratungen einzuführen, die ab dem 5. August 2009 statt-fanden. Denn damit kann all jenen, die vor diesem Stich-tag falsch beraten wurden, nach wie vor seitens derBank die kurze Sonderverjährung entgegengehaltenwerden. Das heißt, dass vor allem die Verbraucherinnenund Verbraucher, die am meisten unter den Folgen derFinanzkrise zu leiden haben, nach wie vor einem drasti-schen zeitlichen Druck für die Durchsetzung ihrer Scha-densersatzansprüche ausgesetzt sind.Revidieren kann man diesen gesetzgeberischen Feh-ler, indem die Verjährungsfrist für – jedenfalls heutenoch nicht verjährte – Schadensersatzansprüche ausFalschberatung, die vor dem 5. August 2009 entstandensind, rückwirkend verlängert wird. Diese Korrektur be-darf keines großen Aufwandes und ist verfassungsrecht-lich keinen Bedenken ausgesetzt. Sie würde jedoch Tau-senden von Anlegern helfen, zu ihrem Recht zu kommen.Denn wenn die hier in Rede stehende Änderung zum1. Februar 2011 in Kraft treten würde, käme die günsti-gere kenntnisabhängige Verjährung immerhin all jenenAnsprüchen zugute, die zwischen dem 1. Februar 2008und dem 4. August 2009 entstanden sind.Nun wird seitens der Koalitionsfraktionen eingewen-det, dass Verbraucherinnen und Verbraucher, die inner-halb von drei Jahren nicht ihr Recht wahrgenommen ha-ben, mögliche Falschberatungen im Wege einer Klageüberprüfen zu lassen, auch infolge einer Verjährungs-verlängerung nicht klagen würden. Dem ist insofernzuzustimmen, als dass man Verbraucherinnen und Ver-braucher tatsächlich nicht zwingen kann, ihr Recht ein-zufordern. Allerdings ist es Aufgabe des Parlaments, denOrdnungsrahmen dafür zu setzen, dass die Anlegerinnenund Anleger Beratungssituationen überhaupt gericht-lich überprüfen können.Zudem gibt es Gründe, warum geschädigte Anlege-rinnen und Anleger zunächst davon absehen, ihre Scha-densersatzansprüche im Wege der Klageeinreichungoder der Einleitung eines förmlichen Güteverfahrens zuverfolgen. Für sie ist es infolge der hohen finanziellenVerluste, die sich gerade aus den Falschberatungen er-geben, oftmals ein extrem hohes Risiko, die Prozesskos-ten aufzubringen. Deshalb verzichten sie auf die Gel-tendmachung ihrer Ansprüche trotz des zeitlichenDrucks und warten höchstrichterliche Entscheidungenab, um beurteilen zu können, ob die Chancen auf eineerfolgreiche Schadensersatzklage das Risiko der Pro-zesskosten überwiegen. Das ist auch sehr verständlichund aus den individuellen Umständen nachvollziehbar.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9853
gegebene Reden
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9854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Dr. Gerhard Schick
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Und ein Blick auf die Rechtsprechung zeigt, dass eshinsichtlich der Feststellung von Pflichtverletzungendurch Banken im Rahmen von Anlageberatungen zu denLehman-Zertifikaten keinerlei Tendenz gibt. Gegenteiligspitzt sich die Rechtsunsicherheit derart zu, dass teil-weise einzelne Kammern innerhalb eines Gerichtes un-terschiedliche Rechtsauffassungen vertreten. Fraglichist beispielsweise nach wie vor, inwieweit die soge-nannte Kick-Back-Rechtsprechung bzw. die hinter dieserRechtsprechung stehenden Gedanken auf die Lehman-Verfahren und das Verschweigen von GewinnmargenAnwendung finden. Immerhin ist bezüglich dieser Fragenunmehr die Revision zum Bundesgerichtshof zugelas-sen, der wohl im Frühsommer dieses Jahres entscheidenwird.Darüber hinaus wird seitens des Bundesfinanz- undBundesjustizministeriums argumentiert, mit einer rück-wirkenden Verlängerung der Verjährungsfristen gehestets eine Störung des Rechtsfriedens einher. Zwar mages stimmen, dass jede Änderung des VerjährungsrechtsUnsicherheiten in der Rechtsanwendung mit sich bringt.gerung der Verjährungsfrist noch nicht verjährter An-sprüche keinerlei rechtlichen Bedenken ausgesetzt wäre.Insofern stellt sich die Frage, wie man diesem Gesetz-entwurf überhaupt ablehnend gegenüberstehen kann.Wer diesem Gesetzentwurf nicht folgt, kann es mit demAnlegerschutz nicht ernst meinen. Ein trauriges Zeugniswäre das vor allem für eine Koalition, die sich – demKoalitionsvertrag nach – dem Anlegerschutz verpflich-tet fühlt.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4507, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4053 abzu-
lehnen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung abgelehnt. Für den Gesetzentwurf
Letztlich vermag der Einwand jedoch nicht zu überzeu-
gen. Denn es ist gleichfalls ein wichtiger Bestandteil des
Rechtsfriedens, jenen die Möglichkeit auf rechtliches
Gehör einzuräumen, die so zahlreich Opfer von Falsch-
beratung wurden. Rechtsfrieden verlangt immer einen
Blick auf beide Seiten möglicher rechtlicher Auseinan-
dersetzungen.
In der Gesamtschau zeigt sich zum Ersten ein offen-
kundiger Befund, nämlich, dass im Rahmen einer Geset-
zesänderung etwas übersehen wurde. So etwas sollte
man als Gesetzgeber doch eingestehen können und eine
Korrektur ermöglichen.
Zum Zweiten besteht eine gegenwärtige Notwendig-
keit, diesen Fehler zu korrigieren.
Und darüber hinaus – drittens – liegt uns die juristi-
sche Einschätzung vor, dass eine rückwirkende Verlän-
gestimmt haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die SPD-Fraktion. Abgelehnt haben den Gesetzent-
wurf die Koalitionsfraktionen. Die Fraktion Die Linke
hat sich enthalten. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Damit sind wir auch schon am Schluss unserer heuti-
gen Tagesordnung.
– Ich sehe, Sie bedauern das. Ich wünsche Ihnen trotz-
dem einen schönen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 28. Januar 2011, um
9 Uhr, ein.
Ich schließe die Sitzung.