Protokoll:
17087

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 87

  • date_rangeDatum: 27. Januar 2011

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:54 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/87 nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationaler Bildungsbericht 2010 – Bil- dung in Deutschland und Stellungnahme der Bundesregierung (Drucksache 17/3400) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungs- berichte nutzen – Bildungssystem ge- rechter und besser machen Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Große Anfrage der Abgeordneten Elke Ferner, Bärbel Bas, Dr. Edgar Franke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einführung einer Kopfprämie in der gesetzlichen Krankenversiche- rung (Drucksachen 17/865, 17/3130) . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 9711 B 9712 A 9729 A 9730 A 9730 D 9731 C Deutscher B Stenografisc 87. Sit Berlin, Donnerstag, d I n h a Wahl des Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach als Mitglied in das Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgeset- zes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach als Mitglied und der Abgeordneten Antje Tillmann als stellvertretendes Mitglied im Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Ingrid Nestle zum ordentlichen Mitglied und der Abgeordneten Kerstin Andreae zum stellvertretenden Mit- glied im Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- 9711 A 9711 B 9711 B (Drucksache 17/4436) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9712 A 9712 B undestag her Bericht zung en 27. Januar 2011 l t : Christoph Matschie, Minister (Thüringen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9714 C 9716 A 9717 A 9719 D 9721 C 9723 B 9723 C 9724 B 9725 C 9726 D 9727 B schusses für Gesundheit zu dem Antrag d Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elk Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordnet und der Fraktion der SPD: Paritätisch er e er e II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 Finanzierung in der gesetzlichen Kran- kenversicherung wiederherstellen (Drucksachen 17/879, 17/4476) . . . . . . . . Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: a) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schenkelbrand bei Pferden verbieten (Drucksache 17/4438) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bericht gem. § 56 a GO-BT des Ausschus- ses für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung: Technikfolgenabschät- zung (TA) Innovationsreport Stand und Bedingungen klinischer For- schung in Deutschland und im Vergleich zu anderen Ländern unter besonderer Berücksichtigung nichtkommerzieller Studien (Drucksache 17/3951) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bericht gem. § 56 a GO-BT des Ausschus- ses für Bildung, Forschung und Technikfol- genabschätzung: Technikfolgenabschät- zung (TA) Politikbenchmarking Medizintechnische Innovationen – He- rausforderungen für die Forschungs-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik (Drucksache 17/3952) . . . . . . . . . . . . . . . . 9731 D 9731 D 9733 A 9734 C 9735 C 9737 D 9739 A 9740 C 9741 A 9742 A 9743 A 9744 A 9744 B 9745 C 9746 C 9747 D 9749 D 9751 B 9751 C 9751 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen durch mehr Fachpersonal für Hygiene und Prä- vention (Drucksache 17/4452) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsicher- heitsgesetz und zur Änderung des Ver- waltungskostengesetzes (Drucksachen 17/3983, 17/4559) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Re- aktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Anpas- sung chemikalienrechtlicher Vorschrif- ten an die Verordnung (EG) Nr. 1005/ 2009 über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen, sowie zur Anpas- sung des Gesetzes über die Umweltver- träglichkeitsprüfung an Änderungen der Gefahrstoffverordnung (Drucksachen 17/4142, 17/4292 Nr. 2.1, 17/4523) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Grünbuch der Kommission Optionen für die Einführung eines Eu- ropäischen Vertragsrechts für Verbrau- cher und Unternehmen KOM (2010) 348 endg.; Ratsdok. 11961/10 (Drucksachen 17/2994 A 16, 17/4565) . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Modernisierungspart- nerschaft mit Russland – Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stärkere Kooperation und Verflechtung (Drucksachen 17/1153, 17/1822) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Modernisierung braucht Rechtsstaat- lichkeit – Partnerschaft mit Russland fördern (Drucksachen 17/2426, 17/4560) . . . . . . . 9751 D 9751 D 9752 A 9752 B 9752 C 9752 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 III f) – o) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208 und 209 zu Petitionen (Drucksachen 17/4454, 17/4455, 17/4456, 17/4457, 17/4458, 17/4459, 17/4460, 17/4461, 17/4462, 17/4463) . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Schlaglochchaos beseitigen – Kommunale Finanzen stärken . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Vereinbarte Debatte: Tunesien – Jetzt Grund- lage für stabile Demokratie schaffen . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9753 A 9754 A 9754 A 9755 C 9756 C 9757 C 9758 D 9759 D 9761 A 9762 A 9763 B 9764 B 9765 C 9766 D 9767 C 9767 D 9769 A 9770 C 9772 B 9773 D 9775 B 9776 B 9777 D 9778 C Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Heinrich, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Menschenrecht auf saube- res Trinkwasser und Sanitäreinrichtun- gen – Versorgung weltweit verbessern – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwas- ser und Sanitärversorgung umsetzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Anerkennung des Men- schenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung weiterentwi- ckeln (Drucksachen 17/2332, 17/3652, 17/1779, 17/4526) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen Jahr gegen Armut und so- ziale Ausgrenzung (Drucksachen 17/2218, 17/4332) . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9779 C 9780 A 9780 D 9781 D 9784 B 9785 C 9786 B 9786 D 9788 C 9788 D 9789 C 9790 C 9791 A 9792 C 9793 A 9793 C IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Rup- pert, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Programme zur Bekämp- fung von politischem Extremismus weiterentwickeln und stärken (Drucksache 17/4432) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Crone, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Demokratieoffensive gegen Men- schenfeindlichkeit – Zivilgesellschaftli- che Arbeit gegen Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen (Drucksache 17/3867) . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsame Eu- ropäische Agrarpolitik nach 2013 – För- 9794 B 9794 D 9796 D 9797 A 9798 A 9799 A 9799 D 9800 A 9800 B 9801 D 9802 A 9802 A 9802 D 9803 D 9804 D 9805 D 9807 B 9808 A derung auf nachhaltige, bäuerliche Landwirtschaft ausrichten (Drucksache 17/4542) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gemeinsame europäische Agrar- politik nach 2013 weiterentwickeln (Drucksache 17/2479) . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Josef Rief (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entschä- digungsleistungen für Opfer der Zwangs- sterilisierung und der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus (Drucksache 17/4543) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil (Peine), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Energieeffizienz verbessern – Auf dem europäischen Sondergipfel zur Energiepolitik am 4. Februar 2011 ver- bindliche Maßnahmen vereinbaren (Drucksache 17/4528) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert, 9809 A 9809 A 9809 B 9809 D 9810 D 9812 B 9814 A 9815 B 9816 B 9817 D 9818 B 9818 C 9818 C 9819 C 9820 B 9821 B 9821 D 9822 D 9823 D 9824 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 V weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Klimaschutzziel erhö- hen (Drucksache 17/4529) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutsch- land und Europa sicherstellen (Drucksache 17/4527) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Europas Energiezu- kunft erneuerbar und sicher gestalten (Drucksache 17/4544) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts- und Verwal- tungsvorschriften betreffend bestimmte Or- ganismen für gemeinsame Anlagen in Wert- papieren (OGAW-IV-Umsetzungsgesetz – OGAW-IV-UmsG) (Drucksache 17/4510) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9824 B 9824 B 9824 C 9824 C 9826 A 9827 D 9828 C 9829 D 9830 B 9831 B 9832 B 9833 B 9834 A 9834 B 9834 C Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Anton Schaaf, Anette Kramme, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Faire Mobilität und soziale Sicherung – Voraus- setzungen für die Arbeitnehmerfreizügig- keit ab 1. Mai 2011 schaffen (Drucksache 17/4530) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutsch- land und Japan (Drucksache 17/4545) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Agrarwissenschaften in Deutschland auf höhere Anforderungen ausrichten (Drucksache 17/4531) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schwule, lesbische und transse- xuelle Jugendliche stärken (Drucksache 17/4546) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Unterstützung für die völ- 9834 D 9835 D 9837 B 9838 A 9838 D 9839 D 9840 D 9841 A 9841 B 9841 B VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 kerrechtswidrige Besatzungspolitik Ma- rokkos in der Westsahara (Drucksache 17/4271) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechtslage in Westsahara (Drucksache 17/4440) . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Wertpapier- handelsgesetzes (Drucksachen 17/4053, 17/4507) . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Faire Mobilität und soziale Si- cherung – Voraussetzungen für die Arbeitneh- merfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 schaffen (Ta- gesordnungspunkt 12) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9841 C 9841 D 9841 D 9843 A 9844 A 9845 C 9846 B 9847 D 9849 A 9849 B 9851 B 9852 B 9852 C 9853 B 9854 D 9855 A 9855 D 9856 C 9857 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: 150 Jahre diplomatische Bezie- hungen zwischen Deutschland und Japan (Ta- gesordnungspunkt 13) Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Die Agrarwissenschaften in Deutschland auf höhere Anforderungen aus- richten (Tagesordnungspunkt 14) Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schwule, lesbische und transse- xuelle Jugendliche stärken (Tagesordnungs- punkt 15) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9858 C 9859 C 9860 A 9860 D 9861 D 9863 B 9864 B 9865 A 9865 D 9866 B 9867 C 9868 D 9869 B 9870 B 9871 A 9871 D 9873 B 9874 A 9875 B 9876 A 9877 B 9877 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 VII Anlage 6 Neuabdruck der Antwort des Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage des Abgeord- neten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) : Mündliche Frage 59 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verweigerung der Einsichtnahme in beim BND vorhandene Akten zum NS-Kriegs- verbrecher Adolf Eichmann durch eine Journalistin Antwort Bernd Neumann, Staatsminister BK (86. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2: Fragestunde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9879 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9711 (A) (C) (D)(B) 87. Sit Berlin, Donnerstag, d Beginn: 1
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9855 (A) (C) (D)(B) Es war richtig, dass wir von der Möglichkeit einer schrittweisen Anpassung unseres Arbeitsmarktes an dieSchaaf, Anton SPD 27.01.2011 Einzig Deutschland und Österreich haben den größt- möglichen Spielraum der EU-Verträge ausgenutzt und machen derzeit noch die Grenzen dicht für Polen, Tsche- chen, Slowaken, Ungarn und Balten. Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 27.01.2011 Remmers, Ingrid DIE LINKE 27.01.2011 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aschenberg-Dugnus, Christine FDP 27.01.2011 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 27.01.2011 Brüderle, Rainer FDP 27.01.2011 Bülow, Marco SPD 27.01.2011 Connemann, Gitta CDU/CSU 27.01.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 27.01.2011 Fritz, Erich G. CDU/CSU 27.01.2011* Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 27.01.2011 Gleicke, Iris SPD 27.01.2011 Groth, Annette DIE LINKE 27.01.2011* Gruß, Miriam FDP 27.01.2011 Höger, Inge DIE LINKE 27.01.2011 Kindler, Sven- Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2011 Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 27.01.2011 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2011 Merkel (Berlin), Petra SPD 27.01.2011 Möhring, Cornelia DIE LINKE 27.01.2011 Nietan, Dietmar SPD 27.01.2011 Nink, Manfred SPD 27.01.2011 Nord, Thomas DIE LINKE 27.01.2011 Dr. von Notz, Konstantin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2011 Piltz, Gisela FDP 27.01.2011 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Faire Mobilität und soziale Sicherung – Voraussetzungen für die Ar- beitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 schaffen (Tagesordnungspunkt 12) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Am 1. Mai 2004 sind der Europäischen Union zehn neue Länder beigetreten. Am 1. Januar 2007 traten mit Bulgarien und Rumänien zwei weitere neue Staaten der Union bei. Je- dem der 15 „alten“ EU-Staaten wurde die Möglichkeit eingeräumt, von einer Beschränkung der Arbeitnehmer- freizügigkeit für die neuen Mitgliedsländer Gebrauch zu machen, außer in Bezug auf Malta und Zypern. Um der Notwendigkeit einer schrittweisen Anpassung der natio- nalen Arbeitsmärkte nachzukommen, hat man sich dabei auf ein flexibles 2+3+2-Modell geeinigt. Das heißt, je- des EU-Mitglied konnte im eigenen Ermessen entschei- den, wie schnell eine komplette Öffnung des nationalen Arbeitsmarktes erfolgen soll. Scholz, Olaf SPD 27.01.2011 Schwanitz, Rolf SPD 27.01.2011 Storjohann, Gero CDU/CSU 27.01.2011 Süßmair, Alexander DIE LINKE 27.01.2011 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2011 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2011 Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 27.01.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 27.01.2011* Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 9856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) veränderten Bedingungen einer EU-27 Gebrauch ge- macht haben. Damit haben wir vermieden, dass es vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise unnö- tigerweise zu einer Überforderung unseres Arbeitsmark- tes und zu überhasteten Maßnahmen mit unvorhersehba- ren Folgen kam. Nun sind es nur noch wenige Monate, dann fallen für rund 70 Millionen Einwohner in acht mittel- und osteu- ropäischen Mitgliedsländern der Europäischen Union die letzten Zugangsbarrieren zu Europas Arbeitsmärk- ten. Am 30. April 2011, sieben Jahre nach der größten EU-Erweiterungsrunde, läuft auch die ultimative Frist aus. Heute, sechs Jahre nach der EU-Erweiterung, zeigt sich – so schreibt es die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Artikel vom 31. Dezember 2010 –, dass die Sor- gen überzogen waren und man heute im Dreiländereck von Deutschland, Polen und Tschechien vor der Öffnung des Arbeitsmarktes entspannt miteinander umgeht. Verständlicherweise gibt es bei uns in Deutschland vor dieser Öffnung des Arbeitsmarktes große Sorgen und Ängste. Auch in Polen gibt es erhebliche Bedenken, und zwar vor einem Fachkräfteverlust, da Polen selbst an einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung leidet. Ge- naue belastbare Aussagen zu den Auswirkungen der Ar- beitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 gibt es nicht. Je- doch wird von den meisten Experten kein „Ansturm“ oder eine „Massenwanderung“ auf unseren Arbeitsmarkt erwartet. So geht die Kommission in ihrem Bericht aus dem Jahre 2008 von geringen Auswirkungen der Wande- rungsbewegungen auf Löhne und Beschäftigung der ein- heimischen Arbeitskräfte der EU-15-Länder durch die zehn neuen Mitgliedstaaten aus. Langfristig sei die Ar- beitsmigration aus Osteuropa im Großen und Ganzen neutral für die Arbeitsmärkte. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise, hat gestern in der Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales noch einmal betont, dass er keine große Gefahr für den gesamtdeutschen Arbeitsmarkt sehe. Er erwarte, dass etwa 100 000 bis 150 000 Personen pro Jahr zuwandern. Für Deutschland bestehen auch große Chancen, wenn es gelinge, eine „Willkommens-Kultur“ zu schaffen, so Weise weiter. Negative Auswirkungen könnte es, wenn überhaupt, dann nur in sensiblen Berei- chen wie in der Zeitarbeit geben. Deshalb setzen wir uns als Unionsfraktion seit längerem für einen branchenspe- zifischen Mindestlohn in der Zeitarbeit ein. Hier gibt es auch zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaf- ten eine erfreuliche Einigkeit. Einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, wie ihn die SPD-Fraktion in ihrem vorliegenden Antrag fordert, lehnen wir jedoch entschieden ab. Wir haben viele solche Mindestlohndebatten geführt, zuletzt vor Weihnachten auf Initiative der Fraktion Die Linke. Un- sere Argumente, insbesondere die Gefahr des Verlustes vieler Arbeitsplätze, haben sich nicht verändert. So warnt der Bundesverband der Zeitarbeit aktuell vor einer zu strengen Lohnregulierung und sieht mehrere Zehntau- send Arbeitsplätze in Gefahr. Wir wollen Beschäftigung erhalten und nicht ins Ausland verlagern. Auch die Forderung der SPD-Fraktion nach Auf- nahme der sozialen Fortschrittsklausel ins Primärrecht haben wir bereits im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union aus guten Gründen abgelehnt. Zum einen ist die soziale Dimension des EU-Vertrags- systems bereits deutlich ausgeweitet worden. Zum ande- ren ist soziale Politik in erster Linie eine nationale Auf- gabe und fällt damit nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Union. Darüber hinaus würde durch solch eine soziale Fortschrittsklausel die Leistungsfähigkeit und Dynamik des marktwirtschaftlichen Systems erheb- lich gemindert. Ich bin zuversichtlich, dass wir in den Verhandlungen im Rahmen der Hartz-IV-Reform am 6. Februar 2011 noch eine Einigung mit der Opposition über eine Lohn- untergrenze in der Zeitarbeit erzielen werden. Anderer- seits darf dies nicht dazu führen, dass sämtliche sozial- politischen Wünsche aus den letzten 15 Jahren dabei umgesetzt werden. Ich wünsche mir, dass wir der Öffnung unseres Ar- beitsmarktes nach dem 1. Mai 2011 genauso gelassen entgegensehen, wie es Deutsche, Polen und Tschechen im Dreiländereck tun. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ausgangs- punkt der Arbeitnehmerfreizügigkeit, über die wir heute reden, ist der Fall des Eisernen Vorhangs vor inzwischen mehr als 20 Jahren. Viele Millionen Menschen haben diese Freiheit gewollt und für sie gekämpft. So waren die Menschen in Ostdeutschland nicht mehr bereit, sich mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl abzufinden. Auch in anderen Ländern Osteuropas eroberten sich mu- tige Menschen ihre Freiheit. Es war nur folgerichtig, dass diese Länder Aufnahme in die Europäische Union gefunden haben. Die Freizügigkeit für die Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer in diesem Europa wurde unter anderem we- gen der in den vergangenen Jahren schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt von der deutschen Bundesregierung auf den nach dem Beitrittsvertrag letztmöglichen Zeit- punkt hinausgeschoben, und dieser letztmögliche Zeit- punkt ist der 1. Mai 2011. Die neue Bewegungsfreiheit ist ein hohes Gut, das nach unserer Überzeugung nicht für politische Stim- mungsmache herhalten darf. Wir wollen nicht, dass an- stelle von Mauern Gräben zwischen den Menschen ent- stehen. Auch die SPD hat sich lange an diesen Grundsatz ge- halten. Jetzt ist der Niedergang der Sozialdemokratie of- fenbar so weit fortgeschritten, dass es um eines ver- meintlichen politischen Profits willen opportun er- scheint, mit den Ängsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu spielen. Ich kann Ihnen aber versichern: Bei der christlich-li- beralen Koalition ist das Thema Arbeitnehmerfreizügig- keit in den besten Händen – und das nicht erst seit heute. So hat sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits im Juni 2010 in einer von der Arbeitnehmergruppe initi- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9857 (A) (C) (D)(B) ierten Fachtagung mit den Auswirkungen der bevor- stehenden vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit zu Polen, Tschechien und sechs weiteren mittel- und osteuropäi- schen EU-Mitgliedstaaten befasst. Damals hat Professor Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Be- rufsforschung in Nürnberg in einem vielbeachteten Re- ferat insgesamt positive Effekte und punktuelle, poli- tisch beherrschbare Risiken prognostiziert. Die Union hat sich in ihrer Politik an diesem Szenario orientiert. Wir sehen offen und optimistisch dem Wegfall der Beschäftigungshürden entgegen und handeln zu- gleich gezielt, wo sich Probleme anbahnen könnten. Es geht dabei nicht darum, neue Hürden oder gar Mauern für die Freizügigkeit aufzubauen. Es geht allein darum, ganz im Sinne sozialmarktwirtschaftlicher Prinzipien wettbewerbsverzerrende Effekte auszuschalten. Diese könnten sich aufgrund des noch vorhandenen Lohngefäl- les innerhalb der EU ergeben und sich in manchen Bran- chen zulasten derjenigen Betriebe, die ortsangemessene Löhne bezahlen, und ihrer Beschäftigten auswirken. Wir haben mit Nachdruck darauf hingewirkt, dass es zu einem Mindestlohn in der Pflege kommt. Weitere ta- rifliche Mindestlöhne hat die Bundesregierung außer- dem unter anderem im Gebäudereinigerhandwerk und in der Abfallwirtschaft für allgemeinverbindlich erklärt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es darüber hinaus in Kürze zu allgemeinverbindlichen tariflichen Mindest- löhnen im Wach- und Sicherheitsgewerbe und in der Zeitarbeit kommen wird. Gerade die Arbeitnehmer- gruppe hatte übrigens frühzeitig auf die Notwendigkeit einer Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit hingewiesen, da- mit nicht Arbeitskräfte zu den tariflichen Konditionen von Ländern mit niedrigerem Lohnniveau nach Deutsch- land entliehen werden können. Damit wird es zum 1. Mai 2011 in den besonders an- fälligen Branchen des Dienstleistungssektors Lohnunter- grenzen geben, die Lohndumping aufgrund des Wegfalls der Beschäftigungsschranken verhindern. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich betonen: Die Tarifvertragsparteien in den jeweiligen Branchen sind ihrer Verantwortung gerecht geworden und haben mit ihrer konstruktiven Haltung einen ent- scheidenden Beitrag hierzu geleistet. Vor diesem Hinter- grund müssen sie die SPD-Forderung nach einem staatli- chen Mindestlohn allerdings als Ohrfeige empfinden. Wir wissen: Hinter der Arbeitswanderung stehen auch persönliche Schicksale. Die wirksame Verhinderung von Lohndumping ist auch eine wichtige Voraussetzung da- für, dass Arbeitskräfte aus unseren Nachbarländern hier als Kollegen und nicht als Konkurrenten gesehen wer- den. Wir werden überdies auch eine konsequente Über- wachung durch die zuständigen Stellen sicherstellen, dass die im Zuge der Arbeitnehmerfreizügigkeit zuwan- dernden Arbeitskräfte zu rechtmäßigen Bedingungen be- schäftigt und nicht ausgebeutet werden. Die Arbeitnehmergruppe hat sich im Übrigen auch in politischen Gesprächen in Polen unter anderem mit Re- gierungs-, Gewerkschafts und Kirchenvertretern im ver- gangenen Sommer über die dortige Bewertung der Situa- tion von polnischen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmern in Deutschland und ihre Erwartungen infor- miert. Zum Schluss meiner Rede möchte ich auf den eben bereits erwähnten Professor Brücker zurückkommen. Dieser rechnet auch damit, dass vom Wegfall der Beschäftigungsschranken Wachstumsimpulse ausgehen werden. Hierzu lautet unsere Botschaft: Wir wollen, dass Europa gemeinsam wächst. Josip Juratovic (SPD): Mit der Arbeitnehmerfrei- zügigkeit für die mittel- und osteuropäischen Staaten ab 1. Mai 2011 rückt Europa ein Stück näher zusammen. Damit ist die europäische Integration für alle Menschen auch in ihrem täglichen Leben spürbar. Das ist ein wich- tiger Beitrag für die Identifikation mit unserem gemein- samen Europa. Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass ab dem 1. Mai 2011 zwischen 100 000 und 150 000 Men- schen nach Deutschland kommen, um bei uns hier zu ar- beiten. Diese Zuwanderung ist für unseren wirtschaftli- chen Erfolg in der Zukunft sehr wichtig; denn dieser hängt von der Fachkräfteentwicklung ab. Natürlich ist es unsere prioritäre Aufgabe, zunächst einmal die Men- schen in unserem Land zu Fachkräften auszubilden. Aber man muss realistisch sein: Das reicht nicht aus, und wir brauchen Zuwanderung. Derzeit wandern jedoch mehr Menschen aus Deutschland aus, als Menschen zu uns kommen. Es gibt viele Studien, die belegen, wie wichtig eine Zuwanderung von hochqualifizierten Fach- kräften ist und dass dadurch Arbeitsplätze gesichert wer- den. Allerdings: Die entscheidende Frage dabei ist, ob hochqualifizierte Fachkräfte oder niedrigqualifizierte Ar- beitnehmer zu uns kommen. Damit wir für hochqualifi- zierte Arbeitnehmer attraktiv sind, brauchen wir eine Willkommenskultur. Diese Willkommenskultur ist von unserer Gesellschaft abhängig, aber auch von unserem politischen Handeln. Wenn die Arbeitnehmer aus diesen Staaten zu den jetzigen gesetzlichen Bedingungen zu uns kommen, sind sie gezwungen, zu schlechten Bedingun- gen und Niedrigstlöhnen zu arbeiten. Ich habe bereits im Dezember hier am Rednerpult davon gesprochen, dass der polnische Arbeitgeberpräsident von Löhnen für pol- nische Leiharbeiter zwischen 2 und 5 Euro ausgeht. Bei derartigen Löhnen kommen keine Hochqualifizierten zu uns, sondern nur Niedrigqualifizierte. Wir müssen unsere Löhne und Arbeitsbedingungen verbessern, damit es für Hochqualifizierte attraktiv ist, bei uns zu arbeiten. Wir wissen alle, welche Arbeitsbedingungen und Löhne ab dem 1. Mai 2011 in unserem Land drohen. Und trotzdem tun die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP nichts dagegen. Die Bundesregierung schaut nur zu, was passiert, ohne politisch zu handeln. Durch ihr Zögern gefährden sie den sozialen Frieden in Deutschland und in der gesamten Europäischen Union. Die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP werden möglicherweise argumentieren, dass sie ja im Vermittlungsausschuss neuerdings für einen Mindest- 9858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) lohn in der Leiharbeit eintreten und damit schon etwas tun auch für die Arbeitnehmer in der EU. Ich freue mich darüber, dass sie nach Jahren der politischen Nachhilfe durch die SPD endlich die Realität in der Leiharbeit er- kannt und sich unserem stetigen Druck gebeugt haben. Aber ein Mindestlohn nur für die Leiharbeit reicht nicht aus, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzubereiten. Deswegen legen wir als SPD-Fraktion heute einen de- taillierten Antrag vor, was alles bis zum 1. Mai gesche- hen muss. Zuallererst brauchen wir einen flächendeckenden ge- setzlichen Mindestlohn. Weiterhin brauchen wir eine Re- gelung, wie die Einhaltung von Mindestlöhnen und Ar- beitsbedingungen wirksam kontrolliert werden kann. Dazu brauchen wir mehr Personal bei der Finanzkon- trolle Schwarzarbeit. Das haben mir zahlreiche Mitarbei- ter des Zolls bestätigt. Zudem muss die Nachweispflicht der Arbeitgeber angepasst werden, damit Vor-Ort-Kon- trollen wirksam durchgeführt werden können. Wir müs- sen Scheinselbstständigkeit wirksam bekämpfen. Ich kenne Berichte, dass unter einer Firmenadresse 30 vermeintlich Selbstständige gemeldet sind. Diesen Missbrauch müs- sen wir verhindern. Wir brauchen eine Generalunternehmerhaftung ähn- lich der Regelung im Baugewerbe. Wenn ein Unterneh- men nicht den vereinbarten Mindestlohn und die Sozial- versicherungsbeiträge zahlt, muss auch der Auftraggeber des Unternehmens haften. Auch im Bereich der Mitbestimmung brauchen wir Änderungen. Bei Entsendungen muss der Betriebsrat be- teiligt werden. Besonders Entlohnung und Arbeitsbedin- gungen müssen gemeinsam festgelegt werden. Die ent- sandten Arbeitnehmer müssen zudem auch Rechte im Betrieb erhalten. Was wir bisher viel zu wenig diskutiert haben, ist die Beratung von entsandten Arbeitnehmern. Hier in Berlin gibt es eine erfolgreiche Beratungsstelle, um entsandte Arbeitnehmer über ihre Rechte zu infor- mieren. Eine solche Beratung muss zur Regel werden; denn nur wenn die Arbeitnehmer um ihre Rechte wissen, können sie Missbrauch erkennen und anzeigen. Als je- mand, der 22 Jahre Betriebserfahrung hat, stehe ich in regem Austausch mit den Arbeitnehmern und Arbeitge- bern. Das Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit ist für meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sehr wich- tig. Sie haben Angst und wissen nicht, welche Auswir- kungen Europa für sie haben wird. Wir alle reden immer von Vertrauen in Europa. Ver- trauen bei den Menschen schaffen wir nicht, wenn wir in Europa lediglich über Bankenrettung reden. Vertrauen in Europa schaffen wir nur, wenn wir auch soziale Sicher- heit für die Menschen schaffen. Dazu müssen wir Lohn- dumping und schlechte Arbeitsbedingungen verhindern. Die europäischen Arbeitnehmer dürfen nicht gegen- einander ausgespielt werden, wer von ihnen zu den nied- rigsten Löhnen und den schlechtesten Bedingungen ar- beiten muss. Davor haben viele Arbeitnehmer in der ganzen EU Angst. Nehmen wir gemeinsam den Menschen diese Angst vor dem Gegeneinander-Ausspielen. Die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP fordere ich auf, nicht nur einen Mindestlohn für die Leiharbeit zu schaffen, sondern auch einen flächendeckenden gesetzlichen Min- destlohn für alle Arbeitnehmer und gemeinsam mit uns die wichtigen und konkreten Forderungen aus unserem Antrag umzusetzen. Machen wir Deutschland durch faire Arbeitsbedingungen für hochqualifizierte Fachkräfte at- traktiv. Das nützt nicht nur den Arbeitnehmern, sondern auch der Wirtschaft. So schaffen wir sowohl wirtschaftli- chen Erfolg als auch sozialen Frieden in Europa. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ab dem 1. Mai 2011 gewährt Deutschland Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den Staaten Mittel- und Osteuropas, die 2004 der Europäischen Union beigetreten waren. Wir Liberale freuen uns auf diesen weiteren Schritt hin auf ein verein- tes Europa. Auf jeden Fall ist es kein Datum, das man zur Panik- mache nutzen sollte. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht in dieser Entwicklung vor allem die Chancen und nicht irgendwelche Gefahren. Die Öffnung unseres Arbeits- marktes wird eine weitere Bereicherung für unsere Ge- sellschaft bringen, wie jeder Schritt des vereinten Euro- pas es bisher getan hat. Bisher hat noch kein Forschungsinstitut seriös voraus- sagen können, wie viele Menschen aus Polen, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Zypern, Malta, Tschechien, der Slowakei oder Slowenien ab Mai 2011 wirklich zur Arbeit nach Deutschland kommen werden. Deshalb ist es unserer Auffassung nach unredlich, mit Untergangssze- narien Ängste vor der Öffnung unserer Grenzen zu unse- ren Nachbarn zu schüren. Das IAB jedenfalls hat in einem Kurzbericht festge- stellt, dass „eine Öffnung der Arbeitsmärkte ... für die Zuwanderung aus den Beitrittsländern in Deutschland langfristig positive Effekte haben“ wird – IAB Kurz- bericht 9/2009. Daher finde ich es schon bedenklich, wenn Verbands- vertreter etwa der Zeitarbeitsbranche mit Blick auf die Freizügigkeit in Gesprächen erklären, schon 1 000 neue Arbeitnehmer auf dem Zeitarbeitsmarkt, die zu niedrige- ren Löhnen als den tariflichen Mindestlöhnen arbeiten, würden die Zeitarbeitsbranche wieder in Verruf bringen, und von daher sei eine Aufnahme in das Arbeitnehmer- Entsendegesetz notwendig. Die Gründe für die Belastung des Ansehens der Zeit- arbeitsbranche im letzten Jahr waren nach unserer Auffas- sung jedenfalls eher hausgemacht, und sie sind mit einem Mindestlohn nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz wohl auch nicht beseitigt. Wir Liberale sorgen uns um die Zukunft der Zeitarbeit in Deutschland; denn sie hat wie keine andere dafür gesorgt, dass gerade Arbeitslose und speziell Langzeitarbeitslose eine neue Beschäftigung finden. Auch wir glauben, dass im Bereich der Zeitarbeit ge- setzliche Korrekturen nötig sind. Deshalb hat die FDP- Bundestagsfraktion schon im Sommer 2010 eine Stär- kung des sogenannten Equal-Pay-Grundsatzes gefordert. Eine faire Entlohnung ist Voraussetzung für die gesell- schaftliche Akzeptanz und damit entscheidend für den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9859 (A) (C) (D)(B) zukünftigen Bestand der Zeitarbeit als einem der wich- tigsten arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Es muss klar sein: Zeitarbeit dient der flexiblen Reaktion auf Auftragsschwankungen, ist aber kein Mittel zur Erset- zung von Stammbelegschaften oder für Lohndifferenzie- rung nach unten. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass nach dem geltenden Recht der Grundsatz des Equal Pay bereits heute als Regelfall vorgesehen ist, während die Möglichkeit der Abweichung durch Tarifvertrag den Ausnahmefall darstellt. In der Praxis ist es in den letzten Jahren tatsächlich aber zu einer Umkehrung des Regel- Ausnahme-Verhältnisses gekommen. Als jemand, der selbst mittelständischer Unternehmer ist, sage ich Ihnen sehr deutlich: Ich kann niemandem er- klären und ich halte es auch nicht für richtig, dass nach dem heute geltenden Recht ein Zeitarbeiter ohne jede zeitliche Befristung anders entlohnt werden kann als ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft, welcher genau die gleichen Tätigkeiten ausführt. Mittlerweile sind auch die anderen im Bundestag ver- tretenen Parteien von der Wichtigkeit dieses Themas überzeugt. Daher sind wir momentan in Verhandlungen im Vermittlungsausschuss, um über mögliche Modifizie- rungen der Abweichungserlaubnis vom Equal-Pay- Grundsatz zu diskutieren. Konkret geht es darum, wie lange die Bezahlung von Zeitarbeitern von der der Stammbelegschaft abweichen darf. In diesem Zusammenhang möchte ich klar feststellen: Sehr kurze Fristen gefährden das Arbeitgebermodell, das wir aktuell bei der Zeitarbeit in Deutschland haben. Ich halte dieses aber für ein gutes Modell. Im Gegensatz zu vielen unserer europäischen Nachbarn ist in Deutschland der ganz überwiegende Teil der Zeitarbeiter bei den Zeit- arbeitsunternehmen sozialversicherungspflichtig und un- befristet eingestellt. Für diese Arbeitnehmer führen die Unternehmen entsprechend auch Sozialversicherungsbei- träge ab. Wir treten für eine längere Frist ein, damit Be- schäftigungschancen für Menschen mit geringerer Qua- lifikation gewahrt bleiben und die Zeitarbeit nach dem Arbeitgebermodell auch künftig möglich ist. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Forderung der SPD, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindest- lohn einzuführen, eingehen. Es wird Sie wenig überra- schen, dass meine Fraktion einen flächendeckenden ge- setzlichen Mindestlohn nach wie vor ablehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit einem flächen- deckenden gesetzlichen Mindestlohn gefährden bzw. vernichten Sie viele Arbeitsplätze, insbesondere Arbeits- plätze für Geringqualifizierte. Sie verbauen damit vielen Menschen eine Chance, die aus langer Arbeitslosigkeit heraus den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt gefunden haben. Das ist keine vernünftige Arbeitsmarktpolitik. Diesen Weg gehen wir nicht mit! Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der An- trag nicht viel Neues gebracht hat. Viele der SPD-Forde- rungen führen zu einer Abschottung des deutschen Ar- beitsmarktes. Aber die Grundidee von Europa ist freier Handels- und Wirtschaftsverkehr zwischen den Mit- gliedstaaten. Daher lehnen wir den Antrag ab. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Der Countdown läuft. Noch 93 Tage bis zur vollen Arbeitnehmerfreizü- gigkeit in Europa. Ab dem 1. Mai 2011 können Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer aus acht mittel- und ost- europäischen Staaten wie zum Beispiel Litauen oder Polen ohne Hindernisse in Deutschland arbeiten. Europa wächst weiter zusammen – Das ist echt toll. Allerdings wird es nur funktionieren, wenn dieser Prozess gründlich vorbereitet ist. Und das ist nicht der Fall. Der deutsche Arbeitsmarkt ist geprägt durch die soge- nannten „Selbstheilungskräfte des Marktes“. Die Folgen sind bekannt: Prekäre Beschäftigungsformen wie Leih- arbeit oder Minijobs haben zugenommen, die sozialversi- cherungspflichtige Beschäftigung nimmt ab. Die Bundes- regierung ermöglicht es den Arbeitgebern, im Rahmen der bestehenden Gesetze, versteht sich, völlig legal Löhne zu drücken und Arbeitsbedingungen zu verschär- fen. Das betrifft dann, um es einmal klipp und klar zu sa- gen, sowohl die Altenpflegerin aus Warschau als auch den Gebäudereiniger aus Hannover. 90 Prozent der Arbeitgeber werden jede Möglichkeit nutzen, um niedrige Löhne zu zahlen. Wenn sie es nicht tun, wären sie ja auch doof. Machen Sie sich nichts vor, dagegen gibt es nur ein Rezept: Der flächendeckende ge- setzliche Mindestlohn muss her. Aber anstatt ein umfassendes Konzept auf die Beine zu stellen, diskutieren CDU und FDP nur kleinteilige Scheinlösungen wie den unsäglichen Mindestlohn in der Leiharbeit. Damit zementieren Sie aber Ungerechtigkei- ten und Schieflagen auf dem Arbeitsmarkt. Leiharbeit braucht Equal Pay, gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wenn das nicht geht, gehört Leiharbeit abgeschafft, ohne Wenn und Aber. Andere Länder in der EU haben den Wert des gesetz- lichen Mindestlohns schon längst erkannt: Von den 27 Staaten haben 20 einen gesetzlichen Mindestlohn; die Hälfte davon hat ihn in den letzten sechs Monaten sogar angehoben. Anders in Deutschland, wo Lohnkostensen- kung und Kaputtsparen über allem stehen, setzen diese Länder auf die Stärkung der Binnennachfrage und eine soziale Absicherung ihrer Arbeitnehmer. Wir Linken ra- ten dieser Bundesregierung, dem Beispiel dieser Staaten zu folgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es ist ja nicht verboten, dazuzulernen. Der Antrag ist nicht schlecht. Allerdings haben Sie durch die Agenda 2010 die massive Ausweitung von prekärer Beschäftigung, al- lem voran der Leiharbeit, zu verantworten. Damit haben Sie überhaupt erst den Grundstein für diese heutige schwierige Situation gelegt. Ich hoffe, dass Sie jetzt Ver- antwortung übernehmen und alles dafür tun, diese Ent- wicklung zu stoppen. Seien Sie konsequent und fallen Sie beispielsweise bei den Verhandlungen im Bundesrat jetzt nicht um. Sorgen Sie dafür, dass der gesetzliche Mindestlohn endlich eingeführt wird und Leiharbeit und Ausbeutung der Vergangenheit angehören. Wenn man den Mund spitzt, muss man auch pfeifen. Die Linke bleibt dabei: Wir brauchen einen Mindest- lohn auch hierzulande, und wir brauchen die Gleichbe- 9860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) handlung aller Beschäftigten. Equal Pay bedeutet die gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit ab dem ersten Tag und am gleichen Ort. Deshalb wird meine Fraktion am 24. Februar an dem Aktionstag der Gewerkschaften teilnehmen und für einen Mindestlohn und Equal Pay in der Leiharbeit auf die Straße gehen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ab dem 1. Mai 2011 gilt es: Dann hat sich entschieden, ob sich Deutschland in Europa einen Namen als Lohn- drücker machen will oder ob Deutschland ein Motor des sozialen Fortschritts für Europa wird. Ich fürchte, das Erste wird der Fall sein. Denn diese Bundesregierung unternimmt nichts, um vor der vollen Freizügigkeit or- dentliche Rahmenbedingungen zu setzen. Die lassen sich auf eine einfache Formel bringen: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Um dafür die Grundlage zu schaffen, bedarf es hierzulande vor allem einer Maßnahme: der Einführung eines gesetz- lichen Mindestlohns. Das ist längst überfällig. Mit dem Mindestlohn können wir nicht nur im Hinblick auf die Freizügigkeit, sondern auch bei vielen anderen Proble- men eine Menge erreichen. Wir werden Ihnen in der kommenden Plenarwoche ei- nen ausgearbeiteten Gesetzentwurf für einen Mindest- lohn vorlegen, mit dem alles ganz schnell gehen kann. Voraussetzung ist allerdings, dass Union und FDP end- lich das kleine Karo ablegen und den Mut aufbringen, eine flächendeckende Lösung auf den Weg zu bringen. Ein Mindestlohn ist auch deswegen dringend notwen- dig, weil die Bundesagentur für Arbeit vor allem damit rechnet, dass insbesondere An- und Ungelernte ab dem Mai die Öffnung der deutschen Grenzen nutzen werden. Wer der Ausbreitung von Lohn- und Sozialdumping und des Niedriglohnsektors in Deutschland nicht tatenlos zu- sehen will, muss an dieser Stelle eine Grenze einziehen. Europäische Angelegenheiten kann aber nicht jeder Nationalstaat für sich lösen. Für ein soziales Europa sind deshalb verbindliche und allgemeingültige soziale und arbeitsrechtliche Mindeststandards wichtige Eckpfeiler, und hier gibt es zum einen Klarstellungsbedarf, zum an- deren Verbesserungsnotwendigkeiten. Die entsprechenden Stichworte wurden genannt: Wirtschaftliche Freiheiten dürfen nicht zulasten von Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehen. Daher brauchen wir die Klarstellung, dass die Entsen- derichtlinie Mindest- und nicht Maximalstandards fest- legt sowie eine verbindlich geltende soziale Fortschritts- klausel. Darum muss die Flexibilität auf den europäischen Ar- beitsmärkten mit sozialer Sicherheit einhergehen und durch Mindestarbeitsbedingungen die gleichen Voraus- setzungen für Beschäftige und Unternehmen in den Mit- gliedstaaten schaffen. Daher muss die bestehende Grauzone für Schein- selbstständigkeit aufgeklärt werden. Das alles sind auch notwendigen Voraussetzungen für fairen Wettbewerb. Ich erwarte von der Bundesregie- rung, dass sie sich auch in sozialen Fragen in Europa lautstark zu Wort meldet und nicht immer nur Verbesse- rungen verhindert. Ich bin überzeugt davon: Die Frage der Standards wird am Ende auch die Fachkräftefrage entscheiden. Da ist bei uns eine Menge schiefgelaufen. Die letzten Jahre waren für Deutschland verlorene Jahre beim Wettbewerb um die besten Hände und Köpfe. Doch es gibt immer noch zu viele, die daraus nicht gelernt haben. Jüngstes Beispiel dafür bietet die CDU/ CSU. Die hat gerade eine neue Strategie verkündet: „Junge Europäer anwerben“. Anfangen wollen sie damit in Spanien. Wenn die Europäer kämen, dann müsste man sich nicht der ganzen Welt öffnen, so lautet ihr Argu- ment. Da empfehle ich aber mal einen Blick auf die Fak- ten: Die Europäer, die sie anwerben wollen, die könnten schon längst kommen, die aus Spanien ebenso wie die aus Portugal, aus Italien usw. Aber wissen Sie, was? Die wollen gar nicht kommen, weil die Konditionen hier ein- fach nicht stimmen. Die Bertelsmann-Stiftung hat es uns doch schwarz auf weiß präsentiert: Gerade im Bereich Hochqualifizierter verliert Deutschland im Vergleich mit den anderen EU-15. Deutschland ist unter den herr- schenden Bedingungen nicht attraktiv. So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen gute Standards, die für alle gelten, und – um es mal mit Bun- despräsident Wulff zu sagen – wir müssen weltoffen, fle- xibel, modern und zukunftszugewandt sein, wenn wir im Wettbewerb um die klügsten und besten Köpfe bestehen wollen. Vor allem in Sachen Weltoffenheit können hier sicherlich noch ein paar Leute etwas dazulernen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: 150 Jahre diplomati- sche Beziehungen zwischen Deutschland und Japan (Tagesordnungspunkt 13) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die freundschaftliche Verbundenheit zwischen den Menschen in Deutschland und Japan hat die wechselvolle Geschichte der vergan- genen 150 Jahre überdauert. Die von Beginn an große Vielseitigkeit des Austauschs ist auch heute von beein- druckender Dichte und Lebendigkeit. Dieser Austausch begann bereits vor 150 Jahren mit dem modernen Bildmedium. Die heute schon für die ge- meinsamen Beziehungen prägende Eulenburg-Mission brachte bereits damals einen Schatz mit nach Hause: die ersten Fotos aus einem mysteriösen, abgeschotteten Land, das man in Europa nur aus Erzählungen kannte. Nach Schätzungen des britischen Fotografiehistorikers Sebastian Dobson wurden auf der Mission 1 400 Fotos gemacht. Gerade erst und pünktlich zu unseren Feierlich- keiten wurde der gesamte Schatz von ihm geborgen und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9861 (A) (C) (D)(B) vorgestellt. Als Freund Japans schlägt mir das Herz beim Betrachten der Bilder höher, geben die Fotos doch einen umfangreichen Einblick in die damals schon beeindru- ckende kulturelle Vielfalt in allen Bereichen des Lebens und allen Regionen des Landes. Zu entdecken gibt es Fo- tos aus einem Teehaus in Oomori, Hafenimpressionen aus Yokohama oder Werke, ganz in Sepia gehalten, von Häu- sern, Landschaften, Samurai und Würdenträgern, man sieht aber auch das einfache Volk beim Verrichten von Arbeiten. Die Entdeckung der Fotos belegt, welchen Schatz Deutschland und Japan seit ihrer ersten Begegnung im- mer gepflegt und aufgebaut haben. Trotz ihrer kulturel- len Fremdheit haben es beide Nationen geschafft, eine Freundschaft zu entwickeln, die auf gegenseitigem Respekt gründet, Interesse an den Unterschieden entwi- ckelt und gemeinsame Werte wie die Einhaltung der Menschenrechte propagiert. Einfach gesagt, Japan und Deutschland haben in der globalen Weltgemeinschaft eine einmalige stabile Freundschaft. Diese Stabilität beschränkt sich nicht nur auf die ei- gens dafür geschaffenen Institutionen wie beispielsweise das Japanisch-Deutsche Zentrum in Berlin oder das Deut- sche Institut für Japanstudien in Tokio. Über 50 deutsch- japanische Gesellschaften in Deutschland und ebenso viele japanisch-deutsche Gesellschaften in Japan bilden ein dichtes Netz menschlicher Kontakte in allen Berei- chen des Lebens. Dies wird durch zahlreiche Partner- schaften zwischen Kommunen, Schulen, Universitäten, wissenschaftlichen Institutionen und Kultureinrichtun- gen verstärkt. Auch eine so alte und gute Freundschaft wie die zwi- schen unseren Ländern will weiter gepflegt werden. Be- sonders der Jugend in unseren Ländern kommt hier eine große Aufgabe zu, das Erbe der Verbundenheit weiterzu- tragen. Ich möchte hier die Chance nutzen, einer breite- ren Öffentlichkeit und besonders der jungen Generation wichtige Veranstaltungsreihen vorzustellen. Im Rahmen der SchulKinoWochen, einem Sonderpro- gramm mit japanischen Filmen an deutschen Schulen, das jährlich stattfindet, wird das Kino zum Klassenzim- mer. Bundesweit wird Schulen ein vielfältiges Programm aus Filmen, zu denen Begleitmaterial vorliegt, und Son- derveranstaltungen angeboten. In diesem Jahr soll ein Sonderprogramm im Rahmen der SchulKinoWochen mit japanischen Filmen Schulklassen über das Verständnis der besonderen Dimension der deutsch-japanischen Freundschaft hinaus ein grundsätzliches Interesse an ja- panischer Filmkultur vermitteln. Im Rahmen unserer Hochschulpartnerschaften wer- den wir von Mai bis August 2011 die Japanwochen an allen deutschen Hochschulen durchführen. Gleichzeitig veranstalten unsere beiden Länder, koor- diniert von der deutsch-japanischen Gesellschaft, für junge und junggebliebene Menschen einen Manga-Wett- bewerb: eine Kunstform Japans des 21. Jahrhunderts und ein kultureller Beitrag dieser Nation, der Deutschlands Jugend inspiriert. Ein zentraler Bestandteil unserer Freundschaft ist auch der jahrhundertelange vertrauensvolle wirtschaftliche Aus- tausch zwischen unseren Ländern. Meine Heimatstadt Hamburg ist zum Beispiel ein besonders wichtiger Stand- ort für die japanische Wirtschaft in Deutschland. Rund 100 Unternehmen, darunter 25 Europa- und 35 Deutsch- landzentralen, sind in Hamburg beheimatet. Diese ge- ballte deutsch-japanische Wirtschaftskraft gibt es kaum woanders auf der Welt. 6 000 Mitarbeiter sind in den Un- ternehmen beschäftigt. Spannend ist, dass Hamburg un- seren heutigen Feierlichkeiten bereits seiner Zeit voraus war. Bereits 1859, und damit zwei Jahre vor dem Ab- schluss des japanisch-preußischen Freundschafts- und Handelsvertrages, wurde in Nagasaki das spätere Ham- burger Handelshaus C. Illies & Co. gegründet. Seitdem haben sich die Beziehungen zwischen Hamburg und Ja- pan prächtig entwickelt. Im Besonderen möchte ich auch die Städtepartnerschaft Hamburgs mit Osaka sowie die Hafenpartnerschaft zwischen Hamburg und Yokohama betonen. Seit 1989 und 1992 verbindet die Städte eine nachhaltige Freundschaft. Natürlich stehen wir auch auf der politischen Ebene vor neuen weltpolitischen Herausforderungen. Deutsch- land und Japan sind jedoch aus meiner Sicht gut dabei, diese Herausforderungen aktiv und gemeinsam anzuneh- men. Der fraktionsübergreifende Antrag nimmt diese Herausforderungen in all ihren Facetten auf. Ich möchte aber die Chance nutzen, drei wichtige As- pekte des künftigen gemeinsamen politischen Weges un- serer beiden Länder für die CDU/CSU-Fraktion heraus- zustellen: Die Wahrung der Schöpfung, also Umwelt- und Ressourcenschutz, die Entwicklung einer gemeinsamen Entwicklungspolitik sowie die Weiterentwicklung einer weltweiten belastbaren Sicherheitsarchitektur müssen die Stützpfeiler unserer gemeinsamen Interessen sein. Deutsch- land und Japan sind gerade in diesen drei Sektoren der Politik innovativ, Weltmarktführer der Ideen und erhöhen durch eine enge Abstimmung die Durchlagkraft in den je- weiligen internationalen Gremien wie den G 20, den Ver- einten Nationen oder den jeweiligen UN-Umweltfolge- konferenzen. Zum Abschluss meiner Rede möchte ich dem Bot- schafter Japans für seine Bemühungen danken, das Jahr der gemeinsamen Feierlichkeiten so hervorragend entwi- ckelt zu haben. Besonders hat mich gleich der Beginn fas- ziniert. Zur offiziellen Eröffnung durfte ich letzte Woche im Haus der Kulturen der Welt meiner ersten Nō-Theater- aufführung beiwohnen. Ein beeindruckender Einblick in die fremde Kultur Japans, der mich gefangen hat. Ge- nauso gefangen hat wie die bezaubernde Musik zahlrei- cher deutscher Komponisten, die es bis heute in die Her- zen der Menschen in Japan geschafft hat. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Im Deutschen Bundestag befassen wir uns ausführlich mit nahezu je- dem Krisenherd dieser Erde. Umso wichtiger ist es, auch den guten Beziehungen zu unseren wichtigsten Partnern ausreichend Zeit zu widmen. 150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Japan bieten Gelegenheit, auf unsere gemeinsame Geschichte zurück- 9862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) zuschauen und die Perspektiven unserer Partnerschaft zu beleuchten. Nach ersten, bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Kontakten von Wissenschaftlern wurden mit dem Han- dels-, Schifffahrts- und Freundschaftsvertrag, den das damalige Preußen mit Japan fast auf den Tag genau vor 150 Jahren – am 24. Januar 1861 – schloss, offizielle Be- ziehungen aufgenommen. Nur zehn Jahre nach der Ver- tragsunterzeichnung kam es in beiden Ländern zur Grün- dung des Nationalstaats. Diese historische Koinzidenz kann als ein Symbol für vielfach parallele Entwicklun- gen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft be- trachtet werden. Zu unserer gemeinsamen Geschichte im 20. Jahrhun- dert zählt die unheilvolle Allianz im Zweiten Weltkrieg. Dass nach dieser politischen und moralischen Katastro- phe die Errichtung stabiler freiheitlicher Demokratien und marktwirtschaftlicher Ordnungen gelungen ist, stellt zweifellos die glücklichste Wendung in der wechselvol- len Geschichte unserer Länder dar. Nach Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehun- gen im Jahr 1955 haben sich die Bundesrepublik Deutschland und Japan zu einer tragfähigen Wertege- meinschaft entwickelt, die sich durch ein hohes Maß an Übereinstimmung in den drängendsten außen- wie in- nenpolitischen Fragen unserer Zeit auszeichnet. Darin liegt ein gewaltiges Potenzial für den Ausbau unserer Beziehungen. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass unser Blick nach Asien nicht allein auf China beschränkt bleibt. Zwar erschiene diese Versuchung angesichts des dortigen immensen Wachstumstempos verständlich. Un- sere Möglichkeiten reichen jedoch weiter. Die deutsche Außenpolitik steht deshalb vor der Aufgabe, konstruk- tive Beziehungen zu China zu pflegen und zugleich die enge Partnerschaft mit Japan zu intensivieren. Deutschland und Japan verbindet eine Fülle gemein- samer Interessen. Insbesondere die bilateralen Wirt- schaftsbeziehungen bieten vielfältige Möglichkeiten für eine stärkere Zusammenarbeit. So war der deutsche Handel mit Japan von der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise besonders stark betroffen: 2009 gingen die Exporte um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu- rück, die Importe um 25 Prozent. Wenngleich es 2010 wieder aufwärtsging, besteht hier nach wie vor Aufhol- bedarf, den es zum beiderseitigen Vorteil zu nutzen gilt. Die Voraussetzungen dafür sind gut: Deutschland wie Japan sind gewachsene Industriestaaten, die für freien Handel und gegen protektionistische Tendenzen eintre- ten. Große Chancen bieten sich namentlich in Zukunfts- branchen wie der Umwelttechnik oder der Medizintechnik. Der Abschluss eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und Japan könnte wichtige Impulse geben. Es ist zu wünschen, dass der im Frühjahr 2011 anstehende EU-Japan-Gipfel einen Fahrplan dafür festlegt. Japan ist ein wertvoller Partner in der internationalen Sicherheitspolitik und im Dialog mit der NATO eng in die transatlantische Sicherheitsarchitektur eingebunden. Bei der internationalen Friedenssicherung leistet Japan aktive Beiträge, was im Hinblick auf seine außenpoliti- sche Ausrichtung, die auf reine Selbstverteidigung be- schränkt ist, hoch anzurechnen ist. So beteiligt sich Ja- pan an der UN-Mission auf den Golan-Höhen und an der UN-geführten Mission im Sudan. Deutschland und Ja- pan beteiligen sich an der Stabilisierung und am Wieder- aufbau Afghanistans – Deutschland im Rahmen von ISAF und der zivilen Hilfe, Japan als einer der wichtigs- ten Geldgeber bei der Polizeiausbildung. Vom Beitrag Japans auf dem Gebiet der Friedenssicherung zeugen des Weiteren die gemeinsamen Anstrengungen beim Kampf gegen Piraterie sowie Überlegungen zur Beteiligung Ja- pans an EU-Missionen. Deutschland und Japan gehören zu den Stützen der in- ternationalen Gemeinschaft gegen die Verbreitung von Atomwaffen. Dabei kommt Japan angesichts seiner Ge- schichte auf diesem Gebiet große moralische Autorität zu. Japan unterstützt den Kurs der E3+3 bei den Ver- handlungen über das iranische Atomprogramm. Trotz ei- gener wirtschaftlicher Interessen im Iran hat Japan ein umfangreiches, über geltende UN-Resolutionen hinaus- gehendes Sanktionspaket gegen den Iran verkündet. Im Hinblick auf Nordkorea, von dessen Atomprogramm Ja- pan unmittelbar betroffen ist, beteiligt sich Japan als Mitglied der „Sechsergruppe“ an den internationalen Verhandlungen. Deutschland wie Japan fordern Nordko- rea mit Nachdruck zum Verzicht auf Atomwaffen auf. Beide Länder sind entschiedene Unterstützer der Ver- einten Nationen, die einen wesentlichen Eckpfeiler ihrer Außenpolitik darstellen. Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass nach den USA Japan zweitgrößter und Deutschland drittgrößter Beitragszahler der Verein- ten Nationen sind. Gemeinsam müssen wir uns weiterhin für eine Reform des UN-Sicherheitsrats einsetzen, der in seiner jetzigen Zusammensetzung die Nachkriegsord- nung widerspiegelt. Deutschland und Japan sind bereit, globale Mitverantwortung durch eine prominentere Rolle in den Vereinten Nationen zu übernehmen und da- ran mitzuwirken, die Relevanz der Vereinten Nationen unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu bewah- ren. Deutschland und Japan stehen vor ganz ähnlichen He- rausforderungen und müssen auf Zukunftsfragen, die über die Entwicklung und den Wohlstand beider Länder entscheiden werden, gemeinsame Antworten finden. Es liegt im beiderseitigen Interesse, darüber in einen engen Dialog zu treten und voneinander zu lernen. Als etablierte Industriestaaten müssen Deutschland und Japan ihrer Verantwortung für künftige Generationen gerecht werden und wirtschaftliches Wachstum mit um- weltverträglichem und nachhaltigem Wirtschaften in Einklang bringen. Beide Länder haben gezeigt, dass sie bereit sind, eine Führungsrolle in der Klimapolitik zu übernehmen. Deutschland war treibende Kraft bei der Formulierung der Klimaschutzziele der Europäischen Union. Auch Japan hat sich zu konkreten Reduktionszie- len bekannt, die ähnlich ambitioniert sind wie die euro- päischen. Für seine engagierte Rolle bei den internationa- len Klimaverhandlungen unter dem Dach der Vereinten Nationen, zuletzt in Cancún, verdient Japan unsere aus- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9863 (A) (C) (D)(B) drückliche Anerkennung. Dort war es ein maßgeblicher Verhandlungserfolg Japans, dass die bislang strikte Tren- nung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beim Klimaschutz gelockert werden konnte und nun auch letz- tere angehalten sind, einen wirksamen Beitrag zum Kampf gegen die Erderwärmung zu leisten. Auch die demografische Entwicklung stellt Deutsch- land und Japan vor große Herausforderungen. In beiden Ländern nimmt das Durchschnittsalter der Gesellschaft auf absehbare Zeit zu: Eine geringere Zahl von Jüngeren steht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung. Mehr ältere Menschen erhalten länger als bisher staatliche Unterstüt- zung. Die Folgen dieser Entwicklung für die wirtschaft- liche Dynamik und die sozialen Sicherungssysteme sind bekannt. Sowohl für Japan als auch für Deutschland wird deren Bewältigung zu einer der zentralen Fragen in diesem Jahrhundert werden. Der Umstand, dass es eine Pflegeversicherung neben Luxemburg nur in Deutsch- land und Japan gibt, macht deutlich, dass wir diese He- rausforderung gemeinsam angehen können. Gemein- same Lösungsansätze können zum Modell dafür werden, wie Staaten in der ganzen Welt mit gesellschaftlichen Alterungsprozessen und einem Bevölkerungsrückgang umgehen sollten. Die gemeinsamen Interessen und die gemeinsamen Herausforderungen zeigen vor allem eines: Deutschland und Japan sind natürliche Partner im 21. Jahrhundert. Unsere Partnerschaft in Verantwortung birgt enormes Potenzial, von dem nicht nur beide Seiten profitieren können, sondern das Chancen auf eine Bewältigung der globalen Zukunftsfragen eröffnet. Die Feierlichkeiten zum 150. Jubiläum diplomatischer Beziehungen sind daher ein geeigneter Anlass, den Aus- tausch zwischen unseren Ländern zu vertiefen. Neben den intensiven Kontakten auf Regierungsebene und dem Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren ist dabei auch die parlamentarische Zusammenarbeit von Bedeutung, die die Fachausschüsse und die Mitglieder der deutsch-japanischen Parlamentariergruppe leisten. Es liegt auch an uns, die Verantwortungspartnerschaft zwi- schen Deutschland und Japan weiter mit Leben zu füllen. Dr. Rolf Mützenich (SPD): In diesem Jahr begehen wir ein Jubiläum. Die deutsch-japanischen diplomati- schen Beziehungen jähren sich zum 150. Mal. Dieses Er- eignis wollen wir in diesem Jahr durch eine Vielzahl von politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Veran- staltungen in Japan und Deutschland feiern und begehen. In der deutsch-japanischen Parlamentariergruppe haben wir in den vergangenen Wochen den Ihnen heute zur Ab- stimmung vorliegenden Antrag erarbeitet. Dafür möchte ich mich bei allen Fraktionen bedanken. Das bilaterale Verhältnis Deutschlands zu Japan ist tra- ditionell vertrauensvoll und freundschaftlich. Die ge- meinsame Verpflichtung, zur Lösung globaler Herausfor- derungen und zur Sicherung von Frieden und Stabilität in regionalen Krisenherden beizutragen, lässt Deutschland und Japan zu natürlichen Partnern für das 21. Jahrhundert werden. Dieser Verantwortung können Deutschland und Japan gerecht werden, wenn sie ausgehend vom soliden Fundament der deutsch-japanischen Partnerschaft und gegründet auf einer breiten, vertrauensvollen Zusammen- arbeit insbesondere auf den Gebieten der Wissenschaft, der Kultur und des wirtschaftlichen Austauschs neue Ini- tiativen entwickeln. Gemeinsam verfolgen Deutschland und Japan ihre In- teressen bei zentralen Zukunftsthemen wie Global Go- vernance, der Reform des UN-Sicherheitsrates sowie Abrüstung und Nichtverbreitung. Helmut Schmidt hat in seiner Rede vor dem Japanisch-Deutschen Zentrum in Berlin im Oktober 2010 dazu bemerkt: Wegen unserer beiderseitigen Beteiligung am Nicht- verbreitungsvertrag für atomare Waffen und wegen unseres beiderseitigen Verzichts sind wir beide … legitimiert zu Initiativen auf dem Feld der atomaren Rüstungsbegrenzung und der atomaren Abrüstung. Die enge Abstimmung über gemeinsame Positionen beim Klimaschutz und weitere gemeinsame Schritte zur Friedenssicherung wie zum Beispiel in Afghanistan und Zentralasien vertiefen die vertrauensvolle Zusammenar- beit und leisten einen Beitrag zur Gestaltung des Globa- lisierungsprozesses. In besonderem Maß gilt dies auch im Hinblick auf eine intensivere Kooperation im Rah- men der gemeinsamen Entwicklungszusammenarbeit so- wie zukünftigen trilateralen Entwicklungspartnerschaf- ten. Gemeinsame Anstrengungen beim Anti-Piraterie- Einsatz und Überlegungen zur japanischen Beteiligung an GSVP-Missionen weisen auf das Zukunftspotenzial der deutsch-japanischen Verantwortungspartnerschaft. Deutschland und Japan verfügen beide über wettbe- werbsfähige, exportorientierte Volkswirtschaften. Freier Welthandel, weiterer Abbau von Handelshemmnissen und freie Wechselkurse liegen in unserem gemeinsamen Interesse, nicht zuletzt auch, um noch besser aus dem Potenzial der europäisch-japanischen Wirtschaftsbezie- hungen schöpfen zu können. Im G-8-/G-20-Kontext sind beide Länder verantwortlich für die nachhaltige Auf- rechterhaltung dieses Systems und tragen durch Um- weltschutz und Unterstützung weniger entwickelter Län- der dazu bei. Zugleich müssen sich beide Länder den Herausforderungen stellen, ihr Wirtschaftssystem nach- haltiger zu gestalten. Ähnlich gelagerte strukturelle He- rausforderungen wie Rohstoffarmut und demografische Entwicklung zwingen uns, hierauf nicht nur politische und wirtschaftliche, sondern auch wissenschaftliche Antworten zu suchen. Der wissenschaftliche Austausch spielt demzufolge eine wichtige Rolle in den bilateralen Beziehungen. Dies gilt vor allem für die deutschen und japanischen Univer- sitäten. Der kulturelle Austausch ist intensiv und vielsei- tig. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre kam es zu ei- nem rasanten Wachstum des bilateralen Handels wie auch zu einer Wiederaufnahme des kulturellen und wissen- schaftlichen Austauschs. 1969 wurde das Japanische Kul- turinstitut in Köln gegründet, 1974 das Rahmenabkom- men zum Wissenschaftsaustausch zwischen Japan und Deutschland unterzeichnet. 1985 wurde das Japanisch- Deutsche Zentrum Berlin, JDZB, und 1988 das Deutsche Institut für Japanstudien, DIJ, in Tokyo gegründet. Die 9864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) Zahl der japanologischen Lehrstühle verdoppelte sich während der 1980er-Jahre fast. Überzeugt, dass der jungen Generation bei der Gestal- tung des Verhältnisses beider Länder und der Vertrauens- bildung zwischen ihnen eine herausgehobene Bedeutung zukommt, und in dem Wissen, dass die junge Generation die solide Partnerschaft zu einer lebendigen Beziehung macht, regt der Deutsche Bundestag die Schaffung eines Koordinators für den Jugendaustausch an. Dieser soll für eine stärkere Wahrnehmung bereits bestehender Aus- tauschprogramme unter der Jugend beider Länder wer- ben und das Interesse am Erlernen der jeweiligen Spra- che wachhalten und fördern. Zur Förderung der bilateralen Beziehungen und im Hinblick auf die internationale parlamentarische Zusam- menarbeit strebt der Deutsche Bundestag eine Auswei- tung der Kontakte und des Erfahrungsaustausches mit dem japanischen Parlament an. Diesem Ziel soll durch die Vergabe von Stipendien im Jubiläumsjahr 2011 be- sondere Sichtbarkeit verliehen werden. Zudem wird eine Delegation der deutsch-japanischen Parlamentarier- gruppe Ende März nach Japan reisen und eine Delega- tion des Auswärtigen Ausschusses plant ebenfalls eine Reise in der ersten Hälfte dieses Jahres. Als Fazit lässt sich festhalten: Gemeinsame Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und freiheitliche Demokratie, aber auch marktwirtschaftliche Ordnung sind ein starkes Bindeglied. Zu Beginn des 21. Jahrhun- derts sind die japanisch-deutschen Beziehungen unkom- plizierter denn je. Durch eine Vielzahl gemeinsamer In- teressen und gemeinsamer Verpflichtung zu globaler Verantwortung sind Japan und Deutschland natürliche Partner und Freunde für das neue Jahrhundert. 150 Jahre deutsch-japanischer Beziehungen sind eine bemerkens- werte Erfolgsgeschichte, die beide Partner fortschreiben wollen und werden. Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Wer heutzutage in der schönen Stadt Düsseldorf unterwegs ist, versteht rasch, warum die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt manchmal auch liebevoll „Klein-Tokio am Rhein“ ge- nannt wird. Japanische Geschäftsleute, Japanerinnen und Japaner beim Einkaufen beleben das Bild der Stadt. An den Wochenenden sieht man viele junge japanische Fa- milien mit kleinen Kindern. Tatsächlich wohnen nirgendwo in Deutschland so viele Japaner wie in Düsseldorf und Umgebung. Die dortige japanische Gemeinde ist – nach London und Pa- ris – die drittgrößte Europas. Das ist schön, und auf diese kulturelle Bereicherung sind wir sehr stolz. Heute blicken wir auf 150 Jahre diplomatische Bezie- hungen zwischen Japan und Deutschland zurück. Den 24. Januar 1861 feiern wir als Ausgangspunkt der offi- ziellen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Dieses Datum gibt uns den Anlass, die gemeinsame Ent- wicklung Revue passieren zu lassen. Aus diesem Grunde bringen wir heute hier im Deut- schen Bundestag einen gemeinsamen Antrag aller demo- kratischen Fraktionen ein. Japan und Deutschland sind für die Herausforderun- gen des 21. Jahrhunderts nahezu natürliche Partner. Wir haben eine gemeinsame Verpflichtung. Davon konnte ich mich auch bei meinem Besuch vergangene Woche bei seiner Exzellenz Botschafter Shinyo überzeugen. Gemeinsam müssen wir beitragen zur Lösung globa- ler Herausforderungen und zur Sicherung von Frieden und Stabilität in regionalen Krisenherden. Dieser Verant- wortung können und wollen wir gerecht werden. Daher machen wir uns Gedanken über neue Initiati- ven, entwickelt auf dem soliden Fundament unserer Partnerschaft, gegründet auf einer breiten vertrauensvol- len Zusammenarbeit. Besonders am Herzen liegt mir die gemeinsame Ver- folgung von Interessen in den zentralen außen- und si- cherheitspolitischen Zukunftsthemen. Nur beispielhaft möchte ich hier ansprechen: die weltweite Abrüstung, den Klimaschutz, die Friedenssicherung wie in Afgha- nistan oder Zentralasien, die gemeinsame Entwicklungs- zusammenarbeit, eine Reform des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Denn im Interesse aller Mitglieder der Vereinten Nationen sollte die Zusammensetzung des Sicherheitsrats an die geänderte Weltpolitik angepasst werden. Die Zusammensetzung des Gremiums muss die Bedeutung der einzelnen Mitgliedsländer angemessen widerspiegeln. Nur so können die Handlungsfähigkeit und die Legitimation des Sicherheitsrates langfristig ge- währleistet werden. Es gibt keine Rechtfertigung mehr dafür, dass Länder wie Japan und Deutschland, aber auch Brasilien und Indien keinen ständigen Sitz in dem Gremium haben. Bei all diesen Themen sehen wir großes Zukunfts- potenzial der deutsch-japanischen Verantwortungspart- nerschaft. Denn heute sind die japanisch-deutschen Be- ziehungen frei von Problemen und traditionell zutiefst freundschaftlich und vertrauensvoll. In unseren beiden Ländern gibt es großes Interesse an der Kultur des ande- ren Landes. Gemeinsame Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, freiheitliche Demokratie und markt- wirtschaftliche Ordnung verbinden uns. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen sind rege. Das Handelsvolumen wuchs vor allem seit den 60er-Jah- ren des letzten Jahrhunderts. Die Zahl der gegenseitigen Besuche stieg stark an, nicht zuletzt, weil 1961 erstmalig Direktflugverbindungen eingerichtet wurden. Mit den 80er-Jahren wurden dann wissenschaftliche und kultu- relle Austauschprogramme intensiver gefördert und neue Institutionen mit diesem Ziel gegründet. In der heutigen Zeit ist es unsere Aufgabe, die guten bilateralen Beziehungen weiter zu vertiefen. Dazu regen wir an, auch die internationale parlamentarische Zusam- menarbeit durch die Ausweitung der Kontakte mit dem japanischen Parlament weiter voranzuführen. In dem Wissen, dass die junge Generation die Part- nerschaft lebendig fortführen muss, regt der Deutsche Bundestag an, einen Koordinator für den Jugendaus- tausch zu schaffen. Es ist eine besonders wertvolle Auf- gabe, unter der Jugend beider Länder das gegenseitige Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9865 (A) (C) (D)(B) kulturelle Interesse wachzuhalten und das Erlernen der jeweiligen Sprache zu fördern. So sind wir uns in diesem Hause alle einig, dass es gut ist, dieses Jubiläum unserer diplomatischen Bezie- hungen zu feiern. 150 Jahre deutsch-japanische Bezie- hungen sind eine echte Erfolgsgeschichte. Beide Partner wollen und werden sie fortschreiben. Für die FDP-Fraktion begrüße ich es, dass es zu die- sem Anlass in ganz Deutschland zahlreiche Veranstal- tungen, Konzerte, Ausstellungen und Vorträge geben wird – von der öffentlichen Hand und auch vielen priva- ten Vereinen organisiert. Einige davon werde ich in mei- nem Wahlkreis und der unmittelbaren Umgebung Düs- seldorfs mit großer Freude besuchen. Gerade die Japan-Woche und den traditionellen Ja- pan-Tag in Düsseldorf kann ich Ihnen als Höhepunkt der Feierlichkeiten in NRW nur ans Herz legen. Stefan Liebich (DIE LINKE): Die Beziehungen zwi- schen Deutschland und Japan sind wichtig, haben eine lange Geschichte, und sie bleiben für die Zukunft be- deutsam. Gut, dass wir uns die Zeit nehmen, darüber zu sprechen. Der von Ihnen vorgelegte Antrag ist aus unse- rer Sicht zwar nicht zustimmungsfähig, aber so schlimm, dass wir ihn ablehnen, ist er auch nicht. Die Gründe da- für werde ich Ihnen kurz darstellen. Formal verweise ich nur kurz darauf, dass es langsam lächerlich ist, dass Sie hier im Hause selbst zu solch ge- nerellen Fragen weiter so kleinlich vorgehen und uns als einzige Fraktion nicht in breit fraktionsübergreifend an- gelegte Anträge einbeziehen. Eine zweite Vorbemerkung: Es ist leider symptoma- tisch, dass bei Ihren historischen Betrachtungen für die Zeit der deutschen Teilung nur der westdeutsche Blick zählt. Aber, Sie werden staunen, auch zwischen der DDR und Japan gab es gute bilaterale Beziehungen, vor allem im kulturellen Bereich. Das war durchaus ein Mo- dell für friedliche Koexistenz und damit auch eine wert- volle Erfahrung für heutige Beziehungen zwischen Staa- ten mit sehr unterschiedlichen Wertesystemen. Für uns sind internationale Beziehungen, der Aus- tausch zwischen Regierungen, Parlamenten, Unterneh- mern, Vereinen – also zwischen Menschen – wichtige Beiträge für gegenseitiges Verständnis, friedliches Mit- einander, Kooperation zum gegenseitigen Nutzen und zum gemeinsamen Herangehen an globale Probleme. Das ist die eigentliche Außenpolitik. Gut, dass wir heute einmal darüber reden und einen guten Anlass dafür ha- ben. Das ist doch besser als Mandatsverlängerungen bei der Bundeswehr. Die Tradition der Beziehungen zwischen den wichti- gen Industrienationen Deutschland und Japan ist lang. Das Thema ist gleichwohl aktuell. Wir teilen viele in ih- rem Antrag benannte Anliegen. Wir unterstützen hier die Stichworte Klima, Abrüstung, aber auch Kulturnetz- werke und Jugendaustausch. Ihr Antrag enthält jedoch trotz einiger Verbesserun- gen im Vergleich zur Entwurfsfassung immer noch zu hinterfragende Aussagen. Das Lob der Marktwirtschaft und des freien Welthandels wird leider gerade nicht durch die Adjektive sozial oder fair ergänzt. Helmut Schmidt hat kürzlich in seinem beachtens- werten Vortrag zum 25-jährigen Jubiläum des Deutsch- Japanischen Zentrums hier in Berlin darauf verwiesen, dass nicht alle Staaten über die Exportorientierung der beiden Staaten begeistert sind. Recht hat er. Sie verweisen auf die Zusammenarbeit bei der Re- form des Sicherheitsrates der UNO und meinen sicher das Drängen beider Regierungen nach einem ständigen Sitz. Hier schließe ich mich auch Helmut Schmidt an, der mit etwas mehr Realitätssinn genau das als voreilig, wenn nicht unnötig bezeichnete. Stichwort Friedenspolitik: Sie vergessen, dass Deutsch- land mit seiner Politik der militärischen Zurückhaltung lange Zeit ebenso gut gefahren ist wie Japan mit seiner Friedensverpflichtung ohne Einsatzarmee in seiner Ver- fassung. Beides wurde und wird leider zunehmend aufge- ben. Stattdessen benennen Sie Beispiele militärischer Zu- sammenarbeit. Das ist nicht unsere Prioritätensetzung. Schließlich: Es ist insgesamt schon sehr verwunder- lich, die 150 Jahre deutsch-japanischer Beziehungen am Schluss des Antrags umstandslos als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Immerhin gehört zu diesen Jahren auch der Zweite Weltkrieg mit Millionen Opfern. Sie weisen darauf selbst hin, wenn auch kurz und konsequenzlos. In der Wahrnehmung der Nachbarn Japans und Deutsch- lands bleibt dieses dunkle Kapitel weiterhin höchst aktuell. Abschließend: Deutschland und Japan sollten ihre Partnerschaft nutzen, um als regionale Akteure und als UNO-Mitglieder mit relevantem und zugleich begrenz- tem Einfluss für Stabilität und Frieden zu sorgen. In die- ser Frage sind wir uns dann ja vielleicht einig. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): 150 Jahre sind ein bedeutender Zeitraum, auch wenn ich anmerken möchte, dass die darin implizierte Rechtsvorgängerschaft Preußens für das Deutsche Reich durchaus diskussionswürdig ist. Deutschland und Japan haben im Laufe der letzten 150 Jahre viel voneinander gelernt. Die erste japanische Verfassung war von deut- schem Recht inspiriert, die deutsche Wirtschaft hat viel von der japanischen Fertigungstechnologie gelernt. Ja- panische Kunst und Kultur hat eine faszinierende Attrak- tivität, auch und gerade in den vergangenen zwei Jahr- zehnten. Ein Rückblick auf die lange Partnerschaft Deutsch- lands und Japans darf allerdings von den düsteren Kapi- teln der gemeinsamen Geschichte nicht schweigen. Sie sind Mahnung an eine bessere Zukunft. Beide Länder brachten im letzten Jahrhundert unermessliches Leid über Millionen Menschen. Beide führten schreckliche Aggressions- und Eroberungskriege mit verheerenden Folgen. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung: die Verantwortung, gerade in der Zeit, wo die Zeitzeugen dieser schrecklichen Taten verstummen, die Erinnerung wach zu halten, und die Verantwortung, Aussöhnung 9866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) und Verständigung mit denen zu suchen, die von den schrecklichen Taten unserer Länder betroffen waren. Auch unter Freunden gibt es Fragen, über die keine Einigkeit herrscht. Erlauben Sie mir, deshalb zwei Punkte anzusprechen: vor allem die Tatsache, dass in Ja- pan die Todesstrafe noch immer vollstreckt wird, aber auch den Walfang, den Japan noch immer betreibt. Ich würde mir hier dringend wünschen, dass unsere japani- schen Partner ihre Politik ändern. Deutschland und Japan stehen heute vor großen ge- meinsamen Herausforderungen. Die vielleicht größte ist, in den nächsten Jahrzehnten die ökologische Transfor- mation unserer Wirtschaftssysteme zu bewältigen. Wir sollten diese Herausforderungen gemeinsam bewältigen und so unsere Partnerschaft festigen und weiter aus- bauen. Es ist der japanische Ort Kioto, der bis heute für die Hoffnung steht, dass der menschengemachte Klima- wandel auch begrenzt werden kann. Nehmen wir daher das Beispiel der Ressourceneffi- zienz: Deutschland könnte und sollte sich da ein Beispiel an der japanischen Ressourcenpolitik nehmen. Japan be- treibt eine sehr ambitionierte, sozusagen grüne Industrie- politik. Mit dem Top-Runner-Programm hat Japan ein wegweisendes Instrument zur Förderung der Energie- effizienz entwickelt. Hier gemeinsam eine Vorreiterrolle einzunehmen, das wäre ein konkretes Vorhaben für die nächste Etappe unserer Partnerschaft. Heute geht es international um nicht weniger als die gemeinsame Arbeit an den Menschheitsherausforderun- gen Abrüstung, Klimawandel und die Gestaltung eines effektiven Multilateralismus. Japan und Deutschland können hier gemeinsam vieles bewegen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Die Agrarwissen- schaften in Deutschland auf höhere Anforde- rungen ausrichten (Tagesordnungspunkt 14) Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Die Bedeutung der Agrarwissenschaft wächst stetig. Sie nimmt heute eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der drei zentralen globalen Herausforderungen ein: Erstens. Ernährungssicherung der Weltbevölkerung. Zweitens. Energiesicherung – und stoffliche Nutzung –: als Ersatz der erdölbasierten Versorgung hin zu einer pflanzlich basierten Deckung des globalen Energiebe- darfs an Kohlenwasserstoff-Verbindungen. Drittens. Ökologie, Klimaschutz und Biodiversität: Reduktion klimarelevanter Emissionen der Landwirt- schaft. Die erste grüne Revolution im 19. Jahrhundert – ich nenne die Namen Justus von Liebig, Gregor Mendel und Albrecht Thaer – hat es durch die Entwicklung der Grundlagen der Mineraldüngung, die Verbesserung der Agrartechnik und den Züchtungsfortschritt geschafft, die pessimistischen Prognosen vom Wechsel zwischen Hun- ger und Überbevölkerung der Ökonomen Malthus und Ricardo zu widerlegen. Die Systematisierung und Tech- nisierung der Landwirtschaft sind eine Erfolgsge- schichte. Die heutigen Aufgaben sind nichts weiter als deren Fortführung für die Sicherung der Zukunft. Im Hinblick auf die genannten Herausforderungen ist die Pflanze – und ihr Bedarf an Standraum – der zentrale Organismus: als Ernährungs-, Futter- und Energieträger. In allen drei Bereichen muss die Agrarforschung wichtige Schwerpunkte setzen: Erstens. Optimierung der Pflanzenernährung: Durch die Erfindung des Stickstoffdüngers in der Mitte des letzten Jahrhunderts sind massive Produktivitätssteige- rungen in der Landwirtschaft möglich geworden. Man spricht auch von der zweiten grünen Revolution. Zweitens. Reduzierung von Schäden im Wachstum der Pflanzen durch biotische und abiotische Faktoren – Schädlinge, Trockenheit, Versalzung, Wassermangel. 40 bis 45 Prozent des weltweiten Ertrags der Landwirte geht durch Schädlinge und Pflanzenkrankheiten verlo- ren. Insbesondere in den Entwicklungsländern sind die Ernteverluste hoch. Es fehlt an Know-how und Infra- struktur in allen wichtigen Bereichen: bei der Erzeu- gung, dem Transport, der Lagerung und der Verarbei- tung. Der Mangel an Agrarforschungssystemen und damit auch fachlicher Qualifikation verschärft diese Pro- bleme noch bzw. verhindert deren Minderung oder gar Lösung. Viele Entwicklungsländer liegen in Klimazo- nen, die vom Klimawandel besonders stark betroffen sein werden. Eine Anpassung des Ackerbaus an den Kli- mawandel ist unter den heutigen Bedingungen in diesen Ländern nahezu ausgeschlossen. Agrarforschung vor Ort muss regionalspezifische Lösungsansätze erarbeiten. Drittens. Genetische Leistungsfähigkeit der Pflanzen ist die Grundlage für wichtige Eigenschaften wie Ertrag, Qualität, Nährstoffzusammensetzung, Energiedichte etc. Die Nutzung der Pflanze als Energieträger bekommt zu- nehmend Bedeutung als Ersatz für die endlichen fossilen Energieträger. Ihre positive CO2-Bilanz ist ein bedeuten- der Aspekt im Hinblick auf den Klimaschutz. Die Bun- desregierung setzt mit ihrem Energiekonzept auf eine Zukunft mit regenerativen Energien. Bis 2050 soll über die Hälfte der Energieversorgung in Deutschland aus re- generativen Energien gewonnen werden. Das wird nur mit einem hohen Anteil an Bioenergie zu schaffen sein. Die Potenziale der Pflanzen müssen wir hierfür noch stärker nutzen. Dafür müssen aber deutschlandweit alle beteiligten Einrichtungen – ob universitär oder außeruni- versitär – zusammenarbeiten. Aber Pflanzen brauchen Anbaufläche und Standraum. Die verfügbare Anbaufläche auf der Erde ist jedoch be- grenzt. Lediglich 11 Prozent der Erdoberfläche ist als Boden nutzbar. Seriöse wissenschaftliche Prognosen ge- hen davon aus, dass sich die Fläche pro Erdenbürger bis 2050 halbieren wird. FAO: 9 bis 10,5 Milliarden Men- schen in 2050, Absenkung von 0,4 Hektar auf 0,2 Hektar Fläche pro Mensch. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9867 (A) (C) (D)(B) Das heißt: Die Art und die Form der Landnutzung werden entscheidend sein. Die zentrale Frage wird sein: Wie schaffen wir es, die Effizienz auf der Fläche zu stei- gern und dabei die Nachhaltigkeitskriterien einzuhalten. Diese Kriterien müssen wissenschaftlich definiert und belegt werden. Die wesentlichen Zielsetzungen hinsichtlich der Res- sourcenschonung sind unter anderem: Erhalt der Bio- diversität, Senkung des Wasserverbrauchs, Luftreinhal- tung, Bodenschutz – Humusbilanz, Erosionsschutz, Bodenfruchtbarkeit –, Energieeffizienz. Aufgrund der zunehmend limitierenden Faktoren stellt sich die Frage: Wie viele Ressourcen verbraucht ein Produktionsverfahren? Die Agrarwissenschaft muss also dasjenige Verfahren identifizieren, welches unter den vorgenannten Bedingungen die größte Effizienz bzw. Produktivität aufweist. Es werden wohl die Verfah- ren zum Einsatz kommen müssen, die unter den jeweili- gen regionalen Bedingungen den geringsten Bedarf an Ressourcen pro erzeugter Einheit haben. Die Agrarforschung muss diese Fragen ergebnisoffen und ideologiefrei untersuchen. Die Resultate müssen re- produzierbar sein und als Grundlage für die anstehenden politischen Entscheidungen dienen. Mit der „Nationalen Forschungsstrategie Bioökono- mie 2030“, die im November letzten Jahres auf den Weg gebracht wurde, nimmt Deutschland eine internationale Vorreiterrolle hin zu einer biobasierten Wirtschaft ein. Die Forderungen im Koalitionsvertrag, eine internatio- nal wettbewerbsfähige Strategie zu einer wissensbasier- ten Bioökonomie zu schaffen, werden damit eingelöst. Mehr als 2,4 Milliarden Euro stellt die Bundesregierung für Forschung, Entwicklung und Innovation zur Verfü- gung. Die Pflanzenforschung des BMBF und des BMELV nehmen in der Nationalen Forschungsstrategie Bioöko- nomie eine zentrale Rolle ein. Die Projekte GABI- GRAIN, FraGenomic und GABI-CELLWALL können schon auf erste Erfolge bezüglich der genetischen Kon- trolle von Merkmalen, der stofflichen Zusammenset- zung, der Standfestigkeit und der energetischen Verwen- dung von Nutzpflanzen verweisen. Ebenfalls im November 2010 wurde die DAFA ins Leben gerufen, die Deutsche Agrarforschungsallianz. Sie soll den deutschen Forschungseinrichtungen im Be- reich von Land- und Forstwirtschaft, ländlichen Räu- men, Ernährung und angrenzenden Disziplinen als un- terstützende Plattform dienen und wird es ihnen ermöglichen, ihre Vielfalt und Expertise zu bündeln und sich zu unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten auszutauschen. Zudem will die Deutsche Agrarforschungsallianz errei- chen, dass die Sichtbarkeit dieser Forschungsthemen und das Umsetzungspotenzial durch deutsche Forschungsein- richtungen gestärkt werden, um deren Berücksichtigung bei Planungen und Ausschreibungen in nationalen, euro- päischen und internationalen Forschungsprogrammen zu verbessern. Dazu soll die Deutsche Agrarforschungs- allianz auch mit den Gebern von Forschungsfördermit- teln in Deutschland und auf europäischer Ebene zusam- menarbeiten, um möglichst an der Entstehung und thematischen Ausgestaltung von Förderprogrammen be- teiligt zu werden. Sie sehen, wie viel die Regierungskoalition schon jetzt auf den Weg gebracht hat. BMELV und BMBF ste- hen in enger Kooperation. Die Arbeitsgruppe ELV der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist bestens aufgestellt. Wenn auch der Antrag der Linken brauchbare Ansätze enthält – das will ich gerne zugestehen –, neue Ansätze bringt dieser nicht. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Die gegenwärtige Ausrichtung der deutschen Agrarwissenschaften in Deutschland und die zukünftigen Herausforderungen an diesen Forschungsbereich sind Themen, die wir in die- sem Haus nicht oft genug diskutieren können. Die Agrar- wissenschaften beschäftigen sich mit den Kernthemen und den Grundlagen unseres Lebens. Als Politiker informiere ich mich deshalb genau. Ich will wissen, woran geforscht wird und welche Entwick- lungslinien die Agrarwissenschaftler sehen. Ich will wis- sen, welche Anforderungen sie an die Politik haben und wo wir gegebenenfalls korrigierend eingreifen müssen. Für die SPD ist diese Debatte auch deshalb wichtig, weil wir einen vollständig anderen Ansatz als die von Lob- byisten getriebenen schwarz-gelben Koalitionäre haben. Ich möchte das im Folgenden verdeutlichen: Erstens. Deutschland hat eine internationale Verant- wortung im Bereich der Agrarforschung. Die steigende Weltbevölkerung, die Bekämpfung des Hungers, die Flä- chen- und Ressourcenknappheit können nur gemeinsam von der Weltgemeinschaft angegangen werden. Wir ha- ben das große Thema Klimawandel auf der Agenda und benötigen Antworten in Bezug auf die zunehmende Flä- chenkonkurrenz zwischen der Nahrungsmittelerzeu- gung und der Biomasseproduktion für energetische und stoffliche Zwecke. Gleichzeitig müssen wir mehr da- rüber erfahren, wie wir die genetischen Ressourcen bes- ser schützen und erhalten können. Eine ausschließliche Fixierung auf nationale Ressourcen und Fragestellungen verkennt, dass die Welt sehr klein geworden ist. Ich sehe jedoch die Gefahr, dass wir mit der bisherigen Ausrich- tung und der Ausstattung unsere Agrarforschungsland- schaft auf die oben genannten Herausforderungen nicht ausreichend vorbereitet sind. Zweitens. Die Agrarwissenschaften sind Systemwis- senschaften, die neben den ökonomischen Faktoren im- mer auch die ökologischen und sozialen Faktoren berück- sichtigen müssen. Ich bezweifle, dass die von der Bundesregierung favorisierte Hightech-Strategie im Rah- men der Bioökonomieforschung diesem Anspruch ge- recht wird. Drittens. Ich höre immer wieder von den Exzel- lenzwettbewerben, die die deutsche Forschung voran- treiben sollen. Dieser Ansatz kann ganz sicherlich zu mehr Wettbewerb unter den Forschungseinrichtungen führen. Aber greift dieser Ansatz gerade in den Agrar- wissenschaften nicht viel zu kurz? Es kann doch nicht 9868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) darum gehen, diejenigen Lehrstühle kurzfristig mit Geld auszustatten, die die meisten Publikationen in internatio- nalen Journalen aufweisen. Das Charakteristikum agrar- wissenschaftlicher Forschung ist und bleibt die Problem- und Handlungsorientierung. Es muss darum gehen, For- schungseinrichtungen so auszustatten, dass sie beispiels- weise langfristig und praxisorientiert Anbaumethoden und -verfahren testen und erforschen können. Es kann doch nicht sein, dass wir es zulassen, dass die Bundes- länder aus finanziellen Gründen ihre Staatsgüter oder Domänen abstoßen und das in den Böden gespeicherte Wissen vergeuden. Ein Finanzierungsansatz, der kurz- fristig und unkoordiniert öffentliche Mittel in eine un- überschaubare Anzahl von Projekten pumpt und dann schnelle Ergebnisse fordert, ist für die praktischen Agrarwissenschaften der Tod. Viertens. Die nationale und internationale Agrarfor- schung sind traditionell eng mit der Entwicklungspolitik verbunden. Das sollte auch so bleiben. Welchen Stellen- wert die Politik für die Entwicklung der ländlichen Räume in den unterentwickelten Staaten für die Bundes- regierung hat, zeigen die Besetzung des zuständigen Ministeriums und die fortschreitende Militarisierung der deutschen Entwicklungspolitik, die die Mitarbeiter des Hauses bemängeln. Für mich ist das der völlig falsche Weg – ein Weg, der Deutschland viel internationale Re- putation kostet, ein Weg, der zu mehr Unsicherheiten bei unseren internationalen Partnern führen wird, ein Weg, der am Ende eben nicht den Menschen vor Ort dient, sondern der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen unserer exportorientierten Wirtschaft. Diese soll gerne unterstützt werden, aber bitte nicht mit Geldern, die für die Ärmsten der Armen gedacht sind. Ich will, dass die Forschungsergebnisse deutscher Agrarwissenschaftlerinnen und Agrarwissenschaftler ei- nen substanziellen Beitrag dazu leisten, dass sich die Menschen in den ländlichen Regionen dauerhaft selbst versorgen können. Die Ursachen für die Fehlentwicklun- gen sind mannigfaltig und variieren zudem von Land zu Land. Aber auch die Lösungsansätze sind vielfältig. Die Mehrheit der Menschen in den ländlichen Regionen wird nicht dadurch satt, dass wir den Menschen Hightechsaat- gut schicken. Sie wird dadurch satt, dass wir ihnen das Know-how an die Hand geben, das sie befähigt, die Pro- duktivität vor Ort zu erhöhen, und zwar angepasst an die lokalen und regionalen Bedürfnisse. Es wird dadurch er- reicht, dass wir in Deutschland beispielsweise unsere Tropen- und Subtropenforschung vor dem kompletten Untergang retten. Wir können aber auch gerne in Europa bleiben und werden erkennen, dass sich die Anforderungen an die Agrarwissenschaften nicht nur auf die direkte ökonomi- sche Verwertbarkeit der Ergebnisse beschränken. Die in- haltlichen Herausforderungen im Agrar- und Ernährungs- bereich haben sich gerade in Europa erheblich verändert. Aspekte der Produktqualität und -sicherheit von Lebens- mitteln sind in den Vordergrund gerückt. Wir sind damit konfrontiert, dass die Produktionsprozesse bei Nahrungs- mitteln in der Öffentlichkeit stärker hinterfragt werden. Landschaftsökologen sind gefordert, die langfristigen Folgen der gegenwärtigen landwirtschaftlichen Nutzung auf die Boden- und Wasserhaushalte zu erforschen. Poli- tikalternativen müssen wir mit Unterstützung der Agrar- ökonomen regelmäßig auf ihre potenziellen Auswirkun- gen hin überprüfen. Die tiergerechte Ausgestaltung von Tierhaltungssystemen bewegt die Konsumenten. Wir brauchen hier praxistaugliche Alternativvorschläge, wie wir die Haltungsbedingungen für unsere Nutztiere wei- terentwickeln können. Die Forschung im ökologischen Landbau muss intensiviert werden, um offene Fragen, ge- rade im Bereich der Tierhaltung, zu beantworten. An die genannten nationalen und internationalen He- rausforderungen muss die Agrarforschung strukturell an- gepasst werden. Diese Leistung hat der Bund mit dem Gesetz zur Neuordnung der Ressortforschung im Ge- schäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bereits 2007 er- bracht. Perspektivisch werden wir nicht unbedingt mehr öffentliche Gelder für diesen Bereich zur Verfügung ha- ben. Ein einfaches „Weiter-so“ mit weniger Ressourcen kann aber es nicht geben. Jetzt geht es darum, die inhalt- lichen Hausaufgaben zu machen. Und da sind auch die Länder gefordert. Ich appelliere an die Verantwortlichen im BMELV und in den Ländern, eine gemeinsame und koordinierte Forschungskonzeption für die Agrarwissenschaften zu entwickeln. In dieser Konzeption müssen sowohl die wirtschaftlichen als auch die ökologischen und die sozia- len Fragestellungen der Land-, Forst- und Ernährungs- wirtschaft berücksichtigt werden. Fürs Erste werden wir uns enthalten. René Röspel (SPD): Als Durchschnittsverbraucher vergisst man schnell, aus was unser täglich Brot, Wurst, Käse eigentlich gemacht ist. Schweine oder Ähren ken- nen die meisten Deutschen nur aus dem Fernsehen oder vom Urlaub auf dem Bauernhof. Doch seit einigen Jah- ren interessieren sich Verbraucherinnen und Verbrau- cher, leider auch aufgrund von Nahrungsmittelskanda- len, wieder vermehrt für ihr Essen. Das zeigt sich unter anderem in der stärkeren Nachfrage nach regionalen und ökologisch produzierten Nahrungsmitteln. Das merken auch die Bauern. Im Jahr 2009 stieg in Deutschland die Anzahl der ökologisch bewirtschafteten Betriebe auf über 21 000 und damit um 6,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Heutige landwirtschaftliche Betriebe produzieren aber nicht mehr nur Nahrung. Verstärkt wird auf nach- wachsende Rohstoffe zum Beispiel für die chemische In- dustrie gesetzt. Nicht verschweigen darf man bei diesem Trend aber auch, dass es mittlerweile weltweit eine Kon- kurrenz zwischen der Produktion von Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen gibt. Wenn aufgrund dessen weltweit die Preise für Grundnahrungsmittel stei- gen, dann läuft etwas in die falsche Richtung. Umso wichtiger ist deshalb die Suche nach gesunden, ressour- censparenden und nachhaltigen landwirtschaftlichen Produkten. Hierbei kann die Wissenschaft helfen und da- bei insbesondere die Agrarforschung. Auf diesem Feld beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler mit so spannenden Themen wie Gartenbau, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9869 (A) (C) (D)(B) Weinbau, Forst- und Holzwirtschaft, Fischerei, Veteri- närmedizin bzw. mit Teilen der Umwelt- und Geowis- senschaften. Bei Themen wie Verteilungsgerechtigkeit und der Bekämpfung des weltweiten Hungers sind aber auch Sozial- und Geisteswissenschaftler gefragt und un- verzichtbar. Nun zu dem Antrag: Grundsätzlich ist diese Initiative der Linken zu begrüßen. Auch einige der Analysen bzw. Forderungen der Linken sind richtig, so zum Beispiel der Ruf nach einer stärkeren Koordinierung der Agrar- forschung zwischen Bund und Ländern. Auch die Forde- rung nach mehr Interdisziplinarität, Kooperation, Parti- zipation sowie einer bedarfsgerechten finanziellen und personellen Aufstockung der wissenschaftlichen Res- sourcen für die künftige Forschungspolitik teile ich. Den Bioökonomierat sehe ich ebenfalls kritisch. Das beginnt bereits bei der Auswahl der Mitglieder, von denen mir zu viele industrienah sind, während ausgewiesene Experten auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, des Rechts oder der Ethik gänzlich fehlen. Die Empfehlungen des Rates sind dann auch dementsprechend. Da wird zum Beispiel eine „grundlegende Technikoffenheit“ gefor- dert, also unter anderem für die Grüne Gentechnik. An- sätze für eine Umstellung auf eine nachhaltige ökologi- sche Landwirtschaft sucht man in den Empfehlungen hingegen vergebens. Bei aller berechtigten Kritik am Bioökonomierat sollte man diese aber nicht pauschal auf die Deutsche Agrarforschungsallianz DAFA übertragen. Nach aktuel- ler Satzung der DAFA dürfen, anders als beim Bioöko- nomierat, Vertreter der Industrie überhaupt nicht Mit- glied werden. Nur öffentliche Forschungseinrichtungen, zum Beispiel Universitäten, oder Teile öffentlicher For- schungseinrichtungen, zum Beispiel Fakultäten oder In- stitute, sind als Mitglieder erlaubt. Auch hat die DAFA gerade erst mit ihrer Arbeit begonnen. Berichte liegen also noch gar nicht vor. Eine Vorverurteilung der DAFA, wie es die Linke mit ihrem Antrag hier tut, lehnen wir als SPD deshalb ab. Darüber hinaus findet man in diesem Antrag leider wenig inhaltliche Ziele. Für die SPD, so haben es die agrarpolitischen Sprecher der SPD noch einmal bekräf- tigt, ist es hingegen wichtig, dass Wissenschaft, For- schung und Beratung insbesondere darauf ausgerichtet werden, die Effizienz der ressourcenschonenden ökolo- gischen Anbausysteme zu erhöhen. Solche klaren Posi- tionen findet man in dem Antrag der Linken leider nicht. In Zeiten, in denen die Bundesregierung überlegt, die so- wieso schon mageren Zuschüsse für den ökologischen Landbau, inklusive der Forschungsförderung, zu kürzen, wäre eine klarere Positionierung notwendiger denn je. Insofern freue ich mich schon auf die gemeinsame Dis- kussion in den Ausschüssen. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir sind uns weitgehend einig, dass die Herausforderungen der Welt- ernährung, des Klimawandels und des Erhalts der Biodi- versität nur durch eine verstärkte Agrarforschung bewäl- tigt werden können. Das Gutachten des Bioökonomierates 2010 hat vier erste Empfehlungen erarbeitet, die wertvolle Impulse für eine Weiterentwicklung der Agrarforschung ergeben. Es ist schade, dass die Linke diese Ansätze un- berücksichtigt lässt und stattdessen ihren alten Antrag aus dem Mai 2009 aufwärmt und streckt. Die vom Wissenschaftsrat im Jahr 2006 geforderten tiefgreifenden Reformen der Agrarwissenschaften wur- den von der letzten Bundesregierung und den Ländern nur unbefriedigend umgesetzt. Die Ressortforschung darf nach unserer Vorstellung nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im Zusammenhang mit den Uni- versitäten und Fachhochschulen, den Leibniz-, Max- Planck-, Fraunhofer-Instituten und den Instituten der Helmholtz-Gemeinschaft betrachtet werden. Aufgrund der hochkomplexen Fragestellungen brauchen wir Wis- senschaftscluster, in denen verschiedene, in einem Be- reich tätige Institute eingebunden sind. Dadurch können Synergieeffekte erzielt werden, und gleichzeitig wird die Arbeit aller Forschungseinrichtungen gestärkt. Angesichts knapper Mittel, die für die Forschung zur Verfügung stehen, dürfen Forschungseinrichtungen nicht als Infrastrukturmaßnahmen beliebig in der Landschaft verteilt werden. Die räumliche Nähe zu anderen For- schungseinrichtungen muss gegeben sein. Nur so kann die Wissenschaftsinfrastruktur optimal genutzt, kann ein intensiver Fachaustausch organisiert werden. Wissen- schaftliche Exzellenz und Fortschritt leben vom Aus- tausch von Ideen, Konzepten und Gedanken. Es gibt gute Beispiele im benachbarten Ausland, wie Agrarforschung effizient organisiert werden kann. Eine Konzentration von Grundlagenforschung, Anwendungs- projekten und Lehre in breit aufgestellten Universitäts- einrichtungen ermöglicht dort einen hocheffizienten Ein- satz öffentlicher Mittel. Der bei uns eingeschlagene Weg muss in diese Richtung intensiviert und fortgesetzt wer- den. Gemeinsame Berufung von Professoren durch Fa- kultäten und Ressortforschung, verstärkte Drittmittelein- werbung und bessere, höherwertige wissenschaftliche Veröffentlichungen zeigen, dass viele Institute der Res- sortforschung auf dem richtigen Weg sind. Dies darf aber kein Feigenblatt für einzelne Institute sein, sich mit esoterischer Forschung und wenig überzeugenden Leis- tungen zu profilieren. Neben Gedankenaustausch und Kooperation war und ist Wissenschaft aber auch immer ein Wettstreit der Ideen, ein ständiges Hin und Her von Konzepten und Theorien. Auch dieser Aspekt muss bedacht werden, wenn wir die Agrarwissenschaften in Deutschland vo- ranbringen wollen. Im Antrag der Linken kann ich ihn nicht entdecken. Überhaupt werden die Fortschritte mo- derner Agrarforschung, der Biotechnologie und Inge- nieurswissenschaften völlig zu Unrecht schlechtge- macht. Der vielzitierte sogenannte Weltagrarbericht liefert einige interessante Anregungen, wie Teilziele der Millenniumsvereinbarung erreicht werden können; aber der Bericht ist mit seinen Folgerungen einseitig ideolo- gisch ausgerichtet und greift zu kurz. Als solide Grund- lage für Regierungshandeln ist er nicht geeignet. Unsere Wissensgesellschaft kann es sich weder leisten, mo- dernste Entwicklungen wie die Gentechnik zu verteu- 9870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) feln, noch sollten wir ökologische oder traditionelle Techniken außer Acht lassen. Zur Bewältigung der kommenden Herausforderungen sind vielfältige Fortschritte nötig. Wir müssen helfen, die riesige Anzahl an Hungernden weiter zu verringern. Hierzu müssen Anbautechniken, Saatgut und Wissen von Millionen Landwirten weltweit verbessert werden. Dafür müssen Erntemethoden anpasst und Nachernte- verluste verringert werden. Gleichzeitig sind regionale Wirtschaftskreise zu stärken und nachhaltige Landwirt- schaft zu fördern. Darüber hinaus spielt die Land- und auch die Forstwirt- schaft eine wichtige Rolle beim Umwelt- und Klima- schutz. Wir müssen zukünftig die schädlichen Emissionen verringern, Biodiversität stärken und eine kohlenstoff- dioxidarme Gesellschaft aufbauen. Insbesondere die Be- lastung von Böden und Wassersystemen durch hohe Nitratkonzentrationen stellt ein großes Problem dar. Die Agrarwissenschaften werden eine entscheidende Rolle bei der Suche nach Lösungen spielen. Der Anbau von Energiepflanzen, nachhaltige Bewirtschaftung oder eine verbesserte stoffliche Nutzung nachwachsender Roh- stoffe sind Schlüsseltechnologien in Deutschland und weltweit. Die Bundesregierung hat aus dem hochinteres- santen Bioökonomiegutachten bereits die ersten richti- gen Schlüsse gezogen. Nur Investitionen in diese Zu- kunftstechnologien helfen den Menschen und kommen dem Innovationsstandort Deutschland zugute. Wir müssen die Weichen stellen, um Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Ernährungswissenschaften in Deutschland zur internationalen Spitze zu machen. Das nützt uns und unseren Kindern und ist unabdingbar, wenn wir auf die weltweiten Herausforderungen durch Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Ressourcen- verbrauch erfolgreich reagieren wollen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke hatte bereits in der vergangenen Wahlperiode, im Mai 2009, einen Antrag zur Stärkung der Agrarwissenschaf- ten gestellt. In der parlamentarischen Debatte zu diesem Antrag war deutlich geworden, dass sich alle Fraktionen bei diesem Anliegen einig waren, wenn auch die Vorstel- lungen über die notwendigen Schritte bis dorthin strittig blieben. Passiert ist seitdem wenig Substanzielles, sodass wir mit dem Antrag heute die Diskussion wieder beleben und zielführend voranbringen wollen. Der dringende Handlungsbedarf liegt eigentlich auf der Hand. Die Anforderungen an die Agrarwissenschaft sind in den vergangenen Jahren eher noch gestiegen. Es geht um Vermeidung von oder Anpassung an den Klima- wandel, um nachhaltige Strategien zur Sicherung der Welternährung, ressourcenschonende Landnutzungskon- zepte, neue Anbaukulturen, besseren Tierschutz oder da- rum, dass durch die globalen Personen- und Handels- ströme die Gesundheitsrisiken gestiegen sind, sowohl für Menschen als auch Nutztiere. Überall steht die Land- wirtschaft vor völlig neuen Herausforderungen, die nur mit wissenschaftlicher Unterstützung gemeistert werden können. Darüber hinaus steht ein Generationswechsel in den Betrieben an, und die Rahmenbedingungen erfordern immer besser ausgebildete Landwirtinnen und Land- wirte. Also muss sich auch die Aus- und Weiterbildung an diesen Herausforderungen neu ausrichten. Insbeson- dere Frauen sollten gezielter für das landwirtschaftliche Studium geworben werden. Aber statt die Agrarwissenschaften zu stärken, gilt noch immer die Aussage des Wissenschaftsrates von 2006, dass auch in Deutschland eine „Erosion der insti- tutionellen Grundlagen stattfindet und vielerorts diese Entwicklungen als krisenhaft erkannt werden“. Das ist gerade in unserem Land blamabel, denn Deutschland gilt als Wiege der Agrarwissenschaften. Es muss also drin- gend etwas passieren. Aktuell werden zwei sehr unter- schiedliche Konzepte diskutiert, an denen die Entwick- lung der Agrarwissenschaften ausgerichtet werden könnte. Auf der einen Seite steht die Bioökonomiestrategie, die die Bundesregierung jüngst aufgelegt hat. Aus Sicht der Linken ist ihre überdeutliche Orientierung auf rein wirtschaftliche Interessen zu kritisieren. Die Landwirt- schaft wird vor allem als Rohstofflieferant definiert. Dieses Denken reiht sich ein in die Strategie der Lebens- mittelkonzerne, den gesamten Produktionsprozess beherrschen zu können. Selbst die Trennlinie zu Arznei- mitteln wird verwischt. Die personelle Zusammenset- zung des Bioökonomierats jedenfalls lässt viel Raum für Zweifel an der Gemeinwohlorientierung. Dennoch gibt es in der Bioökonomiestrategie auch Ansätze, die wis- senschaftlich durchaus interessant sind. Aufgabe der Politik wäre es, ihre Nutzung für die gesamte Gesell- schaft zu sichern. Auf der anderen Seite steht der Weltagrarbericht, der als Ergebnis eines umfangreichen Diskussionsprozesses von 400 internationalen Expertinnen und Experten ent- stand und sehr differenziert Ideen entwickelt aus einer Synthese zwischen modernen wissenschaftlichen Er- kenntnissen und tradiertem Wissen. Er ist auf die Inte- ressen der gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure in den Regionen ausgerichtet und sucht nach Konzepten, die regionales Handeln im Interesse einer eigenständigen Versorgung mit gesunden Lebensmitteln ermöglicht und fördert. Die Linke hat die große Bedeutung des Weltagrarbe- richts immer betont und die Bundesregierung aufgefor- dert, ihn zu unterzeichnen und seine Fortschreibung finanziell zu unterstützen. Wir sind davon überzeugt, dass er die Bedeutung des Weltklimaberichts erlangen kann, der unterdessen zum Handlungsrahmen für die in- ternationale Politik geworden ist. Aus den konservativen Reihen wird genau dieses Konzept der Selbstermächti- gung bekämpft und denunziert, ja als gefährlich bezeich- net. Sicher, gefährlich ist es, aber nur für ein System, dessen Selbstverständnis es ist, Menschen in Abhängig- keit zu halten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9871 (A) (C) (D)(B) Es ist ein völlig anderes gesellschaftspolitisches Ver- ständnis, das hinter den beiden Konzepten steht. Für die Linke ist klar, dass eine nachhaltige Landwirtschaft so- ziale, ökologische und ökonomische Funktionen im Inte- resse der gesamten Gesellschaft erfüllen muss. Bei die- sem Ziel muss die Agrarwissenschaft unterstützend tätig sein. Dazu braucht es eine klare strategische Ausrich- tung, koordinierte Strukturen und eine bedarfsgerechte finanzielle und personelle Ausstattung von Lehre und Forschung. Das BMELV könnte dabei beispielgebend vorangehen. Aber das Gegenteil ist der Fall. In der mi- nisteriumseigenen Agrarressortforschung wurden 1996 und 2007 Standortschließungs- und Personalabbaukon- zepte im Bundestag mehrheitlich beschlossen. Sie wer- den schrittweise umgesetzt, ohne eine Analyse der Fol- gen dieser aus unserer Sicht falschen politischen Entscheidungen vorzulegen. Diese ist überfällig, und wir fordern sie heute erneut ein. Bis zu einer abschließenden Bewertung müssen wei- tere Standortschließungen ausgesetzt werden. Es müssen in jedem Einzelfall alle Möglichkeiten geprüft werden, eine Standortschließung zu vermeiden und frei werdende Stellen wieder zu besetzen. Das sind wir den engagiert arbeitenden Beschäftigten in diesem Bereich schuldig. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Noch nie standen die Agrarwissenschaften vor so großen He- rausforderungen wie heute. Klimawandel, Raubbau an Wäldern und Ausbeutung der Meere, Rückgang der Ar- tenvielfalt, Bienensterben, Verseuchung von Böden und Wasser durch Pestizide und Bodenerosion gefährden die elementaren Lebensgrundlagen und ihre Nutzung. Welt- weit steigt die Zahl der Hungernden, heute bereits auf über eine Milliarde Menschen. Gleichzeitig leiden bei uns immer mehr Menschen, besonders Kinder und Ju- gendliche, unter Fehlernährung und ernährungsbeding- ten Krankheiten wie Diabetes, Adipositas, Allergien oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Weltgesund- heitsorganisation, WHO, spricht in diesem Kontext öf- fentlich von einer „Epidemie“. Für diese Herausforderungen muss die Agrarfor- schung moderne, multisystemare Antworten entwickeln: zum Beispiel innovative Fruchtfolgekonzepte im Rah- men einer Eiweißstrategie oder Erhöhung der Wasser- speicherungs- und -rückhaltekapazität der Böden durch nachhaltigen Humusaufbau und intelligente Bewei- dungssysteme. Wir brauchen gute Forschung in der Tier- und Pflanzenzucht, um nachhaltige und artgerechte Tier- haltung und Pflanzenbau ohne Unmengen an Dünger und Pestiziden betreiben zu können, Forschung in der Tierseuchenbekämpfung oder umweltgerechten und ökologischen Pflanzenschutz, Nahrungsmittelverarbei- tung ohne Zusatzstoffe und Geschmacksverstärker, Ver- packungen ohne hormonell wirksame Bestandteile wie Bisphenyl A. Überall mangelt es an Forschung, die den modernen Interessen der Verbraucher, der Umwelt und dem Tierschutz gerecht wird. Die Bundesregierung setzt dagegen ihre Forschungs- schwerpunkte einseitig auf Konzepte des vorigen Jahr- hunderts wie Produktionssteigerungen im Fleisch- oder Milchsektor oder den Ausbau der Agro-Gentechnik. Für die nationale Bioökonomiestrategie sind 2,4 Milliarden Euro vorgesehen, der Großteil für die Gentechnikfor- schung – eine völlig einseitige Ausrichtung an den Inte- ressen einiger Konzerne. Diese unverantwortliche und überhaupt nicht „wissenschaftsbasierte“ Schwerpunkt- setzung blendet die Frage von Nutzen und Risiken der Gentechnikforschung völlig aus. Im letzten Sommer ver- ließen die Umweltverbände unter Protest den „Runden Tisch Pflanzengenetik“, weil das BMBF ihre konkreten Anforderungen an eine wissenschaftlich seriöse Risiko- forschung, zum Beispiel zur Verbreitung von Transge- nen über Bestäuberinsekten oder zu Test- und Bewer- tungsmethoden für die Beurteilung der Sicherheit von Genpflanzen, mit unwissenschaftlichen Behauptungen beiseiteschob. Nicht akzeptabel ist die Einflussnahme des Bioöko- nomierates auf die politischen Entscheidungen. Dieses mit 2 Millionen Euro aus Steuermitteln finanzierte Gre- mium ist de facto eine staatlich bezahlte Lobbyplattform für Agro-Gentechnikproduzenten wie BASF oder KWS. Bereits 2008 haben wir mit einer Studie auf die höchst bedenkliche Verflechtung zwischen öffentlichen For- schungseinrichtungen und der Gentechnikindustrie auf- merksam gemacht. In einem aktuellen Dokumentarfilm – „Verkaufte Wahrheit“ – werden die Abhängigkeit der Forschung und die Diskriminierung unabhängiger For- schung weiter belegt. Trotz Milliardeninvestitionen in Exzellenzinitiativen geht der Personalabbau in der Ressortagrarforschung weiter. Seit 1996 wurde die Zahl der Stellen in der Res- sortforschung des BMELV fast halbiert: von 3 600 auf unter 2 000. Dabei wäre ein Ausbau dieser Agrarfor- schung gerade jetzt von entscheidender Bedeutung. Statt dass weiter Milliarden in der riskanten und nutz- losen Agro-Gentechnikforschung verpulvert werden, fordern wir den Stopp der Entwicklungsforschung für die Agro-Gentechnik. Die dadurch eingesparten Mittel müssen für die Unterstützung der Agrarressortforschung in den Zukunftsbereichen Ökolandbau, Ernährungs- und Verbraucherforschung und für den Ausbau der unterfi- nanzierten Bereiche wie zum Beispiel der Gartenbaufor- schung eingesetzt werden. Eine moderne Agrarforschung muss in nationalen und internationalen Netzwerken arbeiten. Deshalb begrüßen wir die Gründung der Deutschen Agrarforschungsalli- anz, DAFA, und fordern die Bundesregierung auf, diese neue Initiative beim Aufbau von Netzwerken weiter zu fördern. Das von den Linken vorgeschlagene For- schungsvernetzungsamt ist ein zu bürokratischer Ansatz, um diesem Anliegen gerecht zu werden. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche stärken (Tages- ordnungspunkt 15) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Chancengleichheit ist aus Sicht der CDU für alle Menschen in unserem Land, gleich welchen Alters oder welcher sexueller 9872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) Orientierung, der Ausgangspunkt für das gesellschaftli- che Zusammenleben und den Zusammenhalt. Nicht ohne Grund hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsver- trag deshalb vereinbart, bestehende Benachteiligungen in allen Lebensbereichen, sei es Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft, weiter abzubauen. Ich gebe den Antragstellern von Bündnis 90/Die Grü- nen Recht: Es muss eine Kultur der Vielfalt entstehen, allerdings ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verlieren. Aus diesem Grund ist es wichtig, besonders den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Umfeld zu ermöglichen, in dem sie selbstbestimmt ihre sexuelle Orientierung leben können. Betrachtet man die Situation von homosexuellen und transsexuellen Jugendlichen heute, so gibt sich ein nicht eindeutiges Bild. Nach wie vor sind diese Gruppen Be- nachteiligungen ausgesetzt. Vieles läuft dabei auch im subtilen Bereich, was einer systematischen und quantifi- zierbaren Bestandsaufnahme verschlossen bleibt. Aber es befindet sich auch ein ganz zentraler Satz im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, nämlich „Vieles hat sich zum Positiven entwickelt“. Dieser Satz ist wichtig. Ich denke, wir sollten bei dieser Debatte die Situation der Schwulen, Lesben und Transsexuellen in Deutsch- land nicht schlechter machen als sie tatsächlich ist. Denn eines ist auch klar: Insgesamt leben Lesben und Schwule heute so frei und selbstbestimmt wie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes. In breiten Teilen unserer Be- völkerung herrschen heutzutage Toleranz und Respekt. Es ist in den zurückliegenden Jahren viel erreicht worden, insbesondere wenn man betrachtet, wo wir her- kommen. Bis 1969 war in der Bundesrepublik mit § 175 StGB Recht aus dem Dritten Reich gegen Homosexuelle in Kraft, und es drohte damit für sexuelle Kontakte zwi- schen Männern Freiheitsentzug. Und erst 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität von der Liste psychischen Krankheiten – am 17. Mai 1990. Dieser Tag wird seither weltweit als „Internationaler Tag gegen Homophobie“ begangen. Die Diskriminierung liegt eben nicht lange zurück. Umso schöner ist es zu sehen, dass Homosexuelle heute immer ungestörter ihren individuellen Lebensentwurf ausleben können. Dies ist ein Erfolg, ohne Zweifel. Aber eine vollständig diskriminierungsfreie Republik erfor- dert einen Mentalitätswechsel bei vielen Personen, der realistischer Weise nicht von heute auf morgen gesche- hen wird. Ich stimme zu, dass insbesondere im Bereich der Ho- mosexuellenfeindlichkeit unter Menschen mit zumeist muslimischem Migrationshintergrund noch kein rundum zufriedenstellender Zustand erreicht ist. Jugendliche mit Migrationshintergrund – vor allem aus muslimischen Ländern – haben es nach wie vor deutlich schwerer, sich zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen. Auf Ak- zeptanzprobleme stoßen sie gerade in ihrer eigenen Fa- milie. Das Problem ist dabei eher nicht die mangelnde Integration der Jugendlichen, sondern der Eltern. Darum gilt es, gerade in diesem Bereich klar zu machen, dass die Diskriminierung von Menschen mit einer anderen se- xuellen Orientierung nicht akzeptiert werden kann. Die- sen Aspekt vergessen Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag vollständig. Ich bin daher an dieser Stelle sehr froh, dass die Bun- desregierung in diesem Bereich bereits fördernd tätig ist. So unterstützte das Bundesministerium für Familie, Se- nioren, Frauen und Jugend verschiedene Projekte des Bundesverbandes der Eltern, Freunde und Angehörigen von Homosexuellen e.V.: das Elternseminar „Diskrimi- nierung durch Sprache“, die Teilnahme des Verbandes am Evangelischen Kirchentag 2009 und das Bundesel- terntreffen. Weiterhin wurde das Projekt des Familien- und Sozialvereins des Lesben- und Schwulenverbandes „Kultursensible Aufklärung zum Thema Homosexualität für Familien mit Migrationshintergrund“ unterstützt. Im Rahmen des Kinder- und Jugendplans als zentralem För- derinstrument des Bundes in der Kinder- und Jugend- hilfe können auch Projekte/Initiativen von Migranten- organisationen finanziell unterstützt werden, soweit die Anforderungen nach den Richtlinien zum KJP erfüllt sind. Dies ist in unseren Augen bereits sehr viel wert. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass die christlich-liberale Koalition bei ihren jugendpoliti- schen Bemühungen die Unterschiedlichkeit von Jugend- lichen anerkennt und berücksichtigt. Über das Förder- instrument des Kinder- und Jugendplans des Bundes unterstützt sie unterschiedliche Angebote zum Beispiel für lesbische und schwule Jugendliche. Eine detaillierte Aufstellung des Engagements seitens des BMFSFJ ist den Fraktionen ja bereits vor einiger Zeit im Rahmen ei- ner parlamentarischen Anfrage der Grünen zugegangen. In diesem Zusammenhang davon zu sprechen, die Re- gierung würde mit Ignoranz und Desinteresse diesen Ju- gendlichen gegenüberstehen, wie die Grünen in ihrem Antrag schreiben, halten wir für vermessen und nicht nachvollziehbar. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Beispiel adressiert lesbische, schwule und bi- sexuelle Jugendliche zum Themenbereich „Sexualauf- klärung“ und „Aidsprävention“. Die Broschüre „Hetero- sexuell? Homosexuell? Sexuelle Orientierung und Coming-out“ informiert spezifisch zum Coming-out und spricht damit sowohl Jugendliche als auch ihre Eltern an. Es gibt darüber hinaus eine Reihe an guten und erfolgrei- chen Initiativen, die bundesweit bereits einiges erreicht haben. Besonders die Arbeit der Verbände trägt dazu bei, dass die Benachteiligung gleichgeschlechtlich orientier- ter Jugendlicher abgebaut und ein Klima gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung gefördert wird. Die Bundesregierung unterstützt diese Arbeit, die mehr Kenntnis und Verständnis in der Bevölkerung über gleichgeschlechtliche Lebensweisen schafft. Das bun- desweit agierende Jugendnetzwerk Lambda e. V. wird seit 1990 regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Ju- gendplans gefördert. Es erhält seitdem sowohl projekt- bezogene Zuwendungen als auch regelmäßige Förder- mittel aus verschiedenen Programmen des KJP. Dieses Beispiel steht Pate für die vielen weiteren Aktivitäten in diesem Bereich. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9873 (A) (C) (D)(B) Eine Chancengleichheit unabhängig von sexueller Orientierung voranzutreiben, ist unser Ziel und soll auf verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichsten Gremien vorangetrieben werden. Um die Jugendlichen zu unterstützen und die Gesellschaft dafür weiter zu sen- sibilisieren, muss auch in Zukunft einiges unternommen werden. Dies kann jedoch der Bund bei weitem nicht al- leine vorantreiben. Gerade um an Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen nachhaltig eine Sensibilisie- rung in Gang zu bringen, kommt es vor allem auf das Engagement der Länder an. Für Programme im Kultur- bereich haben weiterhin die Länder die Hoheitsrechte. Diese Kulturhoheit ist im Grundgesetz sogar als „Kern- stück der Eigenstaatlichkeit der Länder“ verankert. Demnach fallen Fragen zur praktischen Gewährleistung von Diskriminierungsfreiheit für lesbische und schwule Jugendliche und zu deren Akzeptanz an Bildungsein- richtungen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bun- desregierung. Viele der in dem vorliegenden Antrag gemachten For- derungen, auch wenn sie teilweise richtig sein mögen, richten sich leider an den falschen Adressaten. Dies ist auch einer der Hauptkritikpunkte am Antrag von Bünd- nis 90/Die Grünen. Insgesamt können wir dem Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen in der vorliegenden Form nicht zustimmen, wenngleich wir bei einigen Aspekten des Antrags sicher- lich eine ähnliche Sichtweise haben. Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geht im Grundsatz in die richtige Richtung. Aber anzumerken ist, dass in der heutigen Zeit, in der sich die Gesellschaft zum Glück und endlich gewandelt und weiterentwickelt hat, die ver- schiedenen Arten der Sexualität stärker akzeptiert und toleriert werden und die Diskriminierung von gleichge- schlechtlich orientierten Menschen deutlich abgenom- men hat. Trotzdem ist es ständige Aufgabe der Politik, diesen Prozess der Antidiskriminierung von schwulen, lesbischen oder transsexuellen Jugendlichen weiter zu begleiten. Tut ein Antrag, wie ihn Bündnis 90/Die Grünen hier stellen, not? Denn Ihre Forderung aus dem Antrag „Les- ben, Schwule und Transsexuelle müssen endlich als selbstverständlicher Teil unserer vielfältigen Gesell- schaft vollständig anerkannt werden“ ist richtig, aber doch auch größtenteils bereits Realität. Und das nicht nur bei Personen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen. Jugendliche sind bereits selbstbewusst. Bündnis 90/ Die Grünen stellen die Jugendlichen in Deutschland in ihrem Antrag so dar, als ob sie nicht selbstständig oder selbstbewusst genug sind, um sich auch über ihre sexuelle Orientierung bewusst zu sein und diese auch nach außen zu vertreten. Doch meiner Meinung ist das zu einseitig: Jugendliche sind nämlich selbstbewusster, als sie hier im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen dar- gestellt werden. Shell-Studie 2010: Ich bin eher der Ansicht, dass wir Jugendliche dabei unterstützen sollten, ihre eigenen Werte und Vorstellungen und damit auch ihr Selbstbe- wusstsein noch mehr zu verwirklichen, als sie dies ohne- hin bereits tun. Aus der Shell-Studie 2010 wird deutlich, dass über zwei Drittel der Jugendlichen in Deutschland optimistisch in die eigene persönliche Zukunft blicken. Ich denke, dass tun sie auch zu Recht. Hinzu kommt die Tatsache, dass nur 18 Prozent der Jugendlichen skep- tisch bzw. zweifelnd der Sinnhaftigkeit von grundlegen- den moralischen Regeln und Normen gegenüberstehen – und dazu gehört selbstverständlich auch die sexuelle Selbstbestimmung. Das bedeutet, dass eine positive Lebenseinstellung und genaue Wertvorstellungen für Jugendliche wichtig sind. Dies ist auch in der Frage ihrer sexuellen Ausrich- tung wichtig, und wir sollten insbesondere in dieser sehr intimen und persönlichen Frage den Jugendlichen viel mehr Vertrauen schenken. Rund 95 Prozent der Jugendlichen finden es laut der Shell-Studie 2010 von Bedeutung, dass sie Menschen um sich herum haben, denen man vertrauen und denen man sich anvertrauen kann. Dies meint insbesondere die Familie und die Gruppe der Gleichaltrigen. Wer sich an seine eigene Jugend erinnert, der weiß, dass auf der ei- nen Seite die eigenen Eltern als Vorbilder dienen, aber auf der anderen Seite auch die Freunde, die einen in der Adoleszenz und später prägen. Darauf gilt es aufzu- bauen. Ein intaktes persönliches Umfeld ist wichtiger und effektiver für die Jugendlichen, die sich auch für ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung entscheiden. Möglichkeiten staatlichen Handelns: Dafür zu sorgen, dass Jugendliche in einem Umfeld aufwachsen, in dem sie ihre positive Lebenseinstellung er- und ausleben kön- nen und ihre individuelle Persönlichkeitsentwicklung voranschreitet, das ist die Aufgabe der Politik. Der Bund schafft hier gemeinsam mit den Ländern gute Rahmen- bedingungen: eine gute Schulbildung, verbunden mit ei- ner Perspektive für ein geordnetes und erfolgreiches Be- rufsleben, sowie eine gute Familienpolitik für die Eltern und Jugendlichen selbst. Dort bringt der Bund sich ein. Und auch hier zeigt die Shell-Studie 2010, dass 70 Pro- zent der Jugendlichen der Aussage: „Eigentlich ist es sinnlos, sich Ziele für sein Leben zu setzen, weil heute alles so unsicher ist“, widersprechen. Optimismus, Selbstbestimmung und Eigenhandeln sind auch Stär- kungselemente bei der Sexualität. „Tabuisierung oder Desinteresse“ von bzw. an gleich- geschlechtlich orientierten Jugendlichen, wie sie im An- trag von Bündnis 90/Die Grünen dem Bund vorgeworfen werden, sehe ich hierbei nicht. Sowohl die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung als auch die Bundeszen- trale für politische Bildung engagieren sich, genauso wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, im Rahmen des Kinder- und Jugendplans. Darüber hinaus sehe ich nicht viele Möglichkeiten staatlichen Handelns vonseiten des Bundes. Wenn es notwendig ist, haben die Länder und Kommunen vor Ort, auch in Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Trä- gern, bessere und direktere Möglichkeiten. Subsidiarität hat sich bewährt, und grundsätzlich sind für alle Fragen 9874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) der Kulturpolitik und Kulturverwaltung – insbesondere für die Bereiche Schulwesen, Hochschule und Erwach- senenbildung/Weiterbildung – nach der im Grundgesetz festgeschriebenen Kompetenzverteilung die Länder zu- ständig. Insoweit ist die Botschaft Ihres Antrages richtig, al- lerdings können wir uns dem Antrag in dieser Form so nicht anschließen. Christel Humme (SPD): „Du schwule Sau!“ – diese Beschimpfung gehört heute zu den am meisten ge- brauchten Beschimpfungen auf deutschen Schulhöfen. Eine besorgniserregend hohe Homophobie gerade unter Jugendlichen belegt auch eine Studie des Kieler Sozial- psychologen Professor Simon. Er befragte rund 1 300 Schülerinnen und Schüler von Berliner Gymna- sien und Gesamtschulen nach ihrer Einstellung zur Ho- mosexualität. Demnach findet jeder Zweite der Befrag- ten im Alter zwischen 14 und 20 Jahren es abstoßend, wenn sich Männer in der Öffentlichkeit küssen. Der Wi- derstand der jungen Menschen mit Migrationshinter- grund lag noch über den Aversionen der befragten Deut- schen. Oft bleibt es in der Schule jedoch nicht bei Beschimp- fungen und verbalen Erniedrigungen. Mädchen und Jun- gen werden gemobbt, von der Klassengemeinschaft aus- geschlossen oder sogar tätlich angegriffen. Die Folgen sind Verzweiflung, ein panisches Versteckspiel, das ei- gene Anderssein zu verbergen, und die Angst, „enttarnt“ zu werden. Manche können diesem Druck auf Dauer nicht standhalten und sehen für sich keine Perspektive mehr. Die Selbstmordrate unter schwulen Jugendlichen liegt bis zu viermal höher als bei ihren heterosexuellen Altersgenossen. Gerade unter Jugendlichen halten sich hartnäckig Vorurteile gegen homosexuell Lebende und Liebende, die viele von uns längst überwunden glaubten. Daher überrascht es nicht, dass unter diesen Bedingungen für viele lesbische, schwule oder transsexuelle Jugendliche ein Coming-out nicht vorstellbar ist. Gerade hier müssen wir ansetzen, um schon in der Schule erlebbar zu ma- chen, was in unserer demokratischen und solidarischen Gesellschaft selbstverständlich sein muss: ohne Angst selbstbewusst anders als die Mehrheit leben zu können. Dazu brauchen wir Bildungseinrichtungen, die nicht nur bestmögliche Förderung für alle bieten, sondern in denen für Lehrende und Lernende ein diskriminierungs- freier Raum garantiert ist. Grundlage dafür ist ein ganz- heitlicher Bildungsansatz, der die Normalität und die Vielfalt menschlichen Zusammenlebens von Kindesbei- nen an vermittelt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozial- demokraten fordern selbstverständlichen Respekt und Akzeptanz. Wir stehen für eine bunte Gesellschaft, in der Vielfalt als Bereicherung wahrgenommen wird. Rot-Grün hat in Regierungsverantwortung vieles vo- ranbringen können. Ich nenne hier nur das Lebenspart- nerschaftsgesetz, mit dem schwule und lesbische Paare ihrer Beziehung endlich einen rechtlichen Rahmen ge- ben konnten, oder das sehr gute rot-grüne Antidiskrimi- nierungsgesetz, das leider durch die Bundestagswahl 2005 nicht mehr in Kraft treten konnte. Die SPD konnte in der Großen Koalition gegen erhebliche Widerstände der Union einen Großteil des Gesetzes als AGG durch- setzen. Noch sind leider nicht alle rechtlichen Benachtei- ligungen beseitigt. Dennoch haben wir als Gesetzgeber hier wichtige Signale in die Gesellschaft setzen können, um auch die Rechte von Lesben, Schwulen, bi- und transsexuellen Menschen zu stärken. Neue Familienformen sind entstanden: „Regenbogen- familien“, in denen sich statt Vater und Mutter eben zwei Mamis oder zwei Papas liebevoll und fürsorglich um ihre Kinder kümmern, werden immer selbstverständli- cher. Diese gesellschaftlichen Veränderungen müssen stär- ker als bisher in der Schule vermittelt werden. Dieser Ort für gemeinsames Lernen hat eine besondere Aufgabe. Hier müssen wir stärker die Chancen nutzen, die selbst- verständliche Akzeptanz von gesellschaftlicher Vielfalt durch gegenseitiges Erleben und Kennenlernen in den Köpfen der jungen Menschen zu verankern. Was ist zu tun? Wir müssen durch aufeinander abge- stimmte Präventionsstrategien dafür sorgen, dass gleich- geschlechtlich liebende Jugendliche nicht länger mit Ab- lehnung und Hass konfrontiert werden. An jeder Schule müssen kompetente und qualifizierte Ansprechpartnerin- nen und Ansprechpartner für Lernende und Lehrer zur Verfügung stehen. Jugendliche benötigen darüber hinaus bundesweit flä- chendeckende Beratungsstellen, in denen sie konkrete Hilfe und Unterstützung bekommen können. In Groß- städten ist bereits eine entsprechende Infrastruktur vor- handen, doch gerade in ländlichen Regionen fehlt den jungen Männern und Frauen oft noch eine kompetente Vertrauensperson in ihrer Nähe. Das Internet ist hier eine zusätzliche wichtige Anlaufstelle. So bietet beispiels- weise die Bundeszentrale für politische Bildung und auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu den Themen Sexualität und Geschlechterrollen um- fangreiche Informationen. Im Bereich Öffentlichkeits- arbeit und Beratung kann auch die Antidiskriminie- rungsstelle des Bundes Wichtiges leisten, indem sie die Vernetzung der Akteure vor Ort weiter voranbringt und den Ausbau einer guten flächendeckenden Beratungs- struktur unterstützt. Wir brauchen verbindliche Rahmenrichtlinien in allen Bundesländern, damit die bestehende Vielfalt von sexu- ellen Identitäten positiv dargestellt wird. Dazu brauchen wir mehr Lehrinnen und Lehrer, die sich diesem Thema unverkrampft und ohne rot zu werden widmen. In die- sem Zusammenhang ist auch beim Thema Weiterbildung bzw. im Lehramtsstudium sicherlich eine stärkere Sensi- bilisierung sinnvoll. Hier sind die Bundesländer in der Verantwortung, ihre jeweiligen Richtlinien kritisch zu überprüfen. Auch in vielen Schulbüchern und anderen Medien hat die gleichberechtigte Darstellung verschie- dener Formen von Sexualität noch nicht den Stellenwert, der ihr gebührt. Das Thema darf sich weder im Unter- richt noch in Lehrmaterialien ausschließlich auf Gesund- heitsaufklärung und HIV/Aids beschränken. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9875 (A) (C) (D)(B) Vor allem aber muss es uns gelingen, die Schülerin- nen und Schüler selbst für das Thema zu sensibilisieren und ihnen Respekt sich selbst und anderen gegenüber zu vermitteln. Eine Möglichkeit ist, durch entsprechende Jugendwettbewerbe, verstärkt auf kreative Umsetzung des Themas unter der Zielgruppe selbst zu setzen. Mein Bundesland NRW geht hier mit dem Projekt „Schule ohne Homophobie – Schule der Vielfalt“ den richtigen Weg. Ich freue mich daher sehr, dass die rot-grüne Lan- desregierung in NRW die Bekämpfung von Homophobie ausdrücklich als eine Querschnittsaufgabe sieht und im Landesjugendplan speziell die besondere Unterstützung von lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Ju- gendlichen bei der Entwicklung ihrer sexuellen Identität in Schule und Jugendhilfe gesichert hat. Doch nicht nur die Länder sind bei der Bekämpfung von Homophobie in der Verantwortung. Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung, die sich ja laut eigener Aussage für „Chancengerechtigkeit unabhängig von der individuellen sexuellen Orientierung“ einsetzt, steht hier in der Pflicht. Im nationalen Integrationsplan muss das Thema Akzeptanz von Trans-, Bi- und Homosexualität endlich verankert werden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratinnen unterstützen den vorliegenden Antrag der Grünen. Wir setzen uns auch in Zukunft für eine solidarische und freie Gesellschaft ein, in der gelebte Vielfalt – Diversity – zur Selbstverständlichkeit wird. Stefan Schwartze (SPD): Wir diskutieren heute den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat, schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche zu stärken. Das ist ein wichtiges Anliegen und verdient un- sere volle Unterstützung. Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche ha- ben es in unserer Gesellschaft schwer. Oft sind sie sich ihrer sexuellen Orientierung noch nicht sicher und wer- den gehänselt, gemobbt und drangsaliert, oder sie wer- den sogar Opfer von Gewalt. Diese Jugendlichen müs- sen vor Diskriminierung wirksamer geschützt werden. Es ist bedrückend, dass laut einer Studie der Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport von 1999 18 Prozent der schwulen oder lesbischen Jugendli- chen bereits einen oder mehrere Selbstmordversuche hinter sich hatten, mehr als die Hälfte hatte bereits an Selbstmord gedacht. Das Selbstmordrisiko ist damit bei gleichgeschlechtlich orientierten Jugendlichen viermal höher als bei Jugendlichen mit heterosexueller Orientie- rung. Die Jugendlichen brauchen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, die beraten und helfen können. Insbesondere brauchen wir aber Programme, die die Ak- zeptanz von homosexuellen Jugendlichen stärken. Welche Instrumente dafür eingesetzt werden können, soll in einer breit angelegten bundesweiten wissenschaft- lichen Studie zur Lebenssituation homosexueller Ju- gendlicher untersucht werden. Hierzu liegt bereits ein Beschluss des Bundestages vor, den wir als SPD-Bun- destagsfraktion auch schon damals unterstützt haben. Leider ist die Umsetzung in der Großen Koalition mit Frau von der Leyen nicht möglich gewesen. Diese Stu- die ist wichtig, um Erkenntnisse über die Lebenssitua- tion von homosexuellen Jugendlichen zu erhalten, um daraus Handlungsempfehlungen für die Bundesregie- rung abzuleiten. Ohnehin sind die Gelder, die für schwule und lesbi- sche Jugendliche im Kinder- und Jugendplan ausgege- ben werden, verschwindend gering. Im Kinder- und Ju- gendplan von 2009 waren es lediglich 200 000 Euro, die die Bundesregierung für diese Zielgruppe ausgegeben hat. Ganze 186 Millionen Euro stehen der Bundesregie- rung insgesamt für den Kinder- und Jugendplan zur Ver- fügung. Insbesondere die Beratung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen muss ausgebaut wer- den. Wir brauchen eine Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit und einen systematischen Ausbau entspre- chender Angebote im Kinder- und Jugendplan. Auch der vorgeschlagene „Jugendwettbewerb gegen Homophobie und für Vielfalt“ kann dafür ein Instrument sein. Viele Maßnahmen, die wir brauchen, um der Diskri- minierung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen entgegenzuwirken, fallen leider in den Aufgabenbereich der Länder. Hier müssen wir alle an ei- nem Strang ziehen, auch die Länder müssen ihren Bei- trag leisten. Wir brauchen ein Aufbrechen heteronormer Familien- und Wertvorstellungen in Schul- und Sachbü- chern. Wir brauchen eine verbesserte Aus- und Fortbil- dung von Lehrkräften zu diesen Themen. Wir brauchen verbesserte Schulungen von Lehrkräften im Umgang mit homo- und transsexuellen Jugendlichen sowie die Schu- lung von Vorgehensweise zum Umgang mit diskriminie- renden Situationen und diskriminierendem Verhalten von Schülerinnen und Schülern. Es steht außer Frage, dass noch immer Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und in- tersexuelle Menschen in Deutschland diskriminiert wer- den. Sie sind in unserer Gesellschaft auch heute noch Anfeindungen, gewaltsamen Übergriffen und Benachtei- ligungen ausgesetzt. Viele Gesetze haben zwar die recht- liche Situation inzwischen deutlich verbessert, aber ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität im Grundgesetz würde endlich eine klare Maßgabe für die Gesetzgebung schaffen. Wir brauchen ein öffentliches und deutliches Be- kenntnis, dass Gesichtspunkte der sexuellen Identität eine ungleiche Behandlung unter keinen Umständen rechtfertigen können. Dafür brauchen wir eine Änderung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linken haben hierzu jeweils Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht, die noch nicht entschieden sind. In dieser Frage müssen wir endlich vorankommen, und es ist absolut unverständlich, warum die schwarz- gelbe Koalition in dieser Frage so zögerlich ist, zumal wir in der EU-Grundrechtecharta seit 2009 den Diskri- minierungsschutz für Lesben, Schwule und Transgender verankert haben. 9876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) Florian Bernschneider (FDP): Die Fraktion der FDP begrüßt, dass sich das Hohe Haus auf Basis der vor- liegenden Initiative mit der Lebenssituation von schwu- len, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen befasst. Wir tun dies auch vor dem Hintergrund, dass sich die von CDU, CSU und FDP getragene Regierung in Gleichstellungsfragen von Homosexuellen im Vergleich zu ihren Vorgängerregierungen überhaupt nicht zu ver- stecken braucht. Stichworte sind hier beispielsweise die Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der Ehe in den Bereichen BAföG, Grunderwerb- und Erbschaftsteuer, Beamten-, Soldaten- und Richterrecht, die wir umgesetzt haben. Auch sollte nicht vergessen werden, dass die Liberalen nach einer zehn Jahre dau- ernden, unwürdigen Hängepartie, die unter Rot-Grün be- gann und sich unter Schwarz-Rot fortsetzte, dafür ge- sorgt haben, dass die Magnus-Hirschfeld-Stiftung in diesem Jahr das notwendige Startkapital erhält, damit sie endlich ihre Arbeit aufnehmen kann. Was ich ausdrücklich nicht begrüße, ist der völlig un- angemessene und parteipolitisch motivierte Ton, der in dem vorliegenden Antrag angeschlagen wird. Wenn ich in dem Antrag lese, dass die Antwort der Bundesregie- rung auf die Kleine Anfrage „Lesbische und schwule Ju- gendliche“ der Grünen die Ignoranz und das Desinte- resse dieser Regierung an den Jugendlichen und ihren Sorgen zutage gefördert habe, ist dies eine üble Unter- stellung. Die Grünen schießen hier vor lauter Profilie- rungswut völlig über das Ziel hinaus. Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An- frage von Bündnis 90/Die Grünen ist ein Beleg für die vielschichtige Jugendpolitik dieser Koalition. Die Trä- gervielfalt geht vom Deutschen Sportbund über das Ju- gendnetzwerk Lambda – der LesBiSchwule Jugendver- band in Deutschland, den Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Homosexuellen e.V. bis hin zum Familien- und Sozialverein des Lesben- und Schwulenverbandes LSVD. Die Förderung von Projek- ten, Programmen und Institutionen, die sich für die Gleichstellung und Unterstützung von homosexuellen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen einsetzen, ist schon lange ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der Förderstruktur im Kinder- und Jugendplan des Bun- des. Es ist genau zu prüfen, inwieweit ein weiterer Ausbau dieser Programme sinnvoll erscheint. Ja, die Grünen ha- ben recht, schwule und lesbische Jugendliche unter- scheiden sich durch ihre sexuelle Identität von hetero- sexuellen Jugendlichen. Die Herausforderungen, die sie während des Heranwachsens meistern müssen, sind enorm. Nicht selten erleben sie Ausgrenzung oder sogar antihomosexuelle Gewalt. Sie müssen in Teilen der Ge- sellschaft, aber oft auch bei Familie und Freunden stär- ker um Akzeptanz kämpfen. Hier benötigen sie Aner- kennung und Unterstützung. Dafür setzen sich die Liberalen seit Jahren mit Nachdruck ein. Es ist insbesondere meiner Fraktion zu verdanken, dass der Deutsche Bundestag das Stiftungskapital für die Magnus-Hirschfeld-Stiftung bewilligt hat. Die Stiftung wird sich unter anderem gegen Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Lesben und Schwulen wenden und durch Bil- dung und Forschung gesellschaftlicher Diskriminierung entgegenwirken. Was die künftige Arbeit der Stiftung angeht, sind wir Liberale der Meinung, dass die Fortbil- dung und damit die Sensibilisierung von Multiplikatoren in der Schul- und Jugendarbeit eine wichtige Aufgabe der Stiftung sein sollte. Darüber hinaus hat das BMFSFJ Studien zur Situa- tion von homosexuellen Jugendlichen in Auftrag gege- ben und dabei auch die Belange von Schwulen und Les- ben mit Migrationshintergrund besonders berücksichtigt. Dabei stellte sich heraus, dass sich schwule und lesbi- sche Jugendliche mit Migrationshintergrund in der deut- schen Gesellschaft anerkannt fühlen, während sie in ih- ren Migrationscommunities mit Ablehnung konfrontiert werden. Die Integration der Familien wird damit zum entscheidenden Faktor für einen offeneren Umgang mit der sexuellen Identität der Kinder. Hier ist die christlich- liberale Koalition aktiv geworden und hat beispielsweise die stark nachgefragten Integrationskurse des Bundes finanziell besser ausgestattet. Auch im Bereich des ge- rade von den Grünen so stark kritisierten Freiwilligen- dienstekonzeptes und in der nationalen Engagementstra- tegie nimmt das Thema Integration breiten Raum ein. Und das nicht ohne Grund: Die erfolgreiche Integration von Zugewanderten wird mit Blick auf den Fachkräfte- mangel und den demografischen Wandel in unserem Land eine der politischen Mammutaufgaben der nächs- ten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte sein. Die Grünen weisen in ihrem Antrag darauf hin, dass die Suizidrate bei schwulen und lesbischen Jugendlichen weitaus höher liegt als bei heterosexuellen. Ich möchte hier deutlich sagen, dass ich als jugendpolitischer Spre- cher der FDP-Bundestagsfraktion diese Zahlen sehr ernst nehme. Wir brauchen in diesem Zusammenhang Aufklärung und gegebenenfalls Strategien, um gefähr- dete Jugendliche, die keinen Halt in der Familie oder im Freundeskreis finden, zu unterstützen. Gleichzeitig soll- ten wir zur Kenntnis nehmen, dass sich die Zahl der Suizide bei Jugendlichen insgesamt seit den 1980er-Jah- ren mehr als halbiert hat. Dies zeigt, dass sich Jugendli- che in Deutschland in der schwierigen Phase des Heran- wachsens heutzutage besser unterstützt und akzeptiert fühlen als noch vor 20 Jahren. In einer freiheitlichen und modernen Gesellschaft ha- ben Diskriminierungen von homosexuellen Jugendli- chen wie auch Diskriminierungen anderer Gruppen kei- nen Platz. Sie sind Teil unserer Gesellschaft und verdienen es deshalb auch, als solcher behandelt zu wer- den. Spezielle Förderprogramme und -maßnahmen müs- sen aber in ein Gesamtkonzept eingebunden sein. Viele der Forderungen im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen fallen in den Zuständigkeitsbereich der Länder – gerade im Bereich der Schulen. Wir müssen die Länder für ihre Zuständigkeiten, die sie wollen, dann auch in die Verant- wortung nehmen. Die FDP hat zum Beispiel zwischen 2005 und 2010 in NRW dafür gesorgt, dass trotz harter Sparpolitik Fördermittel für die schwul-lesbische Selbst- hilfe erhalten blieben. Daraus wurde unter anderem das Schulaufklärungsprojekt SchLAu NRW finanziert, das Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9877 (A) (C) (D)(B) Vorbild sein kann für andere Bundesländer. Nicht jede sinnvolle Förderung kann und muss also vom Bund ge- leistet werden. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen selbst hat zuletzt in einem Antrag den Flickenteppich an Modell- programmen, der im Bereich der Kinder- und Jugend- politik im Zuständigkeitsbereich des Bundesfamilien- ministeriums existiert, kritisiert. Ich würde es ausdrücklich begrüßen, wenn sie solchen lichten Momenten der Ein- sicht auch entsprechende parlamentarische Taten folgen lassen würde. Stattdessen kritisiert sie, zusammen mit den anderen Oppositionsfraktionen, die Bundesregie- rung dafür, dass sie spart. Im gleichen Atemzug fordert sie mit Blick auf die Generationengerechtigkeit lautstark ausgeglichene Haushalte, was sie selbstverständlich nicht davon abhält, in der Öffentlichkeit vollmundige Versprechungen über höhere Sozialausgaben, Bürgerver- sicherungen mit Sorglosgarantie und Ähnliches zu ver- breiten. Und dann setzt sie dem Ganzen die Krone auf, indem sie ohne Gegenfinanzierungsvorschläge Anträge ins Parlament einbringt, in denen ihr nichts Besseres ein- fällt, als immer wieder neue Modellprojekte und -pro- gramme und damit Ausgaben zu fordern. Zu der Frage, wo eigentlich die finanziellen Mittel für ihre Wünsche herkommen sollen, schweigt sie. Das scheint mittler- weile zu ihrer politischen Methode zu werden. In NRW können wir gerade beobachten, wie genera- tionengerecht die rot-dunkelrot-grüne Politik daher- kommt. Es würde der Debatte und den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen sicherlich guttun, wenn die Grü- nen sich weniger auf ihre Außendarstellung konzen- trieren und mehr um die politische Sacharbeit kümmern würden. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende sehr gute Antrag findet die volle Unterstützung der Frak- tion Die Linke. Denn die Situation von lesbischen, schwulen, transsexuellen, transgender und intersexuellen Jugendlichen erfordert ein engagiertes Handeln. Das Wort „schwul“ ist das gebräuchlichste Schimpfwort an deutschen Schulen. Mobbing sowie psychische und phy- sische Schläge haben Betroffene zu erleiden. Junge Menschen, die sich in der Findungsphase ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität befinden, stehen oftmals schutzlos und allein da. Viele leiden unter Depressionen. Einige begehen einen Suizidversuch. Nach einer Studie der Berliner Landesantidiskriminierungsstelle weisen homosexuelle Jugendliche ein sechsfach höheres Selbst- mordrisiko auf; dies bestätigte die Bundesregierung im Jahr 2006. Die vom Bundestag 2005 beschlossene Studie zur Si- tuation homosexueller Jugendlicher fehlt. Ich fordere die Bundesregierung auf, einen konkreten Zeitplan zur Um- setzung der Studie vorzulegen. Eine Studie wird die kon- krete Situation analysieren und Defizite aufzeigen, ins- besondere die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Vieles steht auf Papier. Aber Papier ist bekanntlich ge- duldig. Nehmen wir die Rahmenlehrpläne für den Unter- richt vieler Bundesländer. Häufig wird die Förderung der sexuellen Vielfalt explizit benannt. Doch umgesetzt wird dies nur selten. Wie können wir von Lehrerinnen und Lehrern eine Umsetzung einfordern, wenn sich viele von ihnen selbst nicht trauen, sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen? Lehrerinnen und Lehrer haben ebenso wie Schülerinnen und Schüler Mobbing durch das Kollegium und von Schülerinnen und Schülern zu befürchten. Das umfangreiche Maßnahmenpaket der Initiative „Berlin steht ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ des rot-roten Berliner Senats zielt auf konkrete Veränderungen im Bildungsbereich und der Verwaltung. Nehmen wir die Schule: Hier werden mit Informationsveranstaltungen und Fortbildungen Lehre- rinnen und Lehrer in Leitungsfunktion sensibilisiert und die Leiterinnen und Leiter der Ausbildungsseminare der Referendare werden mit Modulen zur sexuellen Vielfalt ausgestattet. Hier werden Grundsteine zum Diskriminie- rungsschutz an Schulen gelegt und die Akzeptanz der se- xuellen Vielfalt dauerhaft gestärkt. Wir fordern konsequente und schnelle Maßnahmen der Bundesregierung auch und gerade im Bildungsbe- reich durch eine enge Zusammenarbeit mit den Bundes- ländern. Von Berlin werden sie dabei die Unterstützung erhalten, um Maßnahmen zur Stärkung der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt zu entwickeln. Im Oktober 2010 schreckten die Suizide von schwu- len Schülern in den USA auf. Auch sie wurden gemobbt, drangsaliert und waren Schlägen ausgesetzt. Dies führte zu tiefer Bestürzung und rüttelte den Präsidenten auf. Präsident Obama mahnte die Akzeptanz von homo- sexuellen Schülerinnen und Schülern an – ein einmaliger Vorgang in den USA, dem aber keine konkreten Maß- nahmen der Regierung folgten. Ich hoffe, dass die Bun- desregierung mutiger ist und mit Unterstützung des Par- laments die geforderten Maßnahmen umsetzt. Die Ausgrenzung von lesbischen, schwulen, transse- xuellen, transgender und intersexuellen Jugendlichen ist nicht hinnehmbar. Liebe verdient Respekt und Vielfalt, ist eine Bereicherung. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wollen schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche stärken und unterstützen. Ich wünsche mir von dieser Bundestagsdebatte das starke Signal, dass Anderssein nicht verkehrt ist und gleichgeschlechtliche Liebe die- selbe Wertschätzung wie heterosexuelle verdient. Wir haben die Vision einer Gesellschaft, in der schwule und lesbische Jugendliche ohne Sorge vor Homophobie und Diskriminierung verschieden sein können. Sie müssen endlich als selbstverständlicher Teil unserer vielfältigen Gesellschaft anerkannt werden. In ihrem Alltag und Le- bensumfeld – in Familie, Schule, Beruf und Freizeit so- wie bei rechtlichen Regelungen – sind Lesben, Schwule und Transsexuelle noch immer nicht allerorts akzeptiert und vollständig gleichgestellt. Diese Benachteiligung hat besonders negative Auswirkungen auf die junge Ge- neration; und das muss sich endlich ändern. Jeder und jede Jugendliche hat unabhängig von der sexuellen Iden- 9878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) tität ein Recht auf beste Bedingungen des Aufwachsens und zur Persönlichkeitsentwicklung. Gerade für junge Lesben und Schwule sind gleiche Teilhabe sowie die Sichtbarkeit und der Respekt vielfältiger Lebensformen unerlässlich. Schwule und lesbische Jugendliche müssen überall selbstbestimmt sowie angst- und diskriminie- rungsfrei leben können. Vieles hat sich in den vergangenen Jahren und Jahr- zehnten zum Positiven entwickelt; die Situation hierzu- lande wird besser. Bei meinem Coming-out Mitte der 90er-Jahre habe ich von der zunehmenden gesellschaftli- chen Liberalisierung und den Erfolgen der schwul-lesbi- schen Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegung profi- tieren können. Und trotzdem war das Coming-out auch für mich kein leichter, sondern ein bisweilen belastender und krisenhafter Prozess. Das hat sich für die junge Ge- neration auch im Jahr 2011 kaum geändert. Trotz gesell- schaftlicher und politischer Fortschritte bestehen in Tei- len der Gesellschaft weiter Vorurteile gegenüber gleichgeschlechtlichen Jugendlichen: Sie werden kon- frontiert mit Unverständnis, Unwissenheit bis hin zu Ablehnung und Ausgrenzung. Nach wie vor sind viele Eltern ebenso überfordert wie die Schule oder Jugend- einrichtung. „Schwule Sau“ darf nicht länger Schimpf- wort Nummer eins auf den Schulhöfen bleiben. Zwar gibt es in vielen Städten schwul-lesbische Einrichtungen oder sogar Jugendzentren. Vielerorts, besonders in länd- lichen Räumen, fehlen Jugendlichen aber noch immer kompetente Anlaufstellen, die sie bei ihrem Coming-out unterstützen, oder Freizeitangebote, bei denen sie Gleichaltrige treffen und kennenlernen können. Alarmierend ist, dass Suizidversuche bei homo- sexuellen Jugendlichen siebenmal häufiger auftreten als bei heterosexuellen. Skandalös ist, dass angesichts dieser von ihr selbst bestätigten Daten schon die Vorgänger- regierung bei Antworten auf grüne Anfragen „keinen Handlungsbedarf“ sah und dem derzeitigen Jugend- ministerium diese Daten nicht einmal mehr bekannt sind, wie die Antwort auf unsere letzte Kleine Anfrage zu diesem Thema belegt. Wie würde sich wohl Frau Schröder als Mutter einer 15-jährigen lesbischen Tochter oder eines 17-jährigen schwulen Sohns bei einer solch empörenden Ignoranz einer Bundesregierung gegenüber dem Wohlergehen ihres Kindes fühlen? Sie sollte einen Moment darüber nachdenken und als Jugendministerin mit uns gemeinsam klare politische Konsequenzen da- raus ziehen. Es geht um immerhin fünf bis zehn Prozent der Jugendlichen, die lesbisch oder schwul sind, deren Familien und Freundeskreise. Deren Belange dürfen nicht länger unbeachtet bleiben, Handeln ist überfällig. Wir brauchen dringend einen gemeinsamen und um- fassenden Handlungs- und Aktionsplan von Bund und Ländern, um homosexuelle Jugendliche zu stärken: Wir fordern die Regierung auf, endlich den Bundestags- beschluss von 2005 umzusetzen und eine breit angelegte bundesweite wissenschaftliche Studie zur Lebenssituation lesbischer und schwuler Jugendlicher durchzuführen. Diese Studie muss nicht nur ein fundiertes aktuelles Ge- samtbild, sondern unter anderem auch Handlungsemp- fehlungen zur Überwindung homosexuellenfeindlicher Einstellungen beinhalten. Wenigstens darauf müssten wir uns doch fraktionsübergreifend verständigen kön- nen. Wir fordern das Bundesjugendministerium auf, ein umfangreiches Paket an Präventionsmaßnahmen zu ent- wickeln, um die dramatisch hohen Zahlen von Mobbing, Gewalt und Suizidversuchen homosexueller sowie trans- sexueller Jugendlicher zu senken und damit ihr Recht auf Gesundheit und Wohlergehen zu garantieren. Wir fordern eine stärkere Förderung schwul-lesbischer Ju- gendarbeit, eine feste Verankerung im Kinder- und Ju- gendplan des Bundes sowie den systematischen Ausbau zielgruppengerechter Angebote. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie ge- meinsam mit den Ländern ein Maßnahmenpaket zur Stärkung lesbischer, schwuler und transsexueller Ju- gendlicher in Bildungs- und Jugendeinrichtungen auf den Weg bringt. Dabei muss sie bei den Ländern unter anderem darauf hinwirken, Schulmaterialien für die positive Darstellung von Vielfalt der Familien, Partner- schaften und Lebensweisen zu öffnen. Daneben sollte das Bundesfamilienministerium ge- meinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung so- wie schwul-lesbischen Jugend- und Bürgerrechtsverbän- den weitere Informationsmaterialien für Jugendliche und Erwachsene initiieren. Die Jugend- und die Bildungsministerin sollten bei den Bundesländern dafür eintreten, dass Lehrpläne in den Schulen um Themen wie die Vielfalt sexueller Iden- titäten und Lebensweisen, die Geschichte und Men- schenrechtslage Homosexueller erweitert werden. Da- rüber hinaus braucht es flächendeckend Handreichungen für Lehrerinnen und Lehrer mit pädagogisch-didakti- schen Unterrichtsmaterialien, Aus- und Weiterbildungs- programme für Lehrkräfte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe zu Themen wie sexuelle Vielfalt – Diversity – und Identität, Coming-out und Prävention von Homo- und Transphobie. Auch der nationale Integrationsplan ist um interkultu- relle Angebote zu den Themen sexuelle Vielfalt und Selbstbestimmung sowie Homo- und Transphobie zu er- weitern, um gezielte Angebote für homosexuelle Ju- gendliche mit Einwanderungsgeschichte und ihre Eltern zu initiieren. Hilfreich wären zudem ein „Jugendwettbe- werb gegen Homophobie und für Vielfalt“ und eine bun- desweite Informations- und Akzeptanzkampagne, um eine breitere Öffentlichkeit für das Thema zu sensibili- sieren. Das alles sind wirksame Maßnahmen, die wir der Re- gierung und allen Fraktionen vorschlagen und wofür wir um Ihre Unterstützung werben. Um die Situation homo- sexueller Jugendlicher zu verbessern und ihnen gleiche Entfaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, braucht es end- lich beherztes Handeln statt Tabuisierung oder Desinte- resse! Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9879 (A) (C) (D)(B) Anlage 6 Neuabdruck der Antwort des Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage des Ab- geordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4493, Frage 59): Mit welcher konkreten Begründung verweigern Bundes- kanzleramt und Bundesnachrichtendienst, BND, der Journa- listin G. W. weiter trotz der anderslautenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts die Einsicht in Akten, die beim BND mit Erkenntnissen zu dem NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann vorhanden sind, und welche schützenswerten Inte- ressen stehen nach Auffassung der Bundesregierung der Ein- sichtnahme in diese Akten entgegen angesichts der Tatsache, dass die Vorgänge seit mehr als 50 Jahren abgeschlossen sind und einen NS-Verbrecher betreffen? Seit 2009 klagt eine Journalistin auf Einsicht in Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes zu Adolf Eichmann. In einer Zwischenentscheidung hatte das Bundesverwaltungsgericht im April 2010 die in einer ersten Sperrerklärung des Bundeskanzleramtes geltend gemachten Geheimhaltungsgründe nur für teilweise be- rechtigt erklärt. Vor allem wurde eine stärkere Zuord- nung der Einzelgründe für eine Sperrung zu den einzel- nen Aktenbestandteilen gefordert. Das Bundesverwaltungsgericht führte aus, dass das Bundes- kanzleramt aber nicht gehindert sei, im Rahmen seines Ermessens unter Abwägung zwischen dem historischen Aufklärungsinteresse und fortbestehenden Geheimhal- tungsinteressen eine erneute Sperrerklärung abzugeben. Der Bundesnachrichtendienst und das Bundeskanz- leramt haben die streitgegenständlichen Unterlagen so- dann anhand der Entscheidung des Bundesverwaltungs- gerichts nochmals sorgfältig geprüft. Das Bundeskanzleramt hat daraufhin im August 2010 eine erneute, nach Aktenteilen differenzierte Sperrerklä- rung abgegeben. Ein großer Teil der Unterlagen ist so- gar, was Frau Staatsministerin Böhmer in der Frage- stunde der vergangenen Woche bereits erläutert hatte, ungeschwärzt vorgelegt worden. Ein Teil der Akten ist gemäß den gesetzlich vorgesehenen und vom Bundes- verwaltungsgericht anerkannten Sperrgründen nicht – beziehungsweise mit lediglich punktuellen Schwär- zungen – vorgelegt worden. Maßgebliche, auch vom Bundesverwaltungsgericht in seinem angeführten Beschluss grundsätzlich anerkannte Sperrgründe sind der Schutz noch lebender – wenn viel- leicht auch betagter – damaliger Informanten, der Schutz personenbezogener Daten Dritter sowie der Schutz von Beziehungen zu ausländischen Partnerbehörden, insbe- sondere Nachrichtendiensten. Sowohl das Bundeskanzleramt als auch der Bundes- nachrichtendienst müssen bei ihrer Entscheidung be- rücksichtigen, dass es neben dem legitimen Interesse an Klärung historischer Fakten auch Rechte und Interessen Dritter gibt, die in den Abwägungsprozess – so sehen es unsere Gesetze vor – einfließen müssen. 87. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6
Gesamtes Protokol
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708700000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten
können, müssen wir noch eine Reihe von Nachwahlen
zu Gremien durchführen. Die Fraktion der CDU/CSU
hat mitgeteilt, dass der Kollege Leo Dautzenberg aus
dem Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabili-
sierungsfondsgesetzes ausscheidet. Als sein Nachfolger
wird der Kollege Klaus-Peter Flosbach vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist der Kollege Flosbach hiermit gewählt.

Es wird ferner vorgeschlagen, den Kollegen Klaus-
Peter Flosbach auch zum Nachfolger des Kollegen
Dautzenberg im Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht zu wählen. Neues
stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Antje
Tillmann werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen
ebenfalls einverstanden? – Auch das ist offenkundig der
Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt vor, die
Kollegin Ingrid Nestle zum ordentlichen Mitglied im
Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität,

Rede
Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen und
die Kollegin Kerstin Andreae zum stellvertretenden
Mitglied zu wählen. Sind Sie auch mit diesen Vorschlä-
gen einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die bei-
den Kolleginnen gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Die öffentliche Diskussion über die Falsch-
und Nichtunterrichtung des Deut
destages durch den Bundesverte
nister zu Vorfällen in der Bundesw


(siehe 86. Sitzung)

zung

en 27. Januar 2011

0.30 Uhr

ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 24

Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen
durch mehr Fachpersonal für Hygiene und
Prävention

– Drucksache 17/4452 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:

Schlaglochchaos beenden – Kommunale Fi-
nanzen stärken

ZP 4 Vereinbarte Debatte

Tunesien – Jetzt Grundlage für stabile Demo-
kratie schaffen

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich

text
Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Ausbau der erneuerbaren Energien in
Deutschland und Europa sicherstellen

– Drucksache 17/4527 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-

/DIE GRÜNEN

as Energiezukunft erneuerbar und si-
estalten
schen Bun-
idigungsmi-
ehr

NIS 90

Europ
cher g
– Drucksache 17/4544 –





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Nationaler Bildungsbericht 2010 – Bildung in
Deutschland
und
Stellungnahme der Bundesregierung

– Drucksache 17/3400 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz (Herborn), Katja Dörner, Kai Gehring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Bildungsberichte nutzen – Bildungssystem ge-
rechter und besser machen

– Drucksache 17/4436 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Bundesministerin Professor Dr. Annette
Schavan das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Nationale Bildungsbe-
richt, den Bund und Länder zum dritten Mal vorlegen,
enthält zentrale Botschaften zur Leistungsfähigkeit des
Bildungssystems in Deutschland, zeigt Perspektiven un-
seres Bildungssystems im demografischen Wandel und
geht auf die wichtigsten Problemlagen ein. Zusammen
mit der zuletzt vorgestellten PISA-Studie kann er auch
als so etwas wie eine Bilanz über zehn Jahre Bildungsre-
form in Deutschland gewertet werden.
Beide Studien zeigen, dass die Reformbemühungen
zu positiven Ergebnissen führen. Ich sage vor allem mit
Blick auf unsere Schulen: Wer immer den Eindruck er-
weckt, dass sich in diesen zehn Jahren nichts verändert
hat, der ignoriert die Anstrengungen in unseren Schulen.
Anstatt anzufangen, uns über Bildungspolitik zu streiten,
sollten wir den vielen Lehrerinnen und Lehrern an die-
sen Schulen für ihre erheblichen Anstrengungen danken,
die in den letzten Jahren zu Verbesserungen geführt ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen zugleich, dass es Problemlagen gibt, mit
denen wir uns schon geraume Zeit befassen und bei de-
nen wir noch nicht am Ziel sind. Auch deshalb räumt die
christlich-liberale Koalition der Bildungs- und Hoch-
schulpolitik Priorität ein und setzt Schwerpunkte dort,
wo wir noch nicht gut genug sind. Ich appelliere aus-
drücklich an die Länder, es ebenso zu tun. Bildungspoli-
tik muss überall Priorität haben, braucht nicht immer
neue ideologische Debatten, braucht nicht immer neue
Alleingänge, die den Bürgern gar keine Chance mehr ge-
ben, den Überblick zu behalten. Vielmehr muss alles,
was in der Bildungspolitik in Deutschland geschieht, mit
mehr Gemeinsamkeit unter den Ländern, mehr Ver-
gleichbarkeit und dem konsequenten Abbau von Mobili-
tätshindernissen verbunden sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die zentralen Botschaften des Nationalen Bildungs-
berichts lauten kurz zusammengefasst: mehr Krippen-
und Kindergartenplätze, mehr Ganztagsschulen, bessere
Schulleistungen in Mathematik, den Naturwissenschaf-
ten und auch bei der Lesekompetenz, deutlich mehr Stu-
dienplätze, mehr Ausbildungsplätze, weniger Schulab-
brecher. Genau mit diesen Themen haben wir uns in den
letzten Jahren befasst. Genau dazu haben Bund und Län-
der eine Qualifizierungsinitiative gestartet. Sie zeitigt
erste Erfolge. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Stichworte – ich könnte noch mehr nennen; ich
sage aber nur noch wenige Sätze dazu – zeigen auch:
Wir können vor allen Dingen Erfolge sehen, wo sich
Bund und Länder jenseits von Parteigrenzen und jenseits
aller möglichen ideologischen Kämpfe durchgerungen
haben, zu gemeinsamen Strategien zu kommen.

Ich nenne beispielhaft Bildung und Betreuung vor der
Schule. Das Krippenprogramm – alle haben miteinander
gerungen und es dann durchgesetzt – führt dazu, dass in
Deutschland so viele Erzieherinnen wie noch nie zuvor
in den Kitas tätig sind. Oder: Jede zweite Schule im Pri-
mar- und Sekundarbereich in Deutschland ist bereits
eine Ganztagsschule. Die Zahl der Schülerinnen und
Schüler, die eine solche Schule besuchen und an den An-
geboten teilnehmen, hat sich verdoppelt.

Deutschland gilt in der OECD als ein Land mit signi-
fikanten Verbesserungen in der mathematischen und na-
turwissenschaftlichen Bildung. Darüber hinaus liegt uns
allen besonders am Herzen, dass die Zahl der Schulab-





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)

brecher kontinuierlich sinkt. Wir wollen eine konse-
quente weitere Verringerung, weil wir wissen, dass der
Schulabschluss für jeden Jugendlichen die Eintrittskarte
für eine Ausbildung ist. Deshalb müssen wir das schaf-
fen. Deshalb haben wir uns das mit Priorität vorgenom-
men. Deshalb gibt es Bildungsketten, Bildungslotsen
und viele andere Programme, damit in Deutschland jeder
Jugendliche die Voraussetzung hat, um eine gute Ausbil-
dung zu beginnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir uns an die Debatte über den Ausbildungs-
markt vor sechs bis sieben Jahren erinnern, ist jedem,
auch jedem Fachpolitiker, klar, dass sich die Situation
grundlegend verändert hat. Es gibt wesentlich mehr Aus-
bildungsplätze und durch die demografische Entwick-
lung weniger Bewerbungen. Also liegt der Schwerpunkt
des Ausbildungspakts jetzt – auch das ist übrigens eine
gemeinsame, ressortübergreifende Initiative von Bund
und Ländern – auf der Qualifizierung, damit sich jeder
Jugendliche erfolgreich auf eine Ausbildungsstelle be-
werben kann. Das gesamte Potenzial auszuschöpfen, ist
ein ganz wichtiger Beitrag mit Blick auf den Fachkräfte-
mangel. Der Qualifizierung gilt vor allen weiteren Maß-
nahmen der Zuwanderung unsere besondere Verantwor-
tung. Die Verantwortung dieses Parlaments, dieser
Regierung und jeder Landesregierung besteht darin, da-
für zu sorgen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu-
nächst eine gute Chance für Ausbildung und Studium
bekommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe in dieser Woche die Bilanz des Hochschul-
pakts gezogen. Die erheblichen Bemühungen der Länder
und des Bundes tragen Früchte. Statt geplanter
90 000 Studienplätze sind es 180 000 geworden. Studie-
ren ist attraktiv. Noch nie haben so viele junge Leute in
Deutschland studiert wie im Moment. Wir sind bei
46 Prozent. Jeder hier im Haus erinnert sich daran, dass
wir uns jahrelang das Ziel gesetzt haben, die 40-Prozent-
Marke zu erreichen. Jetzt stehen die Universitäten vor
einer anspruchsvollen Aufgabe, zumal aufgrund der
Aussetzung der Wehrpflicht zusätzliche Studienanfänger
kommen. Ich sage es auch an dieser Stelle: Wir lassen
die Studierenden nicht im Stich. Jetzt ist es wichtig, alle
Anstrengungen zu unternehmen, damit diese positive
Entwicklung auch in den nächsten Jahren weitergehen
kann.

Zum deutlich gewachsenen Interesse am Studium ha-
ben ganz gewiss auch die deutlichen Verbesserungen bei
der Studienfinanzierung beigetragen. Ich nenne das
BAföG, das Deutschlandstipendium und das Aufstiegs-
stipendium. Die Studierenden, die jungen Leute spüren,
dass die Grundlagen für die Finanzierung ihres Studiums
vielfältiger, elterneinkommensunabhängiger und damit
für sie attraktiver geworden sind. Auf diesem Weg wer-
den wir weitergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dessen ungeachtet zeigt der Bericht, wo wir noch
besser werden müssen, welche Problemlagen wir ab-
bauen müssen. Das alles überragende Thema ist die Ent-
koppelung von sozialer Herkunft und schulischer Leis-
tung.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Die Überwindung von Bildungsarmut, das ist unser gro-
ßes Thema.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sehr gut!)


– Schön, dass jetzt die Kollegen von der SPD klatschen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Warum klatschen die anderen denn nicht?)


– Herr Schulz, ich wollte gerade sagen, dass das erstaun-
lich ist, weil die damalige rot-grüne Bundesregierung,
als sie über Regelsätze nachgedacht hat, die Bildung
schlicht vergessen hat.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ich glaube, Sie sitzen im Glashaus! Sie waren doch Landesministerin! Zeigen Sie mir Ihre Forderungen von damals als Bildungsministerin!)


Ich finde es bedauerlich, dass das, worüber am meis-
ten geredet wird, wenn es um das Handeln geht, schlicht
ignoriert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb sage ich auch: Wenn wir das jetzt korrigieren
– das tun wir gerade; die Kollegin von der Leyen sowie
die Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen arbei-
ten im Vermittlungsausschuss daran –,


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind doch gar nicht beteiligt an den Verhandlungen!)


dann sollten Sie wenigstens aufhören, zu blockieren. Wir
wollen das korrigieren. Hören Sie auf, das Zustande-
kommen des Bildungspakets weiter zu verzögern!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist ja lächerlich!)


Die Überwindung von Bildungsarmut ist kein gutes
Thema für Rhetorik.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Eben!)


Es müssen Fakten geschaffen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Helfen Sie deshalb mit und hören Sie auf, zu blockieren
und zu feilschen! Vergessen Sie nicht, dass Sie selbst da-
mals gar nichts zuwege gebracht haben!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden über das Bildungspaket hinausgehend mit
Allianzen für Bildung Bildungspartnerschaften vor Ort
auf den Weg bringen, weil für uns völlig klar ist, dass die
Gruppe der Kinder, die mit Risikolagen leben und des-





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)

halb eine schwierigere Bildungsbiografie haben, weit
über die Gruppe der Hartz-IV-Kinder hinausgeht. Des-
halb werden wir in den nächsten Wochen in Kooperation
mit Sportvereinen, Bibliotheken, der Stiftung „Lesen“,
den Einrichtungen der kulturellen Bildung und mit vie-
len anderen Partnern Allianzen für Bildung vor Ort
schaffen. Wir wollen eine gesellschaftliche Bewegung
für Bildung mit dem Ziel einer besseren Bildungsteil-
habe. Bildung ist nicht nur eine Frage des Staates. Das
ist auch eine Anfrage an unsere Gesellschaft, die eine
bildungsbegeisterte und bildungshungrige Gesellschaft
werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden die Integration durch Bildung weiter ver-
stärken. Nehmen Sie die Akzente, die wir im Bereich der
frühkindlichen Bildung setzen – ihr Erfolg ist augen-
scheinlich –: die flächendeckende Sprachförderung, die
Erzieherinnenfortbildung, die Häuser der kleinen For-
scher. Jedes Kind hat Talente. Wir wissen, je stärker wir
unsere Kindertagesstätten bei der frühkindlichen Bil-
dung unterstützen, umso besser werden die Vorausset-
zungen zu Schulbeginn sein und umso größer ist die
Chance, dass sich die Bildungsbiografien der Kinder gut
entwickeln.

Das Thema Weiterbildung wird uns auch aufgrund
des demografischen Wandels in den nächsten Jahren
stärker beschäftigen als in der Vergangenheit. Der
Schwerpunkt des Nationalen Bildungsberichtes ist das
Bildungssystem im demografischen Wandel. Der demo-
grafische Wandel wird vor allen Dingen bei Standortfra-
gen im ländlichen Raum Konsequenzen haben. Wir
brauchen Veränderungen in der beruflichen Bildung. Wir
müssen von der Spezialisierung der Ausbildungen weg
und hin zu den Berufsfeldern. Das werden wir im Laufe
des Jahres angehen. Wir werden dafür sorgen müssen,
dass der Hochschulpakt weiterentwickelt wird. Wir wer-
den sehr genau beobachten, wie mit der demografischen
Rendite in den Ländern umgegangen wird. Es ist wich-
tig, dass das Geld trotz rückläufiger Schülerzahlen wei-
testgehend im System bleibt. Wir halten am 10-Prozent-
Ziel für Bildung und Forschung in den nächsten Jahren
fest.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Alle Akteure im Bildungssystem – der Bund befindet
sich da in einem guten Dialog mit einer Reihe von Län-
dern – werden darauf achten müssen, dass die Wege hin
zur Bildungsrepublik Deutschland zu mehr Leistungsfä-
higkeit, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Vergleichbarkeit
und zu weniger Alleingängen führen. Eltern müssen sich
darauf verlassen können, dass ihre Kinder, egal wo sie
zur Schule gehen, ob in Hamburg, in Dresden oder in
Berlin, vergleichbare Leistungen, vergleichbare Bil-
dungsabschlüsse und vergleichbare Schulmaterialien ha-
ben. Das muss in einer globalen Welt so sein, und das ist
auch eine Frage der Gerechtigkeit.

Deshalb lade ich Sie parteiübergreifend ein: Lassen
Sie uns – dies hat sich in mancher Region in Deutsch-
land schon bewährt – mit möglichst viel Konsens die
Wege hin zur Bildungsrepublik Deutschland gestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708700100

Das Wort hat jetzt der Minister für Bildung, Wissen-

schaft und Kultur des Landes Thüringen, Christoph
Matschie.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1708700200

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Das ist die dritte Auflage des Bildungsbe-
richts. Er zeigt nicht nur den aktuellen Zustand, sondern
auch die zentralen Herausforderungen; Sie haben das
eben erwähnt. Demografischer Wandel, Fachkräftebe-
darf, Integration, Bildung als soziale Frage – es mangelt
wahrlich nicht an neuen Herausforderungen, die wir an-
packen müssen.

Die Bundesregierung hat Antworten formuliert. Sie
hat die Bildungsrepublik ausgerufen und eine Qualifizie-
rungsoffensive mit den Ländern gestartet. Das eine oder
andere gemeinsame Programm ist sicher gut auf dem
Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man der Bundesregierung dafür ein Zeugnis aus-
stellen müsste, würde wahrscheinlich darin stehen: Sie
hat sich bemüht.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie bemühte sich doch schon vorher erfolglos!)


Die Frage ist nur: Reicht das aus? Die Hauptlast der Bil-
dung tragen Länder und Kommunen. Deutlich über
90 Prozent aller Aufwendungen für Bildung sind Auf-
wendungen von Ländern und Kommunen. Der Bund
trägt 7,8 Prozent. Deshalb sage ich hier ganz klar und
deutlich: Frau Kollegin Schavan, neue Sonderpro-
gramme des Bundes, die die Bildungspolitik in Randbe-
reichen der Bildung vorantreiben sollen, helfen nicht in
allen Fällen. Manchmal mutet das an, als würden Sie
versuchen, im Winterdienst auf der Autobahn mit dem
Handwagen das Streusalz zu verteilen. Nein, Frau Kolle-
gin Schavan, wir brauchen eine andere Art von gemein-
samer Bildungsanstrengung, wenn wir Bildung in
Deutschland voranbringen wollen.


(Beifall bei der SPD)


Die Sonderprogramme haben auch das Problem, dass sie
auf äußerst unterschiedliche Situationen in den Bundes-
ländern stoßen. Sie wissen ganz genau: In einem Bun-
desland liegt der Schwerpunkt vielleicht auf der Schul-
entwicklung, für die zusätzliche Mittel benötigt werden;
in einem anderen Bundesland sind es gerade die Kinder-
gärten oder die Hochschulen. Sonderprogramme nivel-
lieren diese unterschiedlichen Entwicklungen, die in den
Bundesländern vorangetrieben werden müssen.

Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen, bei
dem jeder Experte nur noch mit dem Kopf geschüttelt
hat. Sie haben im Rahmen der Qualifizierungsoffensive
vorgeschlagen, lokale Bildungsbündnisse mit 1 Milliarde
Euro zu fördern; das klingt erst einmal gut. Aber dass
der Bund jetzt plötzlich versucht, über Schulvereine lo-





Minister Christoph Matschie (Thüringen)



(A) (C)



(D)(B)

kale Bildungsbündnisse zu organisieren, haben alle Ex-
perten als abenteuerlich eingeschätzt.


(Beifall bei der SPD)


Das Gleiche gilt für Ihr eben angesprochenes Bildungs-
paket. Frau Kollegin Schavan, es geht nicht darum, ein
sinnvolles Bildungspaket zu blockieren, sondern es geht
darum, ein sinnvolles Bildungspaket überhaupt erst auf
den Weg zu bringen.


(Beifall bei der SPD)


Schauen Sie sich doch noch einmal an, was vorge-
schlagen war. Da sollte eine Chipkarte oder ein Bil-
dungsgutschein ausgeteilt werden. Ich frage mich
manchmal, wie lebensfremd eigentlich die Vorstellungen
sind, die Sie in Ihrem Hause ausbrüten. Wie lebensfremd
ist das denn! Es hilft doch keinem Kind, wenn ich ihm
eine Chipkarte oder einen Bildungsgutschein in die
Hand drücke. Das Einzige, was wirklich hilft, ist, Struk-
turen vor Ort zu verbessern,


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


ganztägige Angebote zu machen und mehr Sozialarbei-
ter in den Schulen vorzuhalten. Darum geht es doch.

Jetzt greife ich Ihr Angebot auf, 1 Milliarde Euro in
lokale Bildungsbündnisse zu stecken. Warum nehmen
Sie nicht diese 1 Milliarde Euro und investieren sie in
mehr Sozialarbeiter in den Schulen? Wir würden die
Schulentwicklung auf einen Schlag wirklich voranbrin-
gen können.


(Beifall bei der SPD)


Aber nein, genau an dieser Stelle blockiert bisher Ihre
Kollegin Frau von der Leyen die Gespräche. Ich glaube,
man kann zu einer sinnvollen Vereinbarung zum Bil-
dungspaket kommen. Das setzt aber auch voraus, dass
wir die Lebenswirklichkeit der Menschen ernst nehmen
und nicht Programme ins Leben rufen, die über die
Köpfe hinweggehen und am Ende niemandem etwas
nutzen.

Der Bildungsgipfel und das 10-Prozent-Ziel sind
eben noch einmal angesprochen worden. Die Länder ha-
ben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen un-
ternommen, um den Anteil ihrer Bildungsausgaben an
den Gesamthaushalten zu steigern. 1995 machten die
Bildungsausgaben 29 Prozent in den Gesamthaushalten
der Länder aus. 2008 waren es 34 Prozent. Ich sage aber
auch: Die Länder geraten hier an die Grenzen ihrer Mög-
lichkeiten. Ich will das einmal am Beispiel eines Bun-
deslandes wie Thüringen deutlich machen. Wir haben
zusätzliche Mittel in die Hand genommen, um in die
Kindergärten zu investieren. Über 100 Millionen Euro
zusätzlich fließen in den Ausbau der Kindertagesstätten-
infrastruktur, und das tun wir trotz schwieriger Haus-
haltslage.

Nun schaue ich mir an, was in den nächsten Jahren
auf ein Bundesland wie Thüringen zukommt. Nach der
mittelfristigen Finanzplanung werden die Einnahmen
des Landes aus Steuern, aus Bundeszuweisungen, aus
Solidarpaktmitteln und aus europäischen Strukturfonds-
mitteln von 9 Milliarden Euro in diesem Jahr auf etwa
7,5 Milliarden Euro im Jahre 2020 sinken. Das heißt,
Thüringen und andere neue Bundesländer müssen in den
kommenden Jahren mit sinkenden Haushaltseinnahmen
operieren. Gleichzeitig sind wir verpflichtet – und das
wollen wir auch –, die Schuldenbremse des Grundgeset-
zes bis 2020 einzuhalten. Nun frage ich Sie: Wie soll
man angesichts einer solchen Situation in den Ländern
aus eigener Kraft die Bildungsfinanzierung ausweiten?
Es wird nicht funktionieren, Frau Kollegin Schavan. Da
hilft auch keine schöne Rede, mit der Sie hier mehr Ge-
meinsamkeit einfordern. Da hilft nur eines: dass sich der
Bund endlich dazu bekennt, die Länder stärker bei der
Bildungsfinanzierung zu unterstützen. Das ist der Weg,
den wir gehen müssen.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage deshalb hier ganz deutlich: Der Bildungsgip-
fel im vergangenen Jahr ist klar gescheitert. Er ist ge-
scheitert, weil die Bundesregierung nicht bereit war, die
Länder bei dieser Aufgabe stärker zu unterstützen. Sie
können doch nicht ernsthaft versuchen, die Bildungspro-
bleme in Deutschland zu lösen, indem Sie immer neue
Sonderprogramme auf den Weg bringen, anstatt die Län-
der in ihrer Kernaufgabe zu unterstützen. Ich darf Sie an
dieser Stelle vielleicht daran erinnern,


(Zuruf von der CDU/CSU: Wofür gibt es den Föderalismus?)


dass Sie es waren, Frau Schavan, die im Zusammenhang
mit der Föderalismusdebatte darauf bestanden hat, dass
die Länder noch mehr Kompetenzen in der Bildung be-
kommen, dass noch weitere Rahmenkompetenzen vom
Bund abgezogen werden. Ich glaube – und ich sage das
hier sehr deutlich –, dass die Entscheidung falsch war, so
vorzugehen; das sage ich auch als Ländervertreter. Wir
brauchen in der Bundesrepublik Deutschland mehr ge-
meinsame Rahmenbedingungen für die Bildung. Nur so
können Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit wirklich
garantiert werden.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen einen neuen Bildungsgipfel, und zwar
einen Bildungsgipfel, der ehrliche Antworten gibt, der
ehrliche Antworten gibt auf die offenen Finanzierungs-
fragen, der ehrliche Antworten gibt auf die Kompetenz-
verteilung zwischen Bund und Ländern. Uns helfen
keine neuen Sonntagsreden, mit denen Gemeinsamkeit
beschworen wird. Ja, ich will, dass wir diese Aufgabe
gemeinsam anpacken; denn es geht darum, über die Zu-
stände im Bildungssystem zu diskutieren und Lösungen
zu finden, statt sich über Zuständigkeiten zu streiten.
Das geht aber nur, wenn sich der Bund endlich bewegt.
Also sorgen Sie dafür, Frau Schavan, dass ein neuer Bil-
dungsgipfel einberufen wird und dass der Bund die Län-
der bei der Finanzierung unterstützt! Diese Forderung
wird von allen Ländern klar artikuliert. Die Länder brau-
chen höhere Steueranteile, um dann diese Mittel in die
Bildung investieren zu können. Machen Sie endlich
Ernst mit Ihren Sonntagsreden und helfen Sie den Län-
dern bei ihrer Kernaufgabe Bildung!


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708700300

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1708700400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Minister Matschie, Sie haben sich bemüht.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eberhard Gienger [CDU/CSU])


Ich habe gerade gedacht, dass ich hier wirklich in der
falschen Veranstaltung sitze. Wir müssen in diesem Land
klar anerkennen, welche Bildungsleistungen wir hier ge-
meinsam erbringen. Diese Bundesregierung hat wie
keine andere Bundesregierung vor ihr Bildungsinvesti-
tionen auf den Weg gebracht. Die Ausgaben für Bildung
und Forschung werden in dieser Legislaturperiode um
12 Milliarden Euro gesteigert; das ist die größte Steige-
rung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland je gegeben hat.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Durch Lautstärke wird es nicht besser!)


Das ist eine Leistung, die anerkannt werden muss.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir können sehr gerne darüber diskutieren, was letz-
tes Jahr beim Bildungsgipfel gut und was schlecht gelau-
fen ist. Sie haben hier Ihre Sichtweise dazu dargelegt.
Ich erinnere mich sehr gut an den Bildungsgipfel im letz-
ten Jahr. Ich erinnere mich sehr gut, wer auf diesem Bil-
dungsgipfel blockiert hat: in erster Linie die sozialdemo-
kratisch regierten Länder, an vorderster Stelle Sie, Herr
Matschie. Das ist Realität; das muss klar angesprochen
werden. Ein Bildungsgipfel kann nur dann zu einem Er-
folg führen, wenn Bund und Länder bereit sind, aufei-
nander zuzugehen, und nicht, wenn auf beiden Seiten
Blockaden aufgebaut werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Seit wann regiert die SPD in Thüringen alleine? Setzen Sie sich einmal mit Frau Lieberknecht auseinander!)


Es ist wichtig und richtig, dass wir hier darüber disku-
tieren – das ist ein Ergebnis der Einführung des Nationa-
len Bildungsberichtes –, wie wir die Finanzbeziehungen
stärken können, mit welchen Maßnahmen wir das 10-Pro-
zent-Ziel erreichen können. Aber eines kann und darf
nicht sein: Während der Bund Investitionen tätigt, schaf-
fen Länder, beispielsweise Nordrhein-Westfalen, von
sich aus die Studiengebühren ab – das kostet in Nord-
rhein-Westfalen 250 Millionen Euro jährlich – und erhe-
ben am gleichen Tag die Forderung an den Bund, für die
Kosten, die durch die Abschaffung entstehen, einzu-
springen und die entsprechenden Gelder zuzuweisen. So
darf Bildungspolitik in diesem Land nicht laufen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zu den lokalen Bildungsbündnissen. Ich bin der
Ministerin und der Regierungskoalition sehr dankbar,
dass wir eine Debatte darüber führen, wie wir die ge-
samtgesellschaftlichen Kräfte dieses Landes in einer Al-
lianz für Bildung zusammenbringen können, damit es in
den Regionen und insgesamt vernetzte Angebote geben
kann. Dort, wo ehrenamtliche Arbeit in Schulförderver-
einen geleistet wird, wo Elternarbeit in besonderem
Maße geleistet wird, müssen wir sie stärken; dort, wo
das noch nicht der Fall ist, müssen wir die Menschen ak-
tivieren. Das ist die Aufgabe der Politik: Wir müssen all
diejenigen stärken, die sich zusammen mit uns auf den
Weg machen. Das ist in lokalen Bildungsbündnissen
möglich. Sie sind integraler Bestandteil einer erfolgrei-
chen Bildungspolitik dieser Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Man sollte den Nationalen Bildungsbericht – da es
der dritte ist, kann man schon von einer Tradition spre-
chen – kritisch betrachten. Man sollte schauen, an wel-
chen Stellen wir Dinge auf den Weg gebracht haben. Ich
finde, es war ein tolles Zeichen, dass wir nach unseren
Beratungen, die 2001 und 2002 im Deutschen Bundestag
stattgefunden haben, trotz verschiedener Anträge – am
Anfang stand der Antrag der FDP aus dem Jahr 2001 –
am Schluss gemeinsam die Einführung eines Nationalen
Bildungsberichts beschlossen haben. Damit können wir
immer wieder gemeinsam überprüfen, an welchen Stel-
len wir stärker vorangehen müssen, an welchen Stellen
es gut läuft und wo wir wirklich noch eine Schippe
nachlegen müssen. Ich sage es einmal so: Schon der
Zeitpunkt, zu dem wir diese Debatte führen, stellt eine
positive Veränderung dar. Der erste Nationale Bildungs-
bericht ist nachts um 2.30 Uhr aufgerufen worden. Heute
sind wir in der Kernzeitdebatte. Vielleicht ist das auch
ein Zeichen dafür – jedenfalls würde ich mir das wün-
schen –, dass die Bildung im Zentrum der gesellschafts-
politischen Diskussion angekommen ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein Bildungsbericht muss aber auch Raum dafür las-
sen, darüber nachzudenken, wo noch Verbesserungs-
möglichkeiten für die Zukunft gegeben sind. Es ist rich-
tig, dass wir noch sehr viel intensiver und kritischer auf
all die Entwicklungen schauen müssen, bei denen wir
Verbesserungen brauchen. So sehr wir uns darüber
freuen, dass die Zahl der Schulabbrecher rückläufig ist:
Es ist trotzdem notwendig, immer wieder gemeinsam
darüber zu diskutieren, was möglich ist. Wir haben die
Chance, gemeinsame Anliegen nach vorne zu bringen.

Ein Nationaler Bildungsbericht muss aber auch die
Eckpunkte dafür liefern. Beispielsweise war eines der
zentralen Ergebnisse aller PISA-Untersuchungen der
letzten Jahre, dass es einen unmittelbaren Zusammen-
hang zwischen der Eigenverantwortung von Bildungsein-
richtungen einerseits – der Eigenverantwortung von Schu-
len, der Eigenverantwortung von Hochschulen, der
Eigenverantwortung von Kindergärten – und dem Bil-
dungserfolg andererseits gibt. Deshalb wünsche ich mir,
dass der Grad der Eigenverantwortung – was geleistet
wird und wo wir uns noch auf den Weg machen müssen –
endlich Bestandteil des Nationalen Bildungsberichtes





Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)

wird. Denn mehr Bildungsfreiheit vor Ort zu schaffen, ist
eine Kernbotschaft aller PISA-Ergebnisse. Das muss sich
auch endlich im Nationalen Bildungsbericht widerspie-
geln.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zoni Weisz hat uns vorhin in seiner sehr bewegenden
Rede als eine Botschaft seines Lebens weitergegeben,
dass nur Bildung und Entwicklung der Weg in eine gute
Zukunft sind. Was er vorhin für sich selbst in sehr beson-
derer Art und Weise beschrieben hat, muss auch die
Grundlage für uns hier in der Bundesrepublik Deutsch-
land sein.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708700500

Das Wort für die Fraktion der Linken hat jetzt der

Kollege Dr. Gregor Gysi.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708700600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Recht,

Herr Meinhardt, haben Sie auf die Worte von Herrn
Weisz hingewiesen. Mich hat es auch beeindruckt, dass
er gesagt hat: Die zentrale Frage bei den Entwick-
lungschancen von Kindern ist die Bildung. – Aber die
Situation in Deutschland ist so, dass Sie ein klares Um-
denken fordern müssen, statt sich in irgendeiner Form
bestätigt zu sehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Bildungsbericht nennt drei Risikolagen: Arbeits-
losigkeit der Eltern, geringes Einkommen der Eltern und
schlechte bzw. keine Berufsausbildung. Der Bildungsbe-
richt sagt: Diese drei Problemlagen setzen sich dann bei
den Kindern fort. Aber er sagt nicht, was eigentlich ge-
plant ist, wirksam dagegen zu tun. Das ist unsere Kritik.

29 Prozent der 13,6 Millionen Kinder in Deutschland
– das sind 4 Millionen Kinder – befinden sich in einer
der drei Risikolagen. 29 Prozent der Kinder! Ich bitte
Sie, darüber nachzudenken.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das haben wir schon, Herr Gysi!)


Darunter sind 1,1 Millionen Kinder von Alleinerziehen-
den; das ist fast die Hälfte der Kinder von Alleinerzie-
henden. Darunter sind 1,7 Millionen Kinder mit Migra-
tionshintergrund; das ist fast die Hälfte der Kinder mit
Migrationshintergrund. Die Situation bezüglich der Risi-
kolagen hat sich nicht geändert unter der Regierung von
SPD und Grünen, nicht geändert unter der Regierung
von Union und SPD und nicht geändert unter der Regie-
rung von Union und FDP. Die Problemlagen sind überall
die gleichen geblieben.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie regieren doch auch, in Berlin!)

Sie können das ganz einfach sortieren: Kinder von
reichen Familien gehen in der Regel auf höhere Schulen
oder auf Privatschulen, Kinder armer Familien haben
diesbezüglich viel schlechtere Chancen.

Was übrigens auch interessant ist: In der Weiterbil-
dung setzt sich das fort. Nichterwerbstätige oder Leute
mit geringer Bildung haben viel schlechtere Chancen auf
Weiterbildung als andere. Das System, das, wenn man so
will, schon in der Kindertagesstätte beginnt, setzt sich
also bis zum Ende des Lebens fort. Ich möchte auf die
Unterschiede in der frühkindlichen Bildung hinweisen.
Die Angebote im Osten sind viel verbreiteter als die An-
gebote im Westen. Das hat etwas mit der Geschichte zu
tun. Es wird höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass die Zahl
der Kindertagesstätten in den alten Bundesländern min-
destens so hoch ist wie in den neuen Bundesländern, ob-
wohl auch dort ausgebaut werden muss.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie in Rheinland-Pfalz!)


Jetzt gibt es ein Gesetz, das besagt: Für 35 Prozent
der Kinder müssen bis 2013 Kitaplätze entstanden sein.
Heute glaubt wohl so gut wie keiner mehr daran, dass
das zu schaffen ist. Nicht einmal die Hälfte der Jugend-
ämter geht davon aus, dass Sie das wirklich realisieren.
Warum wird hier viel zu wenig getan?

Das Entscheidende ist und bleibt die soziale Un-
gleichheit. Sie setzt sich fort. Ich habe hier vor kurzem
gesagt: Zwischen den Chancen zweier Neugeborener lie-
gen tausend Welten. – Nur, Neugeborenen kann man
noch nichts vorwerfen. Nicht einmal die FDP kann ihnen
Leistungsdefizite vorwerfen;


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


sie sind ja gerade erst herausgekommen und haben noch
nichts gemacht. Ich sage Ihnen: Für linke Politik ist ein
ganz entscheidendes Ziel, Chancengleichheit für Kinder
zu erreichen, und zwar gerade und in erster Linie auch in
der Bildung.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Matschie, was Sie wahrscheinlich nicht mitbe-
kommen haben: Dass der Bund für die Schulbildung
nicht mehr zuständig ist, liegt an einer Grundgesetzände-
rung, mit der der Rest seiner Zuständigkeit gestrichen
wurde. Diese Grundgesetzänderung kam aber nur durch
die Stimmen von Union und SPD zustande; sonst gäbe
es sie gar nicht. Hier wäre also Selbstkritik in jeder Hin-
sicht angesagt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Kooperationsverbot ist übrigens völlig falsch; das
sehen inzwischen selbst Bildungspolitiker der Union so.

Nun möchte ich drei konservative Thesen aufstellen.
Wissen Sie: Ich bin ja nicht konservativ. Aber ich bin ein
Logiker. Ich finde, selbst konservative Thesen müssten
in sich logisch sein.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Ihre erste These lautet: Die Deutschen haben zu we-
nige Kinder. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber eines
weiß ich: Sie haben es nicht handwerklich verlernt.


(Heiterkeit bei der LINKEN)


Das heißt, Sie von der Union müssten einmal über die
Gründe nachdenken.

Ihre zweite These lautet: Wir brauchen einen flexi-
blen Arbeitsmarkt. Das heißt, die Lehrerin und der Ar-
chitekt müssen immer dorthin gehen, wo sie gerade ge-
braucht werden. Sie wohnen also einmal in Thüringen;
wenn sie einen Job in Bayern kriegen, gehen sie nach
Bayern; dann gehen sie nach Schleswig-Holstein, und
dann gehen sie nach Berlin. Sie müssen immer ganz fle-
xibel sein und umziehen.

Jetzt füge ich Ihre beiden Thesen zusammen: Dieses
Paar hat drei Kinder und soll ständig umziehen, weil
beide am Arbeitsmarkt flexibel sein sollen. Erklären Sie
mir doch einmal, wie Ihre dritte These dazu passt: dass
wir Wettbewerb brauchen und deshalb, weil wir
16 Bundesländer haben, 16 verschiedene Schulsysteme
haben. Das heißt, dass sich diese Eltern, die Sie gerade
überall herumschicken, gegenüber ihren Kindern völlig
verantwortungslos verhalten müssen. Bringen Sie doch
wenigstens eine Logik in Ihre Politik! Dann müssten
auch Sie sagen: Das mit den 16 Schulsystemen läuft
nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt will ich es konkret machen: Nehmen wir einmal
an, ein Kind aus Bayern beginnt gerade mit der sechsten
Klasse und zieht nach Berlin um.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Oh! Welch ein großer Abstieg!)


Dieses Kind war schon im Gymnasium und muss in Ber-
lin wieder in die Grundschule gehen – leicht abenteuer-
lich.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Ich würde alles versuchen, es in Bayern zu halten!)


Aber – passen Sie auf! – der umgekehrte Fall ist noch
schlimmer: Ein Kind aus Berlin zieht zu Beginn der
sechsten Klasse nach Bayern, kommt dort auf ein Gym-
nasium und hat im Vergleich mit den anderen Kindern
zunächst gar keine Chance, weil die das Gymnasium
schon ein Jahr lang kennengelernt haben, das Kind aus
Berlin aber aus der Grundschule kommt.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Dann machen Sie doch eine bessere Bildungspolitik in Berlin!)


Jetzt komme ich zum zweiten Beispiel – da sehen Sie
nicht so gut aus –: Ein Kind – sagen wir einmal, es ist in
der neunten Klasse – zieht von Bayern nach Sachsen-
Anhalt. Dieses Kind aus Bayern ist fremdsprachlich et-
was besser ausgebildet. Aber es hat ein Problem: Es
hatte noch nie Chemieunterricht; der beginnt in Bayern
erst in der neunten Klasse. In Sachsen-Anhalt hatten
aber alle Kinder schon seit der siebten Klasse, seit zwei
Jahren, Chemieunterricht. Das heißt, dieses arme Kind
aus Bayern hat wegen Ihres komischen flexiblen Ar-
beitsmarktes überhaupt keine Chance.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


Sagen Sie mal: Was soll dieser ganze Unsinn?


(Beifall bei der LINKEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: In welcher Schule waren Sie denn eigentlich?)


Warum sind wir denn nicht in der Lage, ein Top-Bil-
dungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern
zu schaffen, sodass man umziehen kann, ohne sich ge-
genüber seinen Kindern verantwortungslos zu beneh-
men?


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Man merkt: Sie waren schon lange nicht mehr in einer Schule!)


Jetzt gibt es noch eine neue Perversion – das alles
muss man den Leuten erzählen –: private Agenturen, die
Umziehende bei der Wahl der richtigen Schule unterstüt-
zen.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir doch alle!)


Ich bitte Sie! Wo soll denn das alles enden?


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt kommt eines hinzu: Unsere 16 Bundesländer
sind unterschiedlich finanzstark. Wenn Sie sagen, es sei
reine Ländersache, dann sagen Sie ja, man könne Glück
oder Pech haben. In einem reicheren Bundesland gibt es
vielleicht mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter,
mehr Lehrerinnen und mehr Lehrer, und in einem ärme-
ren weniger. Interessant ist, dass es so direkt nicht funk-
tioniert. Berlin ist vieles,


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Aber leider nicht besonders schlau!)


aber sehr arm im Vergleich zu Bayern. Bayern ist auch
vieles, aber vor allen Dingen deutlich reicher. Trotzdem
wird in Berlin pro Kind für Bildung mehr ausgegeben als
in Bayern. Darüber sollten Sie bei der CSU einmal nach-
denken.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)


– Passen Sie auf! Ich liebe Bayern: schöne Landschaft,
schöne Städte. Ich mag auch München. Aber eine Metro-
pole kennen Sie nicht. Das können Sie nur in Berlin ken-
nenlernen; das ist noch etwas anderes.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wo sind die Vorschläge?)


Das heißt übrigens, dass es bei den Ländern doch
mehr um die Einstellung der Landesregierung zu Bil-
dungsfragen als ums Geld geht, wobei das Geld natür-
lich auch eine Rolle spielt, Herr Matschie. Die Grundge-
setzänderung gab es nur mithilfe der SPD.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Dann haben Sie die Schuldenbremse beklagt. Die
steht im Grundgesetz. Ohne die Stimmen der SPD gäbe
es sie gar nicht; ich muss das einmal ganz klar sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


So, und jetzt, Herr Matschie, werfen Sie es der Frau
Bundesministerin vor und sagen, sie solle das Geld an
die Schulen schaffen und solle dort Sozialarbeiterinnen
und Sozialarbeiter beschäftigen. Ja, toll! Das würde ich
auch sagen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Machen Sie doch mal eigene Vorschläge! Das ist doch Plauderei!)


Aber das Grundgesetz erlaubt das wegen der Änderung,
die Sie katastrophalerweise mitgemacht haben, nicht
mehr.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie sind doch nicht à jour! Sie müssen mal eigene Vorschläge machen!)


– Ich wollte ja, dass Sie sich aufregen. Dass mir das im-
mer wieder gelingt, darauf bin ich schon ein bisschen
stolz.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


Aber nun zu den Hauptschulen. Ich sage Ihnen: Die
Hauptschulen sind ein einziger sozialer Skandal. Ein
Kind, das zur Hauptschule geht, ist schon sozial ausge-
grenzt. Es wird abgeschrieben. Weil der Druck so zu-
nimmt, entscheiden sich jetzt fast alle Bundesländer,
Hauptschulen und Realschulen zusammenzulegen. Ich
sage Ihnen erst einmal, was dabei herauskommt; nur
Beispiele. Wie heißt diese zusammengelegte Haupt- und
Realschule in Deutschland, in den einzelnen Bundeslän-
dern? Sekundarschule oder Mittelschule oder Ober-
schule oder Regelschule oder verbundene Haupt- und
Realschule


(Dagmar Ziegler [SPD]: Was ist denn Ihr Vorschlag? – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Herr Gysi, wo bleibt Ihr Vorschlag?)


oder erweiterte Realschule oder Stadtteilschule oder Re-
gionalschule oder Realschule Plus oder Mittelstufen-
schule? Erklären Sie den Leuten diesen Schwachsinn
einmal! Die wissen ja gar nicht, wohin sie ihre Kinder
schicken sollen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist Ihre Konsequenz? Was ist Ihre Lösung? Was ist Ihr Vorschlag?)


– Ja, das sage ich Ihnen gleich; das kann ich Ihnen gleich
sagen. Zu meinen Konsequenzen komme ich noch.

Die Hauptschülerinnen und Hauptschüler haben es
bei der Zusammenlegung aber nicht leichter, weil sie in
eine Hauptschulklasse kommen und damit genauso aus-
gegrenzt und abgegrenzt bleiben wie früher.

In Sachsen-Anhalt regieren übrigens Union und SPD.
Erstmalig in diesem Jahr ist es dort so, dass die Zahl der
Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss
oder nur mit Hauptschulabschluss größer ist als die Zahl
derjenigen, die mit Abitur abgehen. Das ist neu. Deshalb
sage ich Ihnen: Es wird in Sachsen-Anhalt höchste Zeit,
dass die LINKE regiert.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/ CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Geht es noch tiefer?)


– Ich wusste, dass Sie sich darüber freuen.

In Bayern und in Baden-Württemberg ist das aber
nicht neu. In Bayern und Baden-Württemberg ist das seit
Jahren so. Jetzt sage ich Ihnen nur die Zahl für Bayern
von 2009: Mit Hauptschulabschluss bzw. ohne jeden
Abschluss verließen 44 552 Schülerinnen und Schüler
die Schule und mit Hochschulreife – einschließlich
Fachhochschulreife – nur 33 188. Auch das ist ein Skan-
dal. Es ist der Beginn und die Fortsetzung der sozialen
Ausgrenzung.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708700700

Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Zeit jetzt weit

überschritten.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ohne Vorschläge!)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708700800

Gut, dann sage ich Ihnen als Letztes, was wir brau-

chen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708700900

Noch einen Satz.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708701000

Ein letzter Satz: Wir brauchen bildungsträchtige Ki-

tas, eine Förderung jedes Kindes und Jugendlichen. Wir
brauchen Gemeinschaftsschulen, wie es sie schon in gro-
ßer Zahl in Berlin gibt.


(Lachen bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708701100

Es ist gut, Herr Gysi.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708701200

Bringen Sie auch den Kindern aus reichen Familien

das soziale Leben bei! Isolieren Sie sie nicht, wie Sie das
organisieren.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708701300

Das Wort hat jetzt die Kollegin Priska Hinz von

Bündnis 90/Die Grünen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)


Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Dass ich das einmal von der Seite höre,





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)


(Zuruf von der CDU/CSU: Es kann nur besser werden!)


finde ich irgendwie amüsant. Herzlichen Dank.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gysi, Sie können, wortreich geschickt und rheto-
risch gut, am Redepult ja immer Ungereimtheiten auf-
zeigen, aber leider sind Ihre Vorschläge ganz zum
Schluss dann gemessen daran doch etwas sehr schwach.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie hier ein paar
mehr und besser fundierte Vorschläge machen.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Geben Sie mir drei Minuten!)


Frau Schavan, durch den Bericht werden Verbesse-
rungen aufgezeigt, die es im Bildungswesen gegeben
hat; das ist richtig. In dem Bildungsbericht wird aber
nach wie vor auch aufgezeigt – ich finde, darum sollten
wir uns insbesondere kümmern –, wo in Deutschland
Bildungsungerechtigkeiten bestehen und wo Kinder von
der Teilhabe ausgegrenzt sind. Vor allen Dingen wird
aufgezeigt, dass es auch aufgrund der demografischen
Entwicklung nottut, alle Anstrengungen für Qualifizie-
rung zu unternehmen, und zwar in Bezug auf die ge-
samte Bildungsbiografie, weil wir auf einen Fachkräfte-
mangel zusteuern. Das ist wirklich das Gebot der
Stunde: Qualifizierung von der Kita bis zur Weiterbil-
dung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte hier kurz eine aktuelle Debatte aufgreifen,
weil Sie darauf eingegangen sind, Frau Ministerin, näm-
lich auf das Bildungspaket, über das jetzt gerade im
Zuge der Hartz-IV-Reform verhandelt wird. Die Union
hat das alles damals im Vermittlungsausschuss übrigens
mit ausgehandelt und im Bundesrat mit beschlossen.
Deswegen müssen Sie sich hier nicht so aufplacken.

Viel wichtiger ist aber der Vorschlag, der jetzt von der
Sozialministerin gemacht worden ist. Sie hat nicht nur
einfach die Bildungschipkarte vorgeschlagen, sondern
sie hat schlicht und einfach gedacht und gesagt: 10 Euro
pro Kind für die Vereinstätigkeiten reichen aus. – Für in-
dividuelle Förderung und für Bildungsteilhabe reicht das
aber nicht aus. Es ist notwendig, zu verhandeln, damit
mehr Angebote schulnah gemacht werden können, so-
dass wir zu Bildungspartnerschaften zwischen den Kom-
munen, der Jugendhilfe und den Schulen kommen, damit
die Kinder tatsächlich individuell gefördert werden kön-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hier brauchen wir noch Bewegung; hier müssen Sie
noch etwas dazutun.

Gemäß dem Bildungsbericht befindet sich ein Drittel
der Kinder noch in Risikolagen. Das ist das große Pro-
blem der mangelnden Teilhabe. Wir brauchen hier bes-
sere Kitas, eine gute frühe Förderung und bessere und
noch mehr Ganztagsschulen.

Frau Ministerin, Sie sagen, 52 Prozent der Schulen
seien Ganztagsschulen. 52 Prozent der Schulen haben
Angebote im Ganztagsbetrieb, aber das sind noch keine
Ganztagsschulen in dem Sinne, dass die Vormittage und
Nachmittage verbunden sind und eine echte Lernförde-
rung stattfindet. Hier besteht noch Nachholbedarf. Das
wird aber nur funktionieren, wenn wir es schaffen, dass
Bund und Länder die Finanzierung gemeinsam stem-
men.

In diesem Sinne habe ich mich heute Morgen darüber
gefreut – gestern schon, aber heute Morgen war es öf-
fentlich –, dass Herr Rupprecht im Deutschlandfunk er-
zählt hat, dass die CDU/CSU jetzt auch dafür ist, das
Kooperationsverbot zu lockern. Wunderbar!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Die SPD hat das nicht gefordert!)


Es ist natürlich falsch, dass die Bildungspolitikerinnen
und Bildungspolitiker schon immer gegen das Koopera-
tionsverbot waren. Richtig ist aber – deswegen bin ich
nicht nachtragend –,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir auch nicht!)


dass es gelockert werden muss. Insofern sollten wir jetzt,
da alle Fraktionen im Bundestag dieser Meinung sind,
doch gemeinsam an die Arbeit gehen.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie müssen die Länder überzeugen!)


Lieber Herr Bildungsminister aus Thüringen, Sie soll-
ten dafür sorgen, dass die SPD-Ministerpräsidenten end-
lich auch verstehen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Guter Vorschlag!)


dass man zu einer gemeinsamen Förderung nur kommen
kann, wenn man das Grundgesetz in diesem Punkt auch
gemeinsam wieder ändert. Das ist Ihre Aufgabe. Dazu
haben Sie hier heute leider nichts gesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Da hat sie recht!)


Meine Damen und Herren, wir verschenken Bil-
dungspotenziale bei Migranten in höchstem Maße.
31 Prozent der jungen Menschen mit anderer Herkunft
zwischen 20 und 30 Jahren haben keinen beruflichen
Abschluss. 31 Prozent der 20- bis 30-Jährigen! Das ist
eigentlich ein Skandal für diese Bildungsrepublik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Rupprecht, das hat nichts mit Multikulti zu tun.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sehr wohl auch! Sprachförderung!)






Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

Es hat vielmehr etwas damit zu tun, dass wir geringqua-
lifizierte Menschen ins Land geholt haben und dass es
viele Jahre eine Familienideologie gab, die davon ausge-
gangen ist, dass zum einen die Familien irgendwann
wieder in ihre Heimat zurückkehren und Bildung inso-
fern nicht so wichtig ist und dass zum anderen die Kin-
der nicht den Familien entfremdet werden sollen.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Mangelnde Sprachkompetenz ist das Problem!)


Sie haben sich noch bis ins Jahr 2000 hinein gegen
Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen gesträubt.

Es ist wichtig, dass wir gute Bildungsangebote star-
ten, und zwar von der frühkindlichen Bildung über die
Schule bis zu Ausbildungs- und Weiterbildungsmodulen,
mit denen wir jungen Menschen eine zweite Chance bie-
ten, sich zu qualifizieren und am Erwerbsleben teilhaben
zu können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir verschenken Bildungspotenzial bei Menschen
mit ausländischen Bildungsabschlüssen. Die Ministerin
tourt seit eineinhalb Jahren durch die Bundesrepublik
und kündigt ein Gesetz an, durch das alles besser werden
soll. Inzwischen machen Sie Gott sei Dank keine Ver-
sprechungen mehr in der Frage, wann der Gesetzentwurf
endlich vorgelegt wird. Denn bisher haben Sie jeden Ter-
min platzen lassen und jedes Versprechen gebrochen.

Wir verschenken aber nicht nur Zeit, sondern auch
Bildungspotenzial von Menschen, die qualifiziert sind
und gerne hier in ihrem Beruf arbeiten wollen. Es tut
dringend not, dass Sie endlich zu Potte kommen und uns
einen Gesetzentwurf präsentieren, damit die Qualifika-
tion dieser Menschen endlich anerkannt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt aber auch ein Problem bei Jungen und jungen
Männern, die zum Teil nicht in dem Maße an der Bil-
dungsexpansion der letzten Jahre teilgehabt haben wie
die jungen Frauen. Mädchen sind gut in der Schule;
Frauen sind in der Ausbildung oder im Studium gut.
Junge Männer sind in höherem Maße unterqualifiziert
und ohne beruflichen Abschluss. Ich glaube, dass hier
zielgruppenspezifische Angebote notwendig sind und
dass wir auch einen Gender-Blick auf die Schule richten
müssen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr wahr!)


Wir müssen aber nicht nur für die Jungen im Bil-
dungsbereich etwas tun, sondern wir müssen auch etwas
für die jungen Frauen tun, die gut ausgebildet in den Be-
ruf kommen und dann entweder an die gläserne Decke
stoßen, weil sie nicht ihrer Qualifikation entsprechend
eingesetzt werden, oder nicht weiter arbeiten können,
weil es an den Rahmenbedingungen – Ganztagskinder-
gärten und Ganztagsschulen – fehlt.

Die Familien- und Frauenministerin sagt, dass sie mit
Feminismus nichts am Hut hat. Das mag zwar ihre per-
sönliche Meinung sein, aber es ist ihre Aufgabe, sich für
die Gleichberechtigung von Frauen einzusetzen. Diese
Aufgabe hat sie bislang sträflich vernachlässigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Präsident, ich sehe das Signal. Ich komme zum
Schluss. Schade, ich hätte noch einige gute Vorschläge
zu machen.

Ich hoffe, dass wir den Bildungsbericht nicht nur ein-
mal im Ausschuss behandeln, sondern auch, wie in den
Vorjahren, eine Anhörung dazu durchführen. Er ist es al-
lemal wert, dass wir ihn uns zu Gemüte führen und uns
mit der Frage befassen, welche politischen Handlungs-
möglichkeiten wir aufgrund dieses Berichtes haben und
wo wir bei entsprechenden Vorschlägen zusammenkom-
men können.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708701400

Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1708701500

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und

Herren! Die Ministerin hat in ihrer Rede deutlich ge-
macht, dass es nach zehn Jahren Bildungsreform an der
Zeit ist, Bilanz zu ziehen. Der Dank an die Bildungsbe-
teiligten – Lehrer, Erzieher und andere, die in der Bil-
dung aktiv sind – ist richtig; das muss unterstrichen wer-
den. Es ist aber für uns im Bundestag auch an der Zeit,
nach fünf Jahren Amtszeit der Bildungsministerin
Schavan Bilanz zu ziehen. Es ist eine gute Bilanz mit
großen Erfolgen auch im Bildungsbereich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Als junge Väter – es gibt einige jüngere Väter unter
uns – mussten wir ein bisschen lächeln, als Herr Gysi
das Thema Handwerk mit dem Kinderkriegen kombi-
niert hat. Auch im Bildungsbereich kann man sagen: Es
gibt ein Handwerk guter Bildungspolitik. Großes Mund-
werk – gutes Handwerk: Das unterscheidet uns seit Jah-
ren in der Bildungspolitik. Die Ergebnisse sind auch an-
gekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es geht nicht nur um den Bildungsbericht, über den
wir heute debattieren. Man kann auch auf die PISA-Er-
gebnisse verweisen oder den Berufsbildungsbericht mit
heranziehen. Wenn man sich das Gesamtkonstrukt an-
schaut und sich fragt, was passiert ist, dann muss man
sagen: Seit 2005 haben wir eine sukzessive, deutlich
positive Entwicklung hin zu einer Bildungsrepublik.





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Wenn man sich die Leitlinien der verschiedenen Frak-
tionen hier im Hause anschaut – da wird es doch etwas
politisch –, dann muss man feststellen, dass es deutliche
Unterschiede gibt.


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja hoffentlich!)


Für uns gilt: Mit den Maßnahmen, die wir ergriffen ha-
ben, wollen wir eine Aufstiegsgesellschaft entwickeln,
in der Chancengerechtigkeit mit Leistung kombiniert
wird. Das ist der Unterschied zu Ihrem Bild von Bil-
dung, Herr Gysi. Sie verfechten den Gleichheitsansatz,
Sie wollen Gleichmacherei; wir aber wollen Chancenge-
rechtigkeit und Leistung. Das unterscheidet unsere Leit-
linien im Wesentlichen voneinander. Darin besteht die
Abgrenzung zu Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch wir sind für Teilhabe und für Anerkennung. Die
Kollegin Hinz, mit der ich bald wieder befreundet sein
werde,


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das will ich hoffen!)


sprach vorhin vom Anerkennungsgesetz. Ja, auch wir
warten darauf. Im März möchten wir etwas sehen. In der
Hinsicht sind wir durchaus einer Meinung. Wir wollen
auch – Herr Meinhardt hat das angesprochen –, dass die
Vielfalt im Bildungssystem gestärkt wird und nicht die
Gleichmacherei, wie andere das wollen.

Wenn man das möchte und diesen Weg beschreitet,
muss man zunächst einmal die finanziellen Mittel zur
Verfügung stellen. Ich weiß, dass Sie es nicht mehr hö-
ren können, ich sage es aber trotzdem noch einmal:
12 Milliarden Euro zusätzlich werden bereitgestellt, im
Etat 2011 11,65 Milliarden Euro für den Bereich Bil-
dung. Verzeihung, liebe Opposition: Das sind 54 Prozent
mehr als unter der letzten rot-grünen Regierung. Das ist
ein deutlicher Unterschied. Hierauf haben wir die Priori-
tät gesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Schauen wir uns an, wie sich das Konzept von Chan-
cengerechtigkeit und Leistung in der Politik der Bundes-
regierung konkretisiert! Bei der Vergabe der Bundesmit-
tel werden insbesondere im Hochschulbereich diese
beiden Ziele verfolgt. Ich nenne die BAföG-Erhöhung
und den Hochschulpakt mit den Ländern. Damit wird in
Kooperation mit den Ländern mehr jungen Menschen
die Chance gegeben, zu studieren.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das hat es vorher auch schon gegeben!)


Auch wurde ein nationales Stipendienprogramm aufge-
legt, um deutlich zu signalisieren, dass der Leistungsge-
danke bei uns einen hohen Stellenwert hat. Das sind die
Maßnahmen.

Jetzt kommen wir zum Ergebnis. Die Wirkung der
Maßnahmen war, dass die Studienanfängerquote 2009
43 Prozent betrug.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber doch nicht wegen der Stipendien! Ordne den Geist!)


Damit haben wir die Ziele deutlich übertroffen. Jetzt,
nach fünf Jahren, kann man sagen: Frau Ministerin
Schavan, darauf können wir aufbauen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Richtig ist aber auch, dass wir im Bildungsbereich
– auch das zeigt der Bildungsbericht – weiterhin vor gro-
ßen Herausforderungen stehen. Bleiben wir bei den He-
rausforderungen – da sind wir in diesem Hause weitest-
gehend einer Meinung –: Ein großes Problem ist, dass
jedes dritte Kind unter 18 Jahren in einer Risikofamilie
lebt und wir den Bildungserfolg noch nicht vom sozialen
Status der Familie lösen konnten. Trotzdem sei eine Zahl
genannt – ich beziehe mich auf PISA –: Es geht um
Leistungsunterschiede im Lesen zwischen guten und
schwachen Schülern. Wir haben es geschafft, die Zahl
der schwachen Schüler von 22,6 Prozent auf 18,5 Pro-
zent zu reduzieren. Das sind nach wie vor zu viele, aber
die Reformen wirken allmählich. Das spricht für eine
Verbesserung im Bildungssystem. Oder schauen Sie sich
die Naturwissenschaften an! Der Anteil der Schüler mit
geringen Kompetenzen in den Naturwissenschaften – ich
beziehe mich wiederum auf die PISA-Studie – hat sich
auf 14,8 Prozent reduziert. Der OECD-Durchschnitt
liegt bei 18 Prozent.

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, betref-
fen insbesondere die soziale Herkunft und den Migra-
tionshintergrund. Herr Gysi fragte, was wir denn ma-
chen. Wir machen zwei Dinge: Wir fördern zielgenauer
und früher. Es geht um den Ausbau im Bereich der Kin-
dertagesbetreuung. Man sollte sich die Zahlen einmal
anschauen und diese dann bewerten, Herr Gysi. Wir als
Bund geben 4 Milliarden Euro dafür aus. Schauen Sie
sich den Bildungsbericht an! Die Bildungsbeteiligung
der unter Dreijährigen ist um 7 Prozent gestiegen, bei
den Zweijährigen hat sich die Bildungsbeteiligung von
17 Prozent auf 30 Prozent deutlich erhöht. Mittlerweile
sind 95 Prozent der Vier- und Fünfjährigen in der Bil-
dungseinrichtung Kita.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Und wenn man dann als Minister hier ankommt und
nur die Folie aufzieht: „Wir brauchen mehr Geld; der
Bund muss uns Geld geben, sonst schaffen wir das alles
nicht“, dann muss ich sagen: Man muss auch seine ei-
gene Verantwortung wahrnehmen. Ich kann für mein
Bundesland sagen: Wir haben damals den Etat im Be-
reich der Kindertagesbetreuung von 300 Millionen Euro
auf über 460 Millionen Euro erhöht. Damit haben wir ei-
nen Schwerpunkt gesetzt. Für solche Maßnahmen hat
ein Minister – in diesem Falle ein Senator – die Verant-
wortung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir im Bund haben die Länder bei der frühen Förderung
unterstützt. Wir erwarten von den Ländern aber auch,
dass sie die Maßnahmen umsetzen. Es geht nicht, dass





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

sie das Geld nehmen und gleich neue Forderungen stel-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein nächster Schritt wird sein – das gilt gerade für den
Bereich der frühen Förderung –, von der Quantität zur
Qualität zu kommen. Von der Ministerin wurde bereits
das „Haus der kleinen Forscher“ angesprochen. Die Me-
dienkompetenz wird gestärkt. Ich erinnere daran, dass
400 Millionen Euro über vier Jahre hinweg in die früh-
kindliche Sprachförderung investiert werden. Das heißt,
auch hier hat der Bund Akzente gesetzt, früher und ziel-
genauer zu fördern.

Wir wollen mehr Männer in den Kitas und möchten,
dass die Tagespflege qualitativ ausgebaut wird. Um dies
zu erreichen, haben wir mit dem Aktionsprogramm
„Kindertagespflege“ und dem Programm „Mehr Männer
in Kitas“ bedarfsorientiert und zielgenauer gehandelt.

Auch zu dem großen und umfangreichen Bereich des
Ausbildungsmarktes könnte man noch Stellung nehmen.
Die Verlängerung des Ausbildungspaktes, in den wir das
Thema Migration aufgenommen haben, zeigt, dass wir
die Probleme und Herausforderungen erkannt haben und
dass wir sie sukzessive lösen bzw. dass wir uns ihnen
stellen.

Bleibt als Fazit – Herr Präsident, ich komme zum
Schluss –: Dieser Bildungsbericht dokumentiert stärker
als alle anderen Bildungsberichte, dass wir in der Bun-
desrepublik in der Bildung insgesamt vorangekommen
sind. Da haben auch die Länder gut gearbeitet. Er doku-
mentiert aber eines insbesondere, nämlich dass wir in
den letzten fünf Jahren auf Bundesebene neue Impulse
hin zu einer Aufstiegsgesellschaft erlebt haben. Die
Bundesregierung wird diesen Weg weitergehen, aller-
dings nicht im Sinne der Opposition, sondern im Sinne
der jungen Menschen. Ihnen müssen wir über Leistungs-
und Chancengerechtigkeit eine Chance geben. Diesen
Weg werden wir weitergehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708701600

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der

Kollegin Dr. Rosemarie Hein von der Fraktion Die
Linke.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708701700

Herr Weinberg, Sie haben gerade die Leistungsgerech-

tigkeit angesprochen und uns vorgeworfen, wir seien für
Gleichmacherei. Nun muss ich Ihnen aber sagen: Das
Schulsystem, das Sie präferieren, bietet weder Leistungs-
gerechtigkeit, noch ist es chancengerecht; es ist nicht ein-
mal chancengerecht und chancengleich schon gar nicht.
Wenn nämlich ein Viertel der Hauptschülerinnen und
Hauptschüler und ein Viertel der Realschülerinnen und
Realschüler genauso gut auf der jeweils höheren Schul-
form sein könnte, wie die PISA-Studie dies nachweist,
dann hat das mit Leistungsgerechtigkeit überhaupt nichts
zu tun. Wenn man aber in einer Gemeinschaftsschule, wo
man nach der vierten Klasse nicht aussortiert und ent-
scheidet, wen man hierhin oder dorthin verortet, eine
wirklich individuelle Förderung einführt, dann ist das
keine Gleichmacherei, sondern ein ganz individuelles
Eingehen auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und
Möglichkeiten jedes einzelnen Kindes. Das ist viel weni-
ger Gleichmacherei als das, was Sie mit Ihren drei Schul-
formen machen.

Was die frühe Förderung und Ihren Vorschlag betrifft,
man müsse jetzt von der Quantität zur Qualität kommen
– einmal abgesehen davon, dass uns auch bei der Quanti-
tät noch ein ganzes Stück fehlt –, gebe ich Ihnen selbst-
verständlich recht. Aber das werden Sie nicht mit
Sprachförderungsprogrammen hinbekommen, sondern
das bekämen Sie nur mit mehr besser ausgebildeten Er-
zieherinnen und Erziehern hin. Zwar hat die CDU/CSU
im letzten Haushalt ein Programm für mehr Erzieher in
Kindertagesstätten aufgelegt, aber unseren Vorschlag,
das auch für Erzieherinnen zu tun, haben Sie gestern im
Ausschuss abgelehnt. Da frage ich Sie schon, wie Sie
das mit der Qualität meinen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708701800

Herr Kollege Weinberg, zur Erwiderung.


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1708701900

Als Hamburger – dort wollten wir einmal eine Schul-

form mit einer sechsjährigen gemeinsamen Schule auf
den Weg bringen – kann ich nur Folgendes sagen: Hin-
sichtlich der Einheitsschule muss man die Frage stellen,
wie man im Bildungsbereich mit Heterogenität in der Ge-
sellschaft, mit Migration und mit immer weiter auseinan-
derklaffenden Bildungsbiografien umgeht. Da ist der An-
satz falsch, zwanghaft zu sagen, alle Kinder müssten in
einer Einheitsschule unterrichtet werden. Vielmehr muss
man sie individueller fördern. Da stimme ich Ihnen zu; da
sind wir gar nicht weit auseinander.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dann entwickeln sich doch Schulsysteme.


(Zuruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Als Hamburger kann ich sagen: Wir haben noch eine
Zweigliedrigkeit. Wir haben eine sogenannte Stadtteil-
schule – Herr Gysi hat es dankenswerterweise vorgele-
sen –, und wir haben auch das Gymnasium. Es gelingt
uns bestens, die Heterogenität der Gesellschaft genau in
diesen Schulformen widerzuspiegeln, auch bei der Frage
von Talenten und Begabungen. Deswegen muss man
aber nicht zwanghaft Einheitsschulen entwickeln, nur
weil man das Motto hat: Ich will Gleichheit schaffen, wo
keine Gleichheit ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sprachen von Chancengerechtigkeit. Die Grund-
lage für Chancengerechtigkeit wird im frühkindlichen
Bereich geschaffen. Da muss man mehr investieren, und
da braucht man auch mehr Qualität. Zwar ist auch mehr
Quantität erforderlich, aber im frühkindlichen Bereich





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

braucht man in den nächsten Jahren zunächst einmal
mehr Qualität, um später Chancengerechtigkeit zu er-
möglichen.

Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher haben
Sie selbst angesprochen. Die Bundesregierung hat
Programme aufgelegt, um auch die Länder dabei zu
unterstützen, so beispielsweise das Aktionsprogramm
„Kindertagespflege“, dessen eine Säule sich auf die Qua-
lifizierung in der Kindertagespflege bezieht.

Wir alle haben im Ausschuss eines gesagt: Wir disku-
tieren gerne darüber, wie wir den Ländern finanzielle
Mittel bereitstellen und wie wir sie mit Kooperationen
unterstützen können. – Das alles ist richtig. Aber eines
muss man auch sagen: Die Länder haben weiterhin die
Verantwortung. Alle Fraktionen – außer Ihrer Fraktion –
haben das hinsichtlich Ihres Antrags auch kritisch be-
merkt. Wir wollen, dass die Länder sich an diesem Punkt
einbringen, dass sie Geld investieren. Wir, der Bund,
werden das Ganze weiterhin begleiten und zielgenau för-
dern; aber wir sind nicht diejenigen, die kompensato-
risch Aufgaben der Länder übernehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708702000

Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1708702100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat, der
Bildungsbericht zeigt, dass wir wesentliche Verbesse-
rungen im Bildungswesen erreicht haben; das muss man
als Allererstes positiv bemerken. Das ist zunächst das
Verdienst all derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die
sich im Bildungswesen engagieren,


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


in Kitas, in Schulen, in Hochschulen, bei der beruflichen
Ausbildung. Ihnen gebührt zuallererst unser Dank.


(Beifall bei der SPD)


Der Bildungsbericht ist ein Stück weit eine politische
Bilanz, und zwar in erster Linie der Arbeit der Großen
Koalition; schließlich können die Daten, die in diesem
Bildungsbericht verarbeitet werden, so frisch, so aktuell
nicht sein. Darin zum Ausdruck kommen auch Weichen-
stellungen, die wir unter Rot-Grün vorgenommen haben.
Zu der Bilanz gehört das, was gut gelaufen ist, aber auch
das, was mit neuen Herausforderungen verbunden ist,
bzw. all die alten Probleme, die wir noch nicht ganz lö-
sen konnten.

Die Debatte über einen solchen Bildungsbericht ist
der richtige Zeitpunkt, um Schritt für Schritt zu prüfen,
was die neue Regierungskoalition von CDU/CSU und
FDP tut, um den beschriebenen Herausforderungen ge-
recht zu werden. Das will ich einfach einmal systema-
tisch tun.

Es wird der Bereich der frühkindlichen Bildung ange-
sprochen. Der Bericht würdigt Verbesserungen. Diese
Verbesserungen haben wir unter Rot-Grün begonnen und
in der Großen Koalition fortgeführt. Dieser Bericht be-
sagt – ich zitiere –:

Um das Ziel eines bundesdurchschnittlichen Platz-
angebots von 35 Prozent für unter 3-Jährige bis
2013 zu erreichen, sind allerdings noch erhebliche
Anstrengungen notwendig … Insgesamt müssen …
weitere Qualitätsverbesserungen der Kindertages-
einrichtungen erreicht werden.

Wir haben entsprechende Konzepte. Wir wollen mehr
und verbesserte frühkindliche Bildung. Wir wollen zum
Beispiel eine gebührenfreie Kindertagesstätte, damit
keine Hürden aufgebaut werden. Was macht die Regie-
rungskoalition von CDU/CSU und FDP? Fast nichts
über das hinaus, was wir in der Großen Koalition verein-
bart haben. Das Einzige, worauf sie besonders Wert legt,
ist das berühmte Betreuungsgeld. Ich will noch einmal
sagen: Das ist wirklich Irrsinn.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wollen Eltern dafür Geld geben, dass sie ihre Kinder
nicht in eine Bildungseinrichtung schicken. Das ist der
falsche Weg. Frau Schavan, Herr Kollege Weinberg,
wenn Sie sagen, wie wichtig die frühkindliche Bildung
ist, dann frage ich Sie: Warum schreiten Sie an dieser
Stelle nicht ein? Warum verfolgen Sie da keinen ver-
nünftigen Kurs?


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Stichwort „Schule“: Es gibt eindeutig Verbesserun-
gen; das hat auch die PISA-Studie, die wir bereits debat-
tiert haben, gezeigt. Wir haben unter Rot-Grün ein Ganz-
tagsschulprogramm auf den Weg gebracht, das erheblich
dazu beigetragen hat. Gleichwohl gibt es noch einiges zu
tun. Im Bildungsbericht heißt es:

Eine zentrale Herausforderung bleibt der nach wie
vor zu hohe Anteil an Schülerinnen und Schülern,
die ohne Abschluss die Schule verlassen.

Etwa ein Drittel der Kinder sind in sogenannten Risiko-
lagen. Wir von der SPD wollen dahin kommen, dass
wirklich alle optimal gefördert werden.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben vorgeschlagen, dass es an allen Schulen
Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter geben
soll. Wir wollen hin in Richtung Ganztagsschulen.

Was macht diese Regierungskoalition? Sie verweigert
sich dem.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, absolut!)


Wir sehen das jetzt gerade im Vermittlungsausschuss:
Die zuständige Ministerin von der Leyen blockiert





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)

Schulsozialarbeit. Ich habe Sie, Frau Schavan, im letzten
Jahr im Ausschuss gefragt: Was ist mit dem Thema
Ganztagsschulen? Planen Sie da eine Initiative? Sie ha-
ben gesagt: Nichts gibt’s. – Das ist Arbeitsverweigerung.
Das kann so nicht bleiben.


(Beifall bei der SPD)


Stichwort „berufliche Ausbildung“: Es gibt eine Ent-
spannung auf dem Ausbildungsmarkt. In diesem Bericht
heißt es zu Recht:

Die Verbesserung der Ausbildungsmarktsituation
gibt allerdings keinen Anlass zur Entwarnung.

Insofern haben politische Bemühungen um berufliche
Integration der Jugendlichen nichts an Aktualität einge-
büßt. Wir von der SPD haben noch mit unserem damali-
gen Arbeitsminister Olaf Scholz die Förderung, die Un-
terstützung von Jugendlichen, die in Schwierigkeiten
sind, ausgeweitet. Wir haben ein Recht auf das Nachho-
len eines Schulabschlusses verankert. Was macht diese
Regierungskoalition? Sie streicht die Qualifizierungs-
maßnahmen zusammen, und sie will das Recht auf
Nachholen eines Schulabschlusses kippen. Das ist der
falsche Weg. Das sind Rückschritte. So kommen wir in
der Bildungsrepublik Deutschland nicht voran.


(Beifall bei der SPD)


Mein nächster Punkt – man kann das tatsächlich
Punkt für Punkt durchdeklinieren – ist die Hochschule.
Es gibt mehr Studierende. Das ist wunderbar. Wir haben
auch einiges dafür getan. Für die Ausweitung des
BAföG und den Hochschulpakt haben wir in der Großen
Koalition die Weichen entsprechend gestellt. Aber zu
Recht wird im Bildungsbericht darauf hingewiesen, dass
es eine soziale Selektivität beim Übergang in die Hoch-
schule gibt.

Ein großer Teil der … Studienberechtigten, die sich
gegen ein Studium entscheiden, betont neben dem
Wunsch, möglichst bald selbst Geld zu verdienen,
vor allem Finanzierungsprobleme … Hier zeigt
sich, wie wichtig verlässliche Bedingungen der Stu-
dienfinanzierung sind.

Deswegen wollen wir das BAföG deutlich ausweiten.


(Beifall bei der SPD)


Sie kleckern beim BAföG, klotzen aber bei den Stipen-
dien, obwohl diese keine verlässlichen Rahmenbedin-
gungen setzen.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie haben zehn Jahre nichts gemacht!)


Damit locken Sie niemanden, der finanzielle Schwierig-
keiten hat, an die Hochschulen. Damit lösen Sie keine
Probleme.

In den letzten Jahren ist im Bildungsbereich tatsäch-
lich eine ganze Menge erreicht worden. Doch anstatt da-
ran anzuknüpfen, anstatt weiterzumachen, steuern CDU/
CSU und FDP zusehends in die falsche Richtung. Ich
will gar nicht sagen, dass alles schlecht ist, was Sie ma-
chen; das wäre übertrieben.

(Patrick Meinhardt [FDP]: Für einen Sozialdemokraten ist das ein ganz großes Lob!)


– Ja, ich möchte ganz fair Bilanz ziehen. Aber von dem
Richtigen machen Sie zu wenig, etwa beim BAföG, teil-
weise machen Sie nichts – Thema Schulsozialarbeit und
Ganztagsschule –, und leider machen Sie häufig das Fal-
sche wie beim Betreuungsgeld und dem Streichen der
Mittel für das Projekt „Zweite Chance“.

Sie betonen, dass Sie eine Menge Geld im Etat zur
Verfügung haben. Aber dieses Geld muss auch richtig
ausgegeben werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708702200

Herr Schulz.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1708702300

Wir fürchten, dass Sie das gute bildungspolitische

Erbe schlichtweg verschleudern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Uwe Schummer [CDU/ CSU]: Die Befürchtung ist unbegründet!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708702400

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1708702500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist

schon erstaunlich, dass man heutzutage immer noch
denkt, dass man Schule ganz von oben, ganz zentral und
ganz allein regulieren kann. Ich denke, das ist effektiv
der falsche Weg. Im Moment haben wir 16 Bildungs-
monarchien. Auch wenn wir eine einzige hätten – diesen
zentralen Ansatz hat Herr Gysi vorgestellt –: Ich kann
mir nicht vorstellen, dass ein solches Vorgehen wirklich
erfolgreich sein kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist Quatsch! Das hat er nicht gesagt!)


Der Nationale Bildungsbericht bringt ein bisschen
Licht, aber auch nicht mehr, in den Dschungel des deut-
schen Bildungssystems. Diese aktuelle Bestandsauf-
nahme zur Entwicklung des Bildungswesens macht
deutlich, vor welchen großen Herausforderungen wir an-
gesichts des demografischen Wandels stehen. Bis 2025
wird sich die Zahl der Schüler um 15 Prozent verringern,
das heißt von 9 auf 7,3 Millionen fallen. In den Bal-
lungsgebieten wird die Zahl vielleicht etwas steigen, in
den ländlichen Gebieten hingegen wird sie dramatisch
sinken.

Diese Entwicklung ist aber nicht nur in Deutschland
zu beobachten. Das Institut der deutschen Wirtschaft
schrieb in dieser Woche:

Zu den Megatrends, die für eine international stark
verflochtene Volkswirtschaft wie die deutsche merk-
liche ökonomische Auswirkungen haben, zählen





Sylvia Canel


(A) (C)



(D)

Wachstum und Alterung der Weltbevölkerung so-
wie die Urbanisierung.

Die Schlussfolgerung lautet dementsprechend:

Volkswirtschaften und Unternehmen, die sich recht-
zeitig darauf einstellen, werden zu den Gewinnern
der Entwicklung gehören.

Ich möchte gerne, dass Deutschland zu den Gewinnern
gehört.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wie stellen wir uns darauf ein? Der Nationale Bil-
dungsbericht hat uns deutlich gezeigt, dass es positive
Ansätze gibt. Ich will sie nicht alle wiederholen, ich
habe auch nicht so viel Zeit. Es besteht jedoch deutlicher
Handlungsbedarf: Zwar haben wir auf der einen Seite
Fahrt aufgenommen und die Richtung stimmt, aber auf
der anderen Seite hat die Zahl der Ungelernten einen
neuen Höchststand erreicht. Das ist ein großes Problem.
Der Abstand zwischen denen, die bestehende Angebote
nicht annehmen und nicht erfolgreich nutzen können,
und den anderen, die Erfolg haben, wächst stetig, das
heißt, wir haben eine edukative Schere, die stetig aus-
einandergeht. Das können und das wollen wir uns in un-
serer Gesellschaft nicht leisten.

Der frühkindlichen Bildung kommt dabei eine ganz
besondere Rolle zu; denn die Potenziale aller Kinder
müssen genutzt werden, und jedes, absolut jedes Kind
hat ein Talent. Frühkindliche Bildung muss qualitativ
und quantitativ gestärkt werden. Hier liegt der Schlüssel.
Denn ob Sprache, Bewegung, Musik, Gestaltung oder
Erziehung: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans schwe-
rer, länger und manchmal überhaupt nicht mehr.

Erfreulicherweise weist der Bildungsbericht für die-
sen Bereich eine starke Dynamik aus. Dennoch deckt
das Angebot nicht die Nachfrage. Die Qualität ist stark
zu verbessern. Außerdem erhöht sich das Alter der täti-
gen Fachkräfte weiter, während der Akademisierungs-
grad leider gering bleibt. Der weitere Ausbau stellt daher
auch künftig eine der größten Herausforderungen für
diese Gesellschaft dar. Denn: Wir haben für alles Geld,
aber in der frühkindlichen Bildung kommt es komischer-
weise überhaupt nicht an.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer es mit der Chancengerechtigkeit, der Emanzipa-
tion und der Wissensgesellschaft ernst meint, kommt
nicht umhin, die frühkindliche Bildung zu professionali-
sieren und endlich zu einem exzellenten Bildungsange-
bot auszubauen.

Meine Damen und Herren, das Kooperationsverbot
hat eine ganz komische Attitüde. Kooperationsverbot
heißt nicht, dass die Länder untereinander nicht koope-
rieren dürfen und zu Gemeinsamkeiten kommen können.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Länder schon!)

So hat es 60 Jahre gedauert, gemeinsame Bildungsstan-
dards in der KMK zu entwickeln. Mit dieser Geschwin-
digkeit können wir nicht erfolgreich sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb müssen wir in der Zukunft – meines Erachtens
sollten wir in die Zukunft schauen, anstatt uns gegenseitig
vorzuwerfen, was in der Vergangenheit versäumt worden
ist – eine bessere Kooperation ermöglichen. Wir sollten
Verbote aufheben und diese Kooperation nutzen, um ei-
nen gemeinsamen nationalen Rahmen in Bezug auf die
Bewertungsmaßstäbe, die Abschlussziele und die Bil-
dungsstandards, die wir von den Schulen und allen ande-
ren Akteuren verlangen, zu entwickeln.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Herr Meinhardt dazu?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708702600

Frau Canel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-

legin Dr. Sitte?


Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1708702700

Ja, später; danach.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708702800

Nein, später ist das nicht mehr möglich, weil Ihre Re-

dezeit abgelaufen ist. Entweder jetzt oder gar nicht!


Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1708702900

Na gut; wenn Frau Sitte das möchte, dann gerne.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist Ihre Chance, noch ein bisschen zu reden!)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708703000

Frau Canel, das ist nur ein Anfang, aber noch nicht

die Lösung. Sie haben jetzt über das Kooperationsverbot
und dessen Grenzen gesprochen. Ich hatte heute Morgen
das Vergnügen, Herrn Rupprecht, den bildungspoliti-
schen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, zum Thema
Kooperationsverbot zu hören. Er meinte, das Koopera-
tionsverbot habe sich nicht bewährt. Jetzt sprechen Sie
die gleiche Problematik an. Kann ich also davon ausge-
hen, dass in dieser Wahlperiode von der Koalition das
Kooperationsverbot gemeinsam mit den anderen Frak-
tionen hier aufgehoben wird?


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wenn die Länder mitziehen!)



Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1708703100

Ich denke, dass das einer Debatte in diesem Hause be-

darf.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir gerne! Wir stellen sofort einen Antrag! Das ist kein Problem!)


(B)






Sylvia Canel


(A) (C)



(D)(B)

Ich stehe hier in erster Linie für mich sowie meine AG
Bildung und sage das, was ich als unabhängige Abge-
ordnete hier auch sagen darf.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Dann machen Sie mal weiter!)


– Ja, gerne. – Für vernünftige Lösungen erwarten wir na-
türlich auch Ihre Unterstützung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708703200

Dann kommen Sie bitte auch zum Schluss, Frau

Canel.


Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1708703300

Es ist sehr erfreulich, dass wir in diesem Punkt zuei-

nanderkommen. Es darf kooperiert werden. Die Hoheits-
rechte der Länder für die Bildung dürfen selbstverständ-
lich nicht angetastet werden, weil wir die Länder
brauchen, um eine gute Qualität sicherzustellen und bil-
dungsnah dort an den Problemen ansetzen zu können,
wo sie wirklich anfangen.

Außerdem ist – das haben wir im OECD-Bildungsbe-
richt gelesen – ganz dringend eine Eigenständigkeit der
Schulen erforderlich.

Vielen Dank. Bis zum nächsten Mal!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708703400

Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Julia Klöckner (CDU):
Rede ID: ID1708703500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

bildungspolitische Eifer der unterschiedlichen Bundes-
länder hat wahrscheinlich eine Ursache. Die Bildung ist
nämlich das letzte – und wichtigste – Feld, das den Län-
dern überhaupt geblieben ist.

Natürlich führt das zu einigen Blüten. Schauen wir
einmal in mein Bundesland.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Vorbildliches Bundesland!)


In Rheinland-Pfalz geht es ständig um Strukturdebatten.
Eine Strukturreform wird von der nächsten gejagt. Bei-
spielsweise wird die Hauptschule abgeschafft. Dabei
führt man aber keine besseren Strukturen ein. Vielmehr
macht man aus der Hauptschule die Realschule plus. Die
Klassenmesszahl erhöht sich. Es gibt nicht genügend So-
zialarbeiter und keine Aufstockung. Das ist die Proble-
matik, mit der wir es zu tun haben.

Ich komme auf ein Thema zurück, das schon ange-
sprochen wurde. Wenn es um Bildungsinhalte geht,
muss man sich um das kümmern, was wirklich wichtig
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unsere Chance liegt darin, dass wir gemeinsam das auf-
greifen, was Ministerin Schavan vorgeschlagen hat,
nämlich Deutschland Schritt für Schritt – also nicht von
heute auf morgen – zu einem Bildungsland zu machen,
wo der Umzug in ein anderes Bundesland nicht die Wir-
kung hat, als würde man den Kontinent verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was ist mit dem Kooperationsverbot?)


Das ist eine große Chance. Die einzelnen Länder müssen
natürlich darauf achten, dass sie zunächst einmal ihre ei-
genen Hausaufgaben machen. Bevor also die SPD-Län-
der fordern, dass der Bund einheitliche Standards vorge-
ben soll, sollten sie zunächst ihre Hausaufgaben machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich schaue wieder nach Rheinland-Pfalz. Die Landes-
regierung weigert sich als Einzige, vergleichbare einheit-
liche Abschlüsse anzubieten


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Unglaublich!)


und sich gegenüber Anliegen der Arbeitgeber offen zu
zeigen. Für die Arbeitgeber gleicht es nämlich manch-
mal einem Lotteriespiel, sich auf die vermeintliche Qua-
lifikation des Absolventen zu verlassen. Sie wissen
nicht, ob das Wissen, das mit dem Abschluss bescheinigt
wird, auch tatsächlich vorhanden ist. Es ist aber nicht
Aufgabe der Kammern und der ausbildenden Unterneh-
men, den Auszubildenden den Dreisatz sowie lesen und
schreiben beizubringen. Wenn wir unter Beachtung der
Subsidiarität, also einer Sichtweise von unten nach oben,
nicht bereit sind, uns dem Vergleich zu stellen,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wären Sie doch in der Landwirtschaft geblieben!)


dann handelt es sich bei den Reden hier im Deutschen
Bundestag nur um Fensterreden. Sie lassen sich hier für
Ihre Ideen feiern, aber blockieren in Ihren Bundeslän-
dern letztlich das, was Fortschritt schafft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist nur eine Wahlkampfrede!)


Was letztlich zählt, ist das, was herauskommt. Es geht
nicht um die Struktur. Denn es ist doch unerheblich, wie
der betreffende Schultyp heißt. Wichtig ist vielmehr, was
in der Schule passiert. Es ist wichtig, was am Ende he-
rauskommt. An die Adresse des selbsternannten Logikers
Herrn Gysi – ich sollte vielmehr sagen: Logistikers – will
ich sagen: Herr Gysi, tauschen Sie doch einmal Ihre Lo-
gik gegen eine allgemeingültige Logik. Wenn Berlin pro
Schüler mehr Geld ausgibt als Bayern, aber dennoch we-
niger dabei herauskommt, dann heißt die Gleichung
doch:


(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Wo die Roten ihre Ideologie hineinstecken, kommt trotz
mehr Geld nicht mehr heraus. Das ist doch die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Julia Klöckner


(A) (C)



(D)(B)

Herr Matschie hat heute als Kultusminister im Deut-
schen Bundestag gesprochen. Er hat aber nicht über Bil-
dung, sondern über Geld geredet und angekündigt, dass
sein Bundesland in den kommenden Jahren weniger
Geld für Bildung ausgeben wird.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber kein Wunder!)


Das ist nicht in Ordnung; das ist nicht richtig. Sozusagen
mit Schallgeschwindigkeit immer nach Berlin zu
schauen, zeigt, dass Sie überfordert sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In dieser Überforderung liegt die Chance der unions-
regierten Länder. Ich bedanke mich bei den Unionslän-
dern – sei es Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oder
Sachsen –, die sich darauf geeinigt haben, gemeinsam
ein Abitur zu entwickeln, das vergleichbar ist.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hessen ist nicht dabei! Das ist schon wieder falsch!)


Wir wollen gemeinsam Bildungsstandards entwickeln.
Wer das nicht will, will auch nicht die Bildungsrepublik
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich bin für einheitliche, vergleichbare Standards. Es
geht nämlich um den Rucksack, der den Kindern für ein
Leben mit gleichen Chancen gepackt wird. Aus diesem
Grund ist die Bildungspolitik keine Spielwiese für das
Ausprobieren von Ideologien.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ah ja! Ausgerechnet Bayern! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das fällt auf Sie zurück! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aber in Thüringen regiert die CDU!)


Es geht jetzt um die Frage, wie wir es schaffen, dass
das, was für Kinder angedacht wird, auch bei ihnen an-
kommt. Wer das Bildungspaket blockiert – Bildung ist
mehr, als nur in die Schule zu gehen – und auf Kosten
der Kinder Parteipolitik betreibt,


(Lachen des Abg. Klaus Hagemann [SPD])


dem geht es nicht um die Sache, sondern um die Wir-
kung und um Muskelspiele im Bundesrat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen doch nur Wahlkampf! Und dann noch schlecht dazu! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie auch das Kooperationsverbot aufheben?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zukunft der
Kinder entscheidet sich nicht erst in der Schule. Die Zu-
kunft der Kinder entscheidet sich bereits im Kindergar-
ten und in den Kindertagesstätten.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Deshalb wollen Sie das Betreuungsgeld?)

Deshalb ist es wichtig, dass wir bei den Kindern schon
im frühen Alter verbindliche Sprachtests einführen. Das
gilt nicht nur für Kinder aus Migrantenfamilien, sondern
für alle Kinder. Ich schlage vor, dass dies ab dem vierten
Lebensjahr geschieht, damit man zwei Jahre vor der Ein-
schulung noch genügend Zeit hat, um kontinuierlich,
aber vor allen Dingen auch individuell fördern zu kön-
nen. Die Kinder sollen in der ersten Klasse nicht erst
Sprachhindernisse überwinden müssen, bevor mit dem
Vermitteln des Lehrinhalts begonnen werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Da müssen Sie sich öffnen. Herr Gysi, hier wünsche ich
mir, dass Berlin auf Rheinland-Pfalz einwirkt. Rhein-
land-Pfalz hatte einen Bildungsminister, der nach Berlin
gegangen ist. Dort hat er Sprachtests ab dem Alter von
drei Jahren eingeführt, während das in Rheinland-Pfalz
abgelehnt wird, weil das menschenverachtend sei. Ich
muss sagen: Man muss sich auf eine Richtung einigen.
Ich finde es kinderunterstützend, sich darauf einzulas-
sen, sie frühzeitig zu befähigen, dem Unterricht folgen
zu können.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie für oder gegen das Betreuungsgeld? – Weitere Zurufe von der SPD)


Wir stellen fest, dass gerade in SPD-regierten Län-
dern die Ausgaben der Eltern für Nachhilfe immens
hoch sind.


(Zuruf von der SPD: Wo steht das denn?)


– In Rheinland-Pfalz zahlen die Eltern 40 Millionen
Euro für Nachhilfe. – Wir sind dafür, dass die Bil-
dungschancen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhän-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Absurd! Echt absurd!)


Ich danke zum Schluss allen Erzieherinnen und Erzie-
hern. Ich danke den Lehrern. Sie haben es nicht immer
einfach.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Wenn etwa der Ministerpräsident aus Rheinland-Pfalz
sagt, er habe dienstags schon das gesamte Pensum er-
reicht, das Lehrer in der ganzen Woche machen,


(Zuruf von der SPD: Wahlkampfrede!)


ist das unanständig. Ich schaue auf die Schüler, die mor-
gen ihre Halbjahreszeugnisse bekommen. Ich wünsche
ihnen alles Gute und eine bessere Bildungspolitik.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Gut, dass Sie bald Oppositionsführerin in Rheinland-Pfalz werden! – Weitere Zurufe)







(A) (C)



(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708703600

Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1708703700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Klöckner, jeder hat durchschaut, was
Ihre Absicht war.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Rheinland-Pfalz besser zu machen!)


Ich glaube, der gemeinsame Wunsch im Hause war: Wä-
ren Sie doch im Verbraucherministerium weiterhin für
dioxinbelastete Eier zuständig geblieben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Selbst das klappt nicht!)


Weil Sie immer über Rheinland-Pfalz gesprochen ha-
ben, möchte ich nur folgende kleine Anmerkung ma-
chen: Rheinland-Pfalz ist bundesweit dafür bekannt,
dass es den Spitzenplatz beim Krippenausbau einnimmt,
dass es kostenfreie, frühkindliche Bildung hat,


(Otto Fricke [FDP]: Immer gemessen an der Ausgangslage!)


dass es mehr Ganztagsschulen als viele andere Bundes-
länder hat,


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Mit dem Geld aus Baden-Württemberg!)


dass es die Umgestaltung des Schulsystems im Konsens
erreicht hat. Deshalb nehmen Sie es mir bitte bei allem
Charme, um den Sie sich bemüht haben, nicht übel,


(Beifall des Abg. Klaus Hagemann [SPD] – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


wenn ich sage: Im Bundestag haben wir die satisfak-
tionsfähige Diskussion im Spannungsfeld zwischen Frau
Schavan und Herrn Gysi.

Ich komme auf zwei aus dem Bildungsbericht abge-
leitete Fragestellungen von Frau Schavan und von Herrn
Gysi zu sprechen: Erstens ist Bildung bei uns immer
noch an soziale Verhältnisse gekoppelt. Zweitens haben
wir in Deutschland komplexe Bildungsorganisationsver-
hältnisse zwischen Bund und Ländern.

Zum ersten Punkt hat Kollege Schulz herausgearbei-
tet, was Konsens werden kann: Natürlich muss frühkind-
liche Bildung vor allen Dingen in Bezug auf Kinder mit
Einwanderungshintergrund qualifiziert und ausgebaut
werden. Er hat ausgeführt, dass wir die Chance haben,
jetzt bei der Schulsozialarbeit und dem Ganztagsschul-
ausbau große Schritte voranzukommen. Er hat noch ein-
mal gesagt – auch das zeigt der Bildungsbericht auf –,
dass in der Lebensbiografie die berufliche Bildung nicht
von der Weiterbildung abgekoppelt sein darf. Wir haben
nicht die Zeit, nur über gute Primärausbildung zu ver-
nünftigen Ergebnissen zu kommen. So weit die klare
Zielrichtung, die wir hoffentlich nicht nur parteiintern,
sondern auch parteiübergreifend haben.

Aber jetzt zum Zweiten: Ich fand es bemerkenswert,
Frau Schavan, dass Sie durchaus auch das Mobilitätspro-
blem in Deutschland ansprachen. Es geht um – um ein-
mal Zahlen zu nennen – 100 000 Kinder, die Jahr für
Jahr von einem Bundesland in ein anderes umziehen.

Herr Gysi, Sie haben das sehr beredt im Detail ausge-
führt. Aber die Antwort auf die Frage nach möglichen
Verbesserungen sind Sie schuldig geblieben. Deshalb
nehme ich gern auf, was Frau Schavan gesagt hat: Wir
registrieren positiv, dass es gemeinsame Bildungsstan-
dards gibt, die vertieft werden. Es wird auch eine Ent-
wicklung hin zu gemeinsamen Prüfungspools geben. Es
wird aber aufgrund unserer föderativen Verfasstheit mit
16 Bundesländern und verschiedenen Ferienregelungen
in Deutschland keinen Zentraltag für das Abitur geben
können.

Wenn wir gemeinsame Qualitätsstandards und ge-
meinsame Prüfungspools haben, ergeben sich zwei of-
fene Fragen: Weshalb haben wir nicht auch einen Kon-
sens in Bezug auf die Schulstrukturen? Da hat Herr Gysi
recht: Wer oft umzieht, erlebt bei 16 Bundesländern
100 verschiedene Schultypen.

Wir Sozialdemokraten bieten an, was in Hamburg
nicht durch Bürgerentscheid abgeschafft worden ist,
nämlich das Zweiwegemodell mit dem Gymnasium mit
G 8 und der Stadtteilschule mit G 9. Dieses Zweiwege-
modell beinhaltet also zwei Schularten, die alle Ab-
schlüsse anbieten. Bei den Abschlüssen gibt es zwar
durchaus noch Differenzierungen, sie sind aber nicht
mehr hierarchisch zu verstehen. Es wäre eine Chance,
wenn wir nicht nur gemeinsame Bildungsstandards und
Prüfungspools, sondern auch das Zweiwegemodell als
im Konsens vereinbarte Struktur hätten. Aktuell schei-
tert das noch daran, dass, um es polemisch auszudrü-
cken, die „Lega Süd“ in Deutschland – Bayern, Baden-
Württemberg und Hessen – nicht mitmacht. Aber es gibt
eine Chance, das Zweiwegemodell im Konsens voranzu-
bringen. Das Zweiwegemodell steht dafür, dass Umzug
keinen Verlust von Schulerfahrung bedeutet.

Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der viel-
leicht auch einen Konsens erfordert; denn er ist brisant.
Die Ministerin hat uns schon manchmal darauf hinge-
wiesen – auch das macht der Bericht deutlich –, dass wir
in Deutschland bei den Konzepten, die infolge des
PISA-Schocks gemeinsam erarbeitet worden sind, ein
Desiderat haben. Das betrifft die Lehrerausbildung und
die Lehrerweiterbildung. Auch an dieser Stelle kann
man an Hamburg anknüpfen. Hamburg hat unter
Schwarz-Grün etwas Wichtiges auf den Weg gebracht,
nämlich die Weiterbildungspflicht für Lehrer, 30 Stun-
den jedes Jahr.


(Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708703800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

(D)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1708703900

Den Gedanken möchte ich gerne zu Ende führen. –

Diese 30 Stunden jedes Jahr sind nicht unproblematisch,
weil es nicht unbedingt populär ist, für 800 000 Lehr-
kräfte eine Weiterbildungspflicht festzuschreiben. Wenn
wir das aber im Konsens tun, wenn SPD, CDU und an-
dere sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, dann
haben wir in Zukunft einen ganz großen Pluspunkt bei
der Qualifizierung der Lehrer. Dann haben wir eine bes-
sere Lehrerausbildung, eine bessere Lehrerauswahl und
auch eine Weiterbildungspflicht. Dann wäre auch der
Staat verpflichtet, gute Weiterbildungschancen zu eröff-
nen. Das wollen wir gerne in die Debatte einbringen. Ich
weiß, dass das nicht populär ist, aber es ist wichtig. So
etwas muss aus einem solchen Bildungsbericht erwach-
sen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708704000

Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin

Hein zur Verlängerung Ihrer Redezeit? – Bitte.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708704100

Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, Sie kommen

aus dem Land Schleswig-Holstein. Sie haben gesagt,
dass wir Alternativen und Vorschläge brauchen. Eine
solche Möglichkeit, die wir bekanntlich vertreten, ist die
Gemeinschaftsschule, wie es sie in Schleswig-Holstein
bislang, glaube ich, noch gibt. Das ist das erste Land, das
versucht hat, in diese Richtung zu gehen. Heute Morgen
las ich in der Presse, dass in Kiel ein neues Schulgesetz
verabschiedet worden ist, nach dem Gemeinschaftsschu-
len und Regionalschulen zusammengefügt werden sol-
len. Nach dem, was Sie zu Hamburg gesagt haben, frage
ich Sie, ob Sie – ich weiß, dass Sie dort keine Verant-
wortung tragen, aber genau deshalb frage ich Sie – es
nicht für einen Rückschritt halten, wenn die Schulen
jetzt zu einer Schule zusammengelegt werden, die zwar
den Haupt- und den Realschulabschluss anbietet, aber
eben nicht das ist, was eine Gemeinschaftsschule eigent-
lich sein sollte.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie können Nein sagen! Dann ist das erledigt!)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1708704200

Wenn ich im Landtag wäre, dann würden Sie jetzt

eine Philippika gegen das hören, was in Schleswig-Hol-
stein leider passiert. Dort wird gegen den Willen der
CDU das Rad zurückgedreht. Das ist zwar ein Erfolg der
FDP, doch insgesamt ist das ein Rückschritt. Diese Phi-
lippika will ich aber nicht halten. Lieber werbe ich für
das Zweiwegemodell, auf das wir uns in Deutschland
hoffentlich im Konsens einigen können.

Weil mir das wichtiger ist als die kleine Münze
Schleswig-Holstein, nehme ich noch einen anderen Ge-
danken aus dem Bildungsbericht auf. Die Bildungsko-
operation ist das Formale. Wir werden es erleben, dass
Sie Ihre CDU- und CSU-Ministerpräsidenten und wir
unsere SPD-Ministerpräsidenten überzeugen. Dann ha-
ben wir es geschafft. Dann können wir uns freuen. Jetzt
sollten wir nicht wechselseitig mit dem Finger aufeinan-
derzeigen. Sie und wir müssen das jetzt gemeinsam aus
dem Bundestag heraus schaffen. Die Bildungskoopera-
tion muss aber auch gelebt werden, und zwar insbeson-
dere an einer Stelle, die der Nationale Bildungsbericht
aufgezeigt hat; denn wir können es uns angesichts des
Fachkräftebedarfs nicht leisten, dass 1,5 Millionen junge
Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne Ausbildung
sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn es eine Aufgabe für die nächsten Jahre gibt,
dann ist es die, diesen jungen Menschen in ökonomi-
scher, persönlicher und pädagogischer Hinsicht eine
Chance zu geben. Das ist die gemeinsame Aufgabe der
Länder und des Bundes. Dafür möchten wir ausdrück-
lich und nachdrücklich werben. Das ist die Botschaft
dieses Bildungsberichts. Lasst es nicht dazu kommen,
dass sich eine Perspektivlosigkeit dieser jungen Men-
schen verfestigt. Das zu sagen, war mir wichtig.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708704300

Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1708704400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben als christlich-liberale Koalition in unserem
Koalitionsvertrag die Bildungsrepublik ausgerufen. Der
vorliegende Bildungsbericht zeigt uns, dass wir diesem
Ziel Stück für Stück näher kommen. Immer weniger
Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Der Trend
geht zu immer höheren Abschlüssen. Noch nie haben so
viele junge Menschen eines Jahrgangs mit einem Hoch-
schulstudium begonnen wie in diesem Jahr. Für diejeni-
gen, die sich nicht für ein Hochschulstudium entschei-
den, steigt die Chance auf einen Ausbildungsplatz. Ich
erwähne das deswegen als Erstes, weil wir in der Bil-
dungspolitik oft zum Schlechtreden neigen. Natürlich
zeigt uns der Bildungsbericht auch Punkte auf, wo wir
besser werden müssen. Genau das ist ja der Sinn eines
solchen Berichts. Auf diese Punkte komme ich gleich zu
sprechen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter den guten Sta-
tistiken, die der Bericht enthält, zahlreiche Schüler, Stu-
denten, Lehrer, Erzieher, Eltern, Betriebe und viele an-
dere Aktivposten im Bildungssystem stehen, die durch
ihr großartiges Engagement und ihre individuelle An-
strengung dafür sorgen, dass wir insgesamt besser wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


– Der Applaus ist berechtigt.





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Leistungen müssen wir positiv herausstellen,
und wir müssen die Menschen ermutigen, auf diesem
Weg weiterzumachen. Das darf in einer solchen Debatte
nicht zu kurz kommen.

Der Bericht zeigt uns auch Bereiche, in denen wir
besser werden müssen; das wurde heute häufig ange-
sprochen. Wir erleben, dass die Kluft zwischen den Bil-
dungsverläufen zunimmt. Der Bildungserfolg ist leider
immer noch zu eng mit der sozialen Herkunft verknüpft,
und fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren wächst in so-
zialen, finanziellen und/oder kulturellen Risikolagen auf.
Besonders häufig sind Kinder mit Migrationshintergrund
davon betroffen. Um diese müssen wir uns noch besser
kümmern, und zwar von Anfang an.

Der Schlüssel dazu liegt in der Sprache. Als die CSU
vor einigen Jahren gefordert hat, dass jedes Kind
Deutsch können muss, bevor es in die Schule kommt,
wurden wir noch verlacht.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Beschimpft sogar!)


Heute ist es fast flächendeckend Praxis, dass an Kinder-
gärten Sprachtests und entsprechende Fördermaßnah-
men durchgeführt werden. Aber das reicht noch nicht.
Hier müssen wir besser werden. Vor allem müssen wir
die Eltern von Kindern in Risikolagen sensibilisieren
und ihnen sagen, welche Chancen sie ihren Kindern ver-
bauen, wenn sie ihnen nicht schon möglichst früh eine
individuelle Förderung zukommen lassen.

Der Bund stellt für den Ausbau der Kinderbetreuung
bis 2013 insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung.
Überall im Land sehen Sie, dass neue Krippenplätze ent-
stehen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass
wir bis 2013 insgesamt 12 Milliarden Euro mehr für Bil-
dung und Forschung zur Verfügung stellen. Gerade auch
vor dem Hintergrund, dass in allen anderen Bereichen
eingespart werden muss, um die Schuldenbremse einzu-
halten, sehen Sie, welchen Stellenwert wir diesem
Thema zumessen. Wir setzen auch unsere Politik der
Förderung von Familien fort. Denn der Bildungsbericht
zeigt: Überall dort, wo Familienstrukturen intakt sind,
steigt die Chance auf eine gute Bildung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der LINKEN)


Aber die Probleme sind nicht allein mit Geld zu lösen.
Unsere Kinder brauchen Vorbilder, denen sie mit Ehr-
geiz nacheifern können. Genauso wie im Sport müssen
Leistung und Erfolg im Bildungssystem positiv belegt
und erstrebenswert sein.


(Beifall des Abg. Eberhard Gienger [CDU/ CSU])


Das müssen wir vor allem bei den Kindern und Jugendli-
chen unterstützen, denen Bildungsvorbilder im Eltern-
haus fehlen und die auch in ihrem nächsten Umfeld nie-
manden haben, dem sie im Bildungsbereich nacheifern
können.
An dieser Stelle möchte ich beispielhaft die Kampa-
gne „Raus mit der Sprache. Rein ins Leben“, die die
„Deutschlandstiftung Integration“ seit letztem Jahr
durchführt, herausstellen. Prominente Sportler wie
Jérôme Boateng und Musiker wie Sido werben bei Ju-
gendlichen mit Migrationshintergrund dafür, die deut-
sche Sprache zu lernen. Die Botschaft ist: Wer gut
deutsch spricht, kann den sozialen Aufstieg schaffen.
Solche Botschaften brauchen wir in unserem Land. Da-
mit kommen wir auf unserem Weg zur Bildungsrepublik
Deutschland ein Stück weiter.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708704500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3400 und 17/4436 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf:

a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Elke Ferner, Bärbel Bas, Dr. Edgar Franke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Einführung einer Kopfprämie in der gesetzli-
chen Krankenversicherung

– Drucksachen 17/865, 17/3130 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen
Krankenversicherung wiederherstellen

– Drucksachen 17/879, 17/4476 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Ulrike Flach für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1708704600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

bin der SPD für die heutige Debatte äußerst dankbar. Da
Ihr Antrag und Ihre Anfrage fast ein Jahr alt sind, geben
Sie uns damit die Gelegenheit, einmal zu vergleichen,
welche Befürchtung – man kann eigentlich auch „Panik-
mache“ sagen – hier verbreitet wurde und was die Bun-
desregierung wirklich gemacht hat.





Ulrike Flach


(A) (C)



(D)(B)

Zunächst einmal zum Titel „Paritätische Finanzierung
in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstel-
len“. Man muss an dieser Stelle schon sehr klar sagen:
Es war die SPD-Gesundheitsministerin, die die paritäti-
sche Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
aufgegeben hat.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Leider!)


Wir haben dieses Modell fortentwickelt und damit den
Faktor Arbeit nachhaltig entlastet. Das war unser aus-
drückliches Ziel, das Sie übrigens in Sonntagsreden sehr
gerne fordern, aber werktags offensichtlich gerne wieder
vergessen.

Die Große Anfrage der SPD trägt den schönen Titel
„Einführung einer Kopfprämie in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung“. Eine Kopfprämie – das will ich dies-
mal wirklich zum letzten Mal sagen – hat niemand von
uns eingeführt, auch nie gewollt, und das ist hier auch
immer so diskutiert worden, liebe Kollegen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Da Sie nicht wissen, was Sie machen, kann man das so sagen!)


Vielmehr haben wir die Zusatzbeiträge, die es übri-
gens schon bei Ulla Schmidt gegeben hat, genau so, wie
es im Koalitionsvertrag stand, fortentwickelt, und das
wurde Gesetz: Jede Kasse entscheidet nun selbst, ob und
in welcher Höhe sie von ihren Mitgliedern Zusatzbei-
träge erhebt, und damit gibt es das, was für die FDP im-
mer sehr wichtig war: Es gibt wieder mehr Beitragsauto-
nomie bei den Kassen und wieder mehr Wettbewerb für
die Versicherten.


(Otto Fricke [FDP]: Sehr richtig!)


Einen sozialen Ausgleich für Geringverdiener haben
wir hinzugefügt. In Ihrer Anfrage wird interessanter-
weise noch behauptet, es gebe kein Konzept für den So-
zialausgleich. Inzwischen, liebe Kollegen von der SPD,
steht es im Gesetz, und das Gesetz ist in Kraft. So weit
zur Aktualität Ihrer Großen Anfrage.

Ihr Antrag ist längst von der Realität überholt wor-
den; da sind wir uns Gott sei Dank auch einmal mit den
Grünen und den Linken einig, wie die Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses zeigt. An der Stelle herrscht also
große Einigkeit im Hause. Auch Ihre Angstmacherei ist
von der Gesetzgebung und der Koalition längst überholt
worden.

Wenn man in Ihren Antrag schaut, kann man sich
freuen, dass alles nicht so gekommen ist, wie es die SPD
prophezeit hat. Es ist nicht zur Masseninsolvenz der ge-
setzlichen Krankenkassen gekommen. Im Gegenteil: Die
GKV baut wieder Reserven auf. Es kommt durch den
Sozialausgleich auch nicht zu einer sozialen Umvertei-
lung von unten nach oben.

Nun möchte ich – schließlich nehmen Sie für sich im-
mer so schön in Anspruch, alles besser zu wissen – Ihre
eigenen Ideen einem Realitätstest unterziehen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Oh, das wird sehr schwierig!)

– Das wird sehr schwierig. Da hat Herr Lanfermann völ-
lig recht.

Sie fordern in Ihrem Antrag eine solidarische Bürger-
versicherung. Sie haben über ein Jahr gebraucht, um da-
rüber nachzudenken. Jetzt haben Sie vor wenigen Tagen
Eckpunkte veröffentlicht, die allerdings deutlich von
dem abweichen, was Sie in Ihrem alten Antrag formu-
liert haben. Neuerdings sprechen Sie sich für eine
Steuerfinanzierung aus – eine höchst interessante Ent-
wicklung –, und zwar erstaunlicherweise mit der Be-
gründung, dass das Steuersystem die Bürger nach ihrer
Leistungsfähigkeit belaste und deshalb gerechter sei.
Das haben wir, liebe Kollegen von der SPD, allerdings
schon lange erkannt. Deshalb haben wir den Sozialaus-
gleich genau dort hingelegt, wo er hingehört, nämlich ins
Steuersystem, und das haben Sie an dieser Stelle oft ge-
nug für Teufelszeug erklärt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die SPD legt Eckpunkte vor. Sie legen aber kein
durchgerechnetes Modell vor. Das erstaunt uns wie-
derum nicht. Denn auch etwas anderes versprechen Sie
nun schon seit einem Jahr.


(Otto Fricke [FDP]: Das dauert noch ein Jahr!)


Ihr Modell einer Bürgerversicherung löst keines der
Probleme. Denn es bleibt konjunkturanfällig – das ist ei-
ner der Hauptfaktoren, die wir mit unserem Modell ver-
meiden –, weil eine höhere Arbeitslosigkeit negativ auf
die Finanzierungsgrundlagen durchschlägt. Darüber hi-
naus bleibt es verfassungsrechtlich bedenklich, weil Sie
in den Tätigkeitsbereich der PKV eingreifen.

Hingegen kann man unser Modell jetzt jeden Tag in
der Realität besichtigen. Jeder weiß, dass Gesundheit in
einer alternden Gesellschaft mit einer wachsenden medi-
zinischen Leistungsfähigkeit zwar nicht billiger werden
kann, aber bezahlbar bleiben muss. Diese Koalition sorgt
dafür, dass Gesundheit bezahlbar bleibt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nur unser Freund Karl Lauterbach merkt das leider
nicht: Kaum erkennen wir bei den Kassen bessere Zah-
len, kommt er als Kai aus der Kiste und fordert Beitrags-
senkungen. Lieber Herr Lauterbach, Sie müssen sich
schon einmal entscheiden, auf welchen Zug Sie gerade
aufspringen wollen. Offensichtlich springen Sie auf je-
den Zug auf, der gerade vorbeifährt, und wundern sich
dann, dass Sie nie ankommen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Bummelzug!)


Zum Schluss meiner Rede möchte ich den Präsiden-
ten des Bundesversicherungsamtes zitieren. Er hat ges-
tern Folgendes zu den merkwürdigen Verlautbarungen
gesagt, die Sie bei Ihrem letzten medialen Ausflug ge-
macht haben:

Der Gesundheitsfonds sichert die finanziellen Grund-
lagen der gesetzlichen Krankenversicherung im In-
teresse aller Versicherten. Dies darf nicht durch
kurzfristige Maßnahmen leichtfertig aufs Spiel ge-
setzt werden.





Ulrike Flach


(A) (C)



(D)(B)

Herr Lauterbach, das sollten Sie sich hinter die Ohren
schreiben. Es würde Sie von unüberlegten Presseerklä-
rungen abhalten.

Ansonsten sind wir optimistisch: Wir gehen in ein er-
folgreiches Jahr. Ich freue mich auf die Debatte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708704700

Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1708704800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst einmal freut es mich, dass wir die FDP heute zum
ersten Mal in der Stärke sehen, in der wir sie in der
nächsten Legislaturperiode sehen wollen: Sie sind ge-
rade einmal fünf Leute; das wird bald üblich sein. Der
Wähler wird die gut gelaunte Polemik, mit der Frau
Flach und Herr Lanfermann hier über die wichtigen The-
men hinwegwischen, nicht akzeptieren; dafür werden
Sie die Quittung bekommen. Erinnern Sie sich an meine
Worte:


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das sagen Sie schon seit zwei Jahren!)


Wenn Sie nach der nächsten Wahl überhaupt noch hier
sitzen werden, dann erreichen Sie gerade einmal 5 Pro-
zent.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Wie wenig Ihre Worte wert sind, haben wir ja gerade erlebt!)


Was ist zum Jahreswechsel beschlossen worden? Die
Vorkasse ist eingeführt worden.


(Otto Fricke [FDP]: Nein!)


Es gibt Mehrzahlungen für Arzneimittel und Generika.
Es gibt eine schnellere Zulassung von Krebsmedikamen-
ten; dadurch werden weniger sichere Mittel zugelassen.


(Ulrike Flach [FDP]: Sie lesen wohl nicht einmal unsere Gesetze, Herr Lauterbach!)


Die kleine Kopfpauschale ist eingeführt worden. Bei der
privaten Krankenversicherung hat es Vergünstigungen ge-
geben: Ein Wechsel in die private Krankenversicherung
ist schneller möglich; die Arzneimittelrabatte der gesetz-
lichen Krankenversicherungen werden sozusagen auf die
privaten übertragen. Im Prinzip haben wir mehr Zwei-
klassenmedizin bekommen.

In der Medienpause gab es von Herrn Spahn und an-
deren in der Union den Vorschlag, die Vierbettzimmer
abzuschaffen. Damit soll demnächst die Möglichkeit ge-
geben werden, sich im Zweibettzimmer ein bisschen von
der verschärften Zweiklassenmedizin, die Sie selbst ein-
geführt haben, zu erholen. Das ist doch lächerlich; das ist
Kosmetik bei den Betten. Wenn Sie ernsthaft an einem
Abbau der Zweiklassenmedizin interessiert wären, dann
würden Sie sie nicht verschärfen. Lenken Sie nicht von
den Verschärfungen ab, die Sie selbst eingeführt haben.


(Beifall bei der SPD)

Demnächst sollen sich die Krankenkassen stärker da-
für engagieren, dass man einen Termin bei einem Spe-
zialisten bekommt. Weshalb führen Sie, wenn Sie daran
wirklich ein Interesse haben, die Vorkasse ein, die dazu
führen wird, dass derjenige, der nicht in Vorleistung tre-
ten kann, demnächst noch schlechter einen Termin be-
kommt? Sie wollen doch nur davon ablenken, dass Sie
die Zweiklassenmedizin in vielerlei Hinsicht verschärft
haben. Der Vorschlag, die Termine bei Spezialisten
schneller zu vergeben – er stammt von Wilfried Jacobs
von der AOK Rheinland/Hamburg –, ist nur Kosmetik.
Die Wahrheit ist – jeder erkennt sie –: Sie wollen Ver-
günstigungen für die PKV und Verschlechterungen für
die gesetzlich Versicherten.

Im Übrigen sollen die Verschlechterungen bei der
FDP hängen bleiben; während die Union für die kleinen,
kosmetischen Verbesserungen eintritt. Dieses System
kennen wir noch aus der Großen Koalition; die FDP,
auch Herr Bahr, wird es noch lernen müssen. Wer zu-
sammen mit der Union regiert hat, der versteht das Sys-
tem: Die Union ist immer für das wenige Gute, für die
Kosmetik zuständig; der Partner wird geschleift und
steht für all das, was in der Bevölkerung unbeliebt ist.
Das ist das Prinzip der Union.


(Otto Fricke [FDP]: So ist das euch ergangen!)


Herr Lindner und Herr Bahr, Sie werden das noch lernen
müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme jetzt zu der Beitragssatzlüge. Herr Rösler,
Herr Bahr und die Union haben immer gelogen, die SPD
habe ein riesiges Defizit zurückgelassen; es wurde von
11 Milliarden Euro gesprochen. Die Wahrheit ist, dass
im nächsten Jahr zum Jahresende 6,3 Milliarden Euro
übrig bleiben werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nachdem Sie vorher den Absturz vorhergesagt haben!)


Davon sind 3 Milliarden Euro die Liquiditätsreserve.
3 Milliarden Euro nehmen Sie durch die Erhöhung des
Beitragssatzes zusätzlich ein, um damit den Sozialaus-
gleich für die Kopfpauschale aufzubauen.

Das war doch von vornherein die Absicht. Sie wollen
den Sozialausgleich für die Kopfpauschale in Wirklich-
keit doch gar nicht mit Steuermitteln bezahlen, denn das
würde auch den PKV-Versicherten und den Gutverdiener
belasten. Das sollen die gesetzlich Versicherten zum
Schluss selbst bezahlen. Darum geht es doch. Es geht um
das übliche Anliegen: Wie kann ich Arbeitgeber und Pri-
vatversicherte schonen, und wie kann ich die gesetzlich
Versicherten doppelt belasten? Sie werden für ihre ei-
gene Kopfpauschale und für den eigenen Sozialaus-
gleich bezahlen müssen. Darüber wird hier doch gespro-
chen, und davon wollen Sie ablenken.

Die unsoziale Kopfpauschale soll durch einen eben-
falls unsozial finanzierten Sozialausgleich mitbezahlt
werden. Das halten wir für falsch. Das ist eine Trickserei
und eine Lügerei!


(Beifall bei der SPD)






Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

An dieser Stelle auch eine Bemerkung in Richtung
der Grünen: Die Grünen sagen, der Beitragssatz soll
nicht um 0,3 Prozentpunkte gesenkt werden, damit man
Zusatzbeiträge verhindert. Damit macht ihr euch aber im
Prinzip zum Steigbügelhalter der Kopfpauschale.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umgekehrt! – Heinz Lanfermann [FDP]: Ihr versteht nicht einmal die Grünen!)


Denn die Kopfpauschale kann doch nur eingeführt wer-
den, wenn ein Sozialausgleich erst einmal da ist. Norma-
lerweise müsste folgendermaßen argumentiert werden:
Eine unsoziale Kopfpauschale wird nicht durch einen
unsozialen Sozialausgleich gerechter.


(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Machen Sie sich doch mal Gedanken über Ihre eigene Partei!)


Es wird darauf hinauslaufen, dass die Beitragssätze
steigen werden. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir
keine sinkenden Steuern haben. Die mittleren Einkom-
men werden stärker belastet und nicht entlastet. Wir wer-
den sehen, dass die mittleren Einkommen weniger Netto
vom Brutto haben. Wir werden sehen, dass die FDP sich
über diese Politik weiter komplett diskreditiert. Denn es
werden nur die mittleren Einkommen belastet. Wer be-
zahlt denn am Ende den Sozialausgleich durch die Bei-
tragssatzerhöhung? Das sind die mittleren Einkommen.

Die FDP ist angetreten und hat laut getönt, die mittle-
ren Einkommen sollten entlastet werden. Die Grünen ha-
ben mitgezogen. Die Wahrheit ist aber, dass wir nur zu-
sätzliche Belastungen der mittleren Einkommen sehen.
Es gibt überhaupt keine Entlastung. Somit kommt zur
allseits bekannten Steuerlüge der FDP die Beitragssatz-
lüge hinzu. Das ist meine feste Überzeugung, und das
wird der Bürger auch verstehen. Die Union macht sich
einen schlanken Fuß und pflegt die beschriebene Ar-
beitsteilung.

Was wir in Wirklichkeit brauchen, ist ein paritätisch
finanziertes System. Wir wissen, dass wir uns von der
Parität verabschiedet haben. Da brauchen wir nicht die
ständigen Ermahnungen und Erinnerungen von der
Linkspartei.


(Zurufe von der LINKEN: Doch!)


Wir haben keine Amnesie. Wir haben aber auch nie ge-
sagt, dass wir abgewählt worden sind, weil wir alles
richtig gemacht haben. Es ist klar, dass wir zurück zur
Parität wollen. Wir wollen das System unbürokratisch
um eine Steuerkomponente ergänzen. Es ist übrigens
auch völlig unwahr, zu sagen, dass wir erst jetzt auf
diese Idee gekommen sind. Schon in unserem ursprüng-
lichen System der Bürgerversicherung hatten wir zwei
Modelle: entweder die anderen Einkommen direkt ver-
beitragen oder eine Steuerkomponente. Das ist sozusa-
gen ein altes System. Wir haben uns jetzt dafür entschie-
den, die Steuern stärker heranzuziehen, sodass auch
Gutverdiener unbürokratisch und gerecht belastet wer-
den.

Im Sinne der Abschaffung der Zweiklassenmedizin
treten wir in unserem Antrag dafür ein, dass die Hono-
rare bei gesetzlich und privat Versicherten angeglichen
werden. Das ist ein gerechtes System. Unbürokratisch,
Parität, Steuerkomponente, ein Honorarsystem für alle:
Das führt zu einer Entlastung der mittleren Einkommen.

Diesbezüglich sind, ehrlich gesagt, auch die Grünen
auf dem Holzweg. Wenn man die anderen Einkommen
verbeitragt und gleichzeitig die Beitragsbemessungs-
grenze anhebt, dann trifft das fast nur die mittleren Ein-
kommen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Unsere Worte!)


Da man an die jetzt privat Versicherten nicht heran-
kommt, werden diese geschont. Daher halte ich das
SPD-Konzept für das einfachste, unbürokratischste und
gerechteste. Unser System wird auch das sein, das wir
zum Schluss durchsetzen, wenn die Abwahl dieser er-
schöpften schwarz-gelben Koalition vollzogen ist.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708704900

Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1708705000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zum Ersten – das will ich vorneweg sagen – gibt uns die
Debatte heute morgen die Gelegenheit, auf das, was wir
in dieser Koalition beschlossen haben, zurückzuschauen:
auf das GKV-Finanzierungsgesetz. Die Frage lautet:
Was ist damit eigentlich erreicht worden?


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage!)


Wir haben es geschafft – das zeigen die Zahlen ganz
offensichtlich –, dafür zu sorgen, dass das drohende De-
fizit von gut 10 Milliarden Euro, das, wenn wir nichts
getan hätten, entstanden wäre, nicht entstehen wird


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das haben Sie doch selbst erzeugt!)


und dass die Krankenkassen stabil dastehen. Wir stellen
einen Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt zur Ver-
fügung, um die nötige Unterstützung zu geben.

Wichtig finde ich auch, dass die Zusatzbeiträge – das
haben die Zahlen von gestern und vorgestern gezeigt –
die Lenkungswirkung, die Steuerungswirkung entwi-
ckeln, die wir uns von ihnen erhofft haben. Es entsteht
ein neues Preisbewusstsein. Anders als damals bei den
prozentualen Beitragssätzen, als die Beiträge direkt vom
Lohn abgezogen wurden, als keiner so recht wusste:
„Was kostet meine Kasse eigentlich?“ und man einen
Dreisatz berechnen musste, um zu ermitteln: „Was bringt
es eigentlich, die Kasse zu wechseln?“, haben die Zu-
satzbeiträge in festen Eurobeträgen eine ganz andere
Preissignalwirkung. Man überlegt sich: Ist mir meine
Kasse die 5 Euro, die 8 Euro oder die 12 Euro, die ich





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

zahlen muss, wert? Wenn ja, dann bleibt man bei der
Kasse, wenn nein, dann wechselt man. Das ist auch für
den Wettbewerb zwischen den Kassen ein wichtiges
neues Instrument, das wir weiterentwickelt und auf si-
chere Füße gestellt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber man fragt sich: Warum führen wir heute zur bes-
ten Zeit 75 Minuten lang diese Debatte über einen An-
trag, lieber Kollege Lauterbach, der sich völlig überholt
hat?


(Ulrike Flach [FDP]: Allerdings! Das fragt man sich bei denen aber öfter!)


Das Gesetz ist erstens beschlossen, und zweitens haben
Sie Ihren eigenen Antrag selbst überholt.


(Ulrike Flach [FDP]: Ja! Uralt ist der!)


Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Steuerfinanzierung
sei schlecht. Auch in Ihrem Antrag vom letzten Jahr
steht, Steuerfinanzierung habe keine Zukunft und sei
ganz furchtbar, weil der Finanzminister das Geld nicht
zur Verfügung stellen werde.

Wenige Wochen oder Monate später legten Sie ge-
meinsam mit Frau Kollegin Nahles ein Papier vor, in
dem es heißt:

Eine nachhaltige Finanzierung der Bürgerversi-
cherung kann … nur über Steuermittel erreicht
werden …

Sie haben es geschafft, Ihren eigenen Antrag innerhalb
von sechs Monaten zu überholen.


(Ulrike Flach [FDP]: Hört! Hört!)


Aber es ist Ihnen nicht einmal peinlich, zur besten Zeit
diese Debatte für eine Dauer von 75 Minuten anzuset-
zen.


(Ulrike Flach [FDP]: Ja! Schrecklich ist das!)


Wie soll denn der Bürger, wie sollen wir überhaupt noch
verstehen, wo Sie hinwollen?


(Ulrike Flach [FDP]: Ja, genau!)


Sie scheinen es selbst nicht zu wissen. Das, lieber Kol-
lege Lauterbach, ist in den Debatten, die wir führen, das
Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Debatte zum
Thema Beitragssatzsenkung,


(Ulrike Flach [FDP]: Oh ja! Die ist besonders peinlich!)


die wir in diesen Tagen führen.


(Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident, ich glaube, der Kollege Lauterbach hat
eine Frage. Ich würde sie auch zulassen, wenn Sie sie zu-
ließen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708705100

Dann lasse ich sie nach Ihrer Bitte allergnädigst zu.


(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Schämen, Herr Lauterbach, nicht fragen!)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1708705200

Herr Spahn, Sie müssen doch einräumen,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Fragen!)


dass es ein Unterschied ist, ob man Steuermittel verwen-
den will, um damit die demografischen Herausforderun-
gen zu bewältigen und das Geld für die Versorgung ein-
zusetzen, oder ob man damit einen überflüssigen
Sozialausgleich für die Kopfpauschale bezahlen will.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Was? Der Sozialausgleich ist überflüssig? – Ulrike Flach [FDP]: Wie bitte?)


– Herr Lanfermann, ich habe sogar Frau Flach zugehört,
was nicht leicht war.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Nein! Leider nicht!)


In unserem Antrag unterscheiden wir. Wir lehnen le-
diglich den Einsatz zusätzlicher Steuermittel für einen
überflüssigen Sozialausgleich zur Einführung der Kopf-
pauschale ab,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Aha!)


weil wir die wertvollen Steuermittel dort für verschwen-
det halten.


(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Ja, ja!)


Wir sind aber nicht der Meinung, dass der Einsatz von
Steuermitteln für die Versorgung und für die Bewälti-
gung der demografischen Herausforderungen überflüs-
sig ist; dafür sind Steuermittel geeignet.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Wo bleibt denn die Frage?)


Aber es ist doch ein Unterschied, ob man diese Mittel für
einen überflüssigen Sozialausgleich verschwendet oder
ob man sie sinnvoll für die Versorgung einsetzt.


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1708705300

Lieber Herr Kollege Lauterbach, Sie haben es inner-

halb von zwei Monaten geschafft, schon wieder Ihre Be-
gründung zu verändern.


(Ulrike Flach [FDP]: Ja! So ist es!)


In Ihrem Schreiben, das Sie gemeinsam mit der Kollegin
Nahles verfasst haben, steht:

Steuermittel für das Gesundheitssystem, um alle
Einkommen unbürokratisch und sozial gerecht an
der Finanzierung zu beteiligen.


(Ulrike Flach [FDP]: Aha!)






Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

So werden auch die hohen Einkommen und Vermö-
gen gerecht einbezogen.

Das heißt, Ihre Intention bei der Steuerfinanzierung ist
ganz offensichtlich, einen Sozialausgleich durchzufüh-
ren.

Die Argumentation ist ja richtig: Geht es um die Bei-
träge zur gesetzlichen Krankenversicherung, werden nur
die abhängig Beschäftigten und die Lohnbestandteile he-
rangezogen. Bei einer Finanzierung über das Steuersys-
tem werden aber auch Mieteinkünfte, Zinseinkünfte und
übrigens auch Unternehmensgewinne herangezogen, und
zwar nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Die Ar-
gumentation ist richtig. Was an dieser Stelle aber so ver-
logen ist – das zeigt sich jetzt übrigens schon wieder –:
Sie ändern alle zwei Wochen Ihre Argumentation in die-
ser Frage. Wir dagegen reden nicht nur über Dinge, son-
dern setzen sie um, in dem Falle, weil wir es für richtig
halten, eine bessere Steuerfinanzierung zu haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gleiche passiert in diesen Tagen in der Beitrags-
satzdebatte. In Ihrem Antrag, über den wir heute debat-
tieren und der aus dem März 2010 stammt – Sie wollten
ihn vorher nicht aufgesetzt haben; wir haben es Ihnen
mehrfach angeboten –, malen Sie ein Szenario von
wachsenden Ausgaben an die Wand. Sie malen ein Sze-
nario an die Wand, das besagt: Für 2010, 2011 und 2012
muss auf Teufel komm raus gespart werden; die Koali-
tion tut zu wenig. Sie haben hier mehrfach gesagt, wir
sollten größere Anstrengungen beim Sparen unterneh-
men, weil es in 2011 so furchtbar wird.

Wir haben das, was wir für richtig halten, in einem, wie
ich finde, ausgewogenen Maß gemacht – Sparmaßnahmen,
aber eben auch eine ausgewogene Beitragserhöhung –
und sind zum alten Beitragssatz von 15,5 zurückgekehrt.
Jetzt ist es glücklicherweise so, dass die gesetzlichen Kran-
kenversicherungen stabil dastehen, dass wir im Gesund-
heitsfonds eine Liquiditätsreserve haben, die gesetzlich
– von uns gemeinsam in der Großen Koalition – vorge-
schrieben worden ist, um auch Schwankungen ausglei-
chen zu können. Nun, da wir endlich Stabilität ins System
der gesetzlichen Krankenversicherung gebracht haben,
nehmen Sie von Ihren Horrorszenarien Abschied, wie
furchtbar das bei den Ausgaben alles wird, und wollen auf
einmal die Beiträge senken. Wer, bitte schön, Herr Kol-
lege Lauterbach, soll Ihnen denn da noch folgen können?
Wo ist denn da Verlässlichkeit in Ihrer Politik? Sie sind
nicht Kai aus der Kiste; Sie sind Karl aus der Kiste: Sie
ändern täglich nur der Überschrift wegen die Richtung.
Das ist aber nicht konsistent, das ist nicht vertrauenerwe-
ckend, und deswegen ist es gut, dass Sie da sitzen, wo Sie
sitzen, nämlich auf der Oppositionsbank. Da kann man
tatsächlich ohne Folgen jeden Tag etwas anderes behaup-
ten, als man vorher gesagt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heinz Lanfermann [FDP]: Und er verwirrt sich selbst!)


– Ja, man hat manchmal tatsächlich den Eindruck: Sie
verwirren sich an dieser Stelle selbst.

(Ulrike Flach [FDP]: Deswegen versteht er uns auch nicht mehr!)


Dann – das setzt dem Ganzen die Krone auf – können
wir in diesen Tagen ein Konzept der SPD lesen und kön-
nen sehen, wie sie jetzt in die Fläche gehen will, um eine
Kampagne zu machen, bei der es rundgehen soll. Wir
können in Ihrem Antrag vom März letzten Jahres lesen,
was wir alles tun sollen. Wir finden, dass wir ausgewo-
gen und vernünftig vorgegangen sind und die richtige
Richtung eingeschlagen haben. Als Stichworte sind zu
nennen: Umgang mit dem Defizit, Steuerfinanzierung.
Dazu kommt die Frage, wie wir es langfristig schaffen
können, von der strikten Lohnbezogenheit der Gesund-
heitsfinanzierung wegzukommen, sodass die steigenden
Gesundheitsausgaben den Lohn nicht automatisch im-
mer teurer machen. Wir finden, was wir vorgelegt haben,
ist ein gutes Gesetz. Das können Sie kritisieren, keine
Frage.

Aber jetzt machen Sie von der SPD eine Kampagne.
Sie sind sich mal wieder nicht zu schade, die Menschen
bewusst und wider besseres Wissen, Herr Professor
Lauterbach, in die Irre zu führen. Das macht allein der
Begriff „Vorkasse“ deutlich, den Sie heute schon wieder
verwendet haben. Sprechen Sie einmal mit schwerkran-
ken Menschen, mit Krebskranken, mit HIV-Infizierten,
mit Aidskranken.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das machen wir!)


Die haben Angst; das merkt man, wenn man mit denen
spricht. Ich war letzte Woche auf einer Diskussion in ei-
ner Parkinson-Selbsthilfegruppe. Die haben Angst, weil
Sie ihnen suggerieren, sie müssten ihre Behandlung und
ihre Medikamente in Zukunft zunächst selbst bezahlen,
und irgendwann später würden sie das Geld wiederbe-
kommen. Sie wissen, dass das nicht stimmt, aber Sie
nehmen billigend in Kauf, schwerkranke Menschen zu
verängstigen, nur um populistisch einen Punkt zu ma-
chen. Das ist völlig inakzeptabel, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gleiche gilt für das Gerede von der Drei-Klas-
sen-Medizin. Sie wissen genau, was zur Kostenerstat-
tung im Gesetz steht. Es ist übrigens – das merken Sie,
wenn Sie einmal genau hinschauen – zu 70 bis 80 Pro-
zent das, was wir gemeinsam auf den Weg gebracht ha-
ben, weil wir es für richtig gehalten haben, dass die
Menschen ein Wahlrecht haben sollen. Diejenigen, die
es wollen – keiner muss –, können sich für die andere
Regelung entscheiden und sich die Rechnung schicken
lassen. Die allermeisten Menschen werden sich wahr-
scheinlich tatsächlich für das Sachleistungsprinzip ent-
scheiden.

Was dem Ganzen dann aber die Krone aufsetzt – jen-
seits dieser Diffamierung, die Sie wider besseres Wissen
betreiben –, ist, dass wir in dem Schreiben Ihres Partei-
vorsitzenden lesen können, dass Sie Verbände – Wohl-
fahrtsverbände, die ohne Zweifel jederzeit berechtigt
sind und die Legitimation haben, Gesundheitspolitik zu
kritisieren, konstruktive Vorschläge zu machen und an-
dere Vorstellungen von Gesundheitspolitik zu haben; das





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

ist überhaupt keine Frage – als Kooperationspartner ver-
einnahmen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das sind sie ja auch!)


Wie sieht es denn mit der parteipolitischen Neutralität
von AWO, von Caritas, von der Diakonie und von ande-
ren Wohlfahrtsverbänden aus? Ich wundere mich schon.
Die Pflegeeinrichtungen, die Krankenhäuser und die Be-
hinderteneinrichtungen sind nicht Eigentum der SPD;
das ist parteipolitisch neutraler Boden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen gehört sich eine solche Kampagne nicht, die
Sie hier an dieser Stelle versuchen quer durch die Repu-
blik zu betreiben. Wir werden das nicht akzeptieren –
nicht von Ihnen und auch nicht von den Wohlfahrtsver-
bänden.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Die wehren sich gegen Ihre Reformen! – Mechthild Rawert [SPD]: Frechheit! Die Caritas gehört nun wirklich nicht dazu!)


Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Wir akzeptie-
ren Kritik von jeder Seite.


(Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


– Stellen Sie sich einmal vor, was Sie für ein Theater
machen würden, wenn wir so etwas machen würden! Sie
halten sich immer für die Gutmenschen, für die Richti-
gen und Guten, die zum Wohle für alle durch die Welt
unterwegs sind, und wenden dabei Methoden an – das
gilt im Übrigen auch für Ihre Wortwahl; ich nenne das
Beispiel „Vorkasse“ –, durch die Sie bewusst mit den
Ängsten spielen. Das ist völlig inakzeptabel für einen
konstruktiven Umgang in einer demokratischen Aus-
einandersetzung. Das werden wir auch genau so benen-
nen, und wir werden den Finger an dieser Stelle in die
Wunde legen. Darauf können Sie sich verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Sie schaffen die Ängste!)


Seien Sie versichert: Wir werden hier keiner Debatte
aus dem Weg gehen, weil wir der festen Überzeugung
sind, dass wir die besseren Argumente auf unserer Seite
haben. Wir haben die besseren Argumente in der Debatte
über die Frage, warum wir die gesetzliche Krankenversi-
cherung so finanzieren, wie wir sie in Zukunft finanzie-
ren wollen, nämlich eben nicht mehr rein lohnabhängig,
sondern so, dass über den Steuerausgleich alle Einkom-
mensarten mitberücksichtigt werden.

Nachdem wir so viel über Ärztehonorare, Kranken-
hausabrechnungen, Apothekenabschläge und die Phar-
maindustrie geredet haben, halten wir es übrigens auch
für richtig – Herr Kollege Lauterbach, auch dagegen ha-
ben Sie sich gewandt –, auch einmal über die Versor-
gungsrealität der Patienten und darüber zu reden, was sie
im Alltag tatsächlich erleben. Dabei geht es um monate-
lange Wartezeiten, die Krankenhaushygiene und die
Frage, wie es in den Krankenhäusern vor Ort aussieht.
Darüber wollen wir reden.

Wir wollen in diesem Jahr auch über Patientenrechte
reden. Gestern fand eine Anhörung statt, in der es um ei-
nen Antrag der SPD zu diesem Thema ging. Es war
überschaubar, wie viele von Ihnen bei Ihrer eigenen An-
hörung waren. Sie waren tatsächlich auch kurz da. Wir
wollen in diesem Jahr auch die Frage in den Mittelpunkt
stellen, wie der Patient die Versorgungsrealität erlebt
und wie wir die Situation für ihn ganz konkret verbes-
sern können. Dazu brauchen wir natürlich die Hilfe und
Unterstützung der Leistungserbringer. Ich fände es rich-
tig, wenn Sie bei diesem Perspektivwechsel ein Stück
weit stärker mitmachen würden.

Es wäre doch schön, wenn Sie sich wenigstens an die-
sen Debatten beteiligen würden, da Sie das letztes Jahr
bei den Debatten über die Finanzierung schon nicht hin-
bekommen haben. Durch Ihren alten Antrag vom
März 2010 – ich sage es noch einmal: Er ist durch Ihre
eigenen Äußerungen überholt und wird aufgrund Ihres
Wunsches erst jetzt beraten – machen Sie deutlich, wie
weit Sie sich noch in den Debatten der Vergangenheit
befinden. Es wäre schön, wenn Sie sich mit uns an den
Debatten der Zukunft für eine gute Versorgung der Pa-
tienten beteiligen würden. Dann würden wir schon einen
großen Schritt nach vorne kommen. Hinsichtlich der
Krankenhaushygiene können Sie das schon im ersten
Halbjahr beweisen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708705400

Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708705500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Spahn, wenn
ich mich richtig erinnere, haben Sie die Anhörung ges-
tern auch nicht ganz bis zum Ende mitgemacht. Daran
will ich nur einmal ganz kurz erinnern.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Er saß sogar danach noch dort! Ich habe es gesehen!)


– Nein, nein, nein, ich glaube, meine Beobachtung war
doch etwas genauer, Herr Lanfermann.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Ich war die ganze Zeit da! Er war auch da!)


Zu dem Antrag der SPD. Er hat ja schon ein bisschen
Patina angesetzt. Nachdem ich ihn gefunden hatte,
musste ich den Staub ein wenig wegblasen. Schließlich
stammt er aus einer Zeit, als wir noch heftig um die Ein-
führung bzw. Verhinderung der Kopfpauschale gerungen
haben. Daher steht in dem Antrag auch die Forderung an
die Bundesregierung, sie möge bis Ende 2010 ein Kon-
zept für eine Bürgerversicherung vorlegen. Das ist ja in
der Tat nun wirklich überholt. Wir haben etwas ganz an-





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)

deres vorgelegt bekommen, nämlich etwas, was weitaus
schlechter ist.

Dennoch danke ich der SPD, dass die Diskussion über
diesen Antrag heute auf die Tagesordnung gesetzt wurde;
denn so haben wir die Gelegenheit und einen weiteren gu-
ten Anlass, über die katastrophale schwarz-gelbe Ge-
sundheitspolitik zu reden. Wir haben dadurch aber auch
die Möglichkeit, hier über die veränderte SPD-Position
zur Bürgerversicherung zu sprechen.

Der Kurs der SPD in Sachen Bürgerversicherung hat
sich in der Tat verändert. Das ist gerade ja auch schon
dargestellt worden. Aus meiner Sicht besteht der Kurs
nun aus einer konsequenten Inkonsequenz.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem – das muss man auch sehen – ist die Partei
ganz offensichtlich gespalten. Das will ich Ihnen auch
gerne begründen.

Auf der einen Seite gibt es die Arbeitsgemeinschaft
für Arbeitnehmerfragen in der SPD, die AfA. Das war
einst eine mächtige und einflussreiche Arbeitsgemein-
schaft. Herbert Wehner hat sie einmal als „lebenswichti-
ges Organ der SPD“ und zugleich „Auge, Ohr und Herz-
kammer der Partei“ bezeichnet. Als ich damals noch
Juso war – ich weiß, das sieht man mir jetzt nicht mehr
an, aber ich war es einmal –,


(Heiterkeit bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


habe ich nicht in jedem Punkt mit den Vorsitzenden der
Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD
übereingestimmt. Aber jemand wie Rohde oder Dreßler
stellte in der SPD etwas dar.

Auch der jetzige Vorsitzende Ottmar Schreiner ge-
nießt meine volle Hochachtung. Aber er hat leider in sei-
ner Partei nichts mehr zu sagen. Diese Partei hat sich
dank Schröder, Clement, Müntefering, Steinmeier und
Co. weitgehend von der Wahrung der Arbeitnehmerinte-
ressen verabschiedet.


(Zuruf von der SPD: Das glauben Sie doch selber nicht!)


In der modernen Sozialdemokratie der Standortlogik
gibt eine Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen
nicht mehr den Ton an. So ist es möglich, dass zunächst
Ottmar Schreiner als AfA-Vertreter, also als Vertreter der
Arbeitsgemeinschaft, das Positionspapier der DGB-Re-
formkommission unterschrieben hat. Dieses Papier ist in
Sachen Bürgerversicherung beachtenswert und wegwei-
send, wenn man eine solidarische und gerechte Finanzie-
rung will. Hier wird also der Schulterschluss mit guten
gewerkschaftlichen Positionen geübt. Aber kaum hatte
Ottmar Schreiner das DGB-Reformkonzept unterschrie-
ben, verkündeten Frau Nahles und Herr Lauterbach ganz
„basisdemokratisch“ von oben herab, dass wesentliche
Punkte des bisherigen Bürgerversicherungskonzeptes
der SPD von den Füßen auf den Kopf gestellt werden
sollen. Die beiden wollen im Gegensatz zum DGB, den
Grünen und uns keine Kapitaleinkünfte mehr zur Finan-
zierung heranziehen, sondern alle künftigen Mehrausga-
ben der Krankenversicherung über Steuern finanzieren.


(Elke Ferner [SPD]: Unsinn, was Sie sagen!)


Die SPD will also eine zunehmend steuerfinanzierte
Bürgerversicherung. Das ist ein Widerspruch in sich.
Dabei hat Herr Lauterbach selber noch 2004 in einem
Aufsatz zutreffend geschrieben, dass eine Steuerfinan-
zierung Probleme bereitet. Er schrieb von der – ich zi-
tiere – „Einheitsversorgung eines Steuersystems“ und
von „Haushaltsabhängigkeiten“ bei einer stärkeren Steu-
erfinanzierung.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir haben alles über Steuern bezahlt! Das habe ich in Erinnerung!)


Recht hatte er aus unserer Sicht: Ein steuerfinanzier-
tes Gesundheitssystem ist immer auch ein Gesundheits-
system, in dem Leistungen nach Kassenlage gewährt
werden können und der Finanzminister der heimliche
Gesundheitsminister wird.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Deshalb lehnen wir die Steuerfinanzierung ab und sind
für eine Beitragsfinanzierung.


(Beifall bei der LINKEN – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Nahles und Lauterbach fordern also ein mehr und
mehr steuerfinanziertes Gesundheitssystem. Gleichzeitig
schreibt die SPD in dem vorliegenden Antrag völlig zu
Recht, dass die Steuerfinanzierung des schwarz-gelben
Sozialausgleichs bei der derzeitigen Haushaltslage und
den Steuerplänen der FDP ein Wolkenkuckucksheim sei.
Ja, was denn nun? Sie müssen schon erklären, warum
Ihre Milliarden an frischen Steuermitteln dauerhaft und
solide finanzierbar sein sollen, wenn das für ähnliche
Gesetze der Bundesregierung nicht gelten soll.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Da könnte man mal zustimmen!)


– Ja, mir ist es auch so gegangen, Herr Spahn, als Sie
hier geredet haben, dass ich nämlich – leider – an vielen
Stellen zugestehen musste, dass der inkonsequente Kurs
der SPD von Ihnen durchaus richtig beschrieben worden
ist.

Fazit: Man weiß derzeit immer genau, woran man bei
der SPD nicht ist. Erst führt sie Zusatzbeiträge und die
Praxisgebühr ein und schafft die Parität mit ab; jetzt will
sie das Gegenteil. Das ist zu begrüßen. Das finden wir
gut.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Erst will sie eine Bürgerversicherung; jetzt will sie Steu-
erfinanzierung. Das ist schlecht. Das lehnen wir ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Für die SPD ist insgesamt nur zu hoffen, dass sie zu den
Positionen der DGB-Kommission zurückfinden wird,
die mit unseren Vorstellungen weitgehend übereinstim-
men.





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir sind nicht die Knechte des DGB, Herr Weinberg!)


Klar ist nun: Wer keine Bürgerversicherung extra
light, sondern eine echte Bürgerversicherung will, muss
sich an die Linke halten. Die SPD darf nicht auf halbem
Weg stehen bleiben.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihr könnt mal bei uns reingucken!)


Diesen Weg zu einer echten Bürgerversicherung sollte
sie weiter ausprobieren. Man sollte sie dabei zum Jagen
tragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708705600

Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion Die

Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708705700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Reden wir

einmal über Schwarz-Gelb!


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist doch ein SPD-Antrag!)


Ihr Motto lautet: Es soll keiner merken, dass wir tatsäch-
lich ein Kopfpauschalensystem planen. – Dafür haben
Sie, Frau Kollegin Flach, vorhin wieder ein gutes Bei-
spiel geliefert. Sie versuchen nämlich, zu verschleiern,
dass Sie den größten Systemwechsel aller Zeiten planen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir haben ihn schon!)


Noch nie ist ein Sozialversicherungssystem in Deutsch-
land so gründlich und dabei so lautlos umgekrempelt wor-
den, wie Sie es mit Ihrer jüngsten Finanzierungsreform
gemacht haben. Das ist kein Kompliment. Es bedeutet
nämlich, dass Sie sich den Versicherten und damit auch
den Wählerinnen und Wählern nicht wirklich stellen und
ihnen nicht klarmachen, was es bedeutet, wenn zunächst
der Weg beschritten wird, den Arbeitgeberbeitrag einzu-
frieren, und dabei das Ziel einer Finanzierung über Kopf-
pauschalen verfolgt wird, bei der die Geringverdienenden
und die Gutverdienenden das Gleiche bezahlen. Dann
entsteht ein Arbeitgeberparadies, allein finanziert von den
Versicherten. Das ist Ihr Weg, und den werden wir be-
kämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie stellen sich vor, weil man jetzt so schleichend vor-
geht, dass Sie obendrein die Schuld auf die Krankenkas-
sen abwälzen können. Herr Kollege Spahn hat dafür vor-
hin ein gutes Beispiel geliefert, indem er das ach so
schöne Wettbewerbsinstrument der kleinen Kopfpau-
schale, also des Zusatzbeitrages, gepriesen hat. Da müs-
sen Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben, und Schwarz-
Gelb lehnt sich zurück und sagt: Wir haben doch den Bei-
tragssatz gar nicht erhöht. Wenn die Krankenkasse zu
teuer wird, müssen Sie sie wechseln. – Aber in Wirklich-
keit ist genau das der Weg, den Sie beschreiten wollen.
Diese Strategie des Tarnens und Täuschens findet sich
auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der SPD zur Einführung einer Kopfprämie. Da
heißt es ganz treuherzig:

Eine vollständige Umstellung der einkommensab-
hängigen Beiträge auf einkommensunabhängige
Prämien ist … nicht beabsichtigt.

Deswegen könne man auch – leider, leider – detaillierte
Fragen zu den Auswirkungen von Kopfpauschalen nicht
beantworten.

Ist das wirklich so? Dann hieße das, dass die Bundes-
regierung eine Komplettumstellung der Krankenversi-
cherung betreibt, ohne belastbare Daten zu deren Aus-
wirkungen zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Also behaupten Sie, Sie kennen weder die entstehenden
Ent- noch die Mehrbelastungen einzelner Versicherten-
gruppen; Sie wissen weder etwas über die benötigten Fi-
nanzmittel für den Sozialausgleich noch über dessen Ge-
genfinanzierung. Ich fürchte beinahe, dass das wirklich
so ist. Das interessiert Sie nämlich nicht wirklich.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir reden übrigens über einen SPD-Antrag!)


Was Sie interessiert, ist die Entlastung der Arbeitgeber
und der Besserverdienenden und die Bedienung Ihrer
Klientel in der Pharmaindustrie, der privaten Kranken-
versicherung und der Ärzteschaft. Alles andere rangiert
unter „politischen Peanuts“, die man gar nicht klären
muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Aus dieser Perspektive würde man nur Unruhe hervorru-
fen, wenn man zugibt, was man eigentlich vorhat. Aber
ganz aberwitzig wird es, wenn Staatssekretär Bahr in ei-
nem Interview sagt, anders als bei vorherigen Reformen
würde diese Gesundheitsreform nicht zu höheren Zuzah-
lungen führen. Dazu kann ich nur sagen: Herr Staatsse-
kretär, Ihre Reform wird in den nächsten Jahren zu einer
Verschiebung der Belastung von Arbeitgebern zu Versi-
cherten und von Gut- und Durchschnittsverdienenden zu
Geringverdienern führen wie keine andere Gesundheits-
reform vorher. Diese soziale Schieflage führen Sie ganz
gezielt herbei. Sie sollten wenigstens politisch dazu ste-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Das steht alles im Bundesgesetzblatt, Frau Bender!)


Die Kanzlerin aber möchte das lieber so. Sie hat schon
einmal ihre Erfahrungen im Bundestagswahlkampf 2005
gemacht und erlebt, wie unpopulär ein Angriff auf das
Solidarsystem ist. Sicher passt es Ihnen gut, dass nach





Birgitt Bender


(A) (C)



(D)(B)

den neuesten Berechnungen des Schätzerkreises so viel
Geld im Gesundheitsfonds ist, dass zunächst Zusatzbei-
träge nicht in großem Umfang zu erwarten sind und das
Geld sogar noch für den Sozialausgleich reicht.

Allerdings, lieber Kollege Lauterbach, sollte man da-
raus nicht den Schluss ziehen, zu fordern, das Geld
gleich wieder wegzunehmen, damit Zusatzbeiträge
schneller kommen und womöglich kein Geld für den So-
zialausgleich zur Verfügung steht, und somit eine Art
politische Verelendungsstrategie betreiben. Das halten
wir ausdrücklich für falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist wichtig, dass wir die Kopfpauschale immer
wieder zum Thema machen und Ihnen diese Durch-
tauchstrategie nicht durchgehen lassen. Vor diesem Hin-
tergrund ist es richtig, heute über diesen Antrag der SPD
zu debattieren, auch wenn man ihm anmerkt, dass er
schon etwas älter und in einigen Punkten überholt ist. Es
gibt richtige Ziele, nämlich die Wiederherstellung der
Parität oder die Leitidee, dass die gesamte Gesellschaft
für die Finanzierung des Gesundheitswesens zuständig
ist. Deswegen teilen wir auch die Forderung nach einer
Bürgerversicherung. Wir haben dafür ein Konzept vor-
gelegt.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Höchst unvollkommen!)


Aber andere Berichte – das wurde schon angespro-
chen – lassen vermuten, dass die SPD hinter den Stand
ihrer eigenen Erkenntnisse, die in diesen Antrag einge-
gangen sind, wieder zurückgefallen ist. In dem Antrag
steht richtig, es müsse in den nächsten Jahren im Bun-
deshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden
Euro geschlossen werden, wenn die Schuldenbremse
eingehalten werden solle. Dies mache deutlich – ich zi-
tiere –, „dass von einem steuerfinanzierten Sozialaus-
gleich nach dem derzeitigen Stand nicht ausgegangen
werden kann“. Zu Deutsch: Das Geld ist nicht da. Auch
wir sehen das so. Aber wenn das so ist, dann ist natürlich
auch kein Geld für die Finanzierung der Bürgerversiche-
rung über den Bundeshaushalt da. Das heißt, eine nach-
haltigere und gerechte Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung wird vornehmlich über Beiträge
stattfinden müssen. Deswegen ist unsere Bürgerversi-
cherung auch ein beitragsfinanziertes System.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Zustimmung zu dem SPD-Antrag ist als Er-
munterung an die Kolleginnen und Kollegen von der
SPD gedacht, die Kohärenz und Konsistenz ihrer Politik
zu überprüfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist eine Drohung! – Heinz Lanfermann [FDP]: Großzügig! Das war eine aufgedrängte Bereicherung, Frau Kollegin!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708705800

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär

Daniel Bahr.
D
Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1708705900


Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Sowohl die Debatte als auch der Antrag zeigen ei-
nes ganz deutlich: Die SPD ist noch immer nicht in ihrer
Oppositionsrolle angekommen. Herr Gabriel und Herr
Lauterbach machen immer mit; Hauptsache, die Regie-
rung wird kritisiert. Eine konsistente Linie ist jedoch
nicht erkennbar. Die bisherige Debatte hat das eindrück-
lich gezeigt.


(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])


Ihr Antrag, aber auch Ihre Rede, lieber Herr
Lauterbach, soll offensichtlich nur eines zeigen: Sie wol-
len die letzten neun Jahre, in denen die SPD Verantwor-
tung in der Gesundheitspolitik getragen hat, vergessen
machen. Was haben wir denn vorgefunden, als wir den
Schlüssel für das Gesundheitsministerium bekommen
haben?


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: 1 Milliarde Überschuss!)


Wir haben ein Milliardendefizit für das Jahr 2010 und
ein Milliardendefizit für das Jahr 2011 vorgefunden. Wir
haben ein Finanzierungssystem der gesetzlichen Kran-
kenversicherung vorgefunden, das nicht in der Lage war,
ein solches Milliardendefizit zu schultern. Wenn wir
nichts getan hätten, wenn wir also das beibehalten hät-
ten, was die SPD vorbereitet hat – Gesundheitsfonds,
Zusatzbeiträge, Finanzierungssystem –, dann hätten wir
Krankenkasseninsolvenzen erlebt. Die Versicherten hät-
ten sich nicht mehr auf das Gesundheitswesen und auf
ihre Krankenversicherung verlassen können.

Es war unsere Leistung, dass die Menschen in
Deutschland in diesem Jahr, Anfang 2011, wissen: Sie
können sich auf ihre Krankenversicherung und auf das
Gesundheitswesen verlassen. – Das ist nicht Ihre Hinter-
lassenschaft gewesen. Ihre Politik hätte dazu geführt,
dass die Krankenkassen teilweise zusammengebrochen
wären. Das hätte Versorgungsprobleme mit sich ge-
bracht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Absurd!)


Wir hingegen haben dafür gesorgt, dass das Konzept mit
Zusatzbeiträgen und anderem überhaupt erst tragfähig
wird. Sie diskreditieren das alles mit Begriffen wie
„Kopfpauschale“ und „Vorkasse“.

Gucken wir uns doch einmal an, was die SPD in
Deutschland eingeführt hat: In Deutschland müssen
Menschen unabhängig von ihrem Einkommen und ihrer
sozialen Situation zunächst 10 Euro bezahlen, wenn sie
zum Arzt gehen, bevor sie den Arzt überhaupt erst se-
hen.


(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!)


Das ist die Kopfpauschale und Vorkasse, wie sie die
SPD in Deutschland mit der Praxisgebühr eingeführt hat.
Das, was wir machen, ist etwas völlig anderes.


(Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])






Parl. Staatssekretär Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)

– Das scheint wehzutun, Frau Ferner. Es scheint Ihnen
richtig wehzutun, dass hier endlich einmal die Wahrheit
darüber gesagt wird, wer Vorkasse und Kopfpauschale in
Deutschland eingeführt hat.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die Praxisgebühr hat übrigens Rot-Grün eingeführt!)


Was machen wir denn? Wir führen eine gerechtere
Beitragsfinanzierung für die Bürgerinnen und Bürger
ein.

Herr Präsident, ich muss daran erinnern, dass Herr
Lauterbach eine Frage stellen möchte.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708706000

Man muss nicht gleich in Sekundenschnelle darauf

reagieren, Herr Kollege.


(Heiterkeit)


Bitte schön, Herr Lauterbach.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1708706100

Herr Bahr, ist es denn nicht richtig, dass die Länder,

in denen die FDP mitregiert, im Bundesrat der Praxisge-
bühr in Höhe von 10 Euro zugestimmt haben? In NRW
beispielsweise haben Sie mit zugestimmt. Ist es nicht
auch richtig, dass Sie fast anderthalb Jahre Zeit gehabt
hätten, die Praxisgebühr wieder abzuschaffen, wenn sie
Ihnen nicht gefällt?


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Da haben wir in NRW noch gar nicht regiert!)


D
Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1708706200


Lieber Herr Lauterbach, es tut mir leid, Sie korrigie-
ren zu müssen, aber die schwarz-gelbe Regierung in
NRW gab es leider erst ab 2005. Wir hätten sie gerne
schon früher gehabt. Bis 2005 gab es in NRW noch eine
rot-grüne Regierung. Sie hat der Praxisgebühr im Bun-
desrat in der Tat zugestimmt. Wie gesagt, damals war die
FDP nicht in der Regierung, sondern SPD und Grüne.
Sie müssen also noch einmal nachschauen, wer im Bun-
desrat zugestimmt hat.

Die FDP hat der Praxisgebühr im Bundesrat nicht zu-
gestimmt. Sie hat sie damals als einzige Partei im Deut-
schen Bundestag abgelehnt, weil sie gesagt hat: Das ist
keine Eigenbeteiligung, die wirklich einen Anreiz
schafft. – Natürlich brauchen wir eine Eigenbeteiligung;
da haben Sie völlig recht. Aber die Praxisgebühr ist eben
keine steuernde Eigenbeteiligung, die einen Zusammen-
hang zur Leistung bringt, sondern sie ist eine Vorkasse
ohne Zusammenhang zur Leistung und unabhängig von
der sozialen Situation. Das ist eine Kopfpauschale. Das,
was Sie kritisieren, haben in Wahrheit Sie in Deutsch-
land eingeführt, lieber Herr Lauterbach.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich möchte auf die anderen Punkte zu sprechen kom-
men, die genannt worden sind. Wir haben ein gerechtes
Beitragsfinanzierungssystem zustande gebracht, damit
die Versicherten in Euro und Cent vergleichen können,
was sie die Krankenversicherung kostet und was sie von
ihr bekommen. Die ersten Erfolge zeigen sich: Die
Krankenkassen, die jetzt zum Teil 8 Euro als – so nenne
ich es – Ulla-Schmidt-Gedächtnis-Preis verlangen, den
Zusatzbeitrag, unterscheiden sich von anderen Kranken-
kassen zum Beispiel bei den Verwaltungskosten. Wenn
man das einmal vergleicht, stellt man fest: Die eine hat
möglicherweise um 10 Euro höhere Verwaltungskosten
pro Beitragszahler als die andere. Hätte also die Kasse,
die 8 Euro verlangen muss, nicht so hohe Verwaltungs-
kosten wie die andere, müsste sie die 8 Euro gar nicht
verlangen. Da ist es doch eine Form des Wettbewerbs,
wenn die Versicherten vergleichen und schauen können,
was ihnen die Leistungen der Krankenkassen wert sind.
Wir wollen im Interesse der Wahlfreiheit der Bürgerin-
nen und Bürger, dass Unterschiede erkennbar werden.
Das ist ein fairer Wettbewerb.

Das, was Sie im Kern wollen, lieber Herr Lauterbach,
ist ja nicht konsistent. Sie haben erkannt, dass die Ur-
sprungsidee der Bürgerversicherung tot ist, dass das
Ganze nicht umsetzbar ist, zu viel Bürokratie, zu einem
enormen Aufwand für die Krankenkassen führt, sodass
Krankenkassen zu zweiten Finanzämtern werden: Die
Oma muss sozusagen erst einmal ihre Sparbuchzinsen
der Krankenkasse zum Zweck der Beitragserhebung zei-
gen. Diesen Irrweg haben Sie erkannt und deswegen
korrigiert.

Was Sie jetzt wollen, ist doch in Wahrheit der Ein-
stieg in ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen, in ein
staatliches, zentralistisches Gesundheitswesen, in dem
der Finanzminister jedes Jahr entscheidet, wie viel Geld
es zusätzlich für den Gesundheitsfonds, für das Gesund-
heitswesen gibt. Die Höhe der Mittel ist dann abhängig
von der Haushaltslage. Das, was Sie hier vorantreiben
wollen, ist eine Gesundheitspolitik nach Kassenlage.

Das zeigt auch Ihr aktueller Vorschlag. Er wird in ei-
ner Situation gemacht, in der wir froh sein können, dass
wir die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung
stabilisiert haben. Sie hingegen rufen nach einer Bei-
tragssenkung, die nicht zu finanzieren ist. Das zeigt die
Unseriosität der SPD, nicht der Opposition; denn die
Grünen sind da seriöser. Sie haben erkannt, dass man für
die Menschen in Deutschland verlässlich bleiben muss.
Sie von der SPD fordern eine Beitragssenkung, ohne
hier eine seriöse Finanzierung auf den Weg zu bringen.
Wir können froh sein, dass wir einen Puffer haben. Ein
Puffer ist allemal besser als eine Politik, die auf Kante
näht. Das war bekanntermaßen die SPD-Politik der Ver-
gangenheit, und daran orientieren wir uns nicht.


(Beifall des Abg. Jens Ackermann [FDP])


Zur Wahrheit gehört: Ja, wir brauchen eine gerechtere
Finanzierung. Wir brauchen mehr Wettbewerb zwischen
den Krankenkassen, damit die Versicherten entscheiden
können. Wir bringen das auf den Weg, damit die Versi-
cherten sehen können, was ihre Krankenversicherung
kostet und was sie dafür leistet. Das, was wir als deut-
sches Gesundheitswesen zu schätzen wissen und wofür
uns die Länder um uns herum beneiden, wird nicht zum
Nulltarif zu haben sein; es wird im Hinblick auf den me-
dizinisch-technischen Fortschritt und die alternde Bevöl-





Parl. Staatssekretär Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)

kerung in den nächsten Jahren seinen Preis haben. Wir
haben für eine stabile Finanzierung in den nächsten Jah-
ren gesorgt, während Sie immer noch kurzsichtig sind.
Das bedeutet für die Bürgerinnen und Bürger keine Ver-
lässlichkeit in der Gesundheitspolitik, und deswegen
sollten die Bürgerinnen und Bürger eher Union und FDP
ihr Vertrauen in der Gesundheitspolitik schenken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708706300

Das Wort hat nun Angelika Graf für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1708706400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da-

mit keine Legenden entstehen: Die festen Zusatzbeiträge
sind von Ihnen, von der CDU/CSU, gekommen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie zugestimmt, oder haben Sie nicht zugestimmt? – Heinz Lanfermann [FDP]: Aber 8 Euro waren doch fest!)


Wir wollten einkommensabhängige Zusatzbeiträge. Ich
erkläre nur, woher diese Beiträge kommen. Nicht alles
kann man der SPD ans Bein binden.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie zugestimmt?)


Ich muss einer weiteren Legende widersprechen. Wie
ist es denn mit der Praxisgebühr? Die Praxisgebühr ist
von der CSU erdacht worden. Wir haben ein Hausarzt-
modell vorgeschlagen. Aber wie es so ist im politischen
Geschäft – das wissen auch Sie, Herr Spahn –: Man ei-
nigt sich am Ende irgendwo. Die Verantwortung für sol-
che Entscheidungen allerdings ganz abzulehnen, das
geht definitiv nicht.


(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Das tun wir doch gar nicht!)


Was ebenfalls nicht geht, ist, uns die Kooperation mit
Sozialverbänden vorzuwerfen. Auf gut Bayerisch ge-
sagt: Sie packeln mit der Atomindustrie, mit der Phar-
malobby, mit dem Bundesverband der Deutschen Indus-
trie. Auch wir suchen uns unsere Bündnispartner, und
die finden wir eben bei den Sozialverbänden.

Ein weiterer Aspekt ist der Zeitablauf. Es ist in der
Tat so, dass die Große Anfrage, die wir heute ebenfalls
besprechen, schon im Februar 2010 in das parlamentari-
sche Verfahren eingebracht worden ist. Wenn Sie ein
knappes Dreivierteljahr brauchen, um diese Große An-
frage zu beantworten, und wir diesen Antrag zusammen
mit der Antwort auf die Große Anfrage behandeln wol-
len, dann ist es nicht ganz fair, uns Vorwürfe zu machen.
Das Problem lag wohl eher im Gesundheitsministerium.


(Beifall bei der SPD)


Zum Thema Kopfpauschale ist schon viel gesagt wor-
den. Ich benutze dieses Wort nach wie vor, weil das nach
meiner Auffassung eine Kopfpauschale ist. Tatsache ist:
Die unbegrenzt wachsende Höhe der Kopfpauschalen,
die durch die steigenden Kosten in der Gesundheitswirt-
schaft verursacht werden, und die Verabschiedung der
Arbeitgeber aus der Finanzierung künftiger Ausgaben-
steigerungen bergen die Gefahr – jedem, der rechnen
kann, ist das klar –, dass die Bürger massiv belastet wer-
den. Dies alles ist – das muss man deutlich sagen – von
Ihnen in der Zwischenzeit beschlossen worden.

Am Anfang hat es viel Theater gegeben, weil Sie
noch nicht wussten, was Sie wollten. Deswegen haben
wir die Große Anfrage zum Thema Kopfpauschale ein-
gebracht. Zum einen haben Sie eine große Kopfpau-
schale vorgesehen, zum anderen haben Sie etwas von ei-
ner kleinen Kopfpauschale erzählt. All das war nichts
Festes. Mit dem Theater um die große Kopfpauschale
wollen die meisten Menschen nichts mehr zu tun haben.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Die Spekulationen kamen alle von der Opposition!)


Sprechen Sie mit den Menschen; dann werden Sie fest-
stellen, dass die Kopfpauschalen von den Menschen ab-
gelehnt werden.

Ich führe nochmals das Problem der Rentnerinnen
und Rentner an. Eine Rentnerin bzw. ein Rentner kann
sich heute noch nicht vorstellen, 30 bis 40 Euro zusätz-
lich zu zahlen, ohne – wenn er bzw. sie Pech hat – einen
Cent Sozialausgleich zu bekommen. Das wird Ihnen
noch auf die Füße fallen. Da bin ich ganz sicher.


(Beifall bei der SPD)


Sie schlagen vor, dass der Rentner bzw. die Rentnerin
die Kasse wechseln soll. Das macht deutlich, wie weit
Sie von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt
sind. Gerade Ältere oder Hochaltrige sind absolut über-
fordert damit, von einer Krankenkasse zur nächsten zu
hüpfen und bald wieder zurück. Ihre Politik respektiert
nicht die Lebensrealität der Menschen.

Herr Spahn, Sie haben ausgeführt, dass die alten
Menschen Angst haben. Sie haben zu Recht Angst: zum
einen vor der Vorkasse – die kommen wird; das ist gar
keine Frage –,


(Jens Spahn [CDU/CSU]: So ein Humbug! Schmarrn, wie man in Bayern sagt!)


zum anderen wenn sie verfolgen, wie die Debatte über
die Folgen der demografischen Entwicklung in unserer
Gesellschaft geführt wird. Alte Menschen sagen mir:
Wir sind doch nicht schuld daran, dass wir so alt gewor-
den sind. Warum diskutiert ihr die ganze Zeit so, als wä-
ren wir die Schuldigen an den Ausgabensteigerungen im
Gesundheitswesen? – Das gibt mir schon zu denken. Die
alten Menschen haben ein schlechtes Gefühl. Dabei ha-
ben sie viel für unser Land getan und viel erlitten. Wir
sind davon überzeugt: Um mehr Solidarität in das Sys-
tem zu bekommen, ist die Bürgerversicherung der rich-
tige Weg.

Zur Bürgerversicherung. Viele Wege führen nach
Rom. Wir werden einen detaillierten Vorschlag unter-
breiten, über den wir diskutieren können. Wir können all





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)

die Probleme und Argumente aufnehmen, die vonseiten
der Grünen, der Linken oder von Ihrer Seite vorgetragen
worden sind.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das sind ja Trümmerstücke, was Sie da bieten bei der Bürgerversicherung!)


Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708706500

Das Wort hat nun Stephan Stracke für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1708706600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Seit 1998, liebe Frau Kollegin Graf,
versprechen Sie uns in diesem Hohen Hause, dass Sie et-
was vorlegen, das mit der Bürgerversicherung in Ein-
klang zu bringen ist, irgendetwas Greifbares, ein Kon-
zept; aber nichts dergleichen kam. Nun kündigen Sie an,
dass Sie das im April dieses Jahres machen wollen. Ein
Schelm, wer Böses dabei denkt. Am 27. März sind Wah-
len. Sie sagen sich, dass man mit der Bürgerversicherung
gut Wahlkampf betreiben kann.


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Wenn wir so taktisch denken würden, würden wir das vor der Wahl machen, Herr Kollege!)


Deswegen sparen Sie es sich, ein Konzept vorzulegen.
Von Ihnen kommt nichts Konkretes, nichts Umsetzbares,
nichts Tragfähiges.

Wir als christlich-liberale Koalition hingegen haben
gehandelt und das Preismonopol der Pharmaindustrie
gebrochen.


(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Da sind wir aber gespannt!)


Das hat dazu geführt, dass gerade für die Versicherten
Einsparungen in Milliardenhöhe erzielt werden können.
Wir haben das Defizit von 10 Milliarden Euro erfolg-
reich bekämpft, und zwar durch einen Mix, der sowohl
die Einnahme- als auch die Ausgabenseite betrifft, und
das ohne Leistungsausgrenzung, ohne Priorisierungen
und ohne den Leistungskatalog einzuschränken. Was wir
hier vorgelegt haben, ist wirklich à la bonne heure.

Jetzt erklären Sie hier, mit dem Zusatzbeitrag hätten
Sie nichts zu schaffen. Haben Sie denn mitgestimmt,
oder haben Sie nicht mitgestimmt? Natürlich haben Sie
im Rahmen der Großen Koalition dafür gestimmt. Wir
haben diesen Zusatzbeitrag jetzt weiterentwickelt und
ihn sozial flankiert,


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Sie waren die Initiatoren dieses Zusatzbeitrags!)


nämlich mit einem über Steuern organisierten solidari-
schen Sozialausgleich. Ich halte das insgesamt für rich-
tig und berechtigt.
In Ihrem Antrag fordern Sie uns als christlich-liberale
Koalition auf, Ihre kruden Ideen einer Bürgerversiche-
rung umzusetzen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Einer Bürgerverunsicherung!)


Es ist sicherlich nicht unsere Aufgabe, hierzu ein Konzept
vorzulegen. Unsere Aufgabe ist es aber, einmal darauf
hinzuweisen, was das, was Sie mit Ihrer Bürgerversiche-
rung einführen wollen, bedeutet. Im Ergebnis bedeutet es
nämlich eine schlechtere Versorgung der Patienten in
ganz Deutschland;


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: So ein Unsinn!)


denn die Leitidee, die diese Bürgerversicherung durch-
wabert, ist Staatsdirigismus.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Sie wollen zunächst einmal möglichst viel Geld von den
Versicherten einnehmen, um es dann wieder zu verteilen.
Ihre Idee bedeutet Staatsmedizin.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Der Russe kommt!)


Das gilt schon für die Positivliste, die von Ihnen immer
wieder ins Feld geführt wird. So etwas bedeutet eine
ganz klare Begrenzung der Therapiefreiheit.

Die sieben Eckpunkte, die Sie hier angedacht haben,
führen zu alles anderem als zu den paradiesischen Zu-
ständen und elysischen Verhältnissen, die Sie meinen. Es
sind nicht sieben Brücken in solche Verhältnisse, son-
dern vor allem sieben Krücken in eine schlechtere Ver-
sorgung in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zunächst einmal versprechen Sie, im Rahmen einer
Bürgerversicherung die Parität zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer wiederherzustellen. Das klingt beim
ersten Ton gut, wird aber sehr schnell dissonant, weil Sie
die Entkopplung zwischen steigenden Gesundheitskos-
ten auf der einen Seite


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die steigen nicht, gemessen am Bruttoinlandsprodukt!)


und steigenden Arbeitskosten auf der anderen Seite nicht
hinbekommen.


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist Unsinn!)


Aufgrund der demografischen Entwicklung werden die
Gesundheitskosten nämlich steigen. Diejenigen, die sich
nicht zutrauen, den Menschen die Wahrheit zu sagen,
sind im Ergebnis diejenigen, die die Bürger hinters Licht
führen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir halten das, was wir auf den Weg gebracht haben,
für sinnvoll. Damit wird nämlich nicht die Einnahme-
seite untergraben. Genau das wäre aber das Ergebnis der
Umsetzung Ihrer Forderung.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708706700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Weinberg?


Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1708706800

Ja, gerne.


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708706900

Werter Herr Kollege Stracke, ist Ihnen bekannt, dass

in den letzten 10 bis 15 Jahren die Ausgaben der gesetz-
lichen Krankenversicherung, gemessen am Bruttoin-
landsprodukt, die Quote von 6,5 Prozent niemals über-
schritten haben


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Weil das Bruttoinlandsprodukt auch steigt!)


und immer gleichbleibend waren? Wieso reden Sie in
diesem Zusammenhang von steigenden Gesundheitskos-
ten? Können Sie mir das bitte erklären?


Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1708707000

Ein solcher Vergleich im Rahmen des Bruttoinlands-

produkts ist durchaus richtig. Allerdings müssen Sie
auch auf diejenigen schauen, die das Ganze erwirtschaf-
ten, und berücksichtigen, wie die Lohnentwicklung ins-
gesamt verläuft. Deswegen ist es durchaus sinnvoll, alles
dafür zu tun, dass Arbeit in diesem Land geschützt und
gestützt wird.


(Mechthild Rawert [SPD]: Deshalb nehmen Sie es von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern?)


Gerade deshalb ist es der richtige Ansatz, hier die Parität
aufzuheben. Das tun wir, damit möglichst viele Arbeits-
plätze zur Verfügung stehen und damit auch ein entspre-
chendes Beitragsaufkommen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708707100

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage, diesmal der Kollegin Graf?


Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1708707200

Ja. – Frau Kollegin, bitte schön.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1708707300

Herr Kollege Stracke, wenn Sie sich schon so um die

Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sorgen: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass die flä-
chendeckende Einführung eines Mindestlohns ein Weg
dahin wäre?


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1708707400

Meine sehr verehrte Kollegin, Sie wissen, dass der

Mindestlohn viel debattiert und derzeit auch im Rahmen
anderer Sachzusammenhänge behandelt wird. Im Be-
reich des Gesundheitswesens hat diese Debatte – mit
Ausnahme der Pflegeversicherung, wo wir sie mit auf
den Weg gebracht haben – meines Erachtens keine ziel-
greifende Fundierung.

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber das steht im Zusammenhang!)


Entscheidend ist, dass das, was Sie als Bürgerversi-
cherung verkaufen, ein breit angelegtes Belastungspro-
gramm für die Bürgerinnen und Bürger ist. Sie schröpfen
in erster Linie die Mittelschicht in diesem Lande.
Schauen Sie sich nur einmal den Vorschlag der Grünen
an, die Beitragsbemessungsgrenze um 47 Prozent zu er-
höhen.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir tun wenigstens etwas!)


Sie haben ja eine Erhöhung von 3 750 Euro auf
5 500 Euro beschlossen. Das ist eine enorme Belastung,


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht für die kleinen Leute!)


nicht überwiegend für die Privatversicherten, sondern
zunächst einmal für die freiwillig gesetzlich Versicher-
ten. Dieser Personenkreis, der zusätzlich belastet würde,
umfasst 4 Millionen Menschen. Es träfe gerade diejeni-
gen, die tagtäglich in der Früh aufstehen und zur Arbeit
gehen, also die Leistungsträger unserer Gesellschaft.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und die anderen nicht?)


Sie arbeiten Tag für Tag dafür, dass die sozialen Siche-
rungssysteme erhalten bleiben.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir stehen dazu, dass wir Solidarität einfordern!)


Die Bürgerversicherung ist ein Enteignungsinstru-
ment;


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und warum ist das Enteignung?)


denn Sie wollen sie auf sämtliche Einkommensarten er-
strecken: auf Einnahmen aus Vermietung und Verpach-
tung sowie auf Zinsen. Das trifft nicht überwiegend die
Vermögensmillionäre. Ganz im Gegenteil: Der Dumme
ist der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer; es ist
die breite Mittelschicht in unserem Land. Sie führen da-
mit eine Sondersteuer ein, wohl wissend, dass sie einen
erheblichen bürokratischen Aufwand und damit eine Er-
höhung der Abgabenlast mit sich bringt, ganz zu schwei-
gen von der damit ausgelösten Kapitalflucht.

Was das Thema „Einbeziehung der Privatversicher-
ten“ angeht, bin ich sehr zurückhaltend. Ich glaube Ihnen
nicht, dass Sie den Vertrauensschutz und die verfas-
sungsrechtlichen Bedenken beachten werden.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Politik geht es auch nicht um Glauben, sondern um gute Konzepte!)


Sie wollen an die Rückstellungen der privaten Kranken-
kassen heran und damit an das Geld derer, die diese Bei-
träge erarbeitet haben. Sie werden alles probieren und
verfassungsrechtlich austesten, wie weit Sie gehen kön-
nen.





Stephan Stracke


(A) (C)



(D)(B)

Auch die Erweiterung des Kreises der versicherten
Personen, wie es bei der Bürgerversicherung der Fall
wäre, ist keine Lösung; denn aus Beitragszahlern werden
Kranke. Man muss sich nur einmal die Altersstruktur der
Beamten anschauen. Man muss auch einmal darüber dis-
kutieren – ich verweise in diesem Zusammenhang auf den
verfassungswidrigen Haushalt von NRW, den Minister-
präsidentin Hannelore Kraft zu verantworten hat –, wel-
che Mehrausgaben dies für die Länder bedeuten würde.

Die Bürgerversicherung, so wie die Grünen sie ange-
dacht haben, ist nicht zuletzt ein Angriff auf Ehe und Fa-
milie.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Mir kommen die Tränen!)


Sie haben schon im Zusammenhang mit dem Steuerrecht
gesagt, Sie wollten das Ehegattensplitting abschaffen.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das ist konsequent!)


Genau diesen Gedanken übertragen Sie nun auf die ge-
setzliche Krankenversicherung. Damit nehmen Sie Un-
gerechtigkeiten zwischen kinderlosen Ehepaaren und
nichtehelichen Lebensgemeinschaften in Kauf. Das Ent-
scheidende ist aber: Die Abschaffung des Ehegatten-
splittings an den Rechtsanspruch auf einen Kindergar-
tenplatz zu koppeln, untergräbt unser Verständnis von
Ehe und Familie. Es entspricht nicht unserem Verständ-
nis von Verantwortungsgemeinschaft. Mit Ihrer Forde-
rung bestrafen Sie im Ergebnis diejenigen, die Kinder
erziehen wollen. Sie wollen die Kinder in die Obhut des
Staates geben und Helfershelfer bei der Erziehung sein.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst die CSU-Männer lernen heute keine Frauen mehr kennen, die an den Herd wollen!)


Das ist Hedonismus pur und nichts, was unsere Gesell-
schaft zusammenhält.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Bürgerversicherung ist ein Irrweg. Deswegen ma-
chen wir ihn nicht mit. Wir haben für die gesetzliche
Krankenversicherung einen stabilen Finanzrahmen ge-
schaffen. Wir werden mit dem Versorgungsgesetz den
Weg, den wir uns vorgenommen haben, nämlich vom
Patienten aus zu denken und Versorgungsstrukturen ent-
sprechend zu gestalten, konsequent weitergehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708707500

Das Wort hat nun Kathrin Vogler für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708707600

Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Nach-
dem uns die Kollegin Flach und der Kollege Bahr von
der FDP hier so schön mit Nebelkerzen beworfen haben,
möchte ich einmal daran erinnern, worum es der FDP in
dieser Debatte eigentlich geht. Dazu zitiere ich aus einer
Zeitung, die Ihnen sicherlich deutlich nähersteht als uns,
nämlich aus der Welt vom 9. Februar 2009:

Die FDP will bei einer Regierungsbeteiligung nach
der Bundestagswahl die gesetzliche Krankenversi-
cherung abschaffen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Weiter heißt es:

Die FDP tritt seit längerem für die Privatisierung
des gesamten Krankenversicherungssystems ein.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Das hat sich aber kein Journalist ausgedacht, sondern der
damalige gesundheitspolitische Sprecher Ihrer Fraktion,
der heutige Staatssekretär Daniel Bahr,


(Holger Krestel [FDP]: Guter Mann!)


der jetzt im Gesundheitsministerium daran arbeitet,
diese radikalen Pläne zur Zerschlagung unseres Gesund-
heitssystems umzusetzen.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Eijeijei! Zerschlagung ist etwas anderes!)


Entsolidarisieren, Privatisieren, Ruinieren – das ist der
gruselige Dreisatz der FDP für unser Gesundheitswesen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das klingt eher nach DDR!)


Das kann man mit uns wirklich nicht machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Statt eines solidarischen Systems, in dem Starke für
Schwache und Gesunde für Kranke einstehen, wollen
Sie ein System, in dem alle gemeinsam – von der Friseu-
rin bis zum Bankmanager – die Renditen der Versiche-
rungskonzerne steigern. Es ist aber so, dass die Friseurin
mit ihrem Gehalt nur einen Basisschutz finanzieren
kann, während sich der Bankmanager alles dazukaufen
kann, was er möchte. Herr Bahr, Sie müssen ganz ent-
täuscht gewesen sein, dass dieses Konzept dem Allianz-
Versicherungskonzern nicht mehr als eine Spende in
Höhe von 50 000 Euro für den Wahlkampf wert war, wo
doch SPD, CDU, CSU und die Grünen jeweils
60 000 Euro bekommen haben.

Dann haben Sie auch noch von der CSU – der Kol-
lege Stracke hat gerade gesprochen –


(Zuruf von der CDU/CSU: Er hat eine gute Rede gehalten!)


ordentlich Knüppel zwischen die Beine geworfen be-
kommen. „Wildsau“ hat es geheißen, als Herr Seehofer
die Kopfpauschale als genau das bezeichnet hat, was sie
ist, nämlich als zutiefst unsozial.





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Was haben Sie von Schalck-Golodkowski gekriegt?)


Auch hier möchte ich zitieren: „Kopfpauschale bringt
zu hohe Belastung“ und „Die CSU lehnt eine Kombina-
tion aus Beitragserhöhung und Kopfpauschale ab“. Das
stand im Juni 2010 auf Ihrer Website www.csu.de, und
im September hat Herr Söder das Ganze noch einmal
bestätigt. Da möchte ich Ihnen doch fast die Website
www.wegweiser-demenz.de des Familienministeriums
empfehlen;


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und der SPD)


denn schon zwei Monate später, im November, haben
alle CSU-Abgeordneten in diesem Haus beim GKV-Fi-
nanzierungsgesetz genau für das gestimmt, was sie vor-
her kritisiert haben:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


eine Kombination aus Beitragserhöhung und Kopfpau-
schale. Vielleicht war bei Ihrer Meinungsbildung auch
der erneute Scheck von der Allianz vom Juli 2010 be-
hilflich?


(Lachen bei der FDP)


Aber Sie würden das am liebsten vergessen. Deswegen
haben Sie den Text von der Homepage gelöscht.

Jetzt kommt der Kollege Spahn von der CDU daher
und versucht, sich mit großem Getöse populistisch als
Rächer der gesetzlich Versicherten und Vertreter der Pa-
tientenrechte darzustellen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Da kennen Sie sich ja aus, beim Populismus! Da sind Sie ja Fachleute!)


Mich interessiert, Herr Spahn: Warum profilieren Sie
sich als Wahrer der Interessen von Patientinnen und Pa-
tienten und haben gleichzeitig in der gestrigen Anhö-
rung, in der es um die Patientenrechte ging, mit keiner
einzigen Organisation gesprochen, die die Interessen der
Betroffenen vertreten hat? Stattdessen haben Sie dem
Verband der privaten Krankenversicherung viel Raum
gegeben, um darzustellen, was er unter Patientenrechten
versteht. Dafür sind Ihnen bzw. Ihrer Partei wahrschein-
lich auch 2011 wieder die 60 000 Euro von der Allianz
sicher.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie das bei Lafontaine abgeschrieben?)


Ich kann Ihnen versprechen: Die Linke wird weiter-
hin für ein solidarisches und soziales Gesundheitswesen
kämpfen. Dafür verzichten wir als einzige Partei in die-
sem Haus gern auf den jährlichen Scheck von der Allianz.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Sie sind ja nur neidisch! Sie haben ja noch die SED-Millionen! – Gegenruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die sind bis heute verschwunden! Die sind bis heute noch nicht aufgetaucht! Dafür hat der Freistaat Bayern dem Schalck-Golodkowski eine Villa am Starnberger See hingestellt!)


Die Linke und die Gesundheit haben nämlich eines ge-
meinsam: Beide kann man nicht kaufen; beide sind un-
bezahlbar.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708707700

Das Wort hat nun Lothar Riebsamen für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1708707800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nichts könnte anschaulicher machen als diese Vorlagen,
die wir heute diskutieren, wie entscheidend und zu-
kunftsweisend die christlich-liberale Koalition im abge-
laufenen Jahr 2010 im Gesundheitswesen für unser Land
vorangekommen ist. Wenn man die Große Anfrage und
den Antrag liest, wird deutlich: Sie sind von der Ge-
schichte längst überholt. Auf Schwäbisch würde man sa-
gen: Sie sind so aktuell wie die alte Fastnacht.

Genau in den von Ihnen angesprochenen Punkten ha-
ben wir das Gesundheitswesen in unserem Land ein
Stück weit zukunftsfester gemacht. Wir haben die Ar-
beitskosten entlastet, nicht von den Kosten, die wir bis-
her im Gesundheitswesen hatten, sondern von den zu-
künftig anfallenden Kosten, die aufgrund der
demografischen Entwicklung und des medizinischen
Fortschritts entstehen. Diese Kosten wollen wir nicht zu-
sätzlich in den Arbeitskosten haben. Zudem haben wir
Entscheidendes für die Solidarität in diesem System zwi-
schen den Gesunden, den Kranken, den Reicheren und
den Ärmeren getan.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Davon verstehen Sie gar nichts!)


Wenn man Ihre Vorlagen liest, wird nicht deutlich,
wie Sie reagieren und was Sie tun wollen. Sie akzeptie-
ren, dass Jahr für Jahr die Gesundheitskosten deutlich
steigen. Sie müssen auch akzeptieren, dass sie in Zu-
kunft noch viel deutlicher und progressiver steigen wer-
den. Sie haben nichts anderes anzubieten, als zusätzlich
Steuermittel ins System zu pumpen, ohne zu sagen, wo-
her diese Steuermittel kommen sollen – vermutlich aus
Steuererhöhungen –, oder diese Kosten zusätzlich auf
die Arbeitskosten abzuwälzen.


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Und Sie lassen die Beitragszahler alles zahlen!)


Wir können den Herausforderungen nicht begegnen,
indem wir die Produktivität und damit die Wettbewerbs-
fähigkeit unseres Landes belasten. Es ist doch kein Zu-
fall, dass wir heute nur noch 3 Millionen Arbeitslose
oder weniger haben und Vollbeschäftigung anstreben,
während wir zum Ende der rot-grünen Regierungszeit
5 Millionen Arbeitslose hatten. Es ist doch auch kein Zu-
fall, dass unsere deutsche Volkswirtschaft nach dieser
Krise im Vergleich mit allen anderen Euro-Ländern am
besten dasteht; ein Stück weit gilt das sogar im weltwei-





Lothar Riebsamen


(A) (C)



(D)(B)

ten Vergleich. Wir wollen die Volkswirtschaft unseres
Landes wettbewerbsfähig halten. Dazu beigetragen ha-
ben auch die Tarifpartner, die Arbeitgeber und die Ar-
beitnehmer, die in der Krise Lohnzurückhaltung geübt
haben und die Lohnkosten dadurch nicht zusätzlich be-
lastet haben. Das hat uns starkgemacht und gut aus die-
ser Krise herauskommen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Erwin Lotter [FDP])


Sie selbst haben diesen Weg einst als richtig erkannt.
Die rot-grüne Regierung hat die Kosten um 0,9 Prozent-
punkte in Richtung Arbeitnehmer verschoben,


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das war ein Fehler!)


und während der Großen Koalition wurden die Arbeitge-
berbeiträge eingefroren. Auch dies geschah mit der Ab-
sicht, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die
Arbeitsplätze in unserem Land zu erhalten.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich kann es nicht mehr hören, diese Lohnnebenkostenlitanei!)


Sie ignorieren die demografische Entwicklung. Wir
hingegen haben im vergangenen Jahr zwei Gesetze ver-
abschiedet, die deutliche Fortschritte bringen. Dem Defi-
zit von 9 Milliarden Euro, das zu erwarten war, sind wir
dadurch begegnet, dass wir den Zwangsrabatt auf
16 Prozent erhöht haben und wir weniger im Bereich der
ambulanten und stationären Einrichtungen gegeben ha-
ben. Das waren die kurzfristigen Maßnahmen.

Durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz ha-
ben wir einen Paradigmenwechsel auf der Kostenseite
erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben das erreicht, was unter einer sozialdemokrati-
schen Ministerin elf Jahre lang nicht erreicht wurde: Die
pharmazeutische Industrie und die gesetzlichen Kran-
kenversicherungen begegnen sich auf Augenhöhe,


(Mechthild Rawert [SPD]: Sie sollten sich schämen!)


wenn neue Medikamente eingeführt werden. Grundlage
dieser Verhandlungen ist der sogenannte Mehrnutzen.
Das war ein ganz entscheidender Fortschritt im vergan-
genen Jahr, den wir uns zugutehalten können. Es ist gut,
dass wir im vergangenen Jahr die Regierungsverantwor-
tung hatten. So konnten wir diesen Schritt gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie preisen immer wieder die Solidarität, die in frühe-
rer Zeit angeblich herrschte. Dazu muss ich Ihnen sagen:
So weit war es mit der Solidarität nicht her. Die Solida-
rität galt bis zur Beitragsbemessungsgrenze von
3 750 Euro. Darüber hinaus gab es sie nicht. Die Solida-
rität galt nicht beim Zusatzbeitrag, den es damals schon
gab. Wir haben zum ersten Mal einen Sozialausgleich
eingeführt, der aus Steuermitteln finanziert wird.

(Elke Ferner [SPD]: Welche Steuermittel denn?)


Die reicheren Privatversicherten und die Wirtschaft
müssen sich an diesem Sozialausgleich beteiligen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Wir haben keine Kopfprämie eingeführt. Ich sage es
noch einmal: Für uns ist dies ein Stück weit auch Fami-
lienpolitik. Mit uns ist es nicht zu machen, dass Kinder
auf der Grundlage einer Kopfprämie veranlagt werden.
Das wollen wir schon aus familienpolitischen Gründen
nicht.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Es ist schlicht infam, diesen Punkt immer wieder anzu-
sprechen; denn das ist schlicht und ergreifend unwahr.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die SPD weiß nicht, was sie will. Sie nimmt Ab-
schied von Hartz IV, sie nimmt Abschied von der Rente
mit 67,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


sie nimmt auch ein Stück weit Abschied von der Schul-
denbremse. Nun geht sie auch noch auf Distanz zur Bür-
gerversicherung, zumindest was die Lesart der Grünen
anbelangt. Der Begriff „Bürgerversicherung“ ist eigent-
lich durch die Grünen besetzt.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie müssen sich einen neuen Begriff überlegen. „Bürger-
verunsicherung“ wäre ein guter Begriff. Das wäre mein
Rat.


(Heinz Lanfermann [FDP]: „Schildbürgerversicherung“ ist sehr gut!)


– Oder „Schildbürgerversicherung“. – Wenn die Grünen
die Dagegen-Partei sind, dann ist die SPD die Rolle-
rückwärts-Partei. Das klingt zwar sehr sportlich, ist aber
nur Ausdruck dafür, dass sie das vorwärts nicht kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708707900

Das Wort hat nun Mechthild Rawert für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1708708000

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf den

Antrag eingehe, möchte ich auf einige der Äußerungen
eingehen, die hier gemacht wurden.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Aha!)


Ich fange mit der Förderung im Bereich der Familien-
politik an. Ihnen ist – ich empfehle Ihnen, es zu lesen –





Mechthild Rawert


(A) (C)



(D)(B)

das Sachverständigengutachten für den ersten Gleich-
stellungsbericht bekannt. Ihre Ministerin war zu feige, es
persönlich entgegenzunehmen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Welche von den Ministerinnen?)


– Sie haben nur eine vermeintliche Frauenministerin. Sie
heißt Kristina Schröder. – In diesem Gutachten für den
Gleichstellungsbericht – es wurde übrigens von Frau von
der Leyen in Auftrag gegeben – wird Ihnen eine Frauen-
quote empfohlen. Darin wird Ihnen auch empfohlen,
über das Ehegattensplitting nicht nur nachzudenken,
sondern es auch zu reformieren. Ich sage ausdrücklich:
Am besten wäre eine Abschaffung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aha! Wie viel müssen die Versicherten mehr zahlen? Steuererhöhung für alle, die Kinder haben!)


Das steht in dem Ihnen vorgelegten Sachverständigen-
gutachten für den Gleichstellungsbericht. Es ist eine gute
Lektüre.

Zweiter Punkt, Staatsobhut. Ich habe gerade einmal
nachgeschaut, Herr Stracke: Sie sind Ende Dreißig, ge-
ben an, ledig zu sein; ob Sie Kinder haben, weiß ich
nicht. Ich empfehle Ihnen: Machen Sie es vor! Machen
Sie private Väterobhut! Schimpfen Sie aber nicht auf
gute öffentliche Kitas, von denen Bayern mehr bräuchte,
und auf gute Ganztagsbetreuung; denn diese dienen der
Bildung der Kinder und der Emanzipation der Frauen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu einem weiteren Vorwurf. Es wurde gesagt, der An-
trag und die Anfrage seien alt. Ja, sie sind nicht mehr
jüngsten Datums; das gebe ich unumwunden zu. Aber
Ihre Beantwortung unserer Großen Anfrage mit 28 Fra-
gen hat sieben Monate gedauert.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Auf schlechte Fragen muss man sich ja auch was einfallen lassen!)


Das Allerschärfste kommt noch: Sie sind noch nicht ein-
mal in der Lage, alle 28 Fragen zu beantworten.


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD])


Bei den Fragen 4 bis 14 haben Sie es sich leicht gemacht
und jeweils als Antwort geschrieben: „Siehe Antwort zu
Frage 2“.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Schlechte Fragen sind schwierig zu beantworten!)


Mit diesen Vorwürfen wäre ich also sehr vorsichtig,
wenn Sie nicht einmal eine Große Anfrage beantworten
können. Außerdem zeigt dies, dass Sie unwillig sind,
Transparenz zu schaffen und Ihre Politik auf den Prüf-
stand zu stellen.


(Beifall bei der SPD – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Nicht nur unwillig, sondern auch unfähig!)

Jetzt kommen wir zum Antrag „Paritätische Finanzie-
rung in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder-
herstellen“. Sie haben abgelehnt, unseren Vorschlägen
nachzukommen, und sind der Meinung, dass Ihr GKV-
Finanzierungsgesetz von Ende 2010 besser sei. Nein, das
ist natürlich nicht so. Wir wollen die paritätische Finan-
zierung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wir wollen auch einen
solidarischen Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und
privater Krankenversicherung.

Noch eines: Sie beschimpfen die Verbände der Liga,
egal ob Caritas, AWO, Jüdische Gemeinde oder ähnli-
che, und stellen diese als willfährige Bündnispartner an-
derer Parteien dar. Das zeigt eindeutig mangelnden Re-
spekt vor der Fachlichkeit und Autonomie der Sozialver-
bände.


(Lothar Riebsamen [CDU/CSU]: Das schreibt Herr Gabriel! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Genau so sieht es nämlich aus! Sie vereinnahmen die!)


– Nein, nein. Wir arbeiten mit allen Fachverbänden zu-
sammen, aber mit Respekt vor deren Autonomie und
Fachlichkeit.


(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Lesen Sie einmal die Briefe durch! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist danebengegangen!)


Sie bekennen sich zu kassenindividuellen Zusatzbei-
trägen, zur Kopfpauschale.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Individuell und pauschal sind Widersprüche, Frau Kollegin!)


Sie bekennen sich auch zur Vorkasse. Darauf sind Sie
auch noch stolz; dies war den Äußerungen von Herrn
Spahn und Frau Flach vorhin zu entnehmen. Das Ganze
ist eine Ausräuberung von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern. Ihr Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge
zeigt eindeutig, dass Sie Ihre Aussage „mehr Netto vom
Brutto“, wenn überhaupt, nur für Hoteliers, Erben und
Arbeitgeber wahrmachen wollen, aber auf keinen Fall
für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.


(Beifall bei der SPD)


Ein neuer Punkt: In den Medien war gestern und
heute zu lesen, dass durch die gute und vorausschauende
Steuer- und Arbeitsmarktpolitik der Sozialdemokratin-
nen und Sozialdemokraten in den Zeiten der Wirt-
schafts- und Finanzkrise der Gesundheitsfonds 2010 gut
gefüllt war. Wir haben jetzt einen Überschuss von
3,9 Milliarden Euro.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: In Ihrem Antrag steht das aber anders!)


Ich bin übrigens der Meinung, Sie sollten sich bei Ulla
Schmidt für diese gute und vorausschauende Politik be-
danken.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Was ist mit dem Defizit gewesen?)






Mechthild Rawert


(A) (C)



(D)(B)

– Sie haben eine gut gefüllte Kasse vorgefunden. Sie re-
klamieren hier ständig ein Defizit. Sie reden von
10 Milliarden Euro. Es waren 6,9 Milliarden Euro.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: In Ihrem Antrag steht was von Defizit! – Heinz Lanfermann [FDP]: Märchenstunde!)


Ein anderer Punkt: Sie verschleiern die zukünftigen
Ausgabensteigerungen, die auf die Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen, aber auch – das finde ich perfider –
auf die Niedrigverdienerinnen und -verdiener, also auf
Rentner, auf Alleinerziehende und auf Empfänger von
ALG II, zukommen.

Sie wissen – wir wissen es auch –, dass die Kassen
schon jetzt Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, also
auch Erwerbslose, drängen, die Kassen zu wechseln.
Warum reklamieren Sie für die einen das Recht auf freie
Kassenwahl, nehmen aber billigend in Kauf, dass andere
zu einem Kassenwechsel gezwungen werden? Das kann
einfach nicht sein. Das ist wirklich nicht in Ordnung.

Sie machen es doch wie folgt – ich nenne ein Beispiel –:
Ein Mensch sitzt im Wartezimmer seines Hausarztes.
Der Doktor kommt. Er sagt aber nicht mehr: Der
Nächste, bitte! Er sagt eindeutig: Der Reichste, bitte!


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Heinz Lanfermann [FDP]: Mein Gott!)


Das ist eindeutig Zweiklassenmedizin.


(Beifall bei der SPD)


Sie halten zwar an Steuersenkungen fest, aber diese
nützen den Menschen mit geringem Einkommen nichts.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Können Sie mal zu Ihrem Antrag kommen?)


Ihre Mär, Sie seien so gerecht und so sozial, wird gerade
auch an diesem Punkte immer wieder deutlich. Denn
das, was Sie an Entlastungen proklamieren, kommt bei
den Bürgerinnen und Bürgern mit geringem Einkommen
nicht an.

Wir bieten mit unserem Antrag zur paritätischen Fi-
nanzierung eine klare Alternative, und zwar im Interesse
von Bürgerinnen und Bürgern. Wir stehen für die paritä-
tische, wir stehen für die solidarische Finanzierung des
Lebensrisikos Krankheit.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Weiß Ulla Schmidt davon?)


Wir entlassen die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verant-
wortung. Denn wir sind der Meinung, dass die paritäti-
sche Finanzierung der Krankenversicherung einer der
Grundpfeiler eines solidarisch verfassten Gemeinwesens
ist. Wir brauchen dieses gerechte System für einen ge-
recht finanzierten Sozialstaat, für eine soziale Markt-
wirtschaft. Ihre Umverteilung von oben nach unten be-
deutet Zweiklassenmedizin, Vorkasse, Verunsicherung;
all das kam schon.

Wir werden Ihnen das Konzept der Bürgersozialversi-
cherung in Kürze vorlegen,

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das hören wir schon seit Jahren! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU und der FDP: Ah! – Wer es glaubt!)


und Sie werden vor allen Dingen überrascht sein, wie
dies durchgerechnet ist,


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


während Sie – ich komme auf die Beantwortung der
Großen Anfrage zurück – einfach lapidar feststellen:

Längerfristige Prognosen werden von der Bundes-
regierung im Bereich der gesetzlichen Krankenver-
sicherung insbesondere aufgrund der spezifischen
Unsicherheiten im Ausgabenbereich nicht erstellt.

Das heißt, Ihnen fehlen Daten, Ihnen fehlen Zahlen.
Sie machen eine unklare Gesundheitspolitik. Wir hinge-
gen werden ab 2013 eine klare sozialdemokratische Al-
ternative bieten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Weiß der Wähler schon davon? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Da sind wir aber gespannt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708708100

Als letzte Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kol-

legin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1708708200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Lauterbach, das war wohl nichts: Trost, Rat und
Zuspruch von den Linken, ein bisschen Angriff von Ih-
nen, die Grünen spendeten eher Trost. Diese 75 Minuten
hätten Sie sich schenken können.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sie müssen keine Noten verteilen!)


Ich kann dazu einen Kinderreim bemühen: Getretener
Quark wird breit, nicht stark.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: So sieht’s aus!)


Frau Rawert, da hilft auch das Ausweichen in Ihr
Lieblingsthema „Gender“ nichts. Es wird einfach nicht
besser.


(Zuruf von der SPD: Auch wenn Ihnen nichts einfällt, können wir doch diskutieren!)


Ihre Anträge waren bestenfalls überholt; sie waren von
Anfang an ungeeignet und überflüssig.

Ich will es an dieser Stelle konkret zusammenfassen.
Noch im März 2010 haben Sie einen „Finanzausgleich
zwischen gesetzlicher und privater Krankenversiche-
rung“ beantragt, ebenso die Streichung der kassenindivi-
duellen Zusatzbeiträge, die Sie übrigens mit uns einge-
führt haben, und die Rückkehr „zu paritätisch finanzierten
Beitragssätzen“,





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


von denen Sie sich aus guten Gründen mit uns abgekehrt
haben. Darüber hinaus haben Sie die Bundesregierung
aufgefordert, „ein Konzept zur Einführung einer solida-
rischen Bürgerversicherung“ vorzulegen. Sie kündigen
seit 1998 – Herr Stracke hat es bereits gesagt – ein sol-
ches Konzept an, aber konnten es bisher nicht vorlegen.


(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht! Informieren Sie sich doch erst mal richtig, Frau Kollegin!)


Jetzt, nachdem wir, die christlich-liberale Koalition,
die Finanzierung der gesetzlichen Kassen mit unserem
Konzept in den Griff bekommen haben, kommen Sie
und sagen, wir hätten alles ganz falsch gemacht: Eigent-
lich habe es gar kein Defizit gegeben; wir hätten zu viel
Geld gespart und es auch noch von den falschen Zahlern
eingenommen, also zu wenig Strukturen geändert und zu
viel gespart. Ich zitiere hier aus Ihrem eigenen Antrag.
Jetzt gibt es angeblich Probleme bei der „Kopfpau-
schale“ – so nennen Sie es – und bei den Effizienzreser-
ven – da sind Sie in der letzten Ausschusssitzung „umge-
switcht“ –, die angeblich noch nicht gehoben worden
sind. Jetzt, nachdem erstmals Planungssicherheit einge-
treten ist, wollen Sie dem Gesundheitsfonds Mittel ent-
ziehen. Ihr Petitum ist weder aktueller noch besser ge-
worden, aber populistischer; und das war Sinn und
Zweck der Übung.

In Ihrem Antrag ist ausschließlich die von Ihnen ge-
nannte Tatsache richtig, dass es Effizienzreserven im
Gesundheitssystem gab und gibt. Genau deshalb haben
wir damit begonnen, diese Effizienzreserven zu heben,
Ausgabenblock für Ausgabenblock. Wir haben mit den
Arzneimitteln begonnen; auch das ist heute schon gesagt
worden. Erstmals werden Arzneimittel einer Nutzenbe-
wertung unterzogen. Erst wenn Medikamente einen zu-
sätzlichen Nutzen haben, besser sind als diejenigen, die
bereits auf dem Markt sind, wird mit der Pharmaindus-
trie überhaupt über einen Preis verhandelt. Bisher konn-
ten die Pharmaunternehmen ohne Verhandlung jeden
Preis durchsetzen. Das ist Innovation; das ist eine echte
Strukturänderung, mit der wir angefangen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nun zum Finanzierungsdefizit. Der Schätzerkreis ging
im März 2010 – das ist das Datum Ihres Antrags – von
einem Defizit in Höhe von 7,9 Milliarden Euro aus; im
Sommer waren es dann schon 9 bis 11 Milliarden Euro.
Deshalb haben wir mit dem GKV-Finanzierungsgesetz
reagiert: Wir haben die Ausgaben gesenkt und die Ein-
nahmen erhöht. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, stellt der Schätzerkreis in seiner aktuellen
Prognose fest, dass der Gesundheitsfonds 2010 nicht
mehr defizitär ist, die gesetzliche Mindestreserve erreicht
wird und sie 2011 – das ist natürlich auch der guten wirt-
schaftlichen Entwicklung geschuldet – voraussichtlich
sogar überschritten wird. Die Mindestreserve liegt übri-
gens bei einem Fünftel der Monatsausgaben der gesetzli-
chen Krankenversicherung. Wir reden hier also noch
nicht von einem Juliusturm.

Unser Konzept funktioniert also. Wir haben es end-
lich erreicht, wieder Planungssicherheit für mehrere
Jahre zu schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Erwin Lotter [FDP])


Da werfen Sie, die um das dramatische Defizit der GKV
wussten und im eigenen Antrag sogar schriftlich darauf
hingewiesen haben, uns vor, dass die Rückkehr zu dem
Beitragssatz, der vor der Krise galt, nicht notwendig
war; wir hätten das nur beschlossen, damit keine Kasse
einen Zusatzbeitrag verlangt. Das ist doch absurd und
widersinnig; das muss gar nicht weiter kommentiert wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Reserve ist dafür gedacht, schwankende Einnah-
men der Kassen auszugleichen. Wir wollen die Sicher-
heit für Patienten und Steuerzahler nicht wieder aus der
Hand geben. Ihre Forderung, die Beiträge jetzt zu sen-
ken, ist für mich bestenfalls nicht nachvollziehbar;
schlimmstenfalls handelt es sich um den Ihnen schon
eingangs vorgeworfenen Populismus.

Jetzt beklagen Sie die angebliche Abkehr von der so-
lidarischen Finanzierung. Es war aber richtig, dass wir
vor zwei Jahren gemeinsam – wohlgemerkt: gemeinsam –
die Finanzierung der GKV umgestellt und sie damit von
den Arbeitskosten gelöst haben, indem wir den Anteil
der Arbeitgeber am Beitragssatz eingefroren haben.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Jetzt kommt die Geschichte ja schon wieder!)


– Herr Weinberg, hören Sie einfach zu. Dann wird es
auch Ihnen klar. –


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich kenne schon das Märchen von den Nebenkosten! Ich höre es dauernd!)


Wenn Sie von der SPD bei Ihrer Kehrtwende bleiben wür-
den, müssten Sie weiter mit den früheren Kostendämp-
fungsgesetzen und Budgets leben. Sie würden nur Verlierer
produzieren. Sie würden damit der Gesundheitswirt-
schaft, einem Wachstumsmarkt, die Daumenschrauben
anlegen. Sie könnten dann die Leistungserbringer, die
Ärzte, das Pflegepersonal, das Klinikpersonal, nicht an-
nähernd leistungsgerecht bezahlen. Die Patienten und die
Versicherten würden dann Arbeitsplätze verlieren, weil
unsere Wirtschaft infolge der hohen Lohnkosten im Ex-
port nicht mehr wettbewerbsfähig wäre und ins Ausland
abwandern würde.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist Quatsch! Kennen Sie die Wirtschaftsdaten überhaupt?)


Nachdem all Ihre Vorwürfe ins Leere gelaufen sind,
haben Sie die Themen umgestellt, Herr Lauterbach. Jetzt
versuchen Sie, ein Alternativkonzept vorzulegen. Dazu
kann ich Ihnen nur sagen – das ist heute schon mehrfach





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)

angesprochen worden –: Nachdem die Regierung Ihnen
bei Ihren falschen Ideen nicht behilflich sein wollte, hat
Ihr Präsidium sieben Eckpunkte für die Bürgerversiche-
rung vorgelegt. Inhaltlich gibt es aber weder konkrete
Aussagen noch Gesetzesvorschläge.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Hat Ihnen das der Arbeitgeberverband aufgeschrieben? Exportweltmeister, aber wir können nicht konkurrieren? Amnesie nennt man das!)


Die Idee der Verbreiterung der Einkommensarten – das
war übrigens der Wesenskern der Bürgerversicherung –
wird bereits jetzt, zwei Monate später, nicht mehr wei-
terverfolgt. Sie sagen, es sei sehr bürokratisch, den
Krankenkassen die Funktion von Finanzämtern zuzu-
weisen. Genau das haben wir auch gesagt. Die Realität
hat Sie auch diesbezüglich eingeholt.

Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Wir
haben bereits Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsreserven
erschlossen. Wir werden auch weitere erschließen. Wir
haben den Weg für eine tragfähige Finanzierung der ge-
setzlichen Krankenversicherung geebnet. Wir haben die
Einnahmen und die Ausgaben stabilisiert. Wir haben das
System der GKV zukunftsfest gemacht.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Unsolidarisch haben Sie es gemacht!)


Unser System funktioniert. Die Bürgerversicherung ist
weder geeignet noch notwendig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708708300

Ich schieße die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Paritätische Finanzierung in der gesetzli-
chen Krankenversicherung wiederherstellen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4476, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/879 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der
SPD und der Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkten 24 a bis c sowie
Zusatzpunkt 2 auf:

24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth (Quedlinburg), Friedrich Ostendorff, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schenkelbrand bei Pferden verbieten

– Drucksache 17/4438 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


Technikfolgenabschätzung (TA)

Innovationsreport
Stand und Bedingungen klinischer Forschung
in Deutschland und im Vergleich zu anderen
Ländern unter besonderer Berücksichtigung
nichtkommerzieller Studien
– Drucksache 17/3951 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


Technikfolgenabschätzung (TA)

Politikbenchmarking
Medizintechnische Innovationen – Herausfor-
derungen für die Forschungs-, Gesundheits-
und Wirtschaftspolitik
– Drucksache 17/3952 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen
durch mehr Fachpersonal für Hygiene und
Prävention

– Drucksache 17/4452 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of-
fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 a bis o auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 25 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie
im Eichgesetz sowie im Geräte- und Produkt-
sicherheitsgesetz und zur Änderung des Ver-
waltungskostengesetzes
– Drucksache 17/3983 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/4559 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin)


Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/4559, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/3983 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Stimmenthaltung der SPD ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Anpassung chemikalienrecht-
licher Vorschriften an die Verordnung (EG)

Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau der
Ozonschicht führen, sowie zur Anpassung des
Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprü-
fung an Änderungen der Gefahrstoffverord-
nung

– Drucksachen 17/4142, 17/4292 Nr. 2.1,
17/4523 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Frank Schwabe
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4523, der Verordnung auf
Drucksache 17/4142 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch der Kommission
Optionen für die Einführung eines Europäi-
schen Vertragsrechts für Verbraucher und
Unternehmen KOM (2010) 348 endg.; Rats-
dok. 11961/10
– Drucksachen 17/2994 A 16, 17/4565 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Christine Lambrecht
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linken an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Modernisierungspartnerschaft mit Russland –
Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stär-
kere Kooperation und Verflechtung
– Drucksachen 17/1153, 17/1822 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Franz Thönnes
Dr. Bijan Djir-Sarai
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1822, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1153 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss-
empfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und
Linken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der
Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Modernisierung braucht Rechtsstaatlichkeit –
Partnerschaft mit Russland fördern
– Drucksachen 17/2426, 17/4560 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Franz Thönnes
Michael Link (Heilbronn)

Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)






Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4560, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2426 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP
und Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimm-
enthaltung der SPD angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 25 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 200 zu Petitionen
– Drucksache 17/4454 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 200 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 25 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 201 zu Petitionen
– Drucksache 17/4455 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 201 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 25 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 202 zu Petitionen

– Drucksache 17/4456 –

Wer stimmt dafür? – Enthaltungen? – Wer stimmt da-
gegen? – Sammelübersicht 202 ist einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 25 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 203 zu Petitionen

– Drucksache 17/4457 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 203 ist mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der Linken angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 25 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 204 zu Petitionen

– Drucksache 17/4458 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 204 ist mit den Stim-
men des Hauses gegen die Stimmen der Linken ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 25 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 205 zu Petitionen
– Drucksache 17/4459 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 205 ist mit den Stim-
men des Hauses gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 206 zu Petitionen
– Drucksache 17/4460 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 206 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 207 zu Petitionen
– Drucksache 17/4461 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 207 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-
men von SPD und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 208 zu Petitionen

– Drucksache 17/4462 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 208 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von
SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 25 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 209 zu Petitionen
– Drucksache 17/4463 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den
Zusatzpunkt ZP 3 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Schlaglochchaos beseitigen – Kommunale Fi-
nanzen stärken

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Katrin Kunert für die Fraktion der Linken.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708708400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf

Deutschlands Straßen ist der Teufel los. Wer von uns
täglich auf die Straße geht oder die Straße bzw. den Fuß-
gängerweg benutzen muss oder mit Radfahrern ins Ge-
spräch kommt, muss erkennen, dass Autos, Busse, Fahr-
räder und auch Kinderwagen stark gefährdet sind, ganz
zu schweigen von dem Leben der Betroffenen. Überall
Schlaglöcher und Risse auf den Straßen – das ist ein un-
glaublicher Zustand in diesem reichen Land.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Verkehrsminister sagt, er mache zusätzlich
2,2 Milliarden Euro für die Sanierung der Straßen lo-
cker. Was er nicht sagt, ist, dass diese 2,2 Milliarden
Euro bereits im Haushalt stehen, und er sagt nicht, dass
dieses Geld nur für Bundesstraßen verplant ist.


(Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister: Das ist falsch, wie Sie zitieren!)


Auf den anderen 80 Prozent der Straßen, den kommuna-
len Straßen, dürfen wir die Schlaglöcher noch etwas län-
ger genießen. Die Städte, Gemeinden und Landkreise
stehen mit dem Rücken zur Wand. Das heißt, dass sie
nicht einmal die nötigsten Reparaturen erledigen kön-
nen.

Die ganze Sache treibt paradoxe Blüten. Im letzten
Winter hat ein thüringischer Ort seine Schlaglöcher ver-
kauft, um die Sanierungskosten einzutreiben. Ich weiß,
Sie können es nicht mehr hören, aber die Kommunen
sind am Ende – durch Ihre Politik.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)


Das Schlimme ist, dass sich daran nichts ändert, Herr
Döring. Die Linke sagt: Die Kommunen müssen finan-
ziell endlich so ausgestattet werden, dass sie alle ihre öf-
fentlichen Aufgaben ordentlich erledigen können.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)


Die Bundesregierung hat unter dem Motto „Wenn ich
mal nicht weiter weiß, dann bilde ich einen Arbeitskreis“
eine Gemeindefinanzkommission ins Leben gerufen, die
geheim tagt. Aber anscheinend weiß auch sie nicht wirk-
lich weiter. Ergebnisse der wichtigsten Arbeitsgruppe
dieser Kommission sollen nun erst im Juni vorliegen. Ich
bin einmal gespannt, was dabei herauskommt; denn es
scheint weniger um die Ausstattung der Kommunal-
finanzen zu gehen, als darum, wer dort am schadlosesten
herauskommt: Land oder Bund. Das geht nun einmal gar
nicht. Der Finanzminister hat zwar kürzlich sein Herz
für die Kommunen entdeckt und meint, die Kommunen
brauchten natürlich einen größeren finanziellen Spiel-
raum, aber getan hat er nichts.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Schlaglö-
chern. Dresden braucht nur für Notreparaturen
1,5 Millionen Euro, Zwickau 1 Million Euro, die Stadt
Halle 2,2 Millionen Euro, und die Stadt München – so
wird durch die CSU im Stadtrat gefordert – braucht
10 Millionen Euro als Sofortprogramm. Eine goldene
Straßenbauregel besagt, dass pro Jahr pro Quadratmeter
Straße 1,30 Euro ausgegeben werden muss, um intakte
Straßen zu haben. Da die Kommunen aber klamme Kas-
sen haben, können sie nur die Hälfte davon aufbringen.
Das bedeutet, dass 40 Prozent aller Straßen als schwer
geschädigt eingestuft werden; das sagt der TÜV.

Die Überschriften überschlagen sich derzeit – und die
Regierung auch. Die Wirtschaft boomt, sagen alle. Aber
warum kommt dieser Aufschwung nicht in den Kommu-
nen an, frage ich Sie.

Herr Brüderle hat beim Jahreswirtschaftsbericht seine
Einschätzung vorgetragen: in Deutschland regiere die
Zuversicht; in Deutschland regierten das Wachstum und
der Fortschritt. Wenn Sie das mit Blick auf die Kommu-
nen so einschätzen, haben Sie anscheinend wirklich
noch kein Schlagloch erwischt. Ich sage: Sie haben
keine Ahnung, was in den Kommunen tatsächlich los ist,
und so sieht leider auch Ihre Politik aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch vor 20 Jahren zahlte der Bayer-Konzern
110 Millionen Euro Gewerbesteuern an die Stadt Lever-
kusen; heute sind es gerade noch 20 Millionen Euro.
Fakt ist, dass die bisherigen Bundesregierungen durch
ihre Steuersenkungspolitik Großkonzerne in enormen
Größenordnungen entlastet haben, dass sie dadurch je-
doch Steuereinbrüche bei den Kommunen verursacht ha-
ben.


(Zuruf der Abg. Dr. Birgit Reinemund [FDP])


– Frau Kollegin, Sie sind nachher dran. – Alleine im
Zeitraum von 2008 bis 2009 gibt es für die Kommunen
vorausberechnet bis 2013 ein Minus von 19 Milliarden
Euro.

Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Koalition, riss allein in 2010
ein Loch von 6 Milliarden Euro in die kommunalen Kas-
sen. Da wundert es mich überhaupt nicht, dass die Kom-
munen das Jahr 2010 finanziell als das bisher schlech-
teste Jahr der Nachkriegsgeschichte abgeschlossen
haben. Spätestens jetzt müssten Sie doch endlich in Ihrer
Politik umsteuern.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Patrick Döring [FDP]: Völliger Schwachsinn! – Weiterer Zuruf von der FDP: So ein Quatsch!)






Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)

Aber nein, Sie machen weiter so. Nach wie vor werden
hier im Haus mit Ihrer Mehrheit Gesetze verabschiedet,
die immer zulasten der Kommunen ausgehen. Allein der
elektronische Personalausweis bedeutet für die Stadt
Köln eine Mehrausgabe in Höhe von 1,25 Millionen
Euro.

Als ob das nicht reicht, kürzen Sie auch noch im
Haushalt 2011.


(Oliver Luksic [FDP]: Was kostet die Hartz-IVReform die Kommunen?)


Ich will Ihnen einige Beispiele nennen: Sie kürzen bei
der CO2-Gebäudesanierung um 460 Millionen Euro, bei
den Eingliederungsleistungen für Langzeitarbeitslose
um 1,3 Milliarden Euro und beim Programm „Soziale
Stadt“ um 67 Millionen Euro. Für Sachsen-Anhalt sind
das 900 000 Euro. Wir hatten im Land bisher 3 Millio-
nen Euro für das Programm „Soziale Stadt“ zur Verfü-
gung. Für Halle-Neustadt bedeutet dies das Aus für das
Quartiersmanagement, das Aus für interkulturelle Wo-
chen, das Aus für die Stadtzeitung und das Aus für die
Bürgerbeteiligung bei der Sanierung von Straßen, Fuß-
und Radwegen.


(Patrick Döring [FDP]: Alle genehmigten Programme sind durchfinanziert! Das ist doch Quatsch!)


– Sie können gerne mit den Betroffenen darüber reden,
was hier Quatsch ist, Herr Kollege.


(Patrick Döring [FDP]: Das ist Quatsch! Alle Programme sind durchfinanziert!)


Die Linke fordert die Aufstockung der Mittel für das
Programm „Soziale Stadt“ mindestens auf das Niveau
von 2010, und die Linke unterstützt ausdrücklich das
Bündnis für eine Soziale Stadt.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen
sind die Lebensadern der Gesellschaft, und die Situation
der Haushalte muss endlich grundlegend verbessert wer-
den. Die Linke will endlich auch Ergebnisse der Ge-
meindefinanzkommission auf dem Tisch haben, und die
Linke will ein Sofortprogramm für die Sanierung der
kommunalen Straßen in Höhe von 500 Millionen Euro.


(Oliver Luksic [FDP]: Die Linke will den Kommunismus! Das machen wir auch nicht!)


Wir sagen auch: Sanierung muss vor Neubau gehen und
Vorfahrt für Fußgänger und für Radfahrer!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708708500

Das Wort hat Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1708708600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass die SED-
Nachfolgepartei


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


diese Aktuelle Stunde auf die Tagesordnung gesetzt hat,
ist besonders pikant. Viele von uns wissen noch sehr gut,
wie die Straßen in den neuen Ländern unmittelbar nach
dem Zerfall des Sozialismus ausgesehen haben. Frau
Kollegin, Sie wären deshalb besser still gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die aktuellen winterbedingten Straßenschäden in
Deutschland werden von den Kommunen auf etwa
2,3 Milliarden Euro geschätzt. Das ist viel Geld. Wenn
wir nach draußen schauen, wissen wir: Der Winter ist
noch nicht beendet. Eine funktionstüchtige Verkehrsin-
frastruktur ist volkswirtschaftlich ein bedeutender Stand-
ortfaktor, und dazu tragen die Kommunen maßgeblich
bei.

95 Prozent unserer Straßen sind kommunale Straßen,
also in der Trägerschaft von Städten, Gemeinden und
Landkreisen. Auch wenn wir in Berlin als Bund weder
für kommunale Straßen noch für Schlaglöcher zuständig
sind, machen wir uns um die Entwicklung der Gemein-
definanzen insgesamt große Sorgen.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Das merkt man!)


Bei den Kommunen hat sich in den vergangenen Jahr-
zehnten ein enormer Investitionsstau aufgebaut – übri-
gens nicht nur beim Straßenbau. Allein damit, Schlaglö-
cher zu stopfen, ist es schon lange nicht mehr getan. In
den meisten Fällen hilft wegen fehlender regelmäßiger
Straßenunterhaltung nur noch eine Generalsanierung,
und die ist bekanntermaßen besonders teuer. Das ist kein
Vorwurf gegenüber den Kommunen, sondern die Konse-
quenz der permanenten Unterfinanzierung kommunaler
Haushalte.

Meine Damen und Herren, die Ursachen gehen weit
zurück in die kommunalfeindliche Politik der Schröder-
Regierung, als die Verschuldung in den Städten und Ge-
meinden von Jahr zu Jahr stieg und stieg. Davon haben
sich bis heute viele noch nicht erholt. Das rächt sich jetzt
zunehmend.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD])


– Das stimmt, auch wenn Sie von der SPD es nicht mehr
hören können.


(Nicolette Kressl [SPD]: Weil es nicht wahr ist!)


Trotz aller Anstrengungen der unionsgeführten Bundes-
regierung kann dieser Rückstand nicht in wenigen Jah-
ren aufgeholt werden,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bleiben Sie doch einmal bei der Wahrheit! Sie bluten die Kommunen und Gemeinden aus! Das hat Peter Götz doch nichts mit der Wirklichkeit zu tun, was Sie hier erzählen!)





(A) (C)


(D)


zumal die finanziellen Spielräume durch die weltweite
Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise auf allen politischen
Ebenen inzwischen weggebrochen sind.

Das Ganze wird noch verschärft,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau! Durch Ihre Politik!)


wenn die nach unserem Grundgesetz für die Gemeinde-
finanzen verantwortliche Landespolitik auch noch kom-
munalfeindlich ist. Schauen Sie nach Rheinland-Pfalz;
dort wird das besonders deutlich. Das dortige Oberver-
waltungsgericht hat der rheinland-pfälzischen Landesre-
gierung erst vor wenigen Wochen die rote Karte gezeigt
und festgestellt, dass die Schlüsselzuweisungen gegen
den verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine angemes-
sene kommunale Finanzausstattung verstoßen. Das
heißt, die SPD-geführte Landesregierung von Rhein-
land-Pfalz lässt die Kommunen nachweislich, durch Ge-
richtsurteil belegt, am langen Arm verhungern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Alle staatlichen Ebenen müssen den Kommunen
durch stabile Gemeindefinanzen wieder Luft zum Atmen
verschaffen. Das gilt für den Bund und vor allem aber
auch für die dafür eigentlich zuständigen Länder.

Trotz schwierigster Haushaltslage, in der wir uns be-
finden, sollten wir prüfen, wie wir die Kommunen bei den
steigenden Sozialausgaben entlasten können. Gleichzei-
tig müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, um die
strukturellen Defizite der Kommunalfinanzen zu beseiti-
gen. Die von Finanzminister Wolfgang Schäuble einge-
setzte Gemeindefinanzkommission beschäftigt sich mit
dieser Aufgabe. Wir erwarten noch in diesem Frühjahr
konkrete Vorschläge.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es gibt den Gemeinden den Todesstoß! Das ist die Wahrheit! – Joachim Poß [SPD]: Sie geben ihnen den Todesstoß!)


Uns war es wichtig, dass die kommunalen Spitzenver-
bände in dieser Kommission von Anfang an beteiligt
sind und konkret und aktiv mitwirken.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber nicht zustimmen!)


Mit den kommunalen Spitzenverbänden ist verabredet,
dass keine Entscheidungen gegen die Kommunen getrof-
fen werden. Das sollten wir dankbar zur Kenntnis neh-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist wohl wahr! Wir sorgen dafür, dass die Konzepte Ihrer Regierung ein Ende haben!)


Wir wollen den Gemeinden mehr Eigenverantwor-
tung geben und dadurch die kommunale Selbstverwal-
tung stärken, damit die vielen ehrenamtlichen Räte in
den Gemeinden, Städten und Kreisen ihre Heimat eigen-
verantwortlich und motiviert gestalten können. Bei gu-
tem Willen aller – dazu zähle ich auch Sie – kann dies
gelingen. Ich fordere Sie deshalb im Interesse der Städte
und Gemeinden eindringlich dazu auf.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708708700

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Carsten Sieling

von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1708708800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Götz, draußen droht in der Tat der
nächste Winter. Die Straßen sind schon aufgerissen und
haben tiefe Löcher, und in den Rathäusern schlackern
den Bürgermeistern und Kämmerern die Hosen vor
Angst davor, wie sie die Haushalte realisieren sollen.

Sie aber erzählen uns hier das Märchen, Rot-Grün
hätte die Löcher in die Haushalte der Kommunen geris-
sen.


(Oliver Luksic [FDP]: Elf Jahre SPD!)


Das ist die größte Märchengeschichte; denn es waren
Rot-Grün und anschließend noch zum Teil die Große
Koalition, die vor allem auf Druck der SPD dafür ge-
sorgt haben, dass sich die öffentlichen Finanzen in den
Kommunen, in den Städten und Dörfern, verstetigen
können, Herr Götz.


(Oliver Luksic [FDP]: Das hat aber keiner gemerkt!)


Auch das sollten Sie sagen, lieber Kollege; denn Sie wa-
ren ein gutes Stück weit dabei. Das ist notwendig, weil
es der Ehrlichkeit dient.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Schon vergessen? Das war 2008!)


Aber ich weiß, warum Sie das so aufblasen und wa-
rum die Aufregung vor allem aufseiten der Liberalen,
aber auch bei der CDU/CSU so groß ist: Weil diese Ko-
alition, festgehalten in ihrem Koalitionsvertrag, die Ba-
sis für die Dörfer, Städte und Landkreise kaputtmachen
will, indem sie die Gewerbesteuer, die deren zentrale
Einnahmequelle ist, kaputtmachen will.


(Beifall bei der SPD – Peter Götz [CDU/ CSU]: Die Gewerbesteuer kann es doch gar nicht sein! Die gibt es doch noch! – Gegenruf von der SPD: Sie soll aber abgeschafft werden!)


Dagegen müssen wir gemeinsam stehen.

Wer die Löcher in den Straßen stopfen will, muss be-
reit sein, die Löcher in den kommunalen Haushalten zu
stopfen und dafür zu sorgen, dass investiert werden
kann.


(Oliver Luksic [FDP]: Das Loch in Ihrer Argumentation!)


(B)






Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

Das ist ganz einfach. Es gibt drei Ansätze, wie man das
macht, Kollege Götz. Der erste Schritt ist: Sie müssen
die Einnahmen der öffentlichen Hände auf der kommu-
nalen Ebene stabilisieren.

Ich bitte Sie: Lassen Sie Ihre Pläne sausen! Schließen
Sie sich dem Kommunalmodell an, das die Kommunen
unterstützen! Das bedeutet die Verbreiterung der Bemes-
sungsgrundlage bei der Gewerbesteuer für die Kommu-
nen, indem auch die Freiberufler einbezogen werden.


(Zuruf von der FDP: Die sind nun mal kein Gewerbe!)


Sie können dadurch die Einnahmen stabilisieren und er-
höhen. Lassen Sie die Finger von der Streichung der
Hinzurechnung! Das ist ein Fehler. Finger weg von der
Gewerbesteuer!


(Oliver Luksic [FDP]: Lassen Sie die Finger weg von Hartz IV! Das kostet die Kommunen Geld!)


Das ist der erste Schritt, um die Löcher in den Straßen
stopfen zu können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der zweite Schritt ist, eine Entlastung bei großen
Ausgabenpositionen anzugehen. Es ist richtig – Sie ha-
ben es angesprochen –: Die Kosten für Unterkunft, aber
auch die Grundsicherung im Alter müssen angegangen
werden. Ich bin entsetzt. Die Rheinische Post hat in einer
Meldung berichtet, dass sich das Bundesfinanzministe-
rium endlich mit 1,9 Milliarden Euro an den Kosten der
Unterkunft beteiligen will, Herr Koschyk.


(Zuruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD])


– Genau. Sie sagen es, Kollegin Kressl. – Kaum war die
Meldung raus, wurde schon dementiert, dass an dieser
Stelle etwas getan werden soll.

Entlasten Sie die Kommunen von den Soziallasten!
Dann werden Mittel frei, um die Infrastrukturmaßnah-
men anzugehen.


(Oliver Luksic [FDP]: Das hätte die SPD elf Jahre lang machen können!)


– Gut, dass Sie die elf Jahre ansprechen. Damit komme
ich zu dem dritten Schritt. Wir brauchen in Deutschland
eine Infrastrukturoffensive. Es zeigt sich sehr deutlich:
Wir brauchen wieder Investitionsmittel und eine Investi-
tionsgrundlage auch für die Städte und Gemeinden, da-
mit sie in die Infrastruktur investieren können. Dazu
kann ich nur sagen: Minister Ramsauer ist vielleicht
nicht als Mitglied des Kabinetts, aber doch als Mitglied
des Koalitionsausschusses in den vier Jahren zwischen
2005 und 2009 bei Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz
und Peer Steinbrück in die Lehre gegangen und hat gese-
hen, was man mit einem klugen Konjunkturprogramm
und einem Investitionsprogramm zugunsten der Kom-
munen bewegen kann. Damals handelte es sich um ein
Konjunkturprogramm, jetzt brauchen wir – davon bin
ich überzeugt – ein Sanierungsprogramm für die öffent-
liche Infrastruktur in den Kommunen und Städten.
Knüpfen Sie an das Konjunkturprogramm an. Die Große
Koalition hat 10 Milliarden Euro bereitgestellt. Damit ist
für die öffentliche Infrastruktur, insbesondere im Be-
reich der Schulen, aber auch in vielen anderen Berei-
chen, viel Gutes getan worden. Diese Koalition tut nichts
mehr in dieser Richtung. Tun Sie etwas, damit die öf-
fentlichen Investitionen in Deutschland verstärkt wer-
den. Das ist die wichtige Aufgabe, an der man arbeiten
muss.

Daher sage ich zum Schluss: Die Löcher in den Stra-
ßen werden immer größer, in der Tat. Aber diese Regie-
rung sorgt dafür, dass die Löcher auch in den Haushalten
der Kommunen und der Städte immer größer werden
und Deutschland in die Gefahr gerät, eine Bröckelrepu-
blik zu werden. Das passiert, wenn Ihre Politik fortge-
setzt wird. Unterstützen Sie endlich das, was notwendig
ist; dann haben wir auch vernünftige Verhältnisse im
Verkehr und überall dort, wo die Menschen leben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708708900

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1708709000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe mir jetzt die ersten drei Beiträge in dieser Debatte
angehört und zumindest bei zwei Rednern, nämlich
Herrn Sieling und Frau Kunert, festgestellt, dass sie ganz
offensichtlich weder willens noch in der Lage sind, die
Debatte, die berechtigt ist, wenigstens ein bisschen in die
aktuelle Finanz- und Haushaltslage dieser Republik ein-
zuordnen. Vielleicht ist es Ihnen entgangen, dass dieses
Parlament, das die Verantwortung für die Bundesrepu-
blik Deutschland trägt, eine Neuverschuldung von etwas
mehr als 50 Milliarden Euro zu schultern hat. Angesichts
dessen hier neue Konjunkturprogramme auf Pump zu
fordern, finde ich schon bemerkenswert, Herr Kollege
Sieling.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wer uns solide und kluge Politik ansonsten immer gerne
abspricht, will jetzt das Defizit der Republik erhöhen.
Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich sind 11 Milliarden Euro Neuverschuldung
in den Kommunen im Jahr 2009 auch ein Rekordwert,
aber im Vergleich zu den über 50 Milliarden Euro, die
wir als gewählte Parlamentarier hier zu vertreten haben,
gilt der Satz: Die Kommunen sind immer noch die am
wenigsten verschuldete staatliche Ebene in der Repu-
blik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Kunert [DIE LINKE]: Wissen Sie überhaupt, was Sie reden? Gehen Sie einmal in einen Stadtrat!)






Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)

Ich war lang genug Mitglied eines Rates und Fraktions-
vorsitzender. Sie alle wissen doch genau, dass es sehr
unterschiedliche kommunale Situationen gibt. Es gibt
übrigens auch schuldenfreie Städte und Gemeinden in
Deutschland,


(Zuruf von der FDP: Das kennen die Linken nicht!)


weil sie kluge Politik gemacht und sich von überflüssi-
gen Vermögenswerten getrennt und ihre Schulden abge-
baut haben. Das hat zum Beispiel in Düsseldorf zur Ent-
schuldung geführt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Braunschweig!)


Wir können uns jeden Problempunkt in Deutschland
einzeln anschauen, und jeder gibt darauf eine wie auch
immer geartete isolierte Antwort. Ich aber sage Ihnen
ganz ehrlich: Wer die Entwicklung der Gewerbesteuer
verfolgt hat, wer die Erosion der Körperschaftsteuer
nach der falschen Körperschaftsteuerreform von Rot-
Grün verfolgt hat, der stellt doch fest, dass die Gewerbe-
steuer das Gegenteil einer soliden Finanzausstattung der
Kommunen ist. Sie ist viel zu konjunkturanfällig, viel zu
schwankend und viel zu wenig planbar für die Kämme-
rer, die Ratsfrauen und die Ratsherren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Reden Sie einmal mit einem Bürgermeister! Die sehen das anders! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommunale Spitzenverbände sehen das anders!)


Deshalb ist es gut, dass diese Koalition gemeinsam mit
dem Bundesfinanzministerium und Experten ein neues
System einführen will. Die Kommission wird alsbald Er-
gebnisse vorlegen. Ich sage aber auch: Es ist natürlich
im hohen Maße scheinheilig, wenn sich hier Teile der
Opposition über die Investitionstätigkeit des Bundes kri-
tisch äußern, ohne bereit zu sein, zu schauen, was sie in
ihrem Verantwortungsbereich machen.

Diese Koalition hat trotz Sparetats und trotz größter
Anstrengungen, die Neuverschuldung so gut es geht he-
runterzufahren, beim Erhalt für Straßen in der Verant-
wortung des Bundes 100 Millionen Euro draufgelegt. Im
Land Berlin und im Land Brandenburg gehen die Inves-
titionen in die Straßen ausweislich des Berichts des Lan-
desrechnungshofs seit Jahren kontinuierlich zurück. Das
ist die politische Realität. Man sollte also aufpassen,
wenn man solche Aktuellen Stunden beantragt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dass man Haushaltskonsolidierung betreiben und In-
vestitionen erhöhen kann, beweisen zum Beispiel die
Freundinnen und Freunde in Hessen. Bei Regierungs-
übernahme wurden 30 Millionen Euro und in diesem
Jahr werden 151 Millionen Euro für Landesstraßen zur
Verfügung gestellt. Zudem wurde die Verschuldung zu-
rückgefahren.
Wenn man mit dem vorhandenen Geld, das die Bür-
gerinnen und Bürger dem Staat zur Verfügung stellen,
richtige Akzente setzt, dann kann man die Investitions-
probleme offensiver angehen, als das die Ministerinnen
und Minister von Sozialdemokraten und Linken in ihrem
Verantwortungsbereich bisher getan haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deshalb bleiben wir dabei: Es ist klug und vernünftig,
zu konsolidieren und die Verschuldung in unseren öf-
fentlichen Haushalten – egal an welcher Stelle – abzu-
bauen. Dafür brauchen wir eine solide Einnahmebasis.
Die beste Einnahmebasis, die beste Entlastungspolitik
für die Kommunen ist die Wirtschaftspolitik dieser Re-
gierung, die jeden Tag dafür sorgt, dass ein paar Hundert
Menschen weniger arbeitslos sind, sondern ihr eigenes
Leben besorgen und finanzieren können, dass weniger
soziale Hilfe in Anspruch genommen wird und dass we-
niger Menschen die Kosten der Unterkunft überhaupt in
Anspruch nehmen müssen, weil sie einen Arbeitsplatz
haben und ihr Leben gestalten können.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Genau so ist es! Richtig!)


Das ist die Politik dieser Regierung. Wir wollen weniger
Menschen in sozialen Sicherungssystemen. Das ist die
beste Entlastungspolitik für Kommunen, die man ma-
chen kann. Das ist das Leitmotiv der nächsten Monate.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Katrin Kunert [DIE LINKE]: In Kommunalpolitik durchgefallen, aber volle Pulle! Keine Ahnung!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708709100

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Toni Hofreiter von

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708709200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben jetzt von den Regierungsfraktionen
erfahren, dass die Ursache für die Misere der kommuna-
len Finanzen an Regierungen liegt, die schon sehr lange
nicht mehr regieren. Wir haben davon erfahren, dass un-
tergegangene Staaten daran schuld sein sollen. Wir ha-
ben von der jetzigen Regierung erfahren, dass Kommis-
sionen eingesetzt werden sollen. Ich frage mich, wie Sie
mit diesen Aussagen vor die Leute, vor Bürgermeister
und Gemeinderäte treten wollen, die im Moment Pro-
bleme bei sich vor Ort haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Katrin Kunert [DIE LINKE]: Die haben nicht so viele Bürgermeister, zumindest nicht im Osten!)


Das ist gar kein triviales Problem. Die Frage ist: Wo be-
kommt der Bürger unseren Staat mit? Wo nimmt er die
öffentliche Hand wahr? Wo nimmt er Demokratie am
stärksten wahr? In unseren Kommunen vor Ort.





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

Wenn man sich einmal anschaut, dass es viele Kom-
munen gibt, in denen die gewählten Vertreter de facto
nicht mehr viel zu entscheiden haben, weil die Kommu-
nen alle in der Haushaltssicherung sind und letztendlich
keinen genehmigten Haushalt mehr haben, dann stellt
man fest, dass wir nicht nur ein Problem mit Schlaglö-
chern, sondern ein Problem mit der Akzeptanz der Leis-
tungen der öffentlichen Hand haben. Und was geben Sie
für dieses Problem als Antwort? Irgendwer in der Ver-
gangenheit war schuld – als wenn Sie gar nicht regieren
würden –, und wir haben eine nette Kommission. – Das
ist armselig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man sich die Kommunen anschaut, dann stellt
man fest: Es mag zwar sein, dass die Kommunen im Ver-
gleich zum Bundeshaushalt im Schnitt weniger Schulden
aufnehmen, aber man muss die Kommunen einzeln be-
trachten. Es gibt Kommunen, die völlig überschuldet
sind, und es gibt Kommunen, die in der sogenannten
Vergeblichkeitsfalle stecken. Sie haben in der Vergan-
genheit aufgrund der vielleicht nicht gerade intelligen-
testen Politik oder aufgrund von Umständen, für die sie
wenig können – zum Beispiel wegen des Sterbens gan-
zer Industriebereiche –, so viele Schulden aufgenom-
men, dass sie, egal was sie tun, nicht mehr aus ihren
Schulden herauskommen. Dafür gibt es eine ganze Reihe
von Beispielen.

Was können wir diesen Kommunen anbieten? Diesen
Kommunen müssen wir etwas anbieten. Wir müssen ih-
nen eine vernünftige Altschuldenhilfe anbieten, damit
sie überhaupt die Chance haben, aus der Vergeblich-
keitsfalle herauszukommen. Da hilft es nichts, wenn
man nur von Kommissionen spricht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme jetzt zu dem eigentlichen Thema dieser
Aktuellen Stunde: Schlaglöcher beseitigen. Man kann
sich fragen, ob dieses Thema wirklich vordringlich,
eines für eine Aktuelle Stunde ist. Das gilt vor allem,
wenn man bedenkt, wie eng bemessen in dieser Hinsicht
der Bundeshaushalt ist. Die Lösungsvorschläge, die hier
gemacht worden sind, bestanden vor allem darin, dass
man irgendwie mehr Geld für Straßen ausgeben, dass
man irgendwie mehr Straßen bauen sollte. Die Bundes-
republik und Holland haben gemeinsam das dichteste
Straßennetz aller Flächenländer weltweit. Dennoch wird
vorgeschlagen, noch mehr Straßen zu bauen. Was ist die
Folge, wenn das Straßennetz bei abnehmender Bevölke-
rungszahl noch engmaschiger wird? Danach gäbe es pro
Mensch, der das Sozialprodukt mit erarbeiten muss, im-
mer mehr Straßenkilometer. Das hieße, dass die Unter-
haltskosten in Zukunft immer höher würden. Es ist doch
völlig logisch, dass ein größeres Straßennetz mehr Un-
terhaltskosten bedeutet als ein kleineres. Ihr Vorschlag
ist, noch mehr Straßen zu bauen.

Was ist unser Vorschlag?

(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Sonnenblumen in die Schlaglöcher!)


Es gibt einen ganz einfachen Weg. Es ist dringend not-
wendig, Geld für den Neubau und den Ausbau von Stra-
ßen endlich so umzuwidmen, dass es für den Unterhalt
von Straßen zur Verfügung steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber warum passiert das so selten? Weil wir ein Ver-
kehrsministerium haben, das unter Verkehrspolitik vor
allem versteht, fröhlich einzelne Projekte zu verwirkli-
chen und glücklich mit der Schere Bänder durchzu-
schneiden. Das ist keine Verkehrspolitik, das ist eine feu-
dale Einzelprojekt-Baupolitik, die den Staatshaushalt
langfristig eher ruiniert, als dass sie ihm hilft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Um den Kommunen trotz aller verfassungsrechtli-
chen Probleme, die man sich in der Vergangenheit mit
den Föderalismusreformen geschaffen hat, konkret zu
helfen, sollte man sich etwas überlegen. Es gibt zum
Beispiel eine Regelung, dass die Baulast für Bundesstra-
ßen in Kommunen mit über 80 000 Einwohnern kom-
plett bei den Kommunen liegt. Es gibt Unmengen von
Kommunen mit 100 000, 200 000 Einwohnern, die
große Schwierigkeiten haben. Warum nimmt der Bund
den Kommunen nicht – das wäre verfassungsrechtlich
unproblematisch – die Baulast für die Bundesstraßen ab?
Dann wären zumindest die verkehrswichtigsten Bundes-
straßen erhaltungsfähig. Dieses Beispiel könnte man
ohne Grundgesetzänderung sofort in die Tat umsetzen.
Der Verkehrsminister könnte dann zwar nicht mehr ganz
so viele Bändchen durchschneiden, aber die bedeuten-
den Straßen in den Städten wären dann endlich gut un-
terhalten. Setzen Sie diesen Vorschlag um, dann haben
Sie unsere Unterstützung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Also kein Geld für die Straße!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708709300

Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1708709400

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
„Schlaglochchaos“, „Schneechaos“, „Bahnchaos“, ich
finde, die Linken gehen in letzter Zeit sehr leichtfertig
mit dem Wort „Chaos“ um.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: „Regierungschaos“ haben Sie vergessen!)


Jedes Problem, jede Schwierigkeit wird von Ihnen im-
mer gleich als „Chaos“ bezeichnet. Was sollen die Men-
schen in Haiti oder in Pakistan oder anderswo auf der
Welt denken, die tatsächlich Chaossituationen erlebt ha-
ben oder erleben?





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie wollen unsere Infrastruktur auf das Niveau von Haiti zurückfahren?)


Ich finde, es ist das Normalste auf der Welt, dass es ein-
mal harte und kalte Winter gibt. Das war vor 30 Jahren
so, das ist heute so, und es wird auch in Zukunft so sein.
Jeder Winter verursacht Schnee- und Eisglätte. Jeder
Winter bringt das eine oder andere Problem mit sich, und
jeder Winter beeinträchtigt die Verkehrsstruktur – mal
mehr und mal weniger. In diesem Winter, zum Beispiel
bei 20 Zentimeter Neuschnee, haben wir keine Chaos-
situation oder Katastrophe; vielmehr ist es ein ganz nor-
maler Winter.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Dann gehen Sie mal raus und erzählen das den Leuten!)


– Ja, kommen Sie einmal und schauen Sie sich das bei
uns an.

Es ist richtig, zu behaupten, dass jeder Winter Schä-
den auf unseren Straßen verursacht hat. Vielerorts sind
Schlaglöcher entstanden, die nun schnellstmöglich be-
seitigt werden müssen. Hier aber gleich von einem
Schlaglochchaos zu sprechen, ist übertrieben. Vielleicht
hätte man in der ehemaligen DDR von einem Schlag-
lochchaos sprechen können. – Das ist der erste Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Katrin Kunert [DIE LINKE]: Da hatten wir nicht so viele Straßen!)


Ich möchte nun auf den zweiten Punkt, die Kommu-
nalfinanzen, eingehen. Als langjähriger Bürgermeister
einer kleinen Gemeinde bin ich mit Leib und Seele
Kommunalpolitiker. Gerade deshalb ist mir die aktuelle
Finanzsituation der Kommunen bestens bekannt. Natür-
lich würde ich gerne ein Schlaglochsanierungsprogramm
oder Ähnliches fordern bzw. mir wünschen, aber wir
müssen auch realistisch bleiben. Wir können nicht nach
jedem harten Winter ein Sonderprogramm fordern oder
als Staat auflegen.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Wir könnten generell mehr Geld den Kommunen geben! Das ist richtig!)


Das ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht
möglich, da der Bund infolge der Föderalismusreform II
den Kommunen kein Geld zur Verfügung stellen darf.
Außerdem wäre es angesichts der eingangs erwähnten
Tatsache, dass wir auch in Zukunft harte Winter haben
werden – vielleicht schon der nächste –, unverhältnismä-
ßig, jedes Jahr ein Konjunkturprogramm für die Straßen-
sanierung aufzulegen. Dies hätte im Übrigen auch nichts
mit nachhaltiger und verlässlicher Politik zu tun.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sondern?)


Vielmehr brauchen wir sichere Kommunalfinanzen, und
zwar unabhängig von kalten Winterperioden und un-
abhängig von der aktuellen Schlaglochsituation. Ich
glaube, das ist eindeutig. Nur mit dauerhaft verlässlichen
Einnahmen kann nachhaltige und verlässliche Politik ge-
macht werden.

(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Richtig! So ist es! – Zurufe von der LINKEN: Bravo!)


Wir haben bereits verlässliche Einnahmen, die den
Kommunen zugute kommen, die zum Beispiel für den
Unterhalt der Straßen oder für Neubauten verwendet
werden können. Der Bund stellt den Ländern 1,3 Milliar-
den Euro jedes Jahr im Rahmen des Entflechtungsgeset-
zes zur Finanzierung der kommunalen Verkehrsinfra-
struktur zur Verfügung. Zudem erhalten die Städte und
Gemeinden aus dem Aufkommen der Länder an der
Kfz-Steuer Finanzhilfen. In Bayern etwa zahlt der Frei-
staat den Gemeinden jährlich 1 200 Euro Straßenunter-
halt pro Kilometer Orts- und Gemeindeverbindungs-
straße. Außerdem erhalten die Landkreise Mittel für den
Erhalt der Kreisstraßen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also ist die Staatsregierung schuld?)


Letztlich kommt es darauf an, was die einzelnen Län-
der für ihre Kommunen tun. So etwa hat Bayern kürzlich
ein Sonderprogramm für die Beseitigung der Straßen-
schäden auf Staatsstraßen in Höhe von 30 Millionen
Euro aufgelegt. Das könnte ein Ansporn für andere Bun-
desländer sein, zum Beispiel Berlin oder Brandenburg.
Außerdem steigert der Bund den Ansatz für die Erhal-
tung der Bundesfernstraßen und damit auch für die Orts-
durchfahrten in den Kommunen in diesem Jahr um
100 Millionen Euro von 2,1 auf 2,2 Milliarden Euro. Da-
mit können und sollen auch die Winterschäden finanziert
werden. Wie bereits im vergangenen Winter wird das
Bundesverkehrsministerium die Länder auch in diesem
Jahr anweisen, mit den Erhaltungsmitteln vorrangig die
Frostschäden zu beseitigen.

Dennoch ist mir bewusst, dass die genannten Maß-
nahmen angesichts der angespannten Finanzsituation der
Kommunen nicht ausreichen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, und jetzt?)


Im Rahmen der geplanten Gemeindefinanzreform müs-
sen wir daher für ein dauerhaft stabiles Fundament der
Kommunalfinanzen sorgen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So lange bleiben die Löcher?)


Hierzu brauchen wir zum einen auch in Zukunft die Ge-
werbesteuer als zentrale Einnahmequelle der Kommu-
nen. Eine Abschaffung dieser Steuer ist daher aus unse-
rer Sicht inakzeptabel.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen aber nicht alle in der CDU so! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wer ist „uns“? Hört! Hört! Aber wer ist „uns“? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dafür gab es gar keinen Applaus von der Koalition an dieser Stelle!)


Zum anderen brauchen wir eine Entlastung der Kommu-
nen bei den Sozialausgaben. Die Überprüfung der Ge-
meindefinanzkommission hat ergeben, dass die Ausga-
ben der Kommunen vor allem für soziale Leistungen seit





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

Jahren so stark angestiegen sind wie kein anderer Ausga-
benblock. Sie belaufen sich inzwischen jährlich auf über
50 Milliarden Euro. Wenn man die Landes- und Bundes-
beteiligungen abzieht, bleiben am Ende immer noch
4,65 Milliarden Euro übrig.

Eine signifikante und nachhaltige Verbesserung der
kommunalen Finanzen setzt daher zwingend Verbesse-
rungen im Bereich der Sozialausgaben voraus. Neben ei-
ner Reform auf der Einnahmeseite der Kommunen muss
es gelingen, dass der Bund sein finanzielles Engagement
im Bereich der Sozialausgaben spürbar und dauerhaft er-
höht. Wenn wir dies schaffen und den Kommunen damit
dauerhaft solide Finanzen ermöglichen, dann brauchen
wir keine Schlaglochbeseitigungsprogramme und auch
keine Chaosbegriffe – wie von den Linken verwendet –
für einen ganz normalen Winter, wie wir ihn heuer ha-
ben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708709500

Das Wort hat die Kollegen Kirsten Lühmann von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1708709600

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-

nen! Unsere dreijährige Enkeltochter hat letztens mal
wieder die Sendung mit der Maus gesehen. Da hat sie
gelernt: Im Winter gibt es Schlaglöcher auf den Straßen,
und sie hat auch gelernt, wie sie entstehen. Wenn also
selbst Dreijährige wissen, dass das so ist, dann können
wir voraussetzen, dass das eigentlich Allgemeinwissen
sein sollte.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Auch für Abgeordnete!)


Insofern fragt man sich: Warum haben wir zu diesem
Thema eine Aktuelle Stunde? Sie ist aktuell; denn wir
haben Winter.

Bei dieser Diskussion komme ich mir allerdings ähn-
lich vor wie bei dem Film Und täglich grüßt das Mur-
meltier; denn vor zwölf Monaten standen wir alle auch
schon einmal hier. Es war ebenfalls Winter. Es waren
dasselbe Thema, derselbe Ort und augenscheinlich auch
dieselbe Finanzlage der Kommunen.

Darum möchte ich die Finanzlage der Kommunen
einmal etwas näher beleuchten. Dazu nehme ich mein
Bundesland Niedersachsen als Beispiel. In den letzten
20 Jahren sind die Einnahmen der Kommunen in Nie-
dersachsen um circa ein Drittel gestiegen, und zwar,
Herr Döring, trotz oder vielleicht sogar aufgrund der Ge-
werbesteuer. Allerdings sind in dieser Zeit auch jede
Menge Aufgaben dazugekommen. Diese Aufgaben sind
nicht mit Haushaltsmitteln unterlegt worden.

Schauen wir uns dann einmal an, was die Kommunen
im Rahmen ihrer Bautätigkeit tun. Das Schlaglochchaos,
das angeblich nur herbeigeredet wird, scheint immerhin
so wichtig zu sein, dass der Verkehrsgerichtstag sich da-
mit beschäftigt und auch der ADAC deutliche Maßnah-
men in diesem Bereich fordert.

Leider müssen wir feststellen, dass die Ausgaben der
Kommunen im Baubereich im selben Zeitraum um ein
Drittel zurückgegangen sind. Die Kommunen können
die Löcher in den Straßen nicht stopfen, weil es die Lö-
cher in ihren Haushalten nicht zulassen.


(Beifall bei der SPD)


In diesem Bereich gibt es einige kreative Lösungen.
Eine wurde bereits angesprochen, nämlich das Pro-
gramm „Teer muss her“, bei dem Bürgerinnen und Bür-
ger Geld zum Stopfen der Löcher spenden können. Ich
nenne Ihnen ein anderes Beispiel aus meinem Wahlkreis.
Beim „Bürgerpfad“ in Stadensen wird über Patenschaf-
ten die erforderliche Kofinanzierung für einen dringend
notwendigen Fahrradweg am Rande einer vielbefahre-
nen Kreisstraße aufgebracht.

Das sind löbliche Beispiele. So etwas kann für uns
aber keine dauerhafte Lösung sein.

Ein Weg zu einer dauerhaften Lösung – der Kollege
Hofreiter hat es angesprochen – führt über die Altschul-
denproblematik. Wir alle wissen, dass alle Ebenen – Bund,
Länder und Kommunen – 1,8 Billionen Euro Schulden
haben.

Blicken wir noch einmal nach Niedersachsen. Dort
müssen im Haushalt 2011 2,3 Milliarden Euro Zinszah-
lungen für Altschulden vorgesehen werden. Die Neuver-
schuldung Niedersachsens beträgt – Sie ahnen es –
2,3 Milliarden Euro. Das heißt, wir müssen uns weiter
verschulden, um unsere Schulden zu zahlen.

An dieser Stelle hilft auch die hier immer wieder an-
geführte Schuldenbremse nicht weiter; denn damit sollen
nur die Ausgaben mit den Einnahmen in einen Ausgleich
gebracht werden. Die Zinslast, die die Handlungsfähig-
keit der Kommunen deutlich einschränkt, bleibt beste-
hen.

Wir müssen einmal offen über Wege sprechen, wie
wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen können. Hier
muss die Frage erlaubt sein, wie wir das tun können und
ob ein Altschuldenfonds uns weiterhelfen kann, um die
Schulden dann gezielt mit Einnahmen aus bestimmten
Quellen zu tilgen.

Ein Beispiel für solche nationalen Anstrengungen
gibt es in unserer Geschichte. Ich verweise hier auf das
Lastenausgleichsgesetz, das gleich zweimal in diesem
Bereich gute Hilfen geleistet hat, und zwar – das möchte
ich ganz deutlich sagen – mit den Mitteln einer Vermö-
gensabgabe. Dieses Wort sollten wir auch wieder öfter in
den Mund nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das geht aber nur, wenn über Egoismen und Partiku-
larinteressen hinweg gemeinsame Lösungen gefunden
werden. Leider erleben wir auf Länderebene gerade das
genaue Gegenteil. Einzelne Länder haben nämlich die
Solidarität im Länderfinanzausgleich aufgekündigt. So
kann es nicht gehen. Wir müssen offen an das Problem





Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)

der Altschulden herangehen. Ich habe das Gefühl, dass
wir im Moment versuchen, den Schwarzen Peter weiter-
zuschieben und die Kosten einfach zu verlagern. Wir
brauchen eine dauerhafte Lösung, um den Kommunen
wieder Handlungsfreiheit zu geben.

Was trägt diese Bundesregierung dazu bei? Sie hat für
einen Zeitraum von zwölf Monaten eine Gemeindefi-
nanzkommission eingerichtet. Wenn es Lösungen gab,
wurden sie ignoriert oder innerhalb der Regierung zer-
redet.

Das geht nicht. Die ausgefahrenen Fahrspuren führen
uns nicht weiter. Lassen Sie uns neue Wege bauen. Wir
sollten nicht warten, bis wir uns auf den Schlaglochpis-
ten der Haushaltskonsolidierung die Achsen brechen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708709700

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Birgit Reinemund

von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1708709800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Wir haben jedes Jahr die gleiche Situation: Der
Winter kommt, und der Frost frisst tiefe Löcher in die
Straßen und noch tiefere in die kommunalen Finanzen.
Das ist keine Überraschung, und es ist eigentlich auch
keine neue Erkenntnis. Es stellt sich daher die Frage, wie
aktuell diese Aktuelle Stunde heute ist.

Niemand bestreitet die angespannte, bisweilen drama-
tische, aber auch sehr unterschiedliche Lage der Kom-
munen. Niemand bestreitet das strukturelle Defizit über
Jahrzehnte, und niemand bestreitet, dass die Infrastruk-
tur chronisch unterfinanziert ist und dass wir hier einen
enormen Investitionsstau haben. Die KfW schätzt ihn al-
lein im Bereich der kommunalen Verkehrsinfrastruktur
auf 24 Milliarden Euro und im gesamten Infrastruktur-
bereich auf 75 Milliarden Euro. Diese gigantischen Be-
träge haben sich über viele Jahre aufsummiert, unabhän-
gig von jeder Wirtschaftskrise und unabhängig von
dieser guten Regierung. Es wurden in den vergangenen
20 Jahren horrende Summen aus der Gewerbesteuerum-
lage zum Aufbau der Infrastruktur der neuen Länder auf-
gewendet. Das war richtig und notwendig; darüber gab
es Konsens.

In der Antwort der letzten Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion wurden die
Finanzierungsbeteiligungen der Kommunen der alten
Länder für das Jahr 2006 mit 572 Millionen Euro für den
Fonds „Deutsche Einheit“ und mit 2,4 Milliarden Euro
für den Solidarpakt beziffert. Auch der Länderfinanzaus-
gleich verursacht Finanzströme, unabhängig von der Ei-
genleistung der Teilnehmer. Manch eine Kommune
muss sich jedoch auch fragen lassen, ob sie immer ganz
verantwortungsvoll mit den Steuergeldern umgegangen
ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zur kommunalen Selbstverwaltung gehört auch eine
kommunale Selbstverpflichtung zu einem sorgsamen
Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Als Stadträtin weiß ich davon ein Lied zu singen. Meine
Heimatstadt Mannheim hat erst vor wenigen Wochen au-
ßerplanmäßig ein Kunstwerk für über eine Viertelmillion
Euro erstanden. Wie viele Schlaglöcher hätte man damit
stopfen können!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler sind un-
zählige ähnliche Beispiele enthalten.

Dass Sie mich jetzt nicht falsch verstehen: Wir haben
unbestritten eine akute finanzielle Notlage der Kommu-
nen. Schlaglöcher haben wir allerdings deutlich länger.
Das mag auch mit der Prioritätensetzung in manchen
Gemeinderäten zusammenhängen. Es gibt sicher pres-
tigeträchtigere Projekte als Straßensanierung.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Das ist eine Unterstellung!)


Wir sind uns alle einig: Die Kommunen haben, was die
Finanzierung angeht, ein strukturelles Defizit. Zur Behe-
bung brauchen wir strukturelle Lösungen.

Wir alle wissen um die Schwankungsanfälligkeit der
Gewerbesteuer und deren ungleiche Verteilungswirkung.
Die Prognosen besagen: Die kommunalen Steuereinnah-
men werden im Bundesdurchschnitt bereits 2012 wieder
das Niveau des Rekordjahres 2008 erreichen, wie ge-
sagt: im Bundesdurchschnitt. Die Situation der Kommu-
nen ist aber sehr unterschiedlich. Ludwigshafen bei-
spielsweise hat bereits im Jahr 2010 Rekordeinnahmen
bei der Gewerbesteuer – doppelt so hoch wie erwartet –
verzeichnet, und zwar aufgrund eines einzelnen Gewer-
besteuerzahlers, nämlich der BASF. Die Nachbarstadt
Mannheim kann davon nur träumen. Sie wird deutlich
länger brauchen, als es der Bundesdurchschnitt vermu-
ten lässt.

Diese Defizite der Gewerbesteuer sind seit Jahrzehn-
ten bekannt. Nicht umsonst hat diese Regierung eine
Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen einge-
setzt. Sie soll im Rahmen eines Gesamtkonzepts Vor-
schläge zur Sanierung der kommunalen Finanzen erar-
beiten, die beides umfassen: verlässlichere Einnahmen
und Entlastung auf der Ausgabenseite.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht aus wie das Hornberger Schießen!)


Die Kommission tritt seit Monaten auf der Stelle – rich-
tig. Leider haben die kommunalen Spitzenverbände seit
Beginn der Verhandlungen ihre Position zementiert und
bewegen sich keinen Zentimeter.


(Widerspruch bei der LINKEN)






Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)

Ein Kompromiss erscheint äußerst mühsam. Wenn es
keine Bewegung gibt, dann bewegt sich auch nichts nach
vorne. Ob das tatsächlich im Interesse der gebeutelten
Kommunen ist? Die Bundesregierung ist bereit, den
Kommunen kurzfristig unter die Arme zu greifen – bei
einer Einigung. Das hat Minister Schäuble mehrfach be-
tont.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dann legen Sie doch mal die Berechnung des Kommunalmodells vor!)


Meine Damen und Herren, die AG „Kommunale Fi-
nanzen“ der Kommission wird morgen, am 28. Januar,
ihre abschließende Sitzung haben. Wir alle warten auf
den Abschlussbericht und auf die ausstehenden Berech-
nungen. Daraus erhoffen wir weitere Lösungsansätze,
vielleicht Bewegung und vor allen Dingen neue Erkennt-
nisse.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Hoffentlich kein Todesstoß für die Kommunen!)


Welche neuen Erkenntnissen diese Aktuelle Stunde
heute bringen soll, erschließt sich mir nicht wirklich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708709900

Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708710000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf

der einen Seite hören wir, dass wir eine chronische Un-
terfinanzierung der Kommunen haben. Auf der anderen
Seite hören wir, das Thema sei nicht aktuell. Die Aktua-
lität zeigt sich im Augenblick unter anderem daran, dass
Schlaglöcher nicht mehr repariert werden können. Dabei
geht es nicht um Neu- oder Ausbau, sondern nur um ein
Schlaglochprogramm; das schlagen wir vor. Man hätte
auch beliebige andere Felder nehmen können, um zu zei-
gen, dass Kommunen nicht mehr in der Lage sind, ihre
Pflichtaufgaben zu erfüllen.


(Beifall bei der LINKEN)


Uns ist wichtig, nicht in eine Situation zu kommen,
von der man gestern bei Spiegel Online lesen konnte:

Klamme Kommune – Britische Stadt will Schwimm-
bad mit Krematorium heizen

Sparen bis zum bitteren Ende: Eine britische Stadt
will ihr Freizeitbad mit Abwärme aus dem Krema-
torium heizen. Das diene auch dem Klimaschutz,
werben die Verantwortlichen. Gewerkschafter kriti-
sieren den Sparvorschlag als „krank“.

Wir dürfen nicht in eine solche Situation kommen. Des-
wegen müssen wir etwas tun. Ich möchte kurz zurück-
schauen. Dass es den Kommunen so schlecht geht, hängt
in der Tat mit der Steuerpolitik seit dem Jahr 2000 zu-
sammen. Das muss man immer wieder sagen und in Er-
innerung rufen.

Weil ich gerade an einem Aufsatz über die Schulden-
bremse arbeite, habe ich mir das genauer angeschaut.
Wäre nicht eine solche Steuerpolitik seit dem Jahr 2000
betrieben worden, hätten die Kommunen in den Jahren
2006 bis 2009 überhaupt keine Neuverschuldung nötig
gehabt, sondern Schulden abbauen können. Im großen
Krisenjahr 2010 hätten die Schulden dann gerade einmal
3,8 Milliarden Euro und nicht über 12 Milliarden Euro
betragen. Es liegt also an den massiv gesunkenen Steuer-
einnahmen, die die Kommunen nicht kompensieren kön-
nen. Deswegen ist es notwendig, strukturell für Steuer-
mehreinnahmen zu sorgen und Mindereinnahmen zu
bekämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen
ist bisher keinen Schritt weitergekommen. Morgen findet
eine vorläufige Zwischensitzung statt, bei der erst einmal
die beiden Rechenmodelle vorgestellt werden. Aber es
wurde schon gesagt, dass die nächsten Rechenmodelle in
Auftrag gegeben worden sind. Dann wird es weitergehen.
Wir kommen keinen Schritt weiter. Der Minister hat er-
neut angeboten, den Kommunen ein Zuschlagsrecht zur
Einkommensteuer zu geben, wenn sie teilweise auf Ge-
werbesteuereinnahmen verzichten. Das ist für uns völlig
unakzeptabel. Denn es bleibt dabei: Ein solches Einkom-
mensteuerzuschlagsrecht führt dazu, dass die reichen
Kommunen reicher und die armen Kommunen noch är-
mer werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])


Wenn man wirklich eine Verbesserung herbeiführen
will, dann darf man nicht an der Gewerbesteuer festhal-
ten, sondern muss sie reformieren und weiterentwickeln.
Ich habe mit Interesse von Herrn Holmeier gehört, dass
zumindest die Union eindeutig sagt: Mit uns gibt es
keine Abschaffung der Gewerbesteuer. – Ich bin ge-
spannt, wie Sie dann im Bundestag abstimmen werden.


(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD)


Ich hoffe, dass Ihre Fraktion die Abstimmung freigibt.
Dann kann man schauen, was dabei herauskommt. Aber
zu befürchten ist, dass man an die Gewerbesteuer heran-
geht.

Aus unserer Sicht ist Folgendes zu tun – das habe ich
schon früher ausgeführt –: Es gibt eine Empfehlung füh-
render Raumwissenschaftlerinnen und Raumwissen-
schaftler der Bundesrepublik, was zu tun wäre. Das sind
im Wesentlichen die folgenden Punkte: Erstens ist bei
besonders hoch verschuldeten Kommunen zu prüfen, ob
man einen Entschuldungsfonds auf Länderebene auflegt,
damit diese Kommunen überhaupt wieder eine Chance
haben.

Zweitens ist eine grundlegende Reform der Gewerbe-
steuer vorzunehmen, die auch Selbstständige und Frei-
berufler einbezieht und die langfristig die Gewerbe-
steuerumlage abschafft.





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)

Drittens spricht sich die Kommission ausdrücklich
gegen Hebesatzrechte aus.

Ferner brauchen wir Entlastungen auf der Ausgaben-
seite. Das betrifft insbesondere die Kosten der Unterkunft
für Langzeitarbeitslose und – das ist auf Dauer wahr-
scheinlich noch wichtiger – die Grundsicherung im Alter;
denn das ist der Posten, der sich im Augenblick am dyna-
mischsten entwickelt. Letztlich ist dann wieder die „alte“
Sozialhilfe für Ältere gefordert, die ausschließlich von
den Kommunen zu tragen ist. Dann sind wir genau an dem
Punkt, von dem wir eigentlich weg sein wollten. Deswe-
gen kann ich Sie nur auffordern, jetzt wirksame Maßnah-
men zu ergreifen. Die Kommunen und die Bürgermeister
der CDU – von der FDP gibt es nicht so viele –,


(Patrick Döring [FDP]: In Sachsen gibt es mehr Bürgermeister von der FDP als von der SPD!)


die diese Debatte verfolgen, werden über diese Debatte
enttäuscht sein. Wir müssen dringend ein Sofortpro-
gramm auflegen, um die Kommunen wieder handlungs-
fähig zu machen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708710100

Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1708710200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

knüpfe an die Ausführungen meines Vorredners, Herrn
Götz, an, der, wie ich finde, zu Recht darauf hingewie-
sen hat, dass es ein Ding ist, dass ausgerechnet die Linke
eine Aktuelle Stunde zum Thema „Schlaglöcher in Stra-
ßen“ beantragt hat. Ich will gar nicht auf die Vergangen-
heit verweisen. Nur so viel: Wir alle kennen die Schlag-
lochstraßen, die es in den 90er-Jahren in den neuen
Bundesländern gab. Das war das Ergebnis der Wirt-
schaftspolitik bzw. des wirtschaftspolitischen Konzepts,
das Sie noch heute vertreten und letzten Endes immer
noch anstreben. Das haben wir auch in der letzten Woche
hier erfahren, als wir in der Aktuellen Stunde am Freitag
über das Thema Kommunismus debattiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Von daher ist es schade, dass Ihre wirtschaftspolitische
Expertin, die Vorsitzende der Kommunistischen Platt-
form, Frau Wagenknecht, der Debatte heute leider nicht
beiwohnen kann. Es wäre spannend gewesen, zu hören,
was sie uns zur Lösung der Probleme mitgeteilt hätte.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Kommune und Kommunismus sind zwei unterschiedliche Dinge!)


Ich habe von Ihnen heute nichts anderes als Ausga-
benvorschläge gehört. Die Finanzlage der Kommunen
hat es nicht verdient, dass wir in dieser Schlichtheit da-
rüber sprechen; denn die Lage ist tatsächlich kritisch. Sie
ist ernst. Die Kommunen haben ein strukturelles Defizit.
Das lässt sich auch nicht wegdiskutieren. Das hängt aber
nicht nur mit der Einnahmeseite, sondern vor allem mit
der Ausgabenseite zusammen; das ist von einigen Red-
nern hier zu Recht angesprochen worden. Das hängt vor
allem mit den gestiegenen Sozialausgaben zusammen.
Ich erinnere daran, dass die Kommunen im Jahr 2008,
als die Gewerbesteuer ihre wesentliche Einnahmequelle
war, einen erheblichen Überschuss erwirtschaftet haben,
und zwar aufgrund der sprudelnden Einnahmen aus der
Gewerbesteuer.

Damit bin ich beim nächsten Punkt. Sie haben gesagt,
diese Bundesregierung sei aufgrund der Steuersenkun-
gen, die sie vorgenommen habe, für die derzeit kritische
Lage der Kommunen verantwortlich. Das genaue Ge-
genteil ist der Fall.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nein! Das ist die traurige Wahrheit!)


Wirtschaft ist keine statische Veranstaltung, bei der wir
den einen Geld wegnehmen, um es den anderen zu ge-
ben, bei der wir nur Geld von einem Topf in den anderen
verschieben. Die Tatsache, dass wir zum Jahresanfang
2010 eine Entlastung in Höhe von 24 Milliarden Euro
gewährt haben – das geschah auch auf Basis der Be-
schlüsse, die wir mit Ihnen gefasst haben, Herr Sieling –,
wirkt sich wirtschaftlich aus. Das sehen wir auch an den
aktuellen Zahlen. Auch mit dem Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz haben wir den Leuten doch kein Geld weg-
genommen. Wir haben den „ganz normalen“ Menschen,
den Familien in diesem Land 4,8 Milliarden Euro als
Kaufkraft zur Verfügung gestellt, insbesondere über eine
Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein großer Teil des Wachstums von 3,6 Prozent, das wir
im letzten Jahr hatten, ist darauf zurückzuführen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Natürlich ist das auch auf eine florierende Wirtschaft
und eine gute Exportquote zurückzuführen.

Fragen Sie die Volkswirte! Die sagen unisono: Die
Binnennachfrage zieht an.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist ja Selbstsuggestion!)


Das hängt doch auch mit der Kaufkraft zusammen, mit
Wachstumseffekten, die wir auslösen, mit mehr Mitteln,
die der Einzelne zur Verfügung hat, mit mehr Menschen,
die wir in Arbeit bringen. Wir haben in diesem Jahr
wahrscheinlich eine Arbeitslosenzahl von 2,7 Millionen
im Schnitt zu erwarten. Ich greife Ihr schönes Stichwort
von der „Bröckelrepublik“ auf, Herr Sieling: Als Sie die
politische Verantwortung trugen, hatten wir 5 Millionen
Arbeitslose in diesem Land.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Da waren Sie aber auch in der Regierung!)


Das wirkt sich auf die kommunalen Kassen ganz brutal
aus, gerade wegen der steigenden Sozialausgaben. Wer





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)

ist denn verantwortlich für die „Bröckelrepublik“? Das
ist Ihre „Bröckelrepublik“.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Ah ja!)


Die Gewerbesteuer ist hier schon verschiedentlich an-
gesprochen worden. Ich finde, dass die Gewerbesteuer
einige Schwächen hat. Diese Schwächen sind schon the-
matisiert worden. Ich finde Ihre Vorschläge erstaunlich,
Herr Sieling. Ich erinnere daran, dass Ihre Partei, als sie
in der Regierung war, die Gewerbesteuerumlage erhöht
hat. 2005 haben Sie rückwirkend den Bundesanteil an
den Kosten der Unterkunft auf null gesetzt.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch Schwachsinn! Das ist doch Unsinn! – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)


Ich weise Sie auf das hin, was der Städte- und Ge-
meindebund zu Ihren Forderungen im Hinblick auf
Hartz IV gesagt hat. Wörtlich wurde gesagt, die von der
SPD geforderten Korrekturen an den Hartz-Gesetzen
seien unbezahlbar. Das ist das Urteil über Ihre Vor-
schläge. Ich finde es ziemlich heftig, dass Ihr Finanz-
minister in Nordrhein-Westfalen durch die Gegend läuft
und sich damit brüstet, dass er etwas für die Kommunen
leistet, dass er Hunderte Millionen Euro für die Kommu-
nen zur Verfügung stellt; denn das geschieht auf der Ba-
sis eines höchstwahrscheinlich verfassungswidrigen
Haushalts. Man kann Ihnen wirklich nur raten, erst ein-
mal die Verhältnisse vor Ort in Ordnung zu bringen und
sich dann als Ratgeber auf bundespolitischer Ebene zu
empfehlen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, wir sind mit der Kommission, die der
Bundesfinanzminister eingerichtet hat, auf dem richtigen
Weg.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Auf welchem denn?)


Es dauert etwas länger, weil die Fronten verhärtet sind.
Ich gehe aber davon aus, dass wir einen brauchbaren
Kompromiss erzielen werden. Wenn sich die Kommu-
nen bei dem Thema Hinzurechnung bewegen, dann wird
es auch auf der anderen Seite Bewegung geben, entwe-
der in Richtung eines Anteils an der Einkommensteuer
mit Zuschlagsrecht oder – das hat der Finanzminister in
jedem Fall in Aussicht gestellt – in Richtung zusätzlicher
Beiträge und eines zusätzlichen Engagements des Bun-
des bei den sozialen Ausgaben, bei der Grundsicherung
im Alter und bei der Integration Erwerbsgeminderter.
Das halte ich für eine vernünftige Linie. Diese sollten
wir jetzt mit aller Sachlichkeit und Nüchternheit verfol-
gen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708710300

Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Petra Hinz von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1708710400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Eigenverantwortung übernehmen – das ist im-
mer dann das Stichwort, wenn es darum geht, dass Sie
den Kommunen Mittel entziehen. Es geht hier nicht um
Eigenverantwortung, sondern darum, dass Sie die Bür-
gerinnen und Bürger, die jetzt hier zuhören, täuschen
wollen. Das versuchen Sie, seit Sie in der Verantwortung
sind. Sie behaupten, durch das sogenannte Wachstums-
beschleunigungsgesetz sei der Konsum gesteigert wor-
den. Ich bezweifle, dass falsche Aussagen durch perma-
nentes Wiederholen wahrer werden.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Wir haben ein höheres Steueraufkommen!)


Ich sage Ihnen: Durch die Gesetze, die Sie, seitdem Sie
mit der FDP in der Verantwortung sind, beschlossen ha-
ben, entziehen Sie den Kommunen Finanzkraft. Um
nichts anderes geht es hier.


(Beifall bei der SPD)


Sie können Ihre Behauptung hier permanent wiederho-
len; das glaubt Ihnen draußen niemand mehr.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Schauen Sie doch einmal in den Jahreswirtschaftsbericht!)


Kann es sein, dass das marode Straßennetz – das Ge-
fühl hat man, wenn man die Diskussion zwischen CDU/
CSU und FDP hört – ein Spiegelbild dieser Albtraum-
koalition ist? Sie bewirken, dass die Kommunen hand-
lungsunfähig werden. Es hilft nicht, darauf zu verwei-
sen, dass es auch reiche Kommunen gibt. Ja, da haben
Sie völlig recht. Aber die überwiegende Zahl der Kom-
munen – gerade dort, wo es einen Strukturwandel gege-
ben hat – ist derzeit am Limit. Sie haben auch keine wei-
teren Einsparmöglichkeiten mehr. Ich frage mich, ob es
Ihnen wirklich um die Kommunen geht. Über alle Re-
gierungen hinweg haben wir hier Gesetze beschlossen,
die die Kommunen letzten Endes finanziell belastet ha-
ben.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Vor allem Ihre!)


Das betrifft die Menschen vor Ort.

Seitdem Sie in Verantwortung sind, haben Sie die
Menschen im Stich gelassen und durch Entscheidungen
bzw. Nichtentscheidungen die Kommunen gezwungen,
Kürzungen vorzunehmen bzw. die Gebühren oder – im
Rahmen Ihrer Möglichkeiten – die Steuern zu erhöhen.
Das zahlen letzten Endes die Bürgerinnen und Bürger
vor Ort. Sie versprechen ständig Steuererleichterungen.
Diese werden aber dadurch kompensiert, dass die Bürge-
rinnen und Bürger wesentlich mehr Gebühren und Abga-
ben zahlen müssen; auch das muss deutlich gesagt wer-
den.


(Beifall bei der SPD)


Kommen wir zurück zu den Schlaglöchern. Meine
Kollegin hat schon auf ihr Bundesland aufmerksam ge-
macht. Ich möchte gerne konkret meine Stadt, die Stadt
Essen, als Beispiel nennen. Das Problem der Schlaglö-
cher haben wir nicht nur in diesem Jahr, sondern – da-
rauf haben alle Redner hingewiesen – wir hatten es be-





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)

reits in zurückliegenden Jahren. Meine Kommune
schreibt mir dazu ganz klar: Im letzten Jahr waren es
2,3 Millionen Euro. In diesem Jahr geht es um weitere
2,3 oder 2,5 Millionen Euro. Das sind kumuliert rund
4,5 Millionen Euro. Die Kommune wird diese Gelder
gar nicht aufbringen können. Das heißt unter dem Strich
– auch das hat mir die Baudezernentin in der Beantwor-
tung meiner Fragen geschrieben –, dass man den Anlie-
gern die Kosten des Straßenbaus und der Straßengestal-
tung im Rahmen des KAG in Rechnung stellen wird.
Das heißt, die Menschen vor Ort werden das bezahlen,
weil sich unser Verkehrsminister herauszieht und sich ei-
nen schlanken Fuß macht.


(Beifall bei der SPD)


Er begründet es damit, dass wir den Kommunen auf-
grund der Fördersystematik nicht helfen können.


(Patrick Döring [FDP]: Dann sollten die Menschen vor Ort eine bessere Stadtregierung wählen! Es geht um kommunale Straßen und nicht um Bundesstraßen! Was hat der Minister damit zu tun?)


– Wir haben schon ganz viele Förderprogramme aufge-
legt, obwohl wir originär gar nicht zuständig sind. Wenn
wir gemeinsam etwas wollen, dann können wir es auch
auf den Weg bringen.

Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen aller-
dings sehr deutlich feststellen können, in welche Rich-
tung Herr Ramsauer geht. Vom Finanzministerium kam
ein ganz klares Nein zur Gewerbesteuer. Ich höre von Ih-
nen keine Alternative zur Gewerbesteuer. Ich höre nur:
Warten wir erst einmal ab! – Wir warten eigentlich seit
September, nein, seit Oktober, nein, seit November, nein,
seit Dezember letzten Jahres. Nun sind wir im neuen
Jahr und warten weiter ab, ob die Kommission einen Be-
richt vorlegt. Wenn die Kommission ein Ergebnis vor-
legt, das nicht Ihren Vorstellungen – Wegfall der Gewer-
besteuer – entspricht, dann bin ich sehr gespannt, ob Sie
dann frei abstimmen dürfen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Da gibt es vorher einen parlamentarischen Prozess!)


– Wie dieser parlamentarische Prozess abläuft, liebe
Kollegin, erleben wir im Finanzausschuss immer wieder,
wenn es um Teilhabe und Informationsaustausch geht.
Dann wird lediglich mit Mehrheit beschlossen.


(Patrick Döring [FDP]: Erinnern Sie sich mal an Ihr Verhalten, als Sie regiert haben!)


Ich komme auf Ihr großartiges „Wachstumsverhinde-
rungsgesetz“ und die Mehrwertsteuersenkung zurück. Sie
behaupten, dadurch sei der Konsum gesteigert worden.
Sie haben letzten Endes dazu beigetragen, dass den Kom-
munen 1,6 Milliarden Euro fehlen. Unter dem Strich
kann man sagen: Wer bei Ihnen keine Lobby hat, der be-
kommt von der Regierung keinen Cent und keinen Euro
und der wird weder unterstützt noch gefördert.


(Beifall bei der SPD)


Ich fasse schnell zusammen; denn ich sehe, dass
meine Zeit abläuft. Erstens. Bund und Länder müssen al-
les Mögliche tun, um die Substanz des Straßennetzes zu
erhalten und Reparaturen vorzunehmen. Hier erwarte ich
vom Verkehrsminister eine intelligente Lösung und nicht
nur die Aussage, was alles nicht geht.

Zweitens. Nehmen Sie die Mittelkürzung beim Städte-
bauförderungsprogramm zurück! Denn das Programm
„Soziale Stadt“ muss fortgesetzt werden. Es war ein Er-
folgsmodell, allerdings nicht Ihr Modell.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Die Gewerbesteuer muss erhalten werden,
um den Kommunen Planungssicherheit zu geben.

Viertens. Nehmen Sie die Gesetze zurück, die dazu
geführt haben, dass Mindereinnahmen das Handeln der
Kommunen bestimmen!

Fünftens. Ihre sogenannten Steuererleichterungen
dürfen nicht zulasten der Kommunen gehen.


(Patrick Döring [FDP]: Sie wollen also Steuererhöhungen! Dann sagen Sie es auch! Dann beantragen Sie doch Steuererhöhungen!)


Sechstens. Stärken Sie die Kommunen! Das bedeutet
zugleich eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708710500

Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Brackmann

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1708710600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Alle Jahre wieder rieselt der Schnee. Alle
Jahre wieder gibt es Frost, und es kommt zu Frostaufbrü-
chen. Alle Jahre wieder gibt es diese Debatte, und in die-
sem Jahr stehen besonders viele Landtagswahlen an.
Wenn ich mir diese Debatte hier vor Augen führe, dann
stellt sich mir die Frage – und die Kollegen der SPD ha-
ben schon darauf hingewiesen –, was daran eigentlich
aktuell ist. Die Kommunen haben sich darauf eingestellt,
dass es Frostschäden gibt. Eigentlich sind zwei Dinge
neu: Erstens. Die Frostschäden erfordern – der Kollege
Götz hat darauf hingewiesen – einen Aufwand von
2,3 Milliarden Euro. Das ist viel Geld.

Zweitens. Laut der neusten Steuerschätzung vom No-
vember kommt es aufgrund der super Politik, die diese
Regierung macht,


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Regierung?)


bei den Kommunen zu Mehreinnahmen von 3,6 Milliar-
den Euro. Es wäre typisch für Sie gewesen, wenn Sie da-
rüber nachdenken würden, was man mit dem Differenz-
betrag machen könnte. Sie, Frau Kunert, stellen sich
dann hier hin und sagen, die Kommunen seien am Ende.





Norbert Brackmann


(A) (C)



(D)(B)


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Das sind sie auch!)


Dann schauen wir einmal zurück. Warum sind sie
denn am Ende? – Wir wissen, worüber wir reden, wenn
wir über Schlaglöcher in den Straßen reden. Straßen ha-
ben eine Lebensdauer von 30 Jahren.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ah! Daran erinnern wir uns noch!)


– Ja, da lachen Sie noch. Ihr Erinnerungsvermögen wird
Sie auch nicht verlassen.

Die Steuerreform hat im Jahre 2000 dazu geführt –


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich dachte, wir reden von 30 Jahren!)


– das ist nur ein Drittel der Zeit –, dass der größte Eingriff
bei der Gewerbesteuer und der Körperschaftsteuer er-
folgte. Die Einnahmen sind von 50 Milliarden Euro – ich
habe mir die Zahlen noch einmal geben lassen – auf
25 Milliarden Euro gesunken. Wenn man das bis heute
hochrechnet, dann stellt man fest, dass den Kommunen
120 Milliarden Euro weniger zur Verfügung stehen, die
sie in die Straßen hätten investieren können. Das ist
schon bemerkenswert. Ich wäre aufseiten der Linken et-
was vorsichtig. Seinerzeit hat die Bundesregierung die
Zustimmung des Bundesrates mit ein paar Ortsumge-
hungen für das Land Mecklenburg-Vorpommern erkauft,
das von Rot-Rot regiert wurde. Damit sind Sie geradezu
mitverantwortlich dafür, dass es diesen Aderlass gege-
ben hat.

Sie sprechen von einem reichen Deutschland, in dem
eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen ei-
gentlich kein Problem sein dürfte. Sie müssen sich aber
auch vergegenwärtigen, dass wir hier mit unterschiedli-
chen Welten konfrontiert werden. Wenn wir in den Kom-
munen diskutieren – das wissen wir alle –, ist die Dis-
kussionslage immer dieselbe: Gerade von den Linken,
aber auch von anderen Parteien, die hier in der Opposi-
tion sitzen, bekommen wir immer wieder den Hinweis,
wir sollten bloß nicht so viel Geld in die Unterhaltung
der Straßen stecken, sondern dieses Geld viel lieber für
Investitionen im sozialen Bereich verwenden, damit es
letztlich den Konsum steigert. Hinterher wundern wir
uns, dass Sie sich hier hinstellen und davon reden, dass
es sich die Kommunen nicht mehr leisten können, die
Schlaglöcher ordentlich zu sanieren. In den Kommunen
schimpfen Sie auf den Bund, der sich darum kümmern
soll. Das ist ein falsches Spiel; das sind Taschenspieler-
tricks, die wir hier im Bundestag nicht anwenden sollten.
Stattdessen sollte jeder in seinem Zuständigkeitsbereich
für ordentliche Straßen sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katrin Kunert [DIE LINKE]: Eine Unterstellung!)


Man muss einmal deutlich darauf hinweisen, dass der
Bund hier seiner Verpflichtung nachkommt. Es ist ein
deutliches Signal, dass trotz der schwierigen Haushalts-
lage der Etat für die Sanierung der Fernstraßen von
2,1 Milliarden Euro um 100 Millionen Euro aufgestockt
wurde.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn! Das ist das normale Geld, das Jahr für Jahr für Bundesverkehrsstraßen zur Verfügung gestellt wird!)


– Es ist eine deutliche Erhöhung. – Obendrein hat der
Bundesverkehrsminister angewiesen, den Erhalt von
Straßen dem Neubau vorzuziehen. Das ist ein deutliches
Signal dafür, dass wir den Bestand in der Bundesrepu-
blik sichern wollen.

Sie haben in der Föderalismuskommission mitge-
wirkt. Sie wissen also: Der Bund dürfte, selbst wenn er
wollte, die Gemeindestraßen gar nicht finanzieren; er
könnte das aber aufgrund der Anforderungen auch nicht
leisten. Der Bund tut bei den Bundesstraßen genau das,
was richtig ist, nämlich alles erdenklich Mögliche, um
auf den Schlaglochpisten keine Straßenkaries aufkom-
men zu lassen. Dafür sei dem Verkehrsminister gedankt.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708710700

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:

Vereinbarte Debatte

Tunesien – Jetzt Grundlage für stabile Demokra-
tie schaffen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejeni-
gen, die nicht daran teilnehmen wollen, den Plenarsaal
zu verlassen, damit die anderen den Ausführungen in
Ruhe folgen können.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle
das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in diesen
Tagen, welche Kraft die Idee der Freiheit entfalten kann.
Wir erleben das nicht nur in Tunesien, sondern zurzeit
auch in Ägypten. Als diese Debatte vereinbart worden
ist, hatte man noch die Ereignisse in Tunesien im Kopf.
Mittlerweile sehen wir, dass auch in anderen Ländern
derartige Demonstrationen, mindestens aber derartige
Diskussionen in der Gesellschaft stattfinden. Das ist die
andere Seite der Globalisierung, die oft vergessen wird:
Es ist eine Globalisierung der Werte, eine Globalisierung
demokratischer Prinzipien. Es geht um den Respekt vor
den Menschenrechten und den Bürgerrechten. Hier ha-
ben wir über alle Parteigrenzen hinweg eine gemeinsame





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

Haltung. Die deutsche Bundesregierung und – ich habe
keinen Zweifel daran – auch der Deutsche Bundestag
stehen ohne Wenn und Aber an der Seite und auf der
Seite der Demokratie – sei es in Tunesien, sei es in
Ägypten.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich will fünf Bemerkungen machen, weil es natürlich
ein Prozess sein wird, der uns noch lange beschäftigt,
und zwar nicht nur im Deutschen Bundestag, nicht nur in
der Arbeit der Regierung, sondern natürlich darüber hi-
naus in Europa und im gesamten Westen, der zu Recht ja
auch als Wertegemeinschaft bezeichnet wird.

Erstens. Was wir derzeit erleben, widerlegt die Be-
hauptung, dass Demokratie und dass Freiheitsrechte
Länder instabil machen würden. Wir erleben hier das
glatte Gegenteil. Nicht die Bürgerfreiheiten machen
diese Länder instabil, nicht die Gewährung von Freiheit
macht diese Länder instabil, sondern die Verweigerung
von Bürgerfreiheiten, die Verweigerung von Bürgerrech-
ten destabilisieren diese Länder. Das ist auch ein klarer
Auftrag für uns, da, wo wir es können, auf Demokrati-
sierung zu setzen. Der Weg zur Stabilität führt über die
Demokratie. Das ist der Grund dafür, dass wir uns auch
als Europäer hier besonders engagieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu zählt die Wahrung der Menschenrechte, dazu
zählt der Respekt vor den Bürgerrechten, und dazu zäh-
len ausdrücklich auch die Presse-, Meinungs- und Ver-
sammlungsfreiheit. Das ist die Botschaft, die von Tune-
sien ausgegangen ist, und das ist die Botschaft, die jetzt
auch in Ägypten gehört werden soll; Demokratie, Frei-
heitsrechte, Bürgerrechte, Versammlungsfreiheit, Presse-
freiheit, Meinungsfreiheit, das sind genau die Rechte,
die jetzt von den Bürgerinnen und Bürgern auf der
Straße verlangt und eingeklagt werden. Diejenigen, die
diese Rechte wollen, haben unsere Solidarität und unsere
politische Unterstützung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir sind eine Wertegemeinschaft, und diese Werte wol-
len wir auch verbreiten.

Zweitens. Sehr oft wird als Rechtfertigung für Gewalt
erklärt, dass man diese Gewalt zur Unterdrückung ein-
setzen müsse, um der Gefahr einer Islamisierung, um der
Gefahr von Fundamentalismus entgegenzutreten. Genau
das ist etwas, was in diesen Tagen auch widerlegt wurde
und gerade widerlegt wird.

Diejenigen, die jetzt Gewalt gegen ihre Bürgerinnen
und Bürger und deren Sehnsucht nach Freiheit und De-
mokratie einsetzen, fördern Islamismus und Radikalität;
denn sie treiben diejenigen dahin, die aus einer ganz nor-
malen Mittelschicht heraus in Wahrheit nach Bildung,
Freiheit und Aufstieg drängen; sie sorgen dafür, dass ge-
nau diese moderaten Kräfte geschwächt und die radika-
len gestärkt werden. Nicht der, der Gewalt einsetzt, be-
kämpft den Islamismus, sondern der, der jetzt Gewalt
gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger einsetzt,
sorgt für Fundamentalismus, Islamismus und eine Radi-
kalisierung in diesen Gesellschaften.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Wir werden am Montag im europäischen
Kreis in Brüssel besprechen, wie wir in Tunesien kon-
kret helfen können. Natürlich ist es jetzt, bevor diese
Maßnahmen gemeinsam verabredet sind, zu früh, Ein-
zelheiten zu nennen. Aber ich kann Ihnen versichern
– das habe ich auch in meinem Telefongespräch mit mei-
nem tunesischen Amtskollegen noch einmal deutlich ge-
macht –: Wenn Tunesien den Weg in Richtung Demo-
kratie geht, dann werden wir nicht nur als Deutschland,
sondern auch als Europäische Union bei diesem Prozess
behilflich sein.

Wichtig ist eine unabhängige Justiz. Dort, wo jetzt
eine unabhängige Justiz als wesentliche Voraussetzung
für Stabilität aufgebaut wird, werden wir mit Rat und Tat
– auch mit Ratgebern und praktischer Hilfe – dabei sein
und unterstützend mitwirken.

Viertens. Man erkennt, dass in unserem elektroni-
schen Zeitalter Meinungen eben nicht mehr allein über
das Staatsfernsehen kontrolliert werden können. Das ist
eine ganz neue Realität der Gedankenfreiheit. Deswe-
gen: Wenn ich von Pressefreiheit spreche, dann meine
ich damit auch die Freiheit im Internet. Sie ist ganz au-
genscheinlich auch ein Motor für Demokratisierung ge-
worden. Wir begrüßen diese Entwicklung und appellie-
ren deswegen auch an die Regierung in Kairo, die
Freiheit im Internet nicht durch Abschalten zu beein-
trächtigen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Also auch keine Vorratsdatenspeicherung?)


Fünftens und letztens möchte ich mich bedanken, vor
allen Dingen für die Zusammenarbeit mit sehr vielen
Kolleginnen und Kollegen hier, aber, wenn Sie mir er-
lauben, auch für die Zusammenarbeit mit Reiseveran-
staltern, für das Engagement unserer Diplomaten, unse-
rer deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vor
Ort.

Bitte vergessen wir nicht, was es für eine großartige
Leistung war, dass 7 000 deutsche Touristen innerhalb
eines Wochenendes, so sie es wollten, ausgeflogen wer-
den konnten. Das war eine gigantische logistische Leis-
tung. Deswegen erlauben Sie mir bitte, dass ich schließe
mit einem Dank an die Beamten, die das organisiert ha-
ben, aber natürlich auch an unsere Mitarbeiter in den
Ländern, die unter persönlicher Gefahr dort arbeiten,
und insbesondere an die Reiseveranstalter und die vielen
Unternehmen, die daran mitgewirkt haben, dass unsere
Staatsangehörigen unversehrt zurückkehren konnten, so-
fern sie dies wollten.

Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708710800

Das Wort hat der Kollege Dr. Gloser für die SPD-

Fraktion, dem ich herzlich zu seinem heutigen Geburts-
tag gratuliere.


(Beifall)



Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1708710900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Aber den akademi-

schen Titel habe ich immer noch nicht erworben.


(Heiterkeit – Zuruf von der CDU/CSU: Das war vielleicht ein Geburtstagsgeschenk!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708711000

Dann müssen Sie mit Ihrer Geschäftsführung klären,

was sie meldet.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1708711100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mutige Bürgerinnen und Bürger Tunesiens haben ein
Wunder bewirkt. Die sogenannte Jasminrevolution ist
auch ein historischer Einschnitt in der Geschichte Tune-
siens. Wenn man im Lexikon „Arabischer Jasmin“ nach-
schlägt, dann liest man dort: Er wächst als aufrechter
und kletternder Strauch. – Ich meine, viele tunesische
Bürger können aufgrund ihres Mutes aufrecht gehen. Ihr
Mut ist auch ein Beispiel für andere. Wir wissen: Der
Strauch klettert weiter. Aus den Bewegungen in Ägypten
und im Jemen wissen wir das.

Heute ist vielleicht auch ein kurzer Augenblick des
Gedenkens an die vielen Opfer dieser Revolution ange-
zeigt. Unsere Wünsche zur Genesung gehen an die vie-
len Verletzten. Noch immer steht das Land vor schwieri-
gen Herausforderungen. Dazu gehören der Aufbau von
handlungsfähigen Strukturen, auch einer handlungsfähi-
gen Übergangsregierung, die Organisation von Wahlen,
die Herausbildung einer freien Zivilgesellschaft, aber
auch die unumkehrbare Sicherung der Grundfreiheiten.

Jetzt gilt es, seitens der Europäischen Union, seitens
Deutschlands ein wichtiges Zeichen zu setzen. Es ist
richtig: Die Tunesier haben die Umwälzung allein ge-
schafft. Es war ihr Mut, gegen Missstände aufzubegeh-
ren, um sich endlich die Luft zum Atmen der Freiheit zu
verschaffen. Dennoch: Gerade während dieses histori-
schen Umbruchs genügen warme Worte nicht. Wenn
nicht jetzt, wann dann erfolgt die Unterstützung dieses
Landes?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der Demonstrationen in anderen arabi-
schen Ländern kristallisieren sich übereinstimmende
Forderungen heraus. Die Menschen, insbesondere die
jungen Menschen, wollen politische, wirtschaftliche und
soziale Teilhabe. Sie wollen Grundfreiheiten in An-
spruch nehmen. Sie wollen sich eigene Perspektiven er-
arbeiten können.

Die Menschen, die in verschiedenen Orten Tunesiens
auf die Straße gegangen sind, nehmen eigentlich nur das
in Anspruch – vielleicht haben wir das vergessen –, was
die Staats- und Regierungschefs des Nordens und des
Südens in der Erklärung von Barcelona am 27./28. No-
vember 1995 vereinbart haben: die Verpflichtung auf die
Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte, die Anerkennung der
Menschenrechte und der Grundfreiheiten wie der Mei-
nungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit. In dieser
Erklärung ist aber auch von der Entwicklung der Demo-
kratie die Rede. Es ging also nicht, wie mancher Kritiker
sagt, nur um finanzielle und wirtschaftliche Partner-
schaft.

Unstrittig: Letztere hat natürlich auch die Entwick-
lung in Tunesien befördert. Dieses Land hat eben zwei
sehr unterschiedliche Gesichter – dies sollte bei all den
Umwälzungen und in so manchem klugen Leitartikel
nicht vergessen werden –: Zum einen gibt es das Land,
in dem im Vergleich zu anderen arabischen Ländern eine
bessere Rechtsstellung und Lage der Frauen, eine ver-
hältnismäßig gute Ausbildung, Infrastruktur – ja, es gibt
auch einen Mittelstand – und die Trennung von Religion
und Staat vorhanden sind, und zum anderen gibt es das
Urlaubsland Tunesien.

Heute geht so mancher kritische Kommentar zur Si-
tuation Tunesiens auch in Richtung der Politik. Ich erin-
nere daran, dass in der Lektüre der letzten Jahre Tune-
sien immer unter einem bestimmten Bild zu finden war,
nämlich als Touristenland auf den Reiseseiten der Zei-
tungen, aber nie mit dem anderen Gesicht.

Ich bin froh darüber, dass wir Sozialdemokraten bei
unseren Begegnungen kritische Themen nicht ausgespart
haben. Ja, wir mussten auch mit der Regierung sprechen;
aber genauso trafen wir uns mit Vertretern der Opposi-
tion – wohlgemerkt: nicht nur der Opposition, die von
Ben Ali zugelassen war – und auch mit vielen NGOs mit
Menschenrechtsaktivitäten. Noch im Dezember letzten
Jahres habe ich in Tunis mit Vertretern dieser Opposition
gesprochen. Zwei davon waren für 24 Stunden Mitglie-
der der Übergangsregierung. Ich hoffe, sie kehren unter
anderen Umständen wieder zurück.

Wir haben mit verschiedenen Ministern und der RCD
über diese Themen gesprochen, vor allem unsere Erwar-
tungen in Bezug auf eine gesellschaftliche Öffnung for-
muliert, gerade vor dem Hintergrund der Perspektivlo-
sigkeit vieler junger Menschen. Die Kolleginnen und
Kollegen aus allen Fraktionen, die bei dem Besuch der
Parlamentariergruppe des tunesischen Parlaments im
November letzten Jahres dabei waren, wissen, wie wir
das deutlich gemacht haben.

In den letzten Monaten wollte die Regierung Tune-
siens Unterstützung bei den Verhandlungen mit der EU
über einen privilegierten Status. Ich denke, eine solche
Unterstützung sollte grundsätzlich gewährt werden. Sie
muss aber mit den Forderungen einhergehen, die wir als
Europäische Union haben. Herr Außenminister, wenn





Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)

am kommenden Montag die Entscheidungen des Außen-
ministerrates getroffen werden, halte ich es für wichtig,
dass hier Zeichen gesetzt werden, damit nicht der Ein-
druck entsteht, wir brächen an dieser Stelle Verhandlun-
gen einfach ab, die wir zuvor geführt haben. Wir müssen
Perspektiven aufzeigen. Möglicherweise kann dann eine
neue Regierung eine neue Vereinbarung treffen.

Jetzt äußern sich auf einmal viele klug, als hätten sie
schon immer alles gewusst. Ich stelle noch einmal fest:
Angesichts der vielen Verflechtungen, angesichts der un-
mittelbaren Nachbarschaft, aber auch angesichts vieler
gemeinsamer Themen mussten wir auch mit den Regie-
rungen reden, sei es nun in Tunis, in Algier oder in Kairo –
ob es uns gefiel oder nicht.

Die Frage ist doch: Sprechen wir nur mit der Regie-
rung oder auch mit den anderen, den kritischen Grup-
pen? Hinterfragen wir kritische Situationen oder biedern
wir uns an? Tunesien liegt für uns nur etwa zwei bis drei
Flugstunden entfernt. Das ist nicht weit weg. Diese geo-
grafische Nähe legt nahe, viele Herausforderungen ge-
meinsam anzugehen. Unser in Europa vorhandenes Be-
dürfnis nach Sicherheit in unserem sogenannten
Vorgarten in den südlichen Regionen darf nicht als Vor-
wand für Repression der dortigen Bevölkerung genom-
men werden. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um auf die
grundlegenden Vereinbarungen zwischen dem Norden
und dem Süden im Rahmen des Barcelona-Prozesses zu-
rückzukommen.

Auch wenn es ein heißes Eisen ist, müssen wir uns
doch selbstkritisch fragen, wie wir es mit einer Überprü-
fung der europäischen Flüchtlingspolitik halten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der Perspektivlosigkeit von 60 bis
70 Prozent der Jugendlichen und jungen Menschen unter
30 Jahren in Nordafrika müssen wir uns auch dem
Thema der möglicherweise temporären Öffnung der le-
galen Migration widmen. Ich weiß, das ist ein schwieri-
ges Feld.

Dennoch, sehr geehrter Herr Außenminister, haben
Sie seitens der SPD – ich glaube, ich kann das sagen –
die volle Unterstützung, wenn Sie sich, wie ich erfahren
habe, gegenüber manchem südlichen Nachbarn in der
Zielrichtung durchsetzen. Es ist nicht hinnehmbar, dass
noch vor wenigen Tagen eine Außenministerin Unter-
stützung für ein System Ben Alis gegeben hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Militär wollten die das sogar!)


Ich glaube, das sollte schnellstmöglich korrigiert wer-
den.

Es ist wichtig, die Vielzahl der Menschen, die auf die
Straße gegangen sind, die diese Umwälzung herbeige-
führt haben, auch in der Zukunft zu unterstützen. Ich
habe eingangs das Beispiel vom Jasmin genannt. Über
den Arabischen Jasmin heißt es aber auch: Er ist ein ein-
heimisches und kein importiertes Gewächs. – Vielleicht
war die Jasminrevolution gerade deshalb so erfolgreich,
weil sie sich von innen heraus entwickelte und nicht von
außen erzwungen worden ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708711200

Das Wort hat der Kollege Polenz für die Unionsfrak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1708711300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Arbeit, Freiheit, Würde – das waren die zentralen Forde-
rungen, für die die Tunesierinnen und Tunesier mutig
auf die Straße gegangen sind. Ihre Forderung war: Ende
der Korruption und der Unterdrückung. Sie haben für
Meinungsfreiheit gestritten, und sie wollten freie und
faire Wahlen. Die Tunesier wollen selbst entscheiden,
wer regieren soll.

Wir haben diese Debatte heute deshalb vereinbart,
weil wir das Signal senden wollen: Ja, wir unterstützen
diese Forderung nach einem Rechtsstaat und einer De-
mokratie, nach einer Gesellschaft, in der jeder und jede
in Würde leben kann und die Armut und Arbeitslosigkeit
überwindet.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen ein Signal dafür senden, dass wir Respekt
haben und dass wir die mutigen Tunesierinnen und Tu-
nesier bewundern, die sich nicht haben einschüchtern
lassen, als sie auf die Straße gegangen sind, und die auch
erfolgreich darin waren, den autoritären Machthaber Ben
Ali zu stürzen.

Wir sollten uns aber auch selbstkritisch noch einmal
vergegenwärtigen, dass wir uns vielleicht zu lange vor
eine falsche Alternative gestellt haben, weil wir der Mei-
nung waren, in der Region des Nahen und Mittleren Os-
tens im Grunde nur die Alternative zwischen autoritären
Regierungen und islamistischem Chaos zu haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Ich glaube, wenn man das richtig durchdenkt, dann
kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass eine au-
toritäre Herrschaft nicht vor Islamismus schützt, sondern
im Gegenteil eher wie ein Brutkasten für Islamismus
wirkt.

Warum ist das so? Autoritäre Regierungen lassen
keine Meinungsfreiheit, keine politische Opposition und
keine politische Diskussion in der Öffentlichkeit zu. Die
Bevölkerungsmehrheit ist muslimisch, und den Glauben
kann auch eine totalitäre Regierung nicht verbieten. Des-





Ruprecht Polenz


(A) (C)



(D)(B)

halb verlagert sich die politische Diskussion dann in die
noch einigermaßen geschützten Räume der Moscheen.
Man kann das ein bisschen mit dem vergleichen, was wir
in den 80er-Jahren in der DDR in den Kirchenräumen er-
lebt haben. Durch diese Verlagerung der Diskussion in
die Moscheen wandelt sich die politische Bewegung na-
türlich ein Stück weit auch in Richtung religiöser Bewe-
gung.

Es kommt dann noch dazu, dass autoritäre Regierun-
gen dabei versagen, die Grundfunktionen in Sachen Bil-
dung und soziale Sicherheit zu erfüllen, die alle vom
Staat erwarten. Wir alle wissen, dass es zum Handwerks-
zeug der islamistischen Bewegung gehört, Kindergärten,
Schulen und Krankenhäuser zu offerieren. Dies ist das
zweite Element, durch das autoritäre Herrschaft Islamis-
mus begünstigt.

Wenn man dann noch sieht, dass alle diese Länder im
Grunde auf der Suche danach sind, welche Staats- und
Regierungsform zu ihnen passt, dann verfängt natürlich
so eine einfache Formel wie „Der Islam ist die Lösung“.
Wir müssen also lernen, dass diese Alternative, die uns
natürlich auch von den autoritären Herrschern eingeredet
worden ist – autoritär oder islamistisch –, in Wirklichkeit
keine ist.

Die Tunesier haben sich jetzt die Chance auf eine de-
mokratische Entwicklung selbst erkämpft, und wir soll-
ten sie auf diesem weiteren Weg unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten unsere Hilfe allerdings – auch dazu möchte
ich etwas sagen – an klare Bedingungen knüpfen. Es gibt
jetzt eine Übergangsregierung, die im Grunde zwei Auf-
gaben hat: Sie muss für Sicherheit und Ordnung sorgen,
und sie muss den Übergang vorbereiten, sprich: freie
und faire Wahlen sowohl für das Präsidentenamt, aber,
ich denke, alsbald auch für ein neues Parlament organi-
sieren.

Das kann nach so langer Unterdrückung ohne politi-
sche Diskussion nicht innerhalb ganz kurzer Frist ge-
schehen; denn dann hätten nur die Kräfte der alten Zeit
eine Chance, organisiert anzutreten. Deshalb wird man
einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr brauchen.
Länger sollte es aber auch nicht dauern. Wir müssen von
dieser Übergangsregierung einen klaren Zeitplan für
diese Wahlen erwarten.

Natürlich müssen dann Parteien neu gegründet und
zugelassen werden. Sie brauchen ein Wahlgesetz. Dabei
kann die Europäische Union und können wir technische
Hilfe anbieten. Es gehört eine Amnestie für die politi-
schen Gefangenen dazu,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Marina Schuster [FDP])


übrigens auch für diejenigen, die aus Angst vor dem Re-
gime ins Ausland geflohen sind und jetzt gerne zurück-
kehren würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt will ich etwas sagen, was vielleicht nicht jeder
teilt. Ich glaube, wir sollten uns aktiv darum bemühen,
dass sich auch islamistische Parteien an diesem Prozess
beteiligen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Warum? Nach demokratischen Wahlen sind die Pro-
bleme ja nicht weg. Es hat ja nicht sofort jeder Jugendli-
che einen Job, und es bricht nicht im ganzen Land sofort
der Wohlstand aus. Dann ist es wichtig, dass der Streit
über den richtigen Weg dahin in einem Parlament mit al-
len politischen Kräften ausgetragen wird, statt dass
Kräfte außerhalb dann das ganze System diskreditieren
und das, was man in der Vergangenheit zu Recht der au-
toritären Herrschaft angelastet hat, der neuen Demokra-
tie anlasten.

Deshalb sollten wir aktiv dafür werben, dass auch is-
lamistische Parteien in diesen Prozess einbezogen wer-
den. Dafür sind allerdings klare Vorbedingungen nötig.

Erstens. Jeder, der sich am politischen Prozess betei-
ligt, muss sich dazu bekennen, zur Durchsetzung seiner
politischen Ziele ausschließlich friedliche Mittel anzu-
wenden.

Zweitens. Jeder, der sich daran beteiligt, nach diesen
Regeln Politik zu machen, muss die Regeln auch gegen
sich gelten lassen, wenn er die Mehrheit einmal verlieren
sollte. Das heißt, die Bereitschaft, sich abwählen zu las-
sen, ist für demokratische Parteien konstitutiv.

Drittens. Das kommt in Tunesien dazu: Es gibt einen
sehr fortschrittlichen Code du Statut Personnel, der für
die Gleichberechtigung der Frauen enorm viel bewirkt
hat. Wir sollten, weil sich diese Frage islamistischen
Parteien gegenüber stellt, von vornherein von ihnen ver-
langen, dass sie ihn unangetastet lassen. Er gehört prak-
tisch zum Verfassungskonsens der tunesischen Gesell-
schaft.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ägypten sagen.
Dort gehen die Demonstranten auf die Straße, und zwar
nicht mit der Parole „Der Islam ist die Lösung“, sondern
mit der Parole „Tunesien ist die Lösung“.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Wir müssen der ägyptischen Regierung sagen: Keine
Gewalt gegen friedliche Demonstranten! Das Demon-
strationsrecht ist ein Grundrecht, das ihr eurer Gesell-
schaft eröffnen müsst!


(Beifall der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir müssen auf Meinungsfreiheit und die freie Nutzung
des Internets drängen. Es ist ein Skandal, dass Facebook
und andere Möglichkeiten, miteinander zu kommunizie-





Ruprecht Polenz


(A) (C)



(D)(B)

ren, abgeschaltet worden sind. Wir müssen fordern, dass
die Präsidentschaftswahlen, die in diesem Jahr turnusge-
mäß anstehen, fair und frei verlaufen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Europäische Union hat sich im Zuge der Ent-
wicklung der Mittelmeerunion leider immer stärker auf
eine eher technische und wirtschaftliche Zusammenar-
beit mit der Region fokussiert. Im Barcelona-Prozess hat
man seinerzeit noch stärker das Ziel verfolgt, wirtschaft-
liche Reformen mit politischer Öffnung zu verbinden.
Zu dieser Politik muss auch die Europäische Union wie-
der zurückfinden, Herr Außenminister.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Welches Fazit ist als Zwischenergebnis zu ziehen?
Erstens. Stabilität kann trügerisch sein. Autoritäre Re-
gime garantieren keine nachhaltige Stabilität.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Zweitens. Die Annahme, es gäbe Völker, die für De-
mokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht geeignet sind, ist
überheblich und falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Niema Movassat [DIE LINKE]: Richtig!)


Lassen Sie mich mit einem Zitat des tunesischen
Schriftstellers Abdelwahab Meddeb schließen, das ich
heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen
habe:

Für das Verlangen nach Demokratie ist kein Volk zu
unbegabt. Das tunesische muss nun in seiner demo-
kratischen Ungeduld nur noch lernen, dass nach der
Schnelle des Aufbruchs die Langwierigkeit der
Übergangsphasen mit Vertretern des Regimes und
neubekehrten Glaubenseiferern kommen wird. Wir
werden es meistern.

Ich füge hinzu: Wir sollten dabei unsere Hilfe und
Unterstützung anbieten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708711400

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Movassat

das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708711500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gute

Nachricht vorweg: Die tunesische Bevölkerung hat er-
folgreich den jahrelang von der Europäischen Union un-
terstützten Diktator Ben Ali aus dem Land gejagt. Die
Linke erklärt sich mit dieser Revolution solidarisch, wie
sie sich auch mit den Protesten solidarisch erklärt, die
derzeit in Ägypten gegen Mubarak stattfinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ben Ali war für Vetternwirtschaft, Unterdrückung
und Inhaftierung politischer Gegner wie auch für die
Chancenlosigkeit der Jugend verantwortlich. Tunesien
hat jetzt die Chance auf Freiheit, Demokratie und soziale
Gerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber worüber wir hier und heute reden müssen, ist die
Rolle Deutschlands und der Europäischen Union. Natür-
lich, wir alle kennen die unsägliche Story – sie wurde
schon angesprochen – der französischen Außenministe-
rin, die Ben Ali kurz vor seiner Flucht, nachdem bereits
mehrere Demonstranten erschossen worden waren, das
Know-how ihrer Sicherheitskräfte zur Verfügung stellen
wollte. So heftig ging es in der deutschen Politik nicht zu
– keine Frage –, aber man duckte sich weg. Als man die
Revolution in Tunesien nicht mehr ignorieren konnte,
übte man sich in lauwarmen Phrasen. Erst am Tag vor
der Flucht Ben Alis haben Sie, Herr Westerwelle, sich
einen Kommentar entlocken lassen und forderten
schwammig ein Ende der Gewalt. Bei der Kanzlerin
dauerte es mit einer Wortmeldung gar bis einen Tag nach
der Flucht. Wenn man dann noch weiß, dass auf der In-
ternetseite des Auswärtigen Amtes steht: „Die Beziehun-
gen zwischen Deutschland und Tunesien sind gut und in-
tensiv“, muss sich einem der Eindruck aufdrängen, dass
man es sich mit dem geschätzten Partner Ben Ali nicht
verderben wollte, solange noch die Möglichkeit bestand,
dass er im Amt bleibt.

Wie sah es eigentlich in den letzten Jahrzehnten aus?
Warum hat die Bundesregierung gemeinsame Sache mit
einer der schlimmsten Diktaturen dieser Welt gemacht,
obwohl Sie, Herr Westerwelle, hier heute gesagt haben,
dass wir eine Wertegemeinschaft sind und dass wir De-
mokratie und Freiheit unterstützen? Deutschland ist dritt-
größter Handelspartner Tunesiens. Die EU hat Tunesien
sogar in die Euro-Mediterrane Partnerschaft aufgenom-
men und so der Diktatur einen privilegierten Status zu Eu-
ropa verschafft. Gekoppelt war dies eigentlich an die Ein-
haltung von Menschenrechten und Demokratie. Doch
man pickte sich heraus, was einem wichtig war – die
Wirtschaftspartnerschaft –, und ignorierte die Menschen-
rechtsverletzungen in Tunesien. Auch Rüstungsgüter lie-
ferte man – wie übrigens auch in andere Diktaturen in der
Region wie Ägypten, Saudi-Arabien und Jemen. Auch
wenn es darum geht, afrikanische Flüchtlinge, die vor
Krieg, Verfolgung und Hunger fliehen, von Europa fern-
zuhalten, hat man kein Problem damit, mit den nordafri-
kanischen Diktaturen zusammenzuarbeiten. Was aller-
dings als Grund für die Unterstützung Ben Alis viel
schwerer wiegen dürfte: Er war ein stabiler Bündnispart-
ner im sogenannten Kampf gegen den Terror. Dafür
wurde gelassen in Kauf genommen, dass Tausende Men-
schen unrechtmäßig gefangen gehalten wurden, dass Mil-
lionen unterdrückt wurden und dass es Folter und Tötun-
gen gab. Das ist wirklich eine Schande.


(Beifall bei der LINKEN)






Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

Eine ähnliche Politik verfolgen Sie von der Bundesre-
gierung auch in Ägypten, wo Mubarak unterstützt und
mit Waffen beliefert wird, solange er nur die muslimi-
sche Opposition unterdrückt. In der deutschen Außen-
politik galt bisher: Was „muslimisch“ im Namen trägt,
ist potenziell terroristisch. – Null Differenzierung, null
Kenntnis. Diese pauschalen Vorverurteilungen derer, die
nicht sehen, dass es verschiedene Parteien und verschie-
dene Strömungen gibt, stärken am Ende die wirklich
fundamentalistischen Kräfte. Da muss endlich ein Kurs-
wechsel stattfinden. Herr Westerwelle, lassen Sie Ihren
heutigen Worten Taten folgen!


(Beifall bei der LINKEN)


Tief blicken lässt übrigens auch die Einschätzung des
Vizepremierministers der sogenannten einzigen Demo-
kratie im Nahen Osten – Israel –, der sagte, es würde die
israelische Sicherheit gefährden, wenn autoritäre Re-
gime der Region durch Demokratien ersetzt werden wür-
den. Da sich die Bundesregierung im Gegensatz dazu,
wie heute deutlich wurde, über die Demokratiebewe-
gung freut, sind wir gespannt, wie die Bundeskanzlerin
dieses Thema bei der deutsch-israelischen Kabinettssit-
zung Ende Januar zur Sprache bringen wird.

Die Bundesregierung spricht Demokratie und Men-
schenrechte anscheinend nur dann offensiv an, wenn es
im eigenen Interesse ist, wie beispielsweise beim Iran.
Aber was war – bisher jedenfalls – mit Ägypten, wo
Mubarak seit Jahrzehnten die Opposition unterdrückt
und wo Gegner der Diktatur jahrelang in dunklen Zellen
verschwinden und gefoltert werden? Was ist mit Saudi-
Arabien, wo Parteien verboten sind und Peitschenhiebe
eine normale Strafe darstellen? Was ist mit dem Jemen,
wo Präsident Salih regelmäßig Proteste blutig nieder-
schlagen lässt? All diese Regime werden als verlässliche
Partner eingestuft. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
sind dann wohl verzichtbar.

Unter Rot-Grün war es übrigens nicht anders.
Schließlich hat Ex-Außenminister Fischer gegenüber
Ben Ali, Mubarak und Co. dieselbe Bündnispolitik be-
trieben wie die Bundesregierung heute. Wir haben es
hier insgesamt in der deutschen Außenpolitik mit einem
instrumentellen Verhältnis zu Menschenrechten zu tun.
Das lehnt die Linke ganz klar ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie sagte doch der Afrika-Beauftragte der Bundesre-
gierung Nooke letzte Woche? Man kann künftig nicht
mehr die Augen vor undemokratischen Entwicklungen
verschließen. – Das heißt doch im Klartext, dass man ge-
nau dies jahrzehntelang getan hat. Man hat bewusst die
Augen verschlossen.

Was hat es nun auf sich mit dieser vordergründigen
Selbstkritik? Man könnte sich darüber freuen, wäre sie
nicht so durchsichtig. Jetzt, da der EU und Deutschland
die Felle davonschwimmen und nicht mehr zu verheim-
lichen ist, dass man Ben Ali jahrzehntelang unterstützt
hat, jetzt, da hoffentlich eine Regierung in Tunesien ge-
schaffen wird, die mit Ben Ali nichts mehr zu tun hat,
schaut man kritisch auf die Ära zurück.
Herr Westerwelle, Sie haben heute angeboten, den
Übergangsprozess hin zur Demokratie aktiv zu unter-
stützen. Das ist schön und gut. Aber glauben Sie denn,
dass noch irgendwer in Tunesien oder im Nahen Osten
Ihre Hilfe haben will, nachdem sich die deutsche Politik
durch jahrelanges Schweigen vollkommen diskreditiert
hat und jetzt schon wieder drauf und dran ist, die Mario-
nettenregierung des alten tunesischen Regimes als Über-
gangsregierung zu akzeptieren? Wenn Sie Ihre Glaub-
würdigkeit wiederherstellen wollen, dann ziehen Sie
jetzt die richtigen Konsequenzen: Beenden Sie Ihre Ko-
operation mit Diktatoren!


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!)


Belassen Sie es im Fall von Ägypten nicht bei ein paar
Worten, sondern entziehen Sie Mubarak sofort die kom-
plette Unterstützung und machen Sie sich dafür auch in
der EU stark! Dann wird er sich nicht mehr lange halten
können.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!)


Dann werden sich auch andere Diktaturen in der Region
nicht mehr lange halten können.

Die Menschen, die sich nun auch in Ägypten, Jorda-
nien, Jemen, Marokko und der Westsahara unter Lebens-
gefahr gegen ihre Unterdrücker erheben und für das
kämpfen, was in Tunesien bereits erreicht worden ist,
verdienen Respekt und Unterstützung. Wir Linke sind
solidarisch mit dem Kampf gegen jede diktatorische
Herrschaft.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Auch das sagt der Richtige!)


An die verbliebene alte Garde Ben Alis in Tunesien,
an Mubarak und alle anderen Herren Diktatoren: Macht
den Weg frei für Demokratie von unten! Eure Zeit ist
vorbei.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708711600

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin, gute Besserung! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann vieles teilen, was Sie in Ihren
Vorreden hier gesagt haben. Die Menschen der Jasmin-
revolution in Tunesien haben Geschichte geschrieben.
Sie haben das Regime Ben Ali quasi über Nacht friedlich
gestürzt. Wir müssen zunächst einmal ganz bescheiden
einsehen, dass kaum jemand in Europa – sei es die Poli-
tik oder seien es Experten – damit gerechnet hat.

Möglicherweise steht die gesamte arabische Welt am
Anfang einer neuen Ära. Ich glaube, heute kann und
wird niemand mehr voraussagen, ob das vielleicht so ist,
obwohl die Situation in den verschiedenen Ländern





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

schwer vergleichbar ist. Mit Blick auf die heutigen und
gestrigen Demonstrationen in Ägypten kann wohl nie-
mand voraussagen, ob die friedliche Revolution in Tunis
nicht doch auf andere Länder der Region übergreift


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Der Jemen!)


und ob Tunis am Ende nicht doch so etwas wie das Dan-
zig des Nahen Ostens wird. Wir haben das in Osteuropa
einmal erlebt. Ich habe in dieser Woche mit Experten
gesprochen, die gesagt haben: Ich würde meine Hand
nicht mehr dafür ins Feuer legen, dass das nicht pas-
siert. – Egal, mit wem man spricht – beispielsweise
mit Menschen aus der Region –, stellt man fest, dass
die Menschen elektrisiert sind. Sie hoffen auf eine
Chance.

Fest steht: Ob Tunesien zu einer Erfolgsgeschichte
wird oder erneut in einer autoritären Herrschaft endet, ist
für die gesamte Region und auch für uns, auch für Eu-
ropa von entscheidender Bedeutung. Deshalb – dies ist
mein erstes Anliegen – müssen wir, muss die Europäi-
sche Union jetzt alles tun, damit das Land eine Chance
auf eine dauerhafte Demokratisierung erhält, damit die-
ser Prozess unumkehrbar wird und vielleicht auch die
Nachbarstaaten eine Chance auf den Wandel erhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


In Tunesien wurde die Revolution von allen Teilen
der tunesischen Gesellschaft getragen, vor allen Dingen
auch von einer gut ausgebildeten Mittelschicht, von Ge-
schäftsleuten und Rechtsanwälten. Das mag in vielen
Nachbarstaaten anders sein, beispielsweise in Algerien,
aber auch in Ägypten scheint sich so etwas anzubahnen.

Fest steht: Die Probleme, die Auslöser für die
schreckliche Selbstverbrennung des jungen Gemüse-
händlers waren, sind Probleme vieler Araber: hohe Ar-
beitslosigkeit und hohe soziale Ungleichheit, vor allem
bei gut ausgebildeten unter 30-Jährigen, Dominanz von
Sicherheitsdiensten und Militär, Folter und Menschen-
rechtsverletzungen, Korruption und Machtmissbrauch
bei gleichzeitigem völligen Fehlen von politischen
Rechten.

Im Zeitalter von Internet, Twitter und Facebook
kommt hinzu, dass nicht mehr geheim bleibt, was die
Regime alles beiseiteschaffen. Über WikiLeaks sind Kor-
ruptionen und Bereicherungen bekannt geworden. Über
Facebook und Twitter wurde die Demonstration
organisiert. Al-Dschasira und andere Sender haben diese
Bilder in der gesamten arabischen Welt verbreitet. Das
wäre vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen.

Jetzt steht die fragile Übergangsregierung vor der
Aufgabe, faire und freie Wahlen zu organisieren, und
zwar in einer Situation, in der sich die demokratische
Opposition erst formieren muss. Geht das schief, dann
hätte das eine verheerende Wirkung auf künftige Demo-
kratisierungsprozesse in der Region.

Meine Kritik richtet sich in erster Linie an die Euro-
päische Union. Wir dürfen diese Debatte nicht wie
Buchhalter führen. Auch dürfen wir uns nicht – wie
Lady Ashton – mit feinziselierten Erklärungen hervor-
tun. Ich glaube, die Menschen in der Region erwarten ei-
nen Kurswechsel, eine entschlossene, umfassende Un-
terstützung, und zwar jetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die bisherige Politik der Europäischen Union gehört
grundsätzlich auf den Prüfstand. Wann, wenn nicht jetzt,
müssen wir einsehen, dass die Strategie des Westens in
dieser Region – Herr Polenz, Sie haben es angesprochen;
ich teile Ihre Auffassung völlig –, den Islamismus zu be-
kämpfen, indem man auf säkulare, aber autoritäre und
korrupte Regime setzt, gescheitert ist? Es ist eben nur
eine vermeintliche Stabilität ohne Demokratie und
Rechtsstaat. Sie steht auf tönernen Füßen. Irgendwann
klagen die Menschen ihre Rechte ein und fegen Regime
wie dieses hinweg. Außerdem liefert eine Diktatur gera-
dezu den Nährboden für Radikalisierungen jedweder
Art; Herr Polenz, Sie haben das Wort „Brutkasten“ be-
nutzt. Die bisherige Strategie muss beerdigt werden; wir
müssen jetzt einen Strategiewechsel einleiten. Das er-
warten die Menschen in der Region.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser stärkster Partner in der EU, Frankreich, ist
am Rande erwähnt worden. Ich fände es begrüßenswert
– auch das kann man im Bundestag einmal sagen –,
wenn Frankreich jetzt einmal in die zweite Reihe tre-
ten würde. Die Behauptung, man habe vom Ausmaß und
der Brutalität des Regimes nichts gewusst, ist nicht
glaubwürdig. Wir brauchen eine neue Politik gegenüber
Tunesien, gegenüber allen Ländern in dieser Region.
Frankreich wird eine solche Politik nicht glaubwürdig
betreiben können.

Was Tunesien angeht, teile ich vieles, was hier gefor-
dert wurde. Wir müssen den Demokratisierungsprozess
massiv unterstützen. Das heißt, wir müssen finanzielle
und institutionelle Hilfe für den Aufbau demokratischer
Strukturen leisten. Wahlvorbereitungen und Wahlbeob-
achtungen sollten schon jetzt angegangen werden. Wir
müssen dabei alle Kräfte in den Demokratisierungspro-
zess einbinden, auch die moderaten Islamisten; wir stim-
men Ihnen zu, Herr Polenz. Wir müssen auch an dieser
Stelle die Strategie verändern; das wäre das richtige Zei-
chen. Wir müssen aber auch die Zivilgesellschaft för-
dern, damit nicht wieder dasselbe passiert. Die eingelei-
teten Prozesse müssen unumkehrbar werden. Gefördert
werden müssen auch Projekte zur wirtschaftlichen Ent-
wicklung.

Die Mittelmeerpartnerschaft – sie ist hier nicht er-
wähnt worden – gehört auf jeden Fall auf den Prüfstand.
Herr Außenminister – Sie haben dazu leider nichts ge-
sagt –, ich wüsste gerne einmal, was aus der Mittelmeer-
union – von Sarkozy geboren, von Frau Merkel abgeseg-
net – geworden ist. Eigentlich müsste die Mittelmeer-
partnerschaft jetzt eine Sternstunde erleben. Gestern las
man aber, dass just jetzt der Generalsekretär der Mittel-
meerunion zurückgetreten ist, weil die Aktivitäten lahm-
gelegt seien, kein Geld fließe und alle Gipfeltreffen ab-
gesagt worden seien; deshalb hat er jetzt aufgegeben.





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Die Mittelmeerpartnerschaft ist also ein Potemkin’sches
Dorf. Da passiert gar nichts, und das ist total bedauerlich.

Wir brauchen jetzt einen Strategiewechsel im Hin-
blick auf diese Region. Das heißt – ähnlich dem, was
man beim Barcelona-Prozess gesagt hat –: Wirtschaftli-
che und politische Reformen müssen miteinander ver-
bunden werden. Wir dürfen eben nicht mehr in hohem
Umfang Budgethilfe oder gar Militärhilfe leisten, ohne
auf demokratische Reformen und auf die Einhaltung von
Menschenrechten zu bestehen. Dahin müssen wir kom-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Der Lackmustest für einen solchen Strategiewechsel
wird die Entwicklung in Ägypten sein. Ist die EU zu
dem bereit, was ich gefordert habe, oder nicht? Die Men-
schen gehen jetzt auf die Straße. Sie haben es erwähnt,
Herr Polenz: Diese Menschen werden brutal niederge-
schlagen. Wir müssen jetzt von Mubarak fordern: Das
muss beendet werden. Mubarak muss freie und faire
Wahlen zulassen. Er könnte einen guten Beitrag dazu
leisten, indem er nicht seinen Sohn als seinen Nachfol-
ger installiert oder sich selbst erneut als Kandidat zur
Verfügung stellt. Ich wiederhole: Es muss dort faire und
freie Wahlen geben. Die EU muss klarmachen: Es gibt
keine Hilfen mehr, wenn das Regime in Ägypten keine
freie Wahlen zulässt.

Zum Schluss. Wir können aus unseren Fehlern lernen,
und wir müssen jetzt handeln. Ich glaube, die EU hat
eine riesige historische Chance. Wir dürfen diese nicht
leichtfertig durch Zaudern und Zögern verspielen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708711700

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Stinner

das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1708711800

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Auch von mir beste

Wünsche für Ihre Stimme. Ich kann Ihnen sagen: Wir
von der FDP haben seit Jahren gute Erfahrungen mit der
Zweitstimme gemacht.


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gestern
Abend im Fernsehen eine sehr interessante und sehr be-
wegende Sendung über die Journalisten in Tunesien ge-
sehen. Sie sind jetzt dabei, in einem Selbstfindungspro-
zess zu überlegen: Wie gehen wir mit der neuen
Situation eigentlich um?

Was schreiben wir in die Zeitung hinein? Wer bestimmt,
was hineinkommt? Welche Tendenzen schreiben wir hi-
nein? Können wir offen schreiben? Es war berührend, zu
sehen, wie dieser Selbstfindungsprozess bei den Journa-
listen vorangeht.

Das ist das Thema insgesamt. Dieses Land befindet
sich in einem beeindruckenden Selbstfindungsprozess,
von dem wir alle noch nicht wissen, wo er enden wird.
Wir sind guter Hoffnung, und wir rufen denjenigen zu,
die dieses ermöglicht haben: Sie haben unsere volle Un-
terstützung! Wir unterstützen sie dabei, diesen Prozess
fortzusetzen. Tunesien soll selbst entscheiden, wie es in
die Zukunft gehen möchte, wobei wir sehr deutlich ma-
chen möchten: Welche Ordnung sich auch immer in Tu-
nesien künftig durchsetzt, es soll sichergestellt sein – der
Außenminister ist darauf eingegangen –, dass die Mög-
lichkeit einer Veränderung in demokratischer Weise
auch in Zukunft gegeben ist. Wir werden nicht akzeptie-
ren und wir werden es nicht unterstützen, dass ein autori-
täres Regime durch ein anderes ersetzt wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Glücklicherweise gibt es dafür bisher keine Ansatz-
punkte, aber man weiß nie, wie es ausgeht. Wir müssen
alle abwarten, wie es ausgeht.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie
gehen wir damit um? Was können wir konkret tun? Es
wurde bereits gesagt – ich unterstütze das voll –, dass die
Europäische Union in zwei Richtungen unmittelbar hel-
fen kann, nämlich erstens Hilfe beim Prozess der Selbst-
findung, der Organisation von demokratischen Struktu-
ren, von Rechtsstaatsstrukturen, von Wahlen etc. anzu-
bieten. Aber, Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, es gibt noch eine zweite Möglichkeit, nämlich
dass wir Tunesien in Handelsfragen konkret entgegen-
kommen.


(Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


In Tunesien gibt es bereits einen freien Handel, was In-
dustriegüter angeht. Ich plädiere aber nachhaltig dafür,
dass wir das erweitern und uns dafür einsetzen, dass wir
das endlich auch auf landwirtschaftliche Güter ausdeh-
nen.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Das wäre eine konkrete Maßnahme, die wir einleiten
könnten, um Tunesien aktuell zu helfen.

Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Der Fall Tune-
sien, aber auch die Situation beispielsweise in Ägypten
und im Jemen, sollte für uns Anlass sein, uns selbstkri-
tisch mit der Rolle der Europäischen Union in den letz-
ten zehn Jahren zu beschäftigen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl!)


Das gilt für alle, die in unterschiedlicher Kombination
über die Jahre hinweg Regierungsverantwortung getra-
gen haben.





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

Im Prinzip haben wir immer drei Instrumente disku-
tiert: erstens den Barcelona-Prozess, von dem man sagt,
er sei tot. Zweitens haben wir die Mittelmeerunion, von
der man sagt: Gut gemeint, aber schlecht ausgeführt.
Drittens wir haben die Europäische Nachbarschaftspoli-
tik, unter deren Dach die Mittelmeerunion gegründet
worden ist, bei der wir selbstkritisch feststellen müssen,
dass nicht genug dabei herausgekommen ist.

Ich habe mir die Projekte der Europäischen Nachbar-
schaftspolitik angeschaut. Es gibt 39 Projekte, die auch
für Tunesien Gültigkeit haben. Ich bezweifle, dass diese
Projekte alle sinnvoll sind, und ich bezweifle vor allem,
dass sie konsequent durchgeführt und zum Nutzen Tune-
siens eingesetzt werden. Ich bitte die Bundesregierung
dringend, im Rahmen der Europäischen Union darauf zu
drängen, dass wir unsere Instrumente schärfen, dass wir
sie fokussieren und konzentriert einsetzen, um den Pro-
zess in Tunesien entsprechend zu unterstützen.

Es wurde darauf hingewiesen, dass das, was in Tune-
sien passiert, Auswirkungen auf die Region hat. Auch
hier wissen wir noch nicht, ob es ein gutes Ende nehmen
wird, aber ich sage in Bezug auf Tunesien und auch auf
andere Staaten: Beurteilen wir die Spieler, die sich in
dem Selbstfindungsprozess positionieren, nicht danach,
was obendrauf steht, sondern danach, was drin ist, was
sie inhaltlich wirklich machen. Herr Ghannouchi zum
Beispiel, der 22 Jahre lang unter dem Siegel des Islamis-
mus in London residiert hat, kehrt dieser Tage nach Tu-
nesien zurück. In seinem Interview im Spiegel konnte
man nachlesen, dass er unter dem Label des Islamismus
durchaus einige Grundfesten europäischer Werteord-
nung verinnerlicht hat, nämlich das demokratische Sys-
tem und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Deshalb
plädiere ich dafür, genau zu beobachten, was passiert
und nicht anhand von Überschriften zu argumentieren.

Unsere Hoffnung ist, dass Tunesien den richtigen
Weg geht. Wir Europäer wollen das; denn es ist in unse-
rem europäischen Interesse, dass wir um die EU herum
ein Cordon von Staaten legen, die am Ende des Tages so
ähnlich funktionieren wie wir. Wir wollen keinen Re-
gimewechsel von außen, wir wollen aber, dass sie so
ähnlich funktionieren wie wir. Dafür sollten wir gemein-
sam die Bundesregierung unterstützen und sie bitten,
nachhaltig und nachdrücklich in der EU daran zu arbei-
ten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708711900

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Wieczorek-

Zeul das Wort.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1708712000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir alle haben in dieser Diskussion unsere Bewunde-
rung für den Mut und das Engagement der tunesischen
Bevölkerung ausgedrückt. Was wir tun können, damit
diese Revolution ein Erfolg wird, sollten wir alle tun;
denn Tunesien hat dank seiner engagierten Zivilgesell-
schaft, dank seiner engagierten Männer und Frauen, eine
große Chance, die historische Wende unumkehrbar zu
machen.

Übrigens waren an dieser Revolution keine Islamisten
oder islamistischen Gruppen beteiligt. Es ist wichtig, das
einmal zu erwähnen.

Es zeigt sich, dass in Zeiten der grenzüberschreiten-
den Informationsmedien die nationale Unterdrückung
der Meinungsfreiheit nicht mehr funktioniert. Das ist gut
so. Wir sollten dies weiterhin unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die über Jahre hinweg immer wieder aufgestellte Be-
hauptung, in den arabischen Ländern sei der Wunsch
nach Freiheit und Demokratie nicht verbreitet, ist schon
im Jahr 2004 durch eine Untersuchung des World Values
Survey widerlegt worden, bei der festgestellt wurde,
dass die arabischen Staaten an der Spitze der Länder la-
gen, die sich für die Ablösung von Despoten und eine
demokratische Regierungsführung engagierten. Ich halte
es für wichtig, unsere Wahrnehmung in dieser Richtung
zu verändern.

Wie hier von allen gesagt wurde, ist es jetzt wichtig,
den Öffnungs- und Übergangsprozess transparent zu ge-
stalten, alle zu beteiligen sowie Rat und Tat wie ge-
wünscht zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel zur Vor-
bereitung der Gesetze zur Medienfreiheit oder der
Wahlgesetze.

Zwei weitere Aspekte halte ich ebenfalls für wichtig.
So sollten die Guthaben des geflohenen Präsidenten in
den europäischen Ländern eingefroren werden und im
Sinne der Initiative zur Rückführung von Potentatengel-
dern der tunesischen Bevölkerung zurückgegeben wer-
den. Das kann von der Europäischen Union entspre-
chend beschlossen werden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Aufstand war ein Aufstand der Jungen für Arbeit
und gegen Perspektivlosigkeit. Worte sind wichtig. Da
stimme ich Herrn Stinner zu. Unterstützung ist ebenfalls
wichtig. Es ist aber auch wichtig, dass die Europäische
Union praktisch handelt. Ob sie dies ernst nimmt, wird
sich daran zeigen, ob das Abkommen, mit dem der Ex-
port von landwirtschaftlichen Gütern aus Tunesien er-
leichtert werden soll, schnell beschlossen wird, um so
die ökonomische Entwicklung in Tunesien zu stabilisie-
ren. Wir erwarten, dass die Regierung das entsprechend
aufnimmt.

Die anhaltenden Demonstrationen und Proteste in
Ägypten zeigen, dass auch dort die Menschen Beteili-
gungschancen und eine Verbesserung ihrer Lebensver-
hältnisse wollen. Angesichts der Verschlechterung der
Lebensverhältnisse der ärmeren Schichten ist das ganz
besonders verständlich. Es ist völlig unbegreiflich, dass
in einem potenziell wohlhabenden Land wie Ägypten,
das im Übrigen eines der NEPAD-Gründungsländer ist,
rund 40 Prozent der Bürger von 2 US-Dollar am Tag le-
ben müssen.





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)

Wenn sich die ägyptische Regierung und Staatspräsi-
dent Mubarak nicht für die Prinzipien verantwortlicher
Regierungsführung öffnen und nicht für freie und unge-
hinderte Wahlen eintreten, laufen sie Gefahr, dass ein
Aufstand der Jugend und ein Aufstand des Zorns für eine
Öffnung von unten sorgen.

Deshalb rufen wir die ägyptische Regierung auf: Ver-
schließen Sie sich nicht dem Demokratiewillen der Men-
schen. Setzen Sie auf Kooperation und Respektierung
der Menschenrechte statt auf Gewalt und Repression.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Haltung der Europäischen Union und der interna-
tionalen Gemeinschaft gegenüber der Region sollte von
dem geprägt sein – schließlich versuchen wir heute, eine
gemeinsame Grundposition zu finden –, was Amartya
Sen vor vielen Jahren wie folgt ausgedrückt hat: Ent-
wicklung ist ein Prozess der Ausweitung der realen Frei-
heiten für die Menschen.

Gegen diese Position haben Teile der internationalen
Gemeinschaft – unter anderem die USA, aber auch viele
arabische Länder – in den zurückliegenden Jahren ver-
stoßen. Vermeintliche geostrategische Stabilität – Sie ha-
ben es angesprochen, Herr Polenz – wurde auf Kosten
der politischen Entwicklung erkauft. Das gilt zum Bei-
spiel für Ägypten. Dieses Handeln muss der Vergangen-
heit angehören; es ist ein Irrweg, der überwunden wer-
den muss.

Dabei wurden vor allem die Hoffnungen und Erwar-
tungen von Jugendlichen, die Jobs und Bildung verlan-
gen, enttäuscht und missachtet. In vielen arabischen
Ländern haben die Menschen unter 18 Jahren einen An-
teil von bis zu 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Es
wächst die jüngste Generation heran, die in dieser Re-
gion jemals lebte.

Ich bin froh, dass wir zu unserer Regierungszeit im
Entwicklungsministerium Initiativen aus der arabischen
Region unterstützt haben. Sie stehen für das, was man-
cher hier als neue Erkenntnis verkauft. In dem letzten
Arab Human Development Report von 2009, den zu le-
sen ich Ihnen allen ans Herz legen möchte, wird gesagt,
dass bis 2020 in den arabischen Ländern 51 Millionen
neue Jobs geschaffen werden müssen.

Wie können wir dazu beitragen, den Prozess zur Aus-
weitung der realen Freiheiten in diesen Ländern zu för-
dern? Seit 2002 gibt es diese Berichte über die menschli-
che Entwicklung in den arabischen Ländern, die von der
UN und arabischen Fachleuten aus der Region erstellt
werden. Deren Überzeugungen sollten wir zur Grund-
lage unseres Handelns machen. In dem Bericht von 2009
wird gefordert: Respektierung des Selbstbestimmungs-
rechts aller Menschen, Respektierung der Menschen-
rechte und öffentlicher Respekt vor unterschiedlichen
Religionen und Denkschulen, funktionierende parlamen-
tarische Systeme, Garantie der politischen Rechte und
politischer Pluralismus. Ich füge hinzu: Das gilt aber
auch für andere Fälle.
Allerdings gilt: Wenn demokratische Wahlen stattge-
funden haben, dann gehört es zur Demokratie, dass die
internationale Gemeinschaft anschließend nicht ent-
scheidet, ob sie das Wahlergebnis akzeptiert oder nicht.
Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, wie wir bezogen
auf Palästina erlebt haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob der Demokrati-
sierungsprozess in den südlichen Nachbarländern Euro-
pas gelingt, hängt also auch vom Verhalten der Europäer
ab. Aufgrund meines langjährigen Engagements in die-
sem Bereich kann ich sagen, dass die wunderbare
Chance besteht, dass wir durch Zusammenarbeit die Re-
formkräfte in den Zivilgesellschaften und die Reform-
kräfte in den jeweiligen Regierungen stärken können.
Das ist das Prinzip „Wandel durch Zusammenarbeit“. Es
besteht eine wunderbare Chance für die Europäische
Union: Durch eine Partnerschaft für nachhaltige Ener-
gieerzeugung und -versorgung kann das gemeinsame In-
teresse an Klimaschutz und Ressourcenschonung, an Ar-
beits- und Ausbildungsplätzen in allen Ländern der
Region gefördert werden. Wir sollten diese Chance er-
greifen und sollten alles vermeiden, was diese Chance in
irgendeiner Form mindern könnte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ruprecht Polenz [CDU/CSU])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708712100

Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Pfeiffer das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1708712200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin 1951 geboren. Ich kenne keine andere Staats-
form als die Demokratie. Es gibt nur einige wenige von
uns – im Moment sitzt anscheinend niemand von ihnen
hier –, die sich noch daran erinnern können, wie es an-
ders war.

Manchmal frage ich mich: Wissen wir eigentlich,
welch kostbares Gut es ist, in einer Demokratie zu leben?
Dazu gehören freie Wahlen, Pressefreiheit, Meinungs-
freiheit und eine Verfassung, die die Grundrechte eines
jeden Einzelnen schützt. Wir sollten ein wenig Demut
zeigen und die Demokratie als Geschenk begreifen.
Auch dieser Aspekt gehört zu der Debatte über ein Land,
dessen Menschen genau dieselben Chancen haben wol-
len, die wir eigentlich als selbstverständlich annehmen.
Wir merken jedoch, dass dieses Demokratieverständnis
sogar in unserem Land – übrigens können wir nur des-
wegen hier sitzen – nicht überall gleich ausgeprägt ist.

Deshalb ist es eigentlich eine wunderbare Sache, was
in Tunesien passiert. Ich hätte mir gewünscht, dass der
gesellschaftliche und der gesellschaftspolitische Um-
bruch in Tunesien so erfolgt, wie es 1989 beim Mauer-
fall passiert ist, als die Menschen in der DDR genau das
haben wollten, was wir schon lange hatten, nämlich Frei-
heit und Demokratie.





Sibylle Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Wir wissen auch, dass noch nicht einmal die Hälfte
aller Staaten auf dieser Welt eine Demokratie hat. Daher,
lieber Kollege Movassat, können wir uns unsere Partner
nicht immer so aussuchen, wie wir es gerne hätten. Das
heißt aber nicht, dass wir es fraglos hinnehmen, wenn
Demokratie nicht stattfindet und wenn Menschenrechte
nicht beachtet werden. Dies nicht hinzunehmen, ist Teil
unserer politischen Arbeit.

Aber bei Bewegungen wie zum Beispiel in Tunesien
oder in Algerien – laut heutiger Tickermeldung passiert
auch etwas im Jemen – stellt sich die Frage, wie unter-
stützend wir eigentlich tätig sein können. Können wir als
Deutschland und als Europa anderen die Demokratie
aufdrücken? Nein, sie muss aus dem Volk selbst kom-
men. Sie muss gewollt sein. Aber wenn sie dann gewollt
ist, ist die Frage: Wie können wir unterstützend tätig
sein?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Natürlich können wir helfen. Wir können Hilfe bei
der Vorbereitung der Wahlen anbieten. Darin sind wir
doch wirklich ganz gut, nicht nur in Deutschland, son-
dern auch in Europa. Wir können natürlich auch bei der
Erarbeitung einer Verfassung mithelfen. Auch bei Wah-
len können wir durch Wahlbeobachtung und Ähnliches
tätig werden, wenn es darum geht, die sich im Moment
in Tunesien etablierende Demokratiebewegung zu unter-
stützen, damit sie nachhaltigen Bestand hat.

Auch auf europäischer Ebene können wir etwas tun.
Der Staatsvertrag in Bezug auf die privilegierte Partner-
schaft mit Tunesien, die die EU vor einiger Zeit ange-
strebt hat, ist letztlich an der Diskussion um Menschen-
rechte und Demokratie gescheitert. Wenn es dort jetzt
Stabilität in dieser Richtung gibt, ist die Frage, ob die
EU dies als Basis für die privilegierte Partnerschaft anse-
hen kann. Sie sieht es vielleicht auch ein kleines biss-
chen als Anreiz oder als Bonbon und verspürt vielleicht
auch Dankbarkeit über die dortigen Geschehnisse. Ich
glaube, das können wir tun.

Aber wir können auch versuchen, die vor Ort lebenden
Menschen – viele junge Menschen sind bestens durch ein
Hochschulstudium und Ähnliches ausgebildet – in Ar-
beit, Lohn und Brot zu bekommen. Es gibt nichts Frus-
trierenderes als Menschen, die ausgebildet sind, keine
Arbeit haben und ihre Familien nicht selbst ernähren
können.

Das heißt, wir müssen auch dort unterstützend tätig
werden, wo es darum geht, Unternehmensgründungen zu
begleiten. Wir müssen kleine Unternehmen unterstützen,
deren Start gefährdet ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute habe ich auch
etwas Tolles gehört. Herr Gloser, Sie waren dabei. Zwei
große deutsche Unternehmen haben versprochen, ihre
Produktion in China aufzugeben, um sie in Tunesien ein-
zurichten.

Liebe Zuhörer, liebe Zuschauer, liebe Unternehmerin-
nen und Unternehmer, liebe Manager deutscher Unter-
nehmen, die irgendwo im Ausland investieren wollen,
schauen Sie sich junge Demokratien an. Schauen Sie
sich Länder an, die demokratische Bewegungen haben,
und prüfen Sie, ob man dort investieren kann. Nutzen
Sie die Gelegenheit, um zusammen mit der Politik die
Menschen zu unterstützen, die nichts anderes wollen, als
in ihrem Land zu leben, die jedoch auch ihr Aus- und
Einkommen haben möchten. Sie wollen auch, dass die
Menschenrechte beachtet werden, und sie wünschen sich
demokratische Strukturen.

Ich glaube, es ist es wert, darüber nachzudenken, wo
man investiert und dass es unter Umständen auch eine
gute Idee sein kann, in solchen Ländern zu investieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Günter Gloser [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708712300

Das Wort hat der Kollege Dr. Götzer für die Unions-

fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1708712400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Das tunesische Volk hat durch eine Revolution, die
im arabischen Raum einmalig ist und wohl die allermeis-
ten ausländischen Beobachteter überrascht hat, seinen
diktatorischen Staatspräsidenten Ben Ali aus eigener
Kraft gestürzt und das Land innerhalb weniger Tage
grundlegend verändert.

Auch wenn es sicherlich zu früh ist, um endgültig zu
beurteilen, ob sich die Hoffnungen auf Freiheit und De-
mokratie in Tunesien erfüllen werden, kann man heute
schon sagen: Es besteht eine echte Chance für einen
politischen Neuanfang des Landes. Die Bildung einer
Übergangsregierung unter Einbeziehung der Opposition
ist ein erster wichtiger Schritt hin zu einem nachhaltigen
und dauerhaften Reformkurs, dessen Ziel ein demokrati-
scher Rechtsstaat sein muss.

Von entscheidender Bedeutung wird dabei die rasche
Schaffung eines echten Mehrparteiensystems sein, in
dem sich verschiedene Ansichten und Überzeugungen in
einem pluralistischen Miteinander widerspiegeln und be-
haupten. Unabdingbar sind neben der Entwicklung de-
mokratischer Parteistrukturen der Aufbau eines unab-
hängigen Justizwesens und einer ordnungsgemäßen
Verwaltung sowie die Gewährleistung von Meinungs-,
Presse- und Versammlungsfreiheit, um nur einige der
wichtigsten Grundpfeiler zu nennen. Die künftige tune-
sische Regierung muss des Weiteren umgehend konkrete
Maßnahmen ergreifen, um Polizei und Armee an die
neuen, demokratischen Grundlagen zu binden und um
die im Land herrschende Korruption erfolgreich zu be-
kämpfen.

Ich glaube, wir sind uns einig, dass sich die Vergan-
genheit in Tunesien nicht wiederholen darf. Ich möchte
daran erinnern, dass die Einheitspartei RCD ursprüng-
lich ebenfalls als fortschrittlich galt und schließlich in ei-
nem diktatorischen, korrupten System endete. Uns muss
klar sein: Tunesien braucht bei seinem Demokratisie-





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)

rungsprozess umfassende und rasche Hilfe. Auch die
ökonomischen Probleme, insbesondere die hohe Jugend-
arbeitslosigkeit, wird die neue Regierung nicht allein
und nicht von heute auf morgen lösen können. Auch
hierbei ist Tunesien auf die Unterstützung durch andere
Länder angewiesen. Deutschland und die EU müssen ih-
ren Beitrag leisten; denn die neue Demokratie wird erst
dann gefestigt sein und von breiten Schichten der Bevöl-
kerung akzeptiert werden, wenn mit der Demokratie
auch eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse
einhergeht.

Ich möchte in Stichworten das anführen, was in die-
sem Zusammenhang angedacht werden kann und muss:
das Wiederaufgreifen der privilegierten Partnerschaft
– das hat meine Vorrednerin gerade angesprochen –, die
Beseitigung von noch bestehenden Handels- und Export-
restriktionen, möglicherweise die Einrichtung eines Not-
finanzierungsfonds für Tunesien für den Fall, dass die
auf kriminelle Weise ins Ausland gebrachten Staatsgel-
der nicht rechtzeitig zurückgeholt werden können. Man
könnte auch an steuerliche Sonderabschreibungen für
Unternehmen aus Europa denken, die jetzt in Tunesien
investieren wollen. Das sind nur einige Beispiele für
eine ökonomische Unterstützung des Landes.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Tunesien hat das
Potenzial, sich zu einem demokratischen Land zu ent-
wickeln; denn es hat nicht nur eine Mittelschicht, ein
Wirtschaftswachstum und ein hohes Bildungsniveau
vorzuweisen, sondern vor allem auch eine engagierte Ju-
gend und aktive Intellektuelle. Kurz gesagt: Tunesien hat
eine Zivilgesellschaft – so ist das schon formuliert wor-
den –, auf der man aufbauen, mit der man arbeiten kann,
die dieses Land gestalten kann und will.

Dieser Demokratisierungsprozess bedarf – ich sage es
noch einmal – der tatkräftigen Unterstützung Deutsch-
lands und der Europäischen Union. Eine demokratische
Entwicklung in Tunesien ist auch im Interesse Deutsch-
lands und Europas. Die Vorgänge in Tunesien müssen
uns bewusst machen: In diesen Tagen besteht die histori-
sche Chance, ein neues Kapitel der Beziehungen Euro-
pas mit der arabischen Welt zu beginnen. Bislang haben
die radikalen Islamisten in Tunesien keine Chance. Sie
haben auch bei der Revolution keine Rolle gespielt. Da-
mit es so bleibt, muss der Demokratisierungsprozess
weitergehen. Ich stimme dem Bundesaußenminister un-
eingeschränkt zu, wenn er sagt: Autoritäre Systeme ver-
hindern nicht den radikalen Islamismus, sondern sind im
Gegenteil ein Nährboden dafür.

Ich möchte noch einmal festhalten: Die zum Sturz der
Diktatur führenden Proteste waren zu keiner Zeit religiös
motiviert, sondern sie waren Ausdruck der Unzufrieden-
heit mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnissen. Die Tageszeitung Die Welt schreibt heute
dazu – ich zitiere –:

In den vergangenen Jahren ist diese Region

– gemeint ist der Nahe Osten –

vor allem durch ihre Radikalen aufgefallen, deren
Anschläge und Hassausbrüche im Westen Furcht
vor dem auslösten, was auf die autoritären Regime
noch folgen könnte. Nun jedoch artikulieren sich
auch all die anderen Araber, die ihr Heil nicht in
Revolutionen nach iranischem Vorbild suchen. Son-
dern die endlich die Sonderstellung der arabischen
Welt überwinden möchten.

Wir müssen Tunesien nun aktiv dabei unterstützen,
mit der Tradition autoritärer Strukturen zu brechen. Das
Land muss sich eine Gesellschaftsordnung geben, in der
sich alle Bürger wiederfinden, vor allem auch die bis-
lang Benachteiligten, eine Gesellschaftsordnung, in der
Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewähr-
leistet sind und sich Wohlstand entwickeln kann. Das
sind die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für
politische Stabilität und eine gute Zukunft für die Men-
schen im Land.

Der Wandel in Tunesien kann Vorbildcharakter für
andere Länder in der Region haben. Ich zitiere abschlie-
ßend noch einmal Die Welt vom heutigen Tage:

Es weht ein Hauch von 1989 durch den Nahen Os-
ten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708712500

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Heinrich, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitäreinrichtungen – Versorgung
weltweit verbessern

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwas-
ser und Sanitärversorgung umsetzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Anerkennung des Menschenrechts auf
sauberes Trinkwasser und Sanitärversor-
gung weiterentwickeln

– Drucksachen 17/2332, 17/3652, 17/1779,
17/4526 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Ullrich Meßmer
Pascal Kober
Annette Groth
Tom Koenigs





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Drei-
viertelstunde zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie
einverstanden.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Marina Schuster für die FDP-
Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1708712600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sauberes Trinkwasser ist die elementare Vo-
raussetzung für unser Leben. Doch nach wie vor haben
fast 900 Millionen Menschen keinen Zugang zu saube-
rem Trinkwasser und 2,6 Milliarden Menschen keinen
Zugang zu ausreichend hygienischer Abwasserentsor-
gung. Angesichts dieser Zahlen, dieses Zustands war es
umso wichtiger, dass der Menschenrechtsrat im Septem-
ber 2010 eine von Deutschland und Spanien initiierte
Resolution „Menschenrechte und Zugang zu sauberem
Trinkwasser und Sanitäranlagen“ verabschiedet hat. Sie
folgt der Resolution der Generalversammlung vom Juli
letzten Jahres. Ich glaube, das ist ein weiterer Schritt hin
zur weltweiten Anerkennung des Menschenrechts auf
sauberes Wasser und Sanitäranlagen.

In der neuen Resolution des Menschenrechtsrats wird
auch die juristische Herleitung aus dem VN-Sozialpakt
klargestellt. Mir ist bewusst, dass es gerade bei diesem
Punkt keinen Konsens hier im Haus gibt. Die Grünen
fordern zum Beispiel ein eigenes Zusatzprotokoll. Für
uns ist das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
aber bereits ein Bestandteil des Menschenrechts auf ei-
nen angemessenen Lebensstandard. Jetzt muss es um die
politische Umsetzung gehen. Eine juristische Neukodifi-
zierung durch ein Zusatzprotokoll würde eine Schwä-
chung bedeuten und den ganzen Prozess quasi wieder
auf Null setzen. Man müsste von vorne anfangen. Da-
durch wird dem Menschenrecht auf Wasser nicht zu
mehr Anerkennung verholfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])


Es ist also unerlässlich, dass sich mehr und mehr Ent-
scheidungsträger weltweit für dieses Menschenrecht ein-
setzen und es Schritt für Schritt praktisch umsetzen.
Hierauf sollten wir unsere Kraft und Energie verwenden.
In diesem Punkt sind wir uns in den verschiedenen An-
trägen, die heute zur Debatte vorliegen, einig. Ziel muss
es sein, dass alle Menschen Schritt für Schritt diesen Zu-
gang bekommen. Die Situation ist in den jeweiligen
Ländern sehr unterschiedlich. Dies liegt sowohl am Be-
darf als auch an den klimatischen Verhältnissen. Auch
die Bedürfnisse der Menschen ändern sich. Je nach Auf-
enthaltsort und Kulturkreis wird es unterschiedliche
Wege geben, um das Ziel, diesen Zugang zu gewährleis-
ten, zu erreichen.

Die Bundesregierung hat dieses wichtige Thema vor
langer Zeit erkannt und sich entschlossen, einvernehm-
lich dafür zu kämpfen und für eine weitere Umsetzung
zu werben. So haben die Bundesminister Westerwelle
und Niebel dieses Thema gemeinsam angepackt, und wir
unterstützen die Expertinnen – sei es beim Deutschen In-
stitut für Menschenrechte, sei es bei der Hochkommissa-
rin für Menschenrechte in Genf. Wir unterstützen es
politisch, aber natürlich auch finanziell.

Wir unterstützen ausdrücklich, dass die bisherige
Unabhängige Expertin der UN, Frau Catarina de
Albuquerque, nun auch zu einer Sonderberichterstatterin
werden soll; das wird auf einer der nächsten Sitzungen in
New York entschieden. Denn dieses Mandat verleiht ihr
und dem Thema noch mehr Bedeutung.

Ich freue mich sehr, dass es die Aufklärungskampa-
gne „WASH United“ gibt. Diese war hier sehr aktiv, als
wir die Fußball-WM in Deutschland ausgerichtet haben.
Ich freue mich, dass alle Fraktionen bei dieser Kampa-
gne aktiv sind. Wir werden diese Aktionen natürlich
auch im Rahmen der Fußball-WM der Frauen hier in
Deutschland unterstützen. Diesen Weg werden wir ge-
meinsam gehen. Die politische Umsetzung Schritt für
Schritt in den jeweiligen Ländern – davon bzw. dafür
müssen wir andere überzeugen und gewinnen. Ich freue
mich, dass wir diesen Weg gemeinsam konsequent ge-
hen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708712700

Nächster Redner ist der Kollege Ullrich Meßmer für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ullrich Meßmer (SPD):
Rede ID: ID1708712800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Vorrednerin hat es schon gesagt: Wasser ist
die Quelle allen Lebens, gleichzeitig aber auch – und da-
rauf sollte man immer wieder hinweisen – der größte
Krankheitsüberträger auf der Welt. Schmutziges Wasser
und mangelnde sanitäre Versorgung töten alle zwanzig
Sekunden ein Kind. Es sterben also mehr Kinder an
schlechtem Wasser, an schlechter Sanitärversorgung als
an Malaria, Masern oder HIV.

Die Unabhängige Expertin für Wasser und Sanitärver-
sorgung der Vereinten Nationen, Catarina de Albuquerque,
beschreibt daher die Entscheidung – diese haben Sie
eben auch angesprochen –, das Recht auf Wasser und Sa-
nitärversorgung als Menschenrecht anzuerkennen, nicht
umsonst als bahnbrechende Entscheidung, die die Kraft
hat, das Leben von Millionen Menschen zu verändern,
die noch immer keinen ausreichenden Zugang zu Wasser
und sanitärer Versorgung haben.

Erst der Status als Menschenrecht sichert für alle
Menschen, also auch für jeden ganz persönlich, eine An-
spruchsgrundlage gegen ihren jeweiligen Staat. Aber
was viel wichtiger ist: Die Staaten wiederum erhalten so
die unumstößliche Verpflichtung, das Menschenrecht
auf Wasser und Sanitärversorgung zu schützen, zu erfül-
len und vor allen Dingen auch die nichtstaatlichen Ak-





Ullrich Meßmer


(A) (C)



(D)(B)

teure zur Einhaltung dieses Menschenrechts zu ver-
pflichten.

Damit kommen wir zum Wesentlichen, nämlich zur
schnellen Umsetzung dieses Themas. Es muss schnell
gelingen, hier eine Wende herbeizuführen. Wenn Aussa-
gen von „Brot für die Welt“ stimmen, wird sich die sani-
täre Lage weiter, und zwar dramatisch, verschlechtern.

Bevölkerungswachstum und Klimawandel tun ein
Weiteres dazu, dass der Druck auf die Ressource Wasser
zunimmt. Immer häufiger gelangen unzureichend oder
nicht gereinigte Abwässer zu den Quellen des Trinkwas-
sers. Dies löst einen Kreislauf aus, der Krankheiten und
Epidemien verbreitet, und diesen Kreislauf gilt es drin-
gend zu durchbrechen.

Wir von der SPD wissen auch, dass es dies nicht kos-
tenlos gibt. Die Deutsche Bank schätzt den jährlichen
globalen Investitionsbedarf im Wassersektor auf über
500 Milliarden Euro. Das können Entwicklungs- und
Schwellenländer alleine nicht heben. Dies führt dazu
– und hier gibt es den einen oder anderen Unterschied;
das werden wir gleich hören –, dass viele Länder dazu
übergehen, ihre Wasserversorgung zu privatisieren. Ob
das ein Königsweg ist, wage ich zu bezweifeln.

Die Erfahrungen vieler NGOs, die sich in diesem Be-
reich engagieren, zeigen, dass es nicht entscheidend ist,
ob die Wasserversorger staatlich oder privat sind. Viel-
mehr ist entscheidend, ob sie einer staatlichen Aufsicht
unterliegen und effizient arbeiten. Die Erfahrungen zei-
gen aber auch – um das nur einmal am Rande zu sagen –,
dass die privaten Einrichtungen nicht immer effizienter
sind als staatlich organisierte.

Es besteht auch die Gefahr – das ist einer der Gründe,
weshalb wir diesem Thema kritisch gegenüberstehen –,
dass menschenrechtliche Verpflichtungen hinter priva-
tem Gewinnstreben zurückstehen würden. Wir als So-
zialdemokraten lehnen die Privatisierung der Wasserver-
sorgung allerdings nicht grundsätzlich ab.

Wir definieren aber in unserem Antrag ziemlich genau,
welche Verpflichtungen Private bei der Versorgung der
Bevölkerung erfüllen müssen. Wir wollen sicherstellen,
dass die menschenrechtlichen Verpflichtungen tatsäch-
lich eingehalten werden. Der Zugang zu sauberem
Trinkwasser und sanitärer Versorgung muss – das ist un-
abdingbar – diskriminierungsfrei gewährt werden. Er
muss für alle Bürger eines Landes bezahlbar und zu-
gänglich sein; er muss für alle Gruppen, auch für kleine
Minderheiten, jederzeit verfügbar sein.

Die Ausgangslage – meine Vorrednerin, Kollegin
Schuster, hat darauf hingewiesen – ist zurzeit nicht
schlecht: Der UN-Sozialpakt weist einen erfreulich hohen
Ratifizierungsstand auf. Der Prozess der Zeichnung und
Ratifizierung des Zusatzprotokolls über ein Individualbe-
schwerdeverfahren ist mittlerweile gut vorangekommen.
Hier würden wir uns wünschen, dass auch die Bundesre-
gierung endlich diesen Schritt tut, um allen Menschen
dieses Individualrecht zu eröffnen, vor allen Dingen aber,
um anderen Staaten ein gutes Beispiel zu geben.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sehen die Frage eines weiteren Zusatzprotokolls
ähnlich wie meine Vorrednerin: Auch wir meinen, dass es
sinnvoller wäre, einen allgemeinen Kommentar zu ver-
fassen, der die besten Beispiele für die Entwicklung des
Rechts auf Wasser und Sanitärversorgung sammelt, um
daraus möglichst konkrete Pflichten der Staaten abzulei-
ten und diese möglichst genau zu definieren. Ein neues
Verfahren der Erstellung und Ratifizierung eines Zusatz-
protokolls würde nach unserer Auffassung zu einer wei-
teren Verzögerung führen. Deshalb sollte dies nicht
vorangetrieben werden.

Erst wenn befriedigende Lösungen in der Frage der
sanitären Versorgung gefunden sind und der Teufelskreis
von verunreinigtem Wasser, Krankheiten und erneuter
Wasserbelastung durchschlagen wird, haben die Men-
schen eine sichere Zukunft. Wir fordern von der Bundes-
regierung, die Möglichkeiten als nichtständiges Mitglied
im UN-Sicherheitsrat zu nutzen und die begonnene Poli-
tik, die übrigens schon von mehreren Regierungen ver-
folgt worden ist – auch unter der spanischen EU-Rats-
präsidentschaft –, fortzusetzen und zu verstärken, also
sicherzustellen, dass das Recht auf Wasser und sanitäre
Versorgung durchgesetzt wird und sich viele Staaten an-
schließen.

Ich persönlich freue mich sehr darüber, dass wir uns
in dem Ziel sehr einig sind. Vielleicht gelingt es uns, bei
Gelegenheit zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen;
denn ich meine schon – Kollege Heinrich, Sie werden si-
cherlich gleich darauf eingehen –, dass sich bei dieser
Frage eine ganze Menge entwickelt hat. Vielleicht ge-
lingt es uns, erst einmal gemeinsam das Ziel zu formu-
lieren, die richtigen und schnellen Wege zu gehen. Dann
werden wir bei dieser Frage weltweit Erfolg haben;
Deutschland kann hier ein gutes Beispiel abgeben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708712900

Das Wort hat nun der Kollege Frank Heinrich für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1708713000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir reden hier von einer Problematik, die uns
selber selten zum Problem geworden ist. Dafür können
wir aus unserer Perspektive dankbar sein. Heute geht es
um das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser. Wasser-
knappheit und Unterversorgung mit sauberem Trinkwasser
haben verschiedene Ursachen. Eine Ursache ist: Der welt-
weite Wasserverbrauch stieg in den letzten Jahrzehnten un-
ter anderem wegen des Bevölkerungswachstums an. Nach
Zahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung werden
wir in diesem Jahr die Weltbevölkerungszahl von 7 Mil-
liarden übertreffen. Hinzu kommen Verstädterung und
ein hoher Lebensstandard; das schlägt auf unserer Seite





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

zu Buche. Eine weitere Ursache ist: Der Klimawandel
und geografische Ereignisse verursachen in verschiede-
nen Regionen unserer Welt niedrige und sinkende Nie-
derschlagsmengen.

Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sa-
nitärversorgung kann dem Spagat entgegenwirken, der
sich daraus ergibt. Deshalb ist diese Debatte sehr gut.
Herr Meßmer, ich gebe Ihnen recht, dass wir da eine sehr
große Schnittmenge haben. Das macht mich hoffnungs-
voll, dass wir tatsächlich an einer Stelle landen, an der
wir bei diesem Thema wirklich etwas bewegen können.
Ich will aber nicht sagen, dass wir nicht schon jetzt et-
was bewegen können; ich werde gleich darauf zu spre-
chen kommen.

Das Wasser spielt – das habe ich bei vielen Auseinan-
dersetzungen und Gesprächen immer wieder gehört –
nicht nur buchstäblich eine lebenswichtige Rolle; hinzu
kommt, dass Wasser in vielen Kulturen, in den Religio-
nen, in Ritualen eine hohe Bedeutung hat. Es ist eine
große Metapher im Christentum, und es gibt Waschun-
gen im Judentum und im Islam. Es geht dabei im über-
tragenen wie im direkten Sinne um ein Lebenselixier:
das Wasser. Die Oase in den Bereichen unserer Welt, wo
es nur wenig Wasser gibt, ist nicht nur der Punkt, wo
man tatsächlich Wasser bekommt, sondern auch der
Punkt, wo Begegnungen stattfinden; das ist weit mehr
als Wasser.

Ich möchte auf drei Punkte eingehen. Erstens: Wasser
als Menschenrecht; das ist auch die Formulierung des
heutigen Antrags. Zweitens: Wasser als ein Schwerpunkt
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit; dazu möchte
ich ein paar Zahlen nennen. Drittens: Wasser und kon-
krete Projekte und das, was möglicherweise auch wir
– und zwar nicht nur wir als Abgeordnete, sondern auch
wir als Bürger und Käufer – mit bewegen können.

Erstens: Wasser als Menschenrecht. Frau Schuster hat
angesprochen, dass wir im letzten Jahr in den Vereinten
Nationen die allgemeine Erklärung aufgenommen haben,
dass reines Wasser jetzt Menschenrecht genannt wird.
1,1 Milliarden Menschen – 18 Prozent der Weltbevölke-
rung – haben laut offizieller UN-Statistik keinen regelmä-
ßigen Zugang zu sauberem Trinkwasser; das wären circa
70 bis 80 von uns 600 Abgeordneten. 2,6 Milliarden
Menschen – 42 Prozent der Weltbevölkerung – haben
keinen Zugang zu sanitärer Versorgung; das wären schon
250 von uns.

90 Prozent – ich glaube, Sie haben die Zahl eben schon
genannt – aller tödlichen Durchfallerkrankungen sind auf
verunreinigtes Trinkwasser, fehlende Sanitärversorgung
bzw. mangelnde Hygiene zurückzuführen. Durch schmut-
ziges Wasser sterben mehr Menschen – ich glaube, Sie ha-
ben das gerade schon gesagt, Herr Meßmer – als an AIDS,
Malaria und Masern zusammen. Laut Weltgesundheitsor-
ganisation sterben täglich 5 000 Kinder daran; das ist un-
gefähr alle zwanzig Sekunden eines. Es ist die zweithäu-
figste Todesursache in dieser Altersgruppe.

In Ländern mit Wasserknappheit hängt der Zugang zu
Wasser von verschiedensten Faktoren ab. Erstens: Ist es
verfügbar? Ist irgendwo ein Brunnen oder ein Gewässer?
Zweitens: Sind Investitionen aus privater oder öffentli-
cher Hand vorhanden, damit das Wasser auch nutzbar
wird? Drittens: Welche Belastungen kommen insbeson-
dere auf Frauen zu, die in der Regel viel Zeit damit ver-
bringen, zum Wasser zu gehen und es zu holen? Vier-
tens: Welche Preise müssen die Haushalte bezahlen?
Was muss dafür aufgebracht werden? Fünftens: Welche
verfügbaren Wasserquellen, die der Trinkwasserversor-
gung dienen könnten, werden durch andere Nutzungs-
zwecke blockiert?

Ein erstes Fazit: Das Menschenrecht auf Wasser ist
ein Instrument, mit dem Regierungen an ihre menschen-
rechtliche Verantwortung erinnert und zur Rechenschaft
gezogen werden können. Wir wollen Regierungen damit
herausfordern, und das tun wir auch. Ich bin dankbar,
dass unsere Regierung das immer wieder tut, dass auch
bei knappen Ressourcen die Mittel prioritär für beson-
ders benachteiligte Gruppen eingesetzt werden. Das
Recht auf Wasser ist ein besonders für arme Gruppen
wichtiges Instrument. Das internationale Recht stärkt
insbesondere das Selbstbewusstsein derer, die in einem
vielleicht nicht hinreichend funktionierenden Rechts-
staat leben.

Bei den verschiedenen Anträgen, die uns vorliegen,
gibt es sehr viele Unterschiede, aber lange nicht so viele
Unterschiede wie Gemeinsamkeiten. Das haben Sie vor-
hin richtig bestätigt. Es ist sehr gut, dass wir, grob gese-
hen, schon in eine Richtung unterwegs sind, und zwar
sowohl was den Inhalt der Anträge als auch was den
Austausch in unseren Ausschüssen angeht.

Das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trink-
wasser leitet sich aus Art. 11 und 12 des UN-Sozialpakts
sowie aus dem Allgemeinen Kommentar Nr. 15 des So-
zialpaktausschusses ab. Daraus lässt sich auch das Men-
schenrecht auf sanitäre Grundversorgung ableiten. Mit
der Verabschiedung der genannten Resolution Mitte letz-
ten Jahres wurde kein neues Menschrecht geschaffen.
Vielmehr erkennt die Generalversammlung damit aus-
drücklich an, dass ein Menschenrecht auf Zugang zu
sauberem Wasser und angemessenen sanitären Einrich-
tungen bereits existiert.

Zu dem Antrag von Ihnen, liebe Kollegen von der
SPD, in dem gefordert wird, die UN-Sonderbeauftragte
Catarina de Albuquerque nachdrücklich zu unterstützen,
ist Folgendes zu sagen: Die Bundesregierung betont ge-
nau das. Auch in unserem Antrag gehen wir darauf ein.

Im Rahmen der Berichterstattung hat sie deutlich ge-
macht, dass ihr das besonders wichtig ist. Schon bei ihrer
Installierung, aber auch im Hinblick auf ihre mögliche
Weiterbeschäftigung, zu der es hoffentlich kommen
wird, wurde der entsprechende Wille gezeigt. Da sind
wir uns einig.

Zur Forderung Ihres Antrags hinsichtlich der Zeich-
nung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls. Hier sind
wir, wie Sie treffend gesagt haben, auf die laufenden
Ressortabstimmungen, die noch nicht abgeschlossen
sind, angewiesen. An dieser Stelle sollten wir deswegen
keinen besonders großen Druck machen. Hier ist keine





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

Eile geboten. Ich hoffe, dass dabei ein gutes Ergebnis
herauskommt.

Weiterhin zu Ihrem Antrag. Dieses Thema wird mei-
nes Erachtens – Sie wissen das; das habe ich auch in
meiner Stellungnahme im Ausschuss deutlich gemacht –
unzulässigerweise mit dem Individualbeschwerdever-
fahren verknüpft. Dadurch könnte es zu einer Instrumen-
talisierung kommen, die ich Ihnen zwar nicht direkt un-
terstellen will, die aber zumindest möglich ist, auch
wenn die Zielrichtung natürlich absolut legitim ist und
ich sie mittragen kann.

Zweiter Punkt. Das Thema Wasser ist ein Schwerpunkt
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Wenn man
zurückschaut, kann man auch ein bisschen stolz darauf
sein, was in und von unserem Land beim Thema Wasser
schon geleistet wurde. Die GIZ sagt, dass heute 1,6 Mil-
liarden mehr Menschen Zugang zu sauberem Trinkwas-
ser haben als noch vor 20 Jahren. Damit sich diese posi-
tive Entwicklung fortsetzt, engagiert sich die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit lokal, national und inter-
national.

Ich will die Unterschiede kurz benennen. Die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit engagiert sich lokal, damit
Finanzierungen zur Unterstützung konkreter Projekte vor
Ort möglich werden und damit die Bevölkerung mit
Trinkwasser und Toiletten versorgt werden kann, sie en-
gagiert sich national in beratenden Institutionen, um die
Wasserpolitik in Partnerländern zu verbessern, und sie
engagiert sich international – dieses Engagement kann in
der Zukunft sogar noch stärker werden – bei der Klärung
globaler Fragen, die zum Beispiel durch den Klimawan-
del ausgelöst wurden oder Handelsfragen betreffen.
Schließlich sagen viele, es könnte auch zu Kriegen ums
Wasser kommen. Das ist nicht nur eine Zukunftsvision.
Letztes Jahr wurde dieses Konfliktpotenzial zum Beispiel
in Nordkenia sehr deutlich, als sich Nomaden und Bauern
handfeste Auseinandersetzungen geliefert haben.

Die deutschen Akteure engagieren sich schon seit
Jahrzehnten im Bereich der Trinkwasser- und Sanitär-
versorgung. Heute gibt es auf diesem Gebiet allerdings
noch mehr bedeutende Herausforderungen. Für den
Schutz, die effektive Nutzung von Wasserressourcen und
die Abwasserreinigung müssen Versorger, private oder
öffentliche, Behörden, aber auch die Bürger sensibili-
siert werden. Wer sich, wie die Mitglieder unseres Aus-
schusses, im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit
engagiert, der weiß, dass das vor Ort in den Köpfen der
Nutzer von Wasser in vielen Ländern noch lange nicht
präsent ist.

Das BMZ ist im Wassersektor mit 350 Millionen
Euro in 28 Schwerpunktländern engagiert. Damit ist
Deutschland der zweitgrößte bilaterale Geldgeber in die-
sem Sektor, in diesem Fall nach Japan.

Was die Millenniumsentwicklungsziele betrifft, muss
ich sagen: Auch wenn es beim siebten Ziel konkret um
Wasser geht, sind auch alle anderen Ziele direkt mit die-
sem Thema verknüpft. Auch das Ziel der Senkung der
Kindersterblichkeit, das fünfte Ziel, die Senkung der
Müttersterblichkeit, und die Förderung der Grundschul-
bildung, all dies hat direkt mit dem Zugang zu gesun-
dem, sauberem Wasser zu tun. Deshalb spielt es eine
wichtige Rolle, sich für die Einhaltung unserer Verspre-
chen einzusetzen.

Initiativen wie die vor kurzem vorgestellte Micha-Ini-
tiative sollten unsere Unterstützung erfahren. Sie, Frau
Schuster, haben die Initiative „WASH United“ erwähnt,
die bei der Fußball-WM eine Rolle spielte und die, wie
ich glaube, auch bei der Cricket-WM in Pakistan eine
große Rolle spielen soll. Sie hat einen großen Unter-
schied gemacht. Wenn man Menschen auf diese Initia-
tive im letzten Jahr anspricht, dann ist dieses Thema auf
einmal präsent.

Wichtig ist aber auch, was die Bürger und Bürgerin-
nen tun können. Damit bin ich beim dritten Punkt: bei
konkreten Projekten, bei denen wir als Abgeordnete,
aber auch als Bürger und Käufer ins Spiel kommen. Es
geht darum, im Rahmen von Bürgerinitiativen Verlet-
zungen des Rechts auf Wasser zu dokumentieren, sei es,
wenn bei uns Wasser verschwendet wird, sei es, dass
man auf Reisen darauf hinweist und die Untätigkeit von
Regierungen dokumentiert.

Für uns Verbraucher bedeutet dies, dass wir mit der
Ressource Wasser verantwortungsvoll umgehen. Dabei
weiß ich natürlich, dass die Hauptverbraucher von Was-
ser nicht die privaten Haushalte sind. Wir müssen aber
auch als Käufer und Kunden bei unseren Einkäufen auf-
merksam sein. In dem Zusammenhang möchte ich ein
Stichwort nennen, das ich selbst in der Auseinanderset-
zung mit diesem Thema gelernt habe, nämlich das Stich-
wort „virtuelles Wasser“. In den letzten Jahren sind wir
immer wieder auf den Carbon Footprint, also den Koh-
lenstofffußabdruck, hingewiesen worden. Dieser besagt,
dass wir durch unser Nutzerverhalten, beispielsweise bei
Flugreisen, einen Fußabdruck hinterlassen. Dadurch
wird der negative Einfluss, den jeder von uns auf die
Umwelt hat, dokumentiert.

Stichwort: virtuelles Wasser. Damit ist die unsicht-
bare Wasserlast in Lebensmitteln und Industriegütern
gemeint; der World Wildlife Fund hat das wie folgt defi-
niert: Man versteht darunter die Menge an sauberem
Frischwasser, die zur Herstellung eines bestimmten Pro-
dukts verwendet wurde, das dafür verbraucht, verdunstet
oder verschmutzt wurde.

Hierzu möchte ich einige Beispiele nennen. Die für
0,2 Liter Orangensaft aufgewendete Wasserlast beträgt
170 Liter. Die Menge virtuellen Wassers, die für die Pro-
duktion eines T-Shirts aufgewendet wird – denken Sie
nur an die Bewässerung der Baumwolle –, beträgt circa
4 000 Liter, und bei einem einfachen Hamburger sind es
2 400 Liter Wasser.

Es lohnt sich also, auf sein Kaufverhalten zu achten.
Es lohnt sich auch, regional einzukaufen. Langfristig
sollte es unser zentrales Ziel sein, den sparsameren Um-
gang mit Wasser zu erlernen und zu lehren. Das muss für
den alltäglichen Wassergebrauch und auch in Bezug auf
den Import von Lebensmitteln gelten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

Ich persönlich habe einen starken Fokus auf das
Thema Afrika; das kann auf verschiedene Initiativen
übertragen werden. Vor kurzem hatten wir einen runden
Tisch zum Thema Wasserknappheit, bei dem Botschafter
aus den verschiedensten Ländern mit uns zusammensa-
ßen. Viele afrikanische Länder sind diesbezüglich noch
nicht untereinander vernetzt. Es wurde von einem sehr
positiven Beispiel berichtet, in dem Fall aus Marokko,
wo innerhalb der letzten 15 Jahre durch Partizipation der
Bevölkerung der Zugang zum Trinkwasser von 13 Pro-
zent auf 88 Prozent gesteigert wurde.

Jetzt gilt es, solche Ergebnisse zu multiplizieren. Wir
reden hier von einer Nord-Süd-Süd-Kooperation. Davon
können andere profitieren. Momentan beginnen wir da-
mit auf unserer nördlichen Seite. In meinem Wahlkreis
in Chemnitz haben wir einen runden Tisch ins Leben ge-
rufen. Verschiedene Firmen kamen aufgrund dieser Ini-
tiative auf uns zu und sagten: Wir verfügen über Know-
how auf diesem Feld, sei es logistisch, sei es im Klima-
bereich, sei es in der Verwaltung oder bei den unter-
schiedlichsten Themen. Hier gilt es, eine Sensibilisie-
rung zu erreichen, Ressourcen zu bündeln und mit dem
Gegenüber ins Gespräch zu kommen. Das Know-how-
Wachstum kann auf der einen Seite in den Bereichen
Technik oder Wissenschaft möglicherweise Arbeits-
plätze schaffen, auf der anderen Seite kann es, beispiels-
weise in Afrika, Investitionen ermöglichen.

Ich möchte zum Schluss kommen. Die Schnittmenge
der Gemeinsamkeiten führt mich nicht nur dazu – die
große Schnittmenge in den verschiedenen Anträgen
möchte ich bei 95 Prozent ansetzen –, zu sagen: Weiter
so! Sie macht auch nicht nur dankbar und stolz, dass von
unserem Lande so viele Impulse ausgehen. Vielmehr
möchte ich auch sagen: Wir dürfen an dieser Stelle nicht
Halt machen. Das ist auch der Grund für den Antrag un-
serer Fraktion. Genug ist es letztlich erst dann, wenn je-
der wirklich Zugang zu Trinkwasser hat. Genug ist es
erst dann, wenn niemand mehr aufgrund mangelnden
Zugangs zu sauberem Wasser und sanitärer Versorgung
sterben muss. Mögen Sie von der Regierung, mögen wir
als Abgeordnete des Bundestages und als Bürger dieses
Landes Vorbild sein für a) die Bewertung dieses Anlie-
gens, b) die Kommunikation dieses Themas und c) die
Nutzung dieses Lebenselixiers auf verantwortliche
Weise.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708713100

Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708713200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bald ist

wie jedes Jahr wieder Valentinstag. Abertausende Rosen
werden wieder an die Liebsten verschenkt werden. Ke-
nia ist das Land, aus dem zwei Drittel der in Deutschland
jährlich verkauften Rosen herkommen. Gerade zurzeit,
kurz vor dem Valentinstag, blühen dort die Rosen beson-
ders intensiv, und auf den Blumenfarmen herrscht
Schichtbetrieb.

Was hat das mit dem heutigen Thema, dem Menschen-
recht auf Wasser, zu tun? Viel, ganz viel; denn in Kenia
herrscht das ganze Jahr über Wasserarmut. 40 Prozent der
Kenianer haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Dies
muss man wissen, und man muss auch wissen, dass
5 Liter Wasser nötig sind, um eine einzige Rose zu pro-
duzieren. Das ist eine Schande!


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/CSU])


Sicherlich ist Kenia nur eines von vielen Beispielen
für die Verletzung des Menschenrechts auf Wasser, aber
es ist besonders dramatisch, da genügend Wasserquellen
vorhanden sind, um alle Kenianer mit sauberem Trink-
wasser zu versorgen. Doch das Wasser wird an den Men-
schen vorbei auf die Blumenfarmen umgeleitet oder
dort, wo es noch vorhanden ist, durch die Abwässer aus
den europäischen Blumenplantagen verunreinigt. Damit
hier also schöne Rosen verkauft werden können, wird
dort den Menschen das Wasser weggenommen und ver-
dreckt. Das sind unhaltbare Zustände.


(Beifall bei der LINKEN)


Weltweit leiden heute 884 Millionen Menschen unter
mangelndem Zugang zu sicherem Trinkwasser. 2,6 Mil-
liarden Menschen sind nicht mit grundlegenden Hygie-
neeinrichtungen, wie einer Toilette, versorgt. Opfer von
Wasserverunreinigungen sind vor allem Kinder unter
fünf Jahren. Bei ihnen sind Durchfallerkrankungen welt-
weit die zweithäufigste Todesursache. Diese Kinder
würden noch leben, hätten sie Zugang zu sauberem Was-
ser und einer Sanitärversorgung.

Doch während in Kenia mit dem sauberen Trinkwas-
ser die Blumenfarmen bewässert werden, trinken die
Kinder in den Slums aus Pfützen. Sie schöpfen Wasser
aus Teichen, in denen sie sich auch waschen, aus denen
Tiere trinken und die mit Chemikalien verseucht sind.
Wir wären wochenlang krank, würden wir nur einen ein-
zigen Schluck von diesem Wasser trinken. In den Län-
dern des Südens ist selbst dieses schmutzige Nass kost-
bar. Für diese katastrophale Situation sind die Blumen-
farmen und damit auch deutsche Unternehmen verant-
wortlich. Sie müssen endlich zur Rechenschaft gezogen
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Annahme der UN-Resolution im letzten Jahr, mit
welcher das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung
festgeschrieben wird, ist ohne Frage zu begrüßen. Bei
dieser Resolution darf es angesichts der Zustände wie in
Kenia aber nicht bleiben. Wir brauchen die völkerrecht-
liche Verbindlichkeit dieses Rechts, damit das Recht auf
Wasser so umgesetzt wird, dass es einklagbar und nicht
nur ein Papiertiger, sondern eine reale Verbesserung ist.


(Beifall bei der LINKEN)






Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

Dazu muss Deutschland endlich das Zusatzprotokoll
zum UN-Sozialpakt ratifizieren, mit dem die Rechte
zum Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Le-
bensbereiche und damit auch das Recht auf Trinkwasser
einklagbar gemacht werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung widersetzt sich der Ratifizierung
aber. Daher ist der Koalitionsantrag leider nur ein Lip-
penbekenntnis.

Dabei ist diese Forderung gerade vor dem Hinter-
grund des zunehmenden Handels mit Wasser besonders
dringlich. Der Wassersektor ist ein gigantischer Markt,
auf den immer mehr private Unternehmen drängen. Das
ist eine Tatsache, die Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, aber auch von der SPD, in Ihren Anträgen
sogar unterstützen. Töchter großer internationaler Kon-
zerne, wie zum Beispiel der deutschen RWE, haben be-
reits die Wasserversorgung zahlreicher Städte in den
Entwicklungsländern übernommen. Beim Kauf der Was-
sernetze versprechen sie hohe Investitionen, die sie je-
doch oft nicht tätigen. Stattdessen erhöhen sie die Was-
serpreise um ein Vielfaches und erschweren so der
armen Bevölkerung den Zugang zu sauberem Wasser.

Wasser ist ein grundlegendes Gut. Die Erfahrungen
mit dem privatwirtschaftlichen Engagement im Wasser-
sektor sind durchweg erschreckend. Daher muss eine
Privatisierung der Wasserversorgung generell abgelehnt
werden, und die bestehenden Verträge müssen zurückge-
nommen werden;


(Beifall bei der LINKEN)


denn Unternehmen wie Nestlé und Coca-Cola haben
sich mittlerweile die Nutzungsrechte an Trinkwasserres-
sourcen gesichert und verkaufen Wasser in Flaschen bis
zu 40-mal teurer als Leitungswasser. Diese Privatisie-
rungspolitik ist eine Katastrophe. Internationalen Kon-
zernen und lokalen Eliten wird es dadurch ermöglicht,
die Wasserversorgung zu Profitzwecken zu drosseln.

Daher steht fest: Das Menschenrecht auf Wasser kann
und wird nicht durch private Investoren durchgesetzt
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die einzelnen Staaten und die internationale Gemein-
schaft müssen gewährleisten, dass jeder Mensch mit
Wasser versorgt wird. Der Zugang zu Wasser muss des-
halb auch in diesem Hause mehr Priorität erhalten. Nicht
zuletzt deshalb werden wir dem Antrag der Grünen zu-
stimmen.

Die Erklärung des Rechts auf Wasser hat einen hohen
symbolischen Wert. Die Anstrengungen zu einer weite-
ren Verbesserung müssen jedoch noch verstärkt werden.
Denn Wasser ist kein Privileg; es ist auch keine Ware. Es
ist ein Menschenrecht.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708713300

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Tom Koenigs das Wort.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708713400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Über das Menschenrecht auf Wasser im Allge-
meinen besteht offensichtlich Konsens. Damit dies auch
im Konkreten erreicht wird, muss es normiert werden.
Deshalb ist mit der Resolution der UN-Generalver-
sammlung und der Resolution des UN-Menschenrechts-
rates vom vergangenen Jahr ein großer Fortschritt erzielt
worden, der auch von Ihnen, Frau Schuster, Herr
Heinrich und Herr Meßmer, angesprochen wurde.

Einen Fortschritt sehe ich auch darin, dass zum ersten
Mal das Recht auf Sanitärversorgung explizit als Men-
schenrecht anerkannt wird. Das hat die internationale
Staatengemeinschaft bisher noch nicht getan. Es reicht
aber noch nicht aus, dieses Recht im Allgemeinen und
an sich anzuerkennen; es fehlt noch die eindeutige Klä-
rung, welche Inhalte dieses Recht umfasst und welche
menschenrechtlichen Pflichten sich hieraus für die ver-
schiedenen Akteure ergeben.

Genau diese Aufgabe erfüllt üblicherweise der Gene-
ral Comment, der Allgemeine Kommentar, der vom UN-
Sozialpakt-Ausschuss zu den einzelnen Rechten des So-
zialpaktes erstellt wird, so auch zum Menschenrecht auf
Trinkwasser. Das ist der Allgemeine Kommentar Nr. 15,
der schon seit dem Jahr 2002 existiert. Dieser Kommen-
tar hat wesentlich zur Konkretisierung des Menschen-
rechts auf Wasser beigetragen und ist eine wichtige
Orientierungshilfe bei dessen Umsetzung, wie es zum
Beispiel Herr Heinrich eben zu den verschiedenen Berei-
chen geschildert hat.

SPD und Grüne sind sich einig, dass ein Allgemeiner
Kommentar auch für das Menschenrecht auf Sanitärver-
sorgung hilfreich wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Antrag der Regierungsfraktionen ist zwar in allen
Punkten richtig, aber dieser Punkt fehlt. Wir werden dem
Antrag der Regierungsfraktionen zwar zustimmen, ha-
ben aber deshalb selber einen weiter gehenden Antrag
vorgelegt.

Ich will noch einmal erklären, warum der Allgemeine
Kommentar zur Sanitärversorgung, zu dem zwischen
SPD und Grünen Konsens besteht, sehr wichtig ist. Da-
für gibt es fünf Gründe. Er ist erstens wichtig, damit die
Staaten ihre rechtlichen Pflichten kennen. Denn erst
dann können sie diese in nationale Gesetzgebungen um-
setzen. Zweitens, damit kontrolliert werden kann, ob
Staaten ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen ein-
halten. Drittens, damit Einzelpersonen ihre Rechte im
Bereich der Sanitärversorgung kennen. Denn erst dann
können sie zum Beispiel ihr Recht auf erschwingliche
und menschenwürdige sanitäre Anlagen einklagen. In
diesem Zusammenhang spielt das erwähnte Zusatzproto-
koll zum Sozialpakt eine wesentliche Rolle. Wir hoffen,
dass die Bundesregierung nicht bis zum Sankt-Nimmer-





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)

leins-Tag prüft und prüft, wie sie das bisher sehr lange
gemacht hat, sondern endlich entscheidet. Er ist viertens
wichtig, damit ein diskriminierungsfreier Zugang zu sa-
nitären Anlagen sichergestellt wird. Fünftens trägt er
dazu bei, dass Sanitärversorgung in unmittelbarer Nähe
von Haushalten, öffentlichen Institutionen und Schulen
zur Verfügung steht und zum Beispiel Kinder nicht mehr
weite Strecken zu sanitären Anlagen zurücklegen müs-
sen und ihren Unterricht verpassen.

All dem dient ein Allgemeiner Kommentar, der aller-
dings nicht von heute auf morgen zustande kommt. Er
wird vom UN-Sozialpakt-Ausschuss verfasst. Das ist ein
unabhängiges internationales Fachgremium, das aber
bisher noch keinen offiziellen General Comment zur Sa-
nitärversorgung, sondern nur ein Statement verfasst hat.

Das Gremium ist unabhängig. Trotzdem kann die
Bundesregierung etwas dazu beitragen, indem sie dem
Sozialausschuss systematisch über die Umsetzung des
Rechtes berichtet. So kann der Ausschuss Beispiele von
Best Practices sammeln und daraus menschenrechtliche
Pflichten ableiten.

Im letzten deutschen Staatenbericht von 2008 kam
das Recht auf Sanitärversorgung leider gar nicht vor.

Außerdem: Deutschland kann im Rahmen des allge-
meinen periodischen Überprüfungsverfahrens bei den
Berichten der anderen Staaten zum Menschenrecht auf
Wasser und zur Sanitärversorgung immer wieder Nach-
fragen stellen und dieses zur Diskussion stellen. Schließ-
lich kann Deutschland das Thema Sanitärversorgung im-
mer wieder auf die Tagesordnung des Menschenrechts-
ausschusses setzen. Das alles dient zur weiteren Forma-
lisierung des Rechts. Ich glaube, ohne einen allgemeinen
Kommentar als eine Art Gebrauchsanleitung für das
Menschenrecht auf Sanitärversorgung kommen wir bei
der Umsetzung dieses Rechts nicht voran. Deshalb bitte
ich Sie gerade dabei um Unterstützung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708713500

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1708713600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Menschenrechtspolitik ist mehr als der Appell an
Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit. Menschen-
rechtspolitik kann sehr konkret werden. Der Einsatz für
Menschenrechte und auch für das Menschenrecht auf
sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung kann sehr
konkret werden. Ich möchte das am Ende dieser Debatte,
in der sich im Grundsatz alle Fraktionen dazu bekannt
haben, dass das Menschenrecht auf Trinkwasser und Sa-
nitärversorgung durchgesetzt werden muss, an einem
konkreten Beispiel deutlich machen.
Ich war gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen
der Oppositionsfraktionen zusammen mit dem Bundes-
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung, Dirk Niebel, in Südamerika. Nun ist Südame-
rika nicht unbedingt der Kontinent, den man als Erstes
mit Wassermangel in Verbindung bringt. Aber tatsäch-
lich ist es so, dass 20 Prozent der Peruanerinnen und Pe-
ruaner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
In den Städten, in denen es Wasserleitungen und eine
Wasserversorgung gibt, gehen bis zu 60 Prozent des sau-
beren Trinkwassers durch löchrige Leitungen verloren.
Wir haben uns gemeinsam mit dem Bundesminister dort
ein Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
angeschaut. Dort hat die Bundesregierung zwei Partner
zusammengebracht, einerseits einen Wasserversorger vor
Ort in Tarapoto, andererseits ein kleines, innovatives
deutsches Familienunternehmen, das Geräte herstellt,
die Lecks durch die geschlossene Straßendecke aufspü-
ren können; dann kann die Straßendecke aufgebrochen
werden, und die Lecks können repariert werden. Das ist
ein konkretes Beispiel deutscher Entwicklungszusam-
menarbeit, die Partner auf Augenhöhe zusammenbringt,
um ein Menschenrecht wie das Menschenrecht auf
Trinkwasser zu verwirklichen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Binnen kurzer Zeit konnte tatsächlich der Wasserverlust
reduziert werden. 85 Lecks wurden bis heute schon ge-
funden, und der Wasserversorger konnte seine Einnah-
men stabilisieren, um weitere Investitionen in das Was-
serversorgungsnetz zu tätigen. Somit ist die Abwärts-
spirale gestoppt und eine Aufwärtsspirale in Gang ge-
setzt worden.

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir als Menschen-
rechtspolitiker den Appell an Gesprächspartner in der
Welt richten. Es ist wichtig, dass wir Dialoge führen. Es
ist auch wichtig, dass wir unter Umständen zu men-
schenrechtspolitisch motivierten Sanktionen greifen. Es
ist aber auch wichtig, dass wir an solchen Beispielen ler-
nen, wie Menschenrechte tatsächlich konkret umgesetzt
werden. Das war ein kleines Beispiel, das zeigt, wie wir
zusätzliche Potenziale heben können, nämlich indem wir
die Neugierde und Innovationskraft kleiner Unterneh-
men aus Deutschland nutzbar machen, wenn wir sie mo-
tivieren, sich in der Welt zu engagieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708713700

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1708713800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

freue mich, dass wir einige der wenigen Gelegenheiten
haben, im Bundestag einmal über Wasser zu reden; denn
das ist ein Thema, das für viele in Deutschland selbstver-





Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)

ständlich ist, weil es hier überall Wasser gibt, in höchster
Qualität und zu bezahlbaren Preisen. Aber Wasser ist
nicht nur eine lebensnotwendige Ressource, sondern
auch eine hochsensible. Ich möchte mich als letzter Red-
ner in dieser Debatte bemühen, einen weiteren Aspekt
hinzuzufügen; denn die Ressource Wasser gerät weltweit
unter großen Druck.

Die Auswirkungen des Klimawandels belasten den
Wasserhaushalt und die Verfügbarkeit von Wasser zu-
sätzlich. Wir haben anhaltende Trockenperioden und
saisonal schwankende Niederschläge, die sich auf das
Süßwasserdargebot erheblich auswirken werden. Ab-
schmelzende Gletscher beeinflussen den Wasserstand
der Flüsse. Allein in den Gletschern Zentralasiens lagert
Wasser, das Flüsse speist, die rund 2 Milliarden Men-
schen und zahlreiche Ökosysteme versorgen. Durch das
Ansteigen des Meeresspiegels ergibt sich das Problem,
dass ganze Landstriche unter Wasser gesetzt werden und
Salz in Süßwasservorräte gerät.

Diese klimatisch bedingten Zuspitzungen betreffen
häufig Länder, die ohnehin schon durch die demografi-
sche Entwicklung und die fortschreitende Urbanisierung
unter erhöhtem ökologischen Druck stehen. Wenn wir
also über das Menschenrecht auf Trinkwasser und sani-
täre Versorgung sprechen, dann müssen wir auch über
die ökologischen Herausforderungen reden; denn Was-
ser steht an der zentralen Stelle unserer Ökosysteme.

Wir brauchen deshalb meiner Überzeugung nach ein
integriertes Verständnis einer Politik für Wasser; denn
das Menschenrecht auf Wasser ist eine entwicklungspo-
litische und humanitäre, aber auch eine ökologische und
umweltpolitische Herausforderung, der wir uns ganz-
heitlich stellen müssen.

Ich möchte drei Anmerkungen zu einer integrierten
Politik für das Recht auf Trinkwasser und sanitäre Ver-
sorgung machen.

Erstens – das zu sagen, ist fast banal –: Politik für
Wasser kann man nur international machen. Oberflä-
chengewässer und Grundwasserspeicher halten sich
nicht an nationale Grenzen. Wasser kann nur einmal ver-
teilt werden, und Wasser kann nicht eingezäunt werden.
Das sehen wir nicht zuletzt bei den vermehrt auftreten-
den Hochwasserereignissen und ihren Folgen, die wir in
den letzten Jahren beobachten konnten. Deshalb ist eine
international vereinbarte und zwischenstaatliche Politik
unter dem Dach der Vereinten Nationen absolut notwen-
dig. Ich sage das auch, weil Foren wie das Weltwasserfo-
rum und andere hilfreiche Beiträge liefern, aber eben
nicht an die Stelle der politischen Mechanismen der Ver-
einten Nationen treten können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweite Anmerkung. Wenn man international glaub-
würdige Politik betreiben will, dann muss man das hal-
ten, was man einmal zugesagt und versprochen hat. Ich
habe zu Anfang gesagt: Durch den Klimawandel kom-
men zusätzliche Anforderungen an die Bereitstellung
von Trinkwasser und die sanitäre Versorgung auf ökolo-
gisch ohnehin schon belastete Regionen zu. Gerade das
zeigt – das, was Herr Heinrich gerade zu der zusätzli-
chen Belastung ausgeführt hat, war sehr anerkennens-
wert –, dass die Bundesregierung falsch handelt, wenn
sie ihre Zusagen aus dem Klimagipfel in Kopenhagen
nicht einhält. Zur Erinnerung: Dort hatte Deutschland
den Entwicklungsländern versprochen, von 2010 bis
2012 pro Jahr zusätzlich 420 Millionen Euro, also insge-
samt mehr als 1,2 Milliarden Euro, bereitzustellen, um
Anpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen zu finanzie-
ren. Doch bereitgestellt hat die schwarz-gelbe Koalition
lediglich 150 Millionen Euro, nicht pro Jahr, sondern
insgesamt. 150 Millionen Euro statt 1,2 Milliarden Euro,
die zugesagt waren – das ist beschämend, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schlimmer noch: Mit diesem Buchhaltertrick ist das in-
ternationale Ansehen Deutschlands beschädigt worden;
denn damit sind die Staaten getäuscht worden, die die
Folgen eines Klimawandels bewältigen müssen, den
nicht sie, sondern die Industriestaaten wesentlich verur-
sacht haben. Das ist kein Umgang zwischen Staaten, der
in Ordnung ist.

Dritte und letzte Anmerkung.

Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein
ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entspre-
chend behandelt werden muss.

Das ist der erste Satz aus der Europäischen Wasserrah-
menrichtlinie. Dieser Satz beschreibt für uns, dass Was-
ser eben keine Ware ist und auch nicht so behandelt wer-
den darf. Deshalb darf es aus unserer Sicht keine
Fixierung auf die Privatisierung der Wasserwirtschaft
geben. Stattdessen müssen wir dafür Sorge tragen, dass
es einen staatlichen Rahmen gibt, der Verfügbarkeit, Zu-
gänglichkeit, hohe Qualität von Wasser und akzeptable
Wasserpreise garantiert, und zwar egal, in welcher
Rechtsform die Wasserwirtschaft organisiert ist.

Das Menschenrecht auf Trinkwasser und sanitäre Ver-
sorgung darf keine reine Deklaration sein, gerade für
Deutschland nicht. Das ist ein politischer Auftrag; denn
jeder Mensch bekommt damit das Recht auf Trinkwas-
ser, egal wo er lebt. Ich sehe für uns an einigen Stellen
noch Handlungsbedarf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708713900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 17/4526. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/2332 mit dem Titel „Menschenrecht auf
sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen – Ver-
sorgung weltweit verbessern“. Wer stimmt für diese Be-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Gibt es Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim-
men der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3652 mit dem Titel
„Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sa-
nitärversorgung umsetzen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Wir sind uns
hier im Sitzungsvorstand über das Ergebnis der Abstim-
mung nicht einig.


(Widerspruch – Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Das heißt, ich kann Ihnen ein bisschen Gymnastik nicht
ersparen und muss Sie um Geduld bitten. Wir werden
auszählen, um das Ergebnis deutlich feststellen zu kön-
nen. Ich bitte Sie, dafür den Saal zu verlassen, bis ich Sie
wieder hereinbitte.

Haben nun alle Kolleginnen und Kollegen den Saal
verlassen? – Das ist der Fall. Sind an jeder der Eingangs-
türen Schriftführer? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich
die Abstimmung.

Darf ich nachfragen, ob noch Kolleginnen und Kolle-
gen vor der Tür stehen? –


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber die stehen! Die wollen nicht abstimmen!)


Ich darf diese Kolleginnen und Kollegen bitten, in den
Plenarsaal zu kommen.

Sind alle Kolleginnen und Kollegen, die vor der Tür
standen, nun im Saal? – Das ist der Fall. Dann schließe
ich die Abstimmung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas
Aufmerksamkeit. Es gibt aufgrund der Mitteilungen der
Schriftführer eine Unklarheit; denn auf zwei Zetteln sind
Jastimmen mit jeweils unterschiedlichem Ergebnis no-
tiert. Ich bitte Sie deshalb um Verständnis, dass ich die
Schriftführer, die an den Türen standen, jetzt bitte, kurz
zu mir zu kommen; denn ohne Rücksprache kann ich das
Ergebnis nicht feststellen.

Jetzt haben wir das aufgeklärt. Es hat sich herausge-
stellt, dass einer der Schriftführer auf dem Zettel „Ja-
stimmen“ vermerkt hat, obwohl es die Neinstimmen wa-
ren. Das kann vorkommen.

Ich gebe Ihnen nun das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstim-
mung bekannt: Für die Beschlussempfehlung haben
223 Abgeordnete gestimmt, gegen die Beschlussemp-
fehlung 138; es gab 40 Enthaltungen. Die Beschluss-
empfehlung ist damit angenommen.

Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit für eine weitere Ab-
stimmung. – Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/1779 mit dem Titel „Die Anerkennung des Men-
schenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversor-
gung weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke so-
wie bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.

Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, bitte ich
die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte folgen
wollen, Platz zu nehmen. Diejenigen, die anderes zu tun
haben, bitte ich, sich dieser Arbeit außerhalb des Plenar-
saals zu widmen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung

– Drucksachen 17/2218, 17/4332 –

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. – Ich sehe, dass Sie damit einver-
standen sind.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke
das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre
Gespräche vor dem Plenarsaal zu führen. Das gebietet
der Respekt vor den Rednern. Wir wollen uns auf die
Debatte konzentrieren. – Frau Kollegin, ich denke, dass
es jetzt ruhig genug ist.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708714000

Danke, Frau Präsidentin. – Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Praxisgebühr und Zuzahlungen müssen weg,
ohne Wenn und Aber. Das fordert die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Dieses Erfordernis belegt auch die Antwort der Bun-
desregierung auf die Große Anfrage, die wir anlässlich
des Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armut
und sozialer Ausgrenzung im Jahr 2010 an die Bundes-
regierung stellten. Die Bundesregierung ist sich in etli-
chen Antworten mit uns einig, beispielsweise darüber,
dass Menschen mit niedrigem Einkommen kränker sind
als Menschen mit hohem Einkommen. Sie schreibt, dass
für sozial Benachteiligte das Risiko, einen Herzinfarkt
zu erleiden, an Diabetes mellitus oder Lungenkrebs zu
erkranken, bis zu zweieinhalbmal höher ist. Die Bundes-
regierung ist sich mit uns einig, dass sozial benachtei-
ligte Menschen stärkeren Gesundheitsbelastungen aus-
gesetzt sind durch den Arbeitsplatz, durch die Umwelt,
durch die Wohnbedingungen und vieles andere. Dies al-





Dr. Martina Bunge


(A) (C)



(D)(B)

les führt dazu, dass Menschen mit niedrigem Sozialsta-
tus im Durchschnitt bis zu zehn Jahre früher sterben als
Menschen mit hohem Sozialstatus. Wenn Sie in Berlin
beispielsweise vom reichen Zehlendorf in das ärmere
Marzahn fahren, können Sie das abzählen: Von S-Bahn-
Station zu S-Bahn-Station sterben die Menschen im
Schnitt ein Jahr früher.

Die Bundesregierung weiß das alles; aber sie tut
nichts dagegen. Suchen Sie beispielsweise einmal ein
Zitat von Minister Rösler, in dem er diesen Missstand
benennt oder anprangert. Fehlanzeige! Ich habe ge-
googelt. Der Minister verdankt es unserer Anfrage, dass
er im Internet überhaupt im Zusammenhang mit sozialer
Ungerechtigkeit auftaucht. Das ist allerdings nicht sehr
schmeichelhaft. „Rösler lässt Armut kalt“, heißt es dort.

Soziale Ungleichheit führt zu ungleicher Gesundheit.
Um das umfassend zu ändern, müssen wir die Lebensbe-
dingungen der Menschen ändern. Das kann die Gesund-
heitspolitik in der Tat nicht allein; aber sie kann ihren
Teil dazu beitragen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Mindeste ist doch wohl, dass unser Gesundheitssys-
tem das Problem, dass unterschiedliche Gesund-
heitschancen bestehen, nicht noch verstärkt. Darin müss-
ten wir doch übereinstimmen.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Dazu müssen alle Menschen den gleichen Zugang
zum Gesundheitssystem haben. Das steht auch im jüngs-
ten Bericht der Weltgesundheitsorganisation – ich darf
zitieren –:

Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen auf
die Gesundheit. Menschen im Moment der Inan-
spruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davor
ab, Leistungen in Anspruch zu nehmen.

Die WHO sagt, dass solche Zahlungen vor allen Dingen
arme Menschen betreffen. Praxisgebühr und Zuzahlun-
gen in Deutschland sind solche Zahlungen. Sie verstär-
ken die Ungleichheit bei den Gesundheitschancen noch
mehr. Das können wir doch wohl nicht wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Praxisgebühr und Zuzahlungen sind allein von ge-
setzlich Versicherten zu zahlen und nicht von Privatver-
sicherten, wenn ich von den Beihilfeberechtigten einmal
absehe. Diejenigen, die zumeist sehr gut verdienen,
brauchen also nichts zu zahlen. Das ist total ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Praxisgebühr und Zuzahlungen wurden eingeführt, weil
man die Anzahl angeblich unnötiger Arztbesuche verrin-
gern wollte. Aber keine Studie kann diesen positiven Ef-
fekt nachweisen. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass
arme Menschen notwendige Arztbesuche verschieben.
Die Bundesregierung weiß das; aber es bleibt dabei.
Schließlich kommen 5 Milliarden Euro rein – von den
Kranken allein.
Was hat die Bundesregierung im Europäischen Jahr
zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
getan? Mit den Zusatzbeiträgen als Kopfpauschale durch
die Hintertür setzt sie bei der sozialen Ungerechtigkeit
noch eins drauf. Sie haben zutiefst versagt. Sie haben
nicht zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung gehan-
delt. Deshalb fordern wir Sie heute auf, wenigstens einen
kleinen Schritt zu unternehmen und die Praxisgebühr
und sämtliche Zuzahlungen sofort abzuschaffen. Eine
Finanzierungsmöglichkeit haben wir aufgezeigt: die Er-
höhung der Beitragsbemessungsgrenze. Geben Sie sich
einen Ruck, und stimmen Sie zu!

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708714100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Stefanie Vogelsang

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708714200

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man sich die Vorbemerkungen in dieser Großen
Anfrage der Linksfraktion anschaut und sich, Frau
Dr. Bunge, Ihre Rede anhört, dann könnte man meinen,
wir diskutierten hier über das Gesundheitssystem eines
Entwicklungslandes und nicht über das der Bundesrepu-
blik Deutschland, nicht über das Gesundheitssystem, um
das uns die meisten Menschen dieser Welt beneiden.

Wenn man sich dann etwas genauer mit Ihren Fragen
beschäftigt, werte Frau Kollegin, stellt man fest, dass Sie
fleißig waren: eine Große Anfrage, unterteilt in 209 Un-
terfragen. Allerdings sagt die Quantität noch lange
nichts über die Qualität aus.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber so viele Probleme gibt es!)


Ich habe mich etwas intensiver mit dem Inhalt Ihrer Fra-
gen beschäftigt. Rund 140 Fragen sind Wissensabfragen.
Nun könnte man die Hoffnung haben, dass Sie aus die-
sem gewonnenen Wissen etwas Produktives für die ge-
sundheitliche Versorgung der Bevölkerung entwickeln.
Aber ich bin zugegebenermaßen skeptisch geblieben;
denn über 60 Fragen dieser 209 Fragen


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Konnten nicht beantwortet werden!)


bedienen allein ideologische Positionen.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ah!)


Ich war gespannt, was Sie mit diesem gewonnenen,
für Sie neuen Wissen anfangen. Wird sich die Linke in-
tensiv mit ihrem Erkenntnisgewinn auseinandersetzen?


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: In vier Minuten?)


Wird es hier und da einen an den Interessen der Men-
schen und nicht an ihrer Ideologie ausgerichteten Vor-
schlag geben? Gestern haben Sie dann die Katze aus





Stefanie Vogelsang


(A) (C)



(D)(B)

dem Sack gelassen; gestern lag mir Ihr Entschließungs-
antrag zu dieser Großen Anfrage vor. Ich hätte lachen
können, wenn es nicht so bitter gewesen wäre. Ihnen
geht es wieder einmal nicht um eine ernsthafte Diskus-
sion. Ihnen geht es wieder einmal nicht um das Wohl der
Menschen.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Unverschämtheit!)


Ihnen geht es wieder einmal nicht um die Zukunft unse-
rer Gesundheitsversorgung. Ihnen, meine Damen und
Herren von der Linken – ich werde Ihnen das gleich de-
zidiert aufzeigen –, geht es wieder einmal nur um die
Fortsetzung Ihrer Sozialneiddebatte und um billigen par-
teipolitischen Klamauk.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie fordern zum hundertsten Mal die Abschaffung der
Praxisgebühr und die völlige Koppelung der Gesund-
heitskosten an den Faktor Arbeit.


(Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Alle gesundheitlichen Belastungen der Menschen führen
Sie darauf zurück, dass es Menschen mit mehr und Men-
schen mit weniger Einkommen gibt. Die Wurzel allen
Übels ist aus Ihrer Sicht, dass die Politik der Bundesre-
publik Deutschland davon ausgeht, dass derjenige, der
arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbei-
tet.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Jetzt kommt das Lohnabstandsgebot! Mindestlohn!)


Letzten Freitag haben wir hier im Hause über Ihre
Wege zum Kommunismus debattiert. Im Konsens aller
Demokraten ist deutlich geworden, dass Sie mit diesem
Weg hier alleine dastehen. In Ihren Fragen zur gesund-
heitlichen Situation in Deutschland vermeiden Sie zwar
das Wort Kommunismus; aber in jeder dritten Frage un-
terstellen Sie den Weg der Gleichmacherei als den besse-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


In diesem Haus will außer Ihnen, meine Damen und
Herren von den Linken, niemand zurück zu einem Sys-
tem, in dem einige gleicher sind als andere und in dem es
den normalen Bürgern gleich geht, und zwar allen gleich
schlecht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das System der
Gleichmacherei jämmerlich und schändlich gescheitert
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708714300

Frau Kollegin, es gibt zwei Bitten um eine Zwischen-

frage, und zwar von Frau Kollegin Vogler und von Frau
Dr. Bunge.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708714400

Ja, gerne.

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708714500

Lassen Sie beide zu?


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708714600

Aber selbstverständlich.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708714700

Frau Vogler, bitte.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708714800

Liebe Kollegin Vogelsang, stimmen Sie mit mir darin

überein, dass man soziale Ungleichheit nicht mit mehr
sozialer Ungleichheit bzw. mehr sozialer Ungerechtig-
keit bekämpfen kann? Ich verstehe Ihre Argumentation
insofern überhaupt nicht,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Frage!)


als Sie uns unterstellen, wir wollten alle gleichmachen.
In Wirklichkeit ist es diese Regierungskoalition, die für
alle den gleichen Krankenkassenbeitrag und die gleichen
Praxisgebühren erheben möchte, egal ob sie sich das
leisten können oder nicht.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stimmt nicht! – Ulrike Flach [FDP]: Frage! – Heinz Lanfermann [FDP]: Wo ist die Frage? Das ist ein Koreferat und keine Frage!)


Wenn wir feststellen müssen – das hat die Bundesre-
gierung getan –, dass das ärmste Zehntel der Bevölke-
rung durchschnittlich zehn Jahre eher stirbt als das
reichste Zehntel der Bevölkerung, muss dann nicht un-
sere Schlussfolgerung sein, dass es darum geht, soziale
Ungleichheiten bzw. soziale Ungerechtigkeiten zu be-
kämpfen, um für alle eine bessere Gesundheit zu erwir-
ken?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben das doch schon in Ihrer Rede gesagt!)


Es geht hier doch darum, die Auswirkungen dieser Si-
tuation so zu diskutieren, dass wir Wege finden, damit
sich auch die Ärmsten der Bevölkerung guter Gesund-
heit und einer möglichst langen Lebenszeit erfreuen kön-
nen.


(Beifall bei der LINKEN)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708714900

Wenn ich jetzt das Wort zur Antwort auf Ihre Frage

habe, Frau Kollegin: Ich teile mit Ihnen die Überzeu-
gung, dass sich der Staat um Menschen, die aufgrund ih-
rer persönlichen Lebensumstände gesundheitliche Defi-
zite aufweisen, kümmern muss. Ich bin Bürgerin von
Berlin. Ich weiß ganz genau, was es bedeutet, in einer
Stadt zu leben, in der eine Gesundheitssenatorin von den
Linken seit zehn Jahren Verantwortung trägt. Im Laufe
meiner Rede werde ich darauf sehr dezidiert zurückkom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708715000

Nun Frau Dr. Bunge.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708715100

Frau Kollegin Vogelsang, Sie haben uns vorgeworfen,

in der Großen Anfrage eine übergroße Anzahl, ich nenne
es jetzt einmal so, ideologischer Fragen gestellt zu haben.
Sie meinten, wir wollten das hier nur ansprechen, um im
Zusammenhang mit Armut den Mindestlohn als nächste
Forderung zu bringen. Stimmen Sie mir zu bzw. was sa-
gen Sie dazu, dass sich die Hartz-IV-Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss als ein zähes Ringen gestalten,
um etwas Angemessenes zu finden? Haben wir tatsäch-
lich ein Riesenproblem, oder stellen alle Länder ledig-
lich ideologische Forderungen?


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708715200

Wir diskutieren hier über die gesundheitliche Versor-

gung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2010.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 2011! Aber Sie hinken immer hinterher! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr wisst nicht mal, was ihr für einen Antrag gestellt habt!)


– Nein, Ihre Anfrage bezieht sich auf das Europäische
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung sowie auf
die Auswirkungen auf die Gesundheit. Das war das Jahr
2010, und in diesem Zusammenhang diskutieren wir
heute Ihren Antrag.

Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass sich dieje-
nigen, die in den Ländern, und diejenigen, die im Bund
Verantwortung haben, einigen werden und dass wir mit
den Hartz-IV-Reformen ein gutes Paket für die Men-
schen in der Bundesrepublik schnüren werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unser Gesundheitssystem, meine Damen und Herren,
ist bei allen Problemen, um deren Lösung wir hier
selbstverständlich miteinander ringen müssen, immer
noch ein System, um das wir weltweit beneidet werden.
Zu einer flächendeckenden gesundheitlichen Versorgung
kombiniert mit weltweit führender medizinischer Spit-
zentechnologie hat in Deutschland jeder – hören Sie gut
zu – unabhängig vom sozialen Status jederzeit Zugang.


(Zuruf von der FDP: So ist es!)


Im Ernstfall erhält bei uns jeder – egal ob er arm ist
oder reich, ob er jung ist oder alt, ob er stark ist oder
schwach – die bestmögliche medizinische Versorgung.
Niemand fragt hier: Lohnt sich das bei dem noch? Das
unterscheidet unser System von denen in vielen anderen
Ländern. Darauf können wir stolz sein, und wir müssen
dafür arbeiten, dass das auch so bleibt. Genau dafür steht
unsere Koalition, die christlich-liberale Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Von Ihnen kam kein einziges Wort zum rasanten me-
dizinischen Fortschritt in Deutschland. Krankheiten, die
man vor 30 oder 40 Jahren noch nicht einmal feststellen
konnte, sind heute heilbar. Hier wird die soziale Frage
nach Lebensqualität oder sogar nach zusätzlichen Lebens-
jahren auch mit deutscher Spitzentechnologie beantwor-
tet. Vieles von dem, was früher noch unvorstellbar war,
ist heute möglich, und wir alle wissen: Diese Entwick-
lung geht rasant weiter. Das ist gut für die Patienten. Das
ist aber auch gut für die gesunden Menschen, die wissen,
dass sie im Fall der Fälle anständig und bestmöglich ver-
sorgt werden.

Klar ist allerdings auch: Diesen Fortschritt gibt es
nicht zum Nulltarif. Vielmehr verursacht er enorme Kos-
ten.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Es geht um Ausgrenzung! Beziehen Sie sich auf das Thema!)


Wir wissen, vor welch enorme Herausforderungen uns
der demografische Wandel – auch darauf beziehen sich
etliche Fragen von Ihnen – im Gesundheits- und Pflege-
bereich in Zukunft stellen wird. Dass vor diesem Hinter-
grund und dem Ziel, auch in Zukunft alle Menschen in
Deutschland daran teilhaben zu lassen, die Gesundheits-
kosten nicht sinken werden, wird inzwischen nicht ein-
mal mehr von Ihnen bestritten.

Wir alle wissen, welche Finanzierungslücken bei der
gesetzlichen Krankenversicherung bestanden haben. Wir
haben das ganze letzte Jahr immer wieder an dieser
Stelle gekämpft. Wir haben beispielsweise das Reform-
gesetz zur gesetzlichen Krankenversicherung und auch
das Arzneimittelneuordnungsgesetz verabschiedet. Da-
mit haben wir einen weiteren Beitrag dazu geleistet, den
Kollaps in unserem System zu verhindern.

In diesem Jahr werden wir weitere Probleme in den
Griff bekommen, Lösungen gründlich erarbeiten und
dann auf den Weg bringen: im Bereich der Versorgungs-
sicherung, im Bereich der Pflege und vieles andere mehr.

Frau Kollegin, natürlich wissen wir, dass gebildete
und informierte Menschen gesünder leben als ungebil-
dete. Wir wissen, dass ärmere Menschen im Durch-
schnitt kränker sind als die Mittelschicht. Wir wissen
aber auch, dass wir mit unseren Präventionskampagnen
der Vergangenheit hauptsächlich die ohnehin schon Inte-
ressierten erreicht haben, dass wir Menschen, die im un-
teren Einkommensbereich liegen, schlechter oder gar
nicht erreichen; das betrifft auch viele Kinder mit Migra-
tionshintergrund.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Was war denn die Präventionskampagne? Ein Flugblatt! Heiße Luft!)


Selbstverständlich wissen wir, dass wir uns darum küm-
mern müssen. Selbstverständlich wissen wir, dass es ein
Auftrag an die Regierungskoalition ist, in diesem Be-
reich Abhilfe zu schaffen und Lösungen anzubieten.

Solche Lösungen können aber nicht nur aus einem
Flyer bestehen, den man herumschickt; denn es gibt tie-
fergehende Ursachen für die Probleme. Deshalb haben
wir jetzt mit der großen Initiative der Bundesregierung
im Bereich der Versorgungsforschung einen riesigen
Schritt gemacht. Wir wollen dem Problem in der Versor-
gungsforschung näher kommen und das Dilemma lösen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Umsetzen wäre angesagt!)






Stefanie Vogelsang


(A) (C)



(D)(B)

Es ließen sich noch viele weitere Punkte aufzählen, nur
reicht meine Redezeit dafür nicht aus.

Es ist mir wichtig, auf einen anderen Punkt zu spre-
chen zu kommen, und zwar auf die Verantwortung von
Ländern und Kommunen. Im Antrag der Linksfraktion
heißt es – ich zitiere –:

Das Gesundheitssystem kann natürlich nicht alle
Folgen sozialer Ungleichheit ausgleichen. Die Mini-
malforderung muss aber lauten, dass die Unter-
schiede durch das Gesundheitssystem nicht ver-
stärkt werden.

Frau Dr. Bunge, Sie haben vorhin die gleiche Passage zi-
tiert.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ja! Sie hören sogar hin!)


Vor diesem Hintergrund ist es doch besonders interes-
sant, sich einmal anzuschauen, ob Sie von der Links-
partei hier in Berlin, wo Sie seit zehn Jahren Regierungs-
verantwortung tragen, Ihre eigene Minimalforderung
umgesetzt haben.

Hier in Berlin wurden von Rot-Rot Zigmillionen Euro
für Gesundheitsprojekte gestrichen. Sowohl die Sozial-
senatorin als auch die Gesundheitssenatorin werden seit
zehn Jahren von Ihrer Partei, von den Linken, gestellt.
Die Streichliste lässt sich beliebig fortsetzen: Sie haben
Sozialhilfe und Pflegeleistungen gekürzt. Sie haben das
Blindengeld gestrichen. Sogar bei der Beförderung be-
hinderter Menschen haben Sie zugelangt und die Eigen-
beteiligung der Betroffenen insgesamt um über 1 Million
Euro erhöht; damit haben Sie die Betroffenen an ihre
Wohnungen gefesselt. Sie haben Beratungsstellen für
Sehbehinderte und Tuberkulosefürsorgestellen geschlos-
sen. Sie haben die Streichung der zahnärztlichen Versor-
gung für schwerstbehinderte Kinder betrieben. Sie haben
Beratungsangebote für Sinnesbehinderte aufgehoben
und die Gesundheitsförderung – koste es, was es wolle –
gestrichen.

Es ist ein echter Skandal, wie die Linkspartei mit den
Gesundheitseinrichtungen in den Berliner Bezirken, also
in den Kommunen, umgeht. Die Aufgaben der dortigen
Gesundheitsämter reichen von Präventionsprojekten bis
hin zu Kinderschutzmaßnahmen, zum Infektionsschutz
und zur Einschulungsuntersuchung. Rot-Rot hat allein
hier 550 Stellen gestrichen, mit dem Ergebnis, dass die
Einschulungsuntersuchungen in Berlin zum Teil erst
dann stattfinden, wenn die Kinder schon längst einge-
schult sind. Sie haben die Ausgaben für Kinder aus so-
zial schwachen Familien reduziert, deren Eltern nicht
mit ihnen zum Arzt gehen, die sich nicht um die zahn-
medizinische Versorgung kümmern.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Absurd! Absurd ist das!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708715300

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Rawert?

Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708715400

Ja, klar. Aber ich möchte einen letzten Satz zu dieser

Passage sagen. Dann bin ich mit diesem Teil fertig.

Ich finde, dass man bei dem, was Sie in Berlin in der
Gesundheitspolitik hingelegt haben – auch Frau Kolle-
gin Rawert kommt aus Berlin –, eine desaströse Bilanz
ziehen muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708715500

Frau Kollegin Rawert, bitte.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1708715600

Frau Kollegin Vogelsang, Sie waren Bezirksstadträtin

für Gesundheit und Soziales in Berlin-Neukölln. Heißt
das, Sie haben eine desaströse Bilanz hingelegt?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708715700

Frau Rawert, ich danke Ihnen geradezu für diese Zwi-

schenfrage. Ich war ab 1995, als die Regierungsverant-
wortung in Berlin noch von anderen getragen wurde, Be-
zirksstadträtin für Gesundheit und Soziales. Nachdem
ich eine Zeit lang ausgeschieden war, wurde ich Bezirks-
stadträtin für Gesundheit. Sie wissen ganz genau, dass
ich über ein Jahr lang dafür kämpfen musste, dass der
SPD-geführte Senat, Ihre Regierung, überhaupt einen
einzigen Kinderarzt im öffentlichen Gesundheitsdienst
zugelassen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708715800

Frau Vogelsang, Frau Kollegin Rawert möchte gerne

nachfragen.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1708715900

War Ihre persönliche Bilanz also desaströs?


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708716000

Nein, meine persönliche Bilanz war von großem En-

gagement und inhaltlicher Auseinandersetzung mit den
Leistungen des SPD-geführten Senats geprägt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Interessant ist es auch, sich das in der letzten Woche vor-
gestellte Monitoring „Soziale Stadtentwicklung 2010“
anzuschauen. Die Zahlen belegen: Wo die Linkspartei
Regierungsverantwortung trägt, werden die Menschen
arm und krank.

Unsere Hauptstadt, meine Damen und Herren, ist eine
tolle Hauptstadt. Sie entwickelt Strahlkraft, sodass Men-
schen aus aller Welt sie besuchen. Aber die Menschen,
die in Berlin leben, werden durch Ihre Politik ärmer und
ärmer. Wir hatten heute die Schlagzeile in der Berliner
Morgenpost, dass Berlin auch die Hauptstadt der Gering-





Stefanie Vogelsang


(A) (C)



(D)(B)

verdienerhaushalte ist. In Berlin leben über 600 000
Menschen von Transferleistungen. Das ist auch das Er-
gebnis Ihrer Politik.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das ist unglaublich! So ein Quatsch! – Weitere Zurufe von der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708716100

Frau Kollegin Vogelsang, jetzt muss ich Sie noch ein-

mal unterbrechen, weil die Frau Kollegin Graf noch eine
Zwischenfrage stellen möchte.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708716200

Bitte schön. Aber danach bitte keine Fragen mehr. Ist

das okay?


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708716300

Sie entscheiden.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1708716400

Frau Kollegin Vogelsang, wenn Sie die segensreiche

Einrichtung „Soziale Stadt“ so loben und sagen, dass sie
so wichtig ist, können Sie mir dann erklären, warum die
jetzige Bundesregierung die Mittel für das Programm
„Soziale Stadt“ gekürzt hat?


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708716500

Ich bin sehr froh, Frau Kollegin, dass der nächste Teil

meiner Rede nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Als Antwort möchte ich Ihnen gerne die Position der
Linksfraktion dazu nennen. Die Linke sagt nämlich, dass
durch die Maßnahme „Soziale Stadt“ in einzelnen Berei-
chen eine Aufwertung von Quartieren stattgefunden
hätte und dass es zu Gentrifizierung gekommen wäre.
Sie fragt, wie die Bundesregierung die Probleme der
Gentrifizierung in einzelnen Stadtteilen von großen Bal-
lungsräumen lösen will. Schließlich hätte der Bund diese
mit seinem Programm „Soziale Stadt“ verursacht.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist ja unerhört! Das ist unglaublich! – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: So verquer kann man überhaupt nicht denken!)


Ich bin noch nicht allzu lange Mitglied des Deutschen
Bundestags. Seit etwas mehr als einem Jahr höre ich mir
hier Ihre Anträge und Ihre Ideologien immer wieder an.
Dort, wo Sie regieren und Verantwortung tragen,
herrscht aber organisierte Verantwortungslosigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mit Blick auf Ihre Leistungen für die Berlinerinnen und
Berliner würde ich mich an Ihrer Stelle eher schämen als
lachen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708716600

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen

Liebich das Wort.


(Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] erhebt sich und geht in Richtung des Rednerpults)


– Herr Kollege Liebich, die Kurzintervention erfolgt
vom Platz aus.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708716700

Das ist das Problem, wenn man so lange im Berliner

Abgeordnetenhaus war. Das passiert mir immer wieder,
weil die Kurzinterventionen dort vom Rednerpult aus er-
folgen.

Weil ich so lange im Berliner Abgeordnetenhaus war
– 15 Jahre; davon 7 Jahre in der Regierung und davon
wiederum lange Zeit als Fraktionsvorsitzender –, kenne
ich die Berliner Politik natürlich gut. Ich kenne auch die
Arbeit von Frau Vogelsang. Ich kenne da bessere und
schlechtere Beispiele – je nach politischer Bewertung.
Ich will jetzt aber etwas zu den Gruselgeschichten sagen,
die Sie hier über Berlin erzählen, nicht nur etwas zu Ih-
nen.

Erstens zum Programm „Soziale Stadt“. Die Links-
partei und die SPD, die zusammen in Berlin regieren,
halten die Kürzungen bei dem Programm „Soziale
Stadt“ für falsch und haben deshalb einen Antrag im
Bundesrat eingebracht, die Kürzungen zurückzunehmen.
Dem hat der Bundesrat zugestimmt. Das heißt, der Bun-
desrat ist auf der gleichen Seite wie das Land Berlin und
die Linkspartei. Sie folgen nur nicht den Vorschlägen,
die der Bundesrat unterbreitet.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Zweitens. Bei Ihnen beginnt die Berliner Gruselge-
schichte immer im Jahr 2002. Was Sie dabei ausblenden
ist der Grund, aus dem die Linkspartei – damals noch
PDS – in Berlin in die Regierung gekommen ist. In einer
Stadt, die zu zwei Dritteln aus Westberlin besteht und in
der früher Eberhard Diepgen unangefochten regiert hat,
hat man ja nicht unbedingt erwartet, dass ausgerechnet
die PDS regiert.

Da müssten Sie sich einmal selbst befragen. Es ist die
CDU gewesen, die zusammen mit der SPD in dieser
Stadt einen Schuldenberg von 50 Milliarden Euro ange-
häuft hat. 50 Milliarden Euro!


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Organisierte Verantwortungslosigkeit!)


Dann sind wir in die Regierung gekommen. Es stimmt,
dass wir in dieser Stadt eine Menge Entscheidungen ge-
troffen haben, die sehr schmerzhaft waren. Darüber gab
es auch durchaus Auseinandersetzungen.

Aber wissen Sie, was bei genau dem Haushalt passiert
ist, auf den Sie Bezug genommen haben, in dem wir das
Blindengeld übrigens nicht gestrichen haben, sondern
das sehr breit gefächerte Geld für Behinderte zwar in der
Breite, aber – zugegeben – in der Höhe nicht ganz erhal-
ten haben? In Berlin hatten wir nämlich, wie es in Berlin
oft der Fall ist, von allem das Höchste: die höchsten Gel-





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)

der, die meisten Betroffenengruppen. Wir mussten diese
Gelder reduzieren – eine schmerzhafte Entscheidung.

Wir haben diesen Haushalt beschlossen. Was hat Ihre
Partei gemacht? Sie, die FDP und Bündnis 90/Die Grü-
nen haben gegen diesen Haushalt geklagt und gesagt,
wir hätten zu wenig gespart und wir sollten noch mehr
sparen. Das war Ihre Position.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja! Weil die Realitäten in Berlin damals ganz andere waren! Es war eine Frage der Prioritäten!)


Weil Sie über Gesundheitspolitik gesprochen haben,
noch ein Drittes. Als wir in Berlin an die Regierung ge-
kommen sind, waren die Privatisierungspläne für den
großen Berliner Krankenhauskonzern Vivantes fertig.
Vivantes war von der Rechtsform her bereits umgewan-
delt und stand kurz vor der Privatisierung. Finanziell war
der Konzern natürlich am Boden. SPD und Linkspartei
– damals hieß sie noch PDS – haben sich entschieden,
den größten Krankenhauskonzern, den es deutschland-
weit gibt, nicht zu privatisieren, sondern in öffentlicher
Hand zu behalten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Frau Präsidentin, wie lange darf er denn noch reden? Langsam reicht es!)


Das haben wir durchgesetzt. Das ist bis heute so. Heute
steht der Konzern gesund da. Deswegen: Wir machen in
Berlin eine gute Gesundheitspolitik. Ihre Partei steht in
aktuellen Umfragen in Berlin völlig zu Recht bei
17 Prozent, –


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708716800

Sie haben Ihre Redezeit ausgeschöpft, Herr Liebich.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708716900

– das bürgerliche Lager insgesamt bei 20 Prozent. Ich

halte Ihre Einlassung zur Berliner Politik für völlig ab-
wegig.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708717000

Wollen Sie antworten, Frau Kollegin?


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708717100

Ja, sehr gerne, Frau Präsidentin.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708717200

Bitte sehr.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1708717300

Herr Liebich, ich habe fast damit gerechnet, dass Sie

nach meiner Rede eine Kurzintervention machen. Aber
Sie haben jetzt schon wieder so viele Fehlinformationen
breitgetreten, dass ich überhaupt nicht weiß, auf welche
ich in der kurzen Zeit reagieren soll.
Der Unternehmenskonzern Vivantes, gebildet aus vie-
len städtischen Kliniken in Berlin, hat eine private
Rechtsform bekommen. Es gab weder zu den Zeiten des
Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen noch da-
nach die Absicht, dieses Krankenhaus zu verkaufen oder
sonstige Dinge damit zu machen.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Oh doch! Aber sicher! Das ist so gewesen!)


Der Wohnungsverkauf und die Privatisierungspolitik
gehen von Ihrem Senat aus.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Was ist los?)


Ihr Senat hat Tausende von Wohnungen, auch in sozial
schwierigen Gebieten, auch in Gebieten, in denen Men-
schen wohnen, die arm sind, die einen schlechten Ge-
sundheitszustand haben und denen man helfen müsste,
an Hedgefonds verkauft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber jetzt stellen Sie sich hier hin, klagen über Gentrifi-
zierung und beklagen sich noch dazu, dass Sie dafür Prü-
gel bezogen haben.

Der Unternehmenskonzern Vivantes feiert in den
nächsten Tagen seinen zehnten Geburtstag. Dass dieser
Unternehmenskonzern gesund ist, sagen Sie. Ich sage
aber genau das Gegenteil. Das Land Berlin, das, wie alle
anderen Bundesländer auch, die Verpflichtung hätte, sei-
nen landeseigenen Krankenhäusern Geld zur Verfügung
zu stellen, stellt die Investitionen hier fast auf null, so-
dass der Unternehmenskonzern Vivantes gezwungen ist,
sich auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
der Krankenschwestern und der Krankenpflegeschüle-
rinnen zu sanieren. Da die benötigten Investitionen vom
Senat nicht getätigt werden, muss der Konzern gegen-
steuern. Das geschieht auf Kosten des Personals und am
Ende auf Kosten der Qualität der Pflege und der Versor-
gung kranker Menschen.

Über das Gesundheitssystem und über die Gesund-
heitssituation in Berlin, lieber Herr Liebich, können wir
beide lange diskutieren. Aber bevor Sie gegen mich auch
nur einen einzigen Punkt machen würden, würde ich Ih-
nen eher eine Kiste Champagner ausgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Gerne! Wir laden Sie dazu ein, und Sie werden verlieren!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708717400

Das Wort hat nun die Kollegin Hilde Mattheis für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1708717500

Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es geht hier nicht um Champagner. Es geht hier um Ar-
mut.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Genau!)






Hilde Mattheis


(A) (C)



(D)(B)

Wir alle hier im Hohen Hause sollten uns einig sein: Ar-
mut ist in diesem reichen Land eine Schande. Da wetten
wir nicht um Champagner.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Dann machen Sie mal Ihre Hausaufgaben! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau! Das ist die Denke der Berliner CDU!)


Wir müssen feststellen, dass die sozial bedingte Un-
gleichheit von Gesundheitsrisiken in unserem Land und
in unserer Gesellschaft etwas ist, was uns wirklich be-
schäftigen muss.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ja! Genau so ist es!)


Wir wissen: Die Ungleichheiten nehmen zu.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ja!)


Forschungen belegen: Die höhere Gefährdung unterer
Statusgruppen ergibt sich unter anderem aus deren gerin-
ger Teilhabe an Präventionsmaßnahmen, aus schlechte-
rer Sanierung von kranken Zähnen, aus weniger häufi-
gen Besuchen beim Facharzt und aus aufgrund von
Kostengründen vermiedenen Arztbesuchen. Wir haben
– übrigens unter Rot-Grün – im Jahre 1999 in § 20 SGB V
erstmals festgeschrieben, dass sozial bedingte ungleiche
Gesundheitschancen benannt werden und den Kranken-
kassen der Auftrag erteilt wird, durch ihre Leistungen
dazu beizutragen, solche Ungleichheiten zu vermindern.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das war auch richtig!)


Das war ein guter Schritt. Uns als Sozialdemokraten
geht dieser Schritt aber noch nicht weit genug. Zur Be-
kämpfung gesundheitlicher Ungleichheit braucht es aus
unserer Sicht Weichenstellungen in den unterschied-
lichsten Bereichen. Das ist wichtig, und darüber sind wir
uns hoffentlich einig – vielleicht Sie nicht. Der erste
Schritt ist eine Bürgerversicherung zur Bekämpfung ei-
ner Zweiklassenmedizin und zur Vermeidung einer Drei-
klassenmedizin.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Wir wollen eine Garantie für die öffentliche Infra-
struktur, die wohnortnahe, niedrigschwellige Gesund-
heitsversorgung und die Gesundheitsprävention. Wir
wollen den Zugang zu einer barrierefreien Bildung und
Betreuung für alle, auch zur Stärkung der Kompetenzen
und zum verantwortlichen Umgang mit der eigenen Ge-
sundheit. Wir wollen eine Gesundheitswirtschaft, die at-
traktive Beschäftigungsverhältnisse anbietet, und zwar
sozialversicherungspflichtige und von einem Mindest-
lohn geprägte Beschäftigungsverhältnisse. Wir wollen
natürlich auch Maßnahmen zur Überwindung der mate-
riellen Armut und der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen ge-
gen Ausgrenzung verschiedenster Personen- bzw. Be-
völkerungsgruppen aufgrund von Alter, Geschlecht und
Bildungsstand, aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, der
Muttersprache oder aufgrund des sozialen Status. Das
darf es in unserem Land nicht geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Jeder braucht den gleichen Zugang zu bezahlbarer
Bildung und zu bezahlbarer Gesundheit. Denn wir wis-
sen: Armut, Bildung und Gesundheit lassen sich wie
Perlen auf eine Schnur ziehen und gehören damit zusam-
men. Wenn ich das eine Übel bekämpfe, muss ich die
beiden anderen Aspekte ebenfalls berücksichtigen.

Welchen Beitrag leistet nun Ihre Große Anfrage und
der Entschließungsantrag, um diesen Weichenstellungen
näherzukommen? Die Große Anfrage – da muss ich et-
was Wasser in Ihren Wein gießen – ist eine Fleißarbeit,
bei der meines Erachtens am Ende jeglicher Zusammen-
hang mit den grundlegenden Strukturen der Ausgestal-
tung des Sozialstaates und des Gesundheitssystems ver-
loren gegangen ist. Wer sich mit der Großen Anfrage
und mit der Antwort der Bundesregierung auf diese An-
frage näher beschäftigen will, versinkt in einem Meer
aus insgesamt 209 Fragen. Wir haben alle Fragen gele-
sen. Sie sind zum Teil mit einer Vielzahl von Spiegel-
strichen versehen und wurden entsprechend beantwortet.

Das Thema der Anfrage verschwimmt im Ozean der
Differenzierungen und Details. Sowohl die Vorbemer-
kung zu den Fragestellungen als auch die Antwort der
Bundesregierung hinterlässt mehr Ratlosigkeit, als dass
sie die erwünschte Aufklärung schafft. Die vielfältigen,
ausufernden Aspekte, die in der Anfrage aufgelistet sind,
schrumpfen dann im Entschließungsantrag auf nur noch
zwei Forderungen zusammen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Anfangen! Mit dem Richtigen anfangen!)


Das, muss ich sagen, ist mir etwas zu dünn. Dadurch
misslingt im Entschließungsantrag eine logische Ablei-
tung der Großen Anfrage. Es gelingt kein umfassender
Problemaufriss.

Unter Schwarz-Gelb wird die gesundheitliche Un-
gleichheit weiter zunehmen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jeder Schritt in die richtige Richtung ist besser als nichts! Anfangen, darum geht es!)


Die Politik der Bundesregierung wird mit ihren Ideen
von Kopfpauschale und Vorkasse eine Dreiklassenmedi-
zin etablieren. Immer größeren Bevölkerungsgruppen
wird der Zugang zur medizinischen Versorgung und die
Teilhabe am medizinischen Fortschritt verwehrt werden.
Die Antworten der Bundesregierung auf diese Große
Anfrage sind wie gewöhnlich verteidigungspragmati-
sche Mischungen: teils verschleiernd, teils beschöni-
gend. Die meist benutzte Antwort lautet: „Darüber lie-
gen keine Angaben vor.“


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wie bei allen Antworten der Regierung!)


Was die Bundesregierung auf die Worte für Taten fol-
gen lässt, belegt folgende Antwort – ich zitiere –:

Es gilt, die Chancen von Kindern aus niedrigen so-
zialen Schichten umfassend zu stärken. Die ver-
stärkte Integration dieser Kinder in vorschulische





Hilde Mattheis


(A) (C)



(B)

Angebote und ihre individuelle Förderung im
Schulsystem und im Freizeitbereich sind Heraus-
forderungen, denen sich die Bundesregierung be-
reits stellt. Mit dem im Entwurf des Gesetzes zur
Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung
des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz-
buch angekündigten Bildungspaket für hilfebedürf-
tige Kinder wird dazu ebenfalls ein Beitrag geleis-
tet.

Wer auch nur ein bisschen Zeitung liest und mitbe-
kommt, was im Vermittlungsausschuss zu dem passiert,
was das Bundesverfassungsgericht der Regierung aufge-
tragen hat, der muss schon sagen: Dort wird ein Miss-
brauch von Worten betrieben. Das hat nichts damit zu
tun, die Herausforderungen, die Sie selber formulieren,
anzunehmen. Ich muss sagen: Das ist mehr als peinlich.

Abschließend möchte ich gerne betonen, dass wir die
Grundbotschaft, die in der Großen Anfrage enthalten ist,
teilen. Gesundheitsrisiken und Krankheiten sind nicht
rein zufällig über die gesamte Gesellschaft verteilt, son-
dern verlaufen entlang der Grenzen sozialer Gruppierun-
gen. Die Verhinderung von Krankheiten ist nicht nur ab-
hängig vom medizinischen Bereich, sondern wird im
Wesentlichen auch durch die Lebenssituationen und Le-
benslagen beeinflusst, in denen die Menschen lernen, ar-
beiten, leben. Die wichtigsten Einflussfaktoren auf die
Gesundheit finden sich außerhalb der traditionellen Ge-
sundheitssysteme und werden von der Wirtschaftspoli-
tik, der Arbeitsmarktpolitik, der Finanzpolitik, der So-
zialpolitik, der Regionalpolitik und allen anderen
Politiken beeinflusst und geprägt.

Deshalb: Dass Sie diesen breiten Ansatz von
209 Fragen auf zwei Forderungen „zusammenkneten“,
lässt sogar Wohlmeinende zu der Beurteilung kommen,
dass die Große Anfrage eher eine Praktikumsarbeit ist
und die Fraktion mit gleichlautendem Entschließungsan-
trag nur Routineaussagen von sich gibt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708717600

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1708717700

Deshalb möchte ich wenigstens etwas versöhnlich

schließen.

Auf die Frage 4 der Linken zu den Thesen von
Wilkinson nimmt die Bundesregierung nicht Stellung.
Wilkinson und Pricket haben in ihrer Untersuchung mit
Datenmaterial aus vielen Ländern nachgewiesen, wie
wachsende Ungleichheit schadet. Die Eindeutigkeit die-
ses Befundes ist beeindruckend.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708717800

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1708717900

Ich komme zum Schluss. – Sie sagen und belegen: In

ungerechten Gesellschaften ist die Selbstmordrate höher,
ist die Depressionsrate höher, ist die Kriminalitätsrate
höher usw. Egal wie reich die Gesellschaft insgesamt ist:

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708718000

Frau Kollegin, die Ankündigung, dass Sie zum

Schluss kommen, reicht nicht.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1708718100

Durch Ungleichheit werden Ungerechtigkeit, unge-

rechte Lebensverhältnisse und weit auseinanderliegende
Lebenssituationen produziert.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708718200

Frau Kollegin, ich bitte Sie wirklich, jetzt zum

Schluss zu kommen.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1708718300

Deshalb sage ich zum Schluss: Machen Sie die Ge-

sellschaft gerechter. Das ist kostengünstiger, hilft allen
und macht die Gesellschaft gesünder.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708718400

Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt sag mal etwas Vernünftiges!)



Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1708718500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Die Große Anfrage der Linken zum
Thema „Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ gibt uns die
Möglichkeit, über die Faktoren zu sprechen, die Einfluss
auf unsere Gesundheit haben. Auf der einen Seite sind
die genetischen Faktoren zu nennen und auf der anderen
Seite das Gesundheitsverhalten jedes einzelnen Men-
schen. Letzteres ist auch abhängig von der Bildung und
der Stellung in der Arbeitswelt.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber die Regierung sagt, Verhalten ist nur ein Drittel, die Verhältnisse sind zwei!)


Auf den ersten Punkt, die genetischen Faktoren, hat
der Mensch nur sehr geringe Einflussmöglichkeiten. Ich
möchte der Diskussion in diesem Hohen Hause nicht
vorgreifen. Wir werden uns noch mit der Präimplanta-
tionsdiagnostik auseinandersetzen. Das wird eine Mög-
lichkeit sein, diesen Faktor mit zu beeinflussen.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)


Für den zweiten Punkt, das Gesundheitsverhalten, das
von Bildung und Arbeit abhängig ist, tut die Bundesre-
gierung, tut unsere Koalition sehr viel.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Im Bildungsbereich werden wir 12 Milliarden Euro aus-
geben. 12 Milliarden Euro sollen in die Hochschulen

(D)






Jens Ackermann


(A) (C)



(D)(B)

investiert werden. Im Bildungsbereich wird es keine
Kürzungen geben. In allen anderen Etats müssen wir
einsparen. Die Weltwirtschaftskrise zwingt uns dazu.
Aber im Bildungsbereich wird es nicht dazu kommen.
Auch im Zuge der Hartz-IV-Reformen wird ein Bil-
dungspaket auf den Weg gebracht werden, das besonders
den Kindern zugutekommt.

Auch was die Arbeitsplätze anbetrifft – ein Arbeits-
platz ist wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen –,
bin ich froh, dass sich die Arbeitsmarktzahlen sehr gut
gestalten. Nur noch 3,5 Millionen Menschen sind ohne
Job. Diese Zahl kann sich sehen lassen. Das ist der nied-
rigste Stand der Arbeitslosenzahlen seit langer Zeit.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708718600

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1708718700

Sehr gerne.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708718800

Bitte.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708718900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege

Ackermann, ich habe eine Nachfrage. Wir reden heute
über Armut und Gesundheit. Können Sie uns bitte noch
einmal auseinandersetzen, wie Sie mit der PID das Pro-
blem Armut angehen wollen? Das ging so schnell und
kam sehr lasch daher. Haben Sie eine besondere Vorstel-
lung davon, wie Sie das machen wollen?


Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1708719000

Sehr gerne, Herr Kollege Terpe. Ich gehe auf die Fra-

gen der Fraktion Die Linke und auf die Antworten der
Bundesregierung auf die Fragen ein. Die Fragen waren,
was unsere Gesundheit beeinflusst und wo es zu Un-
gleichheiten in der Gesundheit kommt. Dabei muss man
auch über die Faktoren sprechen, die die Gesundheit der
Menschen beeinflussen.

Diese Faktoren – das geht auch aus der Antwort der
Bundesregierung hervor – sind zweierlei. Der erste
Faktor – dafür kann der Mensch nichts – sind die geneti-
schen Bedingungen. Der andere Faktor, der zu gesund-
heitlicher Ungleichheit führt, ist das Gesundheitsverhal-
ten jedes einzelnen Menschen. Ich wollte auf den ersten
Faktor, weshalb es zu Krankheiten kommen kann, nur
sehr bedingt eingehen, weil wir die Diskussion darüber
in diesem Hohen Hause noch führen werden.

Die genetischen Faktoren, die in uns angelegt sind
und zu Erkrankungen führen können, kann der Mensch
nur sehr bedingt beeinflussen. Wann eine Erbkrankheit
auftritt oder nicht, kann man durch Früherkennungs-
untersuchungen herausfinden. Auch die Präimplanta-
tionsdiagnostik – –


(Mechthild Rawert [SPD]: In Ihrem eigenen Interesse: Brechen Sie das Thema bitte an der Stelle ab! Das wird ein schwieriges Terrain!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708719100

Der Kollege Ackermann hat jetzt das Wort.


Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1708719200

Ich wollte der Diskussion nicht vorgreifen, Herr Kol-

lege Terpe. Ich wollte nur auf Ihre Frage antworten.

Stichwort Arbeitsplätze: Ob jemand einen Job hat, ist
wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen. Deshalb
bin ich froh, dass wir eine gute wirtschaftliche Entwick-
lung und niedrige Arbeitslosenzahlen haben. Wir lassen
auch diejenigen nicht im Stich, die noch ohne Arbeit
sind.

Die Fragen der Linksfraktion, die suggerieren, dass
wir die Arbeitslosen im Stich lassen, sind falsch und
nicht hinnehmbar.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Der Staat unterstützt jeden erwerbsfähigen Hilfebedürf-
tigen und auch denjenigen, der in einer Bedarfsgemein-
schaft mit ihm zusammenlebt.

Ich möchte das kurz aufzählen. Er unterstützt den
Menschen bei der Ernährung, bei der Kleidung, bei der
Körperpflege, beim Hausrat, bei Energie, bei der Hei-
zung, er ermöglicht ihm Teilhabe am sozialen und kultu-
rellen Leben, und er fördert die berufliche Eingliede-
rung. Unser Ziel ist es, die Teilhabe dieser Menschen zu
verbessern und sie aus der Abhängigkeit von staatlicher
Fürsorge herauszuholen. Summa summarum: Unser
Staat hat die Schwachen im Blick. Er gibt Hilfe und Un-
terstützung in großem Umfang. Wir sind an einem Punkt
angelangt, wo wir auch diejenigen nicht aus dem Blick
verlieren dürfen, die das alles erwirtschaften. Das gehört
zur Gerechtigkeit dazu.

Zum Gesundheitswesen im Speziellen: Wenn wir von
guten Gesundheitschancen für alle Menschen sprechen,
müssen wir die Finanzierung und die Vorsorge im Auge
haben. Wir haben die Herausforderung des demografi-
schen Wandels und die Herausforderung des medizi-
nisch-technischen Fortschritts zu bewältigen. Schwarz-
Gelb hat mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial
ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Kranken-
versicherung einen Beitrag dazu geleistet. Was die Vor-
sorge betrifft: Jeder Einzelne ist jetzt gefordert, durch
sportliche Aktivitäten und durch gesunde Ernährung zu
seiner Gesunderhaltung beizutragen. In einigen Berei-
chen ist noch Motivation und Aufklärung wichtig und
nötig, und ich bin froh, dass das Gesundheitsministerium
im ganz konkreten Fall mit den Betrieben vor Ort Prä-
vention und Aufklärung betreibt.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber Verhalten ist nur ein Drittel!)


Wenn man über soziale Ungleichheit oder Unter-
schiede im Gesundheitswesen spricht, muss man auch
ansprechen, dass es einen unterschiedlichen Zugang zu
medizinischer Versorgung gibt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708719300

Kollege Ackermann, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Wunderlich?






(A) (C)



(D)(B)


Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1708719400

Aber bitte.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708719500

Ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass ich

dabeibleibe, dass wir maximal zwei Fragen in jedem Re-
debeitrag zulassen, damit wir die Debattenzeit nicht ver-
doppeln.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708719600

Jetzt haben Sie es provoziert, Herr Ackermann. Sie

sprachen vom BMG, vom Bundesministerium für Ge-
sundheit, das Angaben gemacht hat, und es fiel das
Stichwort Prävention. Gestern gab es eine öffentliche
Anhörung der Kinderkommission über Prävention und
gesundes Aufwachsen von Kindern, bei der gerade die
Bezüge zur sozialen Struktur in den Familien hergestellt
wurden. Dort waren etliche Sachverständige. Wir hatten
tollerweise auch ein Schreiben unseres Bundesgesund-
heitsministers, des Herrn Rösler, in dem er zu dem frak-
tionsübergreifenden Antrag von 2002, in dem Präventiv-
maßnahmen im Bereich der Pädiatrie gefordert wurden,
sagte: Es ist nichts weiter erforderlich als das, was bis
jetzt gelaufen ist. Gerade auch im Hinblick auf den de-
mografischen Wandel und die sinkenden Kinderzahlen
müssen wir im Bereich der Pädiatrie und Prävention
nichts machen. – Alle Sachverständigen haben gesagt,
das ist definitiv falsch. Einer hat sich nach der Sitzung
sogar bereit erklärt, das Wörtchen „Lüge“ zu verwenden.

Da frage ich mich natürlich: Wie können Sie sich hin-
stellen und solche Aussagen über das Gesundheitsminis-
terium machen? Was hat man von solchen Aussagen zu
halten? Ist es ähnlich wie beim Verteidigungsministe-
rium? Wird hier das Parlament wieder falsch informiert?
Jedenfalls was die Prävention und das gesunde Auf-
wachsen von Kindern betrifft, haben dieser Gesundheits-
minister und dieses Gesundheitsministerium nach der
gestrigen Anhörung nach meiner vollen Überzeugung
und der der übrigen Mitglieder der Kinderkommission
– davon muss ich ausgehen – versagt.


(Beifall bei der LINKEN)



Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1708719700

Herr Kollege Wunderlich, Ihre Frage macht unsere

unterschiedliche Weltanschauung deutlich.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Gesunde Kinder!)


Gerade auch im Zusammenhang mit der Prävention bei
Kindern ist es meine Auffassung, dass man die Verant-
wortung der Eltern nicht außen vor lassen kann. Man
kann nicht erlernen, wie die gesunde Lebensweise eines
Kindes aussieht, indem man es in staatliche Hände gibt.
Die Eltern haben auch eine Fürsorgepflicht für ihre Kin-
der. Sie müssen ihnen Vorbild sein. Sie müssen ihnen in
den Kindergarten und in die Schule ein gutes Pausenbrot
mitgeben.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich habe von Präventionsmaßnahmen gesprochen, die Herr Rösler nicht bereit ist, umzusetzen!)

Ich möchte nicht, dass das vom Staat übernommen wird.
Jede Familie hat ihre Fürsorgepflicht.

Die Maßnahmen, die das Ministerium im Bereich der
Prävention ergreift und die ich angesprochen habe, sind
motivierende und sehr zielgenaue Maßnahmen. Diese
werden auch mit den Betrieben vor Ort ergriffen, weil
natürlich auch die Arbeitgeber ein Interesse daran haben,
dass sich die Arbeitnehmer gesund erhalten, damit der
Betrieb weiterläuft. Es handelt sich um motivierende
und informative Maßnahmen, wie sich der einzelne
Mensch gesund ernähren und wie er mit Sport seine ei-
gene Lebensweise so gestalten kann, dass er gesund
bleibt.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Der Bundesverband der Kinderärzte sagt, nichts ist passiert! Eine tolle Regierung!)


Der Unterschied ist, dass wir das dem Individuum über-
lassen wollen. Sie wollen es dem Kollektiv überlassen.
Das sind die Unterschiede zwischen uns beiden.


(Beifall bei der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich will für ein gesundes Aufwachsen von Kindern sorgen! Das will Herr Rösler nicht!)


Unterschiede bestehen in der medizinischen Versor-
gung – dies habe ich gesagt – zwischen Stadt und Land.
Dieses Problem wollen wir angehen. Wir wollen ein Ver-
sorgungsgesetz auf den Weg bringen, das Ärzte- und
Fachkräftemangel auch in ländlichen Regionen be-
kämpft.

In den Vorbemerkungen der Großen Anfrage der Lin-
ken stehen einige Dinge, über die ich nur den Kopf
schütteln kann. Dort ist zu lesen, dass sich seit fast ei-
nem halben Jahrhundert auf dem Gebiet der gesundheit-
lichen Ungleichheit nichts verbessert habe. Das ist
schlicht falsch. Das Robert-Koch-Institut hat veröffent-
licht, dass sich die Lebenserwartung verbessert hat. So
musste ein ostdeutscher Mann 1990 noch 3,2 Jahre frü-
her sterben als ein westdeutscher, und eine ostdeutsche
Frau ist 1990 2,3 Jahre früher gestorben als eine west-
deutsche. Das hat sich verbessert. Ich bin dankbar dafür,
dass sich auf diesem Gebiet etwas getan hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Die Hauptursache für die gesundheitliche Ungleich-
heit, für die unterschiedliche Entwicklung in den Ein-
kommen, in den Lebensbedingungen und in der Umwelt
– hier ist Berlin angesprochen worden – ist ja wohl die
Berliner Mauer. Ihre Politik der Unfreiheit führte zu Un-
terschieden, die Sie heute beklagen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Insofern, meine Damen und Herren von den Linken,
stellen Sie Fragen zu Problemen, die wir ohne Sie gar
nicht hätten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen der Abg. Hilde Mattheis [SPD])







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708719800

Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsi-
dentin! Diese halbe Stunde war eigentlich eine ver-
schenkte halbe Stunde, weil man darüber hätte reden
können: Was tun wir alle gemeinsam hier im Saal gegen
Armut und gegen den engen Zusammenhang zwischen
Armut und Gesundheitschancen? Wie gehen wie vor?
Was machen wir in der Prävention? Geben wir den
Kommunen ausreichend Mittel, um in den Kitas, in den
Schulen und in den Altenheimen präventiv tätig zu wer-
den? Wie schaffen wir es, eine vernünftige betriebliche
Gesundheitsförderung hinzubekommen? Wie schaffen
wir es, Arbeitslose zu erreichen, die heute von präventi-
ven Maßnahmen so gut wie gar nicht erreicht werden?
Das sind Fragen, denen wir uns hätten stellen können.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Aber nicht bei einem solchen Antrag, der vorliegt!)


Wir hätten uns weiterhin die Frage stellen können:
Was machen wir eigentlich mit den Ursachen von Armut
insgesamt? In den nächsten Wochen haben Sie einen we-
sentlichen Schlüssel für die Bekämpfung von Armut in
der Hand, und zwar bei den Verhandlungen über den Re-
gelsatz und bei den Verhandlungen über einen Mindest-
lohn sowie eine ausreichende Bildungsausstattung in den
Kommunen. Das sind die eigentlichen Fragen.

Was haben wir hier erlebt? Ich weiß gar nicht, was die
Leute oben auf den Rängen denken. Ist überhaupt über
Armut und Gesundheit geredet worden? Ich habe gehört,
dass es um eine Sozialneiddebatte, um eine Kommunis-
musdebatte geht. Insgesamt hatten wir eine Debatte über
Berliner Verhältnisse. Aber eigentlich geht es doch da-
rum, die Notwendigkeiten zu erkennen, die uns mittler-
weile seit Jahrzehnten durch verschiedenste Gesund-
heitsberichte, durch Gutachten immer wieder deutlich
vor Augen geführt werden und bei denen wir bislang zu
keinen vernünftigen Lösungen gekommen sind. Das ist
die Wahrheit, mit der wir uns als Fachpolitik endlich ein-
mal hätten auseinandersetzen müssen. Diese Chance
wurde wieder einmal massiv vertan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Und warum? Weil Sie sich vonseiten der Regierungs-
koalition letztendlich nicht darüber einig sind, mit wel-
chen Verfahren und welchen Mitteln Sie Prävention vo-
ranbringen wollen. Es stellt sich die Frage, ob Sie sich
überhaupt eingestehen wollen, dass es bei der Gesund-
heit so etwas wie eine soziale Benachteiligung gibt, oder
ob es nicht mehr darum geht, dass jeder eigenverant-
wortlich sein Leben gestalten muss. Das sind die Fragen,
die Sie bewegen.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das steht ja in der Antwort der Regierung drin!)


Die anderen wiederum haben eine weitere Chance
vertan. Natürlich müssen wir über die Praxisgebühr re-
den. Natürlich müssen wir über Zuzahlungen reden.
Aber dafür haben Sie einen Antrag laufen. Dafür ist
noch eine Anhörung im Spiel. Warum inszenieren Sie
hier eine Entscheidung, durch die die fachliche Aus-
einandersetzung vorweggenommen wird? Ich kann das
nicht nachvollziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt kommen wir zum eigentlichen Punkt. Was wer-
den Sie im nächsten halben Jahr tun? Wie werden Sie die
Prävention voranbringen? Bisher habe ich noch nichts
außer lauen Worten über Vorhaben gehört. Sie sagen,
dass Sie das, was da ist, auf den Prüfstand stellen und
schauen, was Sie daraus machen.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Dann warten Sie es erst einmal ab! Es war ja verdammt genug Arbeit in der letzten Zeit!)


Was wir eigentlich brauchen, ist eine wirkliche Präven-
tionsoffensive gemeinsam mit Bund, Ländern, Kommu-
nen, mit den Betrieben, mit den Krankenkassen, ein
Konzept, aus dem hervorgeht, wie Sie die Zusammenar-
beit der verschiedenen Ebenen zustande bringen wollen.
Außerdem müssen Sie mit uns eine Auseinandersetzung
darüber führen, ob es ein Präventionsgesetz braucht. Wir
sind jederzeit bereit, uns anzuhören, welche Vorschläge
Sie an den Tag legen, um das Ganze wirklich voranzu-
bringen. Wir glauben, ohne ein Präventionsgesetz wer-
den wir das nicht schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin gespannt, was Sie uns in den nächsten Wo-
chen und Monaten vorlegen. Herr Singhammer, Sie sind
der Einzige, der bislang vorangegangen ist und immer-
hin eingestanden hat, dass es so etwas wie eine gesund-
heitliche Unterversorgung von sozial Benachteiligten
gibt. Ich hoffe, dass Sie in den beiden Regierungsfraktio-
nen als Trendsetter und Meinungsbildner wirken kön-
nen.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Lesen Sie mal unsere Reden! Da steht das überall drin! Erst recht in meiner letzten!)


Wir werden die Meinungsbildung jedenfalls massiv un-
terstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708719900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4556. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols,





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam
Gruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Programme zur Bekämpfung von politischem
Extremismus weiterentwickeln und stärken

– Drucksache 17/4432 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke
Rix, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Crone, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Demokratieoffensive gegen Menschenfeind-
lichkeit – Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen
Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen

– Drucksache 17/3867 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Dorothee Bär für die Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1708720000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selbstverständ-
lich begrüßen wir es als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages, wenn sich Menschen politisch engagieren,
und zwar völlig unabhängig davon, ob sie sich in Initiati-
ven oder Parteien engagieren, ob sie in der Mitte der Ge-
sellschaft stehen bzw. rechts oder links von der Mitte.
Das gilt natürlich nur dann, wenn diese Initiativen, diese
Parteien auf dem Boden unserer freiheitlich-demokrati-
schen Grundordnung stehen, sprich: dem demokratisch
legitimierten Spektrum angehören. Für uns macht es
nämlich schon einen großen Unterschied – den Unter-
schied zum SPD-Antrag werde ich herausarbeiten –, ob
jemand politisch rechts oder links steht. Für uns ist das,
offensichtlich anders als für die Kolleginnen und Kolle-
gen der SPD, nicht das Gleiche. Etwas vollkommen an-
deres ist es natürlich, politisch rechts- oder linksextre-
mistisch zu sein.

Wir sind in unserem demokratischen Verfassungsstaat
Demokraten genug, um Links- und Rechtsextremisten
abzulehnen. Diese sind nicht bereit, ihre politischen Auf-
fassungen im demokratischen Ringen mit Andersden-
kenden auszutauschen. Auch wir wissen – auch das er-
kennt die christlich-liberale Koalition an –, dass diese
Art der Auseinandersetzung immer mehr zunimmt. Das
belegt natürlich auch die wachsende Zahl politisch moti-
vierter Gewalttaten. Wir sind aufgerufen, uns dieses Pro-
blems anzunehmen. Darüber hinaus werden wir das
Ganze mit den Programmen, die wir schon ins Leben ge-
rufen haben, fortführen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen haben wir einen Antrag vorgelegt, und wir
haben für die Bekämpfung von politischem Extremis-
mus sehr viel Geld in die Hand genommen. Im Haushalt
unseres Familienministeriums sind insgesamt 29 Mil-
lionen Euro für Präventionsprogramme zur Verfügung
gestellt. Es gelingt natürlich nicht allein mit einer Maß-
nahme, den Extremismus zu bekämpfen, weil wir ein
Zusammenspiel verschiedener Maßnahmen brauchen.
Ich möchte das an drei Punkten festmachen. Punkt eins:
Jugend- und Präventionsarbeit. Punkt zwei: Förderung
des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Punkt drei: Die
konsequente Verfolgung politisch motivierter Straftaten.
Wir haben das bereits in unserem Koalitionsvertrag fest-
gehalten.

Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP haben
wir die Entwicklung und Stärkung von Toleranz und De-
mokratieverständnis als unser zentrales Ziel der Kinder-
und Jugendpolitik festgeschrieben. Wir wollen Unter-
stützungsprogramme etablieren. Die sollen kontinuier-
lich evaluiert werden und besonders Kinder und Jugend-
liche in ihrem Engagement für Vielfalt, Toleranz und
Demokratie, Menschenwürde und Gewaltfreiheit moti-
vieren – und damit natürlich auch stark gemacht werden.

Wir beziehen das Ganze nicht nur auf Rechtsextre-
mismus und Linksextremismus, sondern wir beziehen es
natürlich auch auf religiös motivierten islamistischen
Extremismus. Die Bilanz der Ende 2010 ausgelaufenen
Programme unseres Ministeriums „Vielfalt tut gut. Ju-
gend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ und „kom-
petent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen
Rechtsextremismus“ kann sich wirklich sehen lassen. In
den letzten drei Jahren – von 2007 an – haben wir über
90 lokale Aktionspläne mit fast 5 000 Einzelprojekten
unterstützt. Damit haben wir weit über 2 Millionen Men-
schen erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben uns jetzt aber entschlossen, diese Pro-
gramme unter dem Dach „Toleranz fördern – Kompe-
tenz stärken“ zu einem Programm zusammenzuführen.
Für dieses Programm haben wir in den Haushalt 2011
24 Millionen Euro eingestellt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Reisen der Jungen Union?)


Die bisherigen Aktivitäten zur Extremismusprävention
des Familienministeriums haben wir aber auf die Berei-
che Linksextremismus und islamistischer Extremismus
ausgeweitet.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Reisen der Jungen Union sind dabei?)






Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

Diese Neuausrichtung und Bereitstellung von zusätzlich
5 Millionen Euro begrüßen wir als CDU/CSU und FDP
ausdrücklich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme jetzt zu den großen Unterschieden. Diese
Koalition ist eben nicht auf einem politischen Auge
blind.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, auf beiden!)


Wir sehen, dass der Demokratie Gefahr von vielen Sei-
ten droht. Wenn ich mir den Antrag der Kolleginnen und
Kollegen der SPD anschaue, sehe ich, dass er sich allein
der Bekämpfung des Rechtsextremismus widmet und
unser Vorgehen diskreditiert.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind denn die Probleme?)


Dazu muss man ganz einfach sagen: Sie haben es nicht
kapiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Sie!)


Der Antrag der SPD ist unsäglich. Die Linke hat hier den
Begriff des Kommunismus wieder neu in die Debatte ge-
bracht. Wir wollen eben, dass unser demokratischer Ver-
fassungsstaat durch Demokraten geschützt wird. Extre-
mismus kann nicht mit Extremisten bekämpft werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber leider Gottes sind auch einige da, die eher unter
dieses Spektrum fallen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Bär, Sie verstehen es nicht! – Zuruf von der LINKEN: Wer denn, Frau Bär? – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rechten freuen sich darüber!)


– Ja, ich weiß, dass die sich bei Ihrer Strategie freuen.
Wir aber bestärken die Bundesregierung mit unserem
Antrag, bei ihrer Strategie zu bleiben und konsequent
dafür Sorge zu tragen, dass sowohl die Träger von Maß-
nahmen als auch die Partner finanziell unterstützt wer-
den.

Ich wundere mich schon: Wir werden nächste Si-
zungswoche wieder an derselben Stelle zu demselben
Thema sprechen, weil die Grünen und auch die SPD, so-
weit ich weiß, nächste Woche Anträge vorlegen werden,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird wohl noch erlaubt sein!)


etwa „Demokratieinitiative nicht verdächtigen, sondern
fördern – Bestätigungserklärung im Bundesprogramm
‚Toleranz fördern – Kompetenz stärken‘ streichen“,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Tipp!)


weil sie der Meinung sind, man müsse sich nicht zu un-
serem Grundgesetz bekennen.

(Zuruf von der LINKEN: Unsinn!)


Das ist natürlich wirklich unsäglich. Wir werden das
nächste Woche erneut diskutieren. Niemand hat Geld
vom Steuerzahler verdient, wenn er sagt, dass er nicht
auf dem Boden des Grundgesetzes steht, und wenn er
sich nicht zu unserer freiheitlich-demokratischen Grund-
ordnung bekennt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Unsäglich, was Sie da erzählen!)


Sie haben es einfach nicht verstanden, wenn Sie sagen:
Da werden Leute unter Generalverdacht gestellt. – Wenn
unsere Minister hier ihren Eid schwören und auch sagen,
dass sie ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes
widmen werden, dass sie das Grundgesetz und die Ge-
setze des Bundes wahren wollen, dann wird auch keiner
sagen: Warum sollen die das in Zukunft denn machen?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Abgeordneten machen das doch auch nicht! – Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Deswegen muss man ganz ehrlich feststellen, dass sie im
Idealfall am Schluss sagen: So wahr mir Gott helfe. Und
deswegen – –


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708720100

Tut mir leid, Sie müssen zum Schluss kommen, da Sie

leider die Redezeitverlängerung mit Unterstützung des
Kollegen Beck nicht mehr in Anspruch nehmen können.
Sie sind schon über die Zeit.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1708720200

Der macht dann bestimmt eine Kurzintervention,

dann werde ich ihm antworten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss die Präsidentin erst mal zulassen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708720300

Genau. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der

Kollege Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708720400

Nur eine kurze Frage: Wenn Sie es für notwendig er-

achten, dass sich jeder, der Geld von Staat nimmt, zum
Grundgesetz bekennen muss, verlangen Sie das dann
auch von den Zuwendungsempfängern des Bundes der
Vertriebenen und seiner Mitgliedsverbände? Dort gab es
in der Vergangenheit nämlich die einen oder anderen
Ausrutscher. Das wäre dann nur konsequent.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Dass Sie diese Psychose hier auch noch vortragen!)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708720500

Frau Bär, Sie haben das Wort.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1708720600

Ich hätte nicht gedacht, dass wir schon Fasching ha-

ben. Diese Frage muss gar nicht beantwortet werden,
weil die Antwort darauf eine Selbstverständlichkeit ist.
Es ist eine Frechheit, so etwas überhaupt infrage zu stel-
len.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708720700

Das Wort hat der Kollege Rix für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1708720800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Fahrten nach Auschwitz, Zeitzeugengespräche mit
Schülerinnen und Schülern, Podiumsdiskussionen, Aus-
stellungen über Verfolgte im Dritten Reich, Konzerte
und Festivals gegen Rechtsextremismus, Vorträge, De-
mokratiecamps usw., all das sind Aktionen und Projekte,
die aus der Zivilgesellschaft heraus von Bürgerinnen und
Bürgern zum Schutz der Demokratie und zur Förderung
von Toleranz ins Leben gerufen werden. Kirchen, Ge-
werkschaften, Vereine, Verbände, Gruppeninitiativen
und Kommunen beteiligen sich an solchen Aktionen.
Wir, der Bundestag, und natürlich auch die Bundesregie-
rung stellen dafür im Haushalt des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mittel zur Ver-
fügung. Den Menschen ist es wichtig, dass sie für ihr
Engagement Anerkennung bekommen und gewürdigt
werden. Deshalb an dieser Stelle ein Dankeschön an all
diejenigen in der Zivilgesellschaft, die solche Aktionen
durchführen.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir sollten diesen Menschen nicht nur am heutigen
Tag, an dem wir der Opfer des Naziregimes gedenken, in
dieser Debatte oder in unseren Sonntagsreden danken.
Unser Dank sollte sich auch anhand unserer politischen
Tätigkeiten bemerkbar machen. Die Verantwortung, die
wir aufgrund der Geschichte tragen – der Bundestags-
präsident hat das heute deutlich gemacht –, tragen wir
als Bund und als Bundestag natürlich auch. Deshalb ha-
ben wir unter Rot-Grün, unter der Großen Koalition und
auch unter Schwarz-Gelb Mittel für Demokratie und To-
leranz im Bundeshaushalt für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend bereitgestellt. Ich muss Ihnen sagen: Wir
waren positiv überrascht, dass Schwarz-Gelb zumindest
an der Summe nicht viel verändert hat und diese Gelder
auch weiterhin bereitstehen. Ich bin froh, dass wir in die-
sem Hause einen Konsens haben.

Über die Jahre haben sich aber die Programme und
die Ansprüche, die man an die Zivilgesellschaft hat, ver-
ändert. Deshalb werden wir die Programme Jahr für Jahr
neu gestalten. Es ist wichtig, dass wir das gemeinsam
mit der Zivilgesellschaft tun. Das ist bei der Ausarbei-
tung der neuen Programme leider nicht genügend getan
worden. Das kritisieren wir hier an dieser Stelle.

Im Laufe der Jahre ist auch klar geworden, wie sehr
wir Kontinuität brauchen. Das haben wir bereits 2008,
als wir uns um das Thema Antisemitismus gekümmert
haben, festgestellt. Wir brauchen Kontinuität in der För-
derung. Das gilt auch für Projekte gegen Rechtsextre-
mismus. Das ist eine dauerhafte Aufgabe. Deshalb soll-
ten wir uns gemeinsam daranmachen, dies in eine
dauerhafte Finanzierung zu überführen, und den an den
Projekten Beteiligten nicht jedes Jahr Angst machen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Das bedeutet natürlich auch, dass wir Projekte för-
dern. Wir dürfen ihnen nicht unterstellen, im Gegensatz
zu anderen Institutionen, denen wir Geld geben, nicht
auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Denn den-
jenigen, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen
und Projekte starten, das zu unterstellen, ist infam.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Einen letzten Satz noch: Wir diskutieren im Hinblick
auf die sogenannten Extremismusprogramme immer
wieder über die Unterschiede zwischen Links- und
Rechtsextremismus. Uns liegt jetzt ein Antrag der So-
zialdemokraten vor, der sich mit dem Thema Rechts-
extremismus, aber eben nicht mit dem Thema Links-
extremismus beschäftigt. Einen solchen Antrag können
wir gerne jederzeit auch vorlegen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie aber nicht!)


Dies aber miteinander zu vermischen und zu sagen:
„Es sind quasi die gleichen Dinge, die wir mit den glei-
chen Mitteln bekämpfen können“, das geht auf keinen
Fall.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Rechtsextremismus ist eine menschenverachtende
Ideologie. Um dagegenzuhalten, brauchen wir einen
breiten zivilgesellschaftlichen Konsens. Wir brauchen
auch einen breiten Konsens in diesem Hause im Hin-
blick auf effektive Strukturen zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708720900

Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1708721000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir beraten heute unter anderem über einen An-
trag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP,
der es Ihnen und uns als demokratische Fraktionen die-
ses Hauses ermöglicht, einem ganzheitlichen Ansatz im





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

Kampf gegen Extremismus in diesem Land zuzustim-
men. Wenn ich „ganzheitlich“ sage, dann meine ich da-
mit zunächst einmal, dass dieser Antrag die erste Initia-
tive innerhalb der aktuellen Diskussion ist, mit der
ressortübergreifend versucht wird, die bestehenden Pro-
gramme im Familien- und Innenministerium sowie im
Arbeits- und Sozialministerium bestmöglich aufeinander
abzustimmen


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein absoluter Unsinn! Als ob das nicht schon gemacht worden wäre!)


und Verbesserungspotenzial aufzuzeigen, um Reibungs-
verluste oder Doppelungen zu vermeiden und so die
bestmögliche Aufstellung gegen Extremismus zu errei-
chen. Allein das zeigt, wie ernst wir dieses Thema neh-
men.


(Beifall bei der FDP)


Wenn ich „ganzheitlich“ sage, meine ich aber auch,
dass wir uns allen Gefahren für unsere Demokratie ent-
gegenstellen müssen. Es ist nicht einmal eine Woche her,
dass das Plenum des Deutschen Bundestages über die
Äußerungen der Parteivorsitzenden der Linken diskutiert
hat, die nach neuen Wegen zum Kommunismus sucht.
Wir alle – SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP – waren uns
einig, dass diese neuen Wege zum Kommunismus am
Ende immer zu Gewalt, Unterdrückung und weg von all
dem führen werden, was uns als Demokraten am Herzen
liegt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich habe mich über die Einigkeit, die wir an dieser Stelle
erreichen konnten, gefreut. Deswegen bitte ich Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Grünen und SPD: Zeigen
Sie heute Mut und Verantwortung, indem Sie sagen, dass
das Handeln der Koalition, nämlich gegen die Gefahren
des Linksextremismus, aber eben auch des religiösen
Extremismus im Rahmen der Präventionsarbeit anzuge-
hen, genau der richtige Weg ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dass die Linke dem nicht zustimmen kann, kann ich gut
verstehen. Wenn es uns nämlich tatsächlich gelingt,
junge Menschen für Demokratie, Toleranz und Vielfalt
zu begeistern, dann sind sie eben weniger empfänglich
für die unbefleckte Utopie, die Ihre Parteivorsitzende zu
verkaufen versucht.

Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ver-
lieren Sie sich doch in dieser Frage bitte nicht in philoso-
phischen Debatten, was wir mit Linksextremismus mei-
nen, wo er anfängt und wo wir da die Grenze ziehen –
nach dem Motto „Können Sie das definieren, Herr
Bernschneider?“.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch spannend!)


Ich hatte das Gefühl, dass wir uns am vergangenen
Freitag sehr einig darin waren, wo wir da die Grenze zu
ziehen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen lade ich Sie ein: Lassen Sie uns gemeinsam
darüber sprechen, welche Initiativen und Programme wir
brauchen, um den Gefahren von Linksextremismus und
religiösem Extremismus bestmöglich zu begegnen.
Schauen Sie nicht länger weg, wenn Frau Lötzsch beim
kommunistischen Kaffeekränzchen sitzt und draußen
vor der Tür wehrlose Demonstranten zusammengeschla-
gen werden!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich sage aber auch: Nehmen Sie die Aufrufe von Isla-
misten bei YouTube genauso ernst wie rechte Schulhof-
CDs!


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind aber unterschiedliche Gefährdungen!)


Am Ende möchte ich noch auf einen Punkt eingehen,
den wir in den Debatten über Prävention viel zu selten
ansprechen. Die Aussicht auf Arbeits- und Ausbildungs-
plätze und auf Wachstum, das am Ende auch sozialen
Aufstieg ermöglicht, ist ein weiteres gutes Mittel gegen
Extremismus.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bildung, Arbeit und Ausbildung sind wichtige Voraus-
setzungen für Teilhabe in der Gesellschaft. Diese Teil-
habe wirkt am Ende wie ein Anker in der Mitte unserer
Gesellschaft und ist damit ein gutes Mittel gegen Extre-
mismus. Ganz gleich, von wem der aktuelle wirtschaftli-
che Aufschwung kommt, von Rot-Grün mit den mutigen
Arbeitsmarktreformen von Herrn Schröder, von denen
die SPD sowieso nichts mehr wissen will, von der Gro-
ßen Koalition oder von uns: Wir als Fachpolitiker im Be-
reich Prävention können froh darüber sein; denn er ist
ein gutes Mittel in der Präventionsarbeit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708721100

Das Wort hat der Kollege Korte für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708721200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es war wieder einmal dieselbe Platte; es wird langsam
ein bisschen eintönig.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ihr könnt sie wohl nicht mehr hören!)


Um eines klarzustellen: Die Verhältnisse infrage zu stel-
len und Armut und Reichtum zu thematisieren, ist drin-
gend notwendig, aber kein Extremismus. So viel zu Ih-
rem Gelaber.


(Beifall bei der LINKEN)


Zunächst will ich im Namen der Linksfraktion herz-
lich Dank sagen für die couragierte Arbeit der Projekte,





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

Vereine und Verbände, die hervorragend und unter gro-
ßem persönlichem Einsatz für die Zivilgesellschaft strei-
ten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heute liegen zwei Anträge vor: zum einen ein Antrag
der Koalitionsfraktionen, der eher ideologisch ausge-
richtet ist,


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das müsst Ihr gerade sagen!)


und zum anderen ein Antrag der SPD-Fraktion, der die
Sache trifft und deswegen unsere volle Unterstützung er-
halten wird.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Die Vermischung verschiedenster Programme und
Ansätze sowie eine von Ihnen geschaffene Misstrauens-
kultur sind falsch und im Übrigen auch wissenschaftlich
nicht haltbar.


(Zuruf von der CDU/CSU: Von der KarlMarx-Universität oder von welcher Wissenschaft?)


Deswegen ein Ratschlag: Lesen ist sinnvoll!


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Wenn man diese wissenschaftlichen Erhebungen von
Heitmeyer und anderen ernst nimmt, kann man feststel-
len, dass Rassismus, Antisemitismus und andere men-
schenfeindliche Strömungen nicht nur Phänomene am
Rand der Gesellschaft sind, sondern dass man sie ebenso
in der Mitte der Gesellschaft finden kann. Das ist das
Kernproblem. Deswegen hat Gesine Schwan natürlich
recht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Gesine Lötzsch auch?)


Ich darf sie zitieren:

Wie irreführend die Verwendung des Extremismus-
begriffs ist, kann man u. a. an den neuesten empiri-
schen Befunden zum Rechtsextremismus erkennen,
die diese antidemokratische Einstellung soziolo-
gisch eben nicht an den „extremen Rändern“ der
Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte vorgefunden
haben.

Das sollte uns doch umtreiben und nicht zu solchen ideo-
logischen Spielchen führen.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Dazu will ich Folgendes sagen – das ist im Moment
Ihre Dauerplatte; eine andere haben Sie nicht mehr –: Es
ist in Ordnung, wenn Sie sich mit uns auseinandersetzen,
uns beschimpfen und uns gewisse Dinge unterstellen.

Sie setzen sich gern mit der Linkspartei auseinander.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nun mogelt euch mal nicht in die Opferrolle rein!)

Dafür gibt es ein paar Indizien. Das alles können Sie
gern tun. Das ist Demokratie. Da muss man halt durch.
Nutzen wird es Ihnen im Übrigen nichts. Es ist jedoch
nicht akzeptabel, dass Sie dieses Spielchen bei der Aus-
einandersetzung mit der Linken auf dem Rücken von
Projekten und Initiativen austragen; das geht nicht.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen freue ich mich darüber, dass heute – die Pres-
seerklärung ist eben verschickt worden – die Sozialsena-
torin des Landes Berlin, Carola Bluhm, Rechtsmittel ge-
gen Ihre sogenannte Demokratieerklärung eingelegt hat.
Ich hoffe, sie wird erfolgreich sein.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Fassen wir zusammen: Man muss um eine Langfris-
tigkeit der Projekte kämpfen und die Angestellten aus ei-
ner temporären Prekarität herausholen. Das wurde im
SPD-Antrag richtig aufgelistet. Das unterstützen wir.
Das ist eine ganz entscheidende Frage. Sorgen wir alle
gemeinsam dafür, dass nicht immer wieder am Beginn
eines neuen Jahres die Finanzierung infrage gestellt
wird! Gestatten Sie einen guten Hinweis, um die Zivil-
gesellschaft zu stärken: Verballern Sie das Geld nicht für
Junge-Union-Kaffeefahrten zu besetzten Häusern nach
Berlin! Das ist völlig sinnlos.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist billig! Echt billig! Billiger Populismus!)


Eine Frage interessiert mich; vielleicht wird sie noch
beantwortet. Ich bin offen und nicht ideologisch wie Sie.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie empirische Befunde liefern, denke ich darüber
nach. Mich interessiert, wo Sie eigentlich Islamismus im
ländlichen Raum ausgemacht haben und wo Sie dort
Gelder aufwenden. Wenn ich das weiß, diskutiere ich
diese Fragen auch weiter mit Ihnen. Uns geht es hier
nicht um Ideologie wie Ihnen,


(Lachen bei der FDP – Zurufe von der CDU/ CSU)


sondern uns geht es um eine engagierte Zivilgesell-
schaft.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708721300

Das Wort hat die Kollegin Lazar für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708721400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach der beeindruckenden Gedenkstunde heute Morgen
habe ich gehofft, dass diese Diskussion auf einem ande-
ren Niveau stattfindet. Ich beginne mit dem Positiven.
Schön ist, dass jetzt von allen Fraktionen in diesem





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)

Hause Anträge zur Demokratiestärkung vorliegen. Ein
Vergleich zeigt, dass es durchaus gemeinsame Ansätze
gibt. Das ist positiv. Aber es gibt natürlich gravierende
Unterschiede; das zeigt die Diskussion. Sie sind bekannt.

Das Themenfeld ist wichtig und brisant. Ein geeintes
Vorgehen, auch im Parlament, wäre wünschenswert.
Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz und eine
freie Entfaltung der Persönlichkeit sollten in unserer Ge-
sellschaft für alle gegeben sein. Dieses Ziel wird von al-
len hier selbstverständlich geteilt. Doch zu viele Men-
schen in unserem Land teilen dies nicht. Es ist nicht nur
so, dass die NPD und ihre Verbündeten in Landtagen
und Kommunalparlamenten vertreten sind und – wie die
Statistik zeigt – die rechte Gewalt auf hohem Niveau
bleibt, sondern es gibt auch Orte in unserem Land, in de-
nen die Rechtsextremen das öffentliche Bild maßgeblich
prägen. Ein Beispiel ist das Dorf Jamel in Mecklenburg-
Vorpommern, in dem der Rechtsextremismus zum All-
tag gehört. Dort lebt Sven Krüger, der zum NPD-Kader
gehört und mit seinen Kameraden versucht, das Dorf
aufzukaufen. Unerwünschte, die nicht ausziehen wollen,
werden terrorisiert. Derartige Zustände findet man zu-
meist in ländlichen und strukturschwachen Gegenden
vor.

Orte, in denen vermeintlich Linksextreme oder Isla-
misten das gesamte öffentliche Leben dominieren, kenne
ich nicht. Deshalb ist es überhaupt nicht nachvollzieh-
bar, dass die Koalition in ihrem Antrag Rechts- und
Linksextremismus in einem Atemzug nennt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Immerhin gesteht sie in einem Halbsatz zu, dass „die
Mehrheit der extremistischen Kriminalität ihren Ur-
sprung im ‚rechten‘ Milieu hat“. Doch leider geht sie
dem Problem nicht auf den Grund, sondern schwenkt
wieder zu altbekannten Extremismusformen über.

Es ist aber dringend notwendig, die Unterschiede zu
benennen. Sonst kommen praxisferne Konzepte dabei
heraus, und man stellt Verbündete unter Verdacht. Ein
Indiz dafür ist die heute schon zitierte sogenannte Extre-
mismuserklärung, die Initiativen und Kommunen, die
Fördermittel von Bund und einigen Ländern haben wol-
len, unterzeichnen und so für sich und ihre Partner ver-
bindlich versichern müssen, auf dem Boden des Grund-
gesetzes zu stehen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „So wahr mir Gott helfe“ muss man wahrscheinlich auch sagen!)


Wie macht man das? Ein kleiner Tipp der Ministerin
Schröder, den sie in der gestrigen Sitzung des Familien-
ausschusses gab: Man soll seine Partner googeln. – Ich
finde das armselig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Diese Klausel ist ein Misstrauensvotum gegen die Zi-
vilgesellschaft und völlig unnötig. Das Bekenntnis zur
Demokratie ist nicht das Schlimme. Wenn schon eine
solche Erklärung unterzeichnet werden muss, dann sol-
len sich bitte auch andere – das hat der Kollege Beck
vorhin erwähnt –, zum Beispiel der Bund der Vertriebe-
nen, zur Demokratie erklären. Es geht um das Miss-
trauen gegenüber den Initiativen, die auch noch ihre
Partner ausspionieren sollen. Das ist rechtlich fragwür-
dig und praktisch kaum umsetzbar.

Eine Blüte der Absurdität trieb das Verfahren in der
sächsischen Stadt Riesa, die Fördermittel beantragt hat
und sich jetzt zur Verfassung bekennen muss.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Der Riesaer Finanzbürgermeister zeigte sich zu Recht ir-
ritiert, weil er sich mit seiner Unterschrift automatisch
auch für die Grundgesetztreue der NPD-Stadträte ver-
bürgen musste. Liebe Koalitionskolleginnen und -kolle-
gen, das ist doch kontraproduktiv. Liebe Kollegen von
der Koalition, ein solches Verfahren ist eine Farce und
ist völlig an den Haaren herbeigezogen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Bündnis 90/Die Grünen stehen auf der Seite der
Kommunen und der zivilgesellschaftlichen Initiativen,
die sich mutig und engagiert gegen Rassisten und Anti-
semiten stellen. Wir vertrauen diesen Akteuren und un-
terstützen sie. Wir freuen uns, dass sich in diesem Punkt
alle Oppositionsfraktionen einig sind. Eine solche Unter-
stützung würde ich mir auch von den Koalitionsfraktio-
nen wünschen.

Über den Antrag der Grünen und den der Linksfrak-
tion haben wir hier schon vor einigen Wochen diskutiert.
Heute reden wir nicht nur über den Koalitionsantrag,
sondern auch über den Antrag der SPD, den wir für un-
terstützenswert halten.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was?)


Erfolg können unsere Vorschläge allerdings nur haben,
wenn sie in eine gesamtgesellschaftliche Demokratie-
initiative eingebunden sind. Dazu gehört, dass sich De-
mokratinnen und Demokraten nicht gegenseitig des
Extremismus verdächtigen, sondern vertrauensvoll zu-
sammenwirken. Ich wünsche mir und hoffe gerade an
diesem Tag, dass wir in den Beratungen zu tragfähigen
Ergebnissen kommen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708721500

Der Kollege Pols hat für die Unionsfraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1708721600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2009
gab es insgesamt circa 25 000 politisch motivierte Straf-
taten in Deutschland. Das sind für uns 25 000 Gründe,





Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)

den Extremismus weiter zu bekämpfen. Nach wie vor
stellt der Rechtsextremismus eine große gesellschaftli-
che Bedrohung dar. Zwar ist das Personenpotenzial der
rechtsextremen Szene nach Erkenntnissen des Verfas-
sungsschutzes zurückgegangen, aber deshalb dürfen wir
im Kampf gegen Rechtsradikale nicht nachlassen.

Wir haben im vergangenen Jahr die beiden Pro-
gramme „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz
und Demokratie“ und „kompetent. für Demokratie – Be-
ratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ auslaufen
lassen. Wir haben – Frau Bär hat das schon gesagt –
5 000 Einzelprojekte gefördert und weit über 2 Millio-
nen Menschen damit erreicht. Im Abschlussbericht steht
sogar, dass hier von vielversprechenden Modellprojek-
ten auszugehen ist. An dieser Stelle sage auch ich Dank
an alle Initiativen, die dazu ihren Beitrag geleistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diesen guten Weg wollen wir fortsetzen. Wir als christ-
lich-liberale Koalition wollen ab 2011 diese Programme
unter einem Dach – dem Bundesprogramm „Toleranz
fördern – Kompetenz stärken“ – weiterführen. Wir wer-
den in diesem Jahr 24 Millionen Euro allein für den
Kampf gegen Rechtsextremismus zur Verfügung stellen.

Auch halten wir als christlich-liberale Koalition an
der Extremismusklausel für die Projektträger fest. Wir
wollen verhindern, dass sich extreme Kräfte unter dem
Deckmantel des Antifaschismus Steuergelder erschlei-
chen und damit ihren Kampf gegen unseren Staat finan-
zieren.


(Sönke Rix [SPD]: Absurd! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gilt das für alle!)


Ein klares Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung sollte für Initiativen, die sich dem Kampf
gegen politischen Extremismus verschrieben haben, eine
Selbstverständlichkeit sein, Frau Lazar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Sönke Rix [SPD]: Eben!)


Dies hat überhaupt nichts mit Misstrauen zu tun.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Der Steuerzahler hat ein Recht darauf, zu wissen, wohin
sein Geld geht und dass es für ihn ausgegeben wird und
nicht gegen ihn.


(Sönke Rix [SPD]: Dann überall!)


„Linke Gewalt erlebt eine Renaissance“, stellte der
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herr
Fromm, in einem Interview mit der Berliner Zeitung
fest. Dass dies so ist, belegen nicht nur zahlreiche von
linken Chaoten gelegte Pkw-Brände in den Großstädten
und auch in der Provinz, in meiner Heimatstadt, sondern
dies wird auch und vor allem durch einen massiven An-
stieg der Zahl linker Gewalttaten belegt. Wir dürfen den
Linksextremismus nicht unterschätzen. Er ist – wie auch
der Rechtsextremismus – kein Randphänomen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mit der Initiative „Demokratie stärken“ wird deshalb die
Extremismusprävention des Bundesfamilienministeriums
auf die Bereiche Linksextremismus und islamistischer
Extremismus erweitert. Dafür werden weitere 5 Millio-
nen Euro zur Verfügung gestellt. Die Ausweitung des
Programms auf andere Extremismusarten bedeutet im
Übrigen nicht, liebe Freunde von der SPD, dass der
Rechtsextremismus dadurch automatisch verharmlost
wird, wie Sie es in Ihrem Antrag behaupten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Falsch!)


Die SPD bleibt in ihrem Antrag leider die Antwort
schuldig, wie sie gegen Linksextremismus und Islamis-
mus vorgehen will. Auch wenn Sie in drei Ländern in
der Bundesrepublik mit der Partei koalieren, die dem
Kommunismus zum Comeback verhelfen will, liegt es
doch bestimmt nicht in Ihrem Interesse, dass links-
extreme Ideologien in Deutschland wieder Fuß fassen.


(Sönke Rix [SPD]: Was ist denn für Sie Linksextremismus?)


Deutschland ist schon länger im Visier islamistischer
Terroristen. Dies haben uns die Schreckensmeldungen
über die Bedrohungslage in Deutschland vom vergange-
nen Herbst noch einmal deutlich gemacht. Selbst der
Reichstag, in dem wir heute diskutieren, ist zum gefähr-
deten Ort geworden. Diese Bedrohung ist nicht nur eine
Bedrohung von außen, sondern auch von innen. Islamis-
mus gibt es ebenso wie Links- und Rechtsextremismus
innerhalb unserer Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass
das Bundesinnenministerium im Sommer 2010 das Aus-
steigerprogramm HATIF gestartet hat. Ich bin vor allem
dankbar, dass muslimische Organisationen in unserem
Land dies nach Kräften unterstützen.

Wie kommt es zu Extremismus? Herr Bernschneider
hat dies kurz angesprochen. Extremismus hat seinen
Nährboden in Perspektivlosigkeit. Junge Menschen brau-
chen eine Perspektive; denn das macht sie immun gegen
totalitäre Ideologien. Dazu bedarf es zuallererst einer so-
liden Finanz-, Wirtschafts- und Bildungspolitik, wie sie
von der christlich-liberalen Koalition gestaltet wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So eine Plattitüde!)


Aber auch damit erreichen wir nicht alle Menschen in un-
serer Gesellschaft. Bei vielen Jugendlichen ist die rassis-
tische und antidemokratische Ideologie schon sehr ver-
festigt. Von heute auf morgen werden sie ihre Gesinnung
sicherlich nicht ablegen. Hier setzen wir auf das Pro-
gramm „Xenos – Leben und Arbeiten in Vielfalt“ und das
Xenos-Sonderprogramm „Ausstieg zum Einstieg“. Ju-
gendliche und junge Erwachsene, darunter auch Ausstei-
ger, sollen mit berufsbezogenen Maßnahmen wieder in





Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)

den Arbeitsmarkt integriert werden. Dabei werden sie mit
Maßnahmen für Toleranz, Demokratie und Vielfalt be-
gleitet. Hier können wir uns gut eine Förderung aus dem
Europäischen Sozialfonds vorstellen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist es doch!)


Junge Menschen müssen gegen extremistische und
totalitäre Ideologien aus allen Richtungen immun wer-
den.


(Sönke Rix [SPD]: Aber von oben!)


Mit unserem Antrag verfolgen wir deshalb einen ganz-
heitlichen Ansatz. Ich finde es schade, Herr Rix, dass in
dem Antrag der SPD Linksextremismus und Islamismus
nicht aufgegriffen werden. Ich glaube, hier sind Sie ein
bisschen zu kurz gesprungen. Es ist richtig und wichtig,
null Toleranz gegen Extremismus jeglicher Art zu ha-
ben. Das sollte Konsens aller demokratischen Fraktionen
in diesem Hause sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708721700

Das Wort hat die Kollegin Kolbe für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1708721800

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich war gestern Po-
diumsgast auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-
Stiftung zur FES-Studie „Die Mitte in der Krise“. Diese
Veranstaltung war sehr gut besucht. Bei den Teilnehmen-
den hat sich angesichts der Zahlen dieser Studie eine pes-
simistische bis irritierte Stimmung breitgemacht. In der
Bevölkerung gibt es Zustimmungsraten von 30 Prozent
und mehr bei rassistischen, ausländerfeindlichen Aussa-
gen. Die Zustimmung zu chauvinistischen, antisemiti-
schen Aussagen ist eklatant hoch. Ebenso erschreckend
ist die Zustimmung zur Verherrlichung der NS-Diktatur.

Ich habe versucht, dieser pessimistischen Stimmung


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Wirtschaftsaufschwung von SchwarzGelb!)


ein bisschen Optimismus entgegenzusetzen. Ich bin
nämlich der Auffassung, dass die Gesellschaft und wir in
der Politik in der Tat etwas gegen diese manifesten Ein-
stellungen in der Mitte der Gesellschaft tun können.


(Beifall bei der FDP)


Das können wir durch die Förderung der Beteiligung
und mehr Demokratie erreichen. Laut der Studie haben
nämlich 90 Prozent der Bevölkerung den Eindruck, dass
sie Politik nicht mitgestalten können. Wir können es aber
auch durch gute politische Bildung, durch Programme,
die die Zivilgesellschaft stärken, erreichen; denn – das
ist meine persönliche Erfahrung und vielleicht auch die
Erfahrung anderer – die Nazis sind insbesondere dort
stark, wo die Zivilgesellschaft schwach ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sind die Programme, die Rot-Grün ins Leben
gerufen hat, die die Große Koalition fortgeführt hat und
die auch Sie fortsetzen wollen, so positiv zu bewerten.
Ich möchte Ihnen zugestehen und positiv hervorheben,
dass Sie genau das erkannt haben.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem wird gekürzt!)


Schön an Ihrem Antrag fand ich auch, dass Sie gerade
die Bundeszentrale für politische Bildung


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und trotzdem wird gekürzt!)


als einen Initiator von sehr guter politischer Bildung be-
wertet haben. Ich hoffe daher, dass wir alle gemeinsam
in den nächsten Haushaltsberatungen gegen die ange-
kündigten Kürzungen des Innenministeriums streiten
wollen. Die Mittel für die Bundeszentrale sollen auf den
Stand von vor der Wiedervereinigung gekürzt werden.
Wenn Sie es mit Ihrem Engagement gegen Extremismus
wirklich ernst meinen, dann lassen Sie uns bitte gemein-
sam dagegen einsetzen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei all dem Positiven gibt es im Bereich „Kampf ge-
gen Rechtsextremismus“ zwei Dinge, die mir Sorgen ma-
chen. Das eine klingt ein wenig wie eine Krankheit: Pro-
jektionitis. Die herrscht nämlich, wenn es um Förderung
im Kampf gegen Rechtsextremismus geht. Unglaublich
gute Träger, die bereits seit Jahren eine sehr gute, nach-
haltige Arbeit machen, hüpfen von Programm zu Pro-
gramm und haben nicht die Möglichkeit, eine stetige Fi-
nanzierung zu erhalten. Das betrifft auch Träger, die nicht
nur in einem Bundesland, sondern bundesweit aktiv sind.
Wir haben in unserem Antrag Vorschläge gemacht, wie
wir etwas dagegen tun können.

Als weiteres Problem sehe ich den Diskurs. Ihre
Ministerin und auch die Koalition bestehen offenbar da-
rauf, in jedem Satz, in dem das Wort „Rechtsextremis-
mus“ vorkommt, auch die Begriffe Linksextremismus,
Ausländerextremismus – oder was auch immer – unter-
zubringen. Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, dass Sie
Links- und Rechtsextremismus gleichsetzen wollen. Bei
vielen Leuten kommt es allerdings genauso an. Nicht nur
das: Sie manifestieren den Eindruck, dass es sich bei Ex-
tremismus und insbesondere beim Rechtsextremismus
um ein randständiges Problem handelt, das nur an den
Enden der Gesellschaft vorkommt. Aber gerade die
„Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung widerspre-
chen dem. Wir haben heute den 27. Januar. An diesem
Tag gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus.
Man kann aus der Geschichte, aus dem, was damals aus
der Mitte der Gesellschaft heraus passiert ist, durchaus
etwas lernen, und genau das tun die Träger, die Sie mit
einer „Demokratieerklärung“ hier unter Generalverdacht
stellen.





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sie stellen Parallelen her!)


Diese Träger fördern Demokratie


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und arbeiten gegen Menschenfeindlichkeit. Sie beraten
Opfer und Kommunen. Bitte tun Sie alles, damit diese
Träger weiterhin ihre Arbeit verrichten können. Sie ver-
lieren hier viele schöne Worte über die Träger, aber mit
Ihren Taten diskreditieren Sie sich selbst.


(Beifall bei der SPD, der Linken und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708721900

Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1708722000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich bin an einem solchen Tag nach wie vor be-
stürzt, wenn ich lese, dass in Deutschland etwa 15 Pro-
zent der Menschen auf die Frage, ob Juden in dieser Ge-
sellschaft zu viel Einfluss haben, eine positive Antwort
geben. Das Phänomen des Antisemitismus ist in unserer
Gesellschaft leider – das muss man an einem solchen
Tag einmal sagen – nach wie vor weit verbreitet. Deswe-
gen ist es mein Anliegen – so mein Appell –, genauer zu
schauen, wo Antisemitismus, Extremismus und Rassis-
mus ihre Wurzeln haben.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, uns auch!)


Ich gestehe, dass mich die heutige Debatte in dieser
Hinsicht etwas enttäuscht hat. Es ist einfach schade, dass
man in das klassische Links-rechts-Schema verfällt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verfallen in das Schema!)


Es ist schade, dass man sich nicht traut, genau hinzu-
schauen, wo Straftaten und Mentalitäten auftreten, die
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung diametral
zuwiderlaufen.

Die Ebene der Straftaten ist nur eine Ebene. Ich kann
Ihnen sagen: Ich bin mehrfach Opfer linksextremer Ge-
walt geworden. Dann redet man über ein solches Thema
anders, als wenn man einfach das Gefühl hat, die Men-
schen täten einem nichts.


(Sönke Rix [SPD]: Das stimmt ja gar nicht!)


Die Geschäftsstelle in meinem Wahlkreis ist zerstört
worden. Ich bin bedroht worden, weil ich hier ein be-
stimmtes Abstimmungsverhalten an den Tag gelegt
habe. Ich bitte Sie, gerade die Vertreter der Grünen und
der SPD, eindringlich: Verschließen Sie nicht die Au-
gen! Keiner will das schlimme Phänomen des Rechts-
extremismus in irgendeiner Form verniedlichen; keiner
will so tun, als ob das nicht das vorrangige Problem sei.
Wir müssen aber einfach einen realistischeren Blick auf
all diese Gegebenheiten richten, als Sie es leider in die-
ser Debatte – vielleicht mit Ausnahme der letzten Red-
nerin der SPD – getan haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Infam ist das! Das hat keiner in seiner Rede getan!)


Ich verstehe, dass die Bekämpfung der rechtsextre-
men Gesinnung gerade in Ihren Parteien, die große Ver-
dienste bei der Bekämpfung dieser Gesinnung erworben
haben, deren Mitglieder oft auf die Straße gegangen sind
und sich bei Demonstrationen persönlich eingesetzt ha-
ben, die Wurzel des Kampfes gegen Extremismus dar-
stellt. Aber schauen Sie bitte hin! Schauen Sie hin, wenn
Straftaten geschehen, wenn es Überzeugungen gibt, die
weit über das hinausgehen, was wir auf linker Seite ak-
zeptieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir seit Jahren! Sie müssen das machen! – Sönke Rix [SPD]: In welcher Zeile haben wir denn etwas anderes gesagt?)


Bitte hören Sie auf, Anträge zu stellen, in denen ein ein-
seitiger und empirisch nicht fundierter Extremismusbe-
griff auftaucht.


(Sönke Rix [SPD]: Was ist denn für Sie linksextrem?)


– Das ist eine interessante Frage.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann beantworten Sie sie!)


Das Phänomen des Linksextremismus in Deutschland ist
durchaus sehr disparat. Ich gebe Ihnen recht: Es ist nicht
die Übertragung der Mittel von rechts auf links; es sind
andere Milieus.


(Sönke Rix [SPD]: Genau!)


– Ja. Das heißt aber nicht, dass es diese Milieus nicht
gibt.


(Sönke Rix [SPD]: Die muss man auch anders bekämpfen!)


– Ja, man muss sie auch anders bekämpfen. Dafür muss
man dieses Phänomen zur Kenntnis nehmen und es ernst
nehmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Das bestreitet doch keiner!)


Ich komme zum Schluss. Ich würde mich freuen, ein-
mal sachlich und ruhig darüber zu reden. Vielleicht ist
der Ausschuss dafür der bessere Ort; dann müssen Sie
nicht diese Bekenntnisse ablassen. Die Linke hat sich in
der Debatte leider, wie so häufig, völlig diskreditiert;
aber von ihr war auch nicht mehr zu erwarten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708722100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4432 und 17/3867 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach
2013 – Förderung auf nachhaltige, bäuerliche
Landwirtschaft ausrichten

– Drucksache 17/4542 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach
2013 weiterentwickeln

– Drucksache 17/2479 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Versetzen wir uns doch einmal in das Jahr
2020 und fliegen über die ländlichen Räume Europas!
Was sehen wir unter uns? Sehen wir vielfältige Land-
schaften, gegliedert durch Hecken, Bäume, Bäche und
Dörfer, vielseitige Feldfrüchte, Wiesen und Weiden, be-
lebt von Tieren?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ich sehe jede Menge Rapsfelder vor mir!)


Oder sehen wir in den fruchtbaren Gebieten vor uns aus-
geräumte Landschaften, Maismonokulturen, hier und da
eine Tierfabrik, die weniger fruchtbaren Gebiete verödet
und ehemals grüne Mittelgebirge verbuscht und verwal-
det?

Beides ist möglich. In den nächsten Monaten werden
die Weichen dafür gestellt, welche Richtung die Ge-
meinsame Agrarpolitik und damit die Landwirtschaft in
Europa nach 2013 nehmen wird. Bäuerliche Landwirt-
schaft oder Agrarindustrie? Das ist die Frage, über die
wir hier heftig streiten, weil sie keine Geschmacksfrage,
sondern die landwirtschaftliche Zukunftsfrage ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Spätestens seit dem Dioxinskandal pfeifen doch die
Spatzen von den Dächern, dass etwas faul ist im Staate
Sonnleitner,


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Ihre Witze waren auch schon mal besser!)


dass die alte Agrarpolitik an ihr Ende gekommen ist und
dass es Zeit ist für einen Neuanfang, Zeit für die Agrar-
wende 2.0.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Frau Künast!)


Die Entscheidung der Bundeskanzlerin, als Antwort
auf die Dioxinkrise Herrn Kollegen Bleser, der wie
kaum ein anderer die Kumpanei zwischen CDU, Groß-
genossenschaft und Bauernverband verkörpert, zum
Staatssekretär im BMELV zu machen, ist entweder
dumm oder dreist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708722200

Kollege Ostendorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Bleser?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage noch einen Satz; dann haben wir den Zusam-
menhang, damit der Kollege Bleser alles bearbeiten
kann. – In jedem Fall zeigt es uns, dass die CDU die Zei-
chen der Zeit nicht einmal ansatzweise verstanden hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt der Kollege Bleser.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708722300

Bitte.


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1708722400

Herr Kollege Ostendorff, können Sie mir sagen, wa-

rum Sie so verbittert sind und gegen die Genossenschaf-
ten wettern, die im vorletzten Jahrhundert als Notge-
meinschaften der Bauern gegründet wurden und in
denen die Landwirte – etwa in Molkereigenossenschaf-
ten oder Warengenossenschaften – ihren Absatz selbst
organisieren? Halten Sie es für falsch, dass in den Füh-
rungsgremien dieser Genossenschaften nicht Vertreter
von irgendwelchen Kapitalgesellschaften sind, sondern
Bauern, die für ihre Mitglieder dafür sorgen, dass das
entsprechende Geschäftsgebaren eingehalten wird?





Peter Bleser


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gestatten Sie, Herr Kollege Bleser, dass ich Ihre Fra-
gen in umgekehrter Reihenfolge beantworte. Ja, ich halte
es für falsch, dass gewählte Vertreter der Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes gleichzeitig interessengelei-
tete Aufsichtsratsvorsitzende in sehr großen Genossen-
schaften sind. Das halte ich in der Tat für falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schon aus politischer Hygiene sollten wir eine gewisse
Distanz an den Tag legen und uns entscheiden, ob wir
Interessenvertreter einer Genossenschaft, eines Wirt-
schaftsunternehmens sind oder ob wir unseren Auftrag
gegenüber dem deutschen Volk wahrnehmen.


(Abg. Peter Bleser [CDU/CSU] nimmt wieder Platz)


– Ich bin noch nicht fertig. Bitte bleiben Sie noch stehen.
Sonst kann ich Ihre erste Frage nicht beantworten. –
Jetzt läuft aber meine Redezeit schon wieder.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708722500

So ist es; denn ich kenne die Großzügigkeit, mit der

bei Zwischenfragen wechselseitig gerne gearbeitet wird.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gut, dann antworte ich in meiner Redezeit.

Ja, ich bin Genosse. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.
Ich habe im letzten Jahr mit 49 anderen Bäuerinnen und
Bauern eine neue Genossenschaft gegründet.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Dann sind Sie auch interessengeleitet!)


Das ist eine Genossenschaft, in der alle mitreden und
alle etwas zu sagen haben. Den Filz, Herr Bleser, den Sie
und Leute wie Sie verkörpern, haben die Leute aber end-
gültig satt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Niemals zuvor sind in Deutschland wie am Samstag
20 000 Menschen mit dem Motto „Wir haben es satt!“
auf die Straße gegangen, weil sie eine andere Landwirt-
schaft und eine andere Agrarpolitik wollen. Nie zuvor
gab es ein so breites Bündnis gesellschaftlicher Grup-
pen, die wollen, dass aus dem Subventionsbetrieb Agrar-
politik ein Gestaltungsinstrument für Europas Land-
schaft und Landwirtschaft wird, ein starkes Instrument
für gesunde Ernährung, fairen Handel und lebendige
Dörfer.

Der Vorschlag von EU-Kommissar Ciolos für eine
Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik liegt auf dem
Tisch.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!)

Ob es ein großer Schritt vorwärts oder ein Schritt in die
Vergangenheit wird, hängt entscheidend davon ab, wie
sich Deutschland verhält. Bisher zeigen Sie wenig Mut
und reden den Ewiggestrigen das Wort.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach du grüne Neune!)


Bisher ist Deutschland der schwerste Klotz am Bein der
Reformkräfte. Die Bundesregierung ist leider auch hier
wieder auf dem besten Weg, eine historische Reform zu
verhindern,


(Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


weil sie nicht den Willen und den Mumm hat, dem alten
System Paroli zu bieten,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie bitte? Wer war denn der Vorreiter bei der letzten Reform? Frau Künast?)


jenem System, das uns gerade wieder Gift in Eiern auf-
getischt hat.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wer war denn der Vorreiter bei der letzten Reform?)


Nein, meine Damen und Herren, Rumeiern gilt heute
nicht mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wer jetzt den Bäuerinnen und Bauern und den Bürgerin-
nen und Bürgern sagt, dass alles so bleiben kann, wie es
ist, der muss auch ehrlich sein und sagen, was das be-
deutet. Das bedeutet: kein Klimaschutz, kein Tierschutz,


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: So ein Quatsch!)


kein Artenschutz, kein Wasserschutz, keine Kühe auf der
Weide, keine Bauernhöfe, keine internationale Fairness,
kein Ende der Lebensmittelskandale, keine gemeinsame
Perspektive für das ländliche Europa.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns eine mutige
Agrarreform wagen, damit der ländliche Raum eine
große Zukunft hat!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708722600

Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Josef Rief für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Josef Rief (CDU):
Rede ID: ID1708722700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Der Koalition ist an einer zukunftsgerechten Weiter-
entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik gelegen. Ja,
wir werden alles tun, damit die Landwirtschaft, der länd-
liche Raum Zukunft behält. Wir sind selbstverständlich
für eine europäische Landwirtschaft im Wettbewerb, die
nicht nur die europäische Bevölkerung sicher mit Nah-





Josef Rief


(A) (C)



(D)(B)

rungsmitteln versorgt, sondern auch einen Beitrag zur
Welternährung und zur umweltgerechten Energieversor-
gung liefert.


(Ulrich Kelber [SPD]: Am besten durch eine Verminderung des Imports von Futtermitteln!)


Was wäre denn die Alternative? Die Vorschläge der
SPD und der Grünen würden zu geringeren Direktzah-
lungen für die deutschen Bauern führen und die bürokra-
tischen Lasten für die Betriebe zusätzlich erhöhen. Des-
halb lehnen wir diese Vorschläge ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Glauben Sie an den Popanz, den Sie aufbauen?)


Wir müssen dafür kämpfen, dass die Direktzahlungen
nicht vermindert werden und kein europaweiter Sockel-
betrag, wie Sie ihn nennen, eingeführt wird – und das al-
les noch vor dem Hintergrund, dass sich dadurch die
Nettozahlerposition Deutschlands massiv verschlechtern
würde.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Genau!)


Natürlich – ich möchte das gar nicht kleinreden – pro-
fitieren wir von der EU. Wir sollten und müssen auch
unserer Wirtschaftsleistung und Bevölkerungszahl ent-
sprechend zum Haushalt der Union beitragen. In mei-
nem Wahlkreis gibt es viele mittelständische Unterneh-
men wie den Baumaschinenhersteller Liebherr oder den
Pharmaproduzenten Boehringer Ingelheim, die weit über
die Hälfte ihrer Produkte ins europäische Ausland expor-
tieren. Nur, eines geht nicht: Eine Verschlechterung un-
serer Nettozahlerposition darf nicht auf dem Rücken der
Bauern ausgetragen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Mehr Netto vom Brutto!)


Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen jetzt einmal
etwas als praktizierender Landwirt: Für viele meiner Be-
rufskollegen machen die Direktzahlungen bis zu
50 Prozent der Einkommen aus. Deswegen: Bitte mehr
Sensibilität bei diesem Thema!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt nur Leistungen, wenn der Landwirt nicht we-
niger als 2 680 Auflagen und 590 Standards, sogenannte
Cross-Compliance-Regelungen, einhält, Auflagen, die
von Tier- und Pflanzengesundheit über Lebensmittel-
sicherheit bis hin zu Umweltschutz und Tierschutz rei-
chen. Die Zahlungen sind auch keine Geschenke. Dafür
pflegen die Landwirte die Landschaft, damit wir alle sie
genießen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Und von wegen, die ökologische Landwirtschaft
werde zu wenig gefördert! Schon jetzt erhält zum Bei-
spiel jeder ökologisch wirtschaftende Betrieb in Baden-
Württemberg eine um durchschnittlich 190 Euro höhere
Förderung pro Hektar als der Betrieb des konventionell
wirtschaftenden Kollegen.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Hört! Hört!)


Sollte die Höhe der Direktzahlungen auf europäischer
Ebene vereinheitlicht werden und sinken, werden noch
mehr Höfe aufgeben müssen. Wollen Sie wirklich, dass
der ländliche Raum ausblutet? Wir wollen das jedenfalls
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ohnehin war der Strukturwandel, also die Aufgabe von
Betrieben, in der rot-grünen Regierungszeit – ich kann
Ihnen das nicht ersparen – um 50 Prozent höher als in
den letzten Jahren.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Lächerlich, das stimmt überhaupt nicht!)


Meine Damen und Herren, es geht hier aber nicht um
ein Ausspielen der konventionellen Landwirtschaft ge-
gen die ökologische Landwirtschaft. Wir sind gegen die
Ausspielerei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Von einer Umverteilung der Mittel oder – ich sage es
klar – von einer Kürzung der Mittel wären beide Berei-
che betroffen. Nach der BSE-Krise – das ist schon einige
Jahre her, aber ich bin sicher, die Bürgerinnen und Bür-
ger wissen das noch – haben SPD und Grüne schon ein-
mal die Agrarwende ausgerufen.

Gebracht hat es gar nichts.


(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Bezahlt aber haben es die Bauern mit geringeren Ein-
kommen und die Verbraucher mit Verunsicherung. Das
ist doch die Wahrheit!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gibt die Statistik leider nicht her! Das hat der Agrarbericht nicht ausgewiesen!)


Meine Damen und Herren, die Probleme in der Bio-
branche sind heute weitgehend dieselben wie in der kon-
ventionellen Landwirtschaft; denn auch beim Biomarkt
wird das Preisniveau von Lieferanten aus dem Ausland
begrenzt. Woher sollen die Milliarden für eine noch stär-
kere Förderung der Ökolandwirtschaft kommen? Ich
sehe das Geld in Brüssel nicht.

Wir brauchen konventionelle und ökologische Land-
wirtschaft. Jeder – das ist meine Auffassung – soll sei-
nen Betrieb führen, wie er es möchte. Auch für die Bau-
ern muss gelten: Jeder soll nach seiner Fasson
wirtschaften. Am Ende wird ohnehin der Verbraucher
entscheiden, wofür es einen Markt gibt und wofür nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir treten klar ein für Qualität in Freiheit und sind ge-
gen den Zwang zum Ökosozialismus.





Josef Rief


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Das hat aber lange gedauert! – Zuruf von der CDU/ CSU: Ökostalinismus!)


Es ist einfach falsch, die ökologische Landwirtschaft
als Allheilmittel zur Welternährung anzupreisen und bei
jeder Debatte die Systemfrage zu stellen. Gleichzeitig
wird bei einem – zugegebenermaßen umfangreichen –
Skandal, der wohl, so habe ich es gelesen, von einem
Mann mit Stasivergangenheit verursacht wurde, der
Weltuntergang beschworen und den Menschen sugge-
riert, alle gewöhnlichen Lebensmittel seien schädlich.
Damit helfen wir niemandem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Der hat das alles gemacht, um den Kapitalismus zu schwächen! – Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Der KGB war auch noch beteiligt!)


Was soll das anderes sein als Wahlkampf pur? So geht
das nicht.


(Ulrich Kelber [SPD]: Anders als Ihre sachorientierte Rede!)


Die Unionsfraktion wird sich in den nächsten Mona-
ten bei Gesprächen auf EU-Ebene für eine umsichtige
Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik ein-
setzen, die für Verbesserungen offen ist und an Bewähr-
tes anknüpft. Wir fordern die Beibehaltung des Zwei-
Säulen-Modells mit starker erster Säule und die Beibe-
haltung des bisherigen Gesamtbudgets für die GAP. Ver-
schiebungen zwischen den Säulen lehnen wir ebenso ab
wie eine weitere Belastung mit Cross Compliance.

Sogenannte Fachpolitiker, die von vornherein, also
noch bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen,
auf viel Einkommen der Landwirtschaft verzichten und
dabei noch die Nettozahlerposition Deutschlands ver-
stärken wollen, gehören – mit Verlaub gesagt – aus Re-
spekt vor unserem ehemaligen Ministerpräsidenten nicht
zum Teufel gejagt, aber doch mit viel Wasser in die poli-
tische Wüste geschickt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708722800

Lieber Kollege Rief, das war Ihre erste Rede im Deut-

schen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen des Hauses
herzlich gratuliere.


(Beifall)


Ich erteile nun das Wort als nächstem Redner dem
Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1708722900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht
auch von mir Glückwünsche von hier vorne an den Kol-
legen Rief, wenn er denn zuhört.

Noch eine kurze Bemerkung aus dem grünen Idyll
von „Kater Krümels Bauernhof“, den der Kollege
Ostendorff hier beschrieben hat: Kräht der Rief auf dem
Mist, ändert sich die deutsche Agrarpolitik oder sie
bleibt, wie sie ist.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das ist mein Fazit der Rede.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Wenn wir uns mit dem Thema einmal ernsthaft aus-
einandersetzen, dann erkennen auch Sie, dass wir Sozial-
demokraten im Hinblick auf die Reform der GAP doch
einiges vorzuweisen haben. Wir haben Ihnen bereits vor
fast einem Dreivierteljahr – vor allen anderen Parteien
hier im Hause und auch vor vielen Verbänden – ein ent-
sprechendes Konzept dazu vorgelegt und in unseren Vor-
schlägen eine ganz klare Linie dafür formuliert, wo es
mit der Agrarpolitik in Zukunft hingehen könnte. Dies
haben wir auch aus der Erkenntnis heraus getan, dass die
Akzeptanz der jetzigen Agrarpolitik in verschiedenen
Bereichen – auch in der Gesellschaft – weitestgehend
verlorengegangen ist.

Darum begrüße ich natürlich auch das Konsultations-
verfahren, das der EU-Agrarkommissar eingeleitet hat.
6 000 Stellungnahmen aus ganz Europa sind schon ein
Erfolg. Ich kann Ihnen sagen: Wir waren auch dabei.
Deshalb freuen wir uns, dass wir den mit den Bürgern
begonnenen Dialog auch auf der politischen Ebene ziel-
gerichtet zu Ende führen können. Es wird nach meiner
Einschätzung keinen radikalen Bruch geben, und es ist
hier auch nicht unbedingt die Systemfrage zu stellen,
aber es muss dringend Veränderungen geben; denn es
besteht ein großer Korrektur- und Handlungsbedarf.

Wenn man sich das von uns vorgelegte Papier an-
schaut, dann sieht man, dass darin schon die zentrale
Forderung enthalten ist, über die heute in Europa disku-
tiert wird, nämlich die „Begrünung“ der Gemeinsamen
Agrarpolitik. Für uns gilt primär der Grundsatz „Öffent-
liches Geld für öffentliche Güter“. Die Begrifflichkeit
dieses Grundsatzes lassen wir uns von Frau Höhn natür-
lich nicht stehlen. Das steht in unserem Papier und nicht
in dem Papier der Grünen.

Wir müssen wegkommen von der Belohnung für die
Einhaltung an sich selbstverständlicher fachlicher Vor-
gaben und hinkommen zu einer wirklichen Entlohnung
konkreter gesellschaftlicher Leistungen, was der Steuer-
bürger in Europa auch erwarten kann und von der Land-
wirtschaft erwarten muss.


(Beifall bei der SPD)


Für uns ist nicht allein die Systematik der ersten und
zweiten Säule ausschlaggebend, sondern das Ergebnis
der Reform dieser Strukturen. Das ist für uns das Ent-
scheidende. Insofern ist das von uns vorgeschlagene
Modell an sich weiß Gott kein Dogma, aber am Ende
muss doch ein gesellschaftlicher Mehrwert für alle Men-





Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) (C)



(D)(B)

schen in Europa stehen. Das sollte uns bei der Reform
der europäischen Agrarpolitik antreiben.

Wir freuen uns, dass unsere Vorschläge in der Weise
eingeflossen sind, dass wir fast alles aus unserem Papier
in dem Ciolos-Vorschlag wiederfinden. Leider ist die
Position der Bundesregierung nicht klar erkennbar. Man
sieht zwar, dass es Diskussionen und Handlungsbedarf
gibt, aber bislang gibt es keine konkreten Vorstellungen.
Ich habe den Eindruck, als sei die Position der Bundesre-
gierung völlig identisch und deckungsgleich mit der
Position des Deutschen Bauernverbandes. Ich weiß
nicht, ob das der richtige Ansatz ist. Das liegt aber wahr-
scheinlich daran, dass die Ministerin und die Bundesre-
gierung keine eigene Strategie haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage dazu nur: einfallslos, ideenlos und vielleicht
auch – zumindest habe ich die Befürchtung – erfolglos.


(Beifall bei der SPD)


Das ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt das
Ergebnis der schwarz-gelben Koalition. Ich finde, das ist
aufgrund der Rolle, die Deutschland bei Agrarverhand-
lungen und am Brüsseler Tisch immer gespielt hat, ein
Armutszeugnis und der deutschen Landwirtschaft mit ih-
rem Einfluss und ihrer Bedeutung auch nicht angemes-
sen.

Die Ministerin hat wohl den falschen Kurs einge-
schlagen. Sie fährt auf der falschen Spur, sie fährt in die
falsche Richtung, sie erkennt den Gegenverkehr nicht,
und wenn sie nicht aufpasst, dann fährt sie zumindest
den Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik, der uns betrifft,
an die Wand. Das ist das typische Verhalten, das Geister-
fahrer zeigen.

Paris, Warschau, Rom: Wo ist das Konzept? Ich
glaube, mit der gemeinsamen Positionierung von Frank-
reich und Deutschland hat die Ministerin für die weitere
Diskussion auf der europäischen Ebene mehr Schaden
angerichtet als Nutzen gestiftet.

Uns allen ist klar: Wir brauchen eine grundlegende
Reform des Systems. Man kann im Zusammenhang mit
den landwirtschaftlichen Einkommen darüber philoso-
phieren, ob wir eine Grundsicherung brauchen. Wir ha-
ben sie in Form eines Sockelbetrags vorgeschlagen.

Klar ist aber auch: Agrarpolitik ist keine Sozialpoli-
tik. Insofern ist das nach dem Subsidiaritätsprinzip Auf-
gabe der einzelnen Mitgliedstaaten und kann nicht zur
Gänze aus dem Agrarhaushalt dargestellt werden. Das
gilt auch im Hinblick auf die erforderlichen Konsolidie-
rungsbemühungen, die wir alle zu leisten haben, sei es in
unseren Haushalten, in den Haushalten der anderen
EU-Mitgliedstaaten oder im EU-Haushalt. Der Hand-
lungsrahmen ist sehr begrenzt. Deshalb brauchen wir ein
Konzept, um unter Umständen auch mit einem bisschen
weniger ein bisschen mehr zu erreichen.

Für uns ist es wichtig, dass die Werte und öffentlichen
Güter, die die Landwirtschaft bietet, honoriert und aner-
kannt werden, zum Beispiel die Sicherheit unserer Le-
bensmittel, die Kulturlandschaft in Europa. Höhere Pro-
duktionskosten müssen berücksichtigt werden. Auch
dafür gibt es in unserem Modell einen entsprechenden
Vorschlag.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen aber auch im Hinblick auf die zweite
Säule die Ausrichtung der europäischen Agrarpolitik re-
formieren. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhält-
nis zwischen erster und zweiter Säule. Das lässt sich
aber erst dann darstellen, wenn wir den konkreten Finan-
zierungsrahmen kennen. Auch hierzu machen wir kon-
krete Vorschläge. Wir wollen, dass die zweite Säule so
ausgestaltet ist, dass wir eine echte Politik zu einer inte-
grierten Entwicklung in den ländlichen Räumen darstel-
len können. Das ist die unbedingte Voraussetzung.

Für uns als Sozialdemokraten zählt nicht so sehr die
ideologische Auseinandersetzung über Groß oder Klein;
für uns zählen vielmehr die Arbeitsplätze in den ländli-
chen Räumen. Das unterscheidet uns von den Grünen,


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist mal eine klare Aussage!)


deren Modell vielleicht nicht mehr so typisch ist. Man
muss sich aber den Herausforderungen stellen und sich
dazu bekennen, dass man gelegentlich nachsteuern oder
auch umsteuern muss.

In Deutschland gilt es für uns auch in der Konsequenz
aus der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpoli-
tik, unser zentrales Instrument vor allem in der Umset-
zung der zweiten Säule, die GAK, gezielt weiterzuentwi-
ckeln. Wir müssen in der Perspektive die Synergien
zwischen ELER und EFRE nutzen. Aus diesem Grunde
fordern wir die Weiterentwicklung der GAK zu einer
Gemeinschaftsaufgabe für ländliche Räume.


(Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Und die Rücknahme der schwarz-gelben Kürzungen!)


Auf all die offenen Fragen der Landwirte, aber auch
der Gesellschaft haben Sie bisher keine Antwort angebo-
ten. Welche Strategien haben Sie zum Beispiel ange-
sichts des demografischen Wandel in den ländlichen
Räumen? Ich nehme an, dass das in Bayern nicht anders
ist als in Niedersachsen.

Mit unserem Antrag und unserer Positionierung zur
Gemeinsamen Agarpolitik haben wir eine klare Roadmap
vorgelegt, an der Sie sich orientieren können, wenn Sie
den Kurs verloren haben. In dem Zusammenhang kann
ich Sie nur auffordern, das, was wir vorlegen, ernsthaft in
Ihre Überlegungen einzubeziehen und dafür zu sorgen,
dass es in Europa umgesetzt wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708723000

Der Kollege Dr. Edmund Geisen ist der nächste Red-

ner für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Rede ID: ID1708723100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Internationale Grüne Woche, die uns alle im Augenblick
fest im Griff hat,


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Leider wahr!)


zeigt wieder einmal eindrucksvoll, welches Potenzial in
der Landwirtschaft liegt. Sie ist eine Schlüsselbranche,
ohne die die großen Herausforderungen der kommenden
Jahrzehnte – Klimaschutz, Welternährung, Energiever-
sorgung, Erhaltung der Artenvielfalt – nicht zu lösen sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir eine
Gemeinsame Agrarpolitik – kurz: GAP –, die die mo-
derne, effiziente und nachhaltig wirtschaftende Land-
wirtschaft stärkt.

Die FDP-Fraktion steht für eine zukunftsfeste, unter-
nehmerische und marktorientierte Landwirtschaft. Eine
nach der Produktionsweise differenzierte Subventions-
politik mit staatlicher Gängelung – wie in den vorliegen-
den Anträgen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ge-
fordert – ist für uns definitiv keine Lösung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Gemeinsame Agrarpolitik war ein Kernelement
der Römischen Verträge von 1957.

Es ging damals vor allem um die Verbesserung der
landwirtschaftlichen Produktivität. Einige von Ihnen
werden sich noch gut an damals erinnern. Es war eine re-
lativ arme Zeit, mit sehr viel Handarbeit verbunden, die
Produkte der Landwirtschaft dienten in erster Linie der
Selbstversorgung, der Versorgung von Mensch und Tier.
Die Produktpalette war primitiv, die Qualitätsstandards
ließen viel zu wünschen übrig. Ich selbst erinnere mich
als Kind der Landwirtschaft an Missernten und an viele
Krankheiten bei Pflanzen und Tieren. Es gab noch rich-
tige Mangelperioden.

Warum sage ich das? Weil ich klarmachen will: Wer
die Vergangenheit idealisiert, der irrt. Die Zukunft darf
niemals wieder in die Verhältnisse der Vergangenheit
münden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Technische Entwicklungen, Nährstofftransfers, Züchtungs-
methoden und Krankheitsbekämpfung haben uns in den
vergangenen vier Jahrzehnten in Westeuropa Wohlstand
und natürlich auch Überschüsse beschert. Bei der Lö-
sung des Problems der Überschüsse hat sich die EU
lange mit Lagerhaltungsmethoden und Mengenbegren-
zungen über die Zeit gerettet, ohne dabei dem Problem
des Welthungers zu begegnen und ohne die EU-Land-
wirtschaft auf die Zukunft auszurichten. Unsere jetzige
Devise muss lauten: Lasst uns aus der Vergangenheit ler-
nen und die Zukunft neu ausrichten!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Unsere Parameter sind die rasant steigende Weltbe-
völkerung mit ihrem Bedarf an Nahrungsmitteln und
Energie sowie der Klimaschutz. Für die FDP heißt die
Zukunft: Stärkung der bäuerlich-unternehmerischen Land-
wirtschaft, die standortgerecht, nachhaltig und effizient
wirtschaftet, die arbeitsteilig, technisiert, tier- und um-
weltgerecht ist, kurz: die gemäß dem Leitbild der guten
fachlichen Praxis arbeitet.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Landwirtschaft ist kein Wirtschaftszweig wie jeder an-
dere; das wird in der öffentlichen Diskussion oft verges-
sen. Landwirtschaft ist für Mensch und Tier von existen-
zieller Bedeutung, die Produktionsverfahren sind – wie
sonst nirgendwo – abhängig von stetig vorhandenen Kli-
maschwankungen und lebenden Organismen. Gleichzei-
tig ist Landwirtschaft verantwortlich für den Erhalt unse-
rer Kulturlandschaften und der attraktiven ländlichen
Räume. Diese gesamtgesellschaftlichen Leistungen müs-
sen auch weiterhin in der ersten Säule der GAP honoriert
werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich müssen diese Prämien an die Einhaltung von
Umwelt- und Tierschutzstandards gebunden sein, den so-
genannten Cross-Compliance-Vorschriften. Sie dürfen aber
erstens nicht zu noch mehr Bürokratie auf den heimischen
Höfen führen und müssen zweitens für alle EU-Mitglied-
staaten gleich gelten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich jedenfalls wende mich entschieden gegen eine soge-
nannte Flatrate, die in allen Mitgliedstaaten gleich ist.
Dafür sind die Kaufkraftunterschiede noch zu groß, wo-
durch es zu Wettbewerbsverzerrungen käme.

Mit der zweiten Säule der GAP sind besondere, da-
rüber hinausgehende gewünschte Leistungen zu beglei-
ten, um eine flächendeckende Landwirtschaft und pros-
perierende ländliche Räume zu erhalten und weitere
freiwillige Umweltmaßnahmen zu unterstützen.

Die europäische Landwirtschaft ist seit der GAP-Re-
form 2003 eigentlich auf einem guten Wege. Sie muss
jetzt nicht wieder neu erfunden, sondern lediglich wei-
terentwickelt und optimiert werden. Sie wissen: Nichts
ist so gut, als dass man es nicht noch verbessern könnte.
Nehmen wir das von Kommissar Ciolos immer wieder
eingeforderte Greening der GAP. Das unterstützen wir,
solange anerkannt wird, dass unsere heimische Land-
wirtschaft schon weiter ist als andere. Wir in Deutsch-
land haben zum Beispiel bereits Sachkundenachweise in
allen Produktionssparten, die uns zu nachhaltigem Wirt-
schaften gemäß guter fachlicher Praxis befähigen.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)


Wir haben auf die Flächenprämie umgestellt. In keinem
anderen EU-Mitgliedstaat werden Ackerland und Grün-
land völlig gleich behandelt. Schätzungsweise die Hälfte
der deutschen landwirtschaftlichen Fläche unterliegt be-





Dr. Edmund Peter Geisen


(A) (C)



(D)(B)

reits jetzt einem Greening. Wir in Deutschland haben
schon heute die geringsten Emissionen zum Beispiel pro
Kilogramm Milch EU-weit. Ich sage Ihnen: Die deut-
sche Landwirtschaft ist gelebtes Greening.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ideologisierung und Emotionalisierung der landwirt-
schaftlichen Produktion führen ganz sicher nicht zu bes-
seren Produkten, eher zur Verblendung der Verbraucher.
Stattdessen wollen wir die europäische Landwirtschaft
zukunftsfest machen, indem wir die Chance zu einem
grünen Wachstum ermöglichen – nachhaltig, effizient,
qualitativ hochwertig. Die heimische Landwirtschaft ist
auf einem guten Weg. Sie kann sich der Unterstützung
der FDP-Fraktion auch künftig sicher sein.

Uns allen möchte ich noch Folgendes empfehlen: Wir
sollten uns nicht immer darüber beschweren, dass die
Rosen Dornen tragen, sondern wir sollten uns auch ein-
mal darüber freuen, dass die Dornen Rosen tragen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708723200

Das Wort hat nun der Kollege Steffen Bockhahn für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Steffen Bockhahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708723300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Wir alle kennen den Wert der Land-
wirtschaft für unser Land: Ohne gute Landwirtschaft ha-
ben wir alle nichts Gutes zu essen.

Wir sprechen heute darüber, wie die gemeinsame eu-
ropäische Planung, die Förderpolitik für die Landwirt-
schaft aussehen soll. Wir sprechen über den einzigen
Politikbereich, in dem es eine wirkliche Harmonisierung
der Politik in ganz Europa gibt. Angesichts dessen,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen, muss ich mit
einiger Überraschung feststellen, dass es der Koalition
scheinbar nur darum geht, deutsche Interessen durchzu-
setzen, anstatt über eine gemeinsame europäische Agrar-
politik zu sprechen. Das finde ich ein bisschen schwach.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Klar ist wohl, dass wir die Förderung der Landwirt-
schaft auch über das Jahr 2013 hinaus brauchen, und
zwar auch und gerade durch Europa und mit Mitteln aus
dem europäischen Haushalt.

Die Frage ist aber: Welche Landwirtschaft wollen wir
denn fördern? Wir, die Linke, wollen eine Landwirt-
schaft, die gesunde Produkte aus gesunder Natur von
Menschen erzeugt, die gute Löhne und gute Arbeitsbe-
dingungen haben.


(Beifall der Abg. Karin Binder [DIE LINKE] – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das haben wir ja! Das ist so!)

Das ist kein Wolkenkuckucksheim, sondern das ist real
möglich. Das bedeutet für uns, dass wir landwirtschaftli-
che Betriebe fördern wollen, die in der Hand der Land-
wirte und nicht in der Hand von großen Kapitalgesell-
schaften oder von Menschen sind, die Landwirtschaft
nur als Hobby betreiben, aber damit kein echtes Produk-
tionsinteresse verfolgen. Wir wissen, dass gerade Pro-
duktionsgenossenschaften am verantwortungsvollsten
mit den Böden und mit der Natur umgehen und dass sie
sich am verantwortungsvollsten darum bemühen, tat-
sächlich gute Produkte zu erzeugen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Du hast keine Ahnung!)


Gerade deswegen wollen wir diese Produktionsgenos-
senschaften fördern.

Wir wollen aber große Agrarunternehmen, die in Pro-
duktionsgenossenschaften organisiert sind, und den öko-
logischen Landbau nicht gegeneinander ausspielen. Wir
glauben, dass beides geht und dass beides nebeneinander
existieren kann und muss. Das heißt, dass wir schon des-
wegen jeden Versuch kategorisch ablehnen werden, die
Zahlungen von der Größe der bewirtschaftenden Fläche
abhängig zu machen – Stichwort „Degression“ oder
„Kappung“. Das würde gerade ostdeutsche Landwirt-
schaftsbetriebe diskriminieren und ist in der Sache auch
unbegründet.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das nennt man Modulation!)


Wir wollen – das ist ganz klar – die Landwirtschaft
weiter unterstützen; denn flächendeckende, gute Land-
bewirtschaftung ist nicht selbstverständlich. Die Kultur-
landschaft zu erhalten, ist eine wichtige Aufgabe, um die
sich gerade die Bäuerinnen und Bauern in Deutschland
verdient machen. Dabei müssen wir sie weiterhin unter-
stützen. Wir brauchen eine gute Landwirtschaft, um
auch die ländlichen Räume zu erhalten und lebenswert
zu halten.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke schlägt Ihnen deswegen in ihrem Konzept
vor, die Fördermittel für die Landwirtschaft künftig ziel-
genauer an soziale und ökologische Leistungen zu bin-
den. „Soziale Bindung“ heißt, die Zahl der Arbeitsplätze
zu berücksichtigen. Das würde tierhaltenden Betrieben
zugutekommen.

Selbstverständlich muss die Arbeit existenzsichernd
und, wo vorhanden, nach dem nationalen Mindestlohn
bezahlt werden. Das will auch die EU-Kommission, mit
der wir uns an der Stelle sehr einig sind. In Deutschland
sind wir aber die einzige Partei, die eine solche Bindung
will.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, die Umweltpoli-
tik weiter auf die Förderprogramme für die ländlichen
Räume zu beschränken. Es muss Anliegen und Verant-
wortung aller Betriebe sein, die biologische Vielfalt auf
und neben dem Acker tatsächlich zu erhalten und einen





Steffen Bockhahn


(A) (C)



(D)(B)

Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, zur Ressourcen-
schonung beizutragen und die Gewässer reinzuhalten.
Das alles sind Aufgaben, die für die europäische Land-
wirtschaftspolitik insgesamt gelten sollten.

Wir haben an dieser Stelle die Chance, mit deutschem
Know-how deutsche Unternehmen zu fördern und da-
rüber hinaus gute Standards in ganz Europa zu verankern
und damit eine wirkliche gemeinsame europäische
Agrarpolitik zu ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die bisher bekannten Vorstellungen der EU-Kommis-
sion – dies habe ich bereits kurz angesprochen – kom-
men unseren Vorstellungen schon sehr stark entgegen.
Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher fordern
eine Debatte über die Neuausrichtung der Agrarpolitik.
Ich denke – das muss man klar sagen –, dass auch bei
den Landwirten ein Umdenken erforderlich ist. Es gibt
ein großes Bedürfnis, einiges zu ändern; nicht alles, aber
einiges. Das sollte man wahrnehmen und ernst nehmen
und sich dann auch mit den Konsequenzen auseinander-
setzen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708723400

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Marlene Mortler für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1708723500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu-
nächst zum Kollegen Priesmeier: Ihre Rede kam mir
ziemlich konzeptlos vor.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie haben leider recht!)


Dass gerade Sie der Ministerin Vorwürfe machen, das
trifft den Nagel wirklich nicht auf den Kopf. Was glau-
ben Sie, wozu unsere Ministerin Aigner pausenlos und
in jedem Mitgliedstaat unterwegs ist? Um ihr überzeu-
gendes Konzept einer gemeinsamen Agrarpolitik vorzu-
stellen!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wer die Genossenschaften vor allem im Agrarbereich
an dieser Stelle schlechtredet, der soll mir erst einmal ein
besseres Modell nennen. Wir sollten froh sein, dass wir
es haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])


Nun zum Antrag der Grünen – ich kann nicht alles
aufgreifen –: Es ist schon eine Ungeheuerlichkeit, wenn
man lesen muss: „Die Landwirtschaft darf Biodiversität
nicht länger zerstören …“. Man muss lesen, dass die
Landwirtschaft Teil des Problems ist. Selbst wenn wir
Menschen allein auf dieser Welt wären, wären wir Kon-
kurrenten zur Biosphäre.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für ein Blödsinn?)


Wir können in unserem Land und weltweit auf vieles
verzichten, aber nicht auf Nahrungsmittelerzeugung,
weil sie die Grundlage unserer Menschheit ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb ist die Landwirtschaft nicht das Problem, son-
dern sie ist Teil der Lösung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Selbst das Europäische Parlament bestätigte letzte Wo-
che die strategische Bedeutung des EU-Agrarsektors für
die Welternährung.

Zu Ihnen, Kollege Ostendorff, ganz persönlich: Auch
ich verarbeite in meinem Betrieb Bioprodukte; aber ich
habe einen anderen Anspruch und einen anderen Ansatz.
Ich bin nämlich Vertreterin einer Volkspartei, der Union,
und ich habe das Ganze im Blick. Das ist mein An-
spruch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich betreibe Politik nicht nur für eine Klientel, für
5 Prozent der Bauern, sondern für alle Bauern. Alle Bau-
ern, die nach bestem Wissen und Gewissen wirtschaften,
das heißt, sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens be-
wegen, verdienen unsere Anerkennung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wissen Sie, was Sie für mich sind? Sie sind ein Nestbe-
schmutzer; ich möchte das ganz deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Herr Präsident, ist das parlamentarisch? – Ulrich Kelber [SPD]: Das merke ich mir, dass das parlamentarisch ist!)


Was Sie hier betreiben, ist Kulturkampf. Wir sollten end-
lich zur Kenntnis nehmen, dass wir alle in einem Boot
sitzen.

Übrigens – nehmen Sie es nicht persönlich –, auch
Ökoschweine müssen am Ende ihres Nutztierlebens ge-
schlachtet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708723600

Frau Kollegin Mortler, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ostendorff?






(A) (C)



(D)(B)


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1708723700

Nein.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade! – Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind peinlich!)


Das besprechen wir hinterher.

Selbst der größte Bioland-Geflügelbetrieb – auch das
gehört zur Wahrheit – hat immerhin 300 000 Nutztiere
im Stall.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!)


Wenn wir über Landwirtschaft und gemeinsame Agrar-
politik reden, reden wir eben über Nutztierhaltung und
nicht über Kuscheltierhaltung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir teilen an dieser Stelle selbstverständlich die drei
strategischen Ziele von EU-Kommissar Ciolos: Ernäh-
rungssicherheit, hochwertige und sichere Nahrungsmit-
tel sowie Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im
ländlichen Raum erhalten. Wir sagen aber: Dieser An-
satz muss erweitert werden. Wir brauchen in Zukunft
mehr denn je eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft.
Wir teilen mit Ihnen den Ansatz einer nachhaltigen
Landwirtschaft. Vor allem geht es uns um eine flächen-
deckende Landwirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen eine Landwirtschaft, die modern, innovativ
ausgerichtet ist. Sie muss im Einklang mit Wissenschaft
und Forschung stehen; ihr sollten die neuesten Erkennt-
nisse zugrunde liegen. Sie muss darauf ausgerichtet sein,
Ressourcen zu sparen und so zur Optimierung beizutra-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist eben keine Frage von Klein oder Groß, sondern es
ist eine Frage von Können und Wissen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In meinem alten Kuhstall zu Hause – er war wirklich
alt – hatten die Tiere fast keinen Platz. Er war dunkel
und miefig, und ich musste das Futter mit der Gabel
quasi über die Kühe hinüber schmeißen, weil so wenig
Platz war. Heute haben wir Ställe – und Möglichkeiten –,
in die ich gerne gehe und sage: Hallo, wie schön ist die
Welt auch für unsere Tiere.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich denke, wir haben ein gemeinsames Thema und
auch ein gemeinsames Anliegen: Das ist der Erhalt der
Gebietskulisse für benachteiligte Gebiete. Wenn Sie uns
wirklich helfen wollen, dann treten Sie mit dafür ein.
Wir wissen, was die Kommission hier vorhat. Wir wissen
aber auch, dass es hier maximalen Aufwand und am Ende
maximalen Ärger – zumindest aus deutscher Sicht – ge-
ben wird.
Noch eines: Nehmen Sie – auch auf der linken Seite
dieses Hauses – zur Kenntnis, dass mein Bundesland
Bayern seit vielen Jahren über 40 Prozent der Direktzah-
lungen, also der Zahlungen aus der ersten Säule, ins
Grünland, in den Bereich Leguminosen und in den Be-
reich extensive Bewirtschaftungsformen steckt. Das
heißt, wir haben mit der Ökologisierung längst begon-
nen. Wir sind den anderen Mitgliedstaaten viele Schritte
voraus, und wir wollen auch weiterhin Vorbild sein. Wir
lassen es aber nicht zu, dass Sie am Fundament unserer
bewährten Umweltprogramme rütteln, was die Folge Ih-
rer Ideen und Konzepte wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist und bleibt aus meiner Sicht unseriös, wenn Sie
behaupten, wir, Europa, würden die Märkte der Entwick-
lungsländer zerstören und zuschütten. Sie wissen, wir
sind ein Hochlohnland, und wir liefern in der Regel in
Hochlohnländer. Sie kennen natürlich die Fakten genau,
aber Sie unterstreichen auch mit diesen Falschaussagen
Ihr ideologisches Weltbild. Wirklich schade, meine Da-
men und Herren!

Ich komme zum Schluss. Unsere Landwirte brauchen
Planungssicherheit. Sie sind darauf angewiesen, dass das
Geldvolumen bekannt ist, bevor Gelder verteilt werden.
Wir setzen uns für sichere heimische Lebensmittel, für
eine gepflegte, schöne, flächendeckende Kulturland-
schaft und auch dafür ein, dass Landwirtschaft in Zu-
kunft ihren Beitrag zur Energieversorgung und zum Kli-
maschutz leistet.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708723800

Frau Kollegin.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1708723900

Das heißt, wir kämpfen für eine starke europäische

Agrarpolitik auf einem soliden finanziellen Fundament.
Für diese starke europäische Agrarpolitik, Herr Präsi-
dent, wollen wir uns alle hier in dieser Koalition auch in
Zukunft gemeinsam einsetzen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708724000

Die Bereitschaft des Präsidenten, an dieser starken

europäischen Landwirtschaftspolitik mitzuwirken,
kommt auch in den Zuschlägen zu den Redezeiten ein-
deutig und eindrucksvoll zum Ausdruck – auch noch in
der Möglichkeit, die der Kollege Ostendorff jetzt noch
für eine Kurzintervention erhält.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schönen Dank, Herr Präsident! – Nach diesem Feuer-
werk an Angriffen auf mich lassen Sie mich einige we-
nige Anmerkungen machen. Ich glaube, dass bisher für
alle hier in diesem Haus unbestritten war, dass wir bis
zum Anfang des 20. Jahrhunderts im mitteleuropäischen
Raum die höchste Artendichte hatten. Das war, glaube





Friedrich Ostendorff


(A) (C)



(D)(B)

ich, der bisherige Erkenntnisstand – auch in Bayern und
in Franken, Frau Mortler.

Ich glaube auch, dass wir nach dem bisherigen Er-
kenntnisstand in der Agrarbiologie, im Naturschutz usw.
sagen können, dass durch die Intensivierung der Land-
wirtschaft Druck auf die Artenvielfalt entstand.


(Zuruf von der FDP: Stimmt nicht!)


Ich denke, das ist der gemeinsam getragene Erkenntnis-
stand.

Wie Sie zu der Aussage kommen, dass der Mensch
durch sein Erscheinen auf der Erde die Artenvielfalt
nach unten gedrückt hat, entzieht sich meiner Kenntnis
und, ich glaube, auch der Erkenntnis der meisten Fach-
leute hier im Raum. Ich denke, dass die bäuerliche Be-
wirtschaftung – eine bestimmte Bewirtschaftungsform –
die höchste Artendichte geschaffen hat. Das ist das, was
bisher an Allgemeinwissen zur Verfügung steht. Wenn
Sie da widersprechen wollen, tun Sie es bitte energisch
oder schweigen Sie bei diesem Punkt.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie können sich auf die energische Variante verlassen!)


Ich glaube, dass wir auch überlegen sollten, ob es
klug ist, zu versuchen, uns bzw. die Landwirtschaft von
der übrigen Gesellschaft abzugrenzen. Ich werbe aus-
drücklich dafür, dass wir versuchen, mit den 20 000 De-
monstranten vom Samstag einen konstruktiven Dialog
zu führen. Ich glaube, dass das für die Zukunft der Land-
wirtschaft wichtig ist. Ich würde mich auch freuen, eine
Aussage Ihrerseits darüber zu erhalten, wie Sie diese Be-
wegungen bewerten. Wenn Sie das aufrechterhalten,
dann bin ich stolz auf die Titulierung „Nestbeschmut-
zer“. Dann sage ich schönen Dank an Sie.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708724100

Zur Erwiderung Frau Kollegin Mortler.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1708724200

Herr Kollege, ich werde Ihre verschiedenen Fragen

nicht in einem scharfen Ton, sondern in meinem Ton be-
antworten. Zur letzten Frage: Nein, ich war bei dieser
Bewegung bzw. dieser Demo nicht dabei. Das macht
deutlich, dass ich wenig davon halte. Denn ich stehe hin-
ter der Mehrheit meiner Bäuerinnen und Bauern. Was
hier betrieben worden ist, war in hohem Maße Nestbe-
schmutzung und Verdummung der Leute. Wenn Sie
mehr darüber wissen wollen – damit beantwortet sich
schon die nächste Frage; Sie haben mir einfach nicht zu-
gehört –, dann kommen Sie zu mir in die Nachhilfe-
stunde.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Wir schicken Ihnen mal die Studie des Bundesamts für Naturschutz zu!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708724300

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4542 und 17/2479 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entschädigungsleistungen für Opfer der
Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in
der Zeit des Nationalsozialismus

– Drucksache 17/4543 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1708724400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-

ginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen fordert der Deutsche Bundestag die Bundes-
regierung auf, die laufenden monatlichen Leistungen für
Zwangssterilisierte und Überlebende von „Euthanasie“-
Maßnahmen nach den AKG-Härterichtlinien ab dem
1. Januar 2011 von monatlich 120 auf monatlich
291 Euro zu erhöhen.

Es ist kein Zufall, dass wir diesen Antrag heute, am
27. Januar 2011, in den Deutschen Bundestag einbrin-
gen. Denn gemeinsam mit den europäischen Juden, den
Sinti und Roma und anderen waren auch die auf der
Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses vom 14. Juli 1933 Zwangssterilisierten so-
wie die Betroffenen von „Euthanasie“-Maßnahmen Op-
fer nationalsozialistischen Unrechts.

Das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses wurde am 14. Juli 1933, kurz nach der
Machtergreifung der Nationalsozialisten, auf der Grund-
lage des seit März 1933 geltenden Ermächtigungsgeset-
zes von der Reichsregierung allein in Kraft gesetzt und
betraf die Sterilisation geistig Erkrankter und Schwerbe-
hinderter, auch gegen deren Willen. Das Gesetz beruhte
nicht auf einem vorherigen preußischen Gesetzentwurf;
denn ein solcher hatte als unabdingbare Voraussetzung
noch die Einwilligung des zu Sterilisierenden gefordert.

Die Zielsetzung des Gesetzes war rassistisch, wie sich
aus einer Ausführungsverordnung eindeutig ergibt:

Ziel der dem deutschen Volk artgemäßen Erb- und
Rassenpflege ist eine ausreichend große Zahl erb-
gesunder, für das deutsche Volk rassisch wertvoller,
kinderreicher Familien zu allen Zeiten. Der Zucht-
gedanke ist Kerngehalt des Rassegedankens.





Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

Aufgrund dieses Gesetzes wurden im Dritten Reich
bis 1945 circa 350 000 Menschen zwangssterilisiert, von
denen etwa 6 000 Frauen und 600 Männer an den Folgen
starben. Über 200 000 Menschen wurden im Rahmen so-
genannter „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet.

Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai
1949 traten Rechtsnormen außer Kraft, die dem Grund-
gesetz widersprachen, so nach heutiger Rechtsauffas-
sung auch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-
wuchses, insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 2
Abs. 2 des Grundgesetzes. Die wenigen als Bundesrecht
fortgeltenden Regelungen über Unfruchtbarmachung
und Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung bei Le-
bens- und Gesundheitsgefahr sind endgültig durch Art. 8
Nr. 1 des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts
vom 18. Juni 1974 aufgehoben worden.

Der Deutsche Bundestag hat außerdem in seinen Ent-
schließungen vom 5. Mai 1988 und 29. Juni 1994 fest-
gestellt, dass die auf der Grundlage des Gesetzes zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses durchgeführten
Zwangssterilisationen nationalsozialistisches Unrecht
waren. Er ächtete in seinen Entschließungen diese Maß-
nahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialisti-
schen Auffassung vom lebensunwerten Leben. Der
Deutsche Bundestag bekräftigte dies zuletzt in seiner
Entschließung vom 24. Mai 2007 erneut und bezeugte
den Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“
sowie ihren Angehörigen seine Achtung und sein Mitge-
fühl.

Den Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthana-
sie“ werden ab 1980 durch einen Erlass des Bundes-
finanzministeriums und ab 1988 nach den Richtlinien
der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von
nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen
des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes – AKG-Härte-
richtlinien – Leistungen gewährt. Nach den jetzt gültigen
Richtlinien können Opfer einmalige Beihilfen in Höhe
von 2 556 Euro, damals 5 000 DM, erhalten. Zusätzlich
können laufende monatliche Leistungen in Höhe von
120 Euro gezahlt werden. Für Opfer der Zwangssterili-
sierung und „Euthanasie“ kommen im Falle einer Not-
lage ergänzende laufende Leistungen in Betracht.

Die vier den Antrag einbringenden Fraktionen halten
unter Bezugnahme auf die Ächtung des Gesetzes zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses und in Anbetracht
der lebenslangen, schweren Beeinträchtigungen eine Er-
höhung der monatlichen Leistungen auf 291 Euro ab
dem 1. Januar 2011 für erforderlich, wohlwissend, dass
natürlich auch mit diesem erhöhten Betrag das Unrecht
nicht wiedergutgemacht werden kann. Der Betrag orien-
tiert sich an den Leistungen für jüdische Opfer des Na-
tionalsozialismus, die Haft in einem Konzentrationslager
oder Getto erlitten und keine Leistungen aus dem Bun-
desentschädigungsgesetz erhalten haben. Am Zweiten
Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgeset-
zes als Schlussgesetz halten wir fest.

Abschließend möchte ich auch namens meiner Frak-
tion den Opfern, von denen nur noch wenige leben, noch
einmal unser Mitgefühl und unsere besondere Solidarität
versichern. In diesem Sinne schließe ich mit einem Zitat
von Valentin Hennig, einem engagierten Vertreter für die
Rechte der Opfer von Zwangssterilisation in den 60er-
und 70er-Jahren: Unrecht kann Recht nicht verdrängen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708724500

Das Wort erhält der Kollege Joachim Poß für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1708724600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

legen heute diesen von vier Fraktionen getragenen An-
trag vor, um, wie Kollege Kolbe erwähnt hat, zwei Grup-
pen von Opfern des Nationalsozialismus, den Zwangs-
sterilisierten und den „Euthanasie“-Opfern, unseren
Respekt zu erweisen und sie auch finanziell etwas
besserzustellen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ziemlich spät!)


Dabei wissen wir natürlich, dass nichts deren Leid auf-
wiegt. Herr Kolbe hat den Sachverhalt, der auch im An-
trag beschrieben wird, erläutert.

Auch dieser Antrag zeigt indes, dass es jenseits des
von uns allen betriebenen politischen Kampfes gegen-
einander auch wichtige Bereiche unseres Amtes als
Parlamentarier und Volksvertreter gibt, in denen wir
– zumindest mit großer Mehrheit – einmütig zusammen-
stehen. Auch das kennzeichnet den bundesrepublikani-
schen Parlamentarismus, dass es immer wieder Situatio-
nen und Entscheidungen auch jenseits historischer
Weichenstellungen gab und gibt, in denen wir einig und
geschlossen auftreten.

Ohne unsere heutige Debatte und das Anliegen unse-
res Antrags überhöhen zu wollen, bemerke ich nur
grundsätzlich: Ohne Probleme und mit Engagement so-
wie Überzeugung aller beteiligten Seiten wurde der frak-
tionsübergreifende Antrag einvernehmlich formuliert. Er
liegt jetzt dem Hohen Hause zur Abstimmung vor.

Es passt, dass wir ihn heute, am Tag des Gedenkens
an die Opfer des Nationalsozialismus, beraten. Die Op-
fergruppen erwarten zu Recht unsere Achtung und unser
Mitgefühl. Sie können das auch einfordern. Das ist si-
cherlich auch eine Frage des Gerechtigkeitsempfindens.

Wir sind fraktionsübergreifend zu der Auffassung ge-
langt, dass sich das auch in einer Anpassung der
Entschädigungsleistungen niederschlagen sollte. Die
„Euthanasie“-Opfer haben bisher keine monatlichen lau-
fenden Leistungen bekommen. Das Parlament zeigt da-
mit tätiges und aktiv gestaltendes Gedenken mit Bedeu-
tung für das Alltagsleben. Es handelt sich um Menschen
mit lebenslangen schweren Beeinträchtigungen, deren
Los wenigstens ein bisschen erleichtert werden kann.

Unser Anliegen – da sind wir sicher – wird auch
durch die Bundesregierung geteilt werden. Wir stehen
alle in der Verpflichtung, darauf hinzuwirken, die überle-





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)

benden Opfer des Naziregimes und des Holocausts ge-
recht und ihrem Schicksal angemessen zu behandeln, so-
weit das überhaupt möglich ist.

Nicht nur wir auf sozialdemokratischer Seite werden
daran beständig und mit Nachdruck von Hans-Jochen
Vogel erinnert, der seit fast 20 Jahren gegen Vergessen
und für Demokratie mit der ihm eigenen Vehemenz und
Konsequenz eintritt. Auch für die Initiierung des heute
zu beratenden Antrags war Hans-Jochen Vogel maßgeb-
lich mitverantwortlich.

Wir sollten die heutige Beratung nutzen, um uns zu
vergegenwärtigen, welch eine wichtige und großartige
Initiative der von Hans-Jochen Vogel und anderen über-
parteilich gegründete Verein „Gegen Vergessen – Für
Demokratie“ ist. Seinerzeit waren Hanna-Renate
Laurien von der CDU, die damals in Berlin war – vorher
war sie in Rheinland-Pfalz –, und andere dabei. Er wird
politisch und gesellschaftlich breit getragen und sollte
mit Blick auf die Vergangenheit sogar noch stärker ge-
tragen werden.

Großer Dank gebührt meinem Kollegen Michael
Meister, der als Vertreter der Regierungskoalition die
wesentlichen Recherchen und Abstimmungsarbeiten für
den Antrag geleistet hat. Er hat sich damit sehr für das
gemeinsame Anliegen des Gedenkens an die Opfer des
Nationalsozialismus eingesetzt.

Für die Fraktion der FDP sei dem Kollegen Volker
Wissing, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem
Kollegen Volker Beck gedankt, der sich auch in der Ver-
gangenheit schon mit diesen Themen engagiert aus-
einandergesetzt hat.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie haben uns draußen gelassen, weil wir uns die ganze Zeit engagieren!)


Das war die Voraussetzung, damit wir gemeinsam diesen
Antrag dem Parlament zur Abstimmung vorlegen kön-
nen. Allen, die daran mitgewirkt haben, gilt mein herzli-
cher Dank.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708724700

Die Kollegin Gabriele Molitor ist nun die nächste

Rednerin für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1708724800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Auch heute fällt es schwer, die richtigen Worte
zu finden, wenn wir uns mit den Gewalttaten des Nazi-
regimes befassen. So unfassbar und menschenverach-
tend sind die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozia-
lismus gewesen.

In der sehr bewegenden Feierstunde heute Morgen
haben wir gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus
gedacht. Heute Mittag fand eine Gedenkfeier des Beauf-
tragten der Bundesregierung für die Belange von Men-
schen mit Behinderung in der Tiergartenstraße 4 statt.
An diesem Ort verhängte das Naziregime den „Euthana-
sie“-Beschluss, der die systematische Massentötung psy-
chisch kranker und geistig behinderter Menschen in
Gang setzte. Von 1939 bis 1945 wurden mehr als
200 000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Leben
wurde als „lebensunwert“ bezeichnet. Ihre Ermordung
hieß „Euthanasie“. Allein dieser Begriff – „guter Tod“ –
zeigt, dass die damaligen Machthaber skrupellose Mör-
der waren, die kein Unrechtsbewusstsein hatten.

Schon 1933 verabschiedete die Reichsregierung ein
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Eine
zwangsweise durchgeführte Sterilisation sollte die Wei-
tergabe von Erbkrankheiten auf die nächste Generation
verhindern. Unter die willkürliche Definition „erbkrank“
fielen Menschen mit körperlicher und geistiger Behinde-
rung, aber auch sogenannte Asoziale, Hilfsschüler, Für-
sorgezöglinge, Tuberkulosekranke und Alkoholabhän-
gige. Mehr als 350 000 Frauen und Männer mussten sich
einem erniedrigenden Eingriff unterziehen. Ihnen wurde
das Recht abgesprochen, zu heiraten, weiterführende
Schulen zu besuchen oder einen Beruf im Bildungs- oder
Sozialbereich zu ergreifen.

Warum gehe ich so ausführlich auf diese Hinter-
gründe ein? Ich tue dies, weil wir die Erinnerung an
diese furchtbaren Verbrechen wachhalten müssen. So et-
was darf sich niemals wiederholen.

Heute reden wir über einen fraktionsübergreifenden
Antrag, der höhere Entschädigungsleistungen für die
Menschen fordert, die der Zwangssterilisation und der
„Euthanasie“ in der NS-Zeit zum Opfer fielen. In den
80er-Jahren und erneut 2007 hat der Bundestag bekräf-
tigt, dass das für die „Euthanasie“-Morde wegbereitende
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von
1933 ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz war. Seit
1980 bzw. 1988 werden Entschädigungsleistungen für
Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ über das
Allgemeine Kriegsfolgengesetz geleistet.

Ich bin sehr froh, dass wir gerade heute, am Gedenk-
tag für die Opfer des Nationalsozialismus, über diesen
fraktionsübergreifenden Antrag beraten. Die Entschädi-
gungsleistung für die Opfer der Zwangssterilisation zu
erhöhen, ist richtig. Wir wissen, dass die seelischen Fol-
gen der Misshandlungen und das zugefügte Leid nicht
mit Geld aufzuwiegen sind. Viel wichtiger ist es, den
Menschen zu zeigen, dass wir ihnen beistehen und aus
der Geschichte lernen. Für Bürger wie Politiker heißt
das: Wir müssen alles tun, um Intoleranz, Ausgrenzung
und Benachteiligung zu verhindern.

In den vergangenen 60 Jahren hat sich zwar viel ge-
tan, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Erst seit den
90er-Jahren denken wir in Richtung Inklusion. Nicht der
behinderte Mensch hat sich auf die Bedingungen der Ge-
sellschaft einzustellen, sondern die Gesellschaft hat sol-
che Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Behinde-
rung nicht als Beeinträchtigung verstanden wird.





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)

1994 wurde in Art. 3 des Grundgesetzes die Formu-
lierung aufgenommen:

Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-
teiligt werden.

2002 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft.
In der UN-Behindertenrechtskonvention sind die Rechte
von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben. Sie
sind geltendes Menschenrecht. Deutschland hat diese
Konvention 2009 unterschrieben.

„Euthanasie“ war und bleibt ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und darf nie wieder passieren. Orte der
Erinnerung, Mahnmale, Gedenkstätten und Ausstellun-
gen ermahnen uns, das nicht zu vergessen. Es muss für
uns eine immerwährende Aufgabe sein, mit jungen Men-
schen über die NS-Zeit zu sprechen, damit die schlimms-
ten Verbrechen der Menschheitsgeschichte nicht in Ver-
gessenheit geraten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708724900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708725000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die so-

genannte Euthanasie war ab 1934 eines der ersten furcht-
baren Vernichtungsprogramme der Nazis. Hunderttau-
sende Menschen wurden zwangsweise sterilisiert. Viele
starben dabei. Über 200 000 Menschen wurden im Rah-
men der „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet. Vernich-
tung angeblich lebensunwerten Lebens – schon dieser
Begriff ist so ungeheuerlich, dass einem beinahe die
Sprache fehlt.

Natürlich stimmt die Linke heute dafür, die Opfer-
rente für Zwangssterilisierte von 120 auf 291 Euro zu er-
höhen und diese Regelung auf die Opfer von „Euthana-
sie“-Maßnahmen auszudehnen. Das ist das Mindeste,
was wir für die Überlebenden bzw. Angehörigen tun
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Es hat viel zu lange gedauert, bis das Erbgesundheits-
gesetz hierzulande als NS-Unrecht erkannt worden ist.
Die Opfer wurden nicht als NS-Verfolgte anerkannt, und
sie erhielten – dies ist übrigens bis heute so – keine Leis-
tungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, weil die-
ses Gesetz eine Frist enthielt, die längst abgelaufen ist.
Erst seit Ende der 90er-Jahre erhalten die Betroffenen
kleine Opferrenten. Für SS-Mitglieder und Nazibeamte
wurden solche Befristungen im Übrigen nie eingeführt.
Auch das ist ein Unrecht, das benannt werden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Vorstellung, es gebe Menschen, die ein größeres
Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben als an-
dere, ist auch heute leider nicht überwunden. Ich will nur
daran erinnern, dass der CDU-Abgeordnete Philipp
Mißfelder hier vor einigen Jahren die Auffassung vertre-
ten hat, dass alten Menschen keine künstlichen Hüftge-
lenke mehr zu gewähren seien. Gesundheitspolitik nach
dem Geldbeutel ist leider auch die Linie dieser Bundes-
regierung. Ausreichende medizinische Versorgung nur
noch für jene, die über entsprechende Einkommen verfü-
gen und die ihre Versorgung privat finanzieren können –
das ist weit entfernt von dem, wozu die NS-Verbrechen
mahnen, nämlich zu einer Gesundheitsversorgung, die
sich eben nicht an Nützlichkeit, sondern an Menschlich-
keit orientiert.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist sehr bedauerlich – ich finde es gerade am heuti-
gen Gedenktag sehr beschämend –, dass alle Fraktionen
dieses Hauses die Linke bei der Einreichung dieses An-
trags wiederum ausgegrenzt haben. Gerade die Linke hat
sich in den vergangenen Jahren immer auf die Seite der
NS-Opfer gestellt, und viele meiner Kolleginnen und
Kollegen haben frühzeitig und seit Jahren immer wieder
– ich selber übrigens auch – für die Entschädigung der
Zwangsarbeiter, aber auch anderer Opfer gekämpft.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerade deswegen wäre es an dem heutigen Tag sinnvoll
gewesen, ein Zeichen des gesamten Hauses zu setzen
und, liebe Kollegin, eben nicht mit Ausgrenzung zu ar-
beiten. Sie haben es ja eben selbst moniert.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will zum Schluss sehr deutlich machen, dass es
immer noch viele NS-Opfer gibt, die bis heute nicht ent-
schädigt worden sind. Ich will an die Massaker der SS
und der Wehrmacht, beispielsweise in Distomo in Grie-
chenland, erinnern. Auch die italienischen Militärinter-
nierten, die Zwangsarbeit für die Nazis und die Rüstungs-
industrie leisten mussten, sind bis heute nicht entschädigt
worden.

Ich denke, es ist eine zynische Missachtung, dass man
aufgrund des häufig öffentlichen Drucks immer wieder
Gruppen herausgegriffen und in Entschädigungsrechte
einbezogen, aber andere immer wieder ausgegrenzt hat.
Deswegen sage ich für meine Fraktion: Hören Sie auf,
die Opfergruppen zu spalten, und geben Sie den Opfern
das, was für ihre Anerkennung und Entschädigung not-
wendig ist. Dazu gehört eben nicht Ausgrenzung. Alle
müssen einbezogen werden.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708725100

Nun hat das Wort der Kollege Volker Beck für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708725200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfangs

gesagt: Auch ich finde es unnötig und albern, dass man
die Linke bei so etwas außen vor lässt. Aber ich muss





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

auch sagen: Beim Mittelteil Ihrer Rede haben Sie sich
selbst ein bisschen aus dem Zentrum der Debatte kata-
pultiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Mit dem heutigen Beschluss des Deutschen Bundes-
tages gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt bei der
Anerkennung und Entschädigung der Zwangssterilisier-
ten und der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wir ha-
ben, auch unter Rot-Grün, lange darum gerungen, die
Leistungen sukzessive zu verbessern. Ich bin froh, dass
wir es heute schaffen, die außergesetzlichen Leistungen
auf das Niveau der Leistungen anzuheben, die jüdische
Opfer, die in Konzentrationslagern waren oder 18 Monate
in einem Ghetto gelebt haben, bekommen können. Es sind
sehr geringe Leistungen – das wollen wir uns auch einge-
stehen –, aber ich bin froh, dass das heute gelingt.

Gleichwohl bleiben wir den Opfern des „Euthanasie“-
Programms und den Zwangssterilisierten eines nach wie
vor schuldig: Damit meine ich nicht Geld, sondern die
Aussage, dass sie rassisch Verfolgte sind. Die Nichtaner-
kennung der rassischen Verfolgung für die der Opfer des
Erbgesundheitsgesetzes ist die Rechtsgrundlage gewe-
sen, warum sie nicht Opfer im Sinne des Bundesentschä-
digungsgesetzes waren. Nach dem Bundesentschädi-
gungsgesetz können seit 1969 keine neuen Anträge mehr
gestellt werden. Deshalb wäre es eigentlich ein Leichtes,
dass der Deutsche Bundestag hier eine klare Aussage
trifft. Das ist in dem Antrag leider noch nicht gelungen;
das kann man allerdings auch ohne Kostenrelevanz zu
einem späteren Zeitpunkt nachholen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was die Geschichte angeht, so ist das Erbgesundheits-
gesetz, das unmittelbar nach der Machtergreifung 1933
in Kraft gesetzt wurde, das erste Rassegesetz der Natio-
nalsozialisten gewesen. Ärzte waren nun verpflichtet,
Menschen zu ihrer Sterilisation zu melden, und sie taten
dies mit unterschiedlich viel Eifer. Mehr als 5 000 Men-
schen starben an diesen Eingriffen. Andere suchten den
Freitod. Über 400 000 Menschen wurden zwangsweise
unfruchtbar gemacht. 90 Prozent von ihnen waren
Frauen.

Einer der eifrigen Ärzte hat mit der Nichtanerken-
nung dieser Opfergruppe sehr viel zu tun. Es war der
Psychiater Werner Villinger, der als Chefarzt in einer
Anstalt in Bethel bei Bielefeld praktizierte. In der Zeit
zwischen 1934 und 1936 meldete allein er 2 854 Men-
schen zur Zwangssterilisation – 2 854 Menschen, die
heute keine Enkelkinder haben und meist allein ihr rest-
liches Leben verbringen müssen, sofern sie noch leben.

Ärzte wie Villinger gab es viele, und wie er machten
viele in der jungen Bundesrepublik – auch das gehört zur
traurigen Kontinuität unserer Geschichte dazu – Karriere,
statt vor Gericht für ihre Verbrechen zur Verantwortung
gezogen zu werden. Ein Skandal! Und ein noch größerer
Skandal: Als Sachverständiger des Ausschusses des
Deutschen Bundestages für Wiedergutmachung wandte
sich Werner Villinger damals vehement gegen eine fi-
nanzielle Entschädigung seiner Opfer und tat deren Ent-
schädigungsbegehren als „Entschädigungsneurose“ ab.
Villinger wurde Rektor der Universität Marburg und be-
kam das Große Bundesverdienstkreuz.

Er war der Ratgeber für unser Haus – auch das gehört
zu unserer Geschichte als Deutscher Bundestag dazu –,
und da sind wir dem Falschen gefolgt. Ich finde, wir ha-
ben diesbezüglich etwas historisch aufzuarbeiten und
wiedergutzumachen. Deshalb appelliere ich an alle Frak-
tionen, die den Antrag heute getragen haben, eine wei-
tere Initiative auf den Weg zu bringen, um deutlich zu
sagen, dass wir anerkennen: Die Opfer des „Euthana-
sie“-Programms, die Zwangssterilisierten waren rassisch
Verfolgte, und die frühere Falscheinteilung durch den
Bundesgerichtshof, durch den Deutschen Bundestag war
ein historischer Fehler. Insofern hat sich unser Haus ge-
genüber diesen Opfern schuldig gemacht.


(Beifall im ganzen Haus)


Zur ganzen Wahrheit gehört übrigens, dass diese
schreckliche Geschichte der Ausgrenzung der Zwangs-
sterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten nicht nur
ein Fehler der Bundesrepublik Deutschland war. Viel-
mehr wurden die Zwangssterilisierten auch in der DDR
1952 sogar ausdrücklich aus der Liste der NS-Verfolgten
gestrichen. Daher konnten sie in der DDR keinen An-
spruch auf Entschädigung verwirklichen.

Überlebende dieses Unrechts, wie die Geschäftsfüh-
rerin der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-
Geschädigten und Zwangssterilisierten, kämpfen bis
heute um diese Anerkennung. Es leben nur noch wenige
Dutzend der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wir
sollten mit der klaren Aussage, wie wir zu diesem histo-
rischen Sachverhalt stehen, nicht warten, bis die Letzten
gestorben sind.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708725300

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter

Aumer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1708725400

In der Verblendung, Leben könne lebensunwert
sein, wurden in der Zeit des Nationalsozialismus
638 Frauen, Männer und Jugendliche von hier aus
nach Hartheim bei Linz gebracht und ermordet,
mehr als fünfhundert weitere gegen ihren Willen
sterilisiert. Viele hundert Menschen litten und star-
ben in diesem Krankenhaus an den Folgen staatlich
verordneter extremer Überbelegung und Mangeler-
nährung.

Gedenket der Opfer … und derer, die in der Not ge-
holfen haben!

Sie alle waren Menschen wie wir.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine Tafel mit dieser Inschrift wurde im Jahr





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)

1990 in einem Klinikum in meinem Wahlkreis ange-
bracht, im Gedenken an die Transporte aus dieser Klinik
im Rahmen des zynisch als „Euthanasie“ bezeichneten
menschenverachtenden und verbrecherischen Mordpro-
gramms und zur Zwangssterilisierung.

Dieses Beispiel aus meinem Wahlkreis ist im damali-
gen Deutschland sicher nur eines von vielen gewesen.
Mit einem auf den 1. September 1939 rückdatierten Er-
lass gab Hitler persönlich den schändlichen Auftrag zur
Tötung allen nicht arbeitsfähigen „lebensunwerten Le-
bens“. Für mich stellt sich die Frage: Was kann über-
haupt „lebensunwertes Leben“ sein? Kann es so etwas
geben? Leben kann niemals lebensunwert sein. Leben ist
nicht nur um der Arbeit willen lebenswert. Der große
Philosoph Immanuel Kant drückt es treffend aus:

Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner
Person, als in der Person eines jeden anderen jeder-
zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst.

Jedes Leben ist lebenswert. Deswegen ist die Achtung
vor dem anderen, die Anerkenntnis seines Rechts, zu exis-
tieren, und die Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleich-
wertigkeit aller Menschen Fundament eines guten und
tragfähigen Miteinanders.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Unser Grundgesetz gibt die richtige Antwort:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-
lichen Gewalt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708725500

Herr Kollege Aumer, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Seifert?


Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1708725600

Nein. – Diesem Auftrag sind wir alle verpflichtet.

Wir bringen heute, am 27. Januar, am Gedenktag der
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, einen
fraktionsübergreifenden Antrag ein, um die Entschädi-
gungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und
der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu
erhöhen. Wir wissen, dass keine Entschädigung das him-
melschreiende Unrecht, das furchtbare Leid und das
grenzenlose Unheil ausgleichen kann, das die National-
sozialisten bei der Verfolgung ihrer Rassenziele über
Menschen und deren Angehörige gebracht haben.

Es ist richtig und gut, diese Entschädigungsleistungen
zu erhöhen. Es ist richtig und gut, sich an einem Tag wie
heute zu erinnern und Verantwortung zu übernehmen. Es
ist richtig und gut, den Betroffenen zu zeigen: Wir haben
das Schicksal, das ihnen widerfahren ist, nicht verges-
sen. Es ist richtig und gut, zu zeigen, dass solch tiefes
und erschütterndes Unrecht in Deutschland nicht mehr
möglich ist; denn wir haben aus unserer Geschichte ge-
lernt.
Papst Benedikt XVI. hat bei seinem Besuch im Kon-
zentrationslager Auschwitz im Jahr 2006 gesagt:

Das Vergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns
an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dür-
fen und welche wir suchen müssen.

Zukunft braucht Erinnerung.

Bundespräsident Roman Herzog hat bei der Einfüh-
rung des heutigen Gedenktages im Jahr 1996 gesagt:

Wer Unfreiheit und Willkür kennt, der weiß Freiheit
und Recht zu schätzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Selbstverständlichkeit aber, mit der unser Volk
Freiheit und Recht erleben darf, vermittelt mitunter
zu wenig Gespür für die Gefahren von Willkür und
Unfreiheit.

Es ist unsere Aufgabe, diesem großen Auftrag gerecht
zu werden. Wir müssen mithelfen, die Lebensbedingun-
gen in unserem Land weiter so zu gestalten, dass alle
Menschen in Einigkeit und Recht und Freiheit leben
können. Eingedenk unserer Geschichte und der Verant-
wortung, die daraus resultiert, müssen wir uns in einem
starken Europa gemeinsam für Frieden und Freiheit in
der Welt einsetzen.

Die Inschrift eines anderen Denkmals in meinem
Wahlkreis, das an die Verbrechen der Nationalsozialisten
erinnert, endet mit einem Zitat von Victor Hugo:

Die Vergangenheit nennt sich Hass, die Zukunft
heißt Liebe.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708725700

Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kol-

lege Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708725800

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Aumer

sprach gerade sehr salbungsvoll davon, dass wir einan-
der achten sollen. Ja, das finde ich auch, Herr Aumer
und liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-
Fraktion. Aber Sie alle wissen so gut wie ich, dass die
Fraktion Die Linke und die Vorgängerfraktionen der
PDS in jeder vorherigen Wahlperiode ähnliche Anträge
eingebracht haben. Wir haben uns immer engagiert dafür
eingesetzt, dass die Nazi-Unrechtsgesetze für von An-
fang an null und nichtig erklärt werden und dass den Op-
fern beizeiten ordentliche Entschädigungen geleistet
werden.

Jetzt grenzen Sie uns aus, wir dürfen noch nicht ein-
mal auf Ihrem Antrag erscheinen. Wir stimmen ihm
selbstverständlich zu, weil er vernünftig ist. Aber wenn
Sie von Achtung voreinander sprechen, dann achten Sie
wenigstens Ihre Kollegen in diesem Hause. Achten Sie
unsere Arbeit, weil auch wir den Opfern helfen wollen.





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)

Ich finde, es gehört zum Anstand in diesem Hohen
Hause, dass man einander achtet und die Arbeit der an-
deren nicht dadurch diskreditiert, dass man sie nicht ein-
mal mitmachen lässt. Ich will ausdrücklich hinzufügen:
Gerade weil die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangsste-
rilisierung in der DDR nicht gebührend geachtet und ge-
würdigt wurden, haben wir diese Anträge eingebracht.
Wir haben gelernt und wollen dieses Unrecht wiedergut-
machen. Sie geben uns dazu aber keine richtige Chance.
Gehen Sie in sich und überlegen Sie sich, ob das wirk-
lich sein muss.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708725900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/4543 mit dem Titel „Ent-
schädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisie-
rung und der ,Euthanasie’ in der Zeit des Nationalsozia-
lismus“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Ist jemand
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:

10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil (Peine),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Energieeffizienz verbessern – Auf dem eu-
ropäischen Sondergipfel zur Energiepolitik
am 4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmen
vereinbaren

– Drucksache 17/4528 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

EU-Klimaschutzziel erhöhen

– Drucksache 17/4529 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutsch-
land und Europa sicherstellen

– Drucksache 17/4527 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Europas Energiezukunft erneuerbar und si-
cher gestalten

– Drucksache 17/4544 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
dass Sie damit einverstanden sind. Dann können wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1708726000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am 4. Februar 2011 findet der EU-Sondergipfel zur
Energiepolitik statt. Und siehe da: Das ist kein Thema,
zu dem der Wirtschaftsminister oder die Bundeskanzle-
rin eine Regierungserklärung abgibt. Wir diskutieren das
auf Antrag von Fraktionen zu später Stunde. Aber das ist
natürlich leicht zu erklären: Die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen wissen selbst, dass sie auf
dem Gebiet der Energiepolitik nichts zu bieten haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Um Ihnen zu zeigen, dass Ihre Einsicht – wenn sie
denn vorhanden ist – berechtigt ist: Ein Schwerpunkt bei
diesem Gipfel wird die Energieeffizienz sein. Die Euro-
päische Kommission hat eine ganze Reihe von Mitglied-
staaten kritisiert, weil ihre eingereichten Energieeffi-
zienzpläne nicht ausreichen, um die selbst gesetzten
Ziele zu erreichen. Insbesondere hat sie Deutschland kri-
tisiert, weil die Pläne, die Sie eingereicht haben, besten-
falls reichen, um etwa 12 Prozent Effizienzerhöhung bis
zum Jahre 2020 zu erreichen. Mindestens 20 Prozent
waren das gesetzte Ziel; eigentlich hatten wir sogar noch
mehr vor.


(Ulrich Kelber [SPD]: So viel zum Hightechland Deutschland à la FDP!)


Das zeigt, wie bescheiden Sie in Ihren Zielsetzungen
und Ihren Planungen geworden sind.





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

Noch deutlicher wird das an dem, was Sie in den letz-
ten anderthalb Jahren Ihrer Regierungspolitik im Bereich
der Effizienzpolitik tatsächlich getan haben. Im Gebäu-
debereich gab es ein äußerst erfolgreiches Programm,
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Es hat sich über
die eingehenden Steuern selbst finanziert. Es hat mehr
als 200 000 Handwerker in Arbeit gebracht. 1 Million
Wohnungen wurden in wenigen Jahren saniert. Jetzt ha-
ben Sie die Mittel auf die Hälfte zurückgefahren, obwohl
alle Experten gesagt haben: Eher wäre es an der Zeit, das
Programm sogar auszuweiten. – Strukturen, die im
Handwerk entstanden sind, werden wieder schrumpfen.
Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva BullingSchröter [DIE LINKE])


Auch auf der Erzeugungsseite greift Ihre sogenannte
Effizienzpolitik zu kurz. Ja, Sie bekennen sich lautstark
zur Kraft-Wärme-Kopplung. Aber was Sie tatsächlich
tun, ist das Gegenteil. Steuerlich stellen Sie sie schlech-
ter. Auch den Ausbau der Fernwärmenetze belasten Sie
zusätzlich, sodass keiner in der Branche mehr glaubt,
dass die selbst gesetzten Ziele – 25 Prozent Kraft-
Wärme-Kopplung bis zum Jahre 2020 – von Ihnen er-
reicht werden.

Meine Damen und Herren, die SPD hat zu diesem
Thema einen Antrag eingebracht. Wir haben einen gründ-
lich vorbereiteten Effizienzaktionsplan angemahnt: mit
verbindlichen Vorgaben, insbesondere für den Gebäude-,
aber auch für den Verkehrsbereich, mit einem klugen Mix
aus steuerlichen Anreizen, mit anderen Förderinstrumen-
ten und, wo notwendig, auch mit Ordnungsrecht. Auch
die Entwicklung von Finanzdienstleistungen wird von
uns vorgeschlagen. Sie sind diesen Weg bisher nicht ge-
gangen. Chancen, die zum Beispiel in Energiedienstleis-
tungen, im Contracting, liegen, werden nicht wahrge-
nommen, obwohl viele Marktakteure schon lange darauf
warten.

Der zweite Schwerpunkt sind die erneuerbaren Ener-
gien; auch damit werden Sie sich auf dem Gipfel am
4. Februar dieses Jahres befassen. Was haben wir dazu in
letzter Zeit nicht alles gehört? Der Energiekommissar, ein
Deutscher, seines Zeichens ehemaliger CDU-Minister-
präsident von Baden-Württemberg, Herr Oettinger, griff
das EEG an und sagte: Wir brauchen die Harmonisierung,
die Konvergenz der Förderinstrumente in Europa. – Jetzt
ist er zurückgerudert und hat gesagt: Das habe ich eigent-
lich nie so gemeint.


(Heiterkeit des Abg. Ulrich Kelber [SPD])


Er hat nämlich festgestellt, dass das in Europa überhaupt
nicht durchsetzbar ist.

Er hat vielleicht noch etwas anderes gemerkt: Wenn er
Harmonisierung und Konvergenz ernst nehmen würde,
dann müsste er eigentlich dafür sorgen, dass endlich auch
die 6 der 27 Mitgliedstaaten, die noch kein EEG haben,
ein solches Instrument einführen. Denn das EEG ist das
Regelinstrument, nicht etwa die Quote, die Sie so gerne
haben möchten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva BullingSchröter [DIE LINKE])


Jedenfalls gilt in 21 Mitgliedstaaten von der Struktur
her genau das, was auch in Deutschland gilt, nämlich ein
Einspeisevorrang für erneuerbare Energien und feste
Entgelte für die Einspeisung mit einem Degressionspfad.
Dieses System – das wissen die anderen – müssen wir
erhalten, gerade wenn wir die Marktfähigkeit der erneu-
erbaren Energien vorantreiben wollen; auch das sagen
Ihnen mittlerweile viele Experten.

Erst jüngst ist ein Gutachten von Prognos vorgelegt
worden, das deutlich macht, dass in diesem Bereich ganz
erhebliche Chancen liegen. Wenn die Markt-, aber auch
die Systemintegration der Erneuerbaren mit den entspre-
chenden Instrumenten und gemeinsam mit den Marktak-
teuren vorangetrieben wird, dann erreichen Sie sowohl
ökologische als auch ökonomische Ziele. Die erneuerba-
ren Energien werden billiger und werthaltiger.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In dieser Prognos-Studie wird eines deutlich: Es wird
nichts passieren, wenn ein Akteur ausfällt. Dieser Akteur
ist die Politik. Wenn Sie nichts tun, wenn Sie die Ak-
teure nicht an einen Tisch holen, wenn Sie nicht dafür
sorgen, dass sich das System zugunsten der Einspeisung
Erneuerbarer fortentwickelt und flexibler wird, dann
wird nichts passieren.

Die Akteure, um die es geht, werden in der Studie be-
nannt. Es sind all diejenigen, die beim Netzausbau enga-
giert sind, und zwar auf der Übertragungs- wie auf der
Verteilebene.


(Michael Kauch [FDP]: Das steht auch schon im Energiekonzept!)


Dazu gehören unter anderem die Stadtwerke. Bei der letz-
ten Anhörung habe ich sehr deutlich gemerkt, welche
Aversionen viele von Ihnen gerade gegen diesen Markt-
akteur haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD], an die FDP gewandt: Genau! Ihr Populisten!)


Es sind aber auch andere Anbieter, die sich insbeson-
dere mit intelligenten Netzen, mit intelligenten Energie-
dienstleistungen befassen und sich im Grunde in ein
Boot mit den Kunden begeben wollen, indem sie näm-
lich Effizienz zu ihrem Geschäftsmodell machen. Das
tun die Großen, die Sie mit Ihrer Atompolitik unterstüt-
zen, nämlich gerade nicht. Sie wollen Mengen verkau-
fen, und das ist ein Prinzip, mit dem Ihre Ziele und un-
sere Ziele niemals erreicht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ökonomische und ökologi-
sche Chancen bleiben zurzeit leider ungenutzt. Ich kann
Sie nur auffordern, Ihre Politik zu ändern, einen Kurs-
wechsel herbeizuführen. Sie haben ja gemerkt, in Europa
stoßen Sie auf Unverständnis. Man erwartet dort von
Deutschland eine ganz andere Rolle, eine führende





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

Rolle, eine, die auch dazu führt, was Sie ja angeblich
wollen, dass die Erneuerbaren demnächst 35 Prozent, ir-
gendwann mehr als 50 Prozent und auch nach Ihren
Zielsetzungen einmal 80 Prozent Anteil am Strommarkt
haben. Wenn Sie das erreichen wollen, dann erhalten Sie
das EEG auf Sicht – so habe ich es genannt, nicht auf
Ewigkeit – in der Struktur und sorgen Sie dafür, dass die
notwendigen Instrumente zur Markteinführung entwi-
ckelt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708726100

Der Kollege Thomas Bareiß ist der nächste Redner

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1708726200

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-

men! Meine Herren! Lieber Kollege Hempelmann, Sie
haben heute das hohe Ziel ausgerufen, dass zu diesem
Thema eine Regierungserklärung abgegeben werden
soll. Ich kann Ihnen nur entgegnen: Manchmal ist es gut,
wenn zu solchen Themen Fachpolitiker reden und das
Ganze auf eine sachliche Ebene bringen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie hätten doch die Möglichkeit gehabt, zu verzichten!)


Aber leider hat Ihre Rede nicht dazu beigetragen, dass
das Thema fachlich angegangen worden ist. Ich sage
„leider“, weil ich eigentlich anderes von Ihnen gewohnt
bin.

Ich glaube, es ist richtig und gut, dass die SPD das
Ziel, über Energieeffizienz zu diskutieren, in ihrem An-
trag thematisiert hat. Ich finde, Energieeffizienz – wir ha-
ben es hier im Hause schon unterschiedlich diskutiert – ist
enorm wichtig und kommt in den energiepolitischen De-
batten sicherlich viel zu kurz. Wir werden es in den
nächsten 15 Jahren erleben, dass der Energiehunger in
der Welt sich gegenüber dem, was wir heute haben, um
50 Prozent steigern wird. Wir werden sehen, dass nach
wie vor ein großer Teil der Energieerzeugung auf endli-
chen Rohstoffen basiert.

Allein aus diesen Gründen ist es nicht nur notwendig,
sondern auch wirtschaftlich vernünftig, dass wir bei der
Energieeffizienz führend in der Welt und auch tonange-
bend sind. Ich glaube, es ist nicht nur ein sehr wichtiger
energiepolitischer, sondern auch wirtschaftspolitischer
Aspekt, den wir aufgreifen müssen. Es ist auch gut, dass
nicht nur wir in Deutschland uns um dieses Thema küm-
mern, sondern dass vor allen Dingen auch die Europäi-
sche Union dies tut.

Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Hempelmann: Wir
sind in Deutschland nicht nur auf einem guten Weg, son-
dern wir sind führend in Europa.

(Ulrich Kelber [SPD]: Bei was, bei Energieeffizienz? Sie haben doch gerade das EU-Zeugnis bekommen: Abstiegszone sind Sie, untere Abstiegszone!)


– Herr Kelber, das gilt auch für Sie. – Wir haben im letz-
ten Jahr ein Energiekonzept vorgelegt, was Sie in acht
Jahren Regierung nicht hinbekommen haben, ein Ener-
giekonzept, das einzigartig in Europa und in der Welt ist.


(Ulrich Kelber [SPD]: Weil wir das nicht wollten, so ein Energiekonzept!)


Die ganze Welt schaut auf Deutschland, wie es dieses
Energiekonzept umsetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Herr Bareiß, die Energiewirtschaft lacht über Sie! Über Sie persönlich!)


Beispielhaft sei erwähnt, dass bis 2020 35 Prozent des
Stroms aus erneuerbaren Energien stammen soll, dass
die CO2-Reduktion bis 2020 40 Prozent – unkonditio-
niert – betragen soll und dass der Verbrauch primärer
Energien in den nächsten zehn Jahren um noch einmal
20 Prozent reduziert werden soll.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal, was Sie konkret machen!)


Das sind Ziele, die gerade für eine Wirtschafts- und In-
dustrienation wie Deutschland eine enorme Herausfor-
derung darstellen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708726300

Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr Kelber

möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1708726400

Nein.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708726500

Nein.


(Ulrich Kelber [SPD]: Dazu hat er nichts aufgeschrieben!)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1708726600

Was das Thema Energiekonzept und Energieeffizienz

angeht, so sind wir derzeit schon sehr gut. 1,6 Prozent ist
nicht spitze in Europa.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben waren Sie doch noch führend!)


Aber wenn man einmal sieht, von welchem Niveau wir
in Deutschland ausgehen, wie effizient unsere Wirtschaft
schon arbeitet und wie unsere energiepolitischen Wei-
chenstellungen sind, dann muss man sagen, dass die
Zielsetzung, eine Steigerung der Energieeffizienz auf
2,1 Prozent zu erreichen, eine große Herausforderung
ist, die wir konsequent angehen. Das wird uns entspre-
chend nach vorne bringen, und wir werden auch Europa
in dieser Frage mitziehen.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal, wie!)


Wir wollen aber nicht das, was Sie wollen, nämlich
Kompetenz an die Europäische Union abgeben, sondern
wir wollen nach wie vor, dass der Bereich der Energieef-
fizienz Kernbestandteil der nationalen Politik bleibt,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


weil eine Verschiebung in die Europäische Union bedeu-
ten würde, dass wir zwangsläufig solch unsinnige Dinge
wie die Glühbirnen-Verordnung


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist doch mit Ihrer Mehrheit im EP beschlossen worden! Sie haben doch als Europäische Volkspartei und Liberale die Mehrheit gehabt! Die eigenen Maßnahmen beschimpfen! Peinlich!)


oder die Duschkopf-Verordnung bekämen. Das sind
Dinge, die ich in der Europäischen Union nicht will. Ich
glaube, wir können die Wettbewerber und die mündigen
Bürger auch dazu bringen, dass die Energieeffizienz ver-
bessert wird.

Energieeffizienz hat viel mit innovativen Energie-
technologien zu tun. Hier muss man beide Seiten – so-
wohl die Erzeugerseite als auch die Verbraucherseite –
sehen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Eine konkrete Maßnahme, Herr Bareiß! Nur eine! Mit einer wären wir ja zufrieden!)


Zur Verbraucherseite. Damit komme ich auch gleich
zu Maßnahmen. Herr Hempelmann, darin sind wir uns
einig:


(Rolf Hempelmann [SPD]: Nein!)


Der größte Bereich ist der Wärmebereich. 40 Prozent
des Primärenergiebedarfs entfällt auf die Wärme.


(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen haben Sie das Programm gekürzt!)


Deshalb brauchen wir auch im Bereich der Gebäudesa-
nierung mehr Geld, um Anreize dafür zu schaffen, dass
etwas geht.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben die Mittel doch um zwei Drittel gekürzt!)


Ihr Herr Tiefensee hat 2009 aber alles Geld verbraten,
das für diese Aufgabe eigentlich vorgesehen war.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wer hat denn da mit uns regiert?)


Auch aufgrund der Verlängerung der Laufzeiten ha-
ben wir den Energie- und Klimafonds mit Geld gefüllt,
sodass wir damit auch wieder mehr Geld für die Gebäu-
desanierungsprogramme zur Verfügung stellen können.
In diesem Jahr haben wir 500 Millionen Euro dafür ein-
gestellt, und das werden wir in den nächsten Jahren wei-
terführen, damit die Gebäudesanierung nachhaltig und
gut finanziert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es geht aber nicht nur um die Nachfrageseite, sondern
auch die Erzeugerseite ist entscheidend. Ich schaue Sie
hier ganz genau an. Wir brauchen auch in Zukunft effi-
ziente und gute Braun- und Steinkohlekraftwerke.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Deswegen haben Sie jetzt die Atomkraftwerke gefördert!)


Das beste und effizienteste Kohlekraftwerk in Datteln,
die größte KWK-Anlage in Europa, wird nicht weiterge-
baut und nicht vorangebracht, weil Sie dieses Projekt in
der rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen ver-
hindern.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 46 Prozent Wirkungsgrad!)


Wir könnten etliche Kohlekraftwerke mit einer Effizienz
von 30 Prozent vom Netz nehmen und dafür dieses
hocheffiziente Kohlekraftwerk mit einem Wirkungsgrad
von knapp 50 Prozent ans Netz bringen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal eine Maßnahme der Energieeffizienz!)


Sie verhindern die effizienten Kraftwerke in Deutsch-
land und verfolgen damit eine konsequente Linie: Sie sa-
gen immer, wogegen Sie sind, aber nicht, wofür.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sagen ja auch nicht, wofür Sie sind! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sagen keine einzige Maßnahme, wofür Sie sind!)


Damit wollen wir Schluss machen. Deshalb haben wir
ein Energiekonzept vorgelegt, durch das die Energiepoli-
tik ordentlich und in sich stimmig angepackt wird.

In diesem Sinne: Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Früher hatte die CDU noch Fachpolitiker!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708726700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling-

Schröter für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708726800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir wissen, Herr Röttgen ist dafür, die Bundesregierung
als Ganzes aber offensichtlich nicht. Um was geht es? Es
geht darum, die EU dazu zu bewegen, bis 2020 unkondi-
tioniert nicht nur 20 Prozent, sondern 30 Prozent weni-
ger Treibhausgase auszustoßen.

Natürlich ist es so, dass das Wirtschaftsministerium
Widerstand dagegen leistet. Eigentlich ist das seltsam;
denn neben dem Klimaschutz würden uns dadurch keine
Wettbewerbsnachteile, sondern im Gegenteil Vorteile
entstehen. Schließlich hat sich Deutschland ja zu minus
40 Prozent bis 2020 bekannt. Das EU-Ziel läge dann
also nicht mehr 20 Prozent, sondern nur noch 10 Prozent
unter den deutschen Ambitionen. Damit würde sich na-
türlich unsere Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

verbessern. Sachverständige haben uns das auch schon
bestätigt.

Wir Linke fordern in unserem Antrag darum, dass
sich die Bundesregierung beim EU-Gipfel mindestens
dafür einsetzt, das 30-Prozent-Minderungsziel nicht
mehr abhängig davon zu machen, dass es auf der UN-
Ebene zu einem Klimavertrag kommt. Wir meinen, EU-
weit wären sogar 40 Prozent weniger drin, wenn es den
politischen Willen dazu gäbe.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Ziel zu vertreten, ist das eine. Die Frage, wie man
dahinkommt, ist das andere. Damit sind wir beim euro-
päischen Sondergipfel zur Energiepolitik. Wie Sie wis-
sen, hat EU-Energiekommissar Oettinger kürzlich eine
stärkere Harmonisierung der europäischen Fördersys-
teme für erneuerbare Energien ins Spiel gebracht; Kol-
lege Hempelmann hat das bereits angesprochen. Gleich-
zeitig fordert Bundeswirtschaftsminister Brüderle im
Tagesspiegel, das Erneuerbare-Energien-Gesetz durch
eine Marktprämie zu ersetzen. Auch Niedersachsens
FDP-Umweltminister Sander will das EEG insgesamt
kippen. Aus den Reihen der CDU/CSU hören wir stän-
dig, die nächste EEG-Novelle solle marktnähere Ele-
mente enthalten.

Zählt man eins und eins zusammen, kommt man zu
dem Schluss: Hier braut sich etwas zusammen, das dem
wichtigen Treiber im Klimaschutz das Genick brechen
könnte: dem Ausbau der dezentralen regenerativen Ener-
gieerzeugung.


(Horst Meierhofer [FDP]: Keine Angst!)


Sie können in Ihrer Rede darauf eingehen, Herr Nüßlein.

Der EU-Grünstromzertifikatehandel, welcher Oettinger
vorschwebt, ist nichts Neues. Er hätte zur Folge, dass na-
tionale Anstrengungen zum Ausbau erneuerbarer Ener-
gien entwertet würden. Mit Mitteln der deutschen Ver-
braucherinnen und Verbraucher würde dann nicht mehr
die Energiewende in Deutschland finanziert, sondern
vielleicht die in Spanien oder Dänemark, wo öfter die
Sonne scheint oder der Wind heftiger weht.

Wir haben nichts gegen einen grenzüberschreitenden
Austausch von Ökostrom. Er sollte aber ergänzend zur
nationalen Erzeugung erfolgen, sonst werden hierzu-
lande über kurz oder lang Forschung und Produktion
zum Erliegen kommen. Viele Arbeitsplätze bei Herstel-
lern und im Handwerk würden verloren gehen.

Um es unmissverständlich zu sagen: An den drei Eck-
punkten des EEG – Einspeisevorrang, garantierte Ein-
speisevergütung und stufenweise Senkung der Vergü-
tung – darf unserer Meinung nach nicht gerüttelt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sind die Erfolgsgarantien des EEG. Man kann nur
hoffen, dass sich hier die Vernunft durchsetzt. Das gilt
im Übrigen auch für die nächste EEG-Novelle: Absen-
ken der Vergütung bei Solarstromeinspeisung und Grün-
stromprivileg ja, aber mit Augenmaß.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wir sind gerade dabei!)


Was die EU zur Energieeffizienz sagt, ist meiner Mei-
nung nach unmissverständlich, nämlich dass das, was
bislang passiert ist, enttäuschend ist.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nicht das Politbüro, Frau Kollegin!)


Ich meine, dass auch die Vorgaben der EU sehr lau sind.
Herr Oettinger und Herr Brüderle sollten einmal gemein-
sam in Klausur gehen und sich fragen, was Energieeffi-
zienz wirklich bedeutet.

Im Übrigen stimmen wir den Anträgen von SPD und
Grünen zu.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708726900

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Breil für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1708727000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Morgen in einer Woche tagen in Brüssel die
Staats- und Regierungschefs, um über eine europäische
Energiestrategie zu beraten. In einem der hier zu bera-
tenden Anträge fordert die SPD-Fraktion ein rechtsver-
bindliches EU-Ziel von 20 Prozent mehr Effizienz und
verbindliche Maßnahmen zur Verbesserung der Energie-
effizienz.


(Ulrich Kelber [SPD]: Genau!)


Das hört sich gut an, aber es ist ein entscheidender
Unterschied, ob wir uns national eine solche Orientie-
rungsmarke im Energiekonzept gesetzt haben oder ob
wir uns gegenüber der EU dazu verpflichten. Ziele, die
um jeden Preis eingehalten werden müssen, fördern ein
Denken in dirigistischen Maßnahmen wie beim europäi-
schen Glühbirnenverbot.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Oder sie führen zu Erfolgen wie beim EEG!)


Sie führen dazu, dass die Wirtschaftlichkeit außer Acht
gelassen wird. Wir wollen nicht noch mehr europäische
Technikregulierung und von oben verordnete Effizienz-
maßnahmen, die den Verbraucher gängeln.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Dann beschließen Sie doch mal nationale!)


Die deutschen Verbraucher sind energiebewusst und
zum Energiesparen bereit. Wir brauchen eine klare
Kennzeichnung des Energieverbrauchs von Produkten
und von Pkw, eine verbesserte Beratung über Energie-
einsparmaßnahmen und mehr Beistand durch die neue
Bundesstelle für Energieeffizienz.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht nur reden, sondern handeln!)






Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)

Sie kann helfen, wenn Bürger spezialisierte Energie-
dienstleister suchen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Da könnte der zuständige Minister Brüderle doch mal anfangen!)


– Hören Sie doch einmal zu. Hier können Sie etwas ler-
nen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Nein! Von Absichtserklärungen kann man nichts lernen!)


Das sind nur wenige Beispiele, wie wir den Menschen
das freiwillige Energiesparen erleichtern.

Auch die Beratung mittelständischer Unternehmen
und effizientere Produktionsprozesse werden wir zusam-
men mit vielen anderen Maßnahmen mithilfe eines Ener-
gieeffizienzfonds fördern. Insgesamt kann in der Indus-
trie ein jährliches Einsparpotenzial von geschätzten
10 Milliarden Euro gehoben werden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Dann mal ran!)


Bekanntlich ist die Sanierung des Gebäudebestandes der
Schlüssel zur Erreichung jedes Klimaschutz- und Effi-
zienzziels.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Dann streichen Sie die Programme mal weiter!)


Die SPD findet das Energiekonzept der Bundesregierung
im Punkt Gebäudesektor so gut, dass sie es von der EU
für verbindlich erklären lassen will. Danke für dieses
Lob an dieser Stelle.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber wir werden unser Ziel eines klimaneutralen Gebäu-
des bis 2020 auch ohne die EU erreichen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ja nicht wahr, was Sie hier abliefern: Man könnte, man sollte!)


Die einzige Freiheit, die Parlamenten der Mitgliedstaa-
ten nach Meinung der SPD noch bleiben soll, ist die Ver-
teilung verbindlicher Effizienzziele auf einzelne Sekto-
ren. Die Opposition will die Wirtschaft, den
Verkehrsbereich und die Gebäudeeigentümer mit einer
Vielzahl von staatlichen Effizienzvorgaben zupflastern.
Sie will die EU-Kommission als Kontrolleur einsetzen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Europapolitik, vor der Herr Genscher warnt!)


Das ist nicht unsere Vorstellung von Europa und auch
nicht von Subsidiarität. Das ist ökologische Planwirt-
schaft. Die wird es mit uns nicht geben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie mal gelesen, was Herr Genscher zur FDP-Europapolitik sagt? Nationalpopulistisch!)


Da wir schon beim Thema Planwirtschaft sind: In Ih-
rem eigenen Antrag fordern Sie grenzüberschreitende
Netze als starkes wettbewerbliches Instrument. In einem
anderen drängen Sie auf die Rekommunalisierung der
Netze. Sie wollen also das Gegenteil von dem, was Sie
am Montag im Wirtschaftsausschuss zum Anlass der
Anhörung machten.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das sind die Verteilnetze! Das sind verschiedene Paar Schuhe! Das sind unterschiedliche Arten von Netzen!)


– Hören Sie doch zu, Herr Hempelmann, Sie können et-
was lernen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wir versuchen gerade, Ihnen zu erklären, dass das unterschiedliche Netze sind! Die Spannungen sind unterschiedlich!)


Die Experten haben uns erklärt, dass das Klein-Klein
im Netzbetrieb zulasten von Effizienz und Wettbewerb
geht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist aber Dummheit!)


Sie ignorieren ökonomische Grundwahrheiten und be-
zeichnen dann auch noch die Erkenntnisse von Experten
als dumm. Das ist schon sehr bemerkenswert.


(Beifall bei der FDP)


Sie ignorieren Grundwahrheiten immer dann, wenn sie
mit roten oder grünen Dogmen hausieren gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Ich schicke Ihnen das mal zu mit den unterschiedlichen Netzebenen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder keine einzige Maßnahme!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708727100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Nestle für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Da kann man ja mal kurz aufatmen!)



Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708727200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Fast möchte ich diese Rede mit einem Lob beginnen, mit
einem Lob an die Regierung;


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


denn es ist richtig, aber auch höchste Zeit, dass Sie ge-
gen eine schädliche EU-Harmonisierung der Förder-
instrumente für erneuerbare Energien Position beziehen,
die von Anfang an als Attacke auf das Erneuerbare-
Energien-Gesetz gedacht war, das EEG, das die größte
Technologieentwicklung der letzten zehn Jahre ausgelöst
hat, das unser bestes Klimaschutzinstrument ist und Zu-
kunftsmärkte eröffnet. Das erfolgreiche EEG darf nicht
abgeschafft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Bei wem hast du gehört, dass sie sich dagegen positionieren? Ich nicht!)






Ingrid Nestle


(A) (C)



(D)(B)

Leider ist diese Position gegen diese fatale Attacke, die
auch noch aus Ihren eigenen Reihen stammt, das einzig
Sinnvolle, was Sie zu diesem EU-Gipfel beizutragen ha-
ben.

Ich möchte einige Beispiele nennen. Es wurde heute
sehr viel über Energieeffizienz geredet. Beim EU-Gipfel
geht es darum, das 20-Prozent-Ziel verbindlich zu ma-
chen. Das ist ein unbürokratisches Instrument, weil jedes
Land selbst entscheiden kann, wie es dieses Ziel erreicht.
Es schafft dadurch Anreize für Kreativität, und es nutzt
unserem Standort. Was ist Ihre Reaktion darauf? Nein,
kein verbindliches Ziel. Lieber nur in die Richtung von
20 Prozent. – Stellen Sie sich einmal vor: 27 Firmen
wollen gemeinsam ein Projekt starten, und wenn man
über das Budget redet, dann heißt es: Na ja, vielleicht
gebe ich so in Richtung 20 000 Euro, aber verbindlich
festlegen will ich mich nicht. – Das ist doch absurd. Es
würde überhaupt nichts in der Wirtschaft passieren. Ge-
nau das ist die Durchschlagskraft, die Ihre Energiepolitik
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708727300

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708727400

Sehr gerne.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708727500

Bitte sehr, Herr Kollege Staffeldt.


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1708727600

Liebe Kollegin Nestle, sind Sie in der Lage, mir zuzu-

stimmen, wenn ich sage, dass es in den einzelnen euro-
päischen Ländern unterschiedliche Startvoraussetzungen
gibt? Das heißt, in Spanien, Italien, Portugal, Rumänien
oder sonst wo ist das Ziel von 20 Prozent relativ schnell
und einfach erreichbar. Bei uns in Deutschland ist es
aber deutlich schwieriger, weil wir gerade im Bereich
der Energieeffizienz, beispielsweise in der Industrie, be-
reits seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten sehr viel
aktiver sind als andere Länder, auch aus Kostengründen.
Insbesondere im Bereich der Gebäudesanierung machen
wir schon sehr viel mehr, als andere Länder gemacht ha-
ben. Aus diesem Grund können die 20 Prozent nur bei
gleichen Startvoraussetzungen gelten.


Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708727700

Werter Herr Kollege, ist Ihnen erstens bekannt, dass

das 20-Prozent-Ziel ein Ziel verglichen zu Business as
usual, zum normalen Pfad, und kein absolutes Ziel ist,
dass also jedes Land, verglichen mit seinem Pfad, das
hinterher abrechnen kann?


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Eine Gegenfrage!)


Ist Ihnen zweitens bekannt, dass es durchaus Debatten
dahin gehend gibt, unterschiedliche Ziele für unter-
schiedliche Staaten festzulegen? Auch beim Erneuer-
bare-Energien-Ziel haben wir ein verbindliches Ziel ge-
habt. Sie stellen sich aber grundsätzlich gegen ein
verbindliches Ziel und suchen gar nicht nach Lösungen
wie: Jeder Staat kann nach Business as usual abrechnen,
oder es gibt eventuell differenzierende Faktoren. – Sie
lehnen das einfach grundweg ab.

Bei den erneuerbaren Energien haben Sie sich zwar
noch dafür eingesetzt, aber bei Effizienz hört es ganz
schnell auf. Das ist sehr traurig. Bei Energieeffizienz
machen Sie den Mund am weitesten auf. Sie fordern
Energieeffizienz. Aber wenn es darum geht, etwas kon-
kret zu machen und weiterzudenken, dann gibt es nur
dieses Abblocken.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Werden Sie einmal konkret!)


Genau das haben wir heute in den Beiträgen gesehen.
Wenn wir nach konkreten Maßnahmen zur Energieeffi-
zienz fragen, dann heißt es: Halbierung der Fördermittel
und neue Kohlekraftwerke. – Wir haben von einem kla-
ren Pkw-Label gehört, das nach Ihren Vorstellungen Ge-
wicht belohnt: Je schwerer das Auto ist, desto besser
steht es da. Gewicht wird also belohnt. Das ist eine ab-
sichtliche Falschinformation und kein klares Label, wie
Sie es gefordert haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Torsten Staffeldt [FDP]: Das beantwortet nicht meine Frage! – Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Man muss die Antwort auch verstehen!)


Nicht zuletzt sieht man auch an den faktischen Zah-
len, dass Ihre Politik nicht greift; denn Sie werden mit
Ihren Instrumenten gerade einmal 12 Prozent schaffen
und nicht die 20 Prozent, die wir brauchen. Sie sind die
Regierung des Stillstands.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Nicht einer klatscht bei Ihnen!)


Zweites Beispiel aus der EU, die Infrastruktur. Es geht
darum, den stockenden Ausbau der Stromnetze voranzu-
bringen. Auch Sie finden das sehr wichtig. Die EU macht
einen Vorschlag, aber Sie lehnen den Vorschlag ab und
sagen: Nein, das sollen die Unternehmen finanzieren. –
Diese sind aber heute offensichtlich nicht in der Lage
oder nicht willens, dies zu tun. Sie bringen keine eigenen
Vorschläge ein. Sie sind die Regierung des Stillstands.
Wir hingegen haben vor zwei Wochen ein Stromnetz-
konzept vorgelegt, das deutlich konkreter ist als alles,
was ich von Ihnen gehört habe, inklusive Ihres Energie-
konzepts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Drittes Beispiel, der Binnenmarkt. Warum haben Sie
das einzig wirklich wirksame Instrument, um in der EU
Wettbewerb zu schaffen, immer abgeblockt, nämlich die
eigentumsrechtliche Entflechtung von Netz und Erzeu-
gung? Immer haben Sie sich dagegengestellt. So könnte
man aber Wettbewerb schaffen. Sie sind die Partei des
Stillstands und die Regierung des Stillstands. Wir kämp-
fen mit der eigentumsrechtlichen Entflechtung von Netz
und Erzeugung für wirklichen Wettbewerb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Ingrid Nestle


(A) (C)



(D)(B)

Die Ölpreise haben sich verdreifacht. Was machen
Sie? Nichts.

Der Ausbau der Stromnetze stockt. Das ist ein Pro-
blem. Ihr Kommentar: Das sollen die Unternehmen ir-
gendwie machen.

Effizienz ist unsere Zukunftschance. Wir können ba-
res Geld sparen und Zukunftsmärkte erobern. Wir kön-
nen Klimaschutz effektiv und kostengünstig gestalten.
Ihre Position: Bloß kein verbindliches Ziel; denn dann
müsste man womöglich wirklich etwas machen.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Wir machen doch etwas!)


Eines kann ich Ihnen ganz konkret vorschlagen, was Sie
jetzt bei diesem EU-Gipfel machen können: Es gibt Re-
gelungen zur energieeffizienten öffentlichen Beschaf-
fung, die sich nur auf Neubauten beziehen, die sowieso
strikten Regeln unterliegen. Weiten Sie diese Regeln auf
den Bestand, auf die Altbauten und auf den öffentlichen
Bestand aus, dann haben Sie bei diesem EU-Gipfel et-
was erreicht! Das möchte ich Ihnen mitgeben. Wenden
Sie sich von der rückwärtsgewandten Politik des Still-
stands ab! Bringen Sie uns, Deutschland und Europa vo-
ran, aber bitte in die richtige Richtung!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708727800

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Neun Minuten für einen konkreten Vorschlag! Die Koalition insgesamt!)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1708727900

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es

gibt momentan zwei Politikfelder, die an Akzeptanz in
der Öffentlichkeit verlieren:


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das stimmt!)


Das ist auf der einen Seite die europäische Politik, und
das ist auf der anderen Seite all das, was sich rund um
das Thema „erneuerbare Energien“ abspielt. Ich sage bei
beiden Themen: leider Gottes. Es ist an uns, an dieser
Stelle etwas zu tun. Wir reden heute über die Schnitt-
menge dieser beiden Politikfelder.

Ich will mit dem Thema Erneuerbare-Energien-Ge-
setz beginnen. Einiges wird unter dem beschönigenden
Oberbegriff „Harmonisierung“ diskutiert. Ich möchte ei-
nen Blick werfen auf die Wurzeln des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes, nämlich auf das Stromeinspeisungsge-
setz. Ich tue das nicht, weil ich, lieber Kollege Fell,
irgendjemandem die Vaterschaft an dieser Stelle abspre-
chen möchte, sondern weil ich ganz deutlich den regula-
torischen Ansatz herausstellen möchte, der seinerzeit
eine christlich-liberale Koalition bewegt hat, die Grund-
lagen für eine solche Systematik zu schaffen. Es ging da-
rum, in einem Energiebereich, der von natürlichen Mo-
nopolen im Netz und von einer verdichteten
Versorgerstruktur gekennzeichnet ist – vier Anbieter pro-
duzieren heute 80 Prozent des Stroms –, die Vorausset-
zungen dafür zu schaffen, dass Mittelständler, Landwirte,
Produzenten von Wasserkraft und Windkraft in diesem
Konzert mitspielen können, dass sie die Chance haben,
einzuspeisen, und dass staatlich geregelt ist, zu welchen
Konditionen dies passiert.


(Beifall der Abg. Thomas Dörflinger [CDU/ CSU] und Ulrich Kelber [SPD])


Ich sage das ausdrücklich deshalb, weil es ein Hinweis
darauf ist, dass man so etwas aus regulatorischen Erwä-
gungen braucht.

Wir haben über das Erneuerbare-Energien-Gesetz eine
Technologieeinführungskomponente dazubekommen, die
in weiten Teilen das Ihre leistet, auch wenn sie immer
wieder nachgesteuert werden muss. Wir werden das in
naher Zukunft in großer Einmütigkeit zwischen Regie-
rung und Opposition – jedenfalls wird das momentan so
signalisiert – auch tun. Wenn man heute sieht, wie er-
folgreich sich dieses ganze Thema entwickelt hat, dann
wird einem klar, dass Harmonisierung doch nicht heißen
kann, dass man jetzt über die Europäische Union ver-
sucht, dieses Erfolgsgesetz durch eine Quotenregelung
zu ersetzen. Durch eine Quotenregelung würden wir ei-
nen Strukturbeitrag und Wertschöpfung im eigenen Land
verlieren. Außerdem hätten wir bei einer Quotenrege-
lung nicht mehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem ei-
genen Land unabhängiger zu werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage das in dem Bewusstsein, dass man momen-
tan ganz deutlich zeigen kann – jedenfalls besagen das
die Zahlen des Bundesumweltministeriums, das eben-
falls CDU-geführt ist –, dass die Alternativen keine Vor-
teile bringen. In Großbritannien kostet die Megawatt-
stunde Windenergie 65 Euro. Dort hat man ein
Quotensystem mit Zertifikatehandel. In Italien, wo man
ein ähnliches System hat, kostet die Megawattstunde
Windenergie 85 Euro. In Deutschland mit seinem vielge-
scholtenen EEG kostet die Megawattstunde Windenergie
50 Euro.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt, wir haben politisch offenbar die Möglichkeit,
die Preise präziser zu steuern und darüber hinaus andere
politische Ziele zu erfüllen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil man es dem
Kollegen Oettinger, der aus meiner Sicht auf einem
komplett falschen Dampfer ist, entgegenhalten muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

Eine Quotenregelung würde weder ihm noch uns etwas
bringen. Sie würde gewachsene Strukturen kaputtma-
chen. Deshalb bin ich über das, was der ehemalige CDU-
Ministerpräsident an dieser Stelle vorschlägt, nicht so
begeistert. Das muss man ihm in dieser Klarheit sagen.
Ich hoffe, dass er sich, wenn er über Harmonisierung auf
der europäischen Ebene redet, dem Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetz, das auf dem Stromeinspeisungsgesetz aus
der Ära Helmut Kohl fußt, zuwendet. Das halte ich für
ganz entscheidend.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Übrigen kann man zu dem Thema „europäische
Politik“ sagen: Die Versuche einer europäischen Anglei-
chungspolitik – plötzlich will man den Wettbewerb der
Systeme nicht mehr; man stellt die Subsidiarität hintan –
halten wir, auch an anderen Stellen, für ausgesprochen
problematisch.

Ich sage Ihnen ganz offen: Beim Thema Klimaschutz
sehe ich das ganz genauso. – Da wird der Applaus auf
der linken Seite des Hauses etwas weniger werden. – Ich
habe immer geglaubt, dass ich beim Thema „Emissions-
handel und Klimaschutz“ nicht erklären muss, dass man
so etwas nur international betreiben kann. Nun lese ich
mit großer Verwunderung im Antrag der Linken:

Auf internationale Vorgaben als Taktgeber für na-
tionale oder EU-Klimapolitik zu setzen, wäre ver-
hängnisvoll.

Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von ganz links,
verhängnisvoll wäre es, eben nicht auf internationale
Politik zu setzen, weil es doch eine Hybris ist, anzuneh-
men, Deutschland könne das Klimaproblem der Welt lö-
sen. Das ist falsch. Gucken Sie sich doch einmal an, was
in China passiert. Die Chinesen haben von 2000 bis
2008 ihren CO2-Ausstoß verdoppelt. In der Zeit von
2006 bis 2008 war der Zuwachs an CO2-Emissionen grö-
ßer als die gesamten CO2-Emissionen in Deutschland.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708728000

Herr Kollege Nüßlein, Sie sind zwar schon fast am

Ende Ihrer Redezeit. Frau Bulling-Schröter würde aber
gerne noch eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie
diese?


(Ulrich Kelber [SPD]: Das macht sie nur, um die CDU zu ärgern!)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1708728100

Herzlich gern.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708728200

Danke schön. – Kollege Nüßlein, es liegt mir fern, die

CDU/CSU zu ärgern.

Sie haben recht, wenn Sie sagen: Der CO2-Ausstoß
Chinas wird immer höher; er ist ungefähr so groß wie
der der USA. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass
die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, einen sehr guten Vor-
schlag gemacht hat, den wir vielleicht gemeinsam wei-
terverfolgen könnten. Dabei geht es darum, für jeden
Menschen den gleichen Umweltraum zu definieren.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Pro-Kopf-
Ausstoß an CO2 in der Bundesrepublik Deutschland oder
in den USA wesentlich höher ist als in China. Wie stehen
Sie denn dazu? Wir wissen alle, dass es mehr wird. Ich
bestreite nicht, dass wir auf internationaler Ebene etwas
machen müssen. Aber wenn Deutschland auf diesem
Gebiet die Vorreiterrolle behalten oder wiedererlangen
will, heißt das doch, dass wir jetzt auf EU-Ebene etwas
tun müssen. Es gibt genügend EU-Papiere, die belegen,
dass das 30-Prozent-Ziel auf EU-Ebene nicht so einfach
zu erreichen ist. Sie kennen diese Papiere sicher genauso
wie ich. Meine Frage: Wie schaut es denn mit dem Pro-
Kopf-Verbrauch aus?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1708728300

Liebe Kollegin, ich habe ja nicht kritisiert – das läge

mir auch völlig fern –, was die Kanzlerin auf internatio-
naler Ebene anstößt. Ich meine, da macht sie nicht nur
eine hervorragende Figur, sondern auch eine hervorra-
gende Klimapolitik. Ich habe kritisiert, dass Sie uns in
Ihrem Antrag explizit zu nationalen Alleingängen aufru-
fen, ganz unabhängig von der Frage, ob andere mitzie-
hen oder nicht. Genauso ist der Satz, den ich gerade an-
geführt habe, doch wohl zu verstehen.

Dazu sage ich ganz ehrlich: Das wird am Schluss in
keiner Weise zielführend sein; denn wenn wir etwas in
der Welt bewegen wollen, dann müssen wir doch in ei-
nem anderen Sinne Vorbild sein. Wir müssen nämlich
den Entwicklungsländern – damit komme ich auch zu
Ihrem Thema, dem Pro-Kopf-Kontingent – zeigen, dass
man auf der einen Seite wachsen und an Wohlstand ge-
winnen, auf der anderen Seite aber gleichzeitig das
Klima schützen und weniger Ressourcen verbrauchen
kann. Wenn uns bei unserer Klimapolitik genau dieser
Beweis misslingt, wenn es uns also nicht gelingt, zu zei-
gen, dass Ökologie und Ökonomie miteinander verzahnt
werden können, dann wird uns letztendlich auch nie-
mand folgen.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)


Das ist doch genau der Punkt. Ich kann nur dazu raten,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Überzeugen Sie Ihre Kollegen in der Union!)


zu verstehen, dass wir in Bezug auf die Ausgangslage
schon jetzt ein hohes Niveau haben und dass wir uns ge-
nau überlegen müssen, wie wir bei dieser Thematik wei-
termachen.

Wenn wir heute – lassen Sie mich das noch abschlie-
ßend sagen – über das Thema „Vereinbarung eines EU-
weiten 30-Prozent-Zieles“ diskutieren, muss uns eines
klar sein: Es könnte für uns Deutsche, die wir momentan
das Ziel einer Reduktion von 20 Prozent erfüllen, aber
das 40-Prozent-Ziel anstreben wollen, ganz gut sein,
wenn die anderen nachziehen. Das Problem ist nur das
Solidaritätsprinzip in der EU; denn danach wird der Er-
folg wieder nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
verteilt. Am Schluss heißt es dann wieder: Die Deut-
schen müssen mehr tun. Das ist auch in ökonomischer
Hinsicht eine Gleichmacherei, die zu einer Deindustria-





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

lisierung in Deutschland führt. Das wollen wir beim bes-
ten Willen nicht.

In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für die
Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708728400

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Michael Kauch für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1708728500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

schon bemerkenswert, dass der Redner der SPD hier er-
klärt, Deutschland sei vom Energieeffizienzziel von
20 Prozent weit entfernt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Von dem Plan, den Sie vorgelegt haben!)


Ich möchte an dieser Stelle einfach einmal fragen: Wer
hat denn elf Jahre regiert? Wer hat sieben Jahre den
Wirtschaftsminister gestellt? Wer hat vier Jahre den Um-
weltminister gestellt? Es war die Sozialdemokratische
Partei. Es ist Ihre Bilanz, die Sie hier kritisieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Nein! Zuhören!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708728600

Herr Kollege Kauch, darf ich Sie unterbrechen? –

Herr Kelber möchte eine Zwischenfrage stellen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1708728700

Nein, ich möchte fortfahren.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Klar! Da kneift er!)


Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat ein we-
sentliches Instrument der Energieeffizienz auf den Weg
gebracht, das hier von der gesamten versammelten Op-
position kritisiert wurde. Der Energie- und Klimafonds
wird aus den Gewinnabschöpfungen der Kernkraftwerke
und erstmals aus 100 Prozent der Versteigerungserlöse
aus Emissionsrechten gespeist. Der Energie- und Klima-
fonds speist einen Energieeffizienzfonds, der so groß ist
wie kein Programm zuvor. Er sichert die Mittel für die
Gebäudesanierung über das Jahr 2011 hinaus; das ist ein
großer Erfolg. Das ist eine Maßnahme zur Energie-
effizienz, die Sie vorhin eingefordert haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Schauen wir uns einmal an, was im Bereich der er-
neuerbaren Energien geschieht. Die SPD hat noch
schnell vor der Debatte einen Fünfzeiler aufgesetzt, der
besagt, was die Bundesregierung machen soll. Ich kann
nur sagen: Was Sie da fordern, tun wir bereits – deshalb
müssen wir Ihren Antrag auch nicht annehmen –; denn
wir – insbesondere meine Fraktion – haben im Energie-
konzept verankert, dass der unbegrenzte Einspeisevor-
rang für erneuerbare Energien erhalten bleibt. Im Ener-
giekonzept finden Sie ein klares Ja der FDP bzw. dieser
Koalition zum EEG. Sie führen hier Phantomdebatten,
die jeder realistischen politischen Grundlage entbehren.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Ja, ist klar! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welcher Partei gehört denn Herr Sander an?)


Wir als FDP – das sage ich sehr deutlich – haben un-
terschiedliche Haltungen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Gespaltene FDP!)


Es gibt aber einen klaren Parteitagsbeschluss mit ei-
ner Mehrheit von weit über 60 Prozent für das EEG im
Wahlprogramm und im Koalitionsvertrag, der von mei-
ner Partei einstimmig angenommen wurde. In unserer
Partei kann jeder seine persönliche Meinung äußern.
Entscheidend ist aber, was auf dem Bundesparteitag be-
schlossen wird. Das ist pro EEG, meine Damen und Her-
ren von den Grünen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich möchte gern auf die Glaubwürdigkeit der Grünen
zu sprechen kommen. Frau Nestle sagt hier: Wir haben
ein tolles Netzkonzept.


(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so!)


– Ja, das haben Sie vielleicht. Ich habe es noch nicht ge-
lesen;


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollten Sie mal tun! Da können Sie was lernen!)


aber es ist bestimmt ganz toll, da es ja von Ihnen kommt. –
Ihre Glaubwürdigkeit misst sich allerdings an dem, was
vor Ort passiert: In jeder Bürgerinitiative gegen den Netz-
ausbau finden sich Ihre grünen Aktivisten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die FDP!)


Deshalb ist das, was Sie hier vertreten, eine unglaubwür-
dige Politik: hier für die erneuerbaren Energien, dort ge-
gen die Netze. Aber wer die Netze nicht bekommt, wird
das Ziel im Bereich erneuerbarer Energien nicht errei-
chen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihre Hintertür heißt dann hier in Berlin: Na ja, wenn
noch Atomstrom im Netz ist, können wir den Menschen
das ja auch nicht richtig verkaufen. – Das ist der Weg,
auf dem Sie Ihre unglaubwürdige Politik bis zum letzten
Tag verteidigen werden. Solange wir zu 99 Prozent und
nicht zu 100 Prozent erneuerbare Energien haben, wer-
den die Grünen vor Ort immer gegen die Netze und da-
mit gegen die erneuerbaren Energien sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708728800

Zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Kelber

das Wort.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1708728900

Herr Kollege Kauch, unabhängig von dem, was wir

von der Bundesregierung einfordern, sprechen Sie im-
mer eine Minute lang über die Frage „Wer hat denn elf
Jahre lang regiert?“.

Die EU-Kommission sagt, dass Deutschland bei der
Energieeffizienz deutlich schlechter als der Durchschnitt
aller Mitgliedsländer ist. Ich zitiere aus der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom Montag:

Alle anderen EU-Staaten, die bisher ihre Energie-
sparpläne in Brüssel angemeldet haben, verfehlen
das 20-Prozent-Ziel klar. Frankreich und Spanien
liegen mit rund 16 Prozent aber immer noch über
dem deutschen Wert.

Dieser Wert liegt bei 12,8 Prozent.

Sie haben aus dem Anfangsteil hinsichtlich des Ener-
giesparplans vielleicht mitbekommen, dass die EU-
Kommission keine Bewertung der Politik der letzten
Jahre, sondern eine Bewertung dessen abgegeben hat,
was Ihr Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der
sich selber schon manchmal als kommender FDP-Partei-
chef feiern lässt, in Brüssel als Politik der Bundesregie-
rung für die nächsten Jahre angemeldet hat. Die EU-
Kommission hat dazu gesagt: Ihr schafft noch nicht ein-
mal die Hälfte von dem, was ihr euch vorgenommen hat. –
Glauben Sie nicht, dass es für ein Hightechland, das
diese Technologie weltweit verkaufen will, ein Armuts-
zeugnis ist, wenn es schlechter als der Durchschnitt der
Europäischen Union dasteht?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva BullingSchröter [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708729000

Ihre Antwort, Herr Kauch.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1708729100

Lieber Herr Kelber, wir haben in den letzten Jahren

eine Politik erlebt


(Ulrich Kelber [SPD]: Es geht um die Energiesparpläne der Zukunft!)


– das mag ja sein –, die auch Sie für richtig gehalten ha-
ben. Herr Gabriel, Ihr jetziger Parteivorsitzender, hat uns
erklärt, er sei der große Held der Umweltpolitik und
bringe die Sache jetzt voran. Die Maßnahmen, die Sie
mit dem Integrierten Klima- und Energieprogramm be-
gonnen haben und die wir jetzt fortführen,


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch Mittel gestrichen!)


sind gemäß Ihrer Aussage offensichtlich falsch. Das
kann doch nicht sein.
Wir haben auf das IKEP die Projekte des Energiekon-
zeptes aufgesetzt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Sie haben erst einmal gestrichen!)


Die Zeitperspektive für diese Projekte geht bis 2050. Wir
werden die Ziele in puncto Energieeffizienz und in Be-
zug auf erneuerbare Energien im Rahmen dieses Ener-
giekonzeptes erreichen, Herr Kelber.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Man muss auf eine Kurzintervention nicht antworten! – Rolf Hempelmann [SPD]: Die Kommission glaubt Ihnen nur nicht!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708729200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4528, 17/4529, 17/4527 und 17/
4544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordi-
nierung der Rechts- und Verwaltungsvor-
schriften betreffend bestimmte Organismen
für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren

(OGAW-IV-Umsetzungsgesetz – OGAW-IVUmsG)


– Drucksache 17/4510 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver-
standen. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk das
Wort für die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1708729300


Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf will die
Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Stärkung
der Qualität des Investmentfondsgeschäftes, aber auch
einen Beitrag für die Verbesserung des Anlegerschutzes
in unserem Land leisten. Unter Anpassung an geänderte
europäische Vorgaben soll der Investmentfondsstandort
Deutschland durch eine Modernisierung des Aufsichts-
und Regulierungsrahmens gestärkt werden.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die
neugefasste Investmentfonds-Richtlinie der Europäi-





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)

schen Union umsetzen, die bis zum 1. Juli dieses Jahres
in nationales Recht umgesetzt werden muss. OGAW
– das ist die Abkürzung für „Organismen für gemein-
same Anlagen in Wertpapieren“ – ist die europäische
Kunstbezeichnung für Wertpapier-Investmentfonds.
Man muss solche schönen Begriffe den Menschen drau-
ßen im Land erklären.

Das heute umzusetzende neue Konzept der Europäi-
schen Union sieht Folgendes vor:

Es wird ein Kurzinformationsblatt mit den wesentli-
chen Anlegerinformationen eingeführt. Auf zwei Seiten
sollen dem Anleger prägnant die wesentlichen Merkmale
seiner Anlage erläutert werden. Beispielsweise sollen
Chancen und Risiken sowie die mit der Anlage verbun-
denen Kosten für den Anleger verständlich dargestellt
werden. Er soll auch einen Überblick über die bisherige
Wertentwicklung dieses Investmentfonds erhalten.

Ein wesentlicher Punkt zur Verbesserung der Effi-
zienz des Investmentgeschäfts wird die Ermöglichung
grenzüberschreitender Fondsverwaltung sein. Damit
können künftig auch ausländische Fondsverwaltungsge-
sellschaften in Deutschland ohne inländische Tochterge-
sellschaft deutsche Investmentfonds auflegen. Ebenfalls
dürfen zukünftig aber auch deutsche Kapitalgesellschaf-
ten Investmentfonds im Nachbarland auflegen, ohne
durch eine eigene Gesellschaft vor Ort zu sein und ohne
dass dies mit Personalverschiebungen vom Inland ins
Ausland verbunden ist.

Eine wesentliche Verbesserung wird zudem beim
grenzüberschreitenden Fondsvertrieb eingeführt. Bisher
musste sich eine deutsche Fondsgesellschaft bei einem
Verkauf ihrer Produkte im Ausland mit ausländischen
Aufsichtsbehörden in einem mehrwöchigen Verfahren
bis zu zwei Monate über die Markteinführung auseinan-
dersetzen. Zukünftig wird dieses bislang sehr bürokrati-
sche Verfahren im Sinne der Marktteilnehmer verein-
facht, ohne dass Anlegerschutzbelange vernachlässigt
werden. Die Fristen für die sogenannten Vertriebsanzei-
gen werden stark verkürzt. Erforderliche Unterlagen wer-
den innerhalb der Aufsichtsbehörden übermittelt. Damit
werden im Sinne des europäischen Binnenmarktes die
Rahmenbedingungen für den grenzüberschreitenden Fonds-
verkauf ganz wesentlich verbessert, und es wird ein we-
sentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau geleistet.

Fondsgesellschaften sollen zukünftig bessere Mög-
lichkeiten bekommen, ihre Angebotspalette zusammen-
zufassen und effizienter zu verwalten. Hierzu sollen
grenzüberschreitende Fondsverschmelzungen und soge-
nannte Master-Feeder-Konstruktionen ermöglicht wer-
den. Bei Letzterem handelt es sich um eine zweistöckige
Fondsstruktur. Hierbei investiert ein sogenannter Fee-
derfonds nahezu sein gesamtes Vermögen in einen soge-
nannten Masterfonds. Beide Maßnahmen dienen eben-
falls der Effizienzsteigerung des Investmentgeschäfts.
Gleichzeitig wird die Anlegerinformation bei Nutzung
dieser neuen Möglichkeiten erheblich ausgebaut.

Vergleichbar dem bereits bestehenden Schlichtungs-
wesen für Banken soll zudem ein Schlichtungswesen bei
Investmentfonds eingeführt werden, das dem Verbrau-
cher eine einfache Möglichkeit bietet, sich über Miss-
stände zu beschweren. Dies verbessert seine Position
deutlich, da er eine einfache Möglichkeit bekommt, sein
Recht durchzusetzen, ohne den Kosten des ordentlichen
Gerichtsweges ausgesetzt zu sein.

Der Gesetzentwurf sieht zudem eine deutliche Ver-
besserung des Anlegerschutzes im Bereich der Anleger-
information vor. Wenn Fondsgesellschaften zukünftig
Kosten erhöhen oder ihre Anlagepolitik umstellen, soll
der Anleger direkt informiert werden. Gebührenerhö-
hungen, die der Anleger kaum wahrnimmt, weil sie nur
in Tageszeitungen oder im Bundesanzeiger veröffentlich
werden, sind in Zukunft nicht mehr möglich.

Ein wichtiger Punkt aus dem Koalitionsvertrag, der in
diesem Umsetzungsgesetz aufgegriffen wird, ist die Ver-
besserung der Rahmenbedingungen für sogenannte Mi-
krofinanzfonds. Hier sollen bestehende Hemmschwellen
abgebaut werden; denn die bisherigen restriktiven Anfor-
derungen des Investmentgesetzes an Mikrofinanzinstitute
haben dazu geführt, dass keine Mikrofinanzsonderver-
mögen in Deutschland aufgelegt wurden. Die Anforde-
rungen an die Mikrofinanzinstitute werden deshalb durch
dieses Gesetz auf ein angemessenes Maß zurückgeführt.

Gestatten Sie zum Schluss noch den Hinweis, dass
das Gesetz neben den aufsichtsrechtlichen auch wichtige
steuerliche Regelungen enthält. Das betrifft insbeson-
dere Anpassungen wegen der nach der OGAW-IV-Richt-
linie zugelassenen grenzüberschreitenden Fondsverwal-
tung. Wichtig ist dabei der Hinweis auf eine steuerliche
Regelung, die keinen unmittelbaren Bezug zu dieser
EU-Richtlinie hat, die sich aber strikt gegen missbräuch-
liche Steuergestaltungen mit Aktienleerverkäufen rich-
tet. Akteure der Finanzbranche versuchen gegenwärtig
nämlich, durch Auslandsgeschäfte mit deutschen Aktien
den deutschen Fiskus zu schädigen, indem ungerechtfer-
tigte Quellensteuererstattungen veranlasst werden. Ge-
gen solche missbräuchlichen Gestaltungen gehen wir mit
dem vorgelegten Gesetzentwurf unverzüglich und kon-
sequent vor.

Wir sind davon überzeugt, dass mit den in dem Gesetz-
entwurf vorgesehenen Maßnahmen die europäischen Vor-
gaben zur Steigerung der Effizienz des Investmentfonds
erreicht werden, der Investmentfondsstandort Deutsch-
land gestärkt, aber auch der Anlegerschutz weiter ent-
scheidend verbessert wird.

Ich bitte um zügige Beratung und dann um Zustim-
mung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708729400

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege

Dr. Carsten Sieling.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1708729500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Staatssekretär hat eben dargelegt, dass dieses Ge-
setzgebungsvorhaben, das auf eine Vorgabe der EU zu-





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

rückgeht, unterschiedliche Facetten hat. Auf den ersten
Blick scheint dieser Gesetzentwurf sehr technisch zu
sein. Man hat insgesamt den Eindruck, dass er außerhalb
der Fondsbranche noch keine großen Wellen schlägt.

Herr Staatssekretär, wir stehen in der Tat am Anfang
der Beratungen. Ich will Ihnen an dieser Stelle gerne sa-
gen, dass auch wir ein Interesse daran haben, diesen Ge-
setzentwurf zügig zu beraten. Ich kann Ihnen heute aber
noch nicht zusagen, dass wir auch Ihrem Wunsch ent-
sprechen, zuzustimmen.


(Björn Sänger [FDP]: Enthaltung!)


Wir müssen uns erst einmal die weiteren Schritte an-
schauen.

Wenn wir genauer hinschauen, stellen wir auf jeden
Fall fest, dass man diesen Gesetzentwurf keineswegs nur
als technisches Klein-Klein bezeichnen kann. Es ist schon
so, dass eine Reihe von Änderungen im Investmentbe-
reich geplant sind, die immerhin einige Hunderttausende
Kleinanlegerinnen und Kleinanleger betreffen werden,
die ihr Geld in diesem Bereich investiert haben, und
zwar sehr oft als Altersvorsorge. Von daher ist das ein
Thema, dem wir uns sehr stark widmen müssen. Beim
Thema Investmentfonds wird man ohnehin hellhörig an-
gesichts der Tatsache, dass mittlerweile etwa 25 Milliar-
den Euro Anlegergeld in kriselnden Fonds gesperrt sind.
Das muss man sich immer wieder vor Augen führen.
Das ist ein guter Grund, genau zu schauen, was wir hier
vorliegen haben.

Staatssekretär Koschyk hat die verschiedenen As-
pekte vorgestellt; ich will das nicht wiederholen. Ich
möchte mich in dieser ersten Lesung auf zwei Punkte
konzentrieren und dazu einige Aspekte ansprechen. Zum
einen geht es mir um die Möglichkeiten der Fondsver-
schmelzung, um Übernahmemöglichkeiten und deren
Konsequenzen. Zum Zweiten geht es mir um den vom
Staatssekretär angesprochenen Beipackzettel, um das so-
genannte Key Investor Document, KID genannt, das es
zukünftig geben soll und das für die Anlegerinnen und
Anleger eine Art Produktinformationsblatt darstellt.

Ich komme zum ersten Punkt, zur Möglichkeit der
Verschmelzung. Es ist deutlich gemacht worden, dass es
infolge der Richtlinie, die wir umsetzen sollen, für Fonds
einfacher wird, deutschland- und europaweit zu Ver-
schmelzungen zu kommen. Es kann leichter zu gegen-
seitigen Übernahmen kommen. Das gesamte Vermögen
soll dann in sogenannten Master-Feeder-Konstruktionen,
deren genaue technische Ausgestaltung wir uns, glaube
ich, noch anschauen müssen, zusammengebracht wer-
den. Die EU verspricht sich davon ausweislich der Vor-
lagen einen Effizienzgewinn in Höhe von mehreren Mil-
liarden Euro. Das ist eine Dimension, die uns dazu
bringen sollte, sehr genau hinzuschauen.

Wenn diese Fonds effizienter arbeiten können, dann
können sie auch mehr Geld für die Anlegerinnen und
Anleger ausschütten; das ist völlig klar. Ich glaube, da-
rauf muss man hinweisen und hinarbeiten. Eine Gefahr
sehe ich darin – ich denke, im Gesetzgebungsverfahren
müssen wir sorgfältig darauf achten –, dass größere kri-
selnde Fonds versuchen könnten, sich sozusagen ge-
sundzukaufen, indem sie sich kleinere, gut funktionie-
rende Fonds einverleiben. Ich habe in einem Fachaufsatz
gelesen, dass diese Regelungen durchaus dazu führen
können, dass in Europa so etwas wie Fondsfabriken ent-
stehen. Ich will hier sagen, dass wir diesen Aspekt genau
beachten müssen; denn wir können nicht wollen – das
wäre nicht im Interesse der Anlegerinnen und Anleger –,
dass gute Arbeit derart belastet wird.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen,
dass die Aufsicht in besonderer Weise strukturiert wer-
den muss; denn gerade bei grenzüberschreitenden Fonds
wird man darauf achten müssen, dass dies sicher und or-
dentlich abläuft. Ich bin gespannt, welche Vorschläge
Sie machen werden und wie die BaFin gestaltet oder
strukturiert werden soll, damit sie dieses durchaus neue
Problem präzise erfassen kann.

Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte,
betrifft die Produktinformationsblätter. Das OGAW-IV-
Umsetzungsgesetz wird kein reines Anlegerschutzge-
setz, sondern – das wurde richtig gesagt – soll die Fonds
stabiler machen. Nichtsdestotrotz möchte ich im Zusam-
menhang mit der von uns sehr intensiv geführten Dis-
kussion über das Anlegerschutzgesetz der Bundesregie-
rung sagen, dass es eindrucksvoll ist, was die EU auf
diesem Gebiet plant und wie sie versucht, das Produktin-
formationsblatt zu regeln. Sie sprechen von zwei Seiten;
aber diese zwei Seiten haben es in sich. Vor allen Dingen
an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
FDP gerichtet sage ich, dass wir einmal schauen müssen,
ob wir uns davon für das Anlegerschutzgesetz, das in
Beratung ist, nicht eine Scheibe abschneiden können.

Die Richtlinie der EU sieht vor, dass Angaben zur
Identität der Fonds gemacht werden und Anlageziele und
Anlagestrategien beschrieben werden. Die Risiken sollen
sehr detailliert und aufgeschlüsselt in Kreditrisiko, Liqui-
ditätsrisiko, Ausfallrisiko usw. dargelegt werden. Die
Wertentwicklung muss sich in diesem Blatt gegebenen-
falls in Performanceszenarien wiederfinden. Ebenso
müssen Kosten und Gebühren sowie Ausgabeauf- und
Rücknahmeabschläge dargestellt werden. Das ist eine
Lehre aus der Lehman-Pleite, aus dem Verlust, den viele
Menschen erlitten haben. Die Regelungen sind sehr weit-
reichend und umfassen immerhin 15 Seiten der Verord-
nung.

Wenn ich mir anschaue, was wir zurzeit bezüglich ei-
nes Produktinformationsblattes im Bereich Anleger-
schutz beraten, muss ich sagen, dass das weit dahinter
zurückfällt. Dort heißt es nur dürr – sozusagen „Made by
Bundesregierung“ –, dass die damit verbundenen Risi-
ken – ohne nähere Erläuterung – und die Kosten des Pro-
dukts – ohne nähere Aufschlüsselung – behandelt wer-
den sollen. Ich denke, diese OGAW-Richtlinie kann ein
richtiger und wichtiger Schritt sein, um den Anleger-
schutz in Deutschland zu verbessern.

Wenn gleich das Argument vorgebracht wird, man
mache das, wenn die sogenannte PRIPs-Initiative der
EU kommt, dann muss ich sagen: Es ist natürlich eine
Möglichkeit, abzuwarten. Die andere Möglichkeit wäre,
schon jetzt den vorliegenden Vorschlägen der Verbrau-
cherverbänden und der Fraktionen hier im Hause, auch





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

von uns als SPD, zu folgen und den Anlegerschutz in al-
len Bereichen zu stärken; denn wir müssen – ich habe Ih-
ren Koalitionsvertrag so verstanden, dass Sie dafür sor-
gen wollen; dann tun Sie das auch – für einen
einheitlichen Anlegerschutz und eine einheitliche Hand-
habung der Investmentfonds in Deutschland sorgen. Las-
sen Sie uns früh damit anfangen und es genau machen.

Wir befinden uns heute in der ersten Lesung. Es geht
darum, sich diesem Gesetzentwurf und den vielen ver-
schiedenen Anforderungen zu nähern. Wir werden im
Finanzausschuss alsbald eine öffentliche Anhörung dazu
durchführen. Ich kann hier nur sagen: Wir als SPD wer-
den sehr genau darauf schauen, wie dieses Umsetzungs-
gesetz für Deutschland aussieht; denn wir wollen eine
starke Investmentfondslandschaft mit einer effizienten
Aufsicht und geringen Kosten für die Anlegerinnen und
Anleger. Das muss dieses Verfahren hergeben. Wenn das
ermöglicht wird, dann können wir darüber reden, wie
wir eine gemeinschaftliche Beschlussfassung erreichen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708729600

Das Wort hat nun der Kollege Björn Sänger für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1708729700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Investmentfonds hat unterschiedliche Di-
mensionen; eine Dimension ist die sozialpolitische. In-
vestmentfonds bieten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern die Möglichkeit, sich aktiv am Produktivkapital zu
beteiligen. Der Investmentfonds stellt damit einen Er-
folgsweg in der sozialen Marktwirtschaft dar. Die Form
der Beteiligung der Werktätigen am Kapital, Herr Kol-
lege Koch, ist aus unserer Sicht erfolgversprechender als
andere Wege, bei deren Suche Sie sich gerne als Pfadfin-
der beteiligen.

Der Investmentfonds ist als Altersvorsorgeprodukt
sehr geeignet; denn auf lange Sicht lassen sich hiermit
gute Renditen erzielen. Auf die letzten 30 Jahre betrach-
tet schwanken diese je nach Produktklasse zwischen
5,5 Prozent und 8,8 Prozent. Deswegen wird er auch
sehr gerne beim Riester-Sparen eingesetzt.

Er hat eine finanzierungspolitische Dimension. Er
fungiert als Kapitalsammelstelle. Die Investmentfonds
nehmen eine Fristentransformation vor, die durchaus in-
teressanter ist als die der Banken. Schließlich ist die
Fristentransformation bei Krediten auch mit Risiken be-
haftet.

Er hat einen volkswirtschaftlichen Nutzen bei der pri-
vaten Vermögensvorsorge bzw. -bildung. Mit kleinen
Beiträgen ist es den Anlegerinnen und Anlegern mög-
lich, ein diversifiziertes Portfolio aufzubauen.

Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Umsetzung
der OGAW-Richtlinie dar. OGAW IV sagt ja schon aus,
dass dieser Gesetzentwurf eine lange Geschichte hat. Es
gab OGAW I und OGAW III; OGAW II ist ausgefallen.
Nun gibt es OGAW IV. Ich denke, im Prinzip sind alle
Umsetzungsgesetze – dies gilt sicherlich auch für dieses
vierte – von der Branche begrüßt worden, weil das Pro-
dukt und der Rechtsrahmen Stück für Stück weiterentwi-
ckelt wurden. Auch innerhalb der politischen Klasse ist
es nicht sonderlich umstritten.

Dieses Gesetz ist nicht der Finanzkrise geschuldet.
Vielmehr befand es sich ohnehin in der Pipeline, hat eine
lange Vorgeschichte und ist gewissermaßen Business as
usual, um den Investmentfonds attraktiver zu machen.
Allerdings sind auch in diesem Gesetzentwurf die Pro-
bleme der Finanzkrise aufgegriffen worden. Ein Kind
kommt auf die Welt: das KID, das Key Investor Docu-
ment; auch Herr Staatssekretär Koschyk hat es erwähnt.

Insgesamt kann man feststellen: Die Branche wird
durch eine stärkere Europäisierung gestärkt. Es werden
Möglichkeiten geschaffen, vermehrt grenzübergreifend
zu investieren.

Wir müssen in den Beratungen schauen, ob die tech-
nische Umsetzung reibungslos gelingt: Erfüllen die Re-
gelungen den Sinn, für den sie gedacht sind? Werden
nicht nutzlose Informationen geschaffen? Entstehen
nicht überflüssige Kosten? Schließlich knabbern zusätz-
liche Kosten sehr stark an der Rendite.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten
dieses Gesetz auch nutzen, um eine im Prinzip fertige
finanzpolitische Innovation dranzuhängen und den
Fondsstandort Deutschland und den Finanzplatz
Deutschland noch weiter zu stärken: Wir sollten darüber
nachdenken – das ist ebenfalls im Sinne der Bundes-
regierung; auch Staatssekretär Koschyk hat gesagt, der
Fondsstandort Deutschland solle gestärkt werden –, ob
wir nicht auch das sogenannte Pension Pooling in dieses
Gesetz integrieren.

Zurzeit ist es so, dass große, international tätige Kon-
zerne ihre Altersvorsorgeeinrichtungen in den unter-
schiedlichen Ländern separat ansiedeln. Mithilfe eines
Pension Poolings würde man diese an einem Standort
bündeln können. Man würde weitere Effizienzgewinne
erzielen und damit schlussendlich auch die Rendite für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhen. Die
Rede ist von 0,5 Prozent Rendite; auf 30 Jahre betrachtet
ist dies doch schon einiges. In anderen Ländern wird das
schon gemacht. Belgien, Luxemburg, Großbritannien,
Irland und die Niederlande haben bereits entsprechende
Vorkehrungen getroffen.

Dabei gibt es möglicherweise eine Schwierigkeit; das
will ich gar nicht verschweigen. Denn die entsprechen-
den Regelungen müssen DBA-konform gestaltet wer-
den. Dies bedürfte einer umfangreichen Prüfung und
wäre ein ambitioniertes Ziel. Wir sollten diese Chance
allerdings nutzen, um dieses Pension Pooling an das Ge-
setz anzudocken und einen weiteren Schritt hin zu einem
attraktiven Fondsstandort Deutschland zu machen.

Insgesamt freuen wir uns auf die weiteren Beratungen
und sind guter Hoffnung – ich denke, das zeigt auch die





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)

bisherige Debatte –, dass wir am Ende zu einem gemein-
samen Ergebnis kommen können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708729800

Nächster Redner ist der Kollege Harald Koch für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708729900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass
die Bundesregierung nichts aus der Finanzkrise gelernt
hat und weitermacht wie bisher, dann wäre dieser Ge-
setzentwurf der Beweis.

Teile der Fondsbranche werden zu Recht als Schatten-
bankensystem bezeichnet. Das bedeutet nichts anderes,
als dass jene Hochrisikogeschäfte, die bisher von Ban-
ken betrieben wurden und die Krise mit ausgelöst haben,
zunehmend von Investmentfonds und Hedgefonds aus-
geübt werden. Exakt davor warnte am 20. Januar dieses
Jahres der Chefkorrespondent der Finanzzeitung Han-
delsblatt, Robert Landgraf:

Dieses gefährliche Ausweichmanöver muss ge-
stoppt werden.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Schattenspieler sind harten Regeln zu unterwerfen.
Sonst werden die Schattenbanken von heute zum
Wachstumssektor der Finanzindustrie von morgen.
Niemand wird ernsthaft glauben, dass deren Risi-
ken nur reiche Privatleute treffen, …


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, dass Sie auf die Linke hö-
ren, erwartet ernstlich niemand. Aber nehmen Sie sich
doch wenigstens die Empfehlung Ihrer Hauspostille zu
Herzen.

Ich sage Ihnen: Vor lauter Effizienz- und Wettbe-
werbsdenken blenden Sie gesamtwirtschaftliche Risiken
wieder einmal völlig aus. Stattdessen tun Sie alles dafür,
dass sogenannte Feeder Fonds immer größer werdende
Master Fonds noch besser füttern können. Sie wollen,
dass bestehende Fonds noch besser über Grenzen hin-
weg miteinander verschmelzen können. Ihre größte
Sorge ist, dass die Aufsichten jener Länder, in die die
Fonds expandieren wollen, zu viele lästige Fragen stel-
len.

Sie geben folglich vor, Sie wollten mit dem Gesetz
den angeblich zu kleinteiligen Markt der Investment-
fonds straffen, um Gebührensenkungen für die Anleger
zu erreichen. Wenn Sie das tatsächlich wollen, dann
schaffen Sie eindeutige und transparente Regeln über
Obergrenzen für Gebühren! Ebenso haben Sie es ver-
säumt, die Kennzahl der Gesamtkostenquote zu überar-
beiten, um eine umfassendere Kostentransparenz für die
Verbraucher herzustellen. Dazu müssten Ausgabeauf-
schläge, erfolgsabhängige Vergütungen und anderes
berücksichtigt werden. In Anbetracht dieser Unterlas-
sungen ist die Einführung der „Wesentlichen Anleger-
informationen“ als Element des Verbraucherschutzes
nichts anderes als eine schlechtsitzende Tarnkappe zur
Verschleierung der weiteren Deregulierung.


(Beifall bei der LINKEN)


Solange eine durchgreifende Finanzmarktregulierung
unterbleibt, die das Schattenbankensystem umfasst, so
lange können Sie dem Dilemma einer angemessenen
Anlegerinformation – zu viele Informationen sind für
den Kleinanleger nicht zu bewältigen; übersichtliche In-
formationen verweisen vielleicht doch nicht auf die ent-
scheidenden Risiken – auch mit diesem Instrument nicht
entkommen.

Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit fördert die
OGAW-IV-Richtlinie Konzentration und Monopolisie-
rung im Fondssektor. Riesige Kapitalüberschüsse strö-
men auf der Suche nach Profit um den Globus. Aufgrund
dieser Überliquidität bilden sich immer neue, gefährli-
che Spekulationsblasen; das hatten wir schon einmal.
Die Überliquidität ist Folge der massiven, sich verschär-
fenden Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich.

Die neuen Vorschriften leisten dem Trend zu immer
größeren, scheinbar profitträchtigeren Fonds mit ent-
sprechend größeren Hebelwirkungen Vorschub. Es ist
doch offensichtlich, dass zunehmend übermäßige Risi-
ken eingegangen werden. Dementsprechend wird über
kurz oder lang viel Geld einer noch größeren Zahl von
Anlegern verbrannt. Verbraucherschutz sieht anders aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch werden immer größere Heuschrecken herange-
züchtet. Hinterher, wenn die Heuschrecken solide Ziel-
unternehmen ruinieren und auszehren, wird geklagt.

Wir brauchen endlich Rahmenbedingungen, die diese
Fonds zu längerfristigen Investments und zu weniger
spekulativem Agieren verpflichten. Wir brauchen stabile
Finanzmärkte und eine entsprechend strikte Regulie-
rung.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708730000

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Koch, jetzt war ich doch ein wenig überrascht. Ich
glaube, es ist nicht so ganz klar geworden, was genau Ihr
Wunsch ist, was man bei dem Gesetz, das hier vorliegt,
eigentlich anders machen sollte. Ich glaube, wir müssen
uns schon klarmachen: Wenn wir Konsequenzen aus der
Finanzkrise ziehen, dann hilft es nicht, auf der großen
Oberfläche zu bleiben; vielmehr geht es um ganz kon-





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

krete Regeln. Dazu müssen Sie ganz konkrete Vor-
schläge machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich muss zugeben, dass ich dieses relativ dicke Gesetz
mit dem Datum 24. Januar 2011 – es ist noch nicht so
lange her, dass es eingebracht worden ist – noch nicht
vollständig durchdrungen habe. Ich glaube, dass ich da-
mit nicht der Einzige bin, weil all die Fragen der grenz-
überschreitenden Fusionen, Schließungen von Fonds
usw. eine relativ komplexe Materie sind, die nicht täg-
lich bei uns aufschlägt.

Es gibt eine Herausforderung, bei der ich mir noch
nicht sicher bin, ob wir ihr gerecht werden können. Die
verschiedenen Gesetzgebungsprozesse, die auf der euro-
päischen und auf der nationalen Ebene laufen, interagie-
ren. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich schaffen,
ein konsistentes Anlegerschutzrecht und eine konsistente
Finanzmarktregulierung sicherzustellen. Das ist eine
große Sorge. Ich glaube deswegen, dass wir im Rahmen
dieses Gesetzgebungsprozesses zu OGAW IV auch ei-
nen Input für den OGAW-V-Prozess brauchen, weil die
Sachen offensichtlich gerade parallel diskutiert werden,
wir gleichzeitig an zwei Schrauben drehen und wissen
müssen, was an welcher Stelle jeweils gemacht wird.

Ich will ein paar Punkte nennen, die für uns in der
Diskussion wichtig sein werden. Der erste Punkt wurde
schon genannt und betrifft die „Wesentlichen Anleger-
informationen“. Für uns ist es wichtig, dass es wirklich
zu einer knappen, präzisen, aber auch entscheidungsrele-
vanten Informationsgrundlage kommt und dass das mit
dem zusammenpasst, was wir den Anlegern bei anderen
Produkten vorschlagen.

Der zweite Punkt ist, dass wir Konsequenzen aus dem
Madoff-Skandal ziehen müssen. Bisher schien es so, als
würde das in der OGAW-V-Richtlinie angesprochen
werden. Wir müssen schauen, dass das Thema nicht un-
tergeht. Denn ich befürchte, dass die Europäische Union
keine wirklichen Konsequenzen daraus zieht, dass es im
Bereich der Fonds eine Regulierungsarbitrage von
Luxemburg gibt. Diese ist bisher nicht abgestellt wor-
den, und ich sehe keine konkreten Vorschläge, mit der
sie abgestellt werden kann. Das führt dazu, dass Anleger
– eher in Frankreich als in Deutschland; aber das hätte
auch umgekehrt sein können – einen Schaden aus die-
sem Anlagebetrug in den USA erlitten haben, weil De-
potbanken in Luxemburg, von der luxemburgischen
Aufsicht durchaus bewusst nicht kontrolliert, ihre Arbeit
nicht getan haben. Daraus müssen Konsequenzen gezo-
gen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Fusion von Fonds ist die Frage zu regeln,
wann die Anleger Informationen bekommen müssen.
Das geschieht bisher zu spät. Es ist das Eigentum der
Anleger, mit dem gewirtschaftet wird. In dem Umset-
zungsgesetz und der Richtlinie, die ihm zugrunde liegt,
ist diesbezüglich jetzt ein richtiger Schritt gegangen
worden. Wir werden schauen müssen, ob das so aus-
reicht oder ob man da nachsteuern muss.

Ich habe wahrgenommen, dass Sie beim REIT-Gesetz
jetzt noch einmal mit der Exit Tax nachsteuern. Da wäre
vielleicht die Frage zu klären, ob das heißt, dass Sie Ih-
ren Fehler im Koalitionsvertrag, die Einbeziehung von
Wohnimmobilien, jetzt korrigieren und sich auf die vor-
geschlagene Änderung beschränken oder ob Sie noch
Weiteres vorhaben.

Ich habe bereits im Ausschuss angesprochen, dass
auch die Frage zu klären ist, wie wir auf kritische Ent-
wicklungen im Mikrofinanzbereich reagieren können.
Man hat inzwischen Erfahrungen, welche Modelle funk-
tionieren und welche nicht. Wir sollten jetzt nicht nur auf
die deutsche Regulierung schauen, sondern auch berück-
sichtigen, was in den Zielländern der Investitionen vor
Ort im Einzelnen geschieht, damit wir ein sicheres Pro-
dukt schaffen, das seinem Zweck, der Förderung von
Mikrofinanzierungen, auch wirklich dient und nicht ir-
gendwann, wie es in einzelnen Fällen von Mikrofinanz-
instituten der Fall war, zu einem Nachteil für die Anleger
wird.

Es gibt viele andere – auch steuerlich relevante – Fra-
gen, bei denen wir noch ganz stark in die Tiefe gehen
müssen. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, in dieser
ersten Lesung ein paar Punkte anzusprechen, die im
Rahmen dieser Diskussion eine Rolle spielen sollten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708730100

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1708730200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu spä-

ter Stunde beschäftigen wir uns hier mit einem Gesetz,
das – wenn man die Ausführungen meiner Vorredner
wahrgenommen hat – für den einen oder anderen sehr
esoterisch klingen mag. Es ist schon sehr speziell. Es ist
eine Sache, bei der man sagen könnte, es handele sich ja
nur um die Umsetzung von europäischem Recht, ange-
reichert um einen Restanten aus dem Restrukturierungs-
gesetz: die Mikrofonds und die Schließung von Steuer-
schlupflöchern.

Aber ich glaube, es ist trotzdem wichtig, dass wir uns
hier an dieser Stelle mit diesem Gesetz beschäftigen,
weil ich es eigentlich nicht mag, wenn wir sagen: Das ist
ja nur die Umsetzung von europäischem Recht. – Zu sa-
gen: „Das ist nur die Umsetzung von europäischem
Recht“, wertet dieses Haus ab. Wenn man sich die Quan-
tität der Vorhaben, die wir uns hier vornehmen, ansieht,
stellt man fest: Das ist oftmals nur die Umsetzung von
europäischem Recht.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja einiges drangehängt!)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Wir Finanzpolitiker wissen, dass die Umsetzung von
europäischen Rechten ziemlich wichtig ist. Sie ist des-
wegen wichtig, weil wir in den letzten Jahren aus der
Krise gelernt haben, dass wir mit nationaler Gesetzge-
bung oft an unsere Grenzen stoßen. Was hätte es uns ge-
nutzt, Ratingagenturen nur in Deutschland zu regulieren,
nicht aber in anderen Ländern? Was würde es uns nut-
zen, Leerverkäufe hier zu verbieten, wenn die entspre-
chenden Finanzmarktakteure dann nach London abwan-
dern? Was würde es uns nutzen, deutsche Banken mit
Eigenkapitalregelungen zu belasten, die in den USA so
nicht übernommen werden? Das Ganze könnte man be-
liebig weiterführen.

Meine Damen und Herren, wir haben die Erkenntnis
gewonnen, dass große Probleme eigentlich nur interna-
tional zu lösen sind, am besten weltweit. Aber wir haben
auch lernen müssen, dass das nicht möglich ist. Es ist
deswegen nicht möglich, weil einige Länder sagen: Das
war damals eure Finanzkrise. Was interessiert uns eure
Regulierung? Wir brauchen das nicht.

Das geht auch deshalb nicht, weil es Länder gibt, lei-
der auch in der EU, die mangelnde Regulierung – Herr
Schick hat es gerade angesprochen – als Standortvorteil
begreifen; man spricht in diesem Fall von Regulierungs-
arbitrage oder – böse – von Regulierungsdumping. Ir-
land war kein gutes, sondern ein sehr schlechtes Beispiel
dafür.

Ich bin nachhaltig der Überzeugung: Wenn es uns
nicht gelingt, auf globaler Ebene Lösungen zu finden,
dann müssen wir uns bemühen, zumindest mit unseren
engsten Partnern, unseren Freunden in der Europäischen
Union, Lösungen zu finden, mit denen wir die Regelun-
gen, die das OGAW-IV-Umsetzungsgesetz vorsieht, um-
setzen. Wir müssen einen gemeinsamen Markt organi-
sieren und ein Level Playing Field schaffen, mit gleichen
Standards, mit guter Aufsicht, mit Austausch von Infor-
mationen, mit Kommunikation.

Ich bin nachhaltig davon überzeugt, dass wir die
wichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betreffen, nur
europäisch lösen können. Ich wiederhole das: Wir kön-
nen die wichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betref-
fen, nur europäisch lösen. Dabei werden wir den einen
oder anderen Kompromiss, der nicht unbedingt deut-
schen Interessen entspricht, eingehen müssen, an dieser
Stelle und, wie ich befürchte, auch in dem einen oder an-
deren Bereich, über den momentan im europäischen
Kontext diskutiert wird.

Umso wichtiger ist es, dass wir als Parlament uns als
aktiven Teil dieses europäischen Richtlinien- oder Ge-
setzgebungsprozesses begreifen, so wie Art. 23 Grund-
gesetz das eigentlich auch vorsieht. Ich glaube, da haben
wir noch eine Menge Potenzial nach oben. Wir dürfen
uns zum Beispiel nicht erst dann mit den Richtlinien be-
schäftigen, wenn sie uns vorgelegt werden und kaum
noch zu ändern sind, sondern wir sollten uns früh ein-
schalten. Wir als Deutscher Bundestag sollten unsere
Position deutlich machen, indem wir der Bundesregie-
rung für die Diskussionen im Rat ein Mandat mitgeben.
Wir sollten den Dialog mit den Verantwortlichen in der
Kommission suchen und mehr als in der Vergangenheit
mit unseren Kollegen im Europäischen Parlament Hand
in Hand arbeiten. Ich denke, hier haben wir durchaus
noch einigen Nachholbedarf. Es ist wichtig, dass wir nie
sagen: Das ist ja nur die Umsetzung von europäischem
Recht.

Im Übrigen befreit uns die Nur-Umsetzung von euro-
päischem Recht nicht von der Notwendigkeit, einen
sorgfältigen Gesetzgebungsprozess durchzuführen. Es
ist nämlich auch eine Herausforderung, die europäischen
Vorgaben an die nationalen deutschen Besonderheiten
anzupassen.

Ich bin sehr froh, Herr Sieling, Herr Schick, Herr Kol-
lege Sänger – Herr Koch, was Sie betrifft, gilt das leider
ein bisschen weniger –, dass Sie diesen Prozess sehr
ernst nehmen und die Bereitschaft geäußert haben, das
Ganze nicht einfach nur durchzuwinken, sondern sich
durchaus auch mit den Details zu beschäftigen. Ich halte
das für richtig.

Sie haben es angesprochen: Wir werden am
23. Februar dieses Jahres eine Anhörung zu diesem
Thema durchführen. Wir werden die Anregungen und
Hinweise aus dieser Anhörung erwägen und bewerten.
Wir werden dieses Gesetz gegebenenfalls ändern. Wir
werden unsere Arbeit dann im Sinne von Herrn
Koschyk, der ein zügiges Vorgehen erbeten hat, aller Vo-
raussicht nach Ende März dieses Jahres abschließen.
Wie ich gehört habe, werden wir das gemeinsam ma-
chen. Das ist gut und, wie ich glaube, auch ein gutes
Ende dieses Tages. In diesem Sinne freue ich mich auf
die Beratungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber das Votum kennen wir noch nicht!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708730300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4510 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit
sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen. Wir kommen nun zu einer
Reihe von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten,
bei denen keine Aussprache mehr vorgesehen ist. Darf
ich davon ausgehen, dass Sie einverstanden sind, wenn
ich die Namen derjenigen Kolleginnen und Kollegen,
die ihre Rede zu Protokoll geben, nicht jeweils vorlese?
Sie können sie dann im Protokoll nachlesen. – Das ist
der Fall.

Dann beginnen wir mit dem Tagesordnungspunkt 12:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Anette Kramme, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Faire Mobilität und soziale Sicherung – Vo-
raussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügig-
keit ab 1. Mai 2011 schaffen
– Drucksache 17/4530 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)






Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden sind zu Protokoll gegeben worden.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4530 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

150 Jahre diplomatische Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Japan

– Drucksache 17/4545 –

Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben wor-
den.2)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4545 mit dem Titel
„150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen
Deutschland und Japan“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der
SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Die Agrarwissenschaften in Deutschland auf
höhere Anforderungen ausrichten

– Drucksache 17/4531 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4531 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,

1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendli-
che stärken

– Drucksache 17/4546 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.4)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4546 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 16 a und
16 b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Keine Unterstützung für die völkerrechtswid-
rige Besatzungspolitik Marokkos in der West-
sahara

– Drucksache 17/4271 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechtslage in Westsahara

– Drucksache 17/4440 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1708730400

Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich der Deutsche

Bundestag heute mit dem Thema Westsahara beschäf-
tigt. Dieses Thema steht in Deutschland nicht unbedingt
ganz oben auf der Tagesordnung, obwohl es sich um ei-
nen Jahrzehnte andauernden regionalen Konflikt han-

4) Anlage 5

Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

delt. Deshalb würde ich mir wünschen, wenn wir dies
mit dieser Debatte ein wenig ändern könnten.

Ich vertrete – ähnlich wie Volker Rühe das kürzlich
geäußert hat – die Auffassung, dass Deutschland sich in
den nächsten Jahren als Mitglied des Sicherheitsrates zu
Themen positionieren muss, denen wir Deutsche bisher
bequemerweise aus dem Wege gehen konnten. Die Frage
des Westsahara-Konflikts gehört sicherlich zu diesen
Themen.

Die Westsahara-Problematik ist eine zentrale Frage
für die Zukunft Marokkos und der gesamten Region von
Algerien bis Mauretanien. Sie bindet große militärische
Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen
Marokko und Algerien und steht der Kooperation und
Entwicklung im Maghreb entgegen. Es ist in einer
30 Minuten langen Debatte leider nicht möglich, die
Entwicklung des Konflikts mit seinen Ursachen und Er-
eignissen seit mehr als 30 Jahren zu analysieren. Des-
halb möchte ich mich kurz fassen und zunächst auf die
Inhalte der Anträge eingehen:

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist aus meiner
Sicht tendenziös. Er richtet sich eindeutig gegen Ma-
rokko, wie schon der Titel belegt, in dem von „völker-
rechtswidriger Besatzungspolitik“ die Rede ist.

Bedenklicher finde ich, dass im Antrag bei der Schil-
derung der Ereignisse im Lager Gdaim Izyk nahe
Laayoune verschwiegen wird, dass offenbar zehn der
zwölf Opfer marokkanische Sicherheitskräfte waren,
dass die Proteste also keineswegs so friedlich waren,
wie im Antrag der Linken hervorgehoben. Ich wundere
mich, dass diese auch im Antrag der Grünen erwähnte
Tatsache einfach verschwiegen wird. Das ist aus meiner
Sicht unredlich. Die marokkanische Seite spricht in die-
sem Zusammenhang übrigens von einer Situation, dass
sich eine Gruppe der Lagerinsassen während der Ver-
handlungen mit der marokkanischen Seite radikalisiert
habe und die Personen, die bereit waren, das Lager zu
verlassen, als Geiseln genommen habe. Erst daraufhin
hätten die Sicherheitskräfte ohne den Gebrauch von
Waffen eingegriffen.

Auch in der Frage des 14-jährigen getöteten Jungen,
der angeblich Nahrungsmittel und Medikamente in das
Lager Gdaim Izyk bringen wollte, gibt es andere Infor-
mationen. Diese berichten von bewaffneten Personen in
zwei Allradfahrzeugen, die einen Angriff gegen das
Wachpersonal in Laayoune ausübten und in deren Be-
gleitung sich auch der Junge befand.

Ich möchte hier gar nicht den Richter spielen und die
Ereignisse jener Tage abschließend beurteilen, jedoch
möchte ich festhalten, dass es offensichtlich unter-
schiedliche Versionen gibt. Wir sollten uns als Deut-
scher Bundestag nicht dazu hinreißen lassen, die Dar-
stellung einer Konfliktpartei eins zu eins für unsere
Argumentation zu übernehmen und daraus unrealisti-
sche Forderungen abzuleiten. Damit kommt die Linke
dem Ziel einer Lösung des Konflikts nicht näher, sie
sorgt nur für Radikalisierung und eine Verhärtung der
Positionen.
Zu Protokoll
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bildet eine
weit bessere Diskussionsgrundlage. Ich halte die Her-
vorhebung der Bedeutung der Menschenrechtslage in
der Westsahara zwar grundsätzlich für richtig, aber
dann muss man auch andere Fragen stellen, nämlich
nach der Rolle Algeriens in dem Konflikt oder der Situa-
tion in den von der POLISARIO geführten Flüchtlings-
lagern.

Es ist uns ja nicht einmal möglich, die Zahl der
Flüchtlinge in diesen Lagern unabhängig zu erfassen.
Im Antrag der Grünen steht eine Zahl von 160 000, in ei-
ne
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1708730500

„Die Weigerung der sahrouischen Behörden, einer Re-
gistrierung zuzustimmen, legt jedoch nahe, dass ihre
wirkliche Anzahl weit darunter und wahrscheinlich
kaum über 90 000 liegt.“

Wir müssen uns bei allen Fragen der Menschen-
rechte, wo ich mir auch vonseiten Marokkos Verbesse-
rungen wünsche, auch nach grundsätzlichen Lösungs-
möglichkeiten des Konflikts fragen.

Hier laufen ja derzeit die direkten Verhandlungen
zwischen der POLISARIO und Marokko unter dem
neuen UN-Vermittler Christopher Ross. Und hier haben
wir weiterhin die Situation, dass die Marokkaner von ei-
ner Souveränität Marokkos über die Westsahara ausge-
hen, während die POLISARIO ein Referendum mit Ein-
schluss der Unabhängigkeit fordert. Da liegt dann der
Teufel im Detail über die Frage, wer dann abstimmen
darf und wie die Abstimmung erfolgt. Der Streit über
diese Frage hat letztlich ja schon früher ein Referendum
verhindert.

Marokko ist 2007 immerhin mit einem weitreichenden
Autonomievorschlag von seiner bisherigen harten Ver-
handlungslinie abgerückt, einem Vorschlag, den der Si-
cherheitsrat in seiner Resolution 1871 vom April 2009
als „ernsthafte und glaubwürdige Bemühungen“ cha-
rakterisiert hat. Unter dem Aspekt der Menschenrechte
und der wirtschaftlichen Entwicklung einer von einem
jahrzehntelangen Konflikt betroffenen Region ist der
Autonomievorschlag eine mögliche Lösung. Schließlich
sind weitreichende Befugnisse für die Region in wirt-
schaftlichen, sozialen und Haushaltsfragen vorgesehen.

Ich möchte diese marokkanische Position nicht ein-
fach übernehmen, vielmehr ist es immer Maßgabe deut-
scher Außenpolitik gewesen, die Bemühungen der Ver-
einten Nationen bei der Herbeiführung einer Lösung zu
unterstützen. Hier hat es ja durch die Wiederaufnahme
von vertrauensbildenden Maßnahmen in Form von Fa-
milienbesuchen und der wahrscheinlichen zukünftigen
Einigung über solche Familienbesuche auch auf dem
Landweg durchaus Fortschritte gegeben.

Wenn aber auch der neue UN-Vermittler Christopher
Ross bei der Suche nach einer Lösung letztlich nicht
weiterkommen sollte, halte ich es für wichtig, dass
Deutschland zukünftig klarer Position bezieht. Die
Frage der Menschenrechte in der Westsahara sollte da-
bei dann ebenso eine Rolle spielen, wie die Fragen der



gegebene Reden

Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

Legitimation marokkanischer Ansprüche. Die Berechti-
gung der Vertretungsansprüche der POLISARIO für die
Bevölkerung in der Westsahara ist dabei auch zu hinter-
fragen, und schließlich sollte es natürlich auch um eine
realistische Einschätzung der machbaren Lösungswege
gehen.

Insofern begreife ich die heutige Debatte losgelöst
von Ihrem Anlass als einen Auftakt, sich auch im Deut-
schen Bundestag verstärkt mit den Fragen jenes über
Jahrzehnte schwelenden Konflikts zu beschäftigen. Viel-
leicht kann es uns Deutschen ja gelingen, hier eine Posi-
tion zu entwickeln, die der Komplexität der Situation ge-
recht wird und letztlich dazu beiträgt, eine tragfähige
Lösung herbeizuführen.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1708730600

Wir alle sind über das menschliche Leid, das durch

den Westsahara-Konflikt verursacht wird, tief betroffen.
Allein die jüngste Tragödie von Laayoune im Nordwes-
ten der Sahara zeigt, welch dramatisches Ausmaß dieser
Konflikt angenommen hat. Die unzähligen Toten, die es
bei der Räumung eines Zeltlagers gegen die soziale und
wirtschaftliche Lage am 8. November 2010 durch ma-
rokkanische Sicherheitskräfte gab, zeigen das eindrück-
lich.

Dabei schwelt der Konflikt schon seit langem. Um ihn
besser verstehen zu können, lohnt ein Blick in die Entste-
hungsgeschichte des Konflikts. Seit Mitte der 60er-Jahre
des letzten Jahrhunderts wurde Spanien wiederholt von
der UN aufgefordert, die Westsahara in die Unabhän-
gigkeit zu entlassen. Parallel dazu gründete sich die
sahrauische Befreiungsfront Frente POLISARIO, die für
eine politische Unabhängigkeit der Westsahara kämpfte.
Nach dem Tod Francos 1975 zogen die Spanier ab, und
Mauretanien und Marokko besetzte den Großteil des Ge-
biets der Westsahara. 1976 erklärte Marokko die Anne-
xion der nördlichen zwei Drittel des Westsahara-Gebie-
tes und 1979 des restlichen Territoriums, nachdem sich
Mauretanien aus dem Gebiet zurückgezogen hatte.
Diese Annexionen wurden von den Vereinten Nationen
nicht anerkannt. Ebenso wenig wurden ohne die Abhal-
tung des von den Vereinten Nationen geforderten Refe-
rendums die Ansprüche der Demokratischen Arabischen
Republik Sahara auf das Gebiet der Westsahara aner-
kannt.

Zwar wurde 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung
zwischen Marokko und der POLISARIO geschlossen,
aber auch dies reichte nicht, um das geforderte Refe-
rendum abzuhalten. Daher leben bis heute etwa
100 000 Sahrauis in Flüchtlingslagern nahe der Stadt
Tindouf in der algerischen Sahara. Hinzu kommt, dass
das Gebiet von Westsahara aktuell durch eine befestigte
und verminte Grenzanlage geteilt ist, die von Marokko
entlang der Waffenstillstandslinie errichtet wurde.

Vor diesem Hintergrund scheint eine kurzfristige Lö-
sung des Westsahara-Konflikts kaum realistisch. Trotz
aller Bemühungen sowohl der Bundesregierung als
auch der internationalen Gemeinschaft war es bislang
nicht möglich, die Konfliktparteien zu einer einvernehm-
lichen und friedlichen Lösung zu bewegen.
Zu Protokoll
Woran liegt das? Zuallererst an den Konfliktparteien
selbst. Weder die Regierung Marokkos noch die Saha-
rawi Liberation Movement, Frente POLISARIO, waren
und sind bis heute in der Lage, aufeinander zuzugehen
und in der Sache voranzukommen. Selbst die Resolution
1754 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, in der
die Konfliktparteien dazu aufgefordert wurden: „enter
into direct negotiations without preconditions and in
good faith“, führten bislang nur zu ergebnislosen
Gesprächen. Die Ursache dafür liegt in den unter-
schiedlichen Zielsetzungen, die die Konfliktparteien in
den Verhandlungen verfolgen. Marokko wäre bis zu ei-
nem gewissem Grad bereit, einen Autonomiestatus der
Region zu akzeptieren, solange dies innerhalb des ma-
rokkanischen Staatsverbandes geschieht. Die sahraui-
schen Aktivisten berufen sich aber auf das Selbstbestim-
mungsrecht der Völker und fordern einen unabhängigen
Staat Westsahara.

Dieses Dilemma von außen zu lösen, scheint kaum
möglich, und daher stellt sich die Frage, wie die Bun-
desregierung und die internationale Gemeinschaft mit
diesem Konflikt umgehen.

Zunächst einmal ist es eine Selbstverständlichkeit,
dass wir uns bemühen, das menschliche Leid zu lindern
und humanitäre Hilfe beispielsweise für die schon ange-
sprochenen vier Flüchtlingslager in der Nähe der Stadt
Tindouf in der algerischen Sahara leisten. Auch enga-
gieren wir uns im Rahmen von Familienzusammenfüh-
rungsprogrammen und unterstützen die ständige VN-
Beobachtermission MINURSO, die seit dem Waffenstill-
stand und der Resolution 690 des Sicherheitsrats der
Vereinten Nationen vom 29. April 1991 im Land ist. Im
Rahmen des Programms Deutsche Akademische Flücht-
lingshilfe beim UNHCR werden derzeit Stipendien für
mehr als 20 sahrauische Studierende finanziert, und das
Auswärtige Amt prüft, wie wir die Räumung von Minen
aus dem Westsahara-Konflikt in Mauretanien unterstüt-
zen können.

Neben all diesen humanitären und vertrauensbilden-
den Maßnahmen müssen wir alles tun, um das seit lan-
gem geforderte Referendum über die Zukunft der West-
sahara und die entsprechenden Gespräche zwischen den
Konfliktparteien unter Einbindung von Algerien und
Mauretanien zu unterstützen – auch wenn sie bislang
nicht erfolgreich verlaufen sind.

Außer dieser Unterstützung arbeitet Deutschland be-
sonders mit Blick auf Frankreich und Spanien an einer
kohärenteren Haltung der Europäischen Union zum
Westsahara-Konflikt und bemüht sich, auch Algerien
konstruktiv in die Gespräche einzubinden. Die Regie-
rung in Algier unterstützt die Frente POLISARIO und
sieht den Westsahara-Konflikt hauptsächlich als Deko-
lonialisierungsproblem an.

Darüber hinaus gibt es aber kaum diplomatische
oder wirtschaftliche Hebel für die Bundesregierung,
eine der Konfliktparteien kurzfristig zu entscheidenden
Zugeständnissen zu drängen. Auch wenn dies vor dem
Hintergrund des menschlichen Leids schwer fällt zu ak-
zeptieren, so müssen wir auch unseren Einfluss realis-
tisch einschätzen und dürfen ihn nicht überbewerten.



gegebene Reden

Sibylle Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Das wäre fatal und würde nur falsche Erwartungen und
Hoffnungen bei den Betroffenen und Opfern schüren.
Und das können wir auch nicht wollen.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1708730700

Bis zum heutigen Tage ist es nicht zu einem wirkli-

chen Durchbruch im Sinne einer dauerhaften, völker-
rechtlich verbindlichen Verhandlungslösung für den
Konflikt um die Westsahara gekommen, der nun schon
seit 1975 andauert. Seit 1991 besteht zwar formell ein
Waffenstillstand zwischen der POLISARIO und Ma-
rokko. Der Konflikt und vor allem die durch ihn betrof-
fenen Menschen in der Westsahara warten dennoch wei-
terhin auf eine dauerhafte und tragende Lösung. Ein
Referendum in der Westsahara wäre, im Sinne des
Selbstbestimmungsrechtes der Völker, ein wichtiger ers-
ter Schritt in Richtung einer Konfliktlösung gewesen.
Doch schon der Versuch des ersten Schrittes, ein Refe-
rendum auf dem Gebiet der Westsahara durchzuführen,
ist im Jahr 2000 am Streit über den Teilnehmerkreis ge-
scheitert.

Die gewaltsame Räumung des Protestcamps im sah-
rauischen Camp Gdaim Izyk bei El Aaiun im November
2010 durch marokkanische Sicherheitskräfte zeigt, dass
der Konflikt auch 36 Jahre nach seinem Ausbruch noch
immer in tödliche Gewalt umschlagen kann. Dieser Ge-
waltausbruch am 8. November 2010 fiel ausgerechnet
mit dem Beginn der dritten Runde der informellen Ge-
spräche über den Status der Westsahara zusammen, zu
denen sich Marokko, die POLISARIO und die Beobach-
terstaaten Algerien und Mauretanien in New York tra-
fen.

Das Blutvergießen vom 8. November 2010 weckt
große Befürchtungen hinsichtlich einer neuen Eskala-
tion des Konfliktes und muss alle Mitglieder des Deut-
schen Bundestages und die Bundesregierung zu größter
Sorge veranlassen. Den Konfliktparteien – insbesondere
der Regierung des Königreiches Marokko – muss un-
missverständlich erklärt werden, dass Gewaltverzicht
eine Conditio sine qua non für alle weiteren Schritte zur
humanitären Unterstützung und zur Konfliktbeilegung
ist. Hier sehe ich die Bundesregierung in der Pflicht.

Die erneute Gewalteskalation ist auch deshalb umso
bedauerlicher, da es in der Vergangenheit umfangreiche
Aktivitäten der Vereinten Nationen zur Einhegung und
Beilegung des Konfliktes gegeben hat: So haben die Ver-
einten Nationen 1991 eine eigene Mission für die Ein-
haltung des Waffenstillstandes und zur Verbesserung der
humanitären Situation, die MINURSO, ins Leben geru-
fen. Die Verlängerung des MINURSO-Mandates steht
für den April diesen Jahres an.

Im Zuge dieser Mandatsverlängerung besteht nun ein
Konflikt zwischen der POLISARIO und der marokkani-
schen Regierung über die Aufnahme eines Menschen-
rechtsmechanismus in das Mandat der MINURSO-Mis-
sion. Dieser Konflikt muss – im Sinne der Prävention
einer weiteren Eskalation und für die Verbesserung der
humanitären Lage der sahrauischen Bevölkerung – un-
bedingt schnell beigelegt werden.
Zu Protokoll
Die Bundesregierung muss in dieser Situation alles
ihr Mögliche unternehmen, um die Verlängerung des
MINURSO-Mandates zu erreichen. Ohne dieses Mandat
wäre die Grundlage für das humanitäre Handeln der
Vereinten Nationen in der Westsahara-Region gefährdet.
Dies darf auf gar keinen Fall zugelassen werden.

Ich will es an dieser Stelle auch nicht versäumen, auf
die Baker-Pläne I und II hinzuweisen, in denen die Ver-
einten Nationen ein umfangreiches Konfliktlösungssze-
nario entwickelten. Ich halte deren Ziele nach wie vor
für aktuell:

Der Westsahara sollte entsprechend Baker-Plan II
eine weitgehende Autonomie unter marokkanischer Sou-
veränität zugestanden werden. Wesentlicher Bestandteil
war ein Abkommen, das folgende Regelungen vorsah:
Freilassung der Verhafteten und Kriegsgefangenen.
Drei Monate nach Unterzeichnung des Abkommens
beidseitige Reduzierung der Streitkräfte. Nach einem
Jahr sollen ein Parlament und ein Oberhaupt der Exeku-
tive gewählt werden. Sie sollen den territorialen Haus-
halt der Westsahara verwalten und für die Steuereinnah-
men und die Polizei zuständig sein. Allerdings wäre der
marokkanische König der Souverän geblieben, der in
den Außenbeziehungen, in Verteidigungsfragen und bei
der Kontrolle der Waffen weisungsbefugt wäre. Vier
oder fünf Jahre nach der Unterschrift wäre nach dem
Baker-Plan II ein Referendum durchgeführt worden, in
dem die Wahlberechtigten über drei Optionen hätten ab-
stimmen können: Erstens, ob die Westsahara einen Au-
tonomiestatus innerhalb Marokkos erhält; zweitens Un-
abhängigkeit oder drittens die volle Integration in das
marokkanische Staatsgebilde.

Die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP haben im Jahre 2004 in ihrem inter-
fraktionellen Antrag „Eine politische Lösung für den
Westsaharakonflikt voranbringen – Baker-Plan unter-
stützen“, Drucksache 15/2391, eindringlich für diesen
Plan geworben. Obwohl die Vereinten Nationen mit ih-
rer Resolution 1495 vom 31. Juli 2003 alle Konfliktbe-
teiligten und Verhandlungspartner aufgefordert haben,
dem Plan zuzustimmen, ist dieser aufgrund der Vorbe-
halte Marokkos gegen den offenen Endstatus geschei-
tert. Dies soll mich hier aber nicht davon abhalten,
nochmals die Grundsätze und Forderungen des Baker-
Planes und unseres Antrages von 2004 zu unterstreichen
und für ihre Umsetzung zu werben.

Die Vereinten Nationen verfolgen die Umsetzung der
Ziele des Baker-Planes nach dessen Scheitern durch di-
rekte Verhandlungen. Hierin sind sie durch alle Bundes-
regierungen ebenso unterstützt worden wie bei den so-
genannten „guten Diensten“ wie zum Beispiel diskreten
Verhandlungen um die Freilassung von gefangenen
POLISARIO-Kämpfern.

Die EU engagiert sich mit ihrem ECHO-Programm
seit vielen Jahren in der Konfliktregion in der humani-
tären Hilfe. Das Europäische Parlament hat in dem
interfraktionellen Entschließungsantrag zur Lage in der
Westsahara vom 24. November 2010 seine Besorgnis
über die jüngste Entwicklung in der Region zum Aus-
druck gebracht.



gegebene Reden

Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)

In die Frage des Zuganges zu den Fischressourcen im
Atlantik vor der Küste der Westsahara ist Bewegung ge-
kommen. Die Legitimität der Teilhabe der Sahrauis an
den Fischvorkommen des eigenen Lebensraumes steht
für mich außer Frage.

Die marokkanische Regierung hat nach dem Gemein-
samen Ausschuss von EU und Marokko im Februar
2010 die Frage immerhin aufgegriffen, und die EU-
Kommission erwartet nun nach dem EU-Marokko-Asso-
ziationsausschuss vom 28. Oktober 2010 eine Wirkungs-
analyse von Marokko. Diese Analyse ist unbedingt ein-
zufordern und seitens der EU und der Bunderegierung
kritisch zu begutachten.

Gerade angesichts der jüngst wiederaufflammenden
Gewalt muss erneut alles dafür getan werden, dass sub-
stanzielle Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien
über eine dauerhafte Lösung des Konfliktes unter dem
Dach der Vereinten Nationen auf den Weg kommen. Das
Format der Verhandlungen ist dabei nachrangig. Ent-
scheidend ist es, dass sie – im Sinne der Krisenpräven-
tion und Deeskalation – zunächst eine Verbesserung der
Lebensbedingungen der Menschen in der Westsahara
erreichen.

Ich denke, dass alle, die sich länger mit dem West-
sahara-Konflikt beschäftigt haben, nicht der Illusion an-
hängen, diesen Konflikt kurzfristig lösen zu können. Die
internationale Gemeinschaft muss den Westsahara-Kon-
flikt aber wieder verstärkt auf die politische Agenda
setzen. In diesem Sinne appelliere ich an die Bundes-
regierung, in ihren Aktivitäten für die Menschen der Kri-
senregion im Rahmen der Vereinten Nationen, in der
Europäischen Union und auch bilateral nicht nur nicht
nachzulassen, sondern sie zu forcieren.

Ein Mehr an regionaler Stabilität im Nordwesten
Afrikas ist nicht nur im Interesse der EU und der gesam-
ten Weltgemeinschaft, es sollte vor allem im Interesse
der Anrainerstaaten der Konfliktregion liegen. Die neu-
esten Entwicklungen im Maghreb zeigen, dass die Re-
gion in eine Phase sozialer und politischer Veränderun-
gen eintritt. Aus diesem Grund liegt in der Verbesserung
der regionalen Integration des Nordwestens des afrika-
nischen Kontinentes eine Entwicklungschance – auch
für neue Wege zur Lösung der Westsahara-Frage. Die
Staaten der Region müssten erkennen, welche Vorteile
eine regionale Integrationspolitik zwischen den Nach-
barn nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpoli-
tisch und ökonomisch für sie brächte.

Die unbestreitbaren Vorteile der Geschichte der Inte-
gration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg könnten
für sie eine Inspiration für mehr regionale Integration
sein. Wir Europäer dürfen nicht müde werden, den größ-
ten Gewinn der EU-Integration, die Sicherung des Frie-
dens innerhalb ihrer Grenzen, allen Weltregionen als
nachahmungswürdig zu empfehlen.

Daher möchte ich aus aktuellem Anlass mit dem Auf-
ruf zu einer verbesserten Süd-Süd-Kooperation in Nor-
den Afrikas enden.
Zu Protokoll

Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1708730800

Der Westsahara-Konflikt kann nur unter Beteiligung

der Vereinten Nationen gelöst werden, da er von vielen
ungeklärten Fragen geprägt ist. Die Rechtsauffassungen
divergieren, der völkerrechtliche Status der Westsahara
ist ungeklärt. Bereits der Titel des Antrags der Linken ist
tendenziös und der Antrag einer nachhaltigen Lösung in
diesem Konflikt abträglich.

Selbstverständlich ist der Westsahara-Konflikt regel-
mäßig Gegenstand politischer Gespräche und Kontakte
der Bundesregierung und in der Europäischen Union
mit Partnern in der Region. Auch in dem Fall der sah-
rauischen Aktivistin Aminatou Haidar haben wir Parla-
mentarier klar Position für Frau Haidar und für die
Menschenrechte bezogen.

Nach unserer Auffassung liegt der Schlüssel in einer
erfolgreichen politischen Vermittlung durch die Verein-
ten Nationen. Wir setzen daher weiterhin auf Bemühun-
gen der Vereinten Nationen, im Einverständnis zwischen
den Beteiligten und auf Grundlage bestehender UN-Re-
solutionen, eine friedliche Lösung des Westsahara-Kon-
flikts zu finden.

Der Sondergesandte der Vereinten Nationen für die
Westsahara, Christopher Ross, bereiste im Oktober
2010 erneut die Region. Er plant eine neue, dritte Runde
informeller Konsultationen im Laufe des Novembers.
Die zweite Runde informeller Konsultationen hatte An-
fang Februar in den Vereinigten Staaten stattgefunden.
Neben Marokko und der POLISARIO waren auch Alge-
rien und Mauretanien präsent. Es kam jedoch wiederum
nur zu einem Austausch bekannter Positionen. Die Kon-
sultationen sollen auch zur Vorbereitung formeller Ver-
handlungen im Rahmen des sogenannten Manhasset-
Prozesses dienen. Die FDP-Bundestagsfraktion appel-
liert daher an alle Parteien, die Gespräche unter der
Führung des Sondergesandten Christopher Ross so
schnell wie möglich fortzusetzen, um die Lösung des
Konflikts aus sich heraus zu lösen.

Ebenso wie die Resolution des Sicherheitsrates 1754

(2007) ruft die Resolution 1871 (2009) die Parteien auf,

Verhandlungen direkt zu führen. Das Mandat der Verein-
ten Nationen für das Referendum in der Westsahara,
MINURSO, sichert diese Verhandlungen ab. Diesem
Aufruf schließt sich die FDP-Bundestagsfraktion voll-
umfänglich an.

Unabhängig vom völkerrechtlichen Status ist jedoch
eines klar: Auch auf dem Gebiet der Westsahara müssen
die Menschenrechte stärker geachtet und verteidigt wer-
den. Es darf nicht sein – und wir werden dies nicht hin-
nehmen –, dass die Augen vor der Menschenrechtslage
verschlossen werden. Deswegen sind Menschenrechte
immer Thema bei Gesprächen mit Vertretern des König-
reichs Marokko.

Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung der
Menschenrechtslage in den von Marokko besetzten Ge-
bieten intensiv. Das Thema wird regelmäßig bei bilate-
ralen Gesprächen auf allen Ebenen angesprochen. Au-
ßenminister Westerwelle hat im Gespräch mit seinem
marokkanischen Amtskollegen am 15. November 2010



gegebene Reden

Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)

die Bedeutung einer friedlichen, konsensuellen Lösung
des Westsahara-Konflikts im Rahmen der Vereinten Na-
tionen unterstrichen. Der marokkanische Außenminister
hat seinerseits die Bereitschaft zu und das Interesse Ma-
rokkos an fortgesetzten Verhandlungen auf Grundlage
der Resolutionen der Vereinten Nationen betont. Dies
gilt es weiter zu fordern und zu fördern.

Deutschland wird auch weiterhin alle Bemühungen
der Vereinten Nationen unterstützen, um zu einer friedli-
chen und konsensuellen Lösung des Konfliktes zu gelan-
gen. Das Auswärtige Amt trägt zu den vertrauensbilden-
den Maßnahmen des UNHCR bei. In den Jahren 2008
bis 2010 wurden hierfür zusammen gut 600 000 Euro
zur Verfügung gestellt. Das BMZ hat von 1981 bis 2006
knapp 12 Millionen Euro im Rahmen der Nahrungsmit-
tel-, Not- und Flüchtlingshilfe beigetragen. Über die
EU, ECHO, wurden seit Bestehen des Konfliktes rund
130 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfü-
gung gestellt, das jährliche ECHO-Budget für die
Flüchtlingslager beträgt rund 10 Millionen Euro. Über
die Vereinten Nationen, Mediationsfonds, unterstützt
Deutschland indirekt den Sondergesandten. Über das
Programm „Deutsche Akademische Flüchtlingsinitia-
tive“ beim UNHCR werden derzeit Stipendien für über
20 sahrauische Studierende finanziert.

Auch im EU-Rahmen fordern die Bundesregierung
und ihre Partner regelmäßig schriftlich und über
Demarchen Aufklärung zu akuten Vorfällen bei den Kon-
fliktparteien Marokko, der POLISARIO und den Nach-
barstaaten, insbesondere Algerien. Im Rahmen der
europäischen Nachbarschaftspolitik werden regelmäßig
die Themen Menschenrechte, Demokratie und Rechts-
staatlichkeit angesprochen. Der politische Dialog des
Aktionsplans mit Marokko sieht dies genauso vor wie
das Assoziierungsabkommen, welches den Menschen-
rechten eine grundlegende Bedeutung für die Innen- so-
wie Außenpolitik der EU und Marokkos zuweist.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708730900

Ein von der Welt verdrängter Konflikt ist neu ent-

flammt. In der Westsahara, dort, wo seit 35 Jahren Ma-
rokko völkerrechtswidrig als Besatzungsmacht regiert.

Der Konflikt begann bereits mit der Berliner Afrika-
Konferenz, sogenannte Kongo-Konferenz, 1884 bis 1885
in Berlin, als die Kolonialmächte Afrika unter sich auf-
teilten. Spanien wurde die Westsahara zugesprochen.
Nachdem die UNO-Generalversammlung von Spanien
ab 1965 wiederholt in Resolutionen die Dekolonialisie-
rung der Westsahara verlangte, zog die spanische Kolo-
nialmacht 1975 ab. Doch eine Dekolonisation schei-
terte, da Marokko und Mauretanien die Westsahara
militärisch besetzten. Nachdem sich Mauretanien 1979
zurückgezogen hatte, besetzte Marokko das gesamte
Territorium und erklärte 1976 die Annexion des Territo-
riums. Seitdem wurden Hunderttausende Sahrauis aus
ihrer Heimat vertrieben. Sie leben in Flüchtlingslagern
in Algerien, oft getrennt von ihren Familienangehöri-
gen, die zurückblieben. Diejenigen, die nicht vertrieben
wurden oder geflohen sind, müssen abgeriegelt hinter
einem 2 700 Kilometer langen elektronisch gesicherten
Zu Protokoll
und verminten Wall leben. Sie sind den alltäglichen
Schikanen und Diskriminierungen der marokkanischen
Polizei und Besatzungsbehörden ausgesetzt. Regelmä-
ßig kommt es zu willkürlichen Inhaftierungen und An-
klagen. Hinsichtlich Inhaftierter berichtet Amnesty In-
ternational über Folter. Prozesse insbesondere gegen
Sahrauis, die sich für die Unabhängigkeit der West-
sahara aussprechen, halten laut zahlreichen Menschen-
rechtsorganisationen nicht den internationalen Stan-
dards für faire Gerichtsverfahren stand.

Sowohl der Hungerstreik der Menschenrechtsaktivis-
tin Aminatou Haidar im November/Dezember 2009,
aber auch der Protest von circa 20 000 Sahrauis im Ok-
tober 2010 in dem „Camp der Würde“ drängte den letz-
ten Kolonialkonflikt in Afrika in den Blickpunkt der
Weltöffentlichkeit. Diese protestierten friedlich gegen
ihre soziale Benachteiligung, gegen die massiven Men-
schenrechtsverletzungen durch die marokkanischen
Sicherheitsbehörden und die Besetzung. Am Morgen des
8. November 2010 räumten marokkanische Sicherheits-
kräfte gewaltsam das Protestcamp in der Wüste vor den
Toren der Stadt El-Aaiún. Dabei starben nach sahraui-
schen Angaben zwölf Menschen, Marokko spricht von
zwei getöteten Polizisten und einem Feuerwehrmann.
Mehrere Hundert Demonstranten wurden schwer ver-
letzt. Das Camp wurde dem Erdboden gleichgemacht,
die Zelte in Brand gesteckt. Dabei haben diese Men-
schen zu Recht gegen die völkerrechtswidrige Besetzung
der Westsahara durch Marokko, gegen die illegale Plün-
derung ihrer Naturschätze sowie gegen ihre Diskrimi-
nierung protestiert.

Das alles passierte und passiert in unmittelbarer
Nachbarschaft der EU, unweit von beliebten Reisezielen
auch deutscher Touristinnen und Touristen wie den Ka-
narischen Inseln. Und die Bundesregierung schweigt.
Aber sie schweigt nicht nur und schaut nicht einfach nur
weg. Nein, die Bundesregierung belohnt auch noch Ma-
rokko dafür, dass es durch die Besatzung Völkerrecht
bricht und sich kontinuierlich schwerster Menschen-
rechtsverletzungen schuldig macht. Sie lässt die
sahrauische Bevölkerung für die schmutzigen Dienste
Marokkos bei der vermeintlichen Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus und der Flüchtlingsabwehr be-
zahlen.

Die Linke sagt deutlich, wie die Bundesregierung
Marokko belohnt: Die Bundesregierung belohnt Ma-
rokko, indem sie seit 1966 militärische Ausbildungshilfe
für die marokkanischen Streitkräfte leistet, obwohl sie
an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara
beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere haben
Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der Bundes-
wehr und Studiengänge an den Hochschulen der Bun-
deswehr absolviert.

Die Bundesregierung belohnt zusammen mit der EU
Marokko durch Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für
marokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte, also
genau jene, die auch an der Räumung des „Camps der
Würde“ und den Gewalttaten gegen die sahrauische Be-
völkerung beteiligt waren und sind.



gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, indem
sie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zuguns-
ten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 einge-
stellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten
100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung mehr für
die Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im
Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe
wurde bereits 2007 eingestellt.

Und auch die EU belohnt Marokko – mit wohlwollen-
der Zustimmung der Bundesregierung – seit Jahren in
der EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobe-
nen Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen 1 Mil-
liarde Euro allein zwischen 2007 und 2010.

Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völ-
kerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierli-
chen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der
Flüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Ver-
längerung des EU-Fischereiabkommens – und das trotz
der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiab-
kommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in
2002. Damit missachten Bundesregierung und EU die
unveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohne
Selbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Das
meint auch der Juristische Dienst des Europaparla-
ments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass der
Fischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fische-
reiabkommens zwischen der EU und Marokko weder in
Konsultation mit der sahrauischen Bevölkerung der
Westsahara stattfindet, noch die Bevölkerung die Ein-
nahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichen
Fischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völ-
kerrechtswidrig.

Alle diese erwähnten Belohnungen waren nicht um-
sonst und sollen es natürlich auch in Zukunft nicht sein.
Die reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen
Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollen
weiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfang-
flotten und internationalen Konzernen preisgegeben
werden. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der
mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Technische Zu-
sammenarbeit, GTZ, erstellt wurde und ganz selbstver-
ständlich Standorte in der Westsahara miteinschließt,
soll deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Ein-
führung und Privatisierung erneuerbarer Energien
durch gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die
als Vorstufe des Desertec-Projektes gelten. Der Plan des
von deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Mün-
chener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bank
dominierten und von der Bundesregierung unterstützten
Projekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der in
Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen
in Nordafrika zu beziehen – ohne Befragung und Hinzu-
ziehung der Saharauis oder deren Interessenvertretun-
gen bei den Planungen. Die Linke lehnt das Projekt
„Desertec“ ab. Dieses Projekt wirft neben umweltpoliti-
schen vor allem außenpolitische, menschenrechtliche
und entwicklungspolitische Fragen auf, die auch mit der
von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara
zusammenhängen.
Zu Protokoll
Die Bundesregierung darf nicht weiter die sahraui-
sche Bevölkerung für die schmutzigen Dienste Marokkos
bei der vermeintlichen Bekämpfung des internationalen
Terrorismus, der Flüchtlingsabwehr und den Profitinte-
ressen der deutschen Wirtschaft opfern. Sie muss endlich
die permanenten Rechtsverletzungen der marokkani-
schen Regierung deutlich öffentlich verurteilen und
Konsequenzen ziehen. Sie darf Marokko nicht weiter da-
rin bestärken, ungehindert das seit über 20 Jahren fäl-
lige Referendum über den Status der Westsahara und da-
mit das Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, das
ihnen im Zuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zu
können.

Ich stelle nun dar, welche Konsequenzen die Linke
fordert:

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür ein-
zusetzen, dass Marokko endlich die Resolution 690 des
UN-Sicherheitsrates vom 29. April 1991 umsetzt und das
Referendum über die Zukunft der Westsahara unter UN-
Aufsicht nicht weiter blockiert.

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die ge-
waltsame Auflösung des Protestcamps Anfang Novem-
ber 2010 und die Niederschlagung der anschließenden
Demonstrationen zu verurteilen und eine internationale
Untersuchung der Vorfälle einzufordern.

Jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für ma-
rokkanische Polizei- und Armeekräfte ist einzustellen.

Wir fordern, dass sich die Bundesregierung innerhalb
der EU endlich energisch dafür einsetzt, dass das Asso-
ziationsabkommen der EU mit Marokko sowie der fort-
geschrittene Status der Beziehungen zur EU zumindest
solange ausgesetzt werden, bis Marokko seine völker-
rechtswidrige Besatzung beendet hat.

Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sich
in der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiab-
kommen bis zum 27. Februar 2011 gekündigt wird, da-
mit es sich nicht automatisch verlängert. Eine automati-
sche Verlängerung des Fischereiabkommens zwischen
der EU und Marokko muss so lange verhindert werden,
wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertrag ausge-
schlossen ist.

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, insbeson-
dere im Lichte der aktuellen Ereignisse in Tunesien und
Ägypten, ihre Unterstützung gegenüber autoritären Re-
gimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- und
Sozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orien-
tieren.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beide vorliegenden Anträge benennen die Schikanen
und Menschenrechtsverletzungen durch marokkanische
Behörden in Westsahara und die unerträgliche Situa-
tion, in der große Teile des Volkes der Sahrauis seit
Jahrzehnten leben und weisen darauf hin, dass der Staat
Marokko sich beharrlich weigert, die UN-Resolution
690 aus dem Jahre 1991 umzusetzen.



gegebene Reden

Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

Schon in den 70er-Jahren habe ich den Befreiungs-
kampf der Frente POLISARIO gegen die Kolonialherr-
schaft Spaniens mit großem Interesse verfolgt. Wir ha-
ben versucht, diesen solidarisch zu unterstützen.

Als Bundestagsabgeordneter befasse ich mich seit
vielen Jahren mit der verzweifelten Lage der Sahrauis
und dem ungelösten Problem des politischen und recht-
lichen Status der Westsahara. Die Repression des ma-
rokkanischen Staates hat ständig zugenommen, wie auch
die Ungeduld und Unzufriedenheit der Sahrauis.

Ich war im Gebiet Westsahara. Dort gibt es einen un-
passierbaren Schutzwall, der Westsahara teilt. Die
140 000 Flüchtlinge, die in Lagern in der Sahara leben,
können nicht ins Gebiet Westsahara reisen, Besucher
der Lager werden nicht durchgelassen. So hätte auch ich
Tausende von Meilen fliegen müssen, um über Algier zu
den Flüchtlingen zu gelangen.

Ich bin im andauernden Kontakt mit dem Vertreter
der POLISARIO. Ich habe mich 2009 mit der Menschen-
rechtsaktivistin Frau Haidar solidarisiert, als diese über
30 Tage im Hungerstreik in Lanzarote festsaß, weil ihr
die Rückkehr in ihre Heimat Westsahara von Marokko
verweigert wurde.

Ich weiß, dass 1991 die POLISARIO den Kampf ein-
gestellt und einen Waffenstillstand verkündet hatte, weil
die UNO einen Friedensplan vorgelegt hatte, der dem
sahrauischen Volk versprach, mit einer Volksabstim-
mung darüber entscheiden zu können, ob es in einem ei-
genen Staat oder im Staat Marokko mit einem autono-
men Status leben will. Dieses Versprechen wurde vom
Weltsicherheitsrat der UN in der Resolution 690 bekräf-
tigt.

20 Jahre warten die Sahrauis auf die Einlösung die-
ses Versprechens der Völkergemeinschaft vergebens.
Marokko weigert sich, überhaupt ernsthaft über die
Volksabstimmung zu reden. Die Sahrauis sind wütend
und enttäuscht, auch von der UN und dem Sicherheits-
rat. Sie sehen sich von der Völkergemeinschaft, der
UNO im Stich gelassen, von der EU, den Regierungen
der europäischen Länder verraten und vergessen. Zu
Recht. Ich habe auch mit Vertretern Marokkos gespro-
chen, nicht nur mit dem Botschafter in Berlin, und auch
mit Marokkanern in Marokko. Daher weiß ich, wie
schwer eine Lösung des Problems heute ist. Durch das
lange Zuwarten mit der Umsetzung der UN-Resolution
ist großer Schaden entstanden.

Große Teile der Bevölkerung Marokkos sehen heute
Westsahara als untrennbaren Teil des eigenen Landes.
Das gilt nicht nur für den König und die Regierung Ma-
rokkos. Schon 1975 hatte der König 350 000 Marokka-
ner nach Westsahara in Marsch gesetzt. Seither ist weit
mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Viel hat sich
geändert. Es wurden Fakten geschaffen. Viele Marokka-
ner wurden inzwischen in Westsahara angesiedelt. So ist
es zum Beispiel heute ein Problem, zu bestimmen, wer in
Westsahara bei dem Referendum abstimmungsberechtigt
ist.

Die Zugehörigkeit von Westsahara zu Marokko ist zur
nationalen Frage hochstilisiert worden. Schon als Kin-
Zu Protokoll
der haben die Marokkaner in der Schule gelernt, dass
Westsahara ein Teil Marokkos ist. Ein durchaus liberal
eingestellter Regierungsvertreter Marokkos hat mir
dazu gesagt, keine Regierung könnte sich im Amt halten,
die der Loslösung der Westsahara von Marokko zustim-
men würde.

Die Propaganda ist allgegenwärtig. Die Überhöhung
der Westsahara-Frage habe ich in Marokko in den Me-
dien, in der Öffentlichkeit und in der Bevölkerung viel-
fach bestätigt gefunden. Gerade das macht heute eine
vernünftige Lösung so schwer. Kein Premier verhandelt
gern über eine Lösung, die seinen Sturz bedeutet. Das
heißt nicht, dass die Verschleppung des Referendums ho-
noriert werden darf, weil die Durchsetzung schwieriger
geworden ist. Das rechtfertigt vor allem nicht die Auf-
rechterhaltung der Vertreibung von 160 000 Sahrauis in
Lager in der Wüste Sahara, nicht die Gewalt gegen die
15 000 Menschen in dem Zeltlager bei El Ajun, die Tö-
tung des 14-jährigen Nayem El-Garhi, die willkürliche
Verhaftung von Sahrauis durch marokkanische Sicher-
heitskräfte, die Einschränkung der Medienfreiheit und
all die vielen Menschenrechtsverletzungen.

Marokko tut seinen wohlverstandenen Interessen kei-
nen Gefallen und verspielt sein internationales Prestige.
Immer mehr Verbote, Repression und Gewalt sind fal-
sche Reaktionen auf das Freiheits- und Unabhängigkeit-
streben der Sahrauis.

Deshalb fordern wir die marokkanische Regierung
auf: Öffnet den Schutzwall zwischen den Flüchtlingsla-
gern und dem übrigen Land. Auch diese Mauer muss
weg. Alle Sahrauis, Journalisten, humanitären Organi-
sationen, internationalen Beobachter und Abgeordnete
müssen freien Zugang nach Westsahara und die Mög-
lichkeit haben, sich frei zu bewegen. Gefängnisse und
Strafverfahren müssen internationalen Standards ent-
sprechen. Die Meinungs- und Pressefreiheit muss auch
in Westsahara und für Sahrauis gelten. Diese Forderun-
gen zu erfüllen, ist eine Selbstverständlichkeit und im In-
teresse Marokkos. Das wäre der richtige Beitrag zur De-
eskalation. Die Bundesregierung muss das deutsche
Verhältnis zu Marokko von der Erfüllung dieser Forde-
rung abhängig machen.

Ansehen und Glaubwürdigkeit der UNO und der Völ-
kergemeinschaft leiden, wenn UN-Beschlüsse durch
jahrzehntelanges Nichtstun und Nichtbefolgung faktisch
außer Kraft gesetzt werden können und stattdessen Men-
schenrechte verletzt werden. Deshalb sollte die UNO
ihre Verantwortung wahrnehmen, die Ereignisse der
letzten Monate, die Todesfälle und das Verschwinden
von Personen durch ein internationales Gremium unter-
suchen, die Einhaltung der Menschenrechte überwachen
und eine konstruktive Rolle bei der Lösung des Westsa-
hara-Konflikts übernehmen. Das heißt, Gespräche und
Verhandlungen müssen aufgenommen werden, um eine
faire, dauerhafte und für alle Seiten akzeptable politi-
sche Lösung im Einklang mit den UN-Resolutionen zu
erreichen. Die Bundesregierung als Mitglied des Sicher-
heitsrates muss die Initiative dafür ergreifen.

Ehemals reiche Fischgründe und Ölfunde vor der
Küste Westsaharas sowie Bodenschätze im Land dürfen



gegebene Reden





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

nicht zum Fluch werden, sondern können eine große
Chance für die geschundene sahrauische Bevölkerung
und die Lösung der Probleme sein. Auch Marokko
könnte davon profitieren.

Der Westsahara-Konflikt muss auf der Tagesordnung
bleiben, hier und international, bis er gelöst ist.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708731000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

Drucksache 17/4271 und 17/4440 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da-
mit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Die Überwei-
sungen sind so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke,
Britta Haßelmann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
rung des Wertpapierhandelsgesetzes

– Drucksache 17/4053 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/4507 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Dr. Gerhard Schick

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1708731100

Der vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die

Grünen zielt darauf ab, die Situation von Anlegern zu
verbessern, die Ansprüche aus Falschberatung geltend
machen wollen. Ziel des Gesetzentwurfes ist es, einer
bestimmten Gruppe von Anlegern eine längere Verjäh-
rungsfrist für die Geltendmachung Ihrer Schadenser-
satzansprüche zu gewähren.

Hintergrund des Gesetzentwurfes ist, dass Schadens-
ersatzansprüche aus Falschberatung bis zum 4. August
2009 einer Sonderverjährungsfrist von drei Jahren ab
Entstehung des Anspruchs unterlagen. Durch das Gesetz
zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver-
schreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesser-
ten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus
Falschberatung wurde diese Sonderverjährung abge-
schafft. Damit gilt grundsätzlich auch im Bereich der
Falschberatung das allgemeine Verjährungsrecht. Nach
der damals mitbeschlossenen Übergangsregelung gilt
für bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes entstandene
Ansprüche die alte Sonderverjährungsfrist. Für nach
dem 4. August 2009 entstandene Ansprüche gilt die re-
gelmäßige Verjährungsfrist.

Der vorliegende Gesetzentwurf will auch Ansprüche,
die vor dem 4. August 2009 entstanden und noch nicht
verjährt sind, den allgemeinen längeren Verjährungs-
fristen unterstellen. Von dieser Gesetzesinitiative wür-
den insbesondere Geschädigte aus der Insolvenz von
Lehman profitieren. Denn eine erhebliche Zahl der spä-
ter ausgefallenen Lehman-Zertifikate wurde Anfang
2008 auf den Markt gebracht. Mögliche Ansprüche ge-
gen die Banken, die diese Zertifikate vertrieben haben,
würden nach geltendem Recht gegebenenfalls in den
nächsten Monaten verjähren.

Diesem Umstand möchten die Grünen durch ihren
Gesetzentwurf zur Verlängerung der Verjährungsfristen
abhelfen. Leider ist der vorliegende Gesetzentwurf nur
sehr schwer verständlich und so, wie er formuliert ist,
nicht umzusetzen. Trotzdem möchte ich die Gelegenheit
nutzen, die Argumente für und wider diesen Gesetzent-
wurf gegenüberzustellen.

Für den Antrag sprechen die erheblichen Auswirkun-
gen der Finanzkrise auf Privatanleger. Das gilt insbe-
sondere für die Insolvenz von Lehman. Durch diese
Insolvenz ist gerade Kleinanlegern ein erheblicher
Schaden entstanden. Viele Anleger wussten definitiv
nicht, was für ein Risikopapier sie gekauft haben. Da-
runter sind tragische Fälle: Bürgerinnen und Bürger, die
teilweise ihre kompletten Ersparnisse verloren haben.
Besonders betroffen sind ältere Menschen, die ihre Al-
tersversorgung auf diese Zertifikate aufgebaut und einen
erheblichen Schaden erlitten haben. Aufgrund ihres Al-
ters haben sie in ihrem Leben nicht mehr die Chance,
das verlorene Geld wieder hereinzuholen. Sie haben bis-
her nie etwas mit Gerichten zu tun gehabt und sind ver-
ständlicherweise mit ihrer Situation überfordert.

Für die schwierige Situation dieser Anleger habe ich
allergrößtes Verständnis. Ihre Bank oder ihr Finanz-
dienstleister haben sie in vielen Fällen nicht richtig be-
raten und über die Risiken der Anlage aufgeklärt. Sie
stehen jetzt vor der schwierigen Frage, ob sie – trotz der
Kosten einer Klage und deren ungewissen Erfolgsaus-
sichten – gerichtlich gegen ihre Bank oder ihren Finanz-
dienstleister vorgehen sollen. Auf den ersten Blick würde
ihnen eine Verlängerung der Verjährungsfrist für die
Klageeinreichung durchaus helfen, vor allem helfen,
wenn man davon ausgehen könnte, dass durch die Ent-
scheidung bereits anhängiger Klagen bzw. durch
höchstrichterliche Rechtsprechung mehr Klarheit für
die Betroffenen entsteht.

Was wären aber die Nachteile einer Verlängerung der
Verjährungsfristen?

Die Verjährungsvorschriften dienen dem Zweck,
Rechtsfrieden herbeizuführen. Unjuristisch ausgedrückt
heißt das: Irgendwann soll es dann auch einmal gut sein.
Verjährungsfristen an sich sind daher nicht zu kritisie-
ren. Zu kritisieren war aber, dass für Wertpapierge-
schäfte abweichend von anderen Rechtsgebieten eine
kurze dreijährige Sonderverjährungsfrist galt. Aufgrund
der Erfahrungen aus der Finanzkrise hat man daher im
Sommer 2009 den die Sonderverjährungsfrist begrün-
denden § 37 a WpHG abgeschafft. Für alle Fälle vor
dem Inkrafttreten des Gesetzes am 4. August 2009 sollte
aber aus Gründen der Rechtssicherheit die alte Verjäh-
rungsfrist von drei Jahren weitergelten.

In diesem Zusammenhang hat sich der Gesetzgeber
bewusst für die jetzt geltende Übergangsregelung mit

Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

dem Stichtag 4. August 2009 entschieden. Er hätte sich
damals auch anders entscheiden und alle noch nicht
verjährten Ansprüche dem allgemeinen Verjährungs-
recht unterstellen können. Dies hat er aber gerade nicht
getan. Es sollte einen klaren Schnitt geben.

Eine nachträgliche Änderung dieser Übergangsvor-
schrift ist grundsätzlich möglich, auch wenn eine Über-
gangsregelung bisher wohl kaum jemals nachträglich
noch einmal geändert worden ist. Durch jede Änderung
des Verjährungsrechts entsteht aber Unsicherheit. Es
bedarf daher gewichtiger Gründe für Änderungen.

Gegen die Annahme gewichtiger Gründe spricht,
dass nur verhältnismäßig wenige Anleger von dieser Än-
derung profitieren würden. Denn auch bei einem schnel-
len Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfes
wären wohl nur Ansprüche betroffen, die zwischen
Frühjahr 2008 und Anfang August 2009 entstanden
sind. Im Fall Lehman dürfte es sogar nur um Ansprüche
gehen, die bis September 2008 entstanden sind. Denn
nach der Eröffnung des Lehman-Brothers-Insolvenzver-
fahrens dürfte es kaum noch neue Fälle in diesem Zu-
sammenhang geben. Allen Anlegern, die bereits vor dem
Frühjahr 2008 Lehman-Zertifikate erworben haben,
hilft der Gesetzentwurf nicht mehr. Ihre Ansprüche wä-
ren, sofern sie in den letzten Jahren nichts unternommen
haben, zum Zeitpunkt eines möglichen Inkrafttretens
dieses Gesetzesvorschlags bereits verjährt.

Aber auch der Gruppe Anleger, die ab Frühjahr 2008
Lehman-Zertifikate erworben haben, hilft der Vorschlag
nur sehr begrenzt. Die Regelverjährung träte nach dem
vorliegenden Entwurf in den meisten Fällen nicht mehr
im Laufe des Jahres 2011, exakt drei Jahre nach dem
Entstehen ihres individuellen Anspruchs, sondern erst
mit Ablauf des 31. Dezember 2011 ein. Sie gewännen
also lediglich einige Monate.

Doch selbst für diese begrenzte Anzahl von Fällen
und diesen begrenzten Zeitraum könnte man ja eine Ge-
setzesänderung in Betracht ziehen, wenn die Betroffenen
dadurch etwas gewännen. Aber auch dagegen sprechen
gute Argumente:

Denn es ist nicht zu erwarten, dass sich ihre unbefrie-
digende Situation im Hinblick auf die oben ange-
sprochene Rechtsunsicherheit in diesen Monaten ent-
scheidend klärt. Zwar ist ein Verfahren vor dem BGH
anhängig. Allerdings betrifft es eine sehr spezielle
Rechtsfrage, die nur für einen Teil der Anleger relevant
ist. In den meisten Schadensersatzfällen dürfte es auf die
Frage der individuellen Anlagesituation und -beratung
ankommen. In diesen Fällen ist von anderen Verfahren
keine Klärung der Erfolgsaussichten zu erwarten. Da-
her würde es durch die vorgeschlagene Änderung der
Übergangsvorschrift auch nicht einfacher, eine indivi-
duelle Entscheidung über die Klageerhebung zu fällen.

Weiterhin ist zu beachten, dass viele Anleger diese
Entscheidung trotz unsicherer Erfolgsaussichten bereits
getroffen und Klagen eingereicht haben. Ihnen droht da-
her keine Verjährung mehr. Aber auch Anlegern, die mit
ihren Banken über mögliche Ersatzansprüche verhan-
delt haben, droht oftmals keine sofortige Verjährung.
Zu Protokoll
Denn diese Verhandlungen – auch die im Rahmen eines
Kulanzverfahrens mit Beteiligung der Verbraucherzen-
trale, eines Güteverfahrens oder Ombudsmannverfah-
rens – hemmen gegebenenfalls ebenso den Eintritt der
Verjährung. Anleger hatten und haben also vielfältige
Möglichkeiten, den Eintritt der Verjährung zu verhin-
dern, auch kostengünstiger als mit einer Klage.

Verbraucherschützer und Rechtsanwälte, die Anleger
vertreten, können bestätigen, dass die Verjährung von
Ersatzansprüchen nicht das entscheidende Problem ist.
Denn in vielen Fällen haben in irgendeiner Form Ver-
handlungen beziehungsweise Güteverfahren stattgefun-
den.

Durch die intensive Berichterstattung in den Medien
wissen viele Anleger von ihren Ansprüchen – und auch
von der Verjährungsproblematik. Schwieriger als die
Vermeidung des Verjährungseintritts ist aber die Be-
weisführung für einen schadensersatzauslösenden Bera-
tungsfehler der Bank. Dieses Problem wird vom vorlie-
genden Gesetzentwurf nicht gelöst.

Die Situation der Betroffenen würde sich daher durch
die vorgeschlagene Änderung der Übergangsvorschrift
nicht wesentlich verbessern. Für eine Neubewertung der
Übergangsregelung besteht auch deshalb kein Grund,
weil alle Umstände, die wir heute diskutieren, auch
schon im Sommer 2009 bekannt waren.

Die grundsätzliche Verlängerung der Verjährungs-
frist von drei auf maximal zehn Jahre erfolgte im Übri-
gen nicht, um dem Anleger die Gelegenheit zu geben,
länger darüber nachzudenken, ob er in das Klagerisiko
geht. Die Verlängerung erfolgte deshalb, weil Schäden
aus Falschberatung vom Anleger oftmals erst Jahre
nach dem Beratungsvorgang entdeckt werden. Daher
beginnt die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist
jetzt erst mit Kenntnis des Anlegers von allen anspruchs-
begründenden Umständen. In den Lehman-Fällen dürfte
allen Betroffenen aber zumindest seit dem Zusammen-
bruch bekannt sein, dass sie möglicherweise Ansprüche
aus Falschberatung haben.

Im Übrigen ist es schwer zu erklären, warum ein An-
leger, der im Frühjahr 2008 ein Lehman-Zertifikat er-
worben hat, anders behandelt werden sollte als ein An-
leger, der im Januar 2008 oder Herbst 2007 Zertifikate
erworben hat. Einen sachlichen Grund dafür gibt es
nicht. Dem Gesetzentwurf stehen somit gewichtige Argu-
mente entgegen.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Vorteile, die
mithilfe des Gesetzesvorschlages erreicht würden, sind
sehr begrenzt. Für wenige Anleger würde der Ablauf der
Verjährungsfrist hinausgezögert, für die meisten von ih-
nen wohl auch nur um einige Monate. Dies können Be-
troffene aber auch auf anderen Wegen kostengünstig er-
reichen. Auf der anderen Seite ist aber zu bedenken, dass
Verjährungsfristen unabhängig vom Ansehen der Par-
teien Rechtssicherheit schaffen und den Rechtsfrieden
schützen sollen. Der Gesetzgeber hat sich im Sommer
2009 bewusst dafür entschieden, die Aufhebung der Son-
derverjährung auf neue Sachverhalte zu beschränken.



gegebene Reden

Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Diese beiden Aspekte, die möglichen Vorteile für ge-
schädigte Anleger und die Nachteile aufseiten der
Rechtssicherheit, sind gegeneinander abzuwägen. Die
Richtung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen ist
nachvollziehbar. Ich denke, wir haben alle sehr großes
Verständnis für jeden einzelnen von der Lehmann-Insol-
venz betroffenen Kleinanleger. Es sprechen aber sehr
gewichtige Argumente gegen den Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen. In Abwägung der verständli-
chen Interessen der Anleger und der Argumente gegen
eine Änderung haben wir uns daher entschlossen, den
Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.

Damit aber eine derartige Häufung von Fällen von
Falschberatungen, wie wir sie mit Anlagen in Lehman-
Zertifikaten erlebt haben, nicht wieder vorkommt, haben
wir einiges für den Verbraucherschutz im Finanzbereich
getan:

So beraten wir aktuell das Anlegerschutzgesetz, das
wir in der nächsten Sitzungswoche verabschieden wol-
len. Ganz ausschließen können wir Beratungsfehler
auch durch dieses Gesetz nicht; das können wir nie.
Aber wir sind auf einem guten Weg, Strukturen zu schaf-
fen, die eine bessere Beratungsqualität ermöglichen.

Das hilft den Lehman-Altanlegern aber nicht weiter.
Ich weiß, dass sich gerade einige dieser Anleger erhofft
haben, dass durch den Antrag der Grünen die Verjäh-
rungsfrist verlängert wird. Es ist bedauerlich, dass wir
diese Erwartung nicht erfüllen können. Ich denke aber,
die Argumente gegen eine Änderung überwiegen, wie
ausführlich ausgeführt, eindeutig.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1708731200

Im Jahr 2009, in den Hochzeiten der Finanz- und

Wirtschaftskrise, hat die Große Koalition das soge-
nannte Schuldverschreibungsgesetz auf den Weg ge-
bracht, das eine ganze Reihe von Verbesserungen für die
Anlegerinnen und Anleger zum Inhalt hatte. So wurde
damals unter anderem die Protokollpflicht bei der Anla-
geberatung eingeführt und damit einhergehend auch Be-
weiserleichterungen für die Anlegerinnen und Anleger,
sollten sie falsch beraten worden sein. Außerdem hat die
SPD damals gegen den Widerstand der Union das Son-
derverjährungsrecht für die Banken bei Falschberatung
abgeschafft. Jetzt haben potenzielle Geschädigte bis zu
zehn Jahre Zeit, ihre Ansprüche durchzusetzen. Davor
waren es maximal drei Jahre. In der Gesetzesbegrün-
dung hieß es damals:

… teilweise kann ein Anleger erst nach Jahren er-
kennen, dass er nicht richtig beraten wurde. Es ist
deshalb sachgerecht, für den Beginn der dreijähri-
gen Verjährung an die Kenntnis des Anlegers anzu-
knüpfen.

Das gilt noch heute.

Von dieser Regelung profitieren schon heute viele An-
legerinnen und Anleger und werden das auch in Zukunft
tun. Die Große Koalition hat damit eine Menge ge-
schafft. Das sehen offenbar auch die Grünen so, die in
einem Punkt das umfassende Gesetzesvorhaben aus dem
Jahr 2009 behutsam weiterentwickeln wollen: Bisher
Zu Protokoll
profitieren nur die Anlegerinnen und Anleger von der
verlängerten Verjährungsfrist, die nach dem 5. August
2009 falsch beraten wurden. Der vorliegende Gesetzent-
wurf will die Verjährungsvorschrift noch weiter ausdeh-
nen und auch Fälle erfassen, in denen der Wertpapier-
kauf ab 1. Januar 2008 stattfand. Gerade die viel
zitierten Lehman-Zertifikate wurden in den Jahren 2007
und 2008 verkauft. Wenn Sie sich jetzt nicht mit einer
Klage beeilen, sind die Ansprüche verjährt und nicht
mehr einklagbar.

Wie lief denn damals die Beratung? Da kamen – so ist
der Bankjargon – die „A&D-Kunden“, die „Alt-und-
dumm-Kunden“, in die Bank und wollten ihre Erspar-
nisse für die Altersvorsorge anlegen. Und der Berater
hatte einen schicken Hochglanzprospekt von der
Lehman-Bank. Die ging pleite und die Altersvorsorge
war futsch. Das sind Geschäftsgebaren, die unverant-
wortlich sind. Dem wollen wir entgegentreten.

Jetzt sagen manche, die Pleite von Lehman hat ja nie-
mand vorhersehen können. Das stimmt. Aber wenn in
Deutschland eine Bank pleitegeht, dann greift die Einlagen-
sicherung, die für jeden Kunden mindestens 50 000 Euro
absichert, seit diesem Jahr sogar 100 000 Euro. Aber
eine solche notwendige Einlagensicherung gab es für
die Lehman-Bank nicht. Das stand natürlich nicht in
dem glänzenden Prospekt, nicht einmal im Kleinge-
druckten. Das hat kein Bankberater den Kunden gesagt.
Das war schlicht Fehlberatung der Banken.

Von den Koalitionsfraktionen wird jetzt kommen: Die
Opfer hätten doch in den letzten Monaten schon längst
klagen könnten. Längere Fristen braucht es nicht. – Das
zeigt wieder einmal: Die Koalitionsfraktionen haben
das Problem nicht verstanden. Eine Klage gegen eine
Bank muss gut vorbereitet sein, die Beweislage ist
schwierig, ganz zu schweigen von den drohenden Kos-
ten. So eine Entscheidung und Vorbereitung braucht
Zeit, die wir den Menschen geben müssen, die um ihre
gesamten Ersparnisse bangen.

Die Koalition hat in der Plenardebatte und im Aus-
schuss auch immer wieder das Argument der Rechtssi-
cherheit vor sich hergetragen. Doch das Argument ist
wirklich schief: Rechtssicherheit ist das Argument für
jede Verjährungsvorschrift, gleich welcher Dauer. Und
wenn man sich die Genese der Sonderverjährungsvor-
schriften im Bankenbereich einmal genauer anschaut,
dann hat das auch nicht viel mit Rechtssicherheit zu tun:
Für die § 34 b Abs. 4 und § 34 c Abs. 4 Wertpapierhan-
delsgesetz wurde mit dem Vierten Finanzmarktförde-
rungsgesetz die absolute Verjährung von drei Jahren
eingeführt, für § 46 Börsengesetz, § 13 Abs. 5 Verkaufs-
prospektgesetz und § 127 Abs. 5 Investmentgesetz wur-
den die Verjährungsfristen dagegen von sechs Monaten
auf ein Jahr verlängert. Die Sonderverjährung des § 37 d
Abs. 4 Wertpapierhandelsgesetz wurde wiederum 2007
abgeschafft. Für § 37 a Wertpapierhandelsgesetz hat
das die SPD, wie schon erwähnt, gegen den Widerstand
der Union in der Großen Koalition dann 2009 gemacht.
Das ist mittlerweile auch mehr als unübersichtlich und
trägt sicher nicht unbedingt zum Rechtsfrieden bei – ge-
rade wenn man erst nach Jahren merkt, dass man falsch



gegebene Reden

Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

beraten wurde. Deshalb fordert die SPD: Weg mit allen
Sonderverjährungsvorschriften für die Banken und An-
passung an die normalen Verjährungsfristen des bürger-
lichen Rechts.

Was in diesem Zusammenhang auch immer wieder
gesagt wird: Rückwirkende Verlängerungen von Verjäh-
rungsvorschriften gehen rechtlich nicht. – Das ist nun
wirklich juristischer Unfug. Auf diesem Niveau müssen
wir nicht diskutieren.

Ursprünglich hatte das Finanzministerium im aktuel-
len Anlegerschutzgesetz immerhin die Streichung der
Sonderverjährung bei falschem Börsenprospekt vorge-
sehen. Die ist sang- und klanglos wieder aus dem Gesetz
herausgeflogen – wie die ganze Regulierung des grauen
Kapitalmarkts, die jetzt auf Druck der betroffenen Lobby
und des Wirtschaftsministeriums den Gewerbeämtern
überlassen werden soll.

Das hat wenig mit umfassendem Anlegerschutz zu
tun. Deshalb setzt sich die SPD hier für ein Gesamtkon-
zept ein, das alle Produkte und Vertriebswege umfasst
und geeignet ist, die Transparenz, Verständlichkeit und
Sicherheit für die Anleger zu erhöhen. Das hierzu not-
wendige Maßnahmenpaket, das wir „Finanz-TÜV“ nen-
nen, bezieht mit den Finanzvermittlern und -beratern,
den Instituten, der Finanzaufsicht und den Verbraucher-
organisationen alle Akteure ein und stellt auf ihre spezi-
fische Rolle bei der Vermögensanlage der Privatanleger
ab.

Die von den Grünen mit diesem Gesetzentwurf vorge-
schlagene behutsame Weiterentwicklung des Gesetzes
der Großen Koalition ist auf diesem Weg ein richtiger
Schritt. Deshalb stimmen wir der Vorlage zu.


Holger Krestel (FDP):
Rede ID: ID1708731300

Die Übergangsvorschrift im § 43 des Wertpapierhan-

delsgesetzes ist eine breite Lösung, die kleine und pri-
vate Sparer und Anleger vor den Folgen von Fehlbera-
tung auf weiter Ebene schützt, indem die regelmäßige
Verjährungsfrist aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur
Basis genommen wird. Die Änderungswünsche der grü-
nen Fraktion, die noch weitere Einzelfallgerechtigkeit
herstellen möchte, sind zwar sicherlich gut gemeint, wir-
ken in diesem Fall aber leider kontraproduktiv.

Es können durchaus viele weitere Szenarien existie-
ren, welche von der Übergangsregelung nicht im Detail
abgedeckt werden. Wenn man nun diesen ersten Schritt
geht und dann beginnt, für alle weiteren Einzelfälle Son-
derregelungen zu finden, so entsteht zum einen eine
bürokratische Zumutung, deren Verwaltung wohl mehr
Kosten verursacht, als sie Nutzen bringt. Zum anderen
treffen die vom Finanzminister geäußerten Bedenken zu,
dass ein rückwirkender Eingriff in den Anlegerschutz
nur noch weiter das Vertrauen der Anleger in eine sta-
bile Situation untergräbt und damit womöglich viel
Schaden für einen verhältnismäßig kleinen, da selten
auftretenden Nutzen und politische Profilierung in Kauf
genommen wird.

Die für jeden Bürger bestehende Rechtsweggarantie
mag wie hier für Einzelne auch mal etwas ungünstigere
Zu Protokoll
Rechtswege bereithalten; diese Wege stehen ihnen
gleichwohl offen. Wenn es, wie von den Grünen in der
ersten Beratung vorgetragen, an den nötigen Mitteln für
einen Rechtsstreit fehlt, blieb es ihnen unbenommen, in
der dreijährigen Verjährungsfrist einen Zusammen-
schluss zu bilden und einen Musterprozess zu führen.
Einfach nur abzuwarten, dass andere die juristischen
Kastanien aus dem Feuer holen, war vielleicht doch et-
was überschlau; und das kann dann auch einmal schief-
gehen. Wir werden den Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen daher ablehnen.


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708731400

Bei dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen

geht es um die Verjährungsfrist bei Falschberatung.
Dies ist ein berechtigtes Anliegen bei der Verbesserung
des Anlegerschutzes. Denn in der Tat steht die Bundesre-
gierung hier nach wie vor in der Bringschuld. Das, was
sie bislang in Sachen Anlegerschutz auf den Weg ge-
bracht hat, ist völlig unzureichend. Lehren aus Falsch-
beratungen etwa bei Lehman-Zertifikaten wurden nicht
gezogen, dem milliardenschweren Verlust vieler privater
Kleinanlegerinnen und Kleinanleger zum Trotze. Hier
setzt die Initiative von Bündnis 90/Die Grünen an: Sie
schafft auf kurze Sicht mehr Rechtssicherheit für die
hiervon betroffenen Anleger entgegen der bisherigen
(Übergangs-)Regelung, welche die Anlagebanken be-
günstigt. Dieser Schritt geht zweifelsohne in die richtige
Richtung. Doch reicht er auch aus, um Anlegern bei
Produkten mit längeren Laufzeiten angemessene Sicher-
heit zu bieten?

Zunächst einmal muss man sich Folgendes zur gegen-
wärtigen Rechtslage vor Augen führen: Nach der letzten
einschlägigen Gesetzesänderung verjähren Schadenser-
satzansprüche nicht mehr drei Jahre nach Erwerb eines
Wertpapiers, sondern drei Jahre, nachdem der bzw. die
Geschädigte von der Schädigung Kenntnis erlangt hat.
Spätestens aber endet die Frist nach zehn Jahren ab dem
schadensbegründenden Ereignis – der Falschberatung
bzw. dem anschließenden Erwerb. Diese zweifellos bes-
sere Rechtslage kommt aber nur für solche Fälle zur An-
wendung, in denen die Falschberatung nach dem 4. Au-
gust 2009 stattgefunden hat. Für all diejenigen Anleger,
bei denen die Falschberatung bis zu diesem Datum ge-
schah, gilt weiter die alte Rechtslage.

Vonseiten der Koalitionsfraktionen war in der De-
batte über den Gesetzentwurf mit der rechtlichen Unver-
einbarkeit einer Rückwirkung argumentiert worden, ge-
mäß dem Motto: Wir würden ja, wenn wir könnten.
– Doch dass Sie tatsächlich wollen, nehmen wir Ihnen
nicht ab – das geäußerte Verständnis mit der Gruppe der
Lehman-Geschädigten in allen Ehren. Denn rechtlich
gesehen dürften sich überhaupt keine Bedenken stellen:
Es soll nämlich nicht die Rechtslage für gegenwärtig be-
reits abgeschlossene Sachverhalte verändert werden,
also nach der bisherigen Rechtslage endgültig verjährte
Ansprüche. Nein, die Regelung soll nur für solche An-
sprüche gelten, bei denen die Verjährungsfrist noch
läuft, wegen noch nicht eingetretenem Schadensereignis
oder aus Unkenntnis der Betroffenen von ihrer eigenen
Schädigung, die aber demnächst verjähren könnte.



gegebene Reden

Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)

Ein solches Herumreden um den heißen Brei benach-
teiligt eine ganze Reihe von Kleinanlegern, die damit um
die Möglichkeit gebracht werden, einen Anspruch we-
gen Falschberatung geltend zu machen. Doch darf aus
unserer Sicht gerade beim Anlegerschutz nicht in zu kur-
zen Fristen gedacht werden. Zu bedenken ist, dass im
Zuge der privaten Altersvorsorge viele Menschen dazu
übergehen, auch Papiere mit einer viel längeren Lauf-
zeit als zehn Jahre zu erwerben. Die „Stiftung Waren-
test“ hat 2010 errechnet, dass Bundesbürgern jährlich
Schäden von insgesamt 700 Millionen Euro durch
Riester-Verträge mit zu hohen Dispozinsen und Abgabe-
gebühren entstehen. Stellen Sie sich vor, Sie bemerken
eine derartig hohe Schädigung erst nach Ablauf dieser
Zeitspanne von zehn Jahren. Der Gesetzentwurf nützt
Ihnen dann gar nichts. Aus diesem Grund haben wir in
unserem Antrag vom März 2010 gefordert, dass die Ver-
jährungsfrist bei Falschberatung und fehlerhafter Infor-
mation auf 30 Jahre ab Kaufdatum des Finanzprodukts
zu erhöhen ist.

Verbraucherinnen und Verbrauchern muss ein fairer
Umgang garantiert werden, auf den sie gegenwärtig als
Anlegerinnen und Anleger nachweislich nicht vertrauen
können. Hierzu gehören lange Fristen, um Falschbera-
tung und Ansprüche auf Schadensersatz geltend machen
zu können. Auch sind längere Fristen aus Verbraucher-
sicht noch am ehesten dazu geeignet, das Dilemma einer
angemessenen Anlegerberatung zu lösen. Dieses Di-
lemma besteht einerseits darin, dass für den Kleinanle-
ger zu viele Informationen nicht mehr zu bewältigen
sind. Und andererseits verweisen übersichtliche Infor-
mationen dann vielleicht doch nicht auf die entscheiden-
den Risiken.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708731500

Ich möchte heute erneut dafür werben, unserem Ge-

setzentwurf zuzustimmen und damit einen Fehler zu kor-
rigieren, welcher der Großen Koalition im Rahmen der
Novellierung des Schuldverschreibungsrechts unterlief.

Damals wurde die kurze Sonderverjährungsfrist des
§ 37 a Wertpapierhandelsgesetz gestrichen. Das war zu
begrüßen, da Sonderverjährungsfristen im Kapital-
marktrecht vor allem im Hinblick auf das mit dem
Schuldrechtsmodernisierungsgesetz verfolgte Ziel der
Vereinheitlichung aller zivilrechtlichen Verjährungsfris-
ten keine Rechtfertigung haben. Vor allem das immer
wieder ins Feld geführte Argument der Schnelllebigkeit
des Geschäftsverkehrs als besondere Gegebenheit des
Wertpapierbereichs sprach seit jeher eher für eine Ver-
längerung als für eine Herabsetzung der Verjährungs-
fristen.

Ganz konkret war die Aufhebung der kurzen Sonder-
verjährungsfrist von § 37 a Wertpapierhandelsgesetz
aber deshalb erfreulich, weil Schadensersatzansprüche
wegen schuldhafter Verletzung von Beratungspflichten
fortan nicht länger bereits drei Jahre nach Erwerb des
Wertpapiers, sprich regelmäßig dem Zeitpunkt der
Falschberatung, verjährten, sondern die Dreijahresfrist
erst dann zu laufen begann, wenn die Anlegerin oder der
Anleger von dem schadensbegründenden Ereignis er-
Zu Protokoll
fuhren. Unabhängig von der Kenntnis bzw. grob fahrläs-
sigen Unkenntnis der fehlerhaften Beratung verjähren
die Ansprüche seitdem spätestens in zehn Jahren. Damit
eröffnete man Verbraucherinnen und Verbrauchern eine
faire Chance, Schadensersatzansprüche zu erkennen
und durchzusetzen. Bis dato waren die Auswirkungen ei-
ner Fehlberatung – infolge der Langfristigkeit einer
Finanzanlage – oftmals erst nach Ablauf der alten an
objektive Umstände anknüpfenden Verjährungsfrist zu
erkennen.

Ein gesetzgeberischer Fehler war es jedoch, die neue,
günstigere Verjährungsfrist lediglich für jene Anlagebe-
ratungen einzuführen, die ab dem 5. August 2009 statt-
fanden. Denn damit kann all jenen, die vor diesem Stich-
tag falsch beraten wurden, nach wie vor seitens der
Bank die kurze Sonderverjährung entgegengehalten
werden. Das heißt, dass vor allem die Verbraucherinnen
und Verbraucher, die am meisten unter den Folgen der
Finanzkrise zu leiden haben, nach wie vor einem drasti-
schen zeitlichen Druck für die Durchsetzung ihrer Scha-
densersatzansprüche ausgesetzt sind.

Revidieren kann man diesen gesetzgeberischen Feh-
ler, indem die Verjährungsfrist für – jedenfalls heute
noch nicht verjährte – Schadensersatzansprüche aus
Falschberatung, die vor dem 5. August 2009 entstanden
sind, rückwirkend verlängert wird. Diese Korrektur be-
darf keines großen Aufwandes und ist verfassungsrecht-
lich keinen Bedenken ausgesetzt. Sie würde jedoch Tau-
senden von Anlegern helfen, zu ihrem Recht zu kommen.
Denn wenn die hier in Rede stehende Änderung zum
1. Februar 2011 in Kraft treten würde, käme die günsti-
gere kenntnisabhängige Verjährung immerhin all jenen
Ansprüchen zugute, die zwischen dem 1. Februar 2008
und dem 4. August 2009 entstanden sind.

Nun wird seitens der Koalitionsfraktionen eingewen-
det, dass Verbraucherinnen und Verbraucher, die inner-
halb von drei Jahren nicht ihr Recht wahrgenommen ha-
ben, mögliche Falschberatungen im Wege einer Klage
überprüfen zu lassen, auch infolge einer Verjährungs-
verlängerung nicht klagen würden. Dem ist insofern
zuzustimmen, als dass man Verbraucherinnen und Ver-
braucher tatsächlich nicht zwingen kann, ihr Recht ein-
zufordern. Allerdings ist es Aufgabe des Parlaments, den
Ordnungsrahmen dafür zu setzen, dass die Anlegerinnen
und Anleger Beratungssituationen überhaupt gericht-
lich überprüfen können.

Zudem gibt es Gründe, warum geschädigte Anlege-
rinnen und Anleger zunächst davon absehen, ihre Scha-
densersatzansprüche im Wege der Klageeinreichung
oder der Einleitung eines förmlichen Güteverfahrens zu
verfolgen. Für sie ist es infolge der hohen finanziellen
Verluste, die sich gerade aus den Falschberatungen er-
geben, oftmals ein extrem hohes Risiko, die Prozesskos-
ten aufzubringen. Deshalb verzichten sie auf die Gel-
tendmachung ihrer Ansprüche trotz des zeitlichen
Drucks und warten höchstrichterliche Entscheidungen
ab, um beurteilen zu können, ob die Chancen auf eine
erfolgreiche Schadensersatzklage das Risiko der Pro-
zesskosten überwiegen. Das ist auch sehr verständlich
und aus den individuellen Umständen nachvollziehbar.



gegebene Reden





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Und ein Blick auf die Rechtsprechung zeigt, dass es
hinsichtlich der Feststellung von Pflichtverletzungen
durch Banken im Rahmen von Anlageberatungen zu den
Lehman-Zertifikaten keinerlei Tendenz gibt. Gegenteilig
spitzt sich die Rechtsunsicherheit derart zu, dass teil-
weise einzelne Kammern innerhalb eines Gerichtes un-
terschiedliche Rechtsauffassungen vertreten. Fraglich
ist beispielsweise nach wie vor, inwieweit die soge-
nannte Kick-Back-Rechtsprechung bzw. die hinter dieser
Rechtsprechung stehenden Gedanken auf die Lehman-
Verfahren und das Verschweigen von Gewinnmargen
Anwendung finden. Immerhin ist bezüglich dieser Frage
nunmehr die Revision zum Bundesgerichtshof zugelas-
sen, der wohl im Frühsommer dieses Jahres entscheiden
wird.

Darüber hinaus wird seitens des Bundesfinanz- und
Bundesjustizministeriums argumentiert, mit einer rück-
wirkenden Verlängerung der Verjährungsfristen gehe
stets eine Störung des Rechtsfriedens einher. Zwar mag
es stimmen, dass jede Änderung des Verjährungsrechts
Unsicherheiten in der Rechtsanwendung mit sich bringt.

gerung der Verjährungsfrist noch nicht verjährter An-
sprüche keinerlei rechtlichen Bedenken ausgesetzt wäre.

Insofern stellt sich die Frage, wie man diesem Gesetz-
entwurf überhaupt ablehnend gegenüberstehen kann.
Wer diesem Gesetzentwurf nicht folgt, kann es mit dem
Anlegerschutz nicht ernst meinen. Ein trauriges Zeugnis
wäre das vor allem für eine Koalition, die sich – dem
Koalitionsvertrag nach – dem Anlegerschutz verpflich-
tet fühlt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708731600

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzaus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4507, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4053 abzu-
lehnen.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung abgelehnt. Für den Gesetzentwurf
Letztlich vermag der Einwand jedoch nicht zu überzeu-
gen. Denn es ist gleichfalls ein wichtiger Bestandteil des
Rechtsfriedens, jenen die Möglichkeit auf rechtliches
Gehör einzuräumen, die so zahlreich Opfer von Falsch-
beratung wurden. Rechtsfrieden verlangt immer einen
Blick auf beide Seiten möglicher rechtlicher Auseinan-
dersetzungen.

In der Gesamtschau zeigt sich zum Ersten ein offen-
kundiger Befund, nämlich, dass im Rahmen einer Geset-
zesänderung etwas übersehen wurde. So etwas sollte
man als Gesetzgeber doch eingestehen können und eine
Korrektur ermöglichen.

Zum Zweiten besteht eine gegenwärtige Notwendig-
keit, diesen Fehler zu korrigieren.

Und darüber hinaus – drittens – liegt uns die juristi-
sche Einschätzung vor, dass eine rückwirkende Verlän-
gestimmt haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die SPD-Fraktion. Abgelehnt haben den Gesetzent-
wurf die Koalitionsfraktionen. Die Fraktion Die Linke
hat sich enthalten. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.

Damit sind wir auch schon am Schluss unserer heuti-
gen Tagesordnung.


(Zurufe: Schade!)


– Ich sehe, Sie bedauern das. Ich wünsche Ihnen trotz-
dem einen schönen Abend.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 28. Januar 2011, um
9 Uhr, ein.

Ich schließe die Sitzung.