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    1. tocInhaltsverzeichnis
      Plenarprotokoll 17/51 Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5282 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . . Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: 5253 A 5253 D 5255 B 5257 A 5258 D 5259 D 5261 C 5263 D 5265 D 5267 D 5285 A 5285 B 5287 A 5287 D 5290 C 5292 B 5292 D 5293 C 5295 A Deutscher B Stenografisc 51. Sit Berlin, Donnerstag I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Rainer Arnold und Rainer Brüderle . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 1 . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 1: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technolo- gie: Aufschwung für Deutschland . . . . . . . . Rainer Brüderle, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5247 A 5247 B 5247 B 5247 D 5248 A 5248 A 5251 C Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5269 B 5270 D 5272 C undestag her Bericht zung , den 1. Juli 2010 l t : Tagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Alexander Bonde, Priska Hinz (Herborn), Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haushalt zukunftsfest machen – Nachhaltig sanie- ren – Ökologisch und sozial investieren (Drucksache 17/2327) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5274 A 5274 B 5275 C 5277 C 5278 A 5280 B a) Erste Beratung des von der Bundesregi rung eingebrachten Entwurfs eines Gese zes zu dem Änderungsprotokoll vo e- t- m II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 21. Januar 2010 zum Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und dem König- reich Belgien zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazugehörigen Schluss- protokolls in der Fassung des Zusatzab- kommens vom 5. November 2002 (Drucksache 17/2255) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Arabischen Republik Syrien zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und Verhinderung der Steu- erverkürzung auf dem Gebiet der Steu- ern vom Einkommen (Drucksache 17/2251) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundes- republik Deutschland und Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerver- kürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksache 17/2252) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zum Abkommen vom 25. Januar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulga- rien zur Vermeidung der Doppelbesteu- erung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom- men und vom Vermögen (Drucksache 17/2253) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 30. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Kö- nigreich Großbritannien und Nord- irland zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Ver- mögen (Drucksache 17/2254) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Michael Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, 5296 B 5296 C 5296 C 5296 D 5296 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen (Drucksache 17/2331) . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtun- gen: Versorgung weltweit verbessern (Drucksache 17/2332) . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Arbeits- marktpolitik erfolgreich umsetzen und ausbauen (Drucksache 17/2321) . . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unabhängige Patientenbera- tung in Regelangebot überführen (Drucksache 17/2322) . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung von Wildtieren im Zirkus grundsätzlich verbieten (Drucksache 17/2146) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Deut- schen Bundestag bei der Reform der Umsatzsteuer beteiligen (Drucksache 17/2333) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ muss dauer- haft geschützt werden (Drucksache 17/1580) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schaffung eines Naturwalderbes vorbe- reiten und Moratorium für die Privati- 5296 D 5297 A 5297 A 5297 B 5297 B 5297 C 5297 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 III sierung von Bundeswäldern erlassen (Drucksachen 17/796, 17/1823) . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hofabgabe als Vorausset- zung für den Bezug einer Altersrente für Landwirte abschaffen (Drucksachen 17/1203, 17/2266) . . . . . . . c)–n) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114 und 115 zu Petitionen (Drucksachen 17/2151, 17/2152, 17/2153, 17/2154, 17/2155, 17/2156, 17/2157, 17/2158, 17/2159, 17/2160, 17/2161, 17/2162) . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Befragung der Bundesregierung: Gesetzent- wurf zur Neuordnung des Arzneimittel- marktes in der gesetzlichen Krankenver- sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5297 D 5298 B 5298 B 5299 B 5299 C 5300 B 5300 C 5301 B 5301 B 5301 C 5301 D 5302 A 5302 B 5302 D 5303 A 5303 C 5303 C 5303 D 5304 A Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Fragestunde (Drucksachen 17/2285, 17/2323) . . . . . . . . . . Dringliche Frage 1 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Datenübermittlung des BKA an die pakis- tanische Polizei im Fall des deutschen Staatsbürgers Rami M. Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzfragen Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliche Frage 1 Dr. Bärbel Kofler (SPD) Durch Mittel der Fast-Start-Initiative im Bereich des internationalen Klimaschutzes vom BMU finanzierte Projekte Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzfragen Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Mündliche Frage 2 Dr. Bärbel Kofler (SPD) Auswirkungen des Marktanreizpro- gramms auf Investitionen und Steuerein- 5304 B 5304 D 5305 B 5305 B 5305 C 5305 D 5306 A 5306 B 5306 C 5306 C 5306 D 5307 C 5308 A 5308 B 5308 D 5309 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 nahmen als Beitrag für einen wirtschaft- lichen Aufschwung; Fortsetzung von Marktanreizprogramm und internationa- ler Klimaschutzinitiative im Jahr 2011 Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzfragen Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliche Frage 6 Dr. Matthias Miersch (SPD) Beurteilung der im Rahmen der Verhand- lungen über die Novelle der IVU-Richtlinie vereinbarten Übergangsfrist für die Um- rüstung oder Abschaltung veralteter Kraftwerke und Großfeuerungsanlagen Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliche Frage 7 Dr. Matthias Miersch (SPD) Auswirkungen des seit fast 20 Jahren aus einem explodierten Bohrloch der Exxon Mobil in der Nordsee ausströmenden Me- thangases auf Umwelt und Klima Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzfragen Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliche Frage 12 Oliver Kaczmarek (SPD) Stand der Erarbeitung der Grundwasser- verordnung und Beteiligung des Deutschen Bundestages Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzfragen Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5310 B 5310 C 5311 A 5311 D 5312 A 5312 C 5312 C 5313 A 5313 C 5314 A 5314 B 5314 D Mündliche Frage 13 René Röspel (SPD) Beitrag der Grünen Gentechnik zur Welt- ernährung nach Ansicht der Bundesminis- terin Dr. Annette Schavan Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliche Frage 14 Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Umstrukturierung der medizinischen For- schung und Lehre in Schleswig-Holstein Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzfrage Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichtsverfas- sungsgesetzes (Drucksachen 17/1462, 17/2350) . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Keine Patente auf Pflanzen und Tiere (Drucksache 17/2016) . . . . . . . . . . . . . . . 5315 C 5315 D 5316 A 5316 B 5316 D 5317 A 5317 B 5317 D 5318 A 5319 A 5320 D 5322 D 5323 D 5324 D 5325 D 5326 A 5327 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 V b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Patentie- rung von Pflanzen, Tieren und biologi- schen Züchtungsverfahren stoppen (Drucksache 17/2141) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundes- tag; Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2009 (Drucksache 17/2100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kersten Steinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Abgeordneten Roland Claus, Jörn Wunderlich, Dr. Dietmar Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes (Drucksache 17/2150) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5327 C 5327 D 5328 D 5330 B 5330 D 5331 C 5332 A 5333 A 5333 B 5333 B 5334 D 5336 A 5337 A 5337 B 5339 A 5340 D 5342 A 5343 C 5344 D 5346 A 5346 D 5348 D 5349 D 5350 D 5351 A Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent- wicklung: Stellungnahme des Parlamenta- rischen Beirats für nachhaltige Entwick- lung – Peer Review der deutschen Nachhaltigkeitspolitik (Drucksachen 17/1657, 17/2061 Nr. 1.1, 17/2314) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Raab (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Für eine soziale Revision der Entsenderichtlinie (Drucksache 17/1770) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuer- gesetzes 2010 (JStG 2010) (Drucksache 17/2249) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5351 D 5354 A 5355 A 5356 A 5357 A 5357 B 5358 B 5359 D 5360 D 5361 C 5362 B 5363 B 5364 C 5364 D 5366 B 5367 B 5368 A 5369 B 5370 B 5371 A 5371 C 5372 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Manfred Zöllmer, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gesamtkonzept zur Stärkung des Verbraucherschutzes bei Finanzdienstleis- tungen vorlegen (Drucksache 17/2136) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Axel Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Brücken bauen – Grundlagenforschung durch Validie- rungsförderung der Wirtschaft nahe- bringen – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Innova- tionslücke schließen – Zügig ein tragfä- higes Konzept zur Stärkung der Innovations- und Validierungsfor- schung vorlegen (Drucksachen 17/1757, 17/1958, 17/2368) . . Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine 5372 D 5373 A 5374 B 5374 D 5376 A 5377 A 5378 C 5379 D 5381 A 5381 D 5382 B 5383 C 5385 A 5386 A Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: UN-geführte Un- tersuchung des israelischen Angriffs auf den Gaza-Hilfstransport – Sofortige Aufhebung der Blockade (Drucksache 17/2259) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklä- ren – Lage der Menschen in Gaza ver- bessern – Nahost-Friedensprozess un- terstützen (Drucksache 17/2328) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartner- schaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts (Drucksache 17/1429) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Katja Dörner, Ekin Deligöz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die revi- dierte Fassung des Europäischen Über- einkommens über die Adoption von Kindern unterzeichnen (Drucksache 17/2329) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Petra Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Illegalen Holzeinschlag und Holzhandel durch eine durchgreifende EU-Verordnung wirksam verhindern (Drucksachen 17/1962, 17/2315) . . . . . . . . . . Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5387 C 5387 C 5387 D 5388 C 5390 A 5391 C 5392 D 5394 A 5395 B 5395 C 5395 D 5396 A 5397 A 5398 A 5398 D 5399 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 VII Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz (Herborn), Dr. Petra Sitte, Kerstin Andreae und weiterer Abgeordneter: Einrich- tung eines Parlamentarischen Beirats zu Fragen der Ethik (Ethikbeirat) (Drucksache 17/1806) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Monika Lazar, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Unterstützung für Alleinerziehende verbessern (Drucksache 17/2330) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Steinkohlesubventionen jetzt überprüfen (Drucksache 17/2142) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Paul K. Friedhoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5400 B 5400 C 5401 D 5402 C 5404 A 5404 C 5405 B 5406 B 5406 B 5407 C 5409 B 5410 D 5411 D 5412 C 5413 C 5413 C 5415 B 5416 B 5416 D 5417 B 5418 C 5418 B Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Auswärtigen Aus- schusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Ope- ration in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsra- tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und Folgeresolutionen (49. Sitzung, Tages- ordnungspunkt 9 b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Mündliche Frage 3 Gerd Bollmann (SPD) Zeitplan für die Umsetzung der Abfallrah- menrichtlinie der EU in nationales Recht Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Mündliche Frage 4 Dr. Hermann Scheer (SPD) Regionale Wertschöpfung und Akzeptanz von Windenergieanlagen bei Kommunen nach Einführung des besonderen Gewerbe- steuersplittings und Bedeutung für den weiteren Ausbau der Onshore-Wind- energie Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Mündliche Frage 5 Dr. Hermann Scheer (SPD) Anreize für Gemeinden zur Ausweisung von Flächen zur Windenergienutzung in § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergeset- zes auch nach der möglichen Abschaffung der Gewerbesteuer Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5419 A 5419 B 5419 C 5419 D 5420 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Anlage 6 Mündliche Frage 8 Ute Vogt (SPD) Beurteilung der Forschungsergebnisse zu den Stickstoffoxidemissionen von Euro-5- LKWs Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Mündliche Frage 9 Frank Schwabe (SPD) Kenntnisse der Bundesregierung über eine Studie aus dem Jahr 2005 zur Klimarele- vanz von Dieselruß Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Mündliche Frage 10 Frank Schwabe (SPD) Konkretes Minderungsziel für Dieselruß als Bestandteil der nationalen Klima- schutzpolitik Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Mündliche Frage 11 Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verpackung abgebrannter Brennstäbe des Forschungsschiffes „Otto Hahn“ auf dem Gelände des Atomkraftwerks Krümmel; Bevorzugung kurzer Transportwege für radioaktive Stoffe Antwort Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Mündliche Frage 15 Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Befassung des Wissenschaftsrats mit dem laut Presseinformationen geplanten Wech- 5420 B 5420 C 5420 D 5421 A sel des Forschungszentrums Borstel von der Leibniz-Gemeinschaft in die Helm- holtz-Gemeinschaft Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Mündliche Frage 16 Sönke Rix (SPD) Beabsichtigte Schließung der Wirtschafts- studiengänge in Flensburg und der Medizi- nischen Fakultät in Lübeck Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Mündliche Frage 17 Sönke Rix (SPD) Maßnahmen zur Sicherung der Hochschul- standorte Lübeck und Flensburg Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Mündliche Frage 18 Dagmar Ziegler (SPD) Gespräche zwischen der Bundesministerin für Bildung und Forschung und dem Mi- nisterpräsidenten von Schleswig-Holstein über die Rücknahme der eingeführten Mehrwertsteuersubvention für Hoteliers Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Mündliche Frage 19 Dagmar Ziegler (SPD) Gespräche zwischen dem Bund und dem Land Schleswig-Holstein über eine Abwen- dung der drohenden Schließung von Spit- zenuniversitäten wie der Universität Lü- beck Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5421 B 5421 B 5421 C 5421 D 5421 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 IX Anlage 15 Mündliche Frage 20 Florian Pronold (SPD) Konsequenzen aus dem zunehmenden Rückzug der Länder aus mit dem Bund vereinbarten Programmen im Bereich Bil- dung und Forschung Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 16 Mündliche Frage 21 Florian Pronold (SPD) Einschätzung der Hochschulrektorenkon- ferenz zur Schließung des Medizinstudien- gangs an der Universität Lübeck und Schlussfolgerungen der Bundesregierung Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 17 Mündliche Fragen 22 und 23 Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Vereinbarkeit der Schließung der Hoch- schulen in Flensburg und Lübeck mit der Einrichtung von 275 000 neuen Stu- dienplätzen bis 2015 im Rahmen des Hochschulpakts; Verhinderung weiterer Kürzungen im Bildungs- und Wissen- schaftsbereich auf Länderebene Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 18 Mündliche Frage 24 Michael Gerdes (SPD) Hochschulpolitische Situation in Schles- wig-Holstein und Pläne zur Einrichtung ei- ner Bildungsrepublik Deutschland Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 19 Mündliche Frage 25 Michael Gerdes (SPD) 5422 A 5422 B 5422 C 5423 A Erhalt der Universität Lübeck nach dem Modell des Karlsruher Instituts für Tech- nologie Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 20 Mündliche Fragen 26 und 27 Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Schließung der Medizinischen Fakultät der Universität zu Lübeck vor dem Hinter- grund des drohenden Ärztemangels; Fi- nanzierung wissenschaftlicher Exzellenz durch die Länder Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 21 Mündliche Fragen 28 und 29 Swen Schulz (Spandau) (SPD) Reduzierung von Staatsaufgaben zulasten von Bildung und Wissenschaft; wirksames Verhindern eines Gegeneinanderausspie- lens von Hochschulstandorten Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 22 Mündliche Fragen 30 und 31 Willi Brase (SPD) Modelle zur Rettung der Universität Lü- beck und Beitrag des Bundes zum Erhalt der von Schließung bedrohten Universitä- ten Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 23 Mündliche Fragen 32 und 33 Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sicherstellung der auf dem G-8-Gipfel zugesagten Mittel ohne Kürzungen in anderen Bereichen der Entwicklungszu- sammenarbeit sowie geleisteter bzw. zu leistender Anteil an den deutschen Zusagen für Mütter- und Kindergesundheit 5423 A 5423 B 5423 D 5424 B X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Antwort Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 24 Mündliche Frage 34 Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Abschaffung der Rundfunkgebührenbe- freiung für Menschen mit Behinderungen und gemeinnützige Einrichtungen für Be- hinderte Antwort Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 25 Mündliche Frage 35 Erika Steinbach (CDU/CSU) Kenntnis der Bundesregierung über die Anzahl der in den letzten drei Jahren er- mordeten Journalisten Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 26 Mündliche Fragen 36 und 37 Dr. Rolf Mützenich (SPD) Äußerungen der Staatsministerin im Aus- wärtigen Amt Cornelia Pieper zur polni- schen Präsidentenwahl; Einmischung in Wahlauseinandersetzungen europäischer Partnerstaaten Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 27 Mündliche Fragen 38 und 39 Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nachweis von Deutschkenntnissen beim Nachzug türkischer Ehegatten mit einem Hoch- oder Fachhochabschluss; Verzicht auf diesen Nachweis bei erkennbar gerin- gem Integrationsbedarf Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5424 D 5425 A 5425 B 5426 A 5426 C Anlage 28 Mündliche Fragen 40 und 41 Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Einsatz von Polizisten im Rahmen der OSZE zur Stabilisierung der politischen Lage in Kirgistan Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 29 Mündliche Frage 42 Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Konsequenzen für die Finanzierung der Bildungsaufgaben im Aufgabengebiet des BMI durch die Beschlüsse zur Haushalts- konsolidierung Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 30 Mündliche Frage 43 Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Bundesgesetzlicher Änderungsbedarf im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit unbe- gleiteter minderjähriger Asylbewerber in- folge der Rücknahme des Vorbehalts zum Übereinkommen über die Rechte des Kin- des Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 31 Mündliche Frage 44 Peter Friedrich (SPD) Werbung rechtsextremer Gruppierungen wie die NPD über Google-Anzeigen in Blogs und Onlineangeboten von Tageszei- tungen Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 32 Mündliche Frage 45 Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5427 A 5427 C 5427 D 5428 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 XI Deutsche Enthaltung bei der Abstimmung im EU-Ministerrat zum SWIFT-Abkom- men mit den USA Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 33 Mündliche Fragen 46 und 47 Dr. Eva Högl (SPD) Verhalten der Bundesregierung bei der Ab- stimmung über das SWIFT-Abkommen und Bedeutung des im Koalitionsvertrag formulierten Ratifizierungsvorbehalts für das Inkrafttreten Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 34 Mündliche Frage 48 Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verabschiedung einer Laufzeitverlänge- rung für Atomkraftwerke ohne Zustim- mung des Bundesrates Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 35 Mündliche Frage 49 Sevim Dağdelen (DIE LINKE) Beteiligung von EULEX Kosovo an der Abschiebung von mehr als 100 Menschen nach Pristina am 22. Juni 2010 Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 36 Mündliche Frage 50 Sevim Dağdelen (DIE LINKE) Verweigerung der Bereitstellung von Do- kumenten zum Bosnien-Krieg für den Ka- radzic-Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugosla- wien durch die Bundesregierung 5428 B 5429 A 5429 C 5429 C Antwort Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 37 Mündliche Frage 51 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Steuermindereinnahmen durch die ge- plante Verlängerung der Steuerbegünsti- gung für Agrardiesel in den nächsten fünf Jahren und Kompensation der Einnahme- verluste Antwort Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 38 Mündliche Frage 52 Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Steuerrechtliche Abschreibungsmöglich- keiten in den Bereichen Bauen, Wohnen und Stadtentwicklung Antwort Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 39 Mündliche Frage 53 Peter Friedrich (SPD) Vereinbarkeit der Bereitstellung abge- brannter Brennelemente zur Wiederaufbe- reitung in Russland mit dem erklärten Ein- satz für eine Stilllegung der RBMK- Reaktoren Antwort Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 40 Mündliche Frage 54 Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Inhaltliche Argumente der Vertreter der vier großen deutschen Energiekonzerne zu einer Brennelementesteuer und einer even- tuellen Laufzeitverlängerung von Atom- kraftwerken Antwort Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5429 D 5430 A 5430 B 5430 D 5431 A XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Anlage 41 Mündliche Frage 55 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Alternativvorschläge zu einer Brennele- mentesteuer Antwort Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 42 Mündliche Fragen 56 und 57 Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zusammenhang zwischen der Laufzeitver- längerung für Atomkraftwerke und der Einführung der Brennelementesteuer so- wie Gespräche zwischen BMF und Atom- kraftwerksbetreibern über Alternativen zu dieser Steuer Antwort Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 43 Mündliche Frage 58 Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Rechtsrahmen für CCS-Projekte gemäß CCS-Gesetz Antwort Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 44 Mündliche Frage 59 Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Verankerung qualifizierter Reha-Berater bei den SGB-II-Trägern für die Aufgaben nach § 104 SGB IX; Erhöhung des Betreu- ungsschlüssels für Schwerbehinderte im SGB II Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 45 Mündliche Frage 60 Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Einschränkung der Arbeitsförderungsleis- tungen durch Umwandlung von Pflicht- in 5431 A 5431 B 5431 D 5431 D Ermessensleistungen für Schwerbehin- derte im Rahmen des Sparpakets Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 46 Mündliche Fragen 61 und 62 Klaus Brandner (SPD) Auswirkungen des beabsichtigten Wegfalls des Zuschusses an die Rentenversicherung beim Arbeitslosengeld II und von Erstat- tungen einigungsbedingter Leistungen an die Rentenversicherung Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 47 Mündliche Fragen 63 und 64 Werner Dreibus (DIE LINKE) Entwicklung der mit der örtlichen Prüfung von Leiharbeitsunternehmen befassten Mitarbeiter bei der Bundesagentur für Ar- beit sowie von Verstößen gegen das vom Arbeitnehmerüberlassungsgesetz betrof- fene Leiharbeitnehmer seit 2005; Rege- lung und Ergebnisse der Nachkontrolle be- anstandeter Leiharbeitsunternehmen Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 48 Mündliche Fragen 65 und 66 Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Entwicklung der seit 2005 verhängten Buß- gelder aufgrund von Verstößen gegen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz; politi- scher Handlungsbedarf Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 49 Mündliche Frage 67 Jutta Krellmann (DIE LINKE) Einsatzbranchen mit den meisten Verstö- ßen gegen das Arbeitnehmerüberlassungs- gesetz; Anzahl der von Verstößen betroffe- nen Beschäftigten seit 2005 5432 B 5432 B 5433 A 5433 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 XIII Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 50 Mündliche Frage 68 Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Konsequenzen aus den rückläufigen An- meldezahlen von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bei den Berufsbildungs- werken Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 51 Mündliche Frage 69 Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Umsetzung der im Rahmen der UN-Behin- dertenkonvention empfohlenen Einrich- tung von Focal Points Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 52 Mündliche Frage 70 Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Aktivitäten auf nationaler und europäi- scher Ebene zur Einführung einer Tier- schutzkennzeichnung Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 53 Mündliche Frage 71 Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Kürzungen im Agraretat zur Gegenfinan- zierung der Beibehaltung der Steuerermä- ßigung für Agrardiesel Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5434 A 5434 C 5434 D 5435 A 5435 A Anlage 54 Mündliche Fragen 72 und 73 Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Auswahlkriterien für die Schließung klei- nerer Kasernen sowie Beteiligung betroffe- ner Städte und Gemeinden Antwort Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 55 Mündliche Frage 74 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Schicksal der auf der Joint Priority Effects List der NATO-Truppen für Nordafghanis- tan verzeichneten Personen Antwort Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 56 Mündliche Frage 76 René Röspel (SPD) Pflicht zur Veröffentlichung und Registrie- rung aller klinischen Studien im Rahmen des geplanten Arzneimittelneuordnungsge- setzes Antwort Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 57 Mündliche Frage 77 Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Neubewertung der Suchtgefahr bei Sozial- lotterien in der anstehenden Novellierung des Glücksspiel-Staatsvertrages Antwort Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 58 Mündliche Fragen 78 und 79 Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wirtschaftliche Situation freiberuflicher Hebammen sowie Gewährleistung der Ver- sorgung mit Hebammen insbesondere im ländlichen Raum 5435 C 5436 B 5436 D 5437 B XIV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Antwort Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 59 Mündliche Fragen 80 und 81 Dirk Becker (SPD) Kriterien für die Leistungsbestimmung von Biogasanlagen und Beibehaltung der Leistungsbegrenzung von 500 kW im Au- ßenbereich Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 60 Mündliche Frage 82 Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nichtverwendung des durch die Material- forschungs- und -prüfanstalt an der Bau- haus-Universität Weimar im Jahr 1992 empfohlenen Alkalikieselsäurereaktions- verfahrens beim Straßenbau durch die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und Bau GmbH sowie eventuell geschä- digte Autobahnabschnitte Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 61 Mündliche Frage 83 Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Finanzierungsvereinbarung für den zwei- ten S-Bahn-Tunnel in München und Betei- ligung des Bundes Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 62 Mündliche Frage 84 Michael Groß (SPD) Auswirkungen der geplanten Streichung des Heizkostenzuschusses auf die kommu- nalen Finanzen und vorgesehene Kompen- sation Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5437 C 5438 A 5438 B 5438 C 5438 D Anlage 63 Mündliche Fragen 85 und 86 Uwe Beckmeyer (SPD) Verkehrsaufkommen von Lkw mit einem Gewicht von über 12 Tonnen auf vier- und mehrspurigen Bundesstraßen; Einnahmen aus einer Lkw-Maut auf Bundesstraßen und geschätzte Systemkosten Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 64 Mündliche Fragen 87 und 88 Christian Lange (Backnang) (SPD) Vorgesehene Einsparungen bei den Infra- strukturinvestitionen für die Jahre 2011 bis 2014 sowie Auswirkungen auf die Länder- finanzen und auf zugesicherte Verkehr- sprojekte Antwort Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 65 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2010 (JStG 2010) (Tagesordnungspunkt 10) Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 66 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Brücken bauen – Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirt- schaft nahebringen – Innovationslücke schließen – Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung der In- novations- und Validierungsforschung vor- legen (Tagesordnungspunkt 12) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5439 A 5439 B 5439 D 5440 C 5443 A 5443 C 5444 B 5445 C 5446 C 5447 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 XV Anlage 67 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts – Antrag: Die revidierte Fassung des Euro- päischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern unterzeichnen (Tagesordnungspunkt 14 a und b) Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5448 A 5449 D 5450 D 5451 B 5451 C 5452 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5247 (A) (C) (D)(B) 51. Sit Berlin, Donnerstag Beginn: 9
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      Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich in einem Plenarsaal, dessen Möblierung noch nicht ganz dem Üblichen entspricht, aber in dem die Zahl der Stühle über Nacht auf die tatsächliche Zahl der Mitglieder des Bundestages zurückgeführt worden ist; damit werden wir vermutlich bei der Abwicklung der heutigen Tagesordnung gut auskommen. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kolle- gen Rainer Arnold zu seinem 60. Geburtstag gratulieren. (Beifall) Der Kollege Rainer Brüderle hat seinen 65. Geburtstag gefeiert, wozu ich besonders herzlich gratuliere. (Beifall) Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre! Der zunächst vorgesehene Tagesordnungspunkt 1 mit Anträgen zur Religionsfreiheit wird für heute abgesetzt. Wir beginnen gleich mit einer Regierungserklärung des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie. Darüber hinaus ist beabsichtigt, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- Rede führten Punkte zu erweitern: ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Aufschwung für Deutschland ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Deutschen Bundestag bei der Reform der Umsatzsteuer beteiligen – Drucksache 17/2333 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss zung , den 1. Juli 2010 .00 Uhr b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden – Drucksache 17/1580 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 3 Befragung der Bundesregierung Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich mache auf eine nachträgliche Ausschussüberwei- sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- lich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- text zung der Richtlinie des Europäischen Parla- ments und des Rates über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen – Drucksachen 17/1719, 17/2280 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sind Sie damit einverstanden? von Abgeordneten der CDU/CSU, der r FDP, der LINKEN und des BÜND- 90/DIE GRÜNEN: Ja, Herr Präsi- (Zurufe SPD, de NISSES dent!) 5248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (C) (D)(B) – Das ist gut so; das erspart uns weitere Verzögerungen. Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Aufschwung für Deutschland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei- nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungs- erklärung dem Bundesminister für Wirtschaft und Tech- nologie Rainer Brüderle. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- land ist wieder da, nicht nur sportlich, sondern auch wirt- schaftlich und politisch. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Die Bundesbank sieht das Wachstum für dieses Jahr bei 1,9 Prozent, der Deutsche Industrie- und Handelskam- mertag sogar bei 2,3 Prozent. Auch 2011 wird sich die Erholung allen Prognosen zufolge fortsetzen. Das alles geschieht bei historisch niedrigen Zinsen und hoher Geldwertstabilität. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Trotz der Regierung!) Die Auftragsbücher der Industrie haben sich im Früh- jahr deutlich gefüllt. Die Produktionstätigkeit hat sich kräftig belebt. Die Auslastung der Kapazitäten nimmt wieder zu. Die Perspektiven für den Welthandel, die Weltwirtschaft haben sich deutlich aufgehellt. Der Inter- nationale Währungsfonds rechnet mit einer Zunahme des Welthandelsvolumens um 7 Prozent in diesem Jahr und 6 Prozent im nächsten Jahr. Wir müssen dabei sein, und wir werden dabei sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das sind ermutigende Signale. Das ist genau die Ent- wicklung, die wir mit unserer wachstums- und arbeits- platzfreundlichen Politik erreichen wollen. Die Wachs- tumsbeschleunigung findet statt, so wie wir sie im gleichnamigen Gesetz zum Jahresanfang angedacht ha- ben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Davon haben die Bürger konkret etwas. Die Nettoreal- löhne steigen seit Jahren erstmals wieder. Die Zahlen zeigen auch: Wir sind eine exportorien- tierte Wirtschaft, und darauf können wir stolz sein. Wir können stolz darauf sein, dass die ganze Welt unsere hochwertigen Waren und Dienstleistungen nachfragt, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Schwacher Euro!) dass wir in Deutschland hochqualifizierte und hochmoti- vierte Arbeitskräfte haben, dass wir die Konjunkturloko- motive für die gesamte Europäische Union sind und dass wir in vielen Zukunftsbranchen an der Spitze der techno- logischen Entwicklung stehen. Ich nenne beispielhaft: Pharmabereich, Biotechnologie, Nanotechnologie, Me- dizintechnik, Umwelttechnologie, die erneuerbaren Energien und Energieeffizienz. Vergessen wir auch nicht die klassischen Stärken unserer Exportwirtschaft: den Maschinen- und Anlagenbau, Chemie und Elektrotech- nik. Auch bei der Automobilindustrie brummt es wieder. Nicht nur bei Daimler, Audi und BMW gibt es Sonder- schichten, auch viele Mittelständler fahren die Kapazitä- ten hoch. Die internationalen Export- und Importströme sind übrigens sehr viel komplexer, als mancher behauptet. Der Anstieg des deutschen Exports geht vor allem auf die starke asiatische Nachfrage zurück. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Und auf den schwachen Euro!) Diese Länder produzieren ihrerseits Exportüberschüsse. Sie leiden also nicht unter der deutschen Exportstärke und an ihren Importen, sondern sie nutzen den Import hochwertiger deutscher Produkte, um wirtschaftlich er- folgreicher zu sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch die Vereinigten Staaten haben das offensichtlich erkannt. Präsident Obama hat im Februar eine Außen- wirtschaftsoffensive gestartet. Nun gibt es einige, die unser erfolgreiches Export- modell infrage stellen. Sie fordern: Erhöht drastisch die Löhne, macht noch mehr Konjunkturprogramme! Aber das ist der falsche Weg. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das wäre eine Art schleichende „Griechenlandisierung“ der deutschen Wirtschaftspolitik. Das machen wir nicht. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Es werden hundertprozentige Sofortabschreibungen vor- geschlagen, sozusagen eine Abwrackprämie für alte Ma- schinen. Das ist kurzsichtig. Das ist kurzatmig. Das ist aktionistische Strohfeuerpolitik. Natürlich ist eine starke Binnenkonjunktur wichtig. Natürlich sind die sie stärkenden Investitionen wichtig, aber dafür brauchen wir eine klare Politik mit langen Li- nien und kein kurzes Denken. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was ist denn kurzes Denken?) Wir müssen die Unternehmen auch in Deutschland in- vestieren lassen. Technologiefeindlichkeit und ein rück- wärtsgerichtetes Denken schaden unserem Land. Die Binnennachfrage wird stärker gefördert, wenn wir die Selbstblockaden etwa bei der Kernenergie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5249 Bundesminister Rainer Brüderle (A) (C) (D)(B) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was?) oder der Gentechnik auflösen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Blockade ist bei Ihnen!) Ich verweise auf den Transrapid in der Vergangenheit. Ich nenne die CCS-Technologie mit großen Chancen für unsere Wirtschaft, aber auch für den Klimaschutz. Wer nicht in Deutschland investieren darf, wird zum Export gezwungen. Im schlimmsten Fall geht er ganz. So stärkt man die Binnennachfrage nicht. Man stärkt sie, indem man Beschäftigung schafft. Jeder Arbeitslose, der einen Job bekommt, macht sein eigenes Konjunktur- programm. Er hat mehr Einkommen und damit mehr Konsummöglichkeiten. Sie kennen die Faustformel: 100 000 Arbeitslose weniger bedeuten allein für den Staat rund 2 Milliarden Euro mehr. Die gestiegenen pri- vaten Konsumausgaben, die damit verbunden sind, sind hierbei nicht eingerechnet. Ich will lieber Hunderttau- sende kleine private Konjunkturprogramme haben als staatlichen Dirigismus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir erleben in Deutschland ein gar nicht so kleines Jobwunder. Die Erwerbstätigkeit nimmt zu, die Ar- beitslosigkeit nimmt ab. Wir können bald die Marke von 3 Millionen Arbeitslosen unterschreiten. Im Juni gab es noch 3,15 Millionen Arbeitslose. Das sind fast 260 000 we- niger als im Vorjahr. Erfreulich ist auch die Lage in Ost- deutschland. Dort ist die Arbeitslosigkeit das erste Mal seit Jahren unter 1 Million gefallen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In ganz Deutschland hat sich die Zahl der Kurzarbei- ter seit dem Höhepunkt im Mai letzten Jahres etwa hal- biert. Die Bundesagentur für Arbeit sieht hierin Signale für weitere Entspannung. Es gibt erste Schätzungen, dass wir Ende des Jahres die Zahl auf 100 000 zurückführen können. Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit ei- ner ILO-Arbeitslosenquote von 7,1 Prozent deutlich bes- ser da als die Vereinigten Staaten mit 9,9 Prozent und liegt unter dem Durchschnitt des Euro-Raums mit über 10 Prozent. Für dieses Jobwunder gibt es eine Formel: Flexibilität und Sicherheit. Diese Entwicklung haben zu zwei Dritteln betriebliche Bündnisse und flexible Struk- turen ermöglicht – und nur zu einem Drittel die staatli- che Arbeitsmarktpolitik. Meine Damen und Herren, wir können die Weichen für weiteren wirtschaftlichen Aufschwung in Deutsch- land stellen. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Die christ- lich-liberale Koalition hat diesen Kompass. In der sozia- len Marktwirtschaft geht es um die richtige Balance von Staat und Markt, von eigenverantwortlichen Entschei- dungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger und kollektiven Entscheidungen des Staates. In diesem Zusammenhang ist das Prinzip von Eigen- verantwortung und Haftung von zentraler Bedeutung. Der Einzelne haftet für die Folgen seines Handelns im Positiven wie im Negativen. Das heißt, er muss die Früchte seiner Leistung ernten können, aber er muss auch für die Verluste, von Fehlentscheidungen ausgelöst, einstehen und dafür haften. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Zuge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ist dieses Prinzip durch zahlreiche Rettungsschirme für Banken und Unternehmen und sogar für Staaten not- gedrungen verletzt worden. Wir hatten eine heftige keynesianische Situation mit großer Deflationsgefahr und der Gefahr der Liquiditätsfalle, was bedeutet, dass selbst weitere Liquidität nicht zu Impulsen führt. Karl Schiller sagte es einmal so: Wenn die Pferde nicht sau- fen, dann funktioniert das nicht. (Thomas Oppermann [SPD]: Das waren noch Zei- ten, als Karl Schiller Finanzminister war!) Aber jetzt kommt der Unterschied zu den Politik- ansätzen der Opposition. Es lohnt sich immer, auch das zweite Kapitel von Keynes zu lesen: Im Aufschwung müssen staatliche Programme zurückgefahren werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Aufschwung müssen die Staatsschulden wieder redu- ziert werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann macht mal!) Wir müssen also wieder zu einer bewussten Gestaltung des Ordnungsrahmens kommen. Wir bezeichnen das als Exit-Strategie. Der Fall Opel ist ein Beleg dafür, dass wir es mit der sozialen Marktwirtschaft ernst meinen. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht; aber General Motors hat wenige Tage nach unserer Entscheidung alle Anträge auf Staatshilfen in Europa zurückgezogen. General Mo- tors übernimmt die volle unternehmerische Verantwor- tung – übrigens mit einem historischen Börsengang im Rücken. Dort stehen Zahlen von 80 bis 90 Milliarden US- Dollar im Raum. Wir haben dem deutschen Steuerzahler einen Haufen Geld gespart. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch in anderen europäischen Staaten wird man mit der Entwicklung in Deutschland, was dieses Thema angeht, nicht unzufrieden sein. Der Fall Opel zeigt auch: Die Unternehmen sollten ihren Gehirnschmalz und ihre Ressourcen in neue Ideen und Produkte stecken. Viel Zeit und viel Geld für Sub- ventionsberater, Anwälte und Lobbyisten auszugeben, ist weder marktwirtschaftlich noch unternehmerisch. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zum konsequenten Rückzug des Staates aus den Krisen- mechanismen gehört, dass wir den Wirtschaftsfonds Deutschland nicht willkürlich verlängern; sonst drohen Gewöhnungseffekte. Bis zum 31. Dezember 2010 kön- nen noch Anträge gestellt werden. Derzeit sehe ich kei- 5250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Bundesminister Rainer Brüderle (A) (C) (D)(B) nen Grund, den Fonds darüber hinaus weiterlaufen zu lassen. Die Euro-Krise hat uns gezeigt: Wettbewerbsfähigkeit und klare, saubere ordnungspolitische Grenzen sind auch in Europa unabdingbar. Auch in Europa brauchen wir eine ordnungspolitische Diskussion. Denn in Europa gibt es unterschiedliche Philosophien und Ansätze, etwa das skandinavische Wohlfahrtsmodell, das zentralisti- sche Modell der Franzosen, die Freihandelstradition der Engländer und die soziale Marktwirtschaft in Deutsch- land. Diese unterschiedlichen Kulturen müssen im Bereich der Wirtschaftspolitik wirkungsvoll koordiniert werden. Dabei kann es nicht um eine zentrale Detailsteuerung von Einzelmaßnahmen der Mitgliedstaaten durch einsei- tige Vorgaben der EU gehen; so verstehen jedenfalls wir den Begriff „Wirtschaftsregion“ nicht. Wir brauchen vielmehr ein strukturpolitisches Frühwarnsystem. Die tiefer liegenden strukturellen Fehlentwicklungen müssen früher, klarer, wirkungsvoller erkannt und ange- gangen werden. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Und wie machen Sie das?) Letztlich steht hinter den Fehlentwicklungen und den Defiziten mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Die tiefe Ursache der griechischen Misere ist mangelnde Wettbe- werbsfähigkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nicht nur der Blick auf die finanzpolitischen Indika- toren wie Defizitquote und Schuldenstand ist wichtig, um Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Zukünf- tig muss auch die Entwicklung weiterer Kennzahlen sorgfältig beobachtet werden, zum Beispiel die Entwick- lung von Löhnen, Preisen und Produktivität. Wir brau- chen ein neues, effektiveres Verfahren der wirtschaftspo- litischen Begleitung und Überwachung. Es müssen rechtzeitig die richtigen politischen Signale gesendet und die notwendigen Reformprozesse angestoßen wer- den. Dazu gehört auch der notwendige Nachdruck. Ein solches Verfahren muss über klare Strukturen, Regeln und eventuell auch Sanktionsmöglichkeiten ver- fügen. Wir sollten dabei auf vorhandene Strukturen – ich denke etwa an den Wettbewerbsfähigkeitsrat – auf- bauen. Ein solcher Rat – Stichwort „ECO-COMP“ – könnte die Mitgliedstaaten sturkturpolitisch begleiten und zusätzlich als Frühwarnsystem dienen. Als überzeugter Europäer sage ich: Wir müssen un- sere eigenen Hausaufgaben machen. Unsere Zusage zur Öffnung des Arbeitsmarktes ab April nächsten Jahres werden wir einhalten. Wir sollten auch nicht durch neue Schutzzäune neue Barrieren durch die Hintertür auf- bauen, nur weil sich einzelne Branchen vor Wettbewerb fürchten. Meine Damen und Herren, das Vertrauen der Bürge- rinnen und Bürger in geordnete Staatsfinanzen gehört zu den unverzichtbaren Voraussetzungen für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum. Die Konsolidierung der öf- fentlichen Haushalte ist kein Selbstzweck. Die Be- schlüsse des G-20-Gipfels vom vergangenen Wochen- ende zeigen, dass die Einsicht in die Zusammenhänge auch international gewachsen ist. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber national wird nichts umgesetzt!) Die Industriestaaten haben sich bei diesem Treffen ver- pflichtet, ihre Defizite bis 2013 zu halbieren. Die Bun- desregierung ist also keineswegs international isoliert, wenn wir ab dem kommenden Jahr den Ausstieg aus den in der Krise angewachsenen Staatsdefiziten einleiten. Die sogenannten nichtkeynesianischen Effekte der Haushaltskonsolidierung können ihre Wirkung entfalten. Die Menschen können darauf vertrauen, dass die Schul- den von heute nicht die Steuern von morgen sind. Des- wegen setzen wir an der Ausgabenseite an. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Für den Etat des Wirtschaftsministeriums bedeutet das zum Beispiel weniger Subventionen für die Stein- kohle. Bemerkenswert ist, dass die Grünen einen Antrag zu diesem Thema auf die heutige Tagesordnung haben setzen lassen, allerdings ohne Aussprache. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sorry! Aber auch Sie wissen, woran das liegt!) Schade! Dazu hätte man nämlich manches sagen kön- nen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aha! Was denn? Sagen Sie doch mal etwas dazu!) Mit ihrem Sparpaket sendet die Bundesregierung ein Signal der Stabilität und Klarheit. Wir kommen ohne Er- höhung der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer aus. Wir wollen durch Sanieren wachsen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stoltenberg und Lambsdorff ist es Anfang der 80er-Jahre gelungen, gleichzeitig die Nettokreditaufnahme zu hal- bieren, die Staatsquote zu senken und dabei auch noch neues Wachstum zu produzieren. Im zweiten Schritt wollen wir durch Wachstum die Haushalte sanieren. Mit unserem Sparpaket schaffen wir den Spielraum für zukünftig niedrigere Steuern und Ab- gaben. Wir schaffen den Spielraum für bessere Kreditbe- dingungen. Nimmt sich der Staat bei der Kreditauf- nahme zurück, haben die Unternehmen ein größeres Kreditangebot zur Verfügung. Eine steuerliche Entlas- tungsperspektive hilft Wachstumskräften. Ein einfaches Steuerrecht, Strukturreformen und Entlastungsperspek- tive gehören zusammen. Wir werden nicht den Fehler von Grün-Rot wiederho- len und ein monströses Steuervergünstigungsabbauge- setz vorlegen, das die Entlastungsperspektive vollkom- men außer Acht lässt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr macht erst einmal eine Ausnahme für Hotels!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5251 Bundesminister Rainer Brüderle (A) (C) (D)(B) Das ist damals ökonomisch und politisch gescheitert. Die Bevölkerung war tief verunsichert und die Wirt- schaft gelähmt. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn 4 Prozent?) Heute heißt es Maßhalten, damit morgen die Entlastung kommen kann. Um Maß und Mitte geht es auch bei der Energiepoli- tik. Die christlich-liberale Koalition sorgt für eine ver- lässliche, klimafreundliche und kostengünstige Energie- versorgung. Deshalb werden wir die Laufzeiten für Kernkraftwerke verlängern. Kernenergie ist eine Brücke ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Habt ihr euch schon verständigt, um wie viele Jahre?) Im Herbst werden wir dazu die Eckdaten vorlegen. Der Bundestag wird in der Folge über die Änderung des Atomgesetzes abstimmen. Die Verfassungsressorts prü- fen das gerade, übrigens auch im Blick auf die kürzlich ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Ich persönlich gehe davon aus, dass das ohne Beteiligung des Bundesrats geht, da auch der Ausstieg aus der Kernenergie ohne Beteiligung des Bundesrats möglich war. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war etwas ganz anderes!) Bezahlbare Energie ist für Wirtschaft und Verbrau- cher wichtig. Mindestens genauso wichtig sind bezahl- bare Rohstoffe. Das wird ein Megathema der nächsten Jahre werden. Die großen Aktivitäten der Investment- banken auf diesem Feld geben erste Hinweise. Die Kar- tellbildung nach Vorbild der OPEC setzt jetzt etwa auch bei Eisenerz an. In zwölf Monaten haben sich die Preise für Eisenerz mehr als verdoppelt. Uns muss es darum ge- hen, dass Deutschland weiterhin verlässliche und kos- tengünstige Rohstoffe zur Verfügung hat. Klar ist: Der Staat wird nicht selbst in den Markt ein- greifen und etwa Rohstoffe einkaufen. Wir helfen dort, wo Kooperation von Wirtschaft und Politik einen Mehr- wert bringt. Die Bundesregierung baut derzeit in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe eine Rohstoffagentur auf. Sie wird der Wirtschaft hel- fen können, konkrete Informationen über Vorkommen zu erlangen und Möglichkeiten anzupacken. Auf dem Rohstoffgipfel im Wirtschaftsministerium – die zweite Runde hat schon stattgefunden – haben wir vereinbart, dass gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt, dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Rohstoffpartnerschaften mit Entwick- lungsländern auf den Weg gebracht werden können. Die Wirtschaft selbst wird bis Mitte Juli Vorschläge dazu vorlegen. Die Märkte werden jetzt weltweit neu verteilt. Da muss Deutschland als Exportnation dabei sein. Wir sind auf einem guten Weg. Der Aufschwung geht weiter. Der Kurs der Regierung hat sich bestätigt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 4 Pro- zent!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Garrelt Duin (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brüderle, das hatten Sie sich so schön gedacht, als Sie – ich glaube, für das ganze Haus überraschend – diese Regierungserklärung zum Thema Aufschwung für den heutigen Morgen auf die Tagesordnung gesetzt haben. Ihre Vorstellung war so: Ich verkünde am Montag, dass der Aufschwung da ist, am Mittwoch führen wir eine glanzvolle Bundespräsi- dentenwahl durch, und am Donnerstagmorgen kann ich hier noch einmal kraftvoll sagen, wie erfolgreich diese Bundesregierung ist. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das hat leider nicht geklappt!) Das hat nicht ganz funktioniert: Nachdem Sie ange- kündigt hatten, wie groß der Aufschwung ist, ist der DAX um 1,5 Prozent eingebrochen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat doch da- mit gar nichts zu tun! Sie reden wie der Blinde von der Farbe! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU) Der gestrige Tag hat eines gezeigt: Ihnen von der Koali- tion ist es gestern nicht gelungen, in der regulären Spiel- zeit einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen nicht gelungen, in der Verlängerung einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen erst im Elfmeterschießen gelungen – unter tätiger Mit- hilfe der Linken in diesem Parlament –, einen Sieg zu er- ringen. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diese Regierung geht auf dem Zahnfleisch. Das wird lei- der gerade in der Wirtschaftspolitik deutlich. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Kleine Mathematik! Rechnen lernen!) Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, eines will ich noch sagen, bevor ich auf die Rede des Herrn Bundes- wirtschaftsministers eingehe. Wir hatten in der vergan- genen Woche einen Weltwirtschaftsgipfel, nämlich den G-20-Gipfel. Vorher gab es einen G-8-Gipfel. Wenn uns in diesem Hause und die deutsche Öffentlichkeit insge- samt – jeden Bürger und jede Bürgerin – in den letzten eineinhalb bis zwei Jahren eine Frage beschäftigt hat, dann ist es die: Wie kriegen wir es hin, die richtigen Lehren aus dieser Finanzmarktkrise, die eine reale Wirtschaftskrise geworden ist, zu ziehen? Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, ich hätte erwartet, dass Sie nach Ihrer Rückkehr aus Toronto eine Regierungserklärung darüber abgeben, wie Sie gedenken, weltweit gegen die Finanzmarktakteure vorzugehen und sie an den Kosten dieser Krise zu beteiligen. Das wäre heute hier Ihr Platz 5252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Garrelt Duin (A) (C) (D)(B) gewesen. Stattdessen kümmern Sie sich nur darum, Ihre Koalition mit Ach und Krach zusammenzuhalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Merkele statt Brüderle!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Herr Wirt- schaftsminister hat gesagt, der Aufschwung sei da und diese Bundesregierung habe so viel dafür getan. Es wäre ja schön, wenn der Aufschwung tatsächlich selbsttra- gend wäre. Davon sind wir aber leider noch ein gutes Stück entfernt, weil die Akteure auf den Märkten auch nach wie vor verunsichert sind. Das gilt ganz besonders für den Binnenmarkt. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass das Ifo-Institut die Geschäftsentwicklung in den kommenden sechs Mo- naten sehr zurückhaltend einschätzt, wenn Sie sich ver- gegenwärtigen, dass das IMK sagt, dass die Wirtschafts- dynamik bereits in der zweiten Jahreshälfte deutlich nachlassen wird, wenn Sie sich den Konjunkturbericht des Bankenverbandes anschauen, in dem ebenfalls steht, dass es viele Gründe gibt, die gegen die Erwartung spre- chen, dass es im zweiten Halbjahr ein deutlich positive- res Gesamtbild geben wird, (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das hättet ihr gern!) dann ist es notwendig, mehr zu sagen als der Bundes- wirtschaftsminister. Er hat heute nur gesagt: Wir machen eine Exit-Strategie. – Das kann nicht die Antwort auf diese Herausforderung sein. Lassen Sie uns doch endlich eine Debatte darüber be- ginnen, welche Instrumente, die wir unter anderem mit den beiden Konjunkturpaketen auf den Weg gebracht ha- ben und die sehr hilfreich waren – das wird inzwischen auch von der FDP nicht mehr bestritten, auch wenn sie damals laut dagegen vorgegangen ist –, über das Ende dieses Jahres hinaus fortbestehen müssen, damit wir einen dauerhaften, selbsttragenden Aufschwung in Deutschland bekommen können. Warum kommen Sie überhaupt auf die Idee – es ist wirklich aberwitzig –, das erfolgreichste Programm, das wir in den letzten Jahren gehabt haben, nämlich das CO2-Gebäudesanierungspro- gramm, so einzudampfen, wie Sie das vorhaben? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Absolut unglaublich!) Das ist der größte Fehler, den man überhaupt machen kann, weil doch gerade durch dieses Programm den Bür- gerinnen und Bürgern die Möglichkeit eröffnet wird, die eigenen Energiekosten zu senken. Auch für das Hand- werk war es sehr erfolgreich, weil es ihm viele Aufträge verschafft hat. Wie kann man in einer solchen Situation denn nicht wenigstens einmal darüber nachdenken, ob man die Re- gelung, die wir für die Absetzbarkeit der Handwer- kerrechnungen in der letzten Wahlperiode gemeinsam getroffen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, noch einmal fortsetzt, weil sie so eine positive Wirkung gehabt hat und weil mit ihr vermieden wurde, dass Arbeit wieder in der Grauzone, also in der Schwarzarbeit, verschwindet? Dass ordentlich abgerech- net wurde, war gut für die Bürgerinnen und Bürger und für die Handwerksbetriebe in unserem Land. (Beifall bei der SPD) Es gäbe also eine ganze Reihe von Punkten, die man ganz konkret anfassen könnte. Aber das ist natürlich von diesem Wirtschaftsministerium, von dieser Bundesregie- rung nicht zu erwarten. Über einige Themen sind Sie heute locker hinwegge- gangen, zum Beispiel darüber, dass die Zahl der Insol- venzen in Deutschland trotz der konjunkturellen Erho- lung gestiegen ist. In den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres haben 17 360 Unternehmen einen In- solvenzantrag gestellt. Das sind 7,1 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Sie haben kein Wort zu dieser Ent- wicklung gesagt. In der letzten Woche haben wir eine sehr schwerwie- gende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Grundsatz der Tarifeinheit zur Kenntnis nehmen müssen. Ich hätte erwartet, dass sich der Bundeswirt- schaftsminister hier und heute, in einer solchen Regie- rungserklärung, wenigstens ansatzweise zu diesem Thema geäußert und gesagt hätte: Wir müssen gemein- sam mit dem DGB und der BDA das weiterführen, was diese beiden hierzu schon entwickelt haben. – Sie glau- ben noch immer an das seligmachende Instrument der betrieblichen Bündnisse. Nein, es kommt darauf an, dass wir Frieden in den Betrieben haben, und das geht nur über die Tarifeinheit in Deutschland. Deswegen wäre es eine Herausforderung für dieses Parlament, gemeinsam mit der BDA, dem DGB und anderen Partnern dafür zu sorgen, dass wir das nach diesem Urteil auch in Zukunft sicherstellen können, Herr Fuchs. Durch die Bewälti- gung dieser Aufgabe könnten wir gemeinsam etwas vo- ranbringen. (Beifall bei der SPD) Sie setzen stattdessen auf eine völlig falsche Sparstra- tegie ohne jeglichen Impuls für ein wirklich nachhaltiges Wachstum in Deutschland. Das, was Sie hierzu vorlegen, ist zu wenig. Sie verzetteln sich in Kleinigkeiten, anstatt eine klare Linie für Deutschland auch mit Blick auf die internationalen Verflechtungen der deutschen Wirt- schaft zu entwickeln. All das gibt es bei Ihnen nicht. Deswegen bin ich genötigt, Herr Bundestagspräsi- dent Lammert, mit Ihrer Genehmigung, die ich jetzt ein- mal voraussetze, auf das zurückzukommen, was Sie gestern gesagt haben. Sie haben es natürlich auf das Amt des Bundespräsidenten bezogen, als Sie, wie ich fand, sehr nachvollziehbar gesagt haben: Man muss in einer Demokratie kein Amt übernehmen; aber wenn man denn gewählt ist, dann muss man das Amt mit aller Kraft ausüben und ausführen. – Sehr geehrter Herr Bun- deswirtschaftsminister Brüderle, das und nicht mehr ver- langen wir auch von Ihnen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5253 (A) (C) (D)(B) Präsident Dr. Norbert Lammert: Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf- grund eines spürbaren Aufschwungs in der Wirtschaft und ganz besonders – und das ist sehr erfreulich – auf dem Arbeitsmarkt erleben wir momentan ein Sommer- märchen. Nein, es ist kein Märchen, es ist real. Gott sei Dank ist das so. Wir sind aus der Krise heraus, und zwar schneller, als wir alle uns das gedacht haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir haben die Folgen dieser Krise gut gemeistert. Dazu haben alle Programme, die wir in diesem Hohen Hause gemeinsam erarbeitet haben, beigetragen. Herr Duin, ich gebe Ihnen recht: Die Konjunkturprogramme haben gewirkt. Alles andere, was Sie zur Wirtschafts- politik von sich gegeben haben, waren aber eher Klein Fritzchens Wirtschaftsweisheiten, die nicht ganz nach- vollziehbar sind. Auch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat gewirkt. Zum 1. Januar dieses Jahres haben wir die Bür- gerinnen und Bürger in Deutschland in einem Gesamt- umfang von rund 23 Milliarden Euro entlastet. Ein Kon- junkturprogramm in dieser Größenordnung hat es selten gegeben. In allen Bereichen wurden Wirkungen erzielt. Mit Sicherheit ist das einer der Gründe dafür, dass die Wirtschaft mittlerweile wieder boomt und dass neu ein- gestellt wird. Bei einer Konjunkturumfrage des Ifo-Insti- tuts haben alle befragten Unternehmen gesagt, dass sie davon ausgehen, dass sich der Aufschwung in der zwei- ten Jahreshälfte eher verstetigen und verstärken wird. Herr Duin, Sie haben hierzu etwas Falsches gesagt. Man sollte die entsprechenden Statistiken eben lesen, bevor man etwas behauptet. (Klaus Barthel [SPD]: Was lesen Sie denn für Statistiken?) Wir haben mit den Rettungsschirmen für Griechen- land und den Euro auch auf dem europäischen Finanz- markt richtig reagiert. Der Euro steht heute bei 1,23 Dollar. Das ist überhaupt kein Drama. Im Gegen- teil: Die deutsche exportierende Wirtschaft ist nicht un- zufrieden damit, weil dadurch unsere Chancen im dollar- abhängigen Ausland, in das immerhin rund 40 Prozent unserer Exporte gehen, verstärkt werden. Das sollte man in diesem Zusammenhang sehen. Der Euro hat schon einmal bei 85 Cent und auch bei 1,55 Dollar gestanden. Das war jeweils zu handhaben; auch das gehört zur Wahrheit. Ich denke, dass die Bundesregierung richtig gehandelt hat, als sie diese Krise jetzt für beendet erklärt hat. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister für diese Aussage dankbar. Es ist völlig richtig, dass wir die Lehre von Keynes vollständig betrachten müssen. Der Keynesia- nismus muss so verstanden werden, wie er von Keynes gedacht war: Im Aufschwung müssen Maßnahmen so- fort zurückgefahren und Sparmaßnahmen eingeleitet werden, damit die Kosten der deflatorischen Phase wie- der ausgeglichen werden können. Ich bin davon über- zeugt, dass die Sparpakete, die wir bis jetzt beschlossen haben, richtig sind. Dass wir nicht so stark in das Soziale einschneiden, will ich an zwei Beispielen klarmachen. Der Bereich So- ziales macht ungefähr 55 Prozent des Bundesetats aus, aber der Anteil des Bereichs Soziales an unserem Spar- paket beträgt rund 30 Prozent. Er ist also unterproportio- nal, weil wir uns unserer Verantwortung gegenüber den sozial Schwächeren in der Republik bewusst sind. Das zeigt unser Sparpaket sehr deutlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- derspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich halte es für richtig, dass wir in bestimmten Berei- chen Einsparungen vorgenommen haben. Ich will einen Bereich nennen: Wenn wir beim Elterngeld Einsparungen vorgenommen haben, dann haben wir das deswegen ge- tan, weil das Elterngeld bei Hartz-IV-Familien falsch an- gesetzt ist. Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Das Elterngeld war und ist eine Lohnersatzleistung und nichts anderes. Wenn heute eine Hartz-IV-Familie mit zwei Kin- dern inklusive Elterngeld rund 1 870 Euro netto erhält, dann führt das dazu, dass sich sehr viele dem ersten Ar- beitsmarkt nur relativ zögerlich zur Verfügung stellen. Das muss korrigiert werden, und das wollen wir tun. Präsident Dr. Norbert Lammert: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann? Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Warum nicht? Präsident Dr. Norbert Lammert: Na, also. – Bitte schön, Frau Haßelmann. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Fuchs, da Sie dankenswerterweise ausgeführt haben, dass das Elterngeld für Hartz-IV-Berechtigte ge- strichen werden soll, weil es sich dabei um eine Lohn- ersatzleistung handelt und das nicht der Intention des El- terngeldes entspricht, frage ich Sie: Wenn Sie diese Argumentation durchgängig beibehalten wollen, warum kürzen Sie bei Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfän- gern das Elterngeld, nicht aber bei Studierenden und bei Hausfrauen bzw. Hausmännern, die in einer Familien- konstellation leben, wo eine Person ein volles Gehalt be- zieht und die andere Person nicht arbeitet? Ich finde das insgesamt nicht richtig. Wo aber greift das Argument der Lohnersatzleistung bei diesen beiden Gruppen? Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Ich bin der Meinung, dass die Lohnersatzleistung ge- rade bei Hartz-IV-Empfängern, die dem Arbeitsmarkt ja 5254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Michael Fuchs (A) (C) (D)(B) nicht zur Verfügung stehen – jedenfalls zurzeit nicht –, nicht angebracht ist. Es ist richtig, dass wir das Eltern- geld dort kürzen. Ich habe des Weiteren gesagt, dass je- mand, der Hartz IV bezieht und Elterngeld empfängt, rund 1 870 Euro netto hat. Wissen Sie, wie viel das brutto ist? Das sind knapp 3 000 Euro brutto. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war nicht die Frage!) Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass der Hartz-IV- Empfänger dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht. Das ist einer der Gründe, warum wir diese Maß- nahme ergriffen haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Situation unseres Landes hat sich deutlich verbes- sert. Der Außenhandel gewinnt an Fahrt. Ich habe eben schon gesagt, dass dazu der Euro-Kurs beiträgt. Die Auf- tragsbücher der Industrie füllen sich. Der Bundeswirt- schaftsminister hat vollkommen recht: Das gilt für fast alle Branchen. Vor allen Dingen beim Maschinenbau, der im letzten Jahr eine unserer kritischen Branchen war, geht es jetzt wieder nach oben. Der IWF rechnet damit, dass die Weltwirtschaft in diesem Jahr um 4 Prozent wächst. Wir müssen sehen, dass wir davon unseren Teil abbekommen. Dafür müssen wir kämpfen, dafür müssen wir alles einsetzen. Ich glaube, dass wir dazu in der Lage sind. Es ist richtig, wenn wir uns auf den asiatischen Raum fokussieren. China wird in diesem Jahr um annähernd 10 Prozent wachsen. Da werden unsere Hightechpro- dukte gebraucht. Das zeigt sich gerade in der letzten Zeit. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar da- für, dass er China in den Fokus genommen hat. Dass seine erste Auslandsreise dorthin führte, hat sicherlich dazu beigetragen. Viele Maßnahmen, die wir ergriffen haben, sind rich- tig. So haben wir das Kurzarbeiterprogramm verlän- gert. Allerdings kann man die Frage stellen, ob es auf- grund der wesentlich verbesserten Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht unter Umständen schon früher zu- rückgeführt werden kann, um Kosten zu sparen, damit wir in unseren Sparprogrammen vorankommen. Herr Duin, es ist festzustellen, dass die von uns umgesetzten Programme richtig waren. Wenn sie allerdings auf dem Arbeitsmarkt in dieser Form nicht mehr benötigt wer- den, dann ist eben Sparen angesagt. Das Sparpaket – lassen Sie mich das noch einmal be- tonen – war richtig. Die Bundeskanzlerin hat in der jetzi- gen Weltmeisterschaftsphase das wichtige Auswärtstor geschossen, indem sie Herrn Obama dazu gebracht hat, zu erkennen, dass zusätzliche Maßnahmen falsch sind und dass Sparen angesagt ist. Dazu möchte ich ihr herz- lich gratulieren. Es war alles andere als einfach, das in Toronto umzusetzen und durchzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Garrelt Duin [SPD]: Das war ein Eigentor!) Auf dem G-20-Treffen in Toronto wurde beschlossen, die Neuverschuldung bis zum Jahre 2013 zu halbieren und bis zum Jahre 2016 auf null zu setzen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Ich hoffe erstens, dass das umgesetzt wird, und zweitens, dass dadurch ein neues Denken in der Welt einsetzt, das dazu führt, dass endlich wirklich mit dem Sparen begon- nen wird, und zwar in allen Bereichen; denn nur eine Politik, die dazu führt, dass die Haushalte sich nicht mehr neu verschulden, sondern im Gegenteil in die Lage versetzt werden, Schulden abzutragen, wird eine lang- fristige und nachhaltige Politik – daran müsste gerade den Grünen gelegen sein – sein. Dafür kämpfen wir. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir machen das mit der Nachhaltigkeit ein bisschen besser!) Dazu gehört für mich, dass die Wirtschaft ein wenig umdenken muss. Ich finde es schon bedenklich, wenn immer wieder neue Forderungen an die Politik gestellt werden. Einige dieser Forderungen aus den letzten Wo- chen will ich einmal aufzählen. Zum Beispiel erklären die Airlines: Da war Asche am Himmel; jetzt brauchen wir Asche von der Politik. – „Asche für Asche“ ist eine Politik, die ich nicht beson- ders amüsant finde. Dabei handelt es sich um ein origi- näres Risiko einer Airline. Das kann nicht von der Poli- tik gelöst werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich habe auch ein Problem damit, dass wir jetzt eine Anschubfinanzierung für den Kauf von Elektromobili- tätsfahrzeugen leisten sollen. Es ist wiederum eine Auf- gabe der deutschen Industrie und der deutschen Automo- bilwirtschaft, solche Dinge ohne staatliche Hilfen zu machen. Der Staat kann nicht an allen Stellen eingrei- fend wirken und versuchen, die Fehler, die in der Ver- gangenheit in den Unternehmen vielleicht gemacht wor- den sind, überall zu korrigieren. Im Übrigen finde ich es hervorragend, dass der Bun- deswirtschaftsminister verhindert hat, dass Opel zusätz- liches Geld bekommt. Dass General Motors in der Lage ist, das alles selbst zu finanzieren, hat uns dieses Unter- nehmen drei Tage nach dem Entscheid des Bundeswirt- schaftsministers bestätigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eigentlich ist es schon eine ziemlich große Unverschämtheit, das Minis- terium über Monate mit allen möglichen Anträgen zu be- schäftigen – ich wüsste gerne einmal, wie viele Mann- tage dafür draufgegangen sind – und anschließend zu sagen: April, April! Wir brauchen euch gar nicht; wir können es alles selber. – Das ist schon höchst ärgerlich. So sollte man mit der Bundesregierung und dem Bundes- wirtschaftsministerium nicht umgehen. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5255 Dr. Michael Fuchs (A) (C) (D)(B) Einen letzten Punkt will ich erwähnen. Ich halte es für richtig, dass wir uns sehr intensiv mit dem Thema Ener- giepolitik beschäftigen. Dazu gehört für mich, dass die Kernenergie eine Brückentechnologie in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ist. (Klaus Barthel [SPD]: Brückentechnologie?) Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass bei den erneuerbaren Energien nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen können. Wenn in der Zeitschrift Photon – wahrlich kein Parteiblatt der CDU/CSU – jetzt festge- stellt wird, dass der Strompreis nächstes Jahr nur auf- grund der Fotovoltaik um bis zu 12 Prozent steigen wird, dann ist das mehr als bedenklich. Nächstes Jahr wird es im Rahmen des EEG mit Sicherheit zu einer Verdoppe- lung der Sätze kommen. Heute ist ein Aufschlag auf den Strompreis von ungefähr 2,04 Cent pro Kilowattstunde erforderlich; nächstes Jahr werden es über 4, annähernd 5 Cent pro Kilowattstunde sein. Was bedeutet das? Das bedeutet für einen Vierpersonenhaushalt, der ungefähr 3 500 Kilowattstunden im Jahr verbraucht, dass er allein im Rahmen des EEG bis zu 200 Euro zahlen muss. In die Richtung wird das gehen. Jeder, der da zusätzliche Forderungen aufstellt, sollte genau wissen, was er tut. Er sollte wissen, dass er damit die Wirtschaft und natürlich auch die Familien, die Haushalte überbelastet. Das ist meines Erachtens gefähr- lich. Da müssen wir jetzt einschreiten. Ich wünsche mir, dass der Bundesrat in der nächsten Woche eine kluge Entscheidung trifft, damit das Gesetz endlich in Kraft treten kann. Wir müssen schnell absenken. Das ist abso- lut notwendig. Für mich gehört noch etwas dazu: Bei dem Sparpaket müssen wir darauf achten, dass im Bereich der Strom- steuer keine Fehler gemacht werden; denn wir wollen die Industrie in Deutschland behalten. Meines Erachtens ist Deutschland ein Industrieland. Wir sind nur deshalb so gut aus der Krise herausgekommen, weil die Industrie in Deutschland schnell wieder angepackt hat, weil es schnell wieder vorangegangen ist. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem 27 Prozent des Bruttoinlands- produkts in der City of London erzeugt werden. Nicht in der Finanzwelt liegt die Chance für unser Land, sondern in der deutschen Industrie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Gregor Gysi erhält nun das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Her- ren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, auch Ihren Ausführungen zur Atomenergie. Ich habe an Sie die Bitte, einmal ganz im Ernst über Folgendes nach- zudenken: Eine Technologie muss man beherrschen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: So ist es!) Man muss sie auch im Falle eines Unfalls beherrschen können. Wenn uns je ein Atommeiler um die Ohren fliegt, können Sie – wie wir alle – nichts einschätzen. Sie wissen nicht, wie viele Tote es gibt. Sie wissen nicht, ob man unser Land noch bewohnen kann. Sie wissen nicht, wie viele Generationen das betrifft. Ich sage Ihnen: Las- sen Sie die Finger von einer Technologie, die wir alle nicht beherrschen! Kein Mensch in unserem Land hat verdient, dass Sie da umgekehrt vorgehen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Sie haben mit Stolz verkündet, dass die Wirtschaft wächst. Ich sage: trotz der Politik der Bundesregierung, nicht etwa wegen dieser Politik. Dann schauen wir uns einmal die drei Gründe dafür an: Der erste Grund ist, dass die Exporte nach China und Südostasien steigen. Warum? Weil die Chinesen ein gewaltiges Konjunkturprogramm gestartet haben, also das tun, was Sie für Deutschland gerade ablehnen. Dadurch können wir dorthin natürlich mehr exportieren. Der zweite Grund liegt in der Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar und anderen Währungen. Da- durch werden unsere Produkte billiger. Das hat noch nichts mit Qualität zu tun; sie werden erst einmal billiger und lassen sich leichter verkaufen. Der dritte Grund ist, dass die Löhne in Deutschland in den letzten zehn Jahren real um 11 Prozent gesunken sind. Dadurch haben Sie den Export erhöht. Das Pro- blem ist nur, dass die anderen Länder das merken. China will jetzt nicht mehr wie Deutschland das Land mit dem berühmten Exportüberschuss sein. China versucht, das zum Ende des Jahres hin zu korrigieren. Aber die Bun- desregierung hier in Deutschland korrigiert das über- haupt nicht. Sie von der Bundesregierung haben nicht begriffen, wie wichtig der Binnenmarkt, die Binnenwirt- schaft für Deutschland sind; Sie setzen allein auf den Ex- port, was falsch ist. (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen ist das Ganze eine Ausnahme im Jahr 2010. Das setzt sich im Jahr 2011 nicht fort, und das hat einen Grund. Als die Krise begann, hatten Sie eine an- dere Logik. Da hat Frau Merkel gesagt: Ich will auf gar keinen Fall ein Sparprogramm; ich will ein Konjunktur- programm. – Jetzt, mitten in der Krise, ändern Sie Ihre Logik. Sie haben übrigens nie erklärt, warum, warum also damals das Konjunkturprogramm richtig gewesen sein soll und warum es jetzt plötzlich richtig sein soll, dramatische Sozialkürzungen – ich werde darauf noch eingehen – vorzunehmen. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Jeweils antizyklisch, Herr Gysi!) – Ja, ja. Der Punkt ist, dass Sie auch andere Länder zu solchen Kürzungsprogrammen, die Sie fälschlich immer „Spar- paket“ nennen – da wird nichts gespart; Sie kürzen schlicht und einfach –, gezwungen haben, nämlich Grie- 5256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Gregor Gysi (A) (C) (D)(B) chenland, Spanien, Portugal, Irland, Großbritannien und Frankreich. Was ist Ihres Erachtens die Folge, wenn dort all diese Kürzungsprogramme durchgeführt sind? Die Folge ist, dass Deutschland dorthin weniger exportieren kann; denn die Kaufkraft nimmt ab, und deshalb werden weniger Produkte verkauft. Schon damit ist Ihr Boom be- endet. Da Sie selbst in Deutschland ein solches Sparpro- gramm, ein solches Kürzungsprogramm, durchführen, wird es hier entsprechende Folgen geben, worauf ich noch eingehen werde. Ich sage Ihnen: Die reine Export- orientierung muss weg. Wir brauchen eine deutlich stär- kere Binnenwirtschaft. (Beifall bei der LINKEN) Sie sagen in dem Zusammenhang, Herr Brüderle, dass es falsch wäre, wenn wir höhere Löhne in Deutsch- land hätten und ein Konjunkturprogramm durchführten. Ich habe an der Stelle auf zwei Sätze gewartet, in denen Sie das erklären oder begründen. Sie kamen nicht. Sie sagen einfach, es sei falsch. Wieso ist das falsch? Wieso ist es eigentlich falsch, unsere Binnenwirtschaft zu stär- ken? Wieso ist es falsch, mehr soziale Gerechtigkeit her- zustellen? Wieso ist es falsch, die Löhne endlich wieder an die Produktivitätsentwicklung anzupassen und damit zu steigern? Wieso ist es falsch, diejenigen, die Werte schaffen, daran finanziell zu beteiligen? Dafür habe ich von Ihnen keine Erklärung bekommen. (Beifall bei der LINKEN) Was machen Sie jetzt? Sie schlagen ein Kürzungspro- gramm vor. Ein erster Vorschlag ist die Umwandlung von Pflichtleistungen in Ermessensleistungen bei Ar- beitslosen. Wenn ich mich recht erinnere, hieß doch der Slogan „Fordern und Fördern“. Das Fördern soll jetzt gestrichen werden, wenn ich das richtig verstehe. Schließlich wollen Sie 16 Milliarden Euro bis 2014 ein- sparen. Das heißt, die ganzen Ausbildungsprogramme und die Trainingsprogramme, all das, was es sonst noch gibt, müssen von den Jobcentern gestrichen werden. Was bieten Sie denn dann den Arbeitslosen? Alle Programme sollen doch jetzt Ermessensleistungen werden. Ich weiß gar nicht, nach welchem Ermessen entschieden wird. Entscheidet dann ein Angestellter oder eine Angestellte darüber, je nachdem, ob er oder sie Lust hat oder nicht? Ermessen ist für mich Willkür. Nein, diese Leistungen müssen Pflichtleistungen bleiben. Das ist für mich ganz entscheidend. (Beifall bei der LINKEN) Ein anderer Punkt ist die geplante Streichung des Zu- schlages beim Übergang von Arbeitslosengeld I in Arbeitslosengeld II. Das ist grob ungerecht. Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Ein erwerbsloser Ingenieur bekommt Arbeitslosengeld I. Bisher war es so: Bevor dieser Ingenieur ALG II erhielt, bekam er ein Über- gangsgeld, damit er sich auf diesen Bruch, auf diese Ver- änderung seines Lebensstandards einstellen konnte. Jetzt aber wollen Sie diesen Zuschlag einfach streichen. Sie weigern sich, vom Millionär einen halben Cent mehr zu nehmen; aber dem ALG-II-Empfänger streichen Sie das Übergangsgeld. Das können Sie nicht erklären. Mit der Vokabel „Gerechtigkeit“ hat das Ganze überhaupt nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt komme ich zum Elterngeld; darüber hat auch Herr Fuchs gesprochen. Beginnen wir der Ehrlichkeit halber ganz von vorne: Am Anfang war die Große Ko- alition. Was hat diese Große Koalition beim Elterngeld gemacht, auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD? Stellen Sie sich doch einmal selbstkritisch hierhin und erklären Sie: Das war ein Fehler. – Bis dahin bekam die ALG-II-Empfängerin bzw. der ALG-II-Empfänger zwei Jahre lang Elterngeld in Höhe von monatlich 300 Euro. (Zuruf von der CDU/CSU: Erziehungsgeld!) – Ja, Sie haben es anders genannt. Aber faktisch gab es dieses Geld, und zwar 24 Monate lang. – In der Großen Koalition ist entschieden worden, die Dauer des Bezugs zu halbieren, also 12 Monate zu streichen, und zwar nur aus dem einen Grund, damit man in der Regel der bes- serverdienenden Frau – gelegentlich auch dem besser- verdienenden Mann – nicht mehr 300 Euro, sondern bis zu 1 800 Euro zahlt. Das heißt, die Sozialdemokratie Deutschlands hat zugestimmt, für ALG-II-Empfängerin- nen und -Empfänger die Dauer des Bezugs von Eltern- geld zu halbieren, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig! Das ist die Wahrheit!) damit die Bestverdienenden einen Betrag von 1 800 Euro bekommen können. Das ist völlig antisozialdemokra- tisch. Sagen Sie doch einmal ehrlich, dass das ein Fehler war. (Beifall bei der LINKEN) Dass die Union das macht, passt zu ihrer ideologischen Logik. Aber bei der SPD kann ich es nicht nachvollzie- hen. Jetzt passiert das, was immer passiert und was mich wirklich ärgert. Sie haben einen Schritt gemacht und die Dauer des Bezugs für ALG-II-Empfänger halbiert. Jetzt sagen Union und FDP: Gut, wenn die Tür schon einen Spalt geöffnet ist, dann machen wir sie ganz auf und strei- chen das Geld für ALG-II-Empfänger gänzlich. – Das ist die Folge. Ich sage Ihnen: Sie hätten sich das nicht ge- traut, wenn die SPD in der Großen Koalition nicht zuge- stimmt hätte, die Dauer des Bezugs zu halbieren. Sie hät- ten sich nicht getraut, das Geld für diese Menschen ganz zu streichen. Aber genau das machen Sie jetzt. Logisch, Herr Brüderle und Herr Fuchs, ist Ihre Argu- mentation überhaupt nicht. Sie erklären, man könne den ALG-II-Empfängern das Geld nicht zahlen, weil es eine Lohnersatzleistung sei. Es ist doch ganz egal, was es ist. Die Menschen bekamen dafür, dass sie Kinder haben, zusätzliches Geld – das war entscheidend und wichtig –, und zwar über einen bestimmten Zeitraum. Dieses Geld nehmen Sie ihnen jetzt einfach weg. Der Gattin des Millionärs, die ständig zu Hause ist und auch keine Lohnersatzleistung bekommt, sagen Sie, dass sie weiterhin Elterngeld bekommt; denn für sie wird Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5257 Dr. Gregor Gysi (A) (C) (D)(B) es nicht gestrichen. Erklären Sie das einmal der ALG-II- Empfängerin! Gehen Sie zu ihr und erklären Sie, warum die Frau des Millionärs Elterngeld bekommt und sie nicht! In beiden Fällen soll es doch keine Lohnersatzleis- tung sein. Sie bringen keine Logik in Ihre Politik hinein. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt 7 Millionen Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Es geht also um sehr viele Menschen. Dann wollen Sie die Heizkostenpauschale für Gering- verdiener streichen. Was sagen Sie diesen Menschen, wovon sie die Heizkosten bezahlen sollen? Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Gysi, Herr Geis möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ja, bitte. Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Kollege, würden Sie mit mir die Unterscheidung zwischen Elterngeld auf der einen Seite und Erziehungs- geld auf der anderen Seite machen? Erziehungsgeld wurde seit 1986 gezahlt, unabhängig davon, ob nun eine Frau zur Arbeit gegangen ist oder nicht. Das wurde als Er- ziehungsleistung abgegolten, weil die Frau eine be- stimmte Erziehungsleistung erbracht hat. Diese Erzie- hungsleistung erbringt sie nach wie vor, unabhängig davon, ob sie arbeitet oder nicht. Wegen dieser Erzie- hungsleistung bekommt sie die 300 Euro. Diese sollen er- halten bleiben. Was haben Sie dagegen? (Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich habe etwas dagegen, dass Sie die Erziehungsleis- tung der ALG-II-Empfängerin nicht anerkennen. Das ist mein Problem. Diese leistet doch auch Erziehungsarbeit. Warum bekommt sie kein Geld? Das können Sie nicht erklären. (Beifall bei der LINKEN – Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage) – Er möchte noch eine Frage stellen, Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie möchten offenkundig auch, dass er eine weitere Frage stellt. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das würde ich an seiner Stelle auch! Das ist ja entlarvend!) Dann stehe ich dem nicht im Wege. – Bitte schön. Norbert Geis (CDU/CSU): Stimmen Sie mit mir überein, dass es dadurch, dass die ALG-II-Empfängerin in Form von aufgestuftem Kin- dergeld eine Ersatzleistung bekommt (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das wird doch angerechnet! – Weitere Zurufe von der LIN- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – lassen Sie mich doch meine Frage beenden –, möglich ist, die 300 Euro zu streichen, weil in diesem Fall das Er- ziehungsgeld über das Kindergeld läuft? (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Nein. Das kann ich Ihnen deshalb nicht zubilligen, weil ja das Kindergeld, von dem Sie hier sprechen, jetzt nicht erhöht wird. Sie streichen vielmehr 300 Euro, weil Sie sagen, es sei eine Leistung, die nicht gerechtfertigt ist. Es ist ja nicht so, dass Sie zugleich das Kindergeld um 300 Euro erhöhen. Wenn das der Fall wäre, dann könnten wir darüber diskutieren. Aber genau das ma- chen Sie ja nicht. Deshalb handelt es sich um eine Schlechterstellung, und es bleibt dabei: Die Hausfrau des Millionärs bekommt weiterhin Geld – Sie nennen es hier nun Erziehungsgeld –, aber die ALG-II-Empfänge- rin bekommt nichts. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das Kindergeld wird verrechnet bei Hartz IV!) – Richtig, es kommt noch hinzu, dass das Kindergeld bei Hartz-IV-Empfängern verrechnet wird. Diese bekom- men gar kein Kindergeld, weil sie den Zuschlag für Kin- der bekommen. Darüber haben wir uns schon immer aufgeregt. Wir halten das für eine völlig falsche Heran- gehensweise. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt möchte ich gerne fortsetzen. Das Problem ist doch folgendes: Wir haben eine Krise. Es gibt einige, die die Schuld für diese Krise tragen. Die Schuldigen sind nämlich die Banker, die Spekulanten und diejenigen, die für bestimmte politische Entscheidungen verantwortlich sind. Als Ergebnis Ihres sogenannten Sparpaketes kommt nun heraus, dass weder die Banker noch die Spekulanten noch die Verantwortlichen in der Politik die Folgekosten dieser Krise bezahlen; vielmehr sollen diese die ALG-II- Empfänger und die Geringverdiener in Deutschland be- zahlen. Erklären Sie denen einmal, was daran gerecht sein soll. Nichts haben Sie bisher unternommen, damit die tat- sächlich Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden. Die Einkommen aus Unternehmenstätigkeit werden übrigens im nächsten Jahr um 7,1 Prozent steigen. Ihr Vorgehen hat, wenn Sie schon nicht sozial denken, auch wirtschaftliche Auswirkungen: Eine ALG-II-Empfänge- rin gibt all das Geld aus, das sie bekommt. Wenn Sie je- doch Herrn Ackermann 100 Euro mehr geben, dann kauft er nicht für 100 Euro mehr ein, sondern er spekuliert mit diesen zusätzlichen 100 Euro. Wenn Sie einer ALG-II- Empfängerin 10 Euro mehr geben, kauft sie dafür ein. Das heißt, die ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger 5258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Gregor Gysi (A) (C) (D)(B) wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so- wie die Geringverdiener würden die Binnenwirtschaft stärken, wenn sie mehr Geld hätten. Die wirklich Reichen und Vermögenden spekulieren bloß, wenn sie mehr Geld bekommen, aber stärken nicht die Binnenwirtschaft. Die- ser Unterschied muss doch einmal deutlich hervorgeho- ben werden. (Beifall bei der LINKEN) Ich stehe mit meiner Meinung nicht alleine da. Der Wirtschaftsrat der CDU hat verlangt, endlich einmal für eine gerechtere Steuerbelastung zu sorgen. Millionäre stellen sich hin und erklären sich bereit, höhere Einkom- mensteuern zu zahlen. Es ist doch wirklich grotesk: Nur die FDP und die Union weigern sich und handeln konse- quent dagegen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo bleiben Sie denn da?) – Ja, ich auch. Man sollte nur Politikern trauen, deren Vorschläge dazu führen, dass auch sie selber mehr Steu- ern zahlen müssen. Sie dagegen machen immer Vor- schläge, die dazu führen, dass Sie selber weniger Steuern zahlen. Das macht mich ungeheuer stutzig. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Jüngst haben Sie zusammen mit der SPD die Schul- denbremse eingeführt. Aufgrund dieser Schuldenbremse müssen bis 2014 knapp 96 Milliarden Euro eingespart werden. Sagen Sie mir doch einmal, wie. Sie sagen, die Hälfte solle durch Leistungskürzungen eingespart wer- den. Aber die Länder sind doch am Ende, und die Kom- munen sind schon kaputt. Wohin soll das noch führen? Schleswig-Holstein zum Beispiel hat die Schulden- bremse in die eigene Verfassung übernommen. Wozu führt das dort? Um die Schuldenbremse einzuhalten, muss man dort 5 300 Stellen, mehrheitlich im Schulbe- reich, streichen. An den Hochschulen werden bestimmte Studiengänge dichtgemacht. Die Landeszuschüsse für die Schülerbeförderung werden gestrichen. Es wird also in allen Bereichen der Bildung gespart. Wenn das alles nicht reichen sollte, dann sollen auch noch Schwimmbäder ge- schlossen und die Zahl der Kultureinrichtungen reduziert werden. Ich frage Sie: Was ist das Ziel? Wohin soll das in diesem Land noch führen? (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ha- ben Sie in Berlin doch auch alles gemacht! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die Verschuldung in Berlin ha- ben Sie doch zu verantworten!) – Ja, dass es Berlin schlecht geht, weiß ich. Im Unter- schied zu Ihnen, Herr Lindner, kümmern wir uns darum. (Beifall bei der LINKEN) Meine Frage an die in der Bundespolitik Verantwort- lichen lautet: Wohin soll das in diesem Land führen? Soll die kommunale Selbstverwaltung beseitigt werden und Zwangsverwaltung eingeführt werden? Wollen Sie keine Schwimmbäder und keine Kultur- einrichtungen mehr haben? Das kann doch nicht der richtige Weg sein. Wir brauchen endlich eine klare Kurs- korrektur. (Beifall bei der LINKEN) Sie sind stolz darauf, dass Sie die Zahl der Arbeits- losen reduzieren. Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: Der DGB hat ermittelt, dass wir 1,6 Millionen weniger Vollzeitstellen haben und die Zahl der sogenannten pre- kären Beschäftigungsverhältnisse um 1,7 Millionen zu- genommen hat. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Sie wollen mir wahrscheinlich sagen, dass ich zum Ende kommen soll. Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein, Sie wissen doch, dass ich mit Ihnen besonders großzügig umzugehen pflege. Der Kollege Lindner möchte ebenfalls durch eine Zwischenfrage Ihre Rede- zeit verlängern. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Na gut, Herr Lindner. Obwohl Sie mich schon in die Psychiatrie schicken wollten, höre ich mir Ihre Frage an. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Sie können jetzt ja beweisen, dass Sie da nicht hinge- hören. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ob ich Sie überzeugt bekomme? Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Sie verweisen darauf, dass in Schleswig-Holstein Stellen im Schuldienst abgebaut werden. Erklären Sie uns doch einmal, wie es dazu kommen konnte, dass Ihre Partei in der rot-roten Landesregierung von Berlin insgesamt 30 000 Stellen im öffentlichen Dienst abge- baut hat, das gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen GSW an die böse „Heuschrecke“ Cerberus und die In- vestmentbank Goldman Sachs verkauft hat und vor we- nigen Monaten auch noch dem Börsengang der GSW zu- gestimmt hat, der von Goldman Sachs und Cerberus betrieben wird. Wie kommt es, dass Sie hier in Berlin das Blindengeld gekürzt haben? Wie kommt es, dass Sie gerade im Bereich des Schuldienstes gekürzt haben? Herr Gysi, wie kommt es dazu, dass Sie uns hier den pu- ren Sozialismus predigen, aber dort, wo Sie mitregieren, das vollkommene Gegenteil machen? Wie kommt es, dass von Ihnen eine ganz andere Politik verantwortet wird? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Beifall für eine Frage heißt ja, dass Sie gar keine Ant- wort hören wollen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5259 Dr. Gregor Gysi (A) (C) (D)(B) (Jörg van Essen [FDP]: Weil wir sie schon kennen!) Im Klartext: Der Verkauf der Wohnungsbaugesell- schaft war meines Erachtens ein Fehler. Allerdings muss ich sagen, dass FDP, Union und Grüne daran beteiligt waren. Ich werde Ihnen auch sagen, warum. (Christian Lindner [FDP]: Ich dachte, Sie wol- len eine andere Politik machen!) – Ich werde es Ihnen erklären. Sie sind zum Landesver- fassungsgericht gegangen und haben gesagt: Der Haus- halt ist verfassungswidrig. Dann hat das Landesverfas- sungsgericht gesagt: Das stimmt. Es hat gesagt: Ihr müsst entweder die Einnahmen erhöhen oder bei den Leistungen kürzen. Weil man bei den Leistungen nicht kürzen wollte, ist man diesen Weg gegangen. Trotzdem sage ich: Er war falsch. Das war aber nicht in dieser Le- gislaturperiode, sondern in der vorigen. Dafür sind wir schon ausreichend bestraft worden. In dieser Legislatur- periode machen wir das wesentlich besser. (Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!) Zweitens. Was die Stellenkürzung betrifft, können Sie Schleswig-Holstein und Berlin nicht gut vergleichen. Diese Politik wurde schon von der Union eingeleitet. Das hing damit zusammen, dass zwei öffentliche Dienste zusammengekommen sind, nämlich der öffentli- che Dienst von Westberlin und der öffentliche Dienst von Ostberlin. Dadurch bedingt war vieles doppelt vor- handen. Das war wirklich eine Sondersituation. Eine solche Sondersituation hat Schleswig-Holstein nicht zu bewältigen. Es hat in Berlin nicht eine einzige betriebs- bedingte Kündigung gegeben, und dabei wird es auch bleiben. (Beifall bei der LINKEN) Mit dieser Ausnahme in Berlin streiten wir überall dafür, dass wir mehr Stellen im öffentlichen Dienst bekommen. (Beifall bei der LINKEN) Weiter mit dem Thema „prekäre Beschäftigung“. Sie haben Vollzeitbeschäftigung abgebaut und stattdes- sen die Bereiche der Teilzeitarbeit, der Leiharbeit und der 400-Euro-Jobs erweitert, und Sie haben den Kreis der Aufstockerinnen und Aufstocker und vor allem der befristetet Beschäftigten erweitert. Das war schon unter SPD und Grünen so, ist von der Großen Koalition fort- gesetzt worden und wird jetzt weiter fortgesetzt. Was glauben Sie, wie dadurch das Land verändert wird? Im- mer weniger Vollzeitbeschäftigung bedeutet eine Schwä- chung der Gewerkschaften – das wissen Sie natürlich –, aber das schwächt auch die Betroffenen. Es gibt immer mehr 400-Euro-Jobs und immer mehr befristete Arbeits- verhältnisse. Das, was Sie in diesem Zusammenhang or- ganisieren, ist alles nicht hinnehmbar. Zum Schluss muss ich kurz auf den G-20-Gipfel in Toronto eingehen. Was haben Sie dort verkündet? Sie haben gesagt: Die öffentlichen Schulden der Länder sol- len bis 2013 halbiert werden. Das ist doch ein Scherz. Die meisten Länder können das überhaupt nicht. Das ist nichts weiter als das Verkünden einer Illusion. US-Präsident Obama und sein Finanzminister haben Frau Merkel dringend gebeten, ihren harten Sparkurs in Deutschland einzustellen. Aber sie denkt gar nicht daran und hat dem widersprochen. Warum? Obama will eine Ankurbelung der Weltkonjunktur, während Sie organi- sieren, dass die Weltkonjunktur abstirbt. Dort ist ein tie- fer Gegensatz entstanden. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Obama hat doch zugestimmt! Lesen bildet!) Wenn ich an die Bankenabgabe und andere Dinge denke, muss ich sagen: In letzter Zeit hat Obama in der Regel recht und Sie unrecht. Es ist schon merkwürdig, welche Entwicklung wir hier zu verzeichnen haben. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt frage ich Sie: Was haben Sie bei der Regulierung der Finanzmärkte erreicht? Präsident Dr. Norbert Lammert: Mit dieser Fragestellung müssen Sie es dann auch fast bewenden lassen. Die Antwort darauf müssen andere ge- ben. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Das ist sehr bedauerlich. Herr Präsident, sehen Sie einmal, was Sie versäumen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ja, Sie können mir das Manuskript Ihrer Rede gerne zur Verfügung stellen. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Als Letztes sage ich Ihnen: Ihr Versuch, zulasten der sozial Schwachen die Krise zu lösen, ist ungeheuerlich, ist ungerecht und muss schiefgehen. Sie müssen endlich einmal den Mut haben, bei den wirklich Vermögenden, bei den Bestverdienenden die Steuern zu erhöhen oder entsprechende Steuern einzuführen. Dafür stehen Sie nicht. Deshalb setzt sich jetzt der schwarze Tag von ges- tern als schwarzer Tag für die Bevölkerung fort. Hoffen wir, dass es bald einmal einen roten Tag gibt. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwarze Monate!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Hermann Otto Solms ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Unterhaltungsleistung von Herrn Gysi lässt nicht nach, die inhaltliche Substanz seiner Ausführungen 5260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) ist so dünn wie immer. Das beweist sich an den prakti- schen Beispielen: Als er in der Verantwortung stand, konnte er nichts liefern. (Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU]) Im Namen der FDP-Fraktion möchte ich dem Wirt- schaftsminister für den ermutigenden Bericht, den er hier vorgelegt hat, danken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Bundesregierung, die ja für Fehler in der volkswirt- schaftlichen Entwicklung haftbar gemacht wird, muss belobigt werden, wenn es gut läuft. Denn es ist ja nicht ganz ohne ihr Zutun, dass wir eine so positive wirt- schaftliche Entwicklung haben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wenn Sie das in den Zusammenhang mit den sozial- politischen Aufgaben stellen, die wir zu bewältigen ha- ben, so ist es das ehrgeizigste, das vornehmste Ziel der Sozialpolitik, Menschen, die von Transfereinkommen abhängig sind, wieder in Lohn und Brot zu bringen, da- mit sie eigenständig und eigenverantwortlich handeln können, ihre Familie ernähren können und nicht von an- deren abhängig sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerade in diesem Bereich haben wir jetzt die größten Er- folge erzielt; das zeigen die Daten. Die Arbeitslosigkeit geht unerwartet stark zurück. Wir stellen fest: Wir haben schon wieder Knappheit an Facharbeitern. Wenn die Prognosen stimmen, werden wir im nächsten Jahr im Durchschnitt die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 1991, also seit der deutschen Einheit, erreichen. Das hätte im letzten Jahr niemand erwartet. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Maßnahme, die diese Bundesregierung gerade am Anfang ihrer Tätigkeit geleistet hat, nämlich das Wachs- tumsbeschleunigungsgesetz gegen den geballten Wider- stand der Opposition und der Journaille durchzusetzen, hat wesentlich dazu beigetragen. 22 Milliarden Euro wurden seit 1. Januar 2010 für die Bürger freigegeben. Die Bürger nutzen das, wo immer sie können. Durch Konsum und durch Investitionen stärken sie diesen Wachstumsprozess und tragen dazu bei, dass der Wachs- tumsprozess ein dauerhafter ist. Die Wirtschaftskrise ist überwunden. Deswegen müs- sen wir von kurzfristigen Wirtschaftskrisebekämpfungs- maßnahmen zu dauerhaften, ordnungspolitisch sauber angelegten Maßnahmen der Wirtschaftspolitik kommen. Der Wirtschaftsminister hat hier an die Ordnungspolitik deutscher Prägung erinnert; denn es ist ganz wichtig, dass wir diese ordnungspolitischen Prinzipien wieder einhalten. Der Staat setzt die Regeln und achtet darauf, dass die Regeln eingehalten werden. Aber er darf nicht mitspielen; denn wenn er mitspielt, verletzt er die markt- wirtschaftlichen Prinzipien, verletzt er den Wettbewerb. Das hat das Fußballspiel gegen Serbien gezeigt: Wenn der Schiedsrichter einseitig eingreift und den besten Spieler einer Mannschaft vom Feld stellt, kann kein neu- trales Ergebnis, kein vernünftiges Wettbewerbsergebnis erzielt werden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Ihr würdet die Regeln alle ab- schaffen! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der beste Spieler war Herr Klose aber nicht!) Genau so muss der Staat in Zukunft vorgehen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP fordert die Abschaffung des Schiedsrich- ters! Toll!) Das hat Rainer Brüderle in der Causa Opel genau vorge- führt. Gegen den Widerstand auch in der eigenen Regie- rung hat er ordnungspolitisch saubere Politik durchge- setzt. Binnen kürzester Zeit – das haben wir alle nicht erwartet – hat sich gezeigt, dass das tatsächlich die rich- tige Maßnahme war. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen kann ich ihn nur ermutigen, genauso fortzu- fahren, also eine ordnungspolitisch saubere Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik zu betreiben. Das wird allen in Deutschland helfen. Nun kommt es zu Aussagen wie von Herrn Gysi, die Löhne seien gesunken. Sie sind nicht gesunken, aber die Lohnstückkosten, auf die es im Wettbewerb ankommt, sind in Deutschland sehr maßvoll gestiegen. Das bekla- gen nun unsere Wettbewerbsländer. Dazu kann man nur sagen: Macht es doch nach! (Klaus Barthel [SPD]: Lohndrückerei!) Wir haben dadurch erreicht, dass wir unter allen In- dustriestaaten weltweit den höchsten Anteil des produ- zierenden Gewerbes am Sozialprodukt haben. Wir wer- den von allen Ländern beneidet. Bei uns beträgt der Anteil des produzierenden Gewerbes am Bruttoinlands- produkt 22 bis 23 Prozent. Wenn wir die Bauwirtschaft mit einbeziehen, sind es knapp 27 Prozent. Das liegt noch über dem Niveau von Japan. In anderen europäi- schen Staaten dagegen ist der Anteil stark gesunken. Wir überwinden diese Krise deswegen besser und nachhaltiger, weil wir uns in Deutschland eine so gute Struktur mit kleinem und mittelgroßem Gewerbe, produ- zierendem Gewerbe, Dienstleistungsgewerbe und Ähnli- chem erhalten haben. Darum werden wir beneidet. Dies hat Paul Volcker vor kurzem in einem Zeitungsbeitrag festgestellt. Er hat gesagt, es wäre gut, wenn sich die Vereinigten Staaten an Deutschland orientieren und grö- ßeren Wert auf das produzierende Gewerbe gelegt hät- ten. Auf Großbritannien will ich jetzt gar nicht eingehen. Dort ist es noch viel dramatischer. Jetzt kommt es darauf an, die Aufgaben, die sich uns stellen, möglichst schnell und klar zu lösen. Wir brau- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5261 Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) chen klare Konzepte in der Energiepolitik. Die Bun- desregierung hat angekündigt, das bis zum Herbst zu leisten. Ich bitte auch darum, dass die unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Bundesregierung selbst geklärt werden statt in der Öffentlichkeit, sodass wir dann ge- meinsam handeln können. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh je! Gemeinsam handeln mit euch! Die nächste Drohung!) Wir brauchen klare Konzepte in der Gesundheitspo- litik. Wir alle wissen, dass Gesundheit durch den medi- zinischen Fortschritt und die längere Lebenserwartung der Bevölkerung immer teurer wird. Das ist unvermeid- lich. Nun müssen wir dafür sorgen, dass das System so effizient wie möglich arbeitet. Deswegen brauchen wir in diesem Bereich mehr Wettbewerb – daran führt kein Weg vorbei –, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit der Kopfpauschale?) um die Effizienzreserven zu heben. Aber die steigenden Kosten müssen auch getragen und verteilt werden. Hier geht es darum, mehr Eigenverantwortung und Mitwir- kung der Betroffenen, der Patienten, aber selbstverständ- lich auch der Dienstleister im Gesundheitssystem zu er- reichen. Wir brauchen endlich Entscheidungen, die nach vorne gerichtet sind, statt an der überkommenen, aber nicht mehr tragfähigen Gesundheitspolitik festzuhalten, wie wir sie erlebt haben. (Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit der Kopfpauschale?) Ich empfinde die Wahl des Bundespräsidenten ges- tern als eine symbolische Handlung. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir auch! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es gefährlich!) – Ich werde es Ihnen erläutern. Zugegeben, die Koalition hat am Anfang geschwächelt. Sie hat sich im zweiten Wahlgang deutlich gesteigert und dann, als es darauf an- kam, die absolute Mehrheit erreicht. (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und der LINKEN – Garrelt Duin [SPD]: Weit unter Ihren Möglichkeiten! – Fritz Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso hat die FDP 4 Prozent?) Die linke Seite konnte sich bis zum letzten Wahlgang nicht einigen. Die SPD schiebt nun die Verantwortung auf die Linken. Das ist völlig grundlos; denn man hat sich vorher nicht einigen können. Außerdem ist es auch noch mathematisch falsch. Die Linken sind nicht verant- wortlich, sondern wir haben unsere Mehrheit selbst er- reicht. (Beifall bei der FDP – Lachen bei der LINKEN) Die Bundesregierung hat in ihrer Arbeit in allen Be- reichen am Anfang etwas geschwächelt. Jetzt nimmt sie Fahrt auf. Wir sind mitten in der Wahlperiode. Ich sage Ihnen voraus: Je näher wir der nächsten Bundestagswahl kommen, desto stärker werden wir. Machen Sie sich da- rauf gefasst. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be- vor ich mit meiner wirtschaftspolitischen Rede beginne, will ich kurz auf Sie eingehen, Herr Solms. Wenn Sie den Verlauf der Wahl gestern so darstellen, wie Sie es gerade getan haben, dann hätte ich auch gerne eine Er- klärung, warum die FDP in den Umfragen inzwischen bei 4 Prozent gelandet ist. Ich zitiere gern die taz, die, wie ich finde, sehr deutlich getitelt hat: „Einfach, niedrig und gerecht“. Das beschreibt, wo Sie gerade stehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Herr Brüderle, der Aufschwung ist nicht Ihr Ver- dienst. Sie haben in den letzten Monaten nichts dafür ge- tan, dass dieser Aufschwung kommt. Das Schlimme ist: Die Maßnahmen, die Sie jetzt ergreifen, werden diesen Aufschwung abwürgen. Ich werde das im Einzelnen dar- legen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizie- ren für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2 Pro- zent. Aber schon im kommenden Jahr soll das Wirtschaftswachstum nur noch 1,5 Prozent betragen. Jetzt werden die Weichen gestellt: Entweder wir schaf- fen es, diesen Aufschwung zu verstetigen, oder aber wir würgen ihn ab. Der Aufschwung steht auf zwei Beinen. Viele meiner Vorredner haben über die Auslandsnachfrage gespro- chen. Die Auslandsnachfrage ist in weiten Teilen abhän- gig von einem schwachen Euro. Das kann sich wieder ändern. Die Stabilität des Euros können wir nur wenig beeinflussen. Aber der Wirtschaftsminister muss durch- aus die Entwicklung des Euros beobachten. Auf dem Bein „Stabilität des Euros“ allein können wir nicht ste- hen. Allein auf dem zweiten Bein können wir aber auch nicht stehen. Der Aufschwung ist in weiten Teilen verur- sacht durch die Konjunkturprogramme. Weltweit sind über 1 Billion Euro in Konjunkturprogramme investiert worden. Diese Programme laufen aus. Das heißt, auch dieses Bein bricht weg. Wir von den Grünen sind der Ansicht, dass diese Konjunkturprogramme ein Ende haben müssen. Staatli- che Stützungsprogramme in dieser Größenordnung kön- nen wir gar nicht dauerhaft finanzieren. Über die eine oder andere Maßnahme muss man reden; aber in dieser Größenordnung kann nicht weiter finanziert werden. Wir haben heute eine Rekordneuverschuldung von 65 Milliarden Euro. Eines der Worte, die ich in den letz- ten Monaten bei Ihnen, aber auch in der Debatte insge- 5262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Kerstin Andreae (A) (C) (D)(B) samt völlig vermisst habe, ist das Wort „Generationenge- rechtigkeit“. Diese Neuverschuldung ist ein Angriff auf die Generationengerechtigkeit, und da machen die Grü- nen nicht mit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wie das denn?) Was ist jetzt zu tun? Drei Sachen: Sie müssen sparen, ohne den Aufschwung abzuwürgen. Sie müssen die Ein- nahmen verbessern, und vor allem müssen Sie in die Zu- kunft investieren – in Klima, in Effizienz bei Ressourcen und in Bildung. (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Ja, machen wir doch!) Auf die damit verbundenen Fragen können Sie die richti- gen oder die falschen Antworten geben. Sie geben die falschen Antworten. Ich erkläre Ihnen das im Einzelnen. Was wäre denn „richtig sparen“? Sparen Sie endlich unsinnige Verkehrsprojekte ein. Bei mir in Süddeutsch- land gibt es eines der unsinnigsten Verkehrsprojekte überhaupt: Stuttgart 21. Sie verbuddeln dort Milliarden Euro, indem Sie einen Bahnhof unter die Erde legen. Be- erdigen Sie dieses Projekt! Das wäre eine sinnvolle Sparmaßnahme. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Typisch Grüne!) Aber Sie sollten auch einmal Ihre Förderprogramme durchforsten; allein das Wirtschaftsministerium hat 55. Wir Grüne werden eines machen: Wir werden uns Stück für Stück jedes einzelne dieser Förderprogramme an- schauen und im Hinblick auf seine ökologische Ausrich- tung – die fast nicht vorhanden ist – untersuchen. Wir werden Ihnen sagen: Wir können mit weniger und mit klareren Programmen mehr erreichen als mit dieser ver- stückelten Wirtschaftsförderungspolitik. Wir werden zei- gen, wo Sie Geld sparen können und wie Sie das einge- sparte Geld richtig einsetzen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dass Sie falsche Antworten geben, zeigt sich auch da- ran, dass Sie bei den Ärmsten sparen. Teilweise verste- hen Sie gar nicht, was man Ihnen vorwirft. Der Disput zwischen Herrn Gysi und Herrn Geis war ziemlich inte- ressant. Auf einmal wurde klar, welche fachlichen Lü- cken (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Löcher!) in der Koalition zuweilen vorhanden sind. Sie wissen ja gar nicht, worüber Sie reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Dennoch treffen Sie auf diesem Gebiet Entscheidungen. Wenn das eine Standbein „Auslandsnachfrage“ und das andere Standbein „Konjunkturprogramme“ zumin- dest nicht ganz auf festen Füßen stehen und der Auf- schwung daher gefährdet ist, dann brauchen wir ein drit- tes Standbein. Dieses dritte Standbein sind die Binnennachfrage und die Binnenkonjunktur. Notwen- dig ist also eine Investitionsoffensive im Inland im Be- reich Bildung und im Bereich Klima. Notwendig ist na- türlich auch, die Binnennachfrage derjenigen zu stärken, die wenig Geld haben. Sie haben gesagt: Wir wollen zahlreiche Konjunktur- programme auflegen, um Arbeitslose wieder in Arbeit zu bringen. D’accord; das klingt gut. Warum kürzen Sie dann aber 16 Milliarden Euro bei Qualifizierung und Umschulung, also bei genau denjenigen Maßnahmen, durch die Arbeitslosen geholfen wird, sich auf dem Ar- beitsmarkt zu etablieren? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Natürlich müssen Sie die Einnahmen verbessern. Mit Sparen allein werden Sie nicht hinkommen; das wissen Sie aber auch. Ich fand es niedlich, dass das Nachdenken über eine Anhebung des Spitzensteuersatzes in der FDP als Steuerrebellion empfunden wird. Ich weiß nicht, was Sie unter Rebellion verstehen. Über eine solche Anhe- bung ist nur nachgedacht worden. Entsprechende Über- legungen sind gleich wieder eingesammelt worden, an vorderster Front von Ihnen von der FDP, wie wir haben lesen dürfen. Dabei werden Sie zum Jagen getragen. Die Leute sagen Ihnen: Erhöhen Sie den Spitzensteuersatz! (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was habt ihr denn damals gemacht?) Wir alle, die wir hier sitzen, sind von Ihrem Sparpro- gramm in keiner Weise betroffen. Im Gegenteil: Durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben diejenigen von uns, die Kinder haben, noch mehr bekommen. Das ist sozial ungerecht; das schafft eine Schieflage. So geht es nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Es wäre auch richtig, klimaschädliche Subventionen zu streichen. Das Umweltbundesamt spricht von Sub- ventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro jedes Jahr. Wenn Sie anfangen, klimaschädliche Subventionen zu streichen, machen Sie dreierlei: Erstens helfen Sie der Wirtschaft, umzusteuern – das ist notwendig –, zweitens machen Sie etwas für das Klima, drittens machen Sie et- was für die Haushalte. Streichen Sie Steuervorteile für große Dienstwagen! Schaffen Sie Ökosteuersubventio- nen für energieintensive Unternehmen sukzessive ab! (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Vertreiben Sie Unternehmen aus Deutschland!) Sie sagen natürlich, dass Sie bei der Steinkohle strei- chen. Machen Sie aber einmal einen konkreten Vor- schlag! Wir bringen einen konkreten Vorschlag ein, der in die Ausschüsse geht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und in Nordrhein-Westfalen schreiben Sie das in den Koalitionsvertrag!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5263 Kerstin Andreae (A) (C) (D)(B) Ich bin sehr gespannt, wie Sie von der Koalition sich dazu verhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihre Antworten reichen nicht aus. Ihre Politik ist unso- zial und ökologisch blind. Warum müssen wir uns jetzt Einnahmen und Ausga- ben anschauen? Warum müssen wir darauf achten, dass der Staat handlungsfähig bleibt? Weil wir in die Zukunft investieren müssen. Wie lautet die richtige Antwort? Sie sagen, die Krise sei vorbei. Die Kanzlerin hat immer ge- sagt, es sei wichtig, dass wir nach der Krise wieder so dastehen wie vor der Krise. Das ist ganz gefährlich. Ent- scheidend ist doch, dass wir jetzt die Weichen richtig stellen. Die Weichen liegen bei der Ökologie: Die Öko- logie ist die beste Ökonomie des 21. Jahrhunderts. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Jeder Platz in der Solarindustrie wird mit 153 000 Euro ge- fördert!) In zehn Jahren – wir alle werden es hoffentlich erle- ben – werden vier von zehn neu zugelassenen Autos in Europa einen Elektromotor haben. Gestern schrieb das Handelsblatt, dass die Börse das Elektroauto feiert. Die Börse feiert aber in Amerika; nicht bei uns. Wenn wir die Chancen auf diesem Markt nicht nutzen, dann ver- schlafen wir einen Riesenmarkt. Was machen Sie? Sie lassen sich für Ihren Umgang mit Opel feiern. Helfen Sie lieber der Automobilindus- trie, auf neuen Pfaden zu gehen! Schaffen Sie ein Markt- anreizprogramm für schadstoffarme Autos! Geben Sie mehr Forschungsmittel für Speicher, Werkstoffe und An- triebe aus! Entwickeln Sie intelligente Verkehrskon- zepte! Dann bewegen Sie sich in einem Zukunftsmarkt; das wäre richtig. Vielleicht werden Sie dann dafür gefei- ert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben in Deutschland 18 Millionen Wohnungen. Wir fordern eine Sanierungsquote von 3 Prozent. Das heißt: 540 000 Wohnungen sollen jedes Jahr saniert wer- den. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was kostet das denn?) Das ist dringend notwendig, für das Klima, aber auch für die Arbeitsplätze im Handwerk. Was glauben Sie, welch enormen Impuls Sie geben können, wenn Sie ein ge- scheites, vernünftiges Gebäudesanierungsprogramm auf den Weg bringen! Das lohnt sich auch noch, weil je- der Euro doppelt und dreifach zurückkommt, zum einen durch Steuern und Abgaben, zum anderen, weil öffentli- che Investitionen private Investitionen nach sich ziehen. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, die Mittel für das Gebäudesanierungsprogramm zu erhöhen. Was macht die Koalition? Sie hat es abgelehnt. Das ist ökonomisch blind. Die Zukunft der Wirtschaft – – (Patrick Döring [FDP]: Da klatscht keiner im Saal! Denken Sie einmal darüber nach!) – Ach! Ich bin mir sicher, dass ganz schön viele im Saal klatschen werden, wenn ich sage, dass die Koalition ökologisch blind ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der FDP: Oh!) Vor 20 Jahren betrug der Ölpreis 18 Dollar pro Barrel. Damals ist prognostiziert worden, dass er in 20 Jahren 50 Dollar pro Barrel beträgt. Heute liegen wir bei 76 Dollar pro Barrel. Dieser Preis ist relativ niedrig; vor zwei Jahren war der Preis schon deutlich höher. Wenn wir es nicht schaffen, den Unternehmen zu helfen, sich auf sinkende Rohstoffmengen und steigende Rohstoff- preise einzustellen, dann haben wir nicht begriffen, wie wir unsere Wirtschaft umstellen müssen. Deswegen sa- gen wir: Sie geben in diesem zarten Aufschwung die falsche Antwort, weil Sie den Unternehmen nicht hel- fen, sich umzustellen. Wir geben die richtigen Ant- worten. Die Effizienzrevolution im Bereich der Mate- rialeffizienz und der Energieeffizienz ist einer der entscheidenden Punkte. Da müssen wir hin: unsere Kreativität, unser Mut und unsere Entschlossenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zum Schluss. Nietzsche hat gesagt: „Den Stil verbessern, das heißt den Gedanken verbessern“. Ihr Stil steht seit Monaten zu Recht in der Kritik. Der Grund sind Ihre Ideen und der Streit, den Sie aufgrund dieser Ideen haben. Ich sage Ihnen: Grüne Ideen sind besser und, glauben Sie mir, unser Stil ist es auch! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPD- Fraktion. – Nein, das ist gar nicht wahr. Zuerst ist der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion dran und dann der Kollege Barthel. Das entspricht offen- kundig auch den beiderseitigen Erwartungen, sodass wir Irritationen vermeiden sollten. Bitte schön. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Im Mittelpunkt der heutigen Regierungserklärung steht das Thema Aufschwung. Es ist in der Tat sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, was hinter uns liegt. Es wurde bereits angesprochen: Es ist noch keine zwei Jahre her, dass wir in den Abgrund geblickt haben. (Rita Pawelski [CDU/CSU]: So ist es!) Es wurden 5 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Im letzten Jahr hatten wir einen noch nie da gewesenen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5 Prozent, von den Turbulenzen auf den Finanzmärkten ganz zu schweigen. Keiner wusste genau, was zu tun ist, weil diese Situation kein historisches Vorbild hatte. Die Politik hat national, auf europäischer Ebene und international gehandelt. Die Finanzmärkte wurden mit Rettungsschirmen stabilisiert. Weltweit wurden Konjunk- turprogramme initiiert. In Deutschland wurden Konjunk- turpakete mit einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden 5264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Joachim Pfeiffer (A) (C) (D)(B) Euro geschnürt, was in der Krise zu Stabilität, Sicher- heit und Vertrauen geführt hat. In diesem Jahr – wir hatten bereits die Hoffnung, dass es aufwärts geht – ha- ben wir die Bürger mit dem Bürgerentlastungsprogramm und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz nochmals um rund 23 Milliarden Euro entlastet. Das ist die größte Entlastung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je gab. Das sind die Fakten, die man sich vergegenwärtigen sollte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Fakten sprechen eine klare und deutliche Spra- che. Die Finanzmärkte sind wieder stabiler. Am heuti- gen Tag wird das von der Europäischen Zentralbank gewährte Jahresgeld in Höhe von 442 Milliarden Euro – das war die größte Summe, die jemals für ein Jahr ge- währt wurde –, geräuschlos zurückgezahlt werden kön- nen. Das zeigt: Es ist wieder Vertrauen in die Märkte vorhanden. Die Banken leihen sich gegenseitig wieder Geld. Wir können also hoffen, dass die Finanzmärkte wieder stabiler sind. Wir müssen und werden nun mit weiteren Instrumenten dafür sorgen, dass sich eine sol- che Krise nicht wiederholt. Auch auf den Gütermärkten, die vor allem durch staatliche Aktivitäten stabilisiert wurden – Stichwort: Umweltprämie; zu nennen sind auch die Bereiche ener- getische Sanierung und Handwerk –, wurde das Ver- trauen gefestigt und Umsatz geschaffen. Das ist nicht al- lein auf staatliche Stimulanzien zurückzuführen, sondern wir haben einen selbsttragenden Aufschwung, der dazu führt, dass sich die Wirtschaft weiter stabilisiert. Die Au- tomobilindustrie und die Maschinenbauindustrie sind er- freulicherweise wieder gut ausgelastet. Aufträge sind vorhanden. Zum Teil werden wieder Sonderschichten gefahren. Wir können also von einem selbsttragenden Aufschwung sprechen. Das Szenario von 5 Millionen Arbeitslosen ist nicht eingetreten. Erfreulicherweise bewegt sich die Arbeits- losigkeit auf einem Niveau von 3 Millionen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Keiner hat uns das zunächst zugetraut. Nun spricht die ganze Welt vom „German Jobwunder“. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) 2 Millionen weniger Arbeitslose zu haben, bedeutet – die Zahlen wurden eben genannt –, dass mehr in die Sozialkassen eingezahlt wird. 100 000 Arbeitsplätze bringen mehr als 80 Millionen Euro an zusätzlichen Ein- nahmen für die Bundesagentur für Arbeit. Wären sie weggefallen, wären Kosten für Arbeitslosengeld I usw. in Höhe von 1,6 Milliarden Euro angefallen. Uns ist insgesamt ein Betrag von 40 Milliarden Euro erspart geblieben. Und „uns“ heißt in dem Fall dem Steuerzahler, weil er keine Steuern dafür aufbringen muss, und dem Beitragszahler, weil er keine höheren So- zialversicherungsbeiträge aufbringen muss. Das ist die beste Art und Weise, dieses selbsttragende Wachstum weiter zu beschleunigen und anzuheizen. (Beifall bei der CDU/CSU) Was werden wir weiter tun? Wir werden das Wachs- tum stabilisieren und beschleunigen, und wir werden in- telligent sparen und konsolidieren. (Garrelt Duin [SPD]: Was heißt das denn?) Wie wollen wir das Wachstum beschleunigen? Wir wol- len mehr Wettbewerb durch moderne und wettbewerbs- fördernde Regulierungen in den Gütermärkten. Bei- spielsweise werden wir das Telekommunikationsgesetz und das Postgesetz novellieren und dafür sorgen, dass es mehr Wettbewerb gibt, der dann auch mehr Arbeits- plätze schafft, und dass wir einen Infrastrukturwettbe- werb bekommen. Bei den vor- und nachgelagerten Diensten in diesen Bereichen wollen wir neue Dienst- leistungen ermöglichen und damit neue Arbeitsplätze schaffen, wodurch zusätzliches Wachstum entsteht. Wir werden weiter entbürokratisieren. Das bringt der Wirtschaft etwas und kostet nichts. Nehmen wir ein ein- faches Beispiel: Wir haben uns vorgenommen, Schwel- lenwerte zu vereinheitlichen und Aufbewahrungsfristen zu verkürzen. Jeder Freiberufler, jeder Unternehmer muss heute seine Rechnungen zehn Jahre lang aufbe- wahren. Die elektronische Rechnungserstellung funktio- niert noch nicht richtig. Der Normenkontrollrat hat aus- gerechnet, dass allein diese Aufbewahrungsfristen fast 7 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Wenn wir vernünftige Regelungen umsetzen und beispielsweise die Aufbewah- rungsfristen halbieren, dann können wir auch hier Wachstum schaffen und sinnvolle neue Ansätze bringen, ohne dass wir uns deswegen verschulden müssten. Wir werden auch im Energiebereich Wachstumspo- tenziale mobilisieren. Energieeffizienz ist in der Tat un- ser Thema. Wir wollen die Energieeffizienz bis zum Jahr 2020 noch einmal verdoppeln. Wir hatten das schon ein- mal – von 1970 bis 1990 – geschafft. Das ist eine große Herausforderung; aber wir werden es angehen, die ent- sprechenden Instrumente zu schaffen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr müsst was machen!) Wir werden einen Energiemix schaffen und die Poten- ziale, die dort vorhanden sind, heben. Wir wollen den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Gegenüber heute wollen wir sie im Strombereich bis zum Jahre 2020 auf über 30 Prozent, vielleicht sogar 35 Prozent steigern. Der Strom muss dann aber immer noch zu 60, 65 oder 70 Prozent von irgendwo anders kommen. Der kommt ja nicht vom Mond, Herr Kuhn, auch bei Ihnen nicht. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von der Sonne! – Renate Künast [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Mond hat doch keinen Strom! Er ist ein Planet, Sie Irrlicht! Er ist ein Planet, kein Stern!) – Oder aus der Steckdose. – Die volkswirtschaftlichen Folgen der Fotovoltaik hat der Kollege Fuchs vorhin schon angesprochen. Deshalb werden wir auch die volkswirtschaftlichen Potenziale der Kernenergie nut- zen. Nicht wir, sondern das Öko-Institut und das RWI haben ausgerechnet, dass dort ein volkswirtschaftlicher Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5265 Dr. Joachim Pfeiffer (A) (C) (D)(B) Nutzen in einer Höhe von 250 Milliarden Euro verloren gehen würde. Deshalb werden wir die Laufzeiten sub- stanziell verlängern und dafür sorgen, dass dieses nicht allein den großen Vier zugute kommt. Vielmehr werden wir eine den Wettbewerb stimulierende Lösung finden, sodass der Wettbewerb weiter vorankommt. Diese Po- tenziale werden der gesamten Wirtschaft und letztlich auch dem Bürger zugute kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte, weil das auch heute wieder erwähnt wurde, das Thema Binnennachfrage und Lohn anspre- chen. Es wurde gesagt, die Löhne würden zurückgehen. Das stimmt überhaupt nicht. Wir haben immer noch mit die höchsten Lohnkosten in Europa. Es ist in der Tat aber so: Wenn man den Unterschied zwischen Lohnstückkos- ten und Lohnkosten nicht kennt, wird es schwierig. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist wie mit dem Unterschied zwi- schen Kindergeld und Elterngeld!) Herr Solms hat ja versucht, Ihnen das darzulegen. Es hat sich in den letzten 20 Jahren empirisch erwie- sen: Jedes Prozent Reallohnanstieg führt zu einer Steige- rung der Binnennachfrage von 0,3 Prozent. Jedes Pro- zent Beschäftigungsanstieg dagegen führt zu einer Steigerung der Binnennachfrage von 0,8 Prozent. Das heißt, die beste Förderung der Binnennachfrage besteht in einer guten Beschäftigungspolitik bzw. in der Erwei- terung des Arbeitsvolumens. (Klaus Barthel [SPD]: Das Beste wäre: Alle würden arbeiten und kein Geld dafür bekom- men! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ein Quatsch! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Aber nur, wenn es ordentlich bezahlt wird! Wir brauchen vernünftige Löhne!) Wir haben dazu einiges in Bezug auf den Arbeitsmarkt getan. Es ist beispielsweise gelungen, vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2008 die Erwerbsbeteiligung der Älteren – der 55- bis 64-Jährigen – von unter 40 Prozent – 37,6 Pro- zent – auf 54 Prozent konsequent zu steigern. Daran werden wir auch weiterhin arbeiten. Beim Elterngeld – es ist vorhin schon angesprochen worden – wollen wir Wahlfreiheit für Familien und Al- leinerziehende. Wir können es uns auch angesichts der demografischen Situation nicht leisten, zukünftig auf dieses volkswirtschaftliche Asset zu verzichten. Dieses Jahr werden wir am Ausbildungsmarkt einen Wendepunkt erleben. Der Ausbildungspakt wird neu ge- staltet werden. Bisher ging es darum, genug Ausbil- dungsplätze zur Verfügung zu stellen. Das wird zukünf- tig nicht mehr die Herausforderung sein. Es wird zukünftig mehr Ausbildungsplätze geben, als Bewerber vorhanden sind. Die Facharbeiter- bzw. Fachkräftelücke zeichnet sich schon ab. Diese Entwicklung ist der Demo- grafie geschuldet. (Garrelt Duin [SPD]: Da wäre eine moderne Einwanderungspolitik vonnöten!) Unser Ziel ist, vor allem die Bereiche, in denen noch etwas zu tun ist, besser zu fördern. Als Beispiele nenne ich Migranten und Menschen, die schlecht ausgebildet sind oder keinen Abschluss haben; beide Gruppen sind häufig identisch. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Für die strei- chen Sie die Förderprogramme!) Diese Klientel müssen wir ganz besonders in den Blick nehmen und effektiver fördern. Das werden wir bei- spielsweise beim Ausbildungspakt tun. Wenn wir all dies machen, dann gelingt es uns tat- sächlich, stärker aus der Krise hervorzugehen, als wir in die Krise hineingegangen sind. Das ist unser Ziel. Abge- rechnet, meine Damen und Herren, wird zum Schluss. Ich bin mir sicher: Wir haben einen klaren ordnungspoli- tischen Kompass – das ist heute schon vorgetragen wor- den –, unsere Instrumente werden wirken, und am Ende dieser Legislaturperiode wird Deutschland durch die Ar- beit dieser bürgerlichen Koalition von CDU, CSU und FDP besser dastehen, (Garrelt Duin [SPD]: Als jetzt! Schlechter geht es ja auch nicht!) als Deutschland nach sieben Jahren Rot-Grün dagestan- den hat, und es wird auch besser dastehen als nach vier Jahren Großer Koalition. Davon bin ich überzeugt. Las- sen Sie uns die entsprechenden Zahlen, Daten und Fak- ten dann zusammentragen. Dem sehen wir gelassen ent- gegen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Pfeiffer pfeift im Walde!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Frak- tion das Wort. (Beifall bei der SPD) Klaus Barthel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe es ja gerne zu: Wir haben zumindest zwei Dinge nicht erwartet. Wir haben das, was gestern passiert ist, nicht erwartet, (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Gehen Sie doch mal auf heute ein! Heute ist schließlich McAllister gewählt worden! Ist das nicht toll?) und wir haben nicht erwartet, dass es auf dem Arbeits- markt einen so starken Aufschwung gibt. Das geben wir unumwunden zu. Wir freuen uns über beides. Über den Aufschwung am Arbeitsmarkt freuen wir uns allerdings mehr. Zwischen beiden Dingen gibt es aber einen ent- scheidenden Unterschied: Für das, was gestern passiert ist, konnten Sie etwas. Aber für den Aufschwung am Arbeitsmarkt kann diese Koalition nichts. 5266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Klaus Barthel (A) (C) (D)(B) (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Aha! Interessant!) Wir müssen uns einmal mit den Ursachen dieser Ent- wicklung befassen. Binnenwirtschaftlich betrachtet zeh- ren wir im Moment von den Rettungsschirmen für das Finanzsystem, die Stabilisierung des Geldkreislaufs, die Kreditversorgung und die Unternehmen. All das hat die Große Koalition gemacht. Herr Brüderle – Sie werden sich an Ihre Reden vielleicht nur ungern erinnern –, wer war dagegen? Die FDP. Das Konjunkturprogramm mit einem Volumen von 81 Milliarden Euro für 2009 und 2010 entfaltet in diesem Jahr seine volle Wirkung. Wer war dafür, und wer war dagegen, Herr Brüderle? (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Die FDP hat zugestimmt!) Den betrieblichen Bündnissen hat die FDP zugegebe- nermaßen zugestimmt. Aber was ist bei der Arbeits- marktpolitik? Kurzarbeitergeld, betriebliche Bündnisse und Arbeitszeitkonten, das alles funktioniert auf der Grundlage sicherer Arbeitsverhältnisse und starker Be- triebsräte und Gewerkschaften. Das funktioniert aber nicht auf der Grundlage Ihrer Vorstellungen vom Ar- beitsmarkt, von „Hire and Fire“ und von sogenannter Flexibilität, der Sie seit Jahren das Wort reden. (Beifall bei der SPD) Einen weiteren Beitrag zu dieser Entwicklung leistet die Niedrigstzinspolitik der EZB, gegen die die FDP auch immer heftig polemisiert hat. Außerdem hilft uns im Moment die Entwicklung, dass die Weltwirtschaft doppelt so schnell wächst wie die Wirtschaft in Deutschland, nämlich um über 4 bis 5 Prozent. Woher kommt dieses Wachstum, das das Vo- lumen unserer Exporte in diesem Jahr um 8 bis 9 Prozent nach oben treiben wird? Es kommt aus Ländern, die in der Wirtschaftspolitik das genaue Gegenteil von dem machen, was diese schwarz-gelbe Koalition seit einem halben Jahr predigt. In Ländern wie China und Brasilien zum Beispiel wird sozialer Ausgleich betrieben. In China unterstützt die Regierung streikende Arbeiter ge- gen internationale Konzerne. In Brasilien wird seit Jah- ren eine binnenwirtschaftlich orientierte Nachfragepoli- tik gemacht. Im Weltmaßstab ist Deutschland als eine der größten Volkswirtschaften leider nicht die Lokomo- tive, sondern eher der Bremsklotz des Aufschwungs; auch das weisen die aktuellen Zahlen aus. Sie schmü- cken sich also mit fremden Federn. Dieser Aufschwung kommt aus Quellen, mit denen Sie überhaupt nichts zu tun haben; vielmehr haben Sie alles bekämpft. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das heißt bei all unseren Erfolgen aber auch: Die schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik ist nun wirklich kein Exportartikel. Statt Investitionsförderung zu betreiben, sparen Sie. Bei der Gebäudesanierung, die dem Mittel- stand helfen würde, sparen Sie. Bei der Solarförderung kürzen Sie. Ich weiß nicht, was Atomwerke mit Mittel- stand zu tun haben. (Beifall der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]) Sie machen Steuergeschenke statt Modernisierung. Und das nennen Sie Mittelstandspolitik. Sie schwächen die Binnenkonjunktur durch Abkassieren bei den kleinen Einkommen und durch Kürzungen bei den Sozialleistun- gen; dazu haben wir heute schon etwas gehört. Sie versagen bei der europäischen Politik und bei G 20. Es gibt keine verbindlichen Verabredungen zur Regulierung. Es gibt keine Refinanzierungsinstrumente gegen die Krise wie die Finanztransaktionsteuer. Da stellt sich Frau Merkel, kurz bevor sie nach Toronto fliegt, hin und sagt: Wahrscheinlich haben wir keine Mehrheit für die Finanztransaktionsteuer. Aber es ist gut so. Wir führen die Entscheidung herbei; dann wissen wir wenigstens, woran wir sind. – Es ist doch politischer Masochismus pur, zu sagen: Schlagt uns; dann wissen wir, dass wir auf dem falschen Dampfer sind. Denn ei- gentlich wollten wir es ohnehin nicht. (Beifall bei der SPD) Das heißt – das ist das eigentliche Problem –, die Lunte für die nächste Krise ist gelegt. Die Krise ist eben nicht überwunden, Herr Solms. Die weltweiten Un- gleichgewichte im Handel erfahren jetzt einen neuen Schub; das weisen die Zahlen aus. Die Überschüsse in Deutschland und in China steigen weiter, und die Defi- zite der Schuldnerländer gehen weiter in den Keller. Die Geldvermögen sind schon wieder so groß wie vor der Krise und treiben die Spekulation an. Gegen Finanzbla- sen gibt es keine Regelungen. Deswegen sind auch die Institute für 2011 äußerst skeptisch. Wenn Sie den Insti- tuten nicht glauben, dann schauen Sie sich einfach an, wie es an den Börsen jeden Tag rauf und runter geht. Dies zeigt eine hochgradige Nervosität, und die hat mit dieser Situation zu tun. Wir sind längst nicht durch die Krise durch. Wir brauchen eine Strategie für die Euro-Zone. Hier ist nichts gelöst. Die Ungleichgewichte bestehen in der Euro-Zone bzw. in der EU fort. Wir brauchen eine Fi- nanzierung der Krisenlasten, die nicht nur im sozialen Sinne gerecht, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll ist. Das heißt, man darf nicht da kürzen, wo mit dem Geld Binnenkaufkraft gestärkt wird, sondern muss die belasten, die das große Geld haben und bei denen etwas zu holen ist. Belastet werden müssen also Finanztransak- tionen und große Vermögen. Schließlich brauchen wir eine Umkehr bei der Lohn- entwicklung, das heißt eine Bekämpfung der Prekarisie- rung. Ich fordere die Koalition dringend auf – da gab es unterschiedliche Äußerungen; ich bin gespannt darauf, wie Sie das angehen –: Tun Sie gesetzlich etwas, um die Auswirkungen der verheerenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einzugrenzen! Wir müssen das Prinzip „ein Betrieb, eine Branche, ein Tarifvertrag“ ret- ten. Sonst wird der Druck auf die Löhne zunehmen, und das können wir in der jetzigen wirtschaftlichen Situation überhaupt nicht gebrauchen. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5267 Klaus Barthel (A) (C) (D)(B) Herr Solms und Herr Pfeiffer, das, was Sie hier über Lohnstückkosten erzählen, ist purer Unsinn. Herr Pfeiffer sagt, Löhne schaden eher; wir brauchen Be- schäftigung. – Wenn man das von der Logik her zu Ende denkt, dann hieße das: Am besten wäre es, alle arbeiten und bekommen kein Geld dafür. – Das wäre der volks- wirtschaftliche Gipfel der Erkenntnis. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Geh, Herr Kollege!) Herr Pfeiffer, Sie sagen, die Lohnstückkosten bei uns stärken die Wettbewerbsfähigkeit im Export. Schauen Sie sich doch einmal die Stundenlöhne und die Lohn- stückkosten in der Exportwirtschaft an. Sie sind, volks- wirtschaftlich gesehen, relativ hoch. Das Problem ist nur: Es gibt andere Sektoren, in denen die Löhne immer weiter sinken. Dazu gehören der Dienstleistungsbereich und andere nicht exportstarke Sektoren. Daher hat die Anhebung der Löhne im Dienstleistungsbereich mit der Wettbewerbsfähigkeit unserer Exportartikel – Maschi- nen usw. – überhaupt nichts zu tun. Sie sind dabei, dem Aufschwung, über den wir hier reden, die Grundlage zu entziehen. Herr Brüderle, Sie haben bisher das Richtige be- kämpft. Was andere Regierungen getan haben, bekämp- fen Sie. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das können Sie jetzt aber nicht mehr im Einzelnen darstellen. Klaus Barthel (SPD): Was die frühere Bundesregierung auf diesem Gebiet getan hat, bekämpfen Sie. Sie haben das Falsche gefor- dert, und Sie nennen das Ordnungspolitik. Herr Brüderle, ich kenne Sie ja schon länger. Sie sind als durchaus pragmatisch und flexibel bekannt. Mein Appell zum Schluss ist: Wenden Sie sich von dieser Art von Wirtschafts- und Ordnungspolitik ab, und machen Sie et- was ganz anderes! (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält der Kollege Martin Lindner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Herr Kollege Barthel, ich glaube, das wird der Bundeswirt- schaftsminister ganz sicher nicht machen. Er wäre auch verrückt. (Beifall bei der FDP) Jedes größere Wirtschaftsinstitut attestiert, dass hier eine vernünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Sich davon abzuwenden, wäre vollkommen wahnsinnig. Wenn man Führungskräfte der Wirtschaft fragt, was für nachhaltigen Aufschwung und nachhaltige Wirt- schaftspolitik entscheidend sei, nennen sie überwiegend alle als einen der wichtigsten Punkte, (Thomas Oppermann [SPD]: Eine andere Regierung!) dass eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von elementarer Bedeutung ist. Da hat die Bundesregierung mit dem Entwurf eines Sparpakets einen richtigen und wegweisenden ersten Schritt gemacht: (Beifall bei der FDP – Garrelt Duin [SPD]: Wie kommen Sie denn darauf? – Thomas Oppermann [SPD]: Aber viele Luftbuchun- gen!) sozial ausgewogen, mit klaren Schwerpunkten – Bildung und Forschung. (Thomas Oppermann [SPD]: Ja, klar!) Wenn, auch unter Berücksichtigung dieser Sparan- strengungen, 55 Prozent der Ausgaben des Bundes für Soziales getätigt werden und Sie, Herr Kollege Barthel, uns für Sozialpolitik China und Brasilien als Vorbild empfehlen, zeigt das, wie ver-rückt Ihr Koordinatensys- tem in sozialpolitischen Belangen ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das geht doch völlig an der Realität vorbei. Es gibt kaum ein Land, das so unbeschränkt und nachhaltig So- zialleistungen gewährt wie Deutschland. (Thomas Oppermann [SPD]: Was haben Sie denn in Brasilien gemacht? – Klaus Barthel [SPD]: Es geht um die Entwicklung der letzten Jahre!) Zu den anderen Themen. Natürlich ist Forschung et- was, was mittelfristig wirtschaftspolitische Bedeutung hat. Deswegen ist es vernünftig, dort nicht zu sparen, son- dern auf dem Wachstumspfad zu bleiben. Bildung ist na- türlich auch ganz elementar. Das wirkt langfristig. Deswe- gen ist es richtig, dass die Bundesregierung hier nicht spart. Die Konsolidierungsanstrengungen, die sich ja hauptsächlich auf den Bereich Luftverkehrsabgabe, Ban- kenabgabe und auf das zusätzliche Belasten von Kern- kraftwerksbetreibern beziehen, müssten genau in Ihrem Sinne sein. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie hier nicht viel deutlicher Beifall klatschen, als wir das tun. (Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso „zusätzliches Belasten von Kernkraftwerksbetreibern“? – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich weiß nicht, wie viele Brennele- mente Sie in Ihrem Keller liegen haben!) Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Steuern sa- gen, weil auch von Kollegen Gysi das einfache Motto ausgegeben wird: Man muss nur bei den Stärkeren ein wenig zugreifen. – Schauen Sie sich doch einmal die steuerpolitische Entwicklung der letzten 40 Jahre an. 1958 hat ein Lediger eine Eingangssteuer von 20 Pro- zent, umgerechnet etwa 860 Euro pro Jahr, bezahlt. Den Spitzensteuersatz von 53 Prozent hat ein Lediger mit 5268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Martin Lindner (Berlin) (A) (C) (D)(B) 110 000 DM im Jahr – heute umgerechnet 56 000 Euro – bezahlt. (Garrelt Duin [SPD]: Da wollen Sie wieder hin!) Wenn Sie das inflationsbereinigt fortschreiben würden, dann müssten Sie heute als Lediger bei etwa 2 400 Euro 20 Prozent Steuern bezahlen und den Spitzensteuersatz mit 160 000 Euro pro Jahr. Tatsächlich aber zahlen Sie den Spitzensteuersatz bereits bei 53 000 Euro und den Eingangssteuersatz von 14 Prozent bei 8 000 Euro. (Klaus Barthel [SPD]: Das ist doch Unsinn! Der Spitzensteuersatz ist doch nicht der effek- tive Steuersatz! – Thomas Oppermann [SPD]: Aber doch nicht für den ganzen Betrag! Erklä- ren Sie doch das Steuersystem mal richtig!) Daran sehen Sie doch ganz deutlich, wenn Sie nicht ideologisch verblendet sind, dass die starken Schultern und vor allen Dingen die mittleren Einkommen immer mehr belastet wurden. Darum geht es dieser Bundesre- gierung: Wir müssen die mittleren und auch die kleinen Einkommen entlasten, um den Sozialstaat, den wir hier alle wollen, finanzieren zu können. Deswegen ist es ver- nünftig, wie hier vorgegangen wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Wann fangen Sie denn damit an? Wann geht es endlich los? Wann folgen Ihren Ankündigun- gen auch Taten?) Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen wird auch entscheidend davon abhängig sein, inwieweit wir die Anforderungen an die Wirtschaft in sozialpoliti- scher, arbeitsrechtlicher und ökologischer Hinsicht opti- mieren. (Thomas Oppermann [SPD]: Alles nur Sprücheklopferei!) Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz klar: Ich halte nichts davon, die hohen Standards, die wir in Deutschland ha- ben, blind nach unten zu ziehen. Ich glaube auch, dass viele deutsche Produkte ihre Geltung in der Welt und ihr hohes Niveau auch dadurch erhalten haben, dass wir in Deutschland höhere Standards haben als beispielsweise in China, Korea oder sonst irgendwo. Ich glaube, dass man hier das Optimum erreichen muss, denke aber, dass wir uns in vielen Bereichen weg vom Optimum und hin zu einem Maximum an Anforderungen bewegen, wo- durch deutsche Produkte national und international schlechter wettbewerbsfähig sind. Mit der pharmazeutischen Industrie haben wir ein gutes Beispiel dafür. Wir waren einmal die Apotheke der Welt. Im Laufe der Jahre haben wir uns über Ethik- kommissionen, andere Anforderungen, das Verbot von Tierversuchen und Ähnlichem von dem Optimum an Produktsicherheit und Ethik hin zu einem solchen Ma- ximum bewegt, dass für die Entwicklung eines Pro- dukts eine Investition von mindestens 1 Milliarde Euro nötig ist, wodurch die Unternehmen mit ihren Produk- ten nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Wir müssen hier – das ist die Anforderung an diese Bundesregierung und diese Koalition – zu einem vernünftigen Level kommen. (Garrelt Duin [SPD]: Sollen die ethischen Fra- gen bei Ihnen künftig keine Rolle mehr spie- len? Ich glaube, man muss unter dem Begriff „Bürokratieab- bau“ versuchen – das greift ja in der Regel zu kurz –, das in den nächsten Jahren vernünftig zu erreichen. Dazu gehören auch die Exportvorschriften. Natürlich müssen wir auch diese überprüfen. Es ist wichtig, die Exportwirtschaft in Deutschland weiter zu stärken. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Linke des Hauses das jedes Mal in einen Gegensatz zur Binnennachfrage stellt. Wir brauchen eine starke Exportwirtschaft. Alles andere ist verrückt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das hat was mit Gleichgewicht zu tun!) Wir werden weiter daran arbeiten müssen, und natürlich müssen auch die Löhne und Gehälter international kon- kurrenzfähig sein. Damit, dass Sie hier, genau wie in der Sozialpolitik, Gespenster in die Welt setzen, gehen Sie völlig am ech- ten Leben vorbei. Natürlich hat es in Deutschland in den letzten Jahren auch bei den Löhnen und Gehältern eine gewisse Konsolidierung gegeben, aber es kann doch nicht Ihr Ernst sein, hier zu erzählen, das seien Dum- pinglöhne, Herr Gysi. Im verarbeitenden und für die Ex- portwirtschaft relevanten Gewerbe stehen wir innerhalb der Europäischen Union noch immer an vierter Stelle von oben. (Klaus Barthel [SPD]: Und mit einem Niedriglohnsektor!) Es ist Ausdruck der völligen Unkenntnis der tatsächli- chen Gegebenheiten, hier von Dumpinglöhnen zu reden. Wir brauchen wettbewerbsfähige Löhne und Ge- hälter. Dabei sind wir in Deutschland auf einem guten Weg, und zwar auch dank der Vernunft von Gewerk- schaften und vor allen Dingen auch dank der betriebli- chen Vereinbarungen in den Unternehmen. Dafür dan- ken wir. Natürlich ist man auch dort mit Vernunft vorgegangen. Das war wegweisend, und es zeigt sich in diesen geringen Arbeitslosenzahlen ganz deutlich, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass man hier eben nicht Ihren ideologischen Phantas- magorien gefolgt ist, sondern Vernunft hat obwalten las- sen. Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die ord- nungspolitische Klarheit dieser Bundesregierung am Beispiel Opel eingehen. Ich freue mich wirklich, dass diese Bundesregierung – federführend der Bundeswirt- schaftsminister Brüderle –, anders als viele Vorgänger, egal, welcher Couleur, in dieser Frage standhaft geblie- ben ist. Ich denke an die Maxhütte, an Philipp Holzmann Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5269 Dr. Martin Lindner (Berlin) (A) (C) (D)(B) und an KarstadtQuelle und höre noch die „Gerhard, Gerhard“-Rufe. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Lindner, all die vielen Fälle, die sich jetzt vielleicht nennen ließen, lassen sich nach abge- schlossener Redezeit nicht mehr unterbringen. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Ich binde das in einem Satz zusammen und sage: Es ist jeweils gescheitert. Herr Duin, eine Stunde bevor GM seine Förderan- träge zurückgezogen hat, haben Sie Seite an Seite mit Ih- rem linken Bruder noch immer gefordert, Brüderle solle weich werden und deutsche Steuergelder für GM ausge- ben. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist dann die Bilanz von dem Mann? Ich lache mich tot!) Das ist der große ordnungspolitische Unterschied zwi- schen Ihnen und uns. Sie wären weich geworden und hätten deutsche Steuergelder nach Amerika gegeben. Ich bin froh, dass er standhaft geblieben ist und einen klaren ordnungspolitischen Kurs hat. Sie können schreien, soviel Sie wollen: Die Bundesregierung und diese Koalition werden diesen ordnungspolitischen Kurs unbeirrt fortsetzen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Andreae, „Wasser predigen, aber Wein trinken“ heißt ein schönes Sprichwort. Heute Morgen bin ich mit meinem Fahrrad zum Büro gefahren. Ich wurde von drei Dienstlimousinen überholt; in jeder saß ein Grüner. Sie aber fordern die Abschaffung der Dienst- limousinen. Fordern: Ja! Nutzen: Ja! (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: So sind sie halt!) – So sind sie halt. – Das alles passt nicht mehr zusam- men. Ich wollte das bei dieser Gelegenheit ganz kurz er- wähnen, damit ich der Öffentlichkeit das sage, was ihr auch glaubwürdig überbracht werden kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Soll ich Ihnen das erklären? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Vergleich zu Ihnen scheine ich schon öfter Fahrrad gefahren zu sein!) Verehrter Herr Kollege Duin, im Gegensatz zu Herrn Wirtschaftsminister Brüderle haben Sie meines Erach- tens kein realistisches Bild gezeichnet; denn es steht doch unbestritten fest: Kein Land hat die Krise besser bewältigt als wir. Die jetzige christlich-liberale Bundes- regierung und ihre Vorgängerin – das betone ich aus- drücklich – in der Großen Koalition haben doch in den letzten zwei Jahren eine richtige Politik betrieben. Diese führte zum Erfolg. Ich meine, wir sollten uns alle da- rüber freuen, anstatt uns gegenseitig zu beschimpfen und das Leben schwer zu machen. Gemeinsam an einem Strang ziehen, ist das Gebot der Stunde. Wir sind zwar über den Berg, aber trotzdem ist nicht alles eitel Sonnenschein. Die konjunkturelle Frühjahrs- belebung ist stärker als sonst. Die Auftragsbücher des Mittelstandes und des Handwerks füllen sich. Der Ex- port gewinnt an Fahrt. Jedes zweite produzierte Auto geht in den Export. Die Arbeitslosigkeit liegt in ver- schiedenen Regionen sogar unter 4 Prozent. Davon ha- ben wir alle noch vor einem Jahr geträumt. Es ist Wirk- lichkeit geworden, wie Kollege Fuchs vorhin bereits ausgeführt hat. Aufgrund sehr guter Exportmöglichkei- ten können unsere Unternehmen ihre Mitarbeiterzahl na- hezu unverändert halten. Die Dienstleistungsbranche plant sogar, Arbeitnehmer einzustellen. Noch auf anderen Gebieten sind wir spitze. Die tarif- lichen Monatsverdienste der Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer in der Privatwirtschaft sind im letzten Jahr um durchschnittlich 2,7 Prozent gestiegen, in Frankreich nur um 2,2 Prozent. Herr Gysi, Sie haben vorhin einen Vergleich gezogen. Ich möchte deshalb besonders darauf verweisen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was Verdienstmöglichkeiten anbelangt, sehr viel mehr und Besseres geleistet haben als die Nachbarländer, die in etwa mit uns vergleichbar sind. Auch in dieser Hinsicht sind Sie widerlegt. Das, was gemacht worden ist, hat den Staat viel Geld gekostet. Das war in der Wirtschaftskrise richtig. Unbe- stritten ist, dass unser soziales Netz spitze ist. Wir müs- sen uns aber grundsätzlich die Frage stellen, ob das alles noch bezahlbar ist. Haben wir nicht in den letzten Jahren und vielleicht Jahrzehnten ein bisschen über die Verhält- nisse gelebt? (Klaus Barthel [SPD]: Wer denn?) Ich setze auf die Bürger. Die Bürger, Kollege Barthel, sind mündiger als viele Kolleginnen und Kollegen auf Ihrer Seite des Deutschen Bundestages. Sie sind mündig und wissen, was machbar und was nicht machbar ist. Deshalb muss die Devise jetzt lauten, dass gespart wer- den muss; denn die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Was ist deshalb zu tun? Wir müssen auf dem Gebiet Leitgedanken entwickeln. Erstens: Haus- haltskonsolidierung über die Ausgabenseite vorneh- men. Zweitens: keine Steuererhöhungen. Drittens: Zu- kunftsinvestitionen fortführen. Viertens: selbsttragenden Aufschwung unterstützen. Fünftens: Binnenkonjunktur 5270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Ernst Hinsken (A) (C) (D)(B) ankurbeln. Sechstens: inflationäre Tendenzen im Keim ersticken. Schließlich ist Inflation Diebstahl am kleinen Bürger. Für den wollen wir ganz besonders da sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen und werden jetzt einen dauerhaften Wachstumsprozess anstoßen, der ohne staatliche Hilfe auskommt. (Klaus Barthel [SPD]: Dann brauchen Sie ihn ja nicht anzustoßen! – Heiterkeit der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Was wollen wir? Erstens: mehr netto – und das trotz Sparpakets. Zweitens: die Sozialversicherungsbeiträge stabil halten. Das hilft den Beschäftigten, Arbeitgebern und auch Rentnern. (Garrelt Duin [SPD]: Führen Sie die Kopf- pauschale ein?) Drittens: der Jugend eine Zukunft geben. Ich möchte Sie, Herr Minister Brüderle, ergänzen. Was die Jugend- arbeitslosigkeit anbelangt, steht die Bundesrepublik Deutschland als absolutes Spitzenland da. Die Jugend- arbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei 9,5 Prozent, in der gesamten EU bei 20,6 Prozent, in Frankreich bei 22,2 Prozent, in Spanien bei 40,3 Prozent und in den USA bei 19,6 Prozent. Wir müssen für die Jugend, die uns so ans Herz gewachsen ist, schon jetzt die Weichen stellen, damit sie sich auch einmal so entfalten kann, wie wir das jetzt tun können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Viertens. Gerade diese Bundesregierung fördert den Mittelstand, und zwar zu Recht; denn dort, wo der Mit- telstand stark ist, ist die Arbeitslosigkeit mit am nied- rigsten. Herr Brüderle, gerade hier haben Sie einige Ak- zente gesetzt, die in die richtige Richtung gehen. Mit dem Wirtschaftsfonds Deutschland hilft die Bundesre- gierung zielgenau vor allem mittelständischen Unterneh- men bei der Bewältigung der durch die Krise entstande- nen Finanzierungsprobleme. (Joachim Poß [SPD]: Damit hat er doch nichts zu tun! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das hat er doch noch bekämpft!) In diesem Zusammenhang müssen wir natürlich be- rücksichtigen, dass es in der Bundesrepublik Deutsch- land verschiedene Gebiete gibt, die nicht so stark sind wie bestimmte Ballungsräume. Es ist daher erforderlich, eine Politik aufzulegen, die dem ganzen Land dienlich ist. Herr Minister Brüderle, ich bitte Sie, dafür zu sorgen, dass an der regionalen Wirtschaftsförderung so weit wie irgend möglich festgehalten wird; denn das hat sich be- währt. Allein in den letzten 20 Jahren haben wir auf die- sem Gebiet durch subsidiäre Hilfe des Staates (Garrelt Duin [SPD]: Das ist doch kein Sparen!) über 1 Million Arbeitsplätze schaffen und darüber hi- naus über 1,8 Millionen Arbeitsplätze erhalten können. Das, was sich bewährt hat, gilt es hier fortzuführen. (Garrelt Duin [SPD]: Der Minister hat aber an- gekündigt, dort sparen zu wollen!) Ich bitte Sie deshalb, sich dafür einzusetzen, dass das er- folgt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss darauf hinweisen, dass die Energie ein bedeu- tender Faktor ist. Wenn man nur 50 Kilometer von Te- melin entfernt wohnt, macht man sich natürlich schon Gedanken darüber, wie wir vorgehen und wie andere vorgehen. Die Schweden zum Beispiel steigen aus dem Ausstieg aus der Kernenergie aus. Bei uns nimmt man das – zumindest auf der linken Seite – überhaupt nicht zur Kenntnis. Man negiert, dass allein in Europa fast 200 Kernkraftwerke in Betrieb sind – Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit. Ernst Hinsken (CDU/CSU): – ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin –, dass in Deutschland 17 Kernkraftwerke betrieben werden und dass in der europäischen Zone 14 neue Kernkraftwerke gebaut werden. Das wird alles beiseitegeschoben. Um in diesem Bereich wettbewerbsfähig zu sein, muss nun ein- mal auch der Energiepreis stimmen. Der stimmt bei uns nicht. Deshalb sind wir für Kernkraftwerke als Brücken- technologie. Wir brauchen sie, solange wir sie nicht durch alternative Energieerzeugung ersetzen und den Strom anderweitig preisgünstig produzieren können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peter Friedrich. (Beifall bei der SPD) Peter Friedrich (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf den Anlass der Debatte zurückkommen, nämlich die Regierungserklärung von Herrn Minister Brüderle. Herr Brüderle, die Schlüsselworte Ihrer Rede waren „könnte“ und „müsste“. Darum hat sich alles ge- dreht. Ich habe bei intensivstem Nachdenken und Nach- forschen, welche wirtschaftspolitischen Aktivitäten Sie bisher in Ihrem Amt entfaltet haben, genau drei Punkte gefunden. Das Erste war der Kreditmediator; darauf gehe ich gleich noch ein. Das Zweite war das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Dritte war der Opel-Entscheid. Mehr gab es nicht. Welche Ihrer Nicht- Aktivitäten ist jetzt genau für das Jobwunder verantwort- lich? Sie profitieren von den Ergebnissen einer ver- nünftigen und guten Konjunkturpolitik sowie von den Ergebnissen einer vernünftigen und guten Arbeits- marktreform, die Rot-Grün angestoßen hat und die wir in der Großen Koalition fortgesetzt haben. Auf dieser Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5271 Peter Friedrich (A) (C) (D)(B) Welle schwimmen Sie – und auf sonst nichts. So etwas nennt man Trittbrettfahrertum. Mit konzeptioneller Wirt- schaftspolitik hat das aber überhaupt nichts zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Hinsken, Sie haben den Deutschlandfonds an- gesprochen und ihn mit Herrn Brüderle in Verbindung gebracht. Noch vor einem halben Jahr hätte Herr Brüderle es sich verbeten, in einem Satz mit dem Deutschlandfonds zitiert zu werden. (Garrelt Duin [SPD]: Ja!) Damals hat er bei dem, was wir in der Großen Koalition zusammen auf den Weg gebracht haben, ordnungspoli- tisch noch Sodom und Gomorrha ausgerufen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jetzt wird es als Erfolg abgefeiert. Man sollte zumindest so ehrlich sein, das Copyright mit anzugeben, wenn man sich auf Erfolge bezieht, die andere zu verantworten ha- ben. (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Schon Adenauer hat gesagt – –) – Ich weiß. Adenauer hat auch gesagt: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Aber nun zu dem Bild des selbsttragenden Auf- schwungs, das Sie alle heute Morgen bemühen: Viel- leicht ist es so. Wir haben Glück, wenn es so ist. Aber das, was Sie politisch jetzt einleiten, läuft darauf hinaus, dass das, was an selbsttragenden Elementen vorhanden ist, kaputtgemacht wird. Ihr Sparpaket betrifft genau die Anreize, die wir gesetzt haben. Wir wollten, dass es mit der Konjunktur wieder aufwärts geht. Sie aber entziehen den Kommunen exakt die Mittel, die wir ihnen vorher gegeben haben, damit sie investieren. Über das, was Sie an Kürzungen im Sozialbereich planen, entziehen Sie den Menschen exakt die Gelder, die wir ihnen vorher im Rahmen von Entlastungen gegeben haben. Sie machen die Rolle rückwärts und würgen den selbsttragenden Aufschwung ab. Er trägt nicht. Er erträgt nämlich nicht Ihre Politik. Das werden Sie erleben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Schauen wir uns doch einmal nur einen Punkt aus dem an, was Sie „Wachstumspolitik“ nennen! Sie haben 1 Milliarde Euro – ich weiß, dass Sie das nicht mehr hö- ren mögen – darauf verwendet, die Hotels zu subventio- nieren. 1 Milliarde Euro! (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sinnlos!) Sie haben damit die bombastische Investition von 100 Millionen Euro ausgelöst. (Otto Fricke [FDP]: Woher wissen Sie das?) – Das ist die Behauptung des Fachverbandes. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es stimmen we- der die Milliarde noch die 100 Millionen!) Ich nenne Ihnen einmal ein anderes Beispiel. Im Be- reich des Marktanreizprogramms haben Sie 144 Mil- lionen Euro gesperrt, haben das abgewürgt, obwohl Sie da nach eigener Darstellung das 7,2-Fache an Investitio- nen auslösen. Bei den Hotels geben Sie 1 Milliarde Euro aus für 100 Millionen Euro Investitionen, und in dem anderen Bereich kürzen Sie rund 100 Millionen Euro, womit Sie gut 700 Millionen Euro Investitionen abwürgen. Das ist Ihre Wirtschaftspolitik in diesem Land! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Brüderle hat gesagt: Die Kapazitäten werden wieder hochgefahren. – Wir können uns hier über das Thema Binnennachfrage austauschen. Ich finde den Gegensatz, der immer hergestellt wird, interessant. Es kommt immer von Ihrer Seite, dass Export und Binnen- nachfrage ein Gegensatz sind. Wir betrachten das aus- drücklich nicht so. Wir wollen, dass beides funktioniert, dass beides gut läuft. Wir brauchen in einem ganz be- stimmten Bereich auch Binnennachfrage. Wir müssen nämlich wieder für mehr Investitionen sorgen. Alle Firmen, alle Mittelständler, alle Handwerksbe- triebe haben ihre Investitionen in der Krise geschoben. Sie haben aus der Substanz gewirtschaftet. Sie stehen vor großen Ersatzinvestitionen, weil man eben nicht be- liebig lange aus der Substanz leben kann. Sie müssen jetzt also Ersatzinvestitionen tätigen. Sie wollen auch in Kapazitätserweiterungen investieren. Das ist gut. Das wollen wir auch. Erleben werden wir in diesem Herbst aber, dass der steigende Bedarf an Kreditmitteln für Investitionen auf die Bankenregulierung trifft, die wir ja auch wollen. Wir stehen dazu: Wir wollen, dass die Banken die Risi- ken vernünftiger prüfen. Wir wollen, dass mehr Eigen- kapitalunterlegung vorhanden ist. Wir wollen auch, dass Basel III zu einem vernünftigen Ergebnis geführt wird. – Da trifft also etwas aufeinander, was sich nicht verträgt, nämlich ein wachsender Kreditbedarf auf der einen Seite und ein zurückgehendes Kreditangebot wegen der Restriktionen, die wir in der Regulierung vornehmen, auf der anderen Seite. Der Minister aber sagt: Das Pro- blem gibt es nicht. Der Kreditmediator hat seine Tätigkeit etwas süffi- sant mit den Worten kommentiert, er müsse ein Problem herbeireden, weil er nichts zu tun habe. Aber dass sich ein Problem aufbaut, hat Ihr Staatssekretär, Herr Brüderle, uns auf eine Anfrage hin bestätigt. Der Kredit- mediator – ich nehme an, dass er für Sie eine Autorität ist – bestätigt Ihnen das auch. Aber Sie sagen: Das Pro- blem gibt es nicht. Darum müssen wir uns nicht küm- mern. Das Problem sind die Energiepreise. Das Problem ist nicht mehr die Kreditversorgung. Das, Herr Brüderle, heißt: Sie führen Unternehmen, die in den Aufschwung gehen wollen, die etwas dazu beitragen wollen, jetzt sehenden Auges in eine Versor- gungsklemme hinein, was den Kreditbereich angeht. Ich sage Ihnen: Wir brauchen Instrumente. Ich weiß, dass Sie das prüfen. Wir haben es im Ausschuss jede Woche 5272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Peter Friedrich (A) (C) (D)(B) mit Prüfaufträgen zu tun. Uns würde einmal interessie- ren: Was tun Sie dafür, dass die deutsche Wirtschaft in den Aufschwung hinein investieren kann, dass Investi- tionen bei uns ausgelöst werden und dass es sich lohnt, die Kapazitäten auf einen Aufschwung hin auszurichten? Die Diskussion zum Sparpaket ist bei Ihnen ja nicht beendet. Ich weiß, es gibt immer wieder Appelle des Zu- sammenhalts, es sei ausgewogen, jetzt müsse die Dis- kussion aber auch beendet sein. Nach den vielen Prüf- aufträgen, sei es zum Thema Gewerbesteuer, sei es zum Thema Mehrwertsteuer, hatte ich mir heute ein bisschen Klarheit darüber erhofft, wohin Sie wirtschaftspolitisch wollen. Sie haben wieder davon gesprochen, dass Sie eine Nettoentlastung wollen. Wir erleben aber eine Net- tolüge. Wir erleben, dass die Kommunen die Kindergar- tengebühren erhöhen müssen, dass die kommunalen Ge- bühren überall steigen, dass Sie das Geld, das Sie auf der einen Seite – angeblich – geben wollen, um den Auf- schwung zu stärken, letzten Endes wieder vereinnahmen wollen. Aber einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Die Kommunen stehen finanziell schon längst am Abgrund. Sie vergrößern das Problem mit Ih- rer Politik noch. Ich möchte noch einen Hinweis zur Schuldenbremse geben, weil Herr Gysi das Thema angesprochen hat. Herr Gysi, ich teile Ihre Einschätzung: Man kann das Thema Konsolidierung nicht nur über die Ausgabenseite angehen, sondern muss auch die Einnahmeseite sehen. (Otto Fricke [FDP]: Wie immer bei euch!) Was ich aber nicht verstehe, ist: Als Linker muss ich doch dafür sein, die Staatsverschuldung möglichst ge- ring zu halten. Die Staatsverschuldung führt doch nur zu einem Effekt: Der Staat leiht sich Geld bei Menschen, die genug haben, um es zu verleihen, und zahlt ihnen dann über die Zinsen eine erhebliche Rendite. Staatsver- schuldung sorgt für die stärkste Form der Umverteilung. Deswegen können Sie sich doch als jemand, der angeb- lich linke Politik machen will, nicht hier hinstellen und der Staatsverschuldung das Wort reden. Das passt doch nun wirklich nicht zusammen. Der Generalsekretär der FDP hat schon zugegeben, dass der Kompass nicht funktioniert habe. Herr Brüderle hat behauptet, seiner funktioniere noch. Wissen Sie was? Wenn Sie einen funktionierenden Kompass haben, dann benutzen Sie ihn, um eine Bewegung nach vorne zu er- zeugen. Bisher haben Sie ihn nicht eingesetzt. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist der 1. Juli. Vor genau 20 Jahren wurde in Ostdeutschland die Währungs-, Wirtschafts- und So- zialunion eingeführt. Damit wurde über Nacht die win- delweiche Aluminiumwährung gegen die starke und harte D-Mark eingetauscht. Das war natürlich auch für die Wirtschaft eine Schocktherapie; das muss man ganz klar sagen. Seitdem ist der wirtschaftliche Aufschwung in Gesamtdeutschland natürlich mit dem Aufschwung in Ostdeutschland unmittelbar verbunden. Wenn man heute Meinungen hört und Zeitungsartikel darüber liest, wie das damals gewesen ist und was die letzten 20 Jahre für Ostdeutschland gebracht haben, dann stellt man fest: Das ist so ähnlich wie in der heuti- gen Debatte. Es wird in Deutschland immer alles schlechtgeredet. Der Aufschwung findet gar nicht statt. Das, was die Regierung macht, ist sowieso Mist. (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) Die Zahlen, denen nicht so einfach widersprochen wer- den kann, werden zwar hingenommen, aber trotzdem ne- gativ kommentiert. Genauso ist es mit dem wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland. Ein großes Politikmagazin hat in dieser Woche einen mehrseitigen Artikel zu diesem Thema ver- öffentlicht. Es fehlte bloß noch – das hat man schon 1990 gemacht –, dass man die Bilder nachträglich schwärzt, um die wirtschaftliche Situation Ostdeutsch- lands noch düsterer darzustellen. Diese Darstellung ist einfach unfair, und zwar gegenüber beiden Seiten: unfair gegenüber den Menschen in den alten Bundesländern, die mit einer großen solidarischen Anstrengung den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland in großen Teilen mitfinanziert haben, unfair aber auch gegenüber den Menschen in Ostdeutschland, die nämlich diese Schocktherapie über sich haben ergehen lassen und de- ren gesamtes Lebensumfeld sich änderte. Ihnen wird jetzt suggeriert: Das, was ihr gemacht habt, war sowieso nur Mist. Lasst es doch einfach sein. Wenn wir so weitermachen, dann haben wir die übli- che deutsche Stimmung. Das Ausland denkt aber ganz anders darüber. Das Ausland sieht, dass Deutschland trotz der Finanzierung der deutschen Einheit, trotz der großen Lasten, die aufgrund des wirtschaftlichen Auf- baus in Ostdeutschland zu schultern waren, heute, nach 20 Jahren, die Konjunkturlokomotive in Europa ist. An- dere Länder wie Frankreich sagen: Es kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, dass wir nicht so schnell wie Deutschland sind. – Meine Damen und Herren, das ist doch eigentlich ein großes Lob für uns. Wir müssen doch stolz darauf sein, dass wir nach zwei Jahren Wirt- schaftskrise wieder die Lokomotive in Europa sind, ob- wohl wir in Ostdeutschland noch weitere Probleme zu lösen haben. Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Entwick- lung der ostdeutschen Wirtschaft der letzten 20 Jahre und den heutigen Stand. Das Wachstum der ostdeutschen Wirtschaft ging in der Wirtschaftskrise nicht so stark zu- rück wie das der gesamtdeutschen Wirtschaft; der Rück- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5273 Andreas G. Lämmel (A) (C) (D)(B) gang war nur halb so groß. Der Zuwachs des Bruttoin- landsproduktes wird für dieses Jahr vom Ifo-Institut mit 1,6 Prozent prognostiziert. Ein Blick in die einzelnen Sektoren der Volkswirtschaften zeigt – ich spreche ein- mal die Zahl Sachsens an, weil ich sie sehr genau kenne –, dass im verarbeitenden Bereich, also in genau dem Be- reich, in dem wir in Gesamtdeutschland besonders stark sind, seit über zehn Jahren zweistellige Wachstumsraten zu verzeichnen sind. Hätte nicht die Bauwirtschaft in den letzten Jahren ständig negative Beiträge zum Brutto- inlandsprodukt erbracht, läge die Gesamtwachstumsrate in Ostdeutschland deutlich höher. Das ist doch eine Leis- tung, die wir in Gesamtdeutschland erbracht haben. Der Aufschwung in Ostdeutschland trägt nämlich unmittel- bar auch zum Aufschwung in Westdeutschland bei. Ich möchte auch auf die Entwicklung der Arbeitslo- senzahlen verweisen. Wir sind dabei, die Arbeitslosen- zahlen in Ostdeutschland zu halbieren. Es kann doch nicht geleugnet werden, dass große Er- folge beim Aufbau der Wirtschaft in Ostdeutschland zu verzeichnen sind. In besagtem Artikel wird geschrieben, man habe es in 20 Jahren nicht einmal geschafft, dass ei- nes der 100 größten Unternehmen in Deutschland seinen Sitz in Ostdeutschland hat. Meine Damen und Herren, das ist doch kein Wunder. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Sie von der SPD oder von den Grünen sich dafür eingesetzt hätten, dass Audi wieder nach Zwickau zurückgeht, wo es eigentlich hingehört; denn Audi ist ursprünglich kein Unternehmen aus Ingolstadt, sondern aus Sachsen. Oder haben Sie sich dafür einge- setzt, dass andere Unternehmen, die früher ihren Sitz in Ostdeutschland hatten, ihre Konzernzentralen wieder zu- rückverlegt haben? Ich habe davon nichts mitbekom- men. Deshalb darf man sich doch heute nicht beklagen, dass von den 100 größten deutschen Unternehmen kei- nes in Ostdeutschland seinen Sitz hat. In Ostdeutschland ist aber ein neuer Mittelstand ent- standen, und es gibt hocheffiziente Unternehmen, die auf modernste Technologien setzen. In Ostdeutschland wird genau auf die Technologien ein Schwerpunkt gelegt, auf die Sie – ich schaue jetzt einmal in Ihre Richtung, Frau Andreae – ganz stark setzen. Es handelt sich um die Be- reiche regenerative Energien, Nanotechnologie, eigent- lich um alle neuen Technologien. Wenn Sie Ihre Blo- ckade aufgeben würden, würde Ostdeutschland auch bei Grüner und Weißer Gentechnologie eine Spitzenposition einnehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich plädiere dafür, genauer hinzuschauen, wenn man nach 20 Jahren eine Bilanz zieht. Damit Deutschland auch in Zukunft weiterhin positiv dasteht, gilt es nun, den beginnenden Aufschwung wei- ter zu verstetigen. Herr Duin hat im Ausschuss gesagt, er verstehe nicht viel von Wirtschaft, dafür aber viel von Fußball. Das hat man auch an seiner heutigen Rede ge- merkt. Weil das so ist, trägt Ihre Partei auch keine Regie- rungsverantwortung mehr. Wir jedenfalls werden im nächsten Haushalt die Kräfte unterstützen, die das Wachstum auch weiterhin wirkungsvoll befeuern. Hier geht es zunächst einmal um das Thema „For- schung und Entwicklung“. In diesem Punkt, Frau Andreae, sind wir ja nicht so weit auseinander. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau!) Für regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen von GRW und für die Mittelstandsinnovationen (Zuruf von der LINKEN: Gekürzt!) geben wir in einem Jahr allerdings noch nicht einmal so viel aus wie in einem halben Jahr für die Steinkohle. Das ist schon ein Problem. Trotzdem werden in den Haus- haltsansätzen, die wahrscheinlich nächste Woche im Bundeskabinett verabschiedet werden, die Themenberei- che FuE und Innovationsförderung für den Mittelstand an erster Stelle stehen. Dann müssen wir Fortschritte beim Thema „freier Handel“ erreichen. Wir müssen die sogenannte Doha- Runde weiterentwickeln und (Zuruf von der LINKEN: Gescheitert!) dafür sorgen, dass freier Welthandel weiterhin möglich ist und somit auch die deutsche Industrie freien Zugang zu den internationalen Märkten hat. Wir müssen auch die Rohstoffbasis sichern. Auf die- sen Punkt ist der Minister schon eingegangen. Wir begrü- ßen das ausdrücklich. Auch wenn der Staat gar nicht so viele Möglichkeiten hat, hier tätig zu werden – es ist eine Aufgabe der Wirtschaft, für die Erschließung von Roh- stoffen zu sorgen –, wollen wir hier am Ball bleiben. Auch die Infrastruktur muss weiter ausgebaut wer- den. Hierbei geht es nicht bloß um den Ausbau von Straßen, sondern genauso um den Ausbau von Breit- bandinfrastruktur, Wissenschaftsinfrastruktur und Bil- dungsinfrastruktur. Das Thema Bildung ist in jedem Fall ein sehr wichti- ger Punkt – das ist schon mehrfach angesprochen wor- den –: Bildung in der Schule, Bildung in der Hochschule und natürlich auch Berufsausbildung. Angesichts der zu- rückgehenden Zahl an Schulabgängern müssen wir – das sehe jedenfalls ich persönlich so – die Qualität in der Be- rufsausbildung steigern. (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ CSU]) Meine Damen und Herren, zusammenfassend kann ich Ihnen versichern: Der neue Bundeshaushalt wird da- rauf ausgerichtet sein, den Aufschwung, den wir brau- chen und im Moment auch erleben, weiterhin zu unter- stützen. Sie können dabei mithelfen, indem Sie Ihre Stimme in die Haushaltsberatungen einbringen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 5274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander Bonde, Priska Hinz (Herborn), Sven- Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haushalt zukunftsfest machen – Nachhaltig sanieren – Ökologisch und sozial investieren – Drucksache 17/2327 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diese Debatte beantragt, weil wir der Regierung das, was sie vor der Sommerpause als so- genanntes Sparpaket vorgelegt hat, nicht durchgehen las- sen wollen. Mit dem, was Sie vorgelegt haben, erreichen Sie das Ziel eines zukunftsfesten Haushalts nicht. Im Wesentlichen liegt das daran, dass Ihr Sparpaket nicht sozial gerecht ist, dass Sie in ökologischer Hinsicht völ- lig blind sind und Sie eine Vielzahl von Luftbuchungen vorgenommen haben. Sie haben Vorschläge niederge- schrieben, die sich nicht realisieren lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Der erste Punkt: Wie kann man eigentlich in einer Zeit, in der man Milliarden Euro zur Rettung der Banken ausgibt und die Bevölkerung fragt, ob dies sinnvoll, not- wendig und richtig ist, die Haushaltskonsolidierung bzw. die Sparpolitik in der Form betreiben, dass die klei- nen Leute belastet und diejenigen, die mehr haben, ver- schont werden? Wo ist das soziale Gewissen dieser Ko- alition? Im Sparpaket schlägt es sich jedenfalls nicht nieder. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage Ihnen: Sie können der Bevölkerung die Haus- haltskonsolidierung nur dann zumuten, wenn Sie ihr auch klarmachen können, dass es dabei gerecht zugeht. „Gerecht“ heißt, dass diejenigen, die mehr haben, die starke Schultern haben, mehr schultern müssen als dieje- nigen, die wenig haben. Sie machen es aber so: Diejeni- gen, die wenig haben, tragen die Hauptlast, und diejeni- gen, die viel haben, tragen gar nichts. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Es war eine hohe Stunde der Peinlichkeit, als Frau Merkel bei der Vorstellung des Sparpakets auf die Frage, woran man die Gerechtigkeit erkenne, sagte, dass auch die Wirtschaft belastet würde, und die Brennelemente- steuer als Beispiel nahm. Wer diesen Punkt als Ausweis sozialer Gerechtigkeit ins Feld führt, hat nicht verstan- den, worum es geht. Im Übrigen nimmt sie den Atom- konzernen vielleicht 2 Milliarden Euro ab, schenkt ihnen aber 6 bis 8 Milliarden Euro durch die Laufzeitverlänge- rung, die Sie vorhaben. Das ist Zynismus pur. So können Sie Haushaltskonsolidierungspolitik nicht betreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Warten Sie einmal ab, Herr Kuhn! – Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Klassen- kampfgequatsche!) Der zweite Punkt: Sie streichen Mittel im Haushalt und vergrößern gleichzeitig die „ökologische Verschul- dung“ unseres Landes. Ich will ein Beispiel nennen: Ge- genwärtig wird 1 Prozent aller Gebäude in Deutschland pro Jahr energetisch saniert. Das heißt im Klartext: Wir brauchen 100 Jahre, bis wir einmal durch sind. Schon al- lein aufgrund dieser Schwäche können wir das Klima- schutzziel – 2050 95 Prozent weniger CO2-Ausstoß – gar nicht erreichen. Deswegen sagen wir: Wir müssen auf eine Quote von 3 Prozent kommen, und dafür müs- sen wir investieren. Aber was machen Sie? Beim Gebäu- desanierungsprogramm streichen Sie kontinuierlich: 2009 standen 2,2 Milliarden Euro zur Verfügung, 2010 sind es noch 1,5 Milliarden Euro und 2011 werden es nur noch 880 Millionen Euro sein. An den Stellen, an denen Sie investieren müssen, um die „ökologische Ver- schuldung“ abzubauen, streichen Sie die Mittel. Die da- durch entstehenden ökologischen Schäden kosten uns viel Geld, und das kostet uns Arbeitsplätze in wichtigen Zukunftsbereichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wo ist bei dem, was Sie anregen, eine solide und seriöse Konsolidierungspolitik zu erkennen? Wir müssen uns auch endlich von dem Gedanken ver- abschieden, dass es nur die Alternative „Investieren oder Sparen“ gibt. Der Gegensatz, der beim G-20-Gip- fel zwischen Obama und Merkel aufgebaut wurde, ist doch völlig falsch. Jeder, der in einem Betrieb oder ei- nem privaten Haushalt konsolidieren will, weiß, dass es Felder gibt, auf denen man sparen, und andere, auf de- nen man investieren muss. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das tun wir doch! – Otto Fricke [FDP]: Und im Saldo?) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5275 Fritz Kuhn (A) (C) (D)(B) Das ist der Fehler Ihres Sparpakets. Sie investieren nicht richtig in ökologische Bereiche. Sie haben gar nicht er- kannt, dass soziale Gerechtigkeit in der sozialen Markt- wirtschaft eine Produktivkraft entfalten kann. Sie glau- ben, es ist am besten für die Wirtschaft, wenn es wenig soziale Ausgaben gibt. Aber dass soziale Gerechtigkeit Zufriedenheit, Sicherheit und die Fähigkeit der Men- schen, Teilhabe zu praktizieren, beinhaltet, das verges- sen Sie, wie das, was Sie bisher vorgelegt haben, zeigt. Deswegen sage ich noch einmal: Wenn Sie dabei blei- ben, wird es mit Ihnen politisch weiter bergab gehen. Machen Sie die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers rückgängig, heben Sie den Spitzensteuersatz an, zeigen Sie den Menschen, dass Sie sich langsam an soziale Ge- rechtigkeit gewöhnen! Kümmern Sie sich auch um die Einnahmeseite des Haushalts; denn diese vernachlässi- gen Sie sträflich. So kommen Sie nicht weiter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte: Ihr Sparpaket ist voller Verschiebebahnhöfe; das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie wollen den Zuschuss zur Rentenversicherung für Arbeitslosengeld-II-Emp- fänger streichen; das macht 1,8 Milliarden Euro aus. Die Große Koalition hatte diesen schon halbiert. Was be- deutet das? Sie sparen heute im Haushalt, was zu an- wachsender Altersarmut führt, für die in zehn Jahren zu zahlen sein wird. (Norbert Brackmann [CDU/CSU]: 2 Euro im Monat!) Wer wird das zahlen müssen? Die Gemeinden werden dafür zahlen, weil sie für die Grundsicherung im Alter zuständig sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto Fricke [FDP]: Sind die Gemeinden dafür allein zuständig?) Wer mit solchen primitiven Verschiebebahnhöfen der Bevölkerung und dem Parlament weismachen will, dies wäre Konsolidierungspolitik, der hat mit Zitronen ge- handelt. Da muss sich die FDP nicht wundern, dass sie laut Umfragen inzwischen bei 4 Prozent gelandet ist. (Otto Fricke [FDP]: Oh!) Das wird so weitergehen, wenn Sie sich nicht ändern. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto Fricke [FDP]: Danke, Papi! – Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Das ist eine Rede aus dem letzten Jahrhundert gewesen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Norbert Brackmann [CDU/ CSU]: Jetzt kommt endlich etwas Wegweisen- des!) Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, wo wir stehen. Ich finde im Antrag – im Gegensatz zu der wirklich sehr polemischen Schaufensterrede des Kolle- gen Kuhn – sehr viel Übereinstimmung in der Analyse. (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ CSU]) Wir in Deutschland und die Staatengemeinschaften weltweit stehen vor finanzpolitischen Herausforderun- gen, wie man sie sich vor einigen Jahren noch nicht hat vorstellen können. Die Wirtschaftskrise hat bewirkt, dass sich die Schulden aller Nationen von 2001 bis 2009 verdoppelt haben: von 20,4 auf 41,5 Billionen Dollar. Der Schul- denberg in Deutschland ist auf 1,7 Billionen Euro ange- stiegen; allein im Bundeshaushalt sind es 1,065 Billio- nen Euro. Die Verschuldung des Bundes, der Länder und der Kommunen ist also derzeit auf dem höchsten je er- reichten Stand. Diese immense Verschuldung der Staats- haushalte gefährdet nicht nur die Handlungs- und Ge- staltungsfähigkeit des Staates, sondern destabilisiert auch unser internationales Währungssystem. Das durften wir jüngst beim Euro erfahren. Deshalb ist eine Rück- kehr auf einen soliden, stabilen Konsolidierungs- und Wachstumspfad dringend geboten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Einerseits brauchen wir das Vertrauen der Finanzmärkte, andererseits zwingt uns unsere Schuldenbremse, die ich sehr begrüße, zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik. Deshalb ist eine solche Politik der Grundpfeiler christ- lich-liberaler Politik und auch, Herr Kuhn, ein Kernele- ment der sozialen Marktwirtschaft. Das sichert uns auch für die Zukunft Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Zu dem Thema komme ich gleich noch. Nun zu Toronto. Ich bin der Auffassung, dass unsere Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister beim G-20-Treffen in Toronto einen wirklich großen Erfolg erzielt haben. Denn die G-20-Staaten haben sich darauf geeinigt, dass die großen Industrieländer bis 2013 ihre Verschuldung halbieren und ab dem Jahr 2016 mit dem Schuldenabbau beginnen. Damit hat sich im Kern die deutsche Stabilitätskultur, sprich: die deutsche Schul- denbremse, als internationales Vorbild empfohlen und durchgesetzt. Das ist ein Riesenerfolg. (Beifall bei der CDU/CSU) An der Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass es richtig war, dass sich die Bundeskanzlerin nicht dem Druck der USA gebeugt und die Verschuldungsspirale weiter hochgetrieben hat. Sie macht genau das Gegen- teil, und das ist vollkommen richtig. (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Sehr gut!) 5276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Norbert Barthle (A) (C) (D)(B) Das Ergebnis dieses Treffens zeigt auch, dass Ziel und Umfang unseres Sparpakets richtig sind. Es ist ein Mix aus moderaten Ausgabenkürzungen und wachs- tumsfördernden Investitionen. Es ist sozial ausgewogen und geeignet, die Defizite maßvoll zurückzuführen und ein nachhaltiges Wachstum zu sichern. Denn nur mit die- sem durchgreifenden Konsolidierungskurs verschafft sich der Staat die notwendigen Spielräume, um zu ge- stalten und die Bürger zu entlasten. Nur ein robustes, nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist ein Garant, um Armutsrisiken zu vermeiden, Arbeitslosigkeit zu verrin- gern und Wohlstand für alle zu sichern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was das Sparpaket angeht, sind mir vier Schwer- punkte besonders wichtig: erstens Vorrang für wachs- tumsfördernde Zukunftsinvestitionen insbesondere im Bereich Bildung und Forschung, zweitens Überprüfung von Transferleistungen auf ihre Effizienz und Zielgenau- igkeit, drittens Rückführung ineffizienter Doppelleistun- gen im Sozialbereich und viertens Subventionsabbau und ökologische Neujustierung. Das sind die Kernbot- schaften dieses Pakets. Sie sehen: Wir legen – das ist mir besonders wichtig – den Schwerpunkt nicht auf die Erhöhung der Einnah- men, sondern auf die Kürzung der Ausgaben. Zahlrei- che Ökonomen bestätigen uns aus den Erfahrungen der Vergangenheit, dass Sparpakete, die die Priorität auf hö- here Steuern oder Investitionskürzungen legen, keinen Erfolg versprechen. Diejenigen Staaten, die Steuern er- höhten, waren nach drei Jahren noch genauso verschul- det wie vorher. Die Erfolgsaussichten sind dann beson- ders gut, wenn bei den Sozialtransfers und beim Personal im öffentlichen Dienst gespart wird. Das zeigen die Erfahrungen. Auf mittlere Sicht hemmen Steuererhö- hungen das Wirtschaftswachstum, was wiederum die Steuereinnahmen senkt und letzten Endes die Konsoli- dierung gefährdet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unser Sparpaket setzt deshalb die richtigen Schwer- punkte. Wir haben aus den Erfahrungen der Vergangen- heit, auch in anderen Ländern, gelernt, und jetzt sind wir auf dem richtigen Weg. In der öffentlichen Debatte ist immer wieder die Leier zu hören – auch Herr Kuhn hat es wieder vorgetragen –, die Gutverdiener müssten zusätzlich belastet werden. Man sollte an dieser Stelle eines bedenken: Das obere Drittel der Steuerpflichtigen trägt bereits heute rund 80 Prozent der Einkommensteuer. Das untere Drittel der Einkommen erhält fast 60 Prozent aller Transferleistun- gen, zahlt aber nur 5 Prozent der Steuern und Sozialab- gaben. Das heißt doch de facto: Schon heute tragen die starken Schultern den Löwenanteil der sozialen Lasten. Auch das muss immer wieder gesagt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Im Zusammenhang mit der Steuererhöhungsdebatte sollte auch immer bedacht werden, inwieweit durch Steu- ererhöhungen möglicherweise auch Anreize zur Schaf- fung von Arbeitsplätzen vernichtet werden und damit das Wachstum behindert wird. Das darf nicht außer Acht ge- lassen werden. Zudem würde durch Steuererhöhungen zwar kurzzeitig zusätzliches Geld in die öffentlichen Kas- sen gespült, dies würde aber nicht die chronische, also strukturelle Unterfinanzierung des Staatshaushalts besei- tigen. Das ist mit dem Satz gemeint, der in den vergan- genen Wochen an dieser Stelle mehrfach bewusst oder vielleicht auch unbewusst fehlinterpretiert worden ist, nämlich dass wir in der Vergangenheit über unsere Ver- hältnisse gelebt haben. Das mag vielleicht für den Einzelnen so nicht gelten – das ist keine Frage –, aber für unsere Gesellschaft als Ganzes gilt das sehr wohl. An dieser Stelle gilt es, umzu- steuern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Allein ein Blick auf die Sozialausgabenquote macht dies deutlich: Die Sozialausgaben im Bundeshaushalt 2010 belaufen sich auf mehr als 170 Milliarden Euro und machen damit rund 54 Prozent der gesamten Bun- desausgaben aus. Im Jahr der deutschen Wiedervereini- gung lag der Anteil noch bei 34 Prozent. So hat sich das inzwischen entwickelt. Auch in dem Antrag der Grünen wird wie auch eben von Herrn Kuhn wieder der Vorwurf zum Ausdruck ge- bracht, das Sparpaket sei sozial unausgewogen, und es werde auf dem Rücken der Arbeitslosen und der Fami- lien gespart. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Das ist falsch. Es ist unverantwortliche Polemik, dies immer wieder so vorzutragen. Entweder Sie verstehen den Kerngedanken des Sparkonzepts nicht, oder Sie wollen ihn nicht verstehen. Ich werde ihn Ihnen nochmals erklären: Soziale Ge- rechtigkeit ist keine Einbahnstraße. (Joachim Poß [SPD]: Das erklärt alles!) An der ganzen Gerechtigkeitsdebatte stört mich eines fundamental: dass diese Debatte ausschließlich aus einer einzigen Blickrichtung geführt wird, nämlich aus der Sicht der Leistungsempfänger. Gerechtigkeit ist aber nicht eindimensional, sondern muss stets im Hinblick auf andere betrachtet werden. Das steht auch im Ein- klang mit dem im Grundgesetz verankerten Solidaritäts- prinzip. (Beifall bei der CDU/CSU) Mir stellt sich die Frage, ob es tatsächlich ein Aus- weis sozialer Kälte ist, wenn eine immer kleiner wer- dende Gruppe in unserer Gesellschaft, die mit ihren Steuerbeiträgen eine immer größer werdende Gruppe von Transferempfängern unterstützt, danach fragt, ob die erbrachten Leistungen den gewünschten Effekt erzielen. Genau dem werden wir an dieser Stelle gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU) Angesichts unserer demografischen Entwicklung – Sie alle kennen sie – wird sich das Verhältnis der Transfer- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5277 Norbert Barthle (A) (C) (D)(B) zahler zu den Transferempfängern weiter verschärfen. Deshalb muss eine Gerechtigkeitsdebatte auch vor dem Hintergrund der Generationengerechtigkeit geführt werden. Das blenden Sie auf der linken Seite dieses Hauses immer aus. Das geht nicht. Wer sich das Sparpaket genau anschaut, der wird sehr schnell feststellen, dass insofern eine Ausgewogenheit besteht, als Verwaltung, Unternehmen und Sozialleis- tungsempfänger an den Lasten in etwa gleichermaßen beteiligt werden. Was die Sozialleistungen in diesem Sparpaket angeht, fällt mir auf: Dort wird sogar unter- proportional gekürzt. Würden wir den von vielen immer geforderten Rasenmäher anwenden, also proportional gleichmäßig sparen, würde das bedeuten, dass wir im so- zialen Bereich gut das Doppelte von dem einsparen müssten, was wir jetzt einsparen. Das sei auch an die Adresse derer gerichtet, die von einem Kettensägenmas- saker oder Ähnlichem gesprochen haben. Wer so spricht, urteilt völlig jenseits der Realität. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu dem gleichen Ergebnis kommt man, wenn man sich anschaut, in welchen Bereichen der Sozialleistungen Kürzungen vorgesehen sind: Im Bereich der Eingliede- rungsleistungen für Arbeitsuchende sollen durch Er- weiterung des Handlungsspielraums die Arbeitsvermitt- ler in die Lage versetzt werden, zielgenauer als bisher zu fördern. Unser Ziel ist es, Anreize zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu setzen. Das ist der Kerngedanke dieser Maßnahme; darum geht es. Auch die geplante Anrechnung des Elterngeldes bei den Beziehern von Arbeitslosengeld II ist richtig. Da- durch wird für mehr Gerechtigkeit in diesem Land in Bezug auf den Niedriglohnsektor gesorgt. Es geht da- rum, Doppelleistungen zu vermeiden. Die zusätzliche Gewährung von Elterngeld für Bezieher von Arbeitslo- sengeld II verringert den Lohnabstand. Sie müssen sich einmal die Berechnungen der verschiedenen Wirt- schaftsforschungsinstitute anschauen. Darin kommt man klar zu dem Ergebnis: Ein verheirateter Alleinverdiener, der Vollzeit arbeitet, muss mindestens einen Stunden- lohn von 11 Euro brutto erzielen, um ohne Transferleis- tungen auf das gleiche verfügbare Einkommen zu kom- men, das er ohne Erwerbsarbeit erhalten würde. (Bettina Hagedorn [SPD]: Dann sorgen Sie da- für!) Das ist mehr, als im Niedriglohnsektor gezahlt wird. Auch dieser Tatsache muss man ins Auge schauen. Eine Aufstockung der Regelsätze, wie im Antrag der Grünen gefordert, würde – das haben Sie verschwiegen, Herr Kuhn – dieses Problem noch verschärfen. Erklären Sie einmal einem Arbeitnehmer, der keine üppig be- zahlte Vollzeitstelle hat, warum er eigentlich noch arbei- ten soll, warum er in das Sozialsystem einzahlen soll und warum er mit seinen Beiträgen unser Land stützen soll, wenn sich jemand, der nicht arbeiten geht, finanziell bes- serstellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist nicht zu erklären. Das, was wir hier machen, ist also gerecht. Nochmals: Wir gehen nicht mit der Rasenmäherme- thode vor. Wir setzen zielgenau dort an, wo es möglich ist, zu sparen. Wir schaffen Wachstumspotenziale. Wir sanieren den Bundeshaushalt. Mit all dem sind wir hier genau auf dem richtigen Weg. Eines sei noch hinzugefügt: Wir Haushälter werden es mit Sicherheit nicht zulassen, dass an dem Sparpaket ge- schliffen, dass es aufgeschnürt oder abgemildert wird. Wer meint, angesichts einer besseren Konjunktur müsse man weniger sparen, ist auf dem Holzweg; denn hier geht es um konjunkturelle Effekte. Wir müssen jedoch strukturell sparen. Das ist die Aufgabe; sie bleibt uns er- halten. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Joachim Poß. (Beifall bei der SPD) Joachim Poß (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Barthle, ich finde es schon erschreckend, dass Ihnen, seit die Große Koalition nicht mehr existiert, wohl innerhalb weniger Monate das soziale Empfinden gänzlich weggerutscht ist (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Im Gegenteil! – Zuruf von der FDP: Ta- schentuch!) und dass Sie sich im Zusammenhang mit diesem Sparpa- ket offenkundig zum politischen Gefangenen dieser klei- nen, radikalen, neoliberalen Partei haben machen lassen. (Otto Fricke [FDP]: Vorsicht! Was heißt „radi- kal“?) Dieser Vorgang ist bei den Parteien der Union zu be- obachten, bei denen zum Beispiel der sozial verpflich- tete Katholizismus bisher immer eine Rolle spielte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist erschreckend, wie das aus dem Ruder läuft. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke? Joachim Poß (SPD): Aber selbstverständlich. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Fricke, bitte. 5278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Otto Fricke (FDP): Herr Kollege Poß, Sie haben gerade meine Partei als eine „radikale“ Partei bezeichnet. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Als „kleine“ Partei!) – Ich finde es sehr bemerkenswert, dass unter Demokra- ten, zu denen sich die Grünen angeblich zählen, so auf ein solches Wort reagiert wird. Herr Kollege Poß, ich würde Sie bitten, entweder den Begriff zurückzunehmen oder hier zu erklären, warum Sie der Meinung sind, dass Sie im Zusammenhang mit der FDP von einer radikalen Partei sprechen können. (Nicolette Kressl [SPD]: Da liegen die Nerven aber blank!) Joachim Poß (SPD): Sie leugnen die Notwendigkeit eines finanziellen und sozialen Ausgleichs in dieser Gesellschaft konsequent und radikal. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Damit waren Sie in dieser Koalition leider erfolgreich. Das ist eine aktuelle Zustandsbeschreibung. Es handelt sich bei der FDP um eine Partei, die sich zum Beispiel bis Mitte Mai vehement dagegen gewehrt hat, dass der Finanzbereich einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens entrichtet. Wir ha- ben mehrere Stunden mit Ihnen verhandelt. In einer ge- wissen Situation ist eine solche Haltung eben vernagelt. Man kann auch „vernagelt“ sagen, wenn man nicht „ra- dikal“ sagen möchte; (Otto Fricke [FDP]: Sagen Sie weiter „radikal“ oder nicht?) aber es gibt da nichts zurückzunehmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die FDP ist in der Tat eine radikale Partei. Herr Fricke, ich würde nie auf den Gedanken kommen, sie als extremistische Partei zu bezeichnen; das liegt mir fern. Die FDP ist aber eine radikale Partei in dem Sinne, dass sie radikal die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs in dieser Gesellschaft leugnet und den größeren Koalitions- partner bis Mitte oder Ende Mai – bis in manchem Be- wegung entstanden ist – zum politischen Gefangenen ge- macht hat, zum Nachteil dieses Landes. Das ist erschreckend. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Ich habe doch eben die Fakten genannt! Nehmen Sie das mal zur Kenntnis!) Wenn es beim sogenannten Sparpaket im Hinblick auf die betroffenen Individuen auch keinen sozialen Aus- gleich gibt – ich werde gleich noch darauf eingehen –, dann zeigt dies, dass der Einfluss der FDP weiterhin groß ist. Sie haben sehr wahrscheinlich weitergehende Überlegungen aus der Union, teilweise auch aus der FDP, zur Anhebung des Spitzensteuersatzes und zu an- deren Maßnahmen konsequent abgeblockt. Das Ergebnis dessen wurde von Ihrem Parteivorsitzenden gemeinsam mit Frau Merkel ziemlich ratlos vorgestellt. Sie sind nach eigenem Bekunden dabei, sich neu auf- zustellen, weil wohl viele, die Sie aus Versehen gewählt haben, erkannt haben, welch unheilvollen Einfluss Sie in der bundesdeutschen Politik ausüben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Auch das spricht für meine Ansicht. Herr Kollege Barthle, wenn das Mindestelterngeld für die Ehefrau eines Spitzenverdieners erhalten bleibt, das von Hartz-IV-Empfängern aber gestrichen wird, stellt sich die Frage: Was hat das denn mit Ordnungspo- litik oder mit dem Lohnabstandsgebot zu tun? (Otto Fricke [FDP]: Wer hat das denn eingeführt?) Das ist doch eine haarsträubende Begründung, die Sie da gebracht haben, und sie zeigt, woran es Ihnen mangelt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gestern ist der Versuch einer Neuaufstellung geschei- tert. Das Sparpaket war der vorletzte Versuch einer Neu- aufstellung dieser Koalition. (Otto Fricke [FDP]: Sie haben Schwierigkeiten, Ergebnisse von Wahlen zu akzeptieren!) Auch das ist kräftig danebengegangen. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hatten wir die absolute Mehrheit oder nicht?) – Herr Barthle, ich wundere mich, dass Sie überhaupt nicht zu den gemeinsamen Erfolgen der Großen Koali- tion stehen. Sie weisen nicht auf das hin, was wir ge- meinsam an Wichtigem für unser Land erreicht haben. (Patrick Meinhardt [FDP]: Können Sie etwas Sinnvolles sagen?) Das hätten Sie in der Tat tun können. Dem Regierungssprecher und Frau Merkel ist es le- diglich gelungen, aus Toronto in die Wohnzimmer der deutschen Fernsehzuschauer den Eindruck zu vermit- teln, dass eine Protokollerklärung der Gipfelteilnehmer, die den guten Willen der dort Versammelten zum Schul- denabbau ausdrückt, ausreicht – in sehr unrealistischer Weise, wenn man sich, was 2013 und 2016 angeht, die Länder und deren Verschuldung im Einzelnen ansieht –, um Veränderungen herbeizuführen. Beim bundesdeut- schen Publikum wurde der Eindruck erweckt, das sei die Hauptfrage des G-20-Gipfels gewesen. Dadurch wollte man davon ablenken, dass man auch auf internationaler Ebene gescheitert ist, vernünftige Maßnahmen in Sachen Finanzmarktregulierung zu vereinbaren, weil die deut- sche Bundesregierung in dieser Koalition nicht aufge- stellt war – dort saßen die radikalen Bremser – und (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5279 Joachim Poß (A) (C) (D)(B) weil Instrumente wie die Finanzmarkttransaktionsteuer nicht durchgesetzt werden konnten. Sie haben vorher schon den Kampf darum aufgegeben. Durch Ihren Spin wurde davon abgelenkt, dass Frau Merkel ihren durch- aus vorhandenen guten Ruf, den sie in Europa und auch weltweit genoss, in der Griechenlandkrise hoffnungs- los verspielt hat. Das ist der Vorgang, der tatsächlich stattgefunden hat und von dem abgelenkt wurde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Im Ausland sieht man das anders! Man muss nur Ihre Parteipostillen lesen!) Dem sogenannten Sparpaket fehlt das Gestaltungs- ziel, der Kompass. Es fehlt der Wachstumsimpuls für die Zeit nach dem Auslaufen der Konjunkturpakete. Im Moment haben wir zwei Elemente der Wirtschafts- entwicklung. Der Export läuft super – wir alle finden das gut, das hat auch etwas mit dem Euro-Dollar-Verhältnis zu tun –, und die Investitionen werden vorangetrieben. Wir werden in diesem Jahr erleben, dass bis zum Aus- laufen der Konjunkturpakete noch ungefähr 10 Milliar- den Euro an öffentlichen Investitionen in Bewegung ge- setzt werden. Im letzten Jahr sind nur 3 Milliarden Euro der Investitionen abgeflossen. Aber es stellt sich fol- gende Frage: Was ist danach? Sie haben nicht einmal versucht, eine Antwort darauf zu geben. Sie haben keine Antwort gesucht. Sie haben ein jämmerliches Bild abge- geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe mir die Pressekonferenz von Frau Merkel und Herrn Westerwelle am 7. Juni angesehen. Es war nicht nur körperliche Erschöpfung, die sich da niederge- schlagen hat, sondern offenkundig auch geistiges Ausge- branntsein (Beifall bei der SPD) und das Eingeständnis, dass man die Kraft zur Führung unseres Landes nicht mehr hat. Was ist mit einer Soforthilfe für die Kommunen? Die Kommunen können doch nicht auf irgendwelche Maß- nahmen warten. Ihnen brennt bereits jetzt der Pelz. Der Bund muss gemeinsam mit den Ländern – in erster Linie ist es die Aufgabe der Länder – helfen, und zwar schnell. Auf diese zentrale Frage geben Sie keine Antwort. Diese Antwort sind Sie schuldig geblieben. Stattdessen soll die Gewerbesteuer – eine alte Obsession von Herrn Schäuble; es wird spekuliert, ob das ein Zugeständnis an die FDP im Zusammenhang mit dem Präsidentenpoker war – abgeschafft werden. Das heißt, 30 bis 40 Milliar- den Euro, die jetzt die Wirtschaft tragen muss, sollen bzw. werden in welcher Form und nach welchem Modell auch immer auf Verbraucher und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlagert. Das ist eine gewaltige, zu- sätzliche Umverteilungsmaßnahme. (Beifall bei der SPD) Ich hoffe, dass die politischen Verhältnisse in diesem Land – auch nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen – in- zwischen so sind, dass eine solche Maßnahme nicht mehr Platz greifen kann. Es fehlt in Ihrem Konzept – Kollege Kuhn hat darauf hingewiesen – die Streichung der neu geschaffenen Pri- vilegien für Hotels und für Unternehmenserben. Sie haben ja wieder eine aktuelle Auseinandersetzung in Ih- ren Reihen. Man fasst sich an den Kopf, wenn man sieht, welche Auseinandersetzung da bei Ihnen stattfindet. Man fragt sich, ob Sie nach Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise nicht die Kraft finden, um auch mal Dinge zu korrigieren, die offenkundig schiefgelaufen sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Und dann stellen Sie sich hin, Herr Lindner, und vertei- digen die Streichungen bei Hartz IV und anderen sozial Schwachen, sagen aber kein Wort zu diesen unzumutba- ren Privilegien, die kein Mensch in dieser Republik mehr versteht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Lassen Sie sich auch etwas Neues ein- fallen!) Die von Ihnen behauptete Beteiligung der Wirtschaft an der Konsolidierung besteht aus Luftbuchungen und Hoffnungswerten. Da, wo es zur Sache geht – bei sozial Schwachen –, wird konkret gekürzt. Das ist das Ganze. Und dann sagen Sie: Na ja, wir haben doch einen sozia- len Ausgleich. Frau von der Leyen sagt das lächelnd, wie es ihre Art ist. Ich finde, das ist manchmal etwas sehr kalt lächelnd. Sie sagt: Das ist doch sozial ausgewo- gen, wenn wir bei Behinderten und bei Leistungen für Rentner nicht gestrichen haben. Das war die Begrün- dung von Frau von der Leyen, warum das Paket sozial ausgewogen ist. Man stelle sich das vor. Ich habe es selbst im Fernsehen gesehen und es fast nicht glauben mögen. Wenn ich das gelesen hätte, hätte ich noch ein- mal nachgelesen. Es ist eine unhaltbare und fast zyni- sche Begründung, die Frau von der Leyen zur Rechtfer- tigung dieses Pakets abgegeben hat. Frau Merkel und Herr Schäuble argumentieren mit ei- ner Drittelbelastung. Das Paket sei ausgewogen, weil zu je einem Drittel die Sozialausgaben, die Wirtschaft so- wie Beamte und Verwaltung betroffen sind. Das sind hohle Aussagen, mit denen Sie – weder hier im Parla- ment noch bei den Menschen – nicht durchkommen wer- den. (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind die Fakten!) Seit wann sind denn Unternehmen und die Verwaltung der soziale Gegenpol zu den Arbeitslosengeld-II-Emp- fängern oder den Wohn- und Elterngeldempfängern? Der soziale Gegenpol, meine Damen und Herren, falls es noch nicht in Ihre Köpfe vorgedrungen ist, zu wirtschaft- lich schwächeren Individuen sind nicht irgendwelche In- stitutionen, sondern wirtschaftlich stärkere Individuen wie Spitzenverdiener und Vermögende. 5280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Joachim Poß (A) (C) (D)(B) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist das Diktat Westerwelles und dieser radikalen Partei, der FDP. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie dividieren die Gesellschaft auseinander!) Die wirtschaftlich Stärkeren spielen in Ihren Belastungs- überlegungen gar keine Rolle. Das ist das Skandalöse. Unklar ist, ob die Belastungen der Wirtschaft, die Sie vorsehen, überhaupt den Sommer überleben werden. Ich gehe davon aus, dass Frau Merkel vor der Atomlobby noch völlig einknicken wird. Vermutlich werden wir gar keinen Gesetzentwurf für eine Brennelementesteuer oder Ähnliches von der Regierung vorgelegt bekommen. (Otto Fricke [FDP]: Wenn es nach Ihnen ginge, wäre die Welt noch eine flache Scheibe!) Die behauptete Beteiligung des Bankensektors ist ebenfalls unklar. Ich hoffe, dass, wie angekündigt, um die Transaktionsteuer in Europa wirklich gekämpft wird. Wenn das nicht kommt, müssen wir eben über eine nationale Lösung nachdenken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich hoffe, dass die 2 Milliarden Euro, die dafür in 2012 als erste Scheibe vorgesehen sind, nicht gänzlich aus Ih- rem Gedächtnis entschwinden werden. Alles in allem: Wenn man zusammenfasst, was Sie da mit diesem sogenannten Sparpaket vorgelegt haben, dann ist das nicht „intelligentes Sparen“, sondern Aus- druck einer eher dummen, kurzsichtigen und einfallslo- sen Finanz- und Regierungspolitik. Obwohl Sie Ihren Kandidaten für das Bundespräsi- dentenamt dann doch noch durchgebracht haben, war das – wie auch ich fürchte – nicht der Beginn professio- neller und guter Regierungsarbeit. Sie werden sich – so ist es zu erwarten – in der Koalition weiter blockieren und den Problemen und Herausforderungen dieses Lan- des überhaupt nicht gerecht werden. Wir alle werden deshalb Schaden erleiden. Es ist das Bedauerliche, dass offenkundig keine Möglichkeit besteht – es sei denn über den Bundesrat –, den größten Schaden abzuwen- den. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Da klatschen ja nicht mal die Eigenen richtig!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Florian Toncar (FDP): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist gut, dass wir über die Sparpolitik diskutieren. Aber, Kollege Poß, bei allem Verständnis dafür, dass Sie Ansatzpunkte für Kritik su- chen, muss ich sagen, dass der Tonfall und der Duktus Ihrer Rede etwas Beschämendes hatten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir, dass viele Wähler diese Rede gehört haben (Joachim Poß [SPD]: Ich hoffe das auch!) und sie unter anderem im Zusammenhang mit den ver- meintlichen Bemühungen Ihrer eigenen Landesvorsit- zenden in Nordrhein-Westfalen sehen, Koalitionen zu bilden, die offensichtlich – wenn man Ihnen zuhört, be- kommt man diesen Eindruck – nicht ernsthaft gewollt, sondern eher ein Akt der Wählertäuschung sind. (Lachen der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Das, was Sie heute geboten haben, war aufschlussreich. Dafür danken wir Ihnen herzlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Backen Sie mal lieber kleine Brötchen! Das Wort „Wählertäuschung“ soll- ten Sie lieber nicht in den Mund nehmen! – Johannes Kahrs [SPD]: Von Wählertäuschung verstehen Sie ja etwas! Wulff hat sich gestern von den Linken tolerieren lassen!) Die Koalition wird den Haushalt in dieser Wahlpe- riode nachhaltig sanieren. Dazu gehören zwei Aspekte: erstens eine gute Wirtschaftsentwicklung und zweitens die Verringerung der staatlichen Defizite. Das geht bei dieser Koalition Hand in Hand. Das gebietet nicht nur die Einhaltung der Schuldenbremse, unser Verfassungs- recht, sondern das gebieten auch die Handlungsfähigkeit des Staates in künftigen Jahren und unsere Verantwor- tung gegenüber künftigen Generationen. Genau deswe- gen schlägt die Regierung diesen Kurs ein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das bedeutet erstens, dass wir uns um die Wirt- schaftsentwicklung kümmern müssen. Das ist ein Aspekt, der mir in der Debatte bisher zu kurz kommt, übrigens auch in dem Antrag, den Sie eingebracht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Wir müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, dass die Wirtschaft wieder ins Laufen kommt. Das hat diese Ko- alition getan, indem sie Steuerentlastungen für Mittel- stand und Familien durchgesetzt hat, sie hat es dadurch getan, dass sie die Sozialversicherungsbeitragssätze sta- bil gehalten hat, und nicht zuletzt auch dadurch, dass sie mit großen Anstrengungen den Euro, die europäische Währungsunion stabilisiert hat. (Otto Fricke [FDP]: Ja! Anders als Rot-Grün!) Auch das gehört dazu, wenn man dafür sorgen will, dass die Wirtschaft wieder läuft, dass Arbeitsplätze entstehen können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben zum Zweiten ein Konsolidierungspaket vorgelegt, das einen Umfang von 80 Milliarden Euro Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5281 Florian Toncar (A) (C) (D)(B) hat, das die Eckwerte für den Haushalt 2011 markiert, aber darüber hinaus auch eine Finanzplanung bis 2014 beinhaltet. Das heißt, wir haben uns gleich auf vier Jahre verständigt. Das ist, wie ich glaube, eine der besten Bot- schaften der Klausur der Bundesregierung. Es ist nicht nur über ein Jahr gesprochen worden, sondern es wurde ein Fahrplan verabredet, der mittelfristig gilt und uns Orientierung gibt. (Johannes Kahrs [SPD]: Leider steht da nichts drin!) Nicht alles, was da drinsteht, ist einfach, auch für unsere Bevölkerung nicht; das wissen wir. Aber es ist notwen- dig, wenn wir verhindern wollen, dass der Staat in Zu- kunft nicht mehr handlungsfähig ist. Die Einsparungen betreffen den gesamten Verwal- tungsbereich, und zwar massiv; sie werden zu deutlichen Veränderungen führen. Sie betreffen selbstverständlich auch die Unternehmen und gerade den Finanzsektor, ent- gegen allem, was in der Diskussion immer wieder be- hauptet wird. Im Sozialbereich kommt es zu Einsparun- gen; das stimmt. Sie machen ungefähr ein Drittel des Sparvolumens dieses Paketes aus. Bei einem Sozialaus- gabenanteil am Haushalt in Höhe von 55 Prozent ist das unterproportional. (Bettina Hagedorn [SPD]: Na, na!) – Das ist so. Zahlen lügen nicht, Frau Kollegin Hagedorn. 33 Prozent sind weniger als 55 Prozent. Das möchte ich für das Protokoll festhalten. (Beifall bei der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Ja! Aber da sind über 50 Milliarden Euro Rente mit dabei! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Aha! Frau Hagedorn will also bei der Rente kürzen!) Ich möchte darauf hinweisen: Dabei wurde noch nicht berücksichtigt, dass wir es dieses Jahr trotz Sparanstren- gungen und Schuldenbremse schaffen, 2 Milliarden Euro extra für die gesetzliche Krankenversicherung bereit- zustellen, die Sie in einem Zustand hinterlassen haben, der wahrhaftig empörend ist. Man muss doch sagen: Was Sie den gesetzlich Versicherten durch die Gesundheits- politik der letzten Jahre zugemutet haben, das ist empö- rend, das ist sozial gefährlich, und das werden wir korri- gieren. (Widerspruch bei der SPD) Dafür stellen wir in diesem Haushalt 2 Milliarden Euro extra zur Verfügung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn es um die Frage: „Welche Einsparungen wer- den letzten Endes im Sozialetat vorgenommen?“ geht, muss man sagen: Der Großteil der Einsparungen wird nicht im Leistungsbereich, sondern im administrativen Bereich vorgenommen, insbesondere bei den Instrumen- ten, die die Arbeitsverwaltung hat, um Arbeitslose wie- der in den Arbeitsmarkt einzugliedern. (Bettina Hagedorn [SPD]: Aha! Bei welchen denn?) Das wird mit einem neuen Konzept, das treffsicherer als die bisherige Lösung ist, verbunden sein. (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie wollen doch Pflicht- in Ermessensleistungen umwandeln!) Wenn Sie sich nur den schieren Geldbetrag, um den es geht, anschauen – das machen Sie ja –, stellen Sie fest: In Zukunft wird für die Betreuung von Langzeitarbeits- losen pro Kopf mehr Geld zur Verfügung stehen, als es 2005 der Fall gewesen ist. (Nicolette Kressl [SPD]: Oh nein! – Bettina Hagedorn [SPD]: Das glauben Sie doch nicht ernsthaft! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ich habe Angst, dass Sie das selbst glauben, Herr Toncar!) Die Kritik, die Sie an dieser Stelle äußern, ist unglaub- würdig, weil Sie selber, als Sie Verantwortung getragen haben – das gilt auch für die Grünen –, keinen Euro mehr pro Kopf zur Verfügung gestellt haben, als das in den nächsten Jahren der Fall sein wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wahr! Aber das wollen die nicht hören!) Jetzt möchte ich auf einen weiteren Aspekt eingehen – ich kann nicht alle Punkte ansprechen; aber der Kol- lege Otto Fricke wird meine Ausführungen nachher viel- leicht noch ergänzen –: (Otto Fricke [FDP]: Gerne! – Zuruf von der LINKEN: Der redet auch noch?) Im Antrag der Grünen geht es um ökologisch schädli- che Subventionen. Das ist für Sie eine der ganz großen Maßnahmen, mit denen Sie die Einnahmen erhöhen möchten. Ich kann nur sagen: Wenn ich lese, was Sie in Ihrem Antrag aufgeschrieben haben, dann empfinde ich das als eine schonungslose Abrechnung mit der Politik, die Sie unter Rot-Grün gemacht haben. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Fast schon radikal!) Sie haben kein einziges Beispiel dafür nennen können – vielleicht kann das der Kollege Kindler noch –, dass Rot-Grün eine der von Ihnen kritisierten ökologisch schädlichen Subventionen abgebaut hätte. Ich würde gerne wissen, wo das der Fall war. Vielleicht können Sie mir noch eine nennen. Einige dieser Subventionen wur- den von Rot-Grün sogar eingeführt. Ob Stromsteuerge- setz, Energiesteuergesetz oder Spitzenausgleich, das al- les sind Gesetze von Rot-Grün, die unter maßgeblicher Mitwirkung von Jürgen Trittin zustande gekommen sind. Dass Sie ihm in Ihrem Antrag quasi so einen mitgeben, finde ich erstaunlich, aber in Teilen sicherlich auch be- rechtigt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie schreiben in Ihrem Antrag, wenn diese Koalition nun Missbrauchsmöglichkeiten bei der Strom- oder der Energiesteuer beseitige, dann sei das eine Selbst- verständlichkeit. Ich hätte es für eine Selbstverständlich- 5282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Florian Toncar (A) (C) (D)(B) keit gehalten, wenn Sie in Ihrer Regierungszeit Gesetze gemacht hätten, die handwerklich so sauber gewesen wären, dass es überhaupt keine Missbrauchsmöglichkei- ten gegeben hätte. Das wäre selbstverständlich gewesen. Aber wir gehen jetzt das Problem, das Sie uns hinterlas- sen haben, an und leisten damit einen Beitrag zur Haus- haltskonsolidierung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen bei allem, was wir tun, die Wettbe- werbsfähigkeit unserer Wirtschaft und insbesondere die Zukunftschancen des Mittelstandes im Blick haben; denn dort entstehen Arbeitsplätze und nicht durch Be- schlüsse von Parlamenten oder durch Programme von Parteien. Deswegen genügt es meines Erachtens nicht, dass Sie in Ihrem Antrag aufzählen und benennen, dass es große Potenziale im Umweltbereich und beim Ener- giesparen gibt. Das ist im Grunde eine Erkenntnis, die weitgehend unumstritten ist. Ich bestreite sie jedenfalls nicht. Es genügt aber nicht, Zukunftsbranchen aufzuzäh- len. Hinzu muss die Erkenntnis kommen, dass Arbeits- plätze dort nur entstehen können, wenn Unternehmen in- vestieren und wenn Menschen etwas riskieren. Dafür müssen sie die entsprechenden Bedingungen vorfinden. Das, was Sie zum Spitzensteuersatz schreiben, der im Kern bei allen Personengesellschaften und Familienun- ternehmen erhoben wird, konterkariert das völlig. Es reicht nicht, zu sagen: Umwelttechnologie ist gut. – Wir müssen auch die Bedingungen dafür schaffen, dass Men- schen es wagen, dort mit eigenem Geld einzusteigen. Dazu gehört vieles, selbstverständlich auch attraktive steuerliche Rahmenbedingungen. Wir werden uns darum kümmern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn der vorliegende Antrag einen politischen Wert hat, dann den, dass er deutlich macht, dass es in diesem Parlament zu dem Kurs dieser Regierung, der darauf ab- zielt, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und Haus- haltskonsolidierung zu verbinden, im Grunde keine ver- nünftige Alternative gibt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kol- lege Steffen Bockhahn. (Beifall bei der LINKEN) Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe gerade gelernt, dass die FDP es für ra- dikal-sozial hält, wenn künftig im Gesundheitswesen ein Bankdirektor den gleichen Zuschlag zahlt wie eine An- gestellte an der Kasse bei Lidl oder Schlecker. (Zuruf von der FDP: Das ist falsch!) Das ist die Sozialpolitik der FDP. Das finde ich total schlau. Aber mit sozial hat das ganz sicher nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN – Florian Toncar [FDP]: Das hat auch keiner gesagt! Sie müssen zuhören!) Wir reden gar nicht so sehr über das Sparpaket der Bundesregierung, sondern über einen Antrag, bei dem es um die Frage geht, wie der Haushalt saniert und zu- kunftsfähig gemacht werden kann. Diese Fragestellung ist völlig richtig; denn man muss diesen Haushalt sanie- ren. Es ist auch klar: Dieser Haushalt stellt definitiv nicht die richtigen Weichen, um etwas Besseres für die Zukunft zu erreichen. Wir müssen diesen Haushalt also konsolidieren. Das geht nur dann, wenn man einerseits streicht und andererseits klug investiert und sich Gedan- ken über Einnahmeerhöhungen macht. Bei all dem muss aber der Ausgleich durch einen verantwortlichen Um- gang mit Steuergeldern und der Erfüllung der Aufgaben des Staates gewährleistet werden. Das ist gegenwärtig mit Sicherheit nicht der Fall. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen Investitionen in gesellschaftlich not- wendige Arbeit, die keine Profite bringt. Warum sage ich das? Weil wir momentan, wenn wir über Investitio- nen reden, eher selten an soziale Bereiche denken, und weil wir eher selten daran denken, wie wir Menschen in Bereichen in Arbeit bringen können, für die es keinen Markt gibt. Aber es gibt Bereiche in dieser Gesellschaft, in denen es zwingend erforderlich ist, dass man sich um sie kümmert und dass dort Arbeit geleistet wird. Diese Arbeit muss finanziert werden. Ich glaube, es gibt in die- sem Hause niemanden, der den Spruch „Arbeit statt Ar- beitslosigkeit finanzieren“ falsch findet. Es scheint mir aber tatsächlich so, dass es unter- schiedliche Ideen dazu gibt, wie man das richtig macht. Wir schlagen Ihnen an der Stelle nachdrücklich vor, ei- nen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ein- zurichten. Da kann man dann vernünftige Dinge tun, wie zum Beispiel eine Fahrgastbegleitung im öffentli- chen Personennahverkehr einzurichten. Das hat es zum Beispiel in einigen Städten in Mecklenburg-Vorpom- mern gegeben, als Rot-Rot regiert hat und wir mit Mit- teln aus dem Europäischen Sozialfonds – vom Bund gab es nichts dafür – einen öffentlich geförderten Beschäfti- gungssektor eingerichtet haben und dort beispielsweise im öffentlichen Nahverkehr älteren Damen und Herren dabei geholfen haben, ihre Station zu finden, Touristin- nen und Touristen geholfen haben, den richtigen Weg zu finden, wo wir Menschen mit Behinderung geholfen ha- ben, die Nahverkehrsmittel ordentlich nutzen zu können. Das ist Arbeit, die Sinn macht. Da wissen die Leute, wa- rum sie aufstehen und warum sie zur Arbeit gehen. Sie bekommen dafür einen existenzsichernden Lohn aus öf- fentlichen Geldern. Wir haben dadurch große Vorteile: Zum einen haben wir einen gesellschaftlichen Nutzen, weil gute und notwendige Arbeit geleistet wird, und zum anderen haben wir Arbeit statt Arbeitslosigkeit finan- ziert. (Beifall bei der LINKEN) Das hat natürlich weitere Vorteile: Diese Menschen, die dann nicht mehr arbeitslos sind, sondern vernünf- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5283 Steffen Bockhahn (A) (C) (D)(B) tige und sinnvolle Arbeit tun, zahlen auch wieder in die Sozialsysteme ein. Sie sind keine Belastung für die So- zialsysteme, sondern sie stärken sie. Dies sind keine In- vestitionen, die wir tätigen müssen – quasi als Anspar- abschreibung –, damit diese Menschen irgendwann auch Rente bekommen, sondern sie tun selbst etwas dafür, dass sie Rente bekommen können, und zwar eine ver- nünftige Rente auf einem vernünftigen Niveau. Das lohnt sich, und damit sollte man weitermachen. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt noch viele andere Bereiche. Ich möchte hier nur Seniorenbetreuung oder Integrationslotsen nennen. Hier in Berlin, unter einer rot-roten Regierung, gibt es diese Integrationslotsen im öffentlich geförderten Be- schäftigungssektor. Das ist eine notwendige und sinn- volle Arbeit, und da wird deutlich mehr getan und ge- schaffen, als es mit vielen anderen Programmen des Bundes momentan der Fall ist. Insofern lohnt sich auch so etwas. Hören Sie endlich auf damit, Ihre ideologi- schen Blockaden dagegen aufrechtzuerhalten, und fan- gen Sie an, mit uns über konkrete Projekte zu diskutie- ren. Wir haben da gute Vorschläge zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt dabei noch einen zweiten ganz wichtigen As- pekt, den man im Bereich dieser sozial vernünftigen und auch notwendigen Arbeit nicht außer Acht lassen sollte: Zurzeit müssen wir noch immer sehr viel Geld in den Ausgleich von Schäden durch gesellschaftliche Fehl- entwicklungen investieren. Wie viel müssen wir in Pro- gramme investieren, um benachteiligte Jugendliche und benachteiligte Frauen und Männer in den Arbeitsmarkt zu integrieren, um sie überhaupt erst fähig zu machen, wieder etwas tun zu können? Wie viel haben wir mit Ge- waltprävention und Ähnlichem zu tun? Ich sage Ihnen – Sie wissen es selbst eigentlich ganz genau –: Wenn wir mehr im Bereich der Prävention, wenn wir mehr im Be- reich gesellschaftlich notwendiger Arbeit tun, dann wer- den die Kosten dafür radikal sinken. Das entlastet die Haushalte und gibt uns Gestaltungsspielraum. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir das Gewäh- ren von Subventionen überprüfen und teilweise ändern müssen. Wenn man sich anschaut, was Sie für Ge- schenke an die Atomkraftlobby machen, kann einem nur schlecht werden. Sie sagen immer, wir brauchen diese Technologie, damit der Strom aus der Steckdose auch rauskommt. Ich sage Ihnen: Die Investition in Atom- energie behindert erstens eine ökologische Kehrtwende, und zweitens verhindert sie die Schaffung vieler neuer, produktiver Arbeitsplätze. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Es ist richtig, dass in jedem Kernkraftwerk Menschen arbeiten, die dafür gebraucht werden, das Kraftwerk si- cher und in Betrieb zu halten. Aber schauen Sie sich bitte einmal die Belegschaften in den Atomkraftwerken an, und schauen Sie sich an, wie viele Menschen dage- gen bei Unternehmen der Fotovoltaik-Branche, im Be- reich der Windenergie usw. beschäftigt sind. Wenn Sie sich allein diese Beschäftigungszahlen anschauen, müss- ten Sie begreifen, dass Sie momentan auf dem falschen Weg sind, dass wir Investitionen und Förderung von er- neuerbaren Energien brauchen und nicht alte Dinosau- rier weiter füttern müssen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD – Klaus-Peter Willsch [CDU/ CSU]: Die Kosten pro Arbeitsplatz sind höher als bei der Kohle!) Insofern kann ich Ihnen nur empfehlen, Grundlagen- forschung im Bereich der erneuerbaren Energien zu un- terstützen und zu fördern. Das schafft einen Technolo- gievorsprung, den wir brauchen, um uns weiter am Weltmarkt behaupten zu können. Ich finde es immer ganz erstaunlich, dass gerade CDU/CSU und FDP sagen, es dürfe keine Bestandsga- rantien und Ewigkeitsgarantien im Bereich der Sozial- leistungen geben. Wenn das so ist, frage ich mich natür- lich, warum Sie diese Bestandsgarantien gerade bei Ihren Lobbygruppen immer wieder aufrechterhalten wollen. Das kann so nicht sein. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen natürlich genauso einen Abbau von Subventionen bei energieintensiven Produktionen. Es ist einfach unsinnig, jemanden zu fördern, der sehr viel Energie verbraucht. Viel mehr Sinn würde es doch ma- chen, die Unternehmen dafür zu belohnen – auch wenn sie energieintensive Produktionen betreiben –, wenn sie diesen Energieverbrauch runterfahren und so etwas für die ökologische Wende in Deutschland tun. Da können Sie etwas ändern. Das können Sie subventionieren: den Rückgang von Energieverbrauch. Aber einfach zu ak- zeptieren, dass viel Energie gebraucht wird, hilft nicht. Das muss man nicht weiter fördern. Genauso ist es nicht notwendig, Flugbenzin nicht zu besteuern. Allein die Steuerfreiheit für Flugbenzin hat den Bund seit 2005 8,7 Milliarden Euro an Einnah- meausfällen beschert. Ich finde das nicht logisch. Ich finde das nicht begründbar. Sie können es mir bestimmt nachher erklären. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich glaube nicht, dass sie das erklären können!) Ein ganz wichtiger Punkt ist natürlich, die Investitions- fähigkeit der öffentlichen Hand sicherzustellen, insbeson- dere die Investitionsfähigkeit der Kommunen. Da es so gewollt ist – ich finde das im Grunde auch in Ord- nung –, dass der Bund über die Struktur der Einnahmen in Deutschland entscheidet, welche Einnahmen also die Kommunen, die Länder und der Bund bekommen, muss man sich natürlich auch Gedanken darüber machen, wie 5284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Steffen Bockhahn (A) (C) (D)(B) man sicherstellen kann, dass die Kommunen und die Länder überhaupt in der Lage sind, zu investieren. Ich darf Sie hier an das Grundgesetz der Bundesrepu- blik Deutschland erinnern, in dem festgelegt ist, dass wir alle gemeinsam die Verantwortung dafür haben, gleich- wertige Lebensverhältnisse überall in Deutschland zu schaffen. Das funktioniert nur, wenn die Kommunen überall in Deutschland in der Lage sind, zu investieren. Der Wettbewerbsföderalismus, den Sie momentan be- treiben, ist hier definitiv der falsche Weg. (Beifall bei der LINKEN) Ich darf Ihnen sagen, dass die Halbierung der Mittel für die Städtebauförderung, die Sie jetzt vorhaben, zu einem gigantischen Problemfall für die Kommunen in ganz Deutschland wird. Schauen Sie sich einfach nur die Investitionsplanungen der Kommunen an. Egal ob in Ba- den-Württemberg oder in Mecklenburg-Vorpommern: Alle Kommunen ächzen darunter, dass aufgrund Ihrer Halbierung der Mittel für die Städtebauförderung zuver- lässige Zusagen zurückgenommen wurden. Das ist im Übrigen städteplanerisch nicht sinnvoll, und das ist auch ökonomisch nicht sinnvoll, weil Sie dadurch den Hand- werksbetrieben, die hier zum Zuge kommen würden, die Grundlage für ihre wirtschaftliche Tätigkeit entziehen. Daneben wollen Sie im nächsten Jahr die Mittel im Bereich der energetischen Gebäudesanierung von 700 Millionen Euro auf 450 Millionen Euro kürzen. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen das bekannt ist; deswegen sage ich Ihnen das noch einmal: Jedem einzelnen Euro, den Sie im Bereich der Gebäudesanierung investieren, folgen neun Euro an Folgeinvestitionen. – Es ist ökono- mischer Unfug, so etwas abzuschaffen. Hören Sie auf damit! (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich muss natürlich auch noch etwas zur Schulden- bremse sagen; denn es ist ganz klar: So, wie Sie das mo- mentan planen, werden Investitionen verhindert. – Sie sagen: Ja, in besonderen ökonomischen Situationen kann man auch mehr Schulden machen. – In diesem Haus hat niemand irgendwann einmal bestritten, dass man gerade im Bereich der Wirtschaftsförderung antizyklisch han- deln muss. Wir alle wollen Wirtschaftsförderung betrei- ben, aber wir brauchen ein antizyklisches Handeln. Das tut ja selbst die Koalition. Sie sagen: Wir haben jetzt eine Krise und müssen etwas tun, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. – Wir gehen aber unterschiedliche Wege. Ich sage Ihnen: Wenn Sie antizyklisch handeln und investieren wollen, dann können Sie sich eine Schuldenbremse nicht leisten. So, wie das gegenwärtig geplant ist, wird das nicht helfen. (Florian Toncar [FDP]: Doch, sie hat auch eine Konjunkturkomponente!) – Herr Toncar, die Konjunkturkomponente habe ich ge- rade eben angesprochen. Dass Sie das nicht gehört ha- ben, verzeihe ich Ihnen. Wir müssen natürlich auch die Einnahmeseite berück- sichtigen. Ich finde es gut, dass die Grünen sagen, sie wollen den Spitzensteuersatz wieder erhöhen. Ich kann es Ihnen aber nicht ersparen, zu fragen: Wer hat ihn denn reduziert? – Das waren zuletzt doch Sie. (Otto Fricke [FDP]: Und Sie sagen auch nicht, auf wie viel!) Eine wichtige Sache ist auch die Abgeltungsteuer, bei der wir uns wieder völlig einig sind. Es kann doch nicht sein, dass jemand, der Millionen und Abermillio- nen Euro durch Zinsen oder Spekulationsgewinne verdient bzw. bekommt – verdienen kann man das schlecht –, darauf nur 25 Prozent Steuern bezahlt, wäh- rend jemand, der sich in einem Jahr 1 Million Euro hart erarbeitet hat – damit spreche ich Sie von der Koalition an –, dafür Steuern gemäß dem Spitzensteuersatz bezah- len muss. Das kann selbst aus Ihrer Sicht nicht sozial ge- recht sein. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir brauchen natürlich auch eine andere Finanzie- rung der Sozialsysteme. Mit der Kürzung der Zuschüsse für die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung betrei- ben Sie einfach ökonomischen Wahnsinn, weil Sie damit nichts anderes tun, als eine Last, die heute bekannt ist, den Generationen aufzubürden, die Sie eigentlich angeb- lich entlasten wollen. Wer soll denn die Grundsicherung und die Rente für diejenigen bezahlen, die heute keine Rentenansprüche mehr erwerben, weil Sie die Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge für diese gestrichen ha- ben? Das, was Sie hier machen, ist Wahnsinn und ver- rückt. Ihre Arbeitsmarktpolitik, bei der es immer wieder um Mini- und Midijobs geht, ist genau der gleiche Wahn- sinn. Sie zerstören damit die Sozialsysteme; Sie stärken sie nicht. Wenn Sie etwas Vernünftiges tun wollen, um die Sozialsysteme und damit auch den Staatshaushalt vernünftig in Ordnung zu bringen, dann sorgen Sie da- für, dass existenzsichernde Beschäftigung geschaffen wird, die sozialversicherungspflichtig ist. Alles andere hilft nicht; alles andere ist kompletter Unsinn. Das kön- nen Sie sich sparen. Ich bin froh, dass jetzt ein Antrag vorliegt, über den wir diskutieren können und mit dem uns geholfen wird, gemeinsam Projekte zu entwickeln. Wir werden ihn jetzt beraten und vor der Abstimmung vielleicht noch zu ge- meinsamen Ideen kommen. Dadurch wird im Zweifel mehr geholfen, als sich vorher irgendetwas vorzuneh- men und sich hinterher zu wundern, dass es nicht ge- klappt hat. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5285 (A) (C) (D)(B) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bockhahn, ehe ich mir von Kommunisten Ratschläge in Sachen Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Gestal- tung geben lasse, muss schon viel passieren. 80 Jahre lang hat diese Ideologie Teile des Kontinents, einige Teile glücklicherweise etwas kürzer, mit katastrophalen wirtschaftlichen Auswirkungen in Geiselhaft genom- men, Landstriche verwüstet und Menschen unterdrückt. Deshalb brauchen wir Ratschläge von Ihnen wirklich als Allerletztes. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Kalte Krieg ist vorbei!) Andere in der Debatte haben geschmeidiger gespro- chen. Herr Kuhn, ich will Sie direkt ansprechen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, darf ich Sie, bevor Sie Herrn Kuhn an- sprechen, fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Bockhahn zulassen? Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Aber klar. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Bockhahn. Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Herr Kollege Willsch, ich frage Sie, welche Kennt- nisse meiner Biografie Sie zu der Aussage veranlassen, dass ich Menschen unterdrückt oder Landstriche ver- wüstet hätte? Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Herr Bockhahn, ich nehme Sie in Haftung für die Par- tei, in deren unmittelbarer Nachfolgerin Sie Mitglied sind. Sie sind in der Nachfolgepartei der SED. Dafür ste- hen Sie, und für diese sind Sie in Mithaftung zu nehmen. Es gab nie eine Trennung und nie einen Schlussstrich. Die Linke ist die Rechtsnachfolgerin der SED, die un- weit von hier – dort hinten stand die Mauer – Menschen brutal unterdrückt und das Land ökonomisch vollständig ruiniert hat. Das müssen Sie sich zurechnen lassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das hat mit meiner Biografie aber nichts zu tun!) – Sie hätten sich eine anständige Partei aussuchen kön- nen, als Sie angefangen haben, sich zu engagieren. Herr Kuhn, ich habe extra nachgeschaut, was Sie ge- lernt haben. Sie sind Sprachwissenschaftler. Ich habe jetzt gelernt, dass ein Sprachwissenschaftler es versteht, einigermaßen gefällig für die Zuhörer über Dinge zu sprechen, die er offenkundig nicht versteht. Das war die Quintessenz dessen, was von Ihrem Vortrag bei mir hän- gen geblieben ist. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was für eine Arroganz!) Der Antrag, den Sie von den Grünen hier gestellt ha- ben, enthält viele Ideen – das kommt auch in der Über- schrift zum Ausdruck –, zum Beispiel den Haushalt zu- kunftsfest zu machen und ihn sozialverträglich zu sanieren, die genau das beschreiben, was wir mit dem Sparpaket tun. Ich verstehe, dass Ihre Haushaltspoliti- ker, zum Beispiel Alex Bonde, sich mit solchen Positio- nen nicht identifizieren. Wir führen im Haushaltsaus- schuss intelligente Diskussionen miteinander, und unsere Positionen sind häufig nicht weit auseinander. Es geht Ihnen darum, mit dem alten Muster – hier die Rei- chen, da die Armen, die ausgepresst und unterdrückt werden – ein Bild des Klassenkampfes heraufzube- schwören, das mit der Wirklichkeit dieses Sparpakets und der Regierungspolitik der christlich-liberalen Koali- tion überhaupt nichts zu tun hat. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz schön peinlich!) Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir nach 40 Jahren hemmungsloser Schuldenwirtschaft in diesem Land – ich spreche bewusst von 40 Jahren, weil ich die Zeiten, in denen wir regiert haben, einschließe – endlich zu dem Punkt kommen, zu sagen: Das muss ein Ende ha- ben. Wir können nicht eine Bevölkerung, die schrumpft und die im Vergleich zum Jahr 1964, als 1,375 Millionen Geburten zu verzeichnen waren – das war ein Spitzen- jahrgang –, jetzt nicht einmal mehr die Hälfte, nämlich nur 765 000 Geburten im Jahr, aufweist, immer mehr be- lasten. Wir versündigen uns an unseren Kindern. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Ende einer solchen Wirtschaft konnten wir beobach- ten, als der IWF und die Europäische Union mit der grie- chischen Regierung über ein Sparprogramm verhandelt und Auflagen erteilt haben. (Otto Fricke [FDP]: Da wollte Rot-Grün ja nicht helfen!) Wenn der Karren so in den Dreck gefahren wird, dann kommt eine Situation wie in Griechenland heraus. Jetzt wird über eine Lohnsenkung von 8 Prozent und eine Er- höhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozentpunkte inner- halb von drei Monaten gesprochen, weil es anders nicht mehr geht. In eine solche Situation wollen wir mit unse- rem Land nicht kommen. Sie von den Grünen reden über die Haushaltspolitik und die nachhaltige Finanzpolitik im Ausschuss wie auch im Plenum sehr gefällig. Wenn wir miteinander dis- kutieren, stellen wir fest, dass wir durchaus gemeinsame Auffassungen haben. Leider steht in krassem Kontrast dazu Ihr konkretes Handeln, wenn Sie Regierungsver- antwortung übernehmen sollen. Schauen Sie sich doch einmal an, welchen Wahlbetrug Sie mit Ihrer Minder- heitsregierung verüben, über die Sie jetzt in Nordrhein- Westfalen verhandeln. (Zurufe von der SPD: Oh! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist traurig!) 5286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Klaus-Peter Willsch (A) (C) (D)(B) Bei erwarteten Mindereinnahmen von 1,3 Milliarden Euro wollen Sie mit einem Federstrich 1 Milliarde Euro mehr ausgeben. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Das zeigt, dass bei Ihnen Reden und Handeln weit auseinanderfallen und dass Sie noch nicht so weit sind, dass Sie verantwortlich eine Haushaltskonsolidie- rungspolitik betreiben könnten. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sagen Sie etwas zum Thema! – Bettina Hagedorn [SPD]: Wer hat eigentlich die meisten Schulden auf- genommen?) Der Kern des Sparpakets ist die Senkung der Ausga- ben. Wir haben überprüft, an welchen Punkten Einspa- rungen möglich sind, ohne das Wachstumspotenzial in unserem Land zu gefährden. Gleichzeitig stellen wir si- cher, die Aufgabenwahrnehmung und Aufgabenerfül- lung gerecht zu verteilen. Der Vorwurf, um den sich hier alles dreht, dass dieses Sparpaket sozial ungerecht sei, ist durch nichts zu recht- fertigen. Die Sozialausgaben in diesem Lande ent- wickeln sich seit 1952 kontinuierlich nach oben. Inzwi- schen sind wir bei einem Anteil der Sozialausgaben an den Gesamtausgaben des Staates von 54,17 Prozent an- gelangt. Vernünftigerweise können Sie deshalb nicht über Einsparungen nachdenken und dabei diesen Be- reich vollständig ausklammern. (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber ihr spart doch gar nicht! Das ist doch kein Sparen!) Es wäre auch ökonomisch völlig falsch, diesen Bereich auszuklammern, weil eine Ausgabe für einen sozialpoli- tischen Zweck natürlich nicht per se eine gute Ausgabe ist und nicht per se eine effiziente Ausgabe ist. Es muss immer wieder geschaut werden: Erreichen wir mit dieser Ausgabe überhaupt das, was wir erreichen wollten? (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!) Wird das Steuerzahlergeld, das ein relativ kleiner Anteil der Bevölkerung erbringt – Norbert Barthle hat es darge- stellt –, auch wirklich effizient eingesetzt? Solidarität und Subsidiarität sind zwei Schwestern. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die gehören zusammen!) Sie gehören zusammen. Wir müssen immer darauf ach- ten, es bei einer sozialpolitischen Maßnahme nicht so weit zu treiben, dass der paternalistische und für alles sorgende Staat sich um alles kümmert. Es muss immer auch der Anreiz gegeben werden, sich selbst zu helfen nach dem Motto: „Hilf dir selbst; wir geben dir Hilfe dazu, damit du selbst wieder auf die Beine kommst.“ – Es muss immer das Ziel verfolgt werden, sich als Staat zurückzuhalten und die Verantwortlichkeiten beim Ein- zelnen oder einer kleinen Gruppe zu lassen, damit dort eigenverantwortlich gehandelt werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Indem man Kindern durch die Kür- zung des Elterngeldes die soziale Teilhabe be- schneidet! Großartig! Das ist christlich-liberal aus Ihrer Sicht!) – Das ist doch völliger Unfug. Ich will Ihnen das noch einmal kurz erklären. Es geht also um die Frage, warum jetzt kein Elterngeld mehr an Empfänger von Ar- beitslosengeld II – vulgo: Hartz-IV-er – bezahlt werden soll. Es war von Anfang an ein Strickfehler, dass das über- haupt gezahlt worden ist. (Bettina Hagedorn [SPD]: Einen Strickfehler nennen Sie das?) Wie wird denn der Bedarf eines Haushalts, der vollstän- dig von öffentlichen Mitteln abhängt und bezahlt wird – wo es sein muss, tun wir das gerne –, ermittelt? Das Statistische Bundesamt erstellt Einkommens- und Ver- brauchsstudien. Alle fünf Jahre wird überprüft, wie hoch die Ausgaben der unteren 20 Prozent der Einkommens- bezieher – ohne Sozialhilfeempfänger; also nur derjeni- gen, die für sich selbst aufkommen – sind. Aus diesen Werten wird dann abgeleitet, wie hoch der Bedarf von jemandem ist, der Arbeitslosengeld II erhält. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dazu hat das Verfassungsgericht aber etwas gesagt!) – Nein, lieber Kollege. Dazu kommen wir auch noch. Das Verfassungsgericht hat gesagt, dass der Satz, den Kinder erhalten, nicht als bloßer Prozentsatz des Er- wachsenensatzes ermittelt werden darf. (Bettina Hagedorn [SPD]: Und dass die Bil- dung ein eigenständiger Bestandteil der Be- rechnung sein muss!) Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich bestätigt, dass der Rechenweg, sich an dem unteren Fünftel der Ein- kommensbezieher zu orientieren, richtig ist. Das Ganze muss nur für die Kinder auch diskretionär nach einzel- nen Ausgabengruppen erarbeitet werden. Das tun wir derzeit. Hier wird also demjenigen, der Hilfe braucht, maßge- schneidert die Hilfe gegeben – nicht üppig, aber ausrei- chend. So muss es auch sein, damit der Anreiz bestehen bleibt, wieder aus dieser Situation herauszukommen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage – – Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Kleinen Moment; lassen Sie mich den Gedanken ge- rade zu Ende bringen. – Genau das geschieht auch. Dann ist es Unsinn, das Elterngeld nicht anzurechnen. Es muss genauso angerechnet werden, wie das Kindergeld natür- lich auch angerechnet wird, weil der Grundbedarf (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie haben den Sinn des Elterngeldes völlig falsch ver- standen! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sie haben Ihre eigene Maßnahme nicht ver- standen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5287 Klaus-Peter Willsch (A) (C) (D)(B) sozusagen anhand des Einkaufszettels diskretionär er- mittelt worden ist. Daher ist es Unfug, das Geld oben- drauf zu legen. – Jetzt gebe ich gerne die Zwischenfrage frei. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kressl, bitte sehr. Nicolette Kressl (SPD): Sehr geehrter Herr Kollege Willsch, da Sie jetzt schon behaupten, die Elterngeldzahlung habe etwas mit Exis- tenzsicherung zu tun, was vom Grundsatz her nicht stimmt, würde ich Sie gerne fragen: Was soll das, was Sie vorhaben – Sie wollen nämlich an die nicht erwerbs- tätige Ehefrau eines Einkommensmillionärs weiterhin 300 Euro im Monat auszahlen –, mit Existenzsicherung zu tun haben? (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Das war doch Ihr Beschluss! Das haben Sie doch in der Großen Koalition durchgesetzt!) – Da Herr Fricke immer dazwischenschreit: Frau Gruß hat ja genau dies kritisiert, wenn ich mich nicht irre. (Florian Toncar [FDP]: Sie hat auch recht! – Otto Fricke [FDP]: Ihr habt es doch in der Großen Koalition gemacht!) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Liebe Kollegin – – (Zurufe – Unruhe) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat der Kollege Willsch zur Beantwortung der Frage. Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Die Diskussion hellt vielleicht auf. Die können wir gleich noch ein bisschen kreuz und quer laufen lassen, aber ich will jetzt doch gern die Frage beantworten. Ich habe ausdrücklich nicht von der Grundsicherung gesprochen. Ich habe ausdrücklich gesagt: Die Grund- sicherung ist da. Es wäre unsinnig, das Elterngeld nicht zu verrechnen, weil ja der Satz hinreichend hoch ist. (Nicolette Kressl [SPD]: Sie kapieren es nicht! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Er versteht es einfach nicht!) – Moment! Lassen Sie mich doch einmal ausreden! Bei der Frage, ob das Elterngeld, das ja das Erzie- hungsgeld abgelöst hat, auch an Haushalte gezahlt wird, in denen nur einer arbeitet – Stichwort „Daheimbleib- prämie“ –, geht es darum, ein gesellschaftspolitisches Modell, ein familienpolitisches Modell nicht zu bestra- fen, das ich zumindest für durchaus positiv halte. (Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) Das betrifft nicht nur den Millionär, sondern genauso den Facharbeiter, der gemeinsam mit seiner Frau ent- scheidet: „Pass auf, jetzt haben wir Kinder; ich bringe das Geld herbei, und du bleibst zu Hause“ oder auch um- gekehrt, wenn die Frau mehr verdient. Das kann jeder machen, wie er will. Mit diesem Modell, das nicht nur den Zahnarzt oder den Millionär betrifft, sondern eben auch den ganz normalen Mittelstandsfacharbeiter oder Arbeiter – da sagt man sich: wir müssen nicht zweimal im Jahr in Urlaub; wir brauchen keine zwei Autos; uns ist es wichtig, dass das Kind eine feste Bezugsperson, Mutter oder Vater, zu Hause hat –, wollen wir diese nicht bestrafen, indem wir sagen: Ihr bekommt nichts vom Staat. – Ich glaube, das habe ich jetzt hinreichend deut- lich gemacht. Wenn jetzt nicht noch eine Zwischenfrage kommt, fürchte ich, ist meine Redezeit zu Ende. Ich möchte Sie gern dazu ermuntern. Wenn Sie noch Gelegenheit neh- men wollen, den einen oder anderen Punkt mit mir zu vertiefen, können Sie uns dazu in die Lage versetzen, in- dem Sie mir eine Zwischenfrage stellen. – Leider kommt sie nicht. Dann kann ich nur noch eine Abschlussbemerkung machen – sonst bekomme ich einen Rüffel von der Präsi- dentin –: Ich fordere Sie auf, seriös zu diskutieren. Wir werden das riesige Problem der aufgetürmten Schulden – es sind 1,7 Billionen Euro; das ist für fast jeden in un- serem Land unvorstellbar – nur lösen, wenn wir Ernst machen, die staatlichen Ausgaben intensiv infrage stel- len (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie müssen nur die richtigen Fragen stellen!) und immer wieder schauen: Gehen wir effizient mit dem Geld um? Gehen wir auch strukturell an die Dinge he- ran? Wir können uns nicht damit begnügen, in konjunk- turell guten Zeiten mehr Geld einzunehmen; wir müssen darangehen, den Staat schlanker zu machen, dem Staat weniger Ausgaben zuzumuten, dem Einzelnen mehr zu- zutrauen. Das ist der Weg, den diese christlich-liberale Koalition geht. Sie sind herzlich eingeladen, ihn mit uns zu gehen – zum Wohle unseres Vaterlandes. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: „Sechs“, set- zen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes Kahrs. (Beifall bei der SPD) Johannes Kahrs (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich die Debatte angehört hat, fragt sich, was sie mit dem Antrag zu tun hat. Es wurde aber klar, warum in den letzten acht, neun Monaten in diesem Land nicht viel passiert ist. Wir haben eine Regierung, die gestern, glaube ich, ihren achten oder neunten Neu- start probiert hat, und auch den hat sie versemmelt. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Aber alles christlich-liberal!) 5288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Johannes Kahrs (A) (C) (D)(B) Wenn man sich diese Argumentation anschaut, fragt man sich, wie das überhaupt möglich ist. Zuvor noch einen kleinen Einschub: Der Kollege Willsch hat den Kollegen Bockhahn eben als Kommu- nisten bezeichnet. Kommunisten mag es in der Linkspar- tei ja geben, aber der Kollege Bockhahn ist nun wirklich keiner. Er ist einer von den wirklichen Realpolitikern dort. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Jetzt nicht zu doll! – Zurufe von der FDP: Na ja!) Mit Leuten wie dem Kollegen Bockhahn kann man in Mecklenburg-Vorpommern vernünftig regieren. Das mag anderswo nicht gehen. Wenn Sie sich die Rede vom Kollegen Bockhahn an- gehört haben, werden Sie festgestellt haben: Er hat als einer der wenigen heute sachlich inhaltlich Punkt für Punkt argumentiert. (Otto Fricke [FDP]: Stimmt! Hat Poß nicht!) Man muss nicht jeden Punkt teilen, Kollege Fricke, (Otto Fricke [FDP]: Und Herr Poß war sach- lich? War er sachlich? – War er nicht!) aber man muss sich inhaltlich mit ihm auseinanderset- zen. Ihn einfach als Kommunisten in die Ecke zu stellen, finde ich – dazu muss ich sagen: ich bin nicht der Lin- keste in meiner Partei – ein bisschen unanständig. Das geht eigentlich nicht. Das senkt das Niveau einer De- batte so weit, dass es unerträglich wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe) – „Fundamentalistisch“ wäre ärgerlich gewesen. (Otto Fricke [FDP]: Aber „radikal“ geht? „Ra- dikal“ geht nach Ihrer Meinung?) – Wenn man radikal spart, kann das sogar positiv sein. (Otto Fricke [FDP]: Aha!) Wenn man radikal vernünftig spart, ist es noch besser. „Fundamentalistisch“ hätte ich als Beleidigung empfun- den. (Joachim Poß [SPD]: Aber zutreffend! Ich muss mich korrigieren!) Ich finde, dass die Reaktion, Herr Fricke, die Sie gezeigt haben, eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat; sie zeigt nur, wie dünn das Eis ist, auf dem Sie zurzeit ge- hen, wie sensibel und angefasst Sie zurzeit sind. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Ist Ihnen „unsensibel“ lieber? Ich bin lieber sensibel!) Die Frage ist, warum das so ist. Ich muss ganz ehrlich zugeben: Als wir am 27. September 2009 so gegen 18 Uhr die Hochrechnungen mit dem Ergebnis für die SPD gesehen haben, war ich ziemlich erschrocken. Ich habe gedacht: Es wird zu einer schwarz-gelben Regie- rung mit einer schneidigen Wirtschafts-, Finanz-, Vertei- digungs- und Innenpolitik kommen, die uns alle an die Wand haut, und dann läuft das, zwar nicht in meinem Sinne, aber es wird wohl laufen, denn es ist ja eine Traumkoalition. Nun stehe ich hier seit acht Monaten mit offenem Mund und großen Augen und schaue mir an, was Sie für ein Trauerspiel geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da passiert gar nichts. Sie haben zwar von konkreten Punkten gesprochen. Aber ganz ehrlich: Mit Ausnahme der Vergünstigungen für Hoteliers habe ich nicht wirk- lich viel Konkretes erlebt. (Otto Fricke [FDP]: Kindergelderhöhung! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Was ich gesehen habe, war ein Koalitionsvertrag, der mehr Fragen aufgeworfen hat, als er beantwortet hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So viele Arbeitsgruppen, Fragezeichen und ungelöste Probleme! Wenn ich Sie einmal beraten darf – als Oppo- sition können wir das machen, weil wir das Interesse un- seres Landes im Blick haben –: Wenn man einen Koali- tionsvertrag macht, dann muss dieser am Ende so durchdekliniert sein, dass die drei Vertragspartner das- selbe sagen, meinen und wollen. Dann wird er unter- schrieben und umgesetzt. Das ist ein Koalitionsvertrag. (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Das haben wir hervorragend mit der CDU und der CSU hinbekommen. Das haben wir auch mit den Grünen er- folgreich gemacht. Das hat funktioniert. Da kann man in dem einen oder anderen Punkt nölen, aber das Land ist damit gut gefahren. Was Sie zurzeit abliefern, ist ein Haufen von Frage- zeichen. Da haben Sie den einen oder anderen Neustart gehabt, Sie haben sich gegenseitig demontiert, Sie sind zurückgetreten oder weggerannt. Im Ergebnis haben Sie jetzt mit Ihrem 80-Milliarden-Euro-Sparpaket den nächsten Neustart gemacht. Da sagt man sich: Das klingt erst einmal gut. Einsparungen von 80 Milliarden Euro sind eine echte Nummer. Kollege Willsch hat hier davon gesprochen, dass man sich 40 Jahre lang radikal ver- schuldet hat. Er hat auch eingestanden, dass die meiste Zeit die CDU regiert hat. Aber im Ergebnis hat er ver- gessen, zu sagen, dass Sie in den nächsten vier Jahren weitere 150 Milliarden Euro Schulden machen werden. Was er auch vergessen hat, zu sagen – das finde ich nicht ganz unwichtig –, ist: Dieses 80-Milliarden-Euro-Paket, das Sie auflegen, ist genau wie Ihr Koalitionsvertrag. Es ist nur ein Haufen von Zahlen auf einem Stück Papier. Dahinter stehen keine Beschlüsse, keine Gesetzesvor- schläge, nichts, worin sich diese Regierung einig ist, und zwar durchgängig. (Joachim Poß [SPD]: Außer im Sozialbereich! Das ist konkret!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5289 Johannes Kahrs (A) (C) (D)(B) Sie haben sich mit diesem Sparpaket einen Haufen Pro- bleme geschaffen. Sie haben Probleme aufgebaut, die Sie nicht bewältigen können. Als Beispiel nenne ich die Brennelementesteuer. Diese finden wir alle suboptimal. Wenn sie wenigstens funktionieren würde; aber damit ist nicht zu rechnen. Dass man als Opposition dagegen ist, daran ist die breite Öffentlichkeit gewöhnt. Bei der Brennelementesteuer aber sagt der eine Partner: Nein, die gibt es nur bei einer Verlängerung der Laufzeiten. Der andere sagt: Nein, das kommt unabhängig von einer Verlängerung der Laufzei- ten. Ob sie überhaupt kommt, ist nicht klar. So geht es mit jedem einzelnen Ihrer Punkte, weil es immer drei Parteien gibt. Darüber hinaus gibt es noch den wirt- schaftspolitischen Flügel der CDU/CSU und auch noch andere, die immer wieder anderer Meinung sind. Wenn Sie ein Sparpaket vorgelegt hätten, bei dem Sie sich selber einig gewesen wären, dann könnten wir et- was kritisieren. Aber dazu kommen wir gar nicht; denn wenn wir etwas kritisieren, haben Sie uns darin schon lange übertroffen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So wie die Pläne zur Kopfpauschale kritisiert werden müssen und wir uns als Opposition wirklich anstrengen, zu sagen, die Kopfpauschale dürfe nicht kommen, so muss man anerkennen: Das schafft die CSU doppelt so gut. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wovon reden Sie eigentlich?) Das macht sie mit einer Brutalität, mit der sie Herrn Rösler gegen die Wand fahren lässt, dass man sich fragt, ob das noch eine Koalition ist. Schauen wir uns einmal die sogenannte Bundes- wehrreform an, oder was auch immer das sein soll. Wenn ich mir als Oberstleutnant der Reserve anschaue, was Sie aus meiner Bundeswehr machen; das ist nicht tragbar und unverschämt. Was Sie bei der Wehrpflicht vorhaben, geht überhaupt nicht. Was bei der Umsetzung der Pläne in der Realität passiert, ist eine Katastrophe. (Zuruf des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/ CSU], in den Reihen der FDP sitzend) – Red doch einmal mit der Truppe. Das geht doch gar nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Außerdem sitzt du bei der falschen Partei. Setz dich zur CDU, wo du hingehörst. (Weiterer Zuruf des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/CSU]) – Ganz ruhig bleiben! Du bist auch im Haushaltsaus- schuss, wir sehen uns da ja. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn du mal da bist!) Wenn man das macht, dann muss das alles Sinn und Verstand haben. Das ist durchgehend so: Seit den Zeiten von Theo Waigel – der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch an ihn – ist es so, dass Schuldenabbau immer aus drei Säulen besteht: Einnahmeverbesserung, Wachstumsförderung, Einsparung. Dann habe ich hier eben Worte gehört wie „Wirt- schaftswachstum fördern“, „Vorrang für Wirtschaft“ und Ähnliches. Wenn ich mir nun Ihr Papier anschaue, stelle ich fest, dass da auch etwas von ökologischer Neujustie- rung steht – das ist ja bei der CDU immer ganz gefähr- lich. (Heiterkeit bei der SPD) In meinem eigenen Wahlkreis – man soll sich ja immer an praktischen Fragestellungen orientieren – liegen Europas größtes Kupferwerk Aurubis und eine Alumi- niumhütte. Die Ausnahmen von der Ökosteuer für diese Unternehmen, die wir den Grünen abgerungen haben – das war für die Grünen bitter – und die auch in der Großen Koalition noch Bestand hatten, sollen jetzt abgeschafft werden. Das bedeutet, dass Grundstoffin- dustrie in Deutschland fast nicht mehr möglich ist; denn es gibt ja einen internationalen Wettbewerb, so et- was wie ein Level-Playing-Field. Wir waren uns hier einmal alle einig, dass solche Unternehmen in Deutsch- land nach den gleichen Spielregeln wie vergleichbare Unternehmen in Europa bzw. in der Welt behandelt wer- den sollten. (Otto Fricke [FDP]: Wir wollen doch keine amerikanischen Verhältnisse!) Aber vergleichbare Unternehmen in Kanada, Norwegen, Australien und im Mittleren Osten haben andere Strom- preise; unsere können noch so viele Einsparungen vor- nehmen, sie kämen gegen diese nicht an, wenn man sie nicht von der Ökosteuer ausnimmt. Jetzt kommt aber auf einmal diese großartige Wirtschaftskoalition daher und zerschlägt das. Mit Intelligenz und Sparen, mit dem Schaffen und Sichern von Arbeitsplätzen, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, hat das überhaupt nichts zu tun. (Alois Karl [CDU/CSU]: Sie machen Klientel- politik! – Otto Fricke [FDP]: Das ist dasselbe Argument wie bei der Steinkohle!) Man sollte die drei von Theo Waigel aufgestellten Punkte beherzigen: Einnahmeverbesserungen, Wachs- tumsförderung, Einsparungen. Gehen wir Ihre Vor- schläge einmal durch. Einnahmeverbesserungen können Sie nur durch Einführung einer Finanztransaktionsteuer und Erhöhung des Spitzensteuersatzes erreichen. Wenn man sich ein- mal Ihre Pläne anschaut, stellt man fest: alles heiße Luft. Die FDP will es nämlich nicht, die CDU nur ein biss- chen, bei der CSU warten wir auf die Erleuchtung. Zum Spitzensteuersatz ist zu sagen: Die Sozialisten Kohl und Genscher haben es geschafft, mit einem Spit- zensteuersatz von 53 Prozent zu regieren, und keiner in 5290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Johannes Kahrs (A) (C) (D)(B) diesem Land hat „Sozialismus!“ geschrien oder irgend- jemanden der Verantwortlichen beschuldigt, ein Kom- munist zu sein. Jetzt, wo wir davon reden, dass man den Satz wieder der 50-Prozent-Marke annähern sollte, wer- den wir auf einmal in eine ganz linke Ecke geschoben. Natürlich bin ich gesamtgesellschaftlich ein Linker, aber dass Kohl und Genscher dann links von mir stehen sol- len, ist schwer nachvollziehbar. Ich finde, hier sollten Sie an Ihrer Argumentation noch ein wenig feilen. Viel- leicht kommt ja dabei etwas Brauchbares zustande. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch bei der Bankenabgabe müssen wir genau schauen, wo die Einnahmen daraus landen. Ich persön- lich denke, dass die Einnahmen daraus in den Bundes- haushalt gehören und nicht in irgendwelche Extratöpfe. Der Steuerzahler zahlt für die Rettung, also muss der Steuerzahler auch entlastet werden, wenn entsprechende Einnahmen generiert werden. Das wäre nur vernünftig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Über Wachstumsförderung können wir viel reden. Wenn aber der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – gerade war er noch hier im Plenum; jetzt ist er weg – eine Halbierung der Ansätze für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm vornimmt, sollte er auch bedenken, welche Folgen das hat. Es betrifft näm- lich insbesondere die mittelständischen Handwerksbe- triebe, die das alles einbauen. (Otto Fricke [FDP]: Das sind die, deren Steu- ersätze ihr erhöhen wollt! Von denen wollt ihr 50 Prozent Einkommensteuer!) Das kann man durchdeklinieren und sich die Folgen Stadtteil für Stadtteil anschauen. Sie begründen die Re- duzierung nun damit, dass das Programm nicht mehr so stark nachgefragt wird. Natürlich wird das Programm nicht mehr so stark nachgefragt, wenn die Zinssätze so stark angehoben werden, dass sie fast das marktübliche Niveau erreichen. Dann funktioniert das nicht mehr. Es sollte ja einen Anreiz dafür schaffen, dass Menschen et- was Sinnvolles tun, indem wir ihnen dabei ein wenig helfen. Wenn Sie die Hilfe faktisch auf null herunterfah- ren, indem Sie die Zinsen stark anheben, und dann be- haupten, es werde nicht mehr so stark nachgefragt, des- halb könne man hier Einsparungen vornehmen, dann fragt man sich doch, was das soll. (Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP]) Für den Mittelstand und für die Wirtschaft, Herr Fricke, haben Sie schon lange nichts mehr gemacht. Die Frau Präsidentin gibt mir ein Zeichen, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Ich komme jetzt auch zum Schluss. Ich wünsche mir nur, dass diese Regierung in- nerlich zu sich selbst findet und auch entsprechend han- delt. Dann hätten wir etwas, was wir kritisieren könnten. Im Moment ist uns das gar nicht möglich; denn Sie hauen sich ja nur gegenseitig in die Pfanne. Leidtra- gende sind das Land und die Menschen, die hart und an- ständig arbeiten und Steuern zahlen. An diese sollten Sie zur Abwechslung einmal denken. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alois Karl [CDU/CSU]: Erbärm- lich!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Otto Fricke für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Otto Fricke (FDP): Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolle- ginnen und Kollegen! Warum sparen wir eigentlich? Wa- rum müssen wir das tun? Weil wir dadurch, dass wir in der Vergangenheit in diesem Land nicht gespart haben, eine Verschuldung haben, die es, wenn wir jetzt nicht mit dem Sparen anfangen, unmöglich macht, dass für zu- künftige Generationen ein Generationenvertrag mit den- selben Grundlagen gilt, die auf mich, Geburtsjahrgang 1965, noch zutrafen. Nun die typisch deutsche Frage: Wer ist daran schuld? Als Antwort darauf muss man der Bevölkerung doch sa- gen: Alle. Alle sind daran mehr oder weniger beteiligt gewesen. Wenn die SPD jetzt behauptet: „Nein, wir wa- ren das gar nicht, wir machen das alles ganz sozial und vernünftig“, (Johannes Kahrs [SPD]: Hat keiner gesagt!) muss man auf Folgendes hinweisen: Wir haben eine Gesamtverschuldung des Bundes – das ist nur das, was in diesem Hause beschlossen worden ist – von 1 000 Milliarden Euro. Das ist die berühmte Billion. Herr Poß, wissen Sie, wie viele Milliarden SPD-Finanz- minister in elf Jahren zu verantworten hatten? (Joachim Poß [SPD]: Wir stehen zu unserer Verantwortung!) Sie wissen es nicht mehr. 350 Milliarden Euro haben Sie von der SPD zu diesem Haufen hinzugetan. (Joachim Poß [SPD]: Und Schwarz-Gelb?) Jetzt tun Sie so, als hätten Sie nichts damit zu tun, an- statt zu erkennen, was wir in den letzten Jahrzehnten ge- macht haben, um von diesem Schuldenberg herunterzu- kommen; egal wer an der Macht war. Wir haben eigentlich immer dasselbe gemacht. Wir haben alle ge- sagt: Wir wollen sparen. Das Ergebnis waren immer Steuererhöhungen. Wie war denn das mit der Mehrwert- steuererhöhung, die die SPD angeblich nicht wollte? Warum haben Sie das denn gemacht? Weil Sie gemerkt haben – damit komme ich zum Antrag der Grünen –, dass es überhaupt nicht nachhaltig ist, wenn man ver- sucht, Haushalte über die Einnahmeseite zu sanieren. (Joachim Poß [SPD]: Wir waren 2008 doch fast beim Haushaltsausgleich!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5291 Otto Fricke (A) (C) (D)(B) Die Bürger draußen, die jetzt vielleicht sagen: „Dem von der FDP glaube ich nicht“, bitte ich, einmal über Folgendes nachzudenken: Wenn Sie Schulden hätten, die dem Vierfachen Ihres Jahresnettoeinkommens entsprä- chen, (Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben Schulden! Wir nicht! Peer Steinbrück war da besser!) seien Sie Rentner, seien Sie ALG-II-Empfänger, seien Sie Pensionär, seien Sie Arbeitnehmer, glaubten Sie dann, dass Sie von der Verschuldung herunterkommen könnten, indem Sie schauen würden, woher Sie mehr Geld bekommen? Glauben Sie nicht auch, dass man ir- gendwann einmal fragen muss: Auf was kann ich, auf was soll ich, auf was muss ich bei mir und bei anderen verzichten? (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Auf die Hotel- subvention! Damit habt ihr doch angefangen! – Gegenruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Da sind wir wieder bei den Einnah- men!) Darum muss sich eine politische Diskussion drehen. Diese politische Diskussion nimmt diese Koalition mit dem großen Sparpaket auf. Wir kommen nur über die Ausgaben an das Problem heran. Das weiß jeder, der einmal persönlich erlebt hat, was Verschuldung bedeutet. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Es ist immer wieder bemerkenswert, dass dann gesagt wird, das alles sei unsozial. Wir wissen, dass das im poli- tischen Diskurs das Böse ist: Wer unsozial ist, ist ein schlechter Politiker; wer unsozial ist, ist ein schlechter Mensch. Das stimmt so aber nicht. Unsozial ist derje- nige, der sagt: „Wir geben dir mehr“, der aber fünf Jahre später zurückkommt und sagt: „Tut uns leid, das war al- les zu viel; jetzt müssen wir davon wieder herunter.“ Un- sozial ist derjenige, der sagt: „Ich bin sozial und tue in dem und dem Leistungsbereich etwas“, nach der nächs- ten Wahl aber sagt: „Jetzt erhöhe ich die Mehrwert- steuer; tut mir leid.“ Genau darauf will Rot-Grün bzw. Rot-Rot-Grün wie- der hinaus. Sie sagen: Wir geben, wir geben, wir geben, weil es sozial ist. In ein paar Jahren werden sie aber sa- gen: „Es tut uns leid, wir haben uns wieder einmal ver- rechnet; wir nehmen, wir nehmen, wir nehmen.“ Die Koalition geht diesen Weg dieses Mal nicht. Wenn diese Koalition unsozial wäre, (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist sie! Den Konjunktiv können Sie sich sparen!) wie sähe dann die Antwort auf die folgende Frage aus – das muss sich auch jeder Bürger draußen fragen –: Wie viel von dem, was wir einnehmen – der Kollege Barthle hat gesagt, dass die Einnahmen im Wesentlichen von denen, die starke Schultern haben, kommen –, geben wir den Schwächeren? Man muss doch feststellen, wie das nach den ersten vier Jahren von Rot-Grün war. Da hatten sie eine Quote von 44 Prozent. Nach weiteren drei Jahren lag die Quote bei 50 Prozent. Diese Koalition sagt: Wir bleiben über den 50 Prozent von Rot-Grün. (Johannes Kahrs [SPD]: Sie machen doch mehr Schulden als wir!) Kann man sagen, dass eine Politik unsozial ist, wenn versucht wird, die Dinge neu zu justieren? (Johannes Kahrs [SPD]: Sie machen doch mehr Schulden als wir! Sie sind doch der größte Schuldenmacher!) Ich glaube, das ist nur möglich, wenn man Polemik be- treibt. (Beifall bei der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Da klatscht nicht einmal die CDU/CSU!) Man muss beim Haushalt Folgendes erkennen: Sie können sich nicht nur etwas wünschen, sondern Sie müs- sen auch die Zahlen dazu nennen. Je lauter Sie in den ersten Reihen reden und je weniger Sie zuhören, desto deutlicher zeigen Sie, dass meine Worte zutreffen. Man kann nur eines feststellen: Wir müssen die Ausgaben durchforsten. Wir müssen prüfen, was nicht richtig ist, auf was wir verzichten können. Wir müssen dringend prüfen, auf was wir mit Blick auf die Zukunft verzichten sollten. Als Erstes müssen wir ganz klar definieren, auf was wir verzichten müssen. Sie können das konkret tun. Sie könnten als Opposition doch einmal einen Gegen- haushalt aufstellen. (Johannes Kahrs [SPD]: Wann habt ihr das gemacht?) Die Zuschauer und Zuhörer werden denken, dass Sie einen Gegenantrag eingereicht haben. In dem Antrag der Grünen steht ganz viel drin. Aber was nicht drin- steht, ist das Entscheidende bei der Haushaltspolitik – das ist auch für jeden Bürger wichtig –: Welche Zahl steht wo? (Johannes Kahrs [SPD]: Einigen Sie sich doch erst einmal auf eine Zahl!) Steht auf meinem Konto nachher ein Plus, oder steht auf meinem Konto nachher ein Minus? Zu dem Antrag der Grünen kann ich nur sagen: Es ist sehr viel hineinge- schrieben worden. Manche Kritik darin ist vielleicht ge- rechtfertigt und gehört zum politischen Diskurs in unse- rer Gesellschaft. Aber immer dann, wenn es konkret werden sollte, wenn Zahlen angegeben werden sollten, dann wird Allgemeines gesagt: Wir wollen hier und da etwas tun; wir wollen bei der Gebäudesanierung und bei der sozialen und kulturellen Teilhabe etwas machen; dann wollen Sie 420 Euro Hartz IV haben. Sie machen aber nicht rechts den Strich, um zu sagen, wie viel das kostet. Man kann das nur grob überschätzen. Das, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, umfasst weit über 20 Milliar- den Euro. Dazu kommen dann noch die 20 Milliarden Euro, die wir aufgrund der Verfassungsregelung einspa- ren müssen; das wollen wohl auch Sie. Das sind dann 40 Milliarden Euro. Dies wollen Sie im Wesentlichen über die Einnahmeseite erreichen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einsparen!) 5292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Otto Fricke (A) (C) (D)(B) Das wird die SPD nicht anders sehen; die Linken sogar noch ein bisschen stärker. Doch was bedeutet das, wenn Ihnen ein Politiker sagt: „Wir wollen so viel mehr“? Das bedeutet, dass Sie den Spitzensteuersatz um 50 Prozent- punkte erhöhen müssten; Sie müssten ihn also auf über 90 Prozent erhöhen. Wenn Sie die Mehrwertsteuer erhö- hen – nur ein Teil davon geht an den Bund –, wären Sie bei 35 Prozent Mehrwertsteuer. (Joachim Poß [SPD]: Quatsch! – Johannes Kahrs [SPD]: Das hat doch keiner gefordert! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirr!) Diese Seite Ihrer Forderungen müssen sie der Ehr- lichkeit halber auch darstellen. Machen Sie konkrete Vorschläge, nennen Sie konkrete Zahlen und sagen Sie nicht nur, man wolle ein bisschen wegnehmen. Seien Sie doch einfach ehrlich, und sagen Sie, wo Sie abkassieren wollen, sagen Sie, dass Sie nicht sparen und die Ausga- ben nicht senken wollen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Eini- gen Sie sich einmal in der Koalition, bevor Sie einen Vorschlag machen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Sven-Christian Kindler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss zugeben: Mit dem sogenannten Sparpaket spart die Bundesregierung. Sie spart vor allen Dingen an guten und sozial gerechten Vorschlägen, und sie spart sich nachhaltige Vorschläge. Heute wird zwar gekürzt, aber auf Dauer wird nichts gespart. Denn die soziale und öko- logische Verschuldung in der Zukunft wird nur vergrö- ßert. Das ist das große Problem an diesem Sparpaket. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir haben heute schon einiges dazu gehört. Ich kann nur sagen: Wir haben im letzten Haushaltsverfahren ein detailliertes Konzept mit konkreten Zahlen und mit kon- kreten Forderungen bezüglich der Ausgaben- und der Einnahmeseite vorgelegt. Wenn wir Ihren Haushaltsent- wurf in der nächsten Woche vorliegen haben, werden wir im Haushaltsverfahren wieder ein konkretes Konzept vorlegen und belegen, wie eine seriöse grüne Haushalts- politik aussieht. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das war ein Widerspruch in sich!) Wichtig ist, glaube ich, auf zwei Punkte einzugehen: auf die ökologische und die soziale Seite dieses unaus- geglichenen Pakets. Unsere Gesellschaft driftet immer weiter auseinander. Mittlerweile besitzen die obersten 10 Prozent 60 Prozent des Vermögens in Deutschland. Die neueste Studie des DIW hat noch einmal gezeigt, dass die Reichen in Deutschland reicher werden, die Ar- men ärmer und die Mittelschicht schrumpft. Deswegen müssen nicht nur einzelne Maßnahmen im Sparpaket so- zial gerecht sein, sondern es muss insgesamt einen Bei- trag dazu leisten, dass die soziale Gerechtigkeit in Deutschland wieder größer und die Ungleichheit abge- baut wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Doch mit diesem sogenannten Sparpaket greifen Sie vor allen Dingen den Ärmsten in die Tasche, statt Wohlha- bende an der Konsolidierung der Gesellschaft zu beteili- gen. Ja, wir brauchen auch Gerechtigkeit auf der Einnah- meseite. Ich wusste, dass es in der FDP – gerade bei Minister Brüderle, bei Otto Fricke oder Florian Toncar – ein ideologisches Dogma ist, dass man keine Steuern er- höhen will. Ich war sehr erstaunt, dass es auch in der FDP schon Stimmen gibt – ich teile ausdrücklich die Meinung der Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger –, dass Steuerpolitik auch Umverteilung heißt, dass Steuern dazu da sind, zu steuern und Geld umzuschichten. Starke sollten stärker belastet werden, und Schwache sollten entlastet werden. (Otto Fricke [FDP]: Ist das heute nicht der Fall?) Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und höhere Ein- nahmen aus der Erbschaftsteuer sind ein richtiger Weg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Erb- schaftsteuer geht an die Länder!) Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine Finanztransaktionsteuer, weil den Menschen nicht zu er- klären ist, warum die Ärmsten die Folgen der Krise be- zahlen sollen und nicht die Banken und die Vermögen- den die Lasten der Wirtschafts- und Finanzkrise tragen. Das ist ein wichtiger Punkt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Kindler, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Fricke? Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ja, gerne. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr. Otto Fricke (FDP): Herr Kollege Kindler, ich akzeptiere, dass das die Vorstellung Ihrer Partei ist. Aber wenn Sie sagen, dass Sie das konkret berechnet haben, dann können Sie uns doch jetzt hier sagen: Auf wie viel soll die Erbschaft- steuer in etwa erhöht werden? Auf wie viel soll die Ver- mögensteuer erhöht werden? Wie hoch soll eine Rei- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5293 Otto Fricke (A) (C) (D)(B) chensteuer angesetzt werden? Können Sie uns sagen, wie viel das Ihrer Meinung nach ungefähr sein soll? (Joachim Poß [SPD]: Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer!) Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ja, das kann ich Ihnen sagen. Wir wollen vor allen Dingen eine Vermögensabgabe einführen, um die Belas- tungen (Otto Fricke [FDP]: Wie viel?) – ja, ich komme darauf –, die durch die Krise entstanden sind, einzudämmen und die Verschuldung abzutragen. Dadurch würden die großen Vermögen pro Jahr ungefähr 10 Milliarden Euro dazu beitragen. Wir wollen den Spit- zensteuersatz auf 45 Prozent anheben; das macht 2 bis 3 Milliarden Euro aus. Wir wollen auch die Einnahmen durch die Erbschaftsteuer von 4 auf 8 Milliarden Euro verdoppeln. Das ist auch deshalb wichtig, weil die gro- ßen Vermögen in den letzten Jahren stark gewachsen sind und auch sie einen Beitrag dazu leisten müssen, dass wir die Haushalte gerecht konsolidieren. Darum geht es. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen, durch den die ökologische Verschuldung vergrößert wird. In den Wortbeiträgen gibt es einige richtige An- sätze. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass das nur Greenwashing ist, um Ihre atomfreundliche und antiöko- logische Politik zu verkaufen. Ich komme jetzt zu dem Punkt ökologisch schädliche Subventionen. Das Umweltbundesamt hat kürzlich die Zahlen erneuert. Wir haben ökologisch schädliche Sub- ventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro, durch die wir Klimazerstörung, Umweltzerstörung und den Verlust der biologischen Vielfalt finanzieren. Das muss abgeschafft werden. Unter Rot-Grün, um auf die Frage von Herrn Toncar zurückzukommen, haben wir eine sehr mutige ökologische Steuerreform durchgeführt, die dazu beige- tragen hat, einen ökologisch-ökonomischen Umbau un- serer Gesellschaft voranzutreiben. Wir haben dabei sehr große Erfolge erzielt. Dabei haben wir in Verhandlungen mit der Wirtschaft auch Ausnahmen vereinbart. Wir haben jetzt erkannt, dass diese kontraproduktiv sind. Deswegen wollen wir sie abbauen. Wir wollten aber auch andere Subventionen abbauen. Das ist am CDU/CSU-FDP-geführten Bundes- rat gescheitert. Wir wollten unter Rot-Grün die Eigen- heimzulage abschaffen und die Besteuerung von Kerosin einführen. Das hat leider nicht funktioniert. Die CDU/ CSU hat dann zum Glück unter der Großen Koalition die Eigenheimzulage abgeschafft. Ich fordere Sie auf: Kni- cken Sie bitte auch bei der Nichtbesteuerung von Kero- sin im Flugverkehr ein und schaffen Sie diese endlich ab! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs- fraktionen, mischen Sie sich ein! Nutzen Sie das Recht des Parlaments im Haushaltsverfahren, um Ihre Arbeit zu machen und das einseitig unsoziale Sparpaket in ein gerechtes Sanierungspaket umzuwandeln! Sparen Sie bei den Subventionen! Kürzen Sie Steuervergünstigun- gen für Gutverdienende! Erhöhen Sie die Einnahmen und investieren Sie in die Zukunft! Dann klappt es viel- leicht auch wieder mit den 5 Prozent, liebe FDP. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Alois Karl das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Alois Karl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns heute mit dem Antrag der Fraktion der Grünen „Haus- halt zukunftsfest machen – Nachhaltig sanieren – Ökolo- gisch und sozial investieren“ befassen, dann erkennt man viele alte Hüte, lieber Herr Kindler. Sie wollen Ihr Heil in der Steuererhöhung suchen. Einseitig sollen die Einkommen höher besteuert und die Vermögen besteuert werden. Auch die Erbschaftsteuer soll erhöht werden. Das Ehegattensplitting soll abgeschafft werden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Kaum ein Segment wird von der Steuererhöhungsorgie ausgenommen. Man könnte fast sagen: Die grünen Steuerwürgeengel gehen um. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die staatliche Eingriffspolitik führt zu mehr staatlicher Bevormundung und weniger Freiheit. Der Staat soll kas- sieren, und es soll nach sozialistischem Muster umver- teilt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei der SPD und der LINKEN – Wider- spruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist eine rückwärtsgewandte, altmodische Politik. Wir stellen ihr unsere eigenen klaren Vorstellungen ge- genüber. Unsere Politik verzichtet auf direkte Steuerer- höhungen. Wir legen den Schwerpunkt auf die Konsoli- dierung und auf den Abbau von Subventionen. Wir suchen eine gerechte Verteilung der Lasten. Darüber streiten wir. Meine Damen und Herren, wenn die Wirtschaft um etwa 5 Milliarden Euro und der soziale Bereich um 5 Milliarden Euro zusätzlich belastet werden – von letz- terem müssen wir aber die 2 Milliarden Euro abziehen, die zusätzlich als Zuschüsse zur GKV vorgesehen sind – und im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen 5294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Alois Karl (A) (C) (D)(B) 3 Milliarden Euro eingespart werden, dann ist in der Tat eine soziale Ausgewogenheit gegeben. Die Menschen draußen im Lande wollen Verschiede- nes: Sie wollen solide Staatsfinanzen. Sie wollen einen ausgeglichenen Haushalt, und sie wollen, dass die Wäh- rung stabil ist. Darauf haben wir uns verständigt, und das sind Grundpfeiler unserer Politik in dieser Koalition. Wir wissen, dass wir uns auf einen steinigen Weg ge- macht haben. Aber wir wissen auch – das ist bereits ge- sagt worden –, dass in diesem Land über 40 Jahre lang mehr Geld ausgegeben als eingenommen worden ist. Seit 1969 beschreiten wir einen Weg in den sogenannten Wohlstandsstaat. Es ist nicht länger zu verantworten, dass wir etwa 20 Prozent unseres Bundeshaushaltes für den Schuldendienst ausgeben. Es ist geradezu unglaub- lich, dass der Bundesfinanzminister jeden Tag 100 Mil- lionen Euro für Zinszahlungen aufgrund der Schulden- politik in diesem Lande in den letzten 40 Jahren ausgibt. Ich kann uns nicht zumuten und ich kann auch nicht draußen vertreten, dass wir unseren Wohlstand heute weiterhin dadurch sichern, dass wir Schulden für unsere Kinder und Kindeskinder machen, die diese dann in Jah- ren und Jahrzehnten abbauen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was könnten wir heute mit dem Geld, das zur Schulden- tilgung verwendet wird, an Zukunftsinvestitionen täti- gen? Wir könnten Steuern problemlos senken. In der Bil- dungs- und in der Forschungsarbeit könnten wir geradezu alle Wünsche erfüllen, wenn wir nicht diese Schuldendienste zu leisten hätten. (Zuruf der Abg. Bettina Hagedorn [SPD]) Ich komme aus der Kommunalpolitik, Frau Hagedorn. Ich hatte dort die Gelegenheit, Haushalte zu führen, die ausgeglichen waren. Es gibt einem eine un- glaubliche Freiheit, wenn man 99,7 Prozent der Einnah- men für anderes als für Schuldendienst verwenden kann. Ich möchte erleben, dass in diesem Land auch die Fi- nanzminister und die Parlamente wieder die Freiheit be- kommen, mit den Einnahmen umzugehen, Investitionen zu tätigen und nicht die Schulden zu tilgen, die vor Jah- ren und Jahrzehnten gemacht worden sind, um den Wohlstand damals und den Wohlstand heute mit Geld zu finanzieren, das wir nicht haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Unsere Politik ist eine Politik, die auf die Zukunft un- serer jungen Leute gerichtet ist. Ich bin der Bundesregie- rung und auch unseren Koalitionsfraktionen dankbar, dass wir diesen Weg, der nicht einfach sein wird – ich habe es gesagt –, beschreiten wollen. Haushaltskonsolidierung schränkt die Menschen und die Politik nicht ein. Im Gegenteil: Sie gibt uns Per- spektiven für die nächsten Jahre, und sie gibt uns Frei- heit zurück. Wir sind auf einem guten Weg. Steinbrück hat vor einem Jahr einen Haushaltsentwurf mit 86 Mil- liarden Euro Neuverschuldung vorgelegt. Schäuble hat im Herbst im zweiten Haushaltsentwurf die Neuver- schuldung auf 85 Milliarden Euro festgelegt. Tatsächlich wird dieses Haushaltsjahr mit einer Neuverschuldung von 65 Milliarden Euro abgeschlossen. Das ist viel, im- mer noch zu viel; aber wir sind auf dem richtigen Weg. Diesen richtigen Weg werden wir fortsetzen, auch wenn wir dabei von der Opposition keine Unterstützung erhal- ten werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Herr Kahrs hat vorhin gesagt, acht Monate lang habe er hier gar nichts erlebt. Ich sage Ihnen eines, lieber Herr Kahrs: Wir haben in den letzten acht Monaten erlebt, dass wir hervorragend aus dieser Wirtschaftskrise he- rausgekommen sind. (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Aber nicht we- gen euch!) Wir haben erlebt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze in einer Weise angewachsen ist, wie wir es eigentlich gar nicht erwartet hätten. (Bettina Hagedorn [SPD]: Das glaubt doch keiner!) Wir haben erlebt, dass die Arbeitslosenzahlen zurückge- gangen sind, in einer Weise, wie wir uns das erwünscht und erträumt hätten, wie wir es aber nicht erwarten konnten. Wir haben heuer, wahrscheinlich im Herbst, weniger als 3 Millionen Arbeitslose. (Bettina Hagedorn [SPD]: Wegen der guten Arbeitsmarktpolitik der Großen Koalition! Ihr schafft das gerade alles ab!) Unter Schröder und Joschka Fischer, liebe Frau Hagedorn, gab es mehr als 5 Millionen Arbeitslose. Das war die Schlussbilanz Ihrer Regierungszeit. Hätten Sie damals unsere Erfolge gehabt, hätten Sie Dankpro- zessionen veranstaltet, aber Sie hätten nicht in der Weise gesprochen, wie Sie es heute tun. Das, was ich angespro- chen habe, ist – ich möchte das in Erinnerung rufen, Herr Kahrs – eine Entwicklung der letzten acht Monate. Meine Damen und Herren, auch der Bundesverkehrs- minister investiert. Wir werden seine Mittel für Investi- tionen in dieser kritischen Zeit nicht streichen. Wir investieren in unsere Kinder. Wir investieren in die Bil- dung und in die Forschung. Wir werden hierfür 12 Mil- liarden Euro mehr ausgeben. Es ist vieles gesagt worden über die Konsolidierungs- maßnahmen, über die Brennelementesteuer genauso wie über die Vergünstigung bei der Energiesteuer, die zu- rückgenommen wird. Der Sozialhaushalt hat am Bun- deshaushalt einen Anteil von 54 Prozent; auch das ist ge- sagt worden. (Bettina Hagedorn [SPD]: Inklusive Rente!) Vor 20 Jahren, bei der deutschen Wiedervereinigung, be- trug der Haushaltsansatz für Soziales 34 Prozent. In solch einer Situation zu sagen, dass an den Ärmsten ge- spart wird – so wird es bei den Grünen gemacht –, ist ein völlig falscher Ansatz. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5295 Alois Karl (A) (C) (D)(B) (Bettina Hagedorn [SPD]: An der Arbeits- marktpolitik! Das ist ein Fakt!) Ich sage Ihnen eines: Wer eine verkehrte Bestandsauf- nahme vornimmt, der kann auch nicht die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Wer so an die Haushaltskon- solidierung herangeht, hat keine Chance. Wir werden die Haushaltskonsolidierung in der von uns beschriebenen Weise fortsetzen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir werden uns davon auch durch den Antrag der Grünen in gar keiner Weise abbringen lassen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Am nächsten Mitt- woch wird das Kabinett den Entwurf des Bundeshaus- halts verabschieden. Als ich den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen zum Haushalt gesehen habe, habe ich mich zunächst einmal sehr gefreut; denn es ist eine Alterna- tive, mit der man sich auseinandersetzen kann. Im Rah- men der parlamentarischen Beratungen im Herbst wer- den wir uns damit intensiv im Haushaltsausschuss beschäftigen. Als letzte Rednerin in dieser Debatte – ich meine nicht nur diesen Tagesordnungspunkt, sondern auch die Debatte über die wirtschaftliche Entwicklung beim vor- herigen Tagesordnungspunkt – möchte ich nicht alle Ar- gumente, die schon ausgetauscht worden sind, wiederho- len. Ich möchte mich auf drei Punkte konzentrieren: erstens auf die Generationengerechtigkeit, zweitens auf die soziale Gerechtigkeit, drittens auf die Position, die Sie, Herr Poß, und auch andere im Hinblick auf die Be- deutung der Bundesrepublik Deutschland und die Rolle von Frau Merkel in Europa und beim Gipfel der G 20 in Toronto vertreten. Bei den Sparbemühungen, bei der Aufstellung des Haushalts und der Benennung der Eckwerte sowie bei den Debatten über das Verhalten der Bundesregierung gegenüber Griechenland und auf dem Gipfel in Toronto bildete das starke Bewusstsein, dass wir in der Bundes- republik Deutschland eine veränderte demografische Entwicklung haben, den Ausgangspunkt. Dieser Ge- danke ist Triebfeder; er steht allem Handeln voran. Frau Andreae von den Grünen hat vorhin in ihrer Rede gesagt, dass das Wort „Generationengerechtigkeit“ eines der Worte sei, die sie in den letzten Monaten ver- misst habe. Für uns, die christlich-liberale Koalition, ist die Generationengerechtigkeit die entscheidende Frage in der Haushaltspolitik. Bei uns geht es eben nicht um Verteilungsgerechtigkeit, sondern um echte Chancenge- rechtigkeit, damit auch zukünftige Generationen die Möglichkeiten haben, ihre politischen Schwerpunkte zu setzen und ihre politischen Entscheidungen zu treffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir wollen nicht, dass unseren Kindern und Enkelkin- dern die Möglichkeit genommen wird, die Herausforde- rungen ihrer jeweiligen Zeit zu bestehen. Deshalb ist der Aspekt der Generationengerechtigkeit bei uns der Maß- stab allen Handelns. Da haben Frau Andreae und viele andere wohl nicht richtig zugehört. Zum Zweiten möchte ich auf das Thema soziale Ge- rechtigkeit kommen. Ich möchte drei Personen anfüh- ren, bei denen man sich vielleicht erst wundert. Der Vor- sitzende der SPD, Sigmar Gabriel – Herr Poß ist leider nicht mehr da; vielleicht trägt es Herr Schneider an ihn weiter –, hat im April des Jahres 2010 den Gustav- Heinemann-Preis verliehen. Er hat zusammen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD sehr lobende Worte für einen Sozialdemokraten gefunden. Sie haben gesagt, dass die Berliner SPD und die Bundes-SPD auf diesen Sozialdemokraten sehr stolz sein können, weil er auch für die eigenen Leute unbequeme Wahrheiten auf den Punkt bringe und sie ausspreche. Ich möchte aus ei- nem Artikel über diesen Preisträger zitieren: Dennoch stieß das Sparpaket in Berlin nicht nur auf harsche Kritik. Neuköllns Bezirksbürgermeister, Heinz Buschkowsky (SPD), – der Preisträger – hält die Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IV- Empfänger für richtig. Damit werde die Grund- sicherung nicht angetastet. Das Sozialsystem stoße an seine Grenzen, weil immer weniger Menschen einzahlten … Weil immer weniger Menschen einzahlten, müsse es auch eine Gerechtigkeit für andere geben. Weiter heißt es in dem Artikel: Wer hier spare, mache sich immer un- beliebt. Das Sparen sei aber notwendig. – Ich teile die Aussagen Ihres Preisträgers. (Beifall bei der CDU/CSU – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Die SPD teilt das nicht! Es ist so! Wir haben sehr unterschiedliche Auffas- sungen!) Der dritte Punkt umfasst den Gipfel in Toronto und die Position der Bundesregierung mit Blick auf Grie- chenland. Wir haben vorhin gehört, dass unsere Bundes- kanzlerin noch in der letzten Wahlperiode – so Ihre Aus- sagen – über großes Renommee in Europa verfügt habe. Wir haben auch gehört, dass sie dieses Renommee in der Debatte über Hilfen für Griechenland verspielt habe. (Zurufe von der SPD: Ja!) Wir haben von Ihnen gehört, dass die Bundeskanzlerin mit ihrer Position isoliert gewesen sei und die Bundesre- gierung nicht adäquat vertreten habe. 5296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Stefanie Vogelsang (A) (C) (D)(B) (Elke Ferner [SPD]: Genau! – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: So ist es!) Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir als christlich- liberale Koalition sind sehr stolz auf die Positionen und auf das Durchhalten der Bundesregierung. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das hat man gestern gesehen!) Bei der Griechenlanddebatte haben wir gemerkt, dass es richtig und wichtig war, das Augenmerk auf Haus- haltskonsolidierung zu legen. Zu der Aussage, dass wir mit unserer Position alleine dastanden: Wir konnten fest- stellen, dass wir für unsere Position nicht nur in ganz Eu- ropa, sondern auch auf dem G-20-Gipfel in Toronto eine große Mehrheit bekommen haben und dass auch in Zu- kunft die Haushaltskonsolidierung bei den G 20 ein we- sentlicher Maßstab ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat aus dem Tagesspiegel beenden, der am 28. Juni schrieb: Es ist Merkels Verdienst – also das Verdienst dieser Bundesregierung –, dass die G 20 bei den Staatsfinanzen erstmals eine gemeinsame Sprache gefunden haben … … in Toronto hat sie eine Klarheit gezeigt, die über den Tag hinausweist. Ich danke Ihnen für Ihren Antrag. Ich danke Ihnen für die Arbeit, die Sie hineingesteckt haben. Ich freue mich auf eine gute Beratung der einzelnen Punkte im Haus- haltsausschuss und auf einen abschließenden Meinungs- austausch im November oder im Dezember. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2327 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie ein- verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 j sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än- derungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem König- reich Belgien zur Vermeidung der Doppelbe- steuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen ein- schließlich der Gewerbesteuer und der Grund- steuern sowie des dazugehörigen Schlusspro- tokolls in der Fassung des Zusatzabkommens vom 5. November 2002 – Drucksache 17/2255 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 17. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabi- schen Republik Syrien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen – Drucksache 17/2251 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen – Drucksache 17/2252 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ab- kommen vom 25. Januar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu- blik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 17/2253 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 30. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und zur Verhinderung der Steuer- verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 17/2254 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5297 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (C) (D)(B) Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen – Drucksache 17/2331 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen: Versorgung weltweit verbessern – Drucksache 17/2332 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Arbeitsmarktpolitik erfolgreich umsetzen und ausbauen – Drucksache 17/2321 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unabhängige Patientenberatung in Regelange- bot überführen – Drucksache 17/2322 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung von Wildtieren im Zirkus grundsätz- lich verbieten – Drucksache 17/2146 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Deutschen Bundestag bei der Reform der Umsatzsteuer beteiligen – Drucksache 17/2333 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden – Drucksache 17/1580 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Dabei handelt es sich um Überweisungen im verein- fachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 n auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 24 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten und Moratorium für die Privatisierung von Bundeswäldern erlassen – Drucksachen 17/796, 17/1823 – Berichterstattung: Abgeordnete Alois Gerig Petra Crone Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Cornelia Behm Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/1823, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/796 abzuleh- nen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Koali- tionsfraktionen, dagegen die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, enthalten hat sich die Fraktion der SPD. 5298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (C) (D)(B) Tagesordnungspunkt 24 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug einer Altersrente für Landwirte abschaffen – Drucksachen 17/1203, 17/2266 – Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Heinz Paula Dr. Edmund Peter Geisen Alexander Süßmair Cornelia Behm Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/2266, den Antrag auf Druck- sache 17/1203 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die einbringende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linke haben sich enthalten. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Tagesordnungspunkt 24 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 104 zu Petitionen – Drucksache 17/2151 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 105 zu Petitionen – Drucksache 17/2152 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 106 zu Petitionen – Drucksache 17/2153 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge- stimmt haben CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 24 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 107 zu Petitionen – Drucksache 17/2154 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 g Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 108 zu Petitionen – Drucksache 17/2155 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht 108 ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und bei Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses. Tagesordnungspunkt 24 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 109 zu Petitionen – Drucksache 17/2156 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt. Die übrigen Fraktionen des Hauses haben sich dafür aus- gesprochen. Tagesordnungspunkt 24 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 110 zu Petitionen – Drucksache 17/2157 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge- stimmt haben CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt. Tagesordnungspunkt 24 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 111 zu Petitionen – Drucksache 17/2158 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5299 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (C) (D)(B) Tagesordnungspunkt 24 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 112 zu Petitionen – Drucksache 17/2159 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. CDU/ CSU, FDP und SPD haben dafür gestimmt. Dagegen hat niemand gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke haben sich enthalten. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nein, wir ha- ben dagegen gestimmt! – Zuruf vom BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) – Entschuldigung! Beide haben dagegen gestimmt. Tagesordnungspunkt 24 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 113 zu Petitionen – Drucksache 17/2160 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Die Linke und die SPD. Enthalten hat sich niemand. Tagesordnungspunkt 24 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 114 zu Petitionen – Drucksache 17/2161 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke hat sich enthal- ten. Tagesordnungspunkt 24 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 115 zu Petitionen – Drucksache 17/2162 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die Oppositionsfraktionen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der Kabinettssit- zung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Kranken- versicherung. Das Wort für den einleitenden Bericht von fünf Minu- ten hat der Bundesminister für Gesundheit, Herr Dr. Philipp Rösler. Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Wie schon eben erwähnt, hat das Bundeskabinett am 29. Juni einen Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen. Mit dem Gesetz ver- folgen wir drei wesentliche Ziele: Das erste Ziel ist die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit den inno- vativsten, mit den bestmöglichen Medikamenten auch in Zukunft. Das zweite Ziel ist es, die Arzneimittelkosten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung im Griff zu behalten. Drittes Ziel ist die Sicherung von Ar- beitsplätzen im Industriebereich in Deutschland. Das erste Ziel erreichen wir dadurch, dass auch im ersten Jahr nach Markteinführung nach wie vor die volle und sofortige Erstattungsfähigkeit von neuen Medika- menten gewährleistet bleibt. Damit können wir sicher- stellen, dass Patientinnen und Patienten im Krankheits- fall sofort den Zugang zu diesen neuen Medikamenten erhalten können. Dennoch ist uns klar, dass es in Bezug auf die wachsenden Arzneimittelkosten im deutschen Gesundheitswesen bisher immer ein Problem gewesen ist, dass die Industrie vollkommen alleine die Preise fest- legen konnte und dass durch die alleinige Festlegung der Preise und durch die Erstattungsfähigkeit im Prinzip je- des Medikament zu jedem Preis – mit den entsprechen- den Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung – erstattet werden musste. Diese Möglichkeit gibt es künf- tig, wenn überhaupt, nur für das erste Jahr. Wir erwarten gleichzeitig, dass mit der Markteinfüh- rung ein sogenanntes Dossier hinsichtlich des Nutzens und des Zusatznutzens vorgelegt werden muss. Die Da- ten hierfür können im Rahmen der Zulassungsstudien er- bracht werden. Sie werden als Dossier von der Industrie vorgelegt, jedoch nicht bewertet. Die Bewertung soll der Gemeinsame Bundesausschuss übernehmen, gegebenen- falls unter Hinzuziehung des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Danach wird festgelegt, welchen Nutzen oder Zusatznutzen dieses Medikament hat. Hat es keinen Zusatznutzen im Hinblick auf ver- gleichbare Medikamente, wird es automatisch in eine Festbetragsgruppe aufgenommen bzw. ist dann nur zu entsprechend vergleichbaren Therapiekosten bei glei- chen Krankheiten erstattungsfähig. Gibt es einen Zusatz- nutzen, soll dieses Dossier als Grundlage für Vertrags- verhandlungen dienen – das ist neu und erstmalig so –, und zwar zwischen der Industrie auf der einen Seite und dem Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkas- sen auf der anderen Seite, mit dem Ziel, zu Rabatten für die gesetzliche Krankenversicherung zu kommen. Der Listenpreis bleibt also gleich, aber für die gesetzliche Krankenversicherung soll es künftig Rabatterleichterun- gen und damit auch Kostensenkungen geben. Wir haben erreicht, dass der Preis nicht mehr alleine von der Pharmaindustrie festgelegt werden kann, son- 5300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) (C) (D)(B) dern sich marktwirtschaftlich bildet durch Vertragsver- handlungen auf Grundlage einer wissenschaftlichen Ba- sis, nämlich des Zusatzdossiers. Damit können wir sicherstellen, dass die Kosten, die auch im Arzneimittel- bereich dramatisch angestiegen sind, künftig besser kon- trolliert werden können, als es bisher der Fall ist. Wir können gleichzeitig sicherstellen – das habe ich eingangs gesagt –, dass die Patientinnen und Patienten auch wei- terhin mit guten und hervorragenden Medikamenten ver- sorgt werden können. Das dritte Ziel wird ebenfalls erreicht, nämlich die Sicherung von Arbeitsplätzen gerade in mittelständi- schen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie in Deutschland. Im Rahmen der Rabattverträge sorgen wir auch dafür, dass künftig das Wettbewerbs- und das Kar- tellrecht Einfluss haben. Es soll nicht mehr möglich sein, dass eine einzelne große Kasse oder gar der Spitzen- verband Bund der gesetzlichen Krankenkassen alleine verhandelt und ein kleines oder mittelständisches Unter- nehmen dann keine Möglichkeit hat, auf gleicher Augenhöhe im Rahmen eines fairen Wettbewerbs mitzu- halten. Die Anwendung des Wettbewerbs- und des Kar- tellrechts auch in diesem Bereich ist eine mittelstands- freundliche Lösung, wie sie sich die Bundesregierung auf die Fahnen geschrieben hat. Ebenfalls Teil des Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes ist die Neuregelung und Festigung der Unabhängigen Patientenberatung. Hier gibt es bisher einen Modellver- such, der zum 31. Dezember 2010 ausläuft. Es liegt in unserer Verantwortung – diese Aussage findet sich auch im Koalitionsvertrag –, die Unabhängige Patientenbera- tung auf sichere Beine zu stellen und eine dauerhafte Lö- sung zu finden. Auch dies ist Teil des Entwurfs eines Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes. Darüber hinaus haben wir uns vorgenommen, im Inte- resse aller Beteiligten Deregulierungen vorzunehmen. Es gibt kaum einen komplexeren – um nicht zu sagen: komplizierteren – Bereich als das deutsche Arzneimittel- recht. Hier wollen wir durch Deregulierung weitere Ver- besserungen erzielen, sodass die Leistungserbringer auf der einen Seite und die Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite einen Nutzen von diesem Gesetz ha- ben. Gleiches gilt auch für die Kostenträger. In Zukunft ist nämlich eine bessere Kostenkontrolle möglich, als es bisher der Fall ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vielen Dank. – Herr Lauterbach zur ersten Nachfrage, bitte. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Vielen Dank. – Das Problem in Deutschland ist, dass die Listenpreise für innovative Arzneimittel besonders hoch sind. Sie sind höher als in den meisten anderen eu- ropäischen Ländern. Sie haben gerade eloquent darge- stellt, dass Sie daran nichts ändern wollen, dass die Lis- tenpreise also unverändert bleiben sollen. Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, weshalb der größte Abnehmer die- ser Arzneimittel in Europa die höchsten Listenpreise zahlen soll. Das ist so ähnlich, als wenn der größte Ab- nehmer von Fachbildschirmen – als Beispiel nenne ich den Media Markt – den höchsten Listenpreis zahlen soll. Wieso senken Sie nicht die Listenpreise? Das wäre doch viel einfacher, als einen Rabatt einführen, den Sie mögli- cherweise gar nicht bekommen. Es macht keinen Sinn, dass der größte Abnehmer beim Lieferanten den höchsten Listenpreis zahlt. Der höchste Listenpreis muss von demjenigen bezahlt wer- den, der die geringste Menge abnimmt. Der hohe Listen- preis in Deutschland ist das Problem. Die Listenpreise könnten in Erwartung des Rabattes sogar steigen, sodass das Problem, nämlich der zu hohe Listenpreis, durch Ihr Gesetz noch verschärft würde. Denn in Erwartung des Rabattes – unabhängig davon, ob er je gewährt wird oder nicht – könnte es sein, dass der Hersteller den Listen- preis noch höher ansetzt, sodass wir in Zukunft nicht nur den höchsten Listenpreis, sondern einen noch höheren Listenpreis als vorher zahlen müssen. Der überhöhte Preis könnte also weiter erhöht werden. Ich verstehe, ehrlich gesagt, den gesamten Ansatz nicht. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das merkt man! Das ist das Problem! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das, was Sie da erzählt haben, ist auch nicht zu verstehen!) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Ich beantworte Ihre Frage so, wie ich sie verstanden habe. Ich will deutlich machen: In der Tat bleibt der Listen- preis erhalten. Unser Auftrag ist, etwas für die gesetzlich Versicherten, also für die gesetzliche Krankenversiche- rung, zu erreichen. Das tun wir, indem wir dafür sorgen, dass nicht der volle Listenpreis gezahlt werden muss. Der größte Abnehmer wird von diesem Listenpreis also gar nicht in Mitleidenschaft gezogen, sondern er wird durch die Rabatte finanziell entlastet. Ich sage es einmal so: Sie bekommen den Rabatt ja nicht als Tablette, sozu- sagen als Naturalienrabatt, in die Hand gedrückt. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: Sie kritisieren ständig, dass möglicherweise die Gefahr besteht, dass die böse Indus- trie im ersten Jahr mit exorbitanten Listenpreisen in den Markt geht, in der Hoffnung, dass das erste Jahr so er- tragreich ist, dass die weiteren 19 Jahre des Patentschut- zes nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen. Die gute Nachricht ist: Da die Listenpreise auch mit Blick auf an- dere Staaten gelten – die Listenpreise gelten jeweils für ein Produkt –, können wir durch die Reimportquote – ich glaube, diese ist zu Ihrer Zeit mit ausgebaut worden – si- cherstellen, dass die Listenpreise nicht exorbitant stei- gen. Sonst gäbe es einen deutlichen Unterschied zwi- schen den deutschen Listenpreisen – Sie selber haben zu Recht gesagt, dass die Medikamente nicht allein für den deutschen Markt produziert werden – und den Listen- preisen in anderen europäischen Staaten. Wie Sie wissen, gibt es die Vorgabe, dass 5 Prozent der abgegebenen Arzneimittel in Deutschland aus Re- importen stammen müssen, sofern sie 15 Prozent oder 15 Euro Preisdifferenz zu einem ausländischen Produkt Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5301 Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) (C) (D)(B) oder einem im Ausland verkauften Produkt aufweisen. Wenn die böse Industrie die Listenpreise in Deutschland exorbitant in die Höhe treiben würde, dann hätte man sehr schnell den Zustand, dass der Preis in Deutschland eine deutlich höhere Differenz als 15 Prozent oder 15 Euro aufweisen würde. Das würde dazu führen, dass sehr viele Medikamente aus dem Ausland importiert würden. Dann hätte die Industrie mit faulen Eiern gehan- delt. Deswegen ist das, was Sie befürchten, aus unserer Sicht nicht zu erwarten. Im Übrigen würde sich nach dem ersten Jahr, nach- dem Verhandlungen oder sogar ein Schiedsstellenspruch zum Tragen gekommen wären, deutlich zeigen, dass der erste Preis überhöht gewesen wäre. Es dürfen sowieso nur Medikamente im Rahmen der Wirtschaftlichkeit ver- schrieben werden. Die von Ihnen geschilderte Gefahr se- hen wir also nicht. Eine Entlastung der deutschen Ver- sicherten erreichen wir eben durch Rabatte. Deswegen haben wir künftig in diesem Bereich Rabattverträge. Das hat bisher noch keine andere Regierung hinbekommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nächste Fragestellerin ist Frau Aschenberg-Dugnus für die FDP. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Herr Minister, in den Eckpunkten zur Umsetzung des Teils des Koalitionsvertrages zur Arzneimittelversor- gung wurden auch Maßnahmen zur Deregulierung ver- einbart. Können Sie bitte kurz darlegen, wie das im Ge- setzentwurf umgesetzt worden ist? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Es gibt zwei konkrete Maßnahmen, die im Gesetzent- wurf enthalten sind. Die erste Maßnahme ist die Ab- schaffung der Bonus-Malus-Regelung. Es gibt bisher bestimmte Zielgrößen, die zwischen den Leistungser- bringern auf der einen Seite und den Krankenkassen auf der anderen Seite vereinbart werden. Wenn beispiels- weise ein Arzt die Zielgrößen bei der Verschreibung nicht erreicht, muss er eine Strafe zahlen. Man erhält also einen Malus. Wenn man unter den Vorgaben bleibt, erhält man einen Bonus. Das halten wir für überflüssig. Ich glaube, diese Regelung ist auch nicht intensiv ange- wendet worden. Es macht also Sinn, sie zu streichen. Die zweite Maßnahme ist die Abschaffung der soge- nannten Zweitmeinungsregelung. Hier gilt die Regel, dass hoch innovative Medikamente nicht von jedem Arzt verschrieben werden können, sondern nur von Ärzten mit einer bestimmten Ausbildung, die in dem entspre- chenden Bereich auch zum Tragen gekommen ist. Wenn ein Allgemeinmediziner solche Medikamente verschrei- ben will, muss er bislang zuerst die Zweitmeinung eines Spezialisten einholen. Das halten wir für sehr bürokra- tisch. Wir glauben, dass sich die Leistungserbringer in diesen Bereich einbringen können. Eine weitere sinnvolle Maßnahme betrifft die Verein- fachung und Verschlankung von Therapiehinweisen und -richtlinien im Rahmen des Gemeinsamen Bundesaus- schusses. Wir können so sicherstellen, dass wir nicht nur neue Instrumente im Rahmen der Vertragsverhandlung auf den Weg bringen, sondern gleichzeitig auch zu einer Deregulierung zum Beispiel durch Streichung der eben genannten Vorschriften kommen. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielen Dank!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Bender. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, Sie haben gesagt, dass die Hersteller zwecks Bewertung des Nutzens bzw. des Zusatznutzens neuer Medikamente ein Dossier, also Unterlagen, vorle- gen sollen. Solche Dossiers müssen aber erst beim Inver- kehrbringen des Arzneimittels vorliegen. Das heißt, zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Arzneimittel verordnungsfä- hig ist, haben die Ärztinnen und Ärzte erst eine be- schränkte Informationsbasis und wissen nichts über den Nutzen oder den Zusatznutzen des betreffenden Medika- ments. Warum schreiben Sie nicht eine Nutzenbewer- tung parallel zum Zulassungsprozess vor, sodass sie zum Zeitpunkt der Zulassung tatsächlich vorliegt? Warum muss der Hersteller erst auf Verlangen des Gemeinsamen Bundesausschusses die notwendigen Unterlagen beibrin- gen? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass es in je- dem Fall durch dieses Gesetz zu einer Verbesserung ge- genüber dem heutigen Zustand kommt; denn bisher müs- sen keinerlei Studien vorgelegt werden, weder nach drei noch nach sechs Monaten oder nach zehn Jahren. Bisher gibt es keine Verpflichtung, solche Nutzen- oder Zusatz- nutzenstudien zu erstellen. Ich möchte zunächst festhal- ten: Es war das erklärte Ziel dieser Koalition, dafür zu sorgen, dass die Ärztinnen und Ärzte wissen, welche Medikamente sie zu verordnen haben, und dass wir wis- sen, was unsere Patientinnen und Patienten bekommen. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt: Selbstverständlich sollen bereits im Rahmen der Phase-III-Studien – gerne auch vorher – die entsprechenden Daten gesammelt werden, um diese Dossiers – also Dossiers zur Anwendbarkeit, zu Neben- wirkungen und ähnlichen Dingen – auf den Weg zu brin- gen. Es soll darüber hinaus auch ein Konsultationsver- fahren geben, sodass der Gemeinsame Bundesausschuss schon vorher in Kontakt mit der Industrie treten kann – und umgekehrt –, um deutlich zu machen, dass man noch weitere zusätzliche Daten braucht, falls diese Re- gelvorgaben nicht ausreichen. Dann ist es nur fair, dass man die Industrie darüber aufklärt und sagt: Bei diesem speziellen Medikament, bei dieser Indikation brauchen wir noch mehr Daten als die üblichen Daten, die man im Rahmen der Phase-III-Studien erbringen müsste. 5302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) (C) (D)(B) Auch hier stellen wir sicher, dass die Industrie recht- zeitig weiß, welche Daten erbracht werden müssen, da- mit die ersten drei Monate sinnvoll genutzt werden kön- nen. Wir denken, dass es sinnvoll ist, der Industrie diese Zeit zuzugestehen. Es ist kein Verlust, weil es in jedem Fall nach wie vor eine Verbesserung zum heutigen Zu- stand ist. Aber die Industrie hat dann die Möglichkeit, zumindest in den ersten drei Monaten die klinischen Er- fahrungen mit dem Medikament selbst zu sammeln. Das ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen der sofortigen Nutzbarkeit für Patientinnen und Patienten auf der einen Seite und der Sicherheit und Effizienz durch Nutzen- oder Zusatznutzenstudien auf der anderen Seite. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Vogler. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, ich möchte auf ein anderes Thema zu sprechen kommen, und zwar auf die Unabhängige Patientenberatung, die Sie an dieses Arzneimittel-Neuordnungsgesetz ange- hängt haben. Es erschließt sich nicht unmittelbar, was dieses Thema da eigentlich zu suchen hat. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Man kann es Ihnen nicht recht machen!) – Aber Herr Spahn! Wie glauben Sie, sicherstellen zu können, dass die Beratungstätigkeit der unabhängigen Patientenbera- tungsstellen auch nach dem 1. Januar 2011 sichergestellt werden kann, wo wir doch erst jetzt diesen Vorschlag auf den Tisch bekommen? Dabei gibt es schon jetzt in den Beratungsstellen die Situation, dass die Mietverträge und Arbeitsverhältnisse in absehbarer Zeit auslaufen. Erst wenn wir gegen Ende des Jahres dieses Arzneimit- tel-Neuordnungsgesetz mit dem Anhang zur UPD verab- schiedet haben werden und es in Kraft getreten ist, können die Krankenkassen die notwendigen Ausschrei- bungen vornehmen. Mir ist eines immer noch nicht ganz klar: Herr Bahr hat uns gesagt, es könne auch ohne gesetzliche Regelung von den Krankenkassen gehandelt werden. Unsere Infor- mationen sind, dass verschiedene Juristen das ganz an- ders bewerten und sagen, es sei höchstkritisch, wenn die Krankenkassen jetzt schon tätig würden und ohne ge- setzliche Grundlage die Fortschreibung des jetzigen Mo- dellversuchs vornähmen. Außerdem möchte ich Sie gern fragen, welche Idee Sie verfolgen, um die privaten Kran- kenversicherungen an den Kosten zu beteiligen; denn im Gesetz haben Sie nur eine freiwillige Beteiligung vorge- sehen. Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Zunächst einmal freue ich mich; denn ich kann Ihren Ausführungen entnehmen, dass Sie eine gewisse Zu- stimmung für die Unabhängige Patientenberatung und unseren Gesetzentwurf signalisieren. Das finde ich schon einmal gut. Warum ist dieser Teil mit drin? Weil wir – ich finde, zu Recht – gesagt haben, dass wir für Patientinnen und Patienten in Deutschland da sein wollen. Das heißt, wir wollen diese gute Einrichtung auch weiter verlängern. Ich finde nichts Schlimmes daran. Wenn Sie fragen, wa- rum es in einem Gesetz zur Arzneimittel-Neuordnung steht, kann ich nur darauf zurückkommen, was Sie in der Folge ausgeführt haben: In der Tat drängt die Zeit. Zum 31. Dezember 2010 läuft die bisherige vorläufige Erpro- bungsphase aus. Also muss man handeln, damit ab dem 1. Januar 2011 eine Unabhängige Patientenberatung in Deutschland weiter existieren kann. Wir bringen deswegen diesen Gesetzentwurf ein, da- mit wir mit Ihnen gemeinsam darüber diskutieren kön- nen und damit wir am Ende hoffentlich einen entspre- chenden Gesetzentwurf beschließen können. Dann haben die handelnden Akteure die Sicherheit, dass es nach dem 1. Januar 2011 in der Form, wie im Gesetzent- wurf beschrieben, weitergehen kann. Der Parlamentari- sche Staatssekretär Daniel Bahr hat im Ausschuss ausge- führt, dass es selbstverständlich möglich ist, die Verträge auch befristet weiterzuführen, bis das Gesetzgebungs- verfahren abgeschlossen ist, und wir dann – die Aus- schreibungen sind im Gesetzentwurf enthalten – nach den Ausschreibungen zu einer dauerhaften Einrichtung der Unabhängigen Patientenberatung selbst kommen können. Im Rahmen der Unabhängigen Patientenberatung soll es auch noch einen Beirat geben; denn die gesetzlichen Krankenversicherungen, die diese finanzieren, sollen da- rauf aus unserer Sicht keinen Einfluss haben. Das wird dann im Einvernehmen mit dem Patientenbeauftragten geschehen, bei dem ein zusätzlicher Beirat gebildet wird. An diesem Beirat sollen gegebenenfalls auch die priva- ten Krankenversicherungen beteiligt sein, aber nur dann, wenn sie ebenfalls bereit sind, sich finanziell an der Un- abhängigen Patientenberatung zu beteiligen. Wir werden also selbstverständlich mit den Kollegen der privaten Krankenversicherungen reden, weil ich glaube, dass auch sie ein Interesse daran haben, dass ihre Versicher- ten gut informiert sind. Das ist unser Weg. So können wir sicherstellen, dass die gute Einrichtung der Unabhängigen Patientenbera- tung – die haben Sie in Ihrer Frage auch nicht kritisiert – auch im nächsten Jahr erfolgreich fortbestehen kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Volkmer, bitte. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Herr Minister, die Bundesregierung plant eine Mehr- kostenregelung hinsichtlich der Rabattarzneimittel, also Mehrkosten für die Patienten, die sich für ein nicht ra- battiertes Arzneimittel entscheiden. Wie wird eine sol- che Regelung auf schon bestehende Rabattverträge und auf noch abzuschließende Rabattverträge zwischen den Krankenkassen und der pharmazeutischen Industrie wir- ken? Halten Sie eine solche Mehrkostenregelung als Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5303 Dr. Marlies Volkmer (A) (C) (D)(B) Modell auch auf andere Leistungsbereiche – Stichwort: Einstieg in die Kostenerstattung – für übertragbar? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Zunächst einmal soll die Mehrkostenregelung für sol- che Medikamente gelten, die nicht Gegenstand eines Ra- battvertrages mit der jeweiligen Krankenversicherung sind. Das führt uns zu dem Problem, das die Patientin- nen und Patienten schon heute haben. Nehmen wir an, Sie sind eine chronisch kranke Patientin und gehen in die Apotheke. Sie haben bisher immer ein bestimmtes Medi- kament genutzt. Plötzlich sagt Ihnen der Apotheker: Es tut mir leid, aber Sie können dieses Medikament nicht mehr ohne eine entsprechende Zuzahlung bekommen – momentan können Sie es sogar gar nicht bekommen, auch wenn Sie eine Zuzahlung leisten wollen –, weil Ihre Krankenkasse keinen Rabattvertrag mehr mit dem Hersteller dieses Medikamentes hat. – Es bleibt Ihnen dann nichts anderes übrig, als zu einem entsprechenden Ausweichpräparat zu greifen, was medizinisch ohne Probleme machbar ist. Trotzdem sagen viele Patientinnen und Patienten zu Recht, sie möchten bei ihrem Medikament bleiben, das sie von der Wirkweise, von der Einnahme und vom Ein- nahmezyklus her kennen. Sie bestehen in der Apotheke dann häufig darauf, dass sie das Medikament, das sie bisher genutzt haben und kennen, auch weiter erhalten können. Bisher gibt es auch bei entsprechender Bereit- schaft, den Differenzbetrag zuzuzahlen, keine Möglich- keit, dieses Medikament zu erhalten. Sie müssen viel- mehr das Rabattmedikament nehmen, für das ihre Krankenkasse einen entsprechenden Rabattvertrag abge- schlossen hat. Wir halten das aus Sicht der Patientinnen und Patien- ten für wenig akzeptabel. Im Gegenteil: Wir wollen hier Wahlfreiheit erreichen. Wir wollen also die Möglichkeit einführen, dass Sie als Patient in dieser Situation sagen können: Auch wenn meine Krankenkasse keinen Rabatt- vertrag mit diesem Hersteller hat, möchte ich mein altes Medikament haben, und ich bin auch bereit, dafür, dass ich mein altes Medikament weiter bekommen kann, ei- nen entsprechenden Zuschlag zu bezahlen. – Dies ist die Mehrkostenregelung. Wir haben sie nur für diesen spe- ziellen Bereich im Gesetz vorgesehen. Ich glaube, das ist eine vernünftige Lösung, die es den Patientinnen und Pa- tienten künftig gestattet, auf ihr Medikament zurückgrei- fen zu können. Die Auswirkungen auf die Rabattverträge sehen wir ganz gelassen, weil wir nicht davon ausgehen, dass jetzt sehr viele Patientinnen und Patienten sagen: Wir möch- ten weiter unser altes Medikament einnehmen und sind bereit, mehr zuzuzahlen. – Manche lassen sich auch auf- klären und davon überzeugen, dass, medizinisch gese- hen, auch ein anderes Medikament eingenommen wer- den kann. Für den Fall, dass sie trotzdem eine andere Meinung haben – das soll es ja durchaus geben, und ich finde, sie sollten dann eine entsprechende Wahlmöglich- keit haben –, haben sie künftig eben mehr Wahlmöglich- keiten, als das bisher der Fall war. Ich halte das für einen guten Weg. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Lotter, bitte. Dr. Erwin Lotter (FDP): Herr Minister, Wettbewerb und Wahlfreiheit sind ja wichtige Ziele für Liberale. Können Sie bitte noch ein- mal erläutern, inwieweit diese Ziele in diesem Gesetz- entwurf umgesetzt wurden? (Elke Ferner [SPD]: Manchmal hilft wirklich Lesen! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber eine inhaltsreiche Frage!) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Das war eine sehr inhaltsreiche Frage, weil mir da- durch die Gelegenheit gegeben wird, noch einmal in be- sonderer Weise auf die Qualitäten gerade dieses Gesetz- entwurfes hinzuweisen. An vielen Stellen im Gesetzentwurf finden wir die Grundideen des fairen Wettbewerbs und der Wahlfreiheit für Patientinnen und Patienten verwirklicht. Das fängt beim Wettbewerb mittels der Preisgestaltung an. Dies ist anders als bisher. Der Preis wird nicht mehr seitens der Industrie festgelegt, weil sie ein Monopol hat, sondern der Preis kann sich im Rahmen von Vertragsverhandlun- gen am Markt bilden. Das ist der wesentliche Kern die- ses Gesetzentwurfes, was im Ergebnis zu enormen Ein- sparungen führen wird. Die zweite Möglichkeit, zu Wettbewerb zu kommen, sind die Rabattverhandlungen. Wir sorgen durch das Wettbewerbs- und Kartellrecht für einen fairen Wettbe- werb zwischen den Kassen auf der einen Seite und der kleinen und mittelständischen Industrie auf der anderen Seite, damit nicht eine der beiden Seiten womöglich eine Marktmacht bekommt, die sie ausnutzen kann. Der dritte Punkt ist das eben schon angesprochene Modell der Mehrkostenregelung für Patientinnen und Patienten. Wenn sie mehr Freiheiten bei der Auswahl ih- res Medikamentes haben wollen – das ist ein grundle- gendes Recht der Patientinnen und Patienten –, werden sie diese künftig in größerem Umfang als bisher haben. Mindestens an diesen drei großen Stellen spüren Sie den liberalen Geist in diesem Gesetzeswerk. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Terpe, bitte. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, ich habe eine Nachfrage zu den Rabatt- verträgen, die Sie erwarten. Wir haben gerade ein Ge- setzgebungsverfahren zur Erhöhung der Zwangsrabatte von 6 Prozent auf 16 Prozent gehabt. Wie schätzen Sie die Möglichkeit zusätzlicher Rabatte, die Sie jetzt vorge- sehen haben, bei Verhandlungen ein? Meine zweite Frage, die ich anschließen möchte, ist: Sie wollen im Ge- setz die Pflicht zur Rückzahlung von Preisdifferenzen regeln. Sie erfolgt ab dem 13. Monat im Falle eines Schiedsspruchs. Warum regeln Sie das nicht schon für die ersten zwölf Monate? 5304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Die rückwirkende Preisfestsetzung ist, auch juris- tisch, durchaus heikel. Nun bin ich kein Jurist; aber wir halten es für sinnvoller, dass man erst nach dem Schieds- stellenspruch, wenn man das entsprechende Ergebnis hat, rückwirkend für höchstens drei Monate zu einer Preisbindung kommt. Die Möglichkeit, zu einer vertrag- lichen Einigung zu kommen, soll nicht bis zuletzt ausge- nutzt werden, um dann festzustellen, dass man zu kei- nem Ergebnis kommt. Wir stellen sicher, dass es gleich zu Beginn zu entsprechenden Vertragsverhandlungen kommen kann. Wenn das nicht der Fall ist, soll die Schiedsstellenlösung greifen. Ich denke, es ist vertretbar, dass man die Preise rückwirkend für drei Monate festle- gen kann. Wir haben uns dagegen entschieden, das für das ganze Jahr zu machen. Zu Ihrer ersten Frage: Wir haben im Zusammenhang mit den Rabattverträgen gesehen, dass es bei den Gene- rika teilweise zu erheblichen Preissenkungen gekommen ist, und zwar um bis zu 50 bzw. 70 Prozent. Das ist im hochinnovativen Bereich in dieser Form nicht zu erwar- ten. Das ist ein anderer Markt. Deswegen kann ich Ihnen nicht sagen, wie viel wir uns konkret davon versprechen und ob es über den Herstellerrabatt – wir nennen das Herstellerrabatt, nicht Zwangsrabatt – von 16 Prozent hi- naus zu weiteren Rabatten kommen kann. Es handelt sich um eine Kombination dieser beiden Instrumente. Der Herstellerrabatt und das Preismoratorium sind be- reits im GKV-Änderungsgesetz, das vor zwei Wochen verabschiedet worden ist, beschlossen worden. Das war eine Maßnahme, die ordnungspolitisch durchaus strittig diskutiert wurde. Sie macht aber nur dann Sinn, wenn wir jetzt den zweiten Weg über das Arzneimittel-Neuordnungsgesetz wählen, das heute diskutiert wird. Dann hat man die Möglichkeit, über Vertragsverhandlungen von diesem Herstellerrabatt wegzukommen. Das ist eine gute Mög- lichkeit, auf der einen Seite die Einsparmaßnahmen für die gesetzlichen Krankenversicherungen sicherzustellen und auf der anderen Seite zu wettbewerblicheren Struk- turen zu kommen. Das ist unser Ziel, zumal sich die Ra- batte nicht allein in Euro-Cent bemessen sollen; im Ge- setz ist vielmehr ausdrücklich festgehalten, dass es zu weiteren vertraglichen Ausgestaltungen kommen kann, zu sogenannten Mehrwertverträgen oder Verträgen im Rahmen der integrierten Versorgung. Man soll also um- fassende Verträge schließen können. Das hat vor allem einen Vorteil: Wenn es zu Verträgen gekommen ist, werden die Leistungserbringer, also die Ärztinnen und Ärzte, von der Richtgrößenprüfung aus- genommen. Die Medikamente, die unter den Vertrag fal- len, sollen dann künftig nicht mehr einbezogen werden. Das ist ein weiterer Punkt im Rahmen der Deregulie- rung. Die Zielsetzung der Rabattverträge betrifft auch, aber nicht nur das rein Finanzielle. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Ferner. Elke Ferner (SPD): Herr Minister Rösler, ich möchte zum einen auf das Thema „Mehrkosten bei rabattierten Arzneimitteln“ zu- rückkommen. Wenn ein Arzt das bisherige Arzneimittel eines Patienten, das nicht unter die Rabattverträge der Kasse des Patienten fällt, für medizinisch notwendig er- achtet und dies begründet, kann er das Medikament zu- lasten der Krankenkasse verordnen. Insofern wäre das eine Regelung für diejenigen, die nicht einsehen – aus welchen Gründen auch immer, ob angeregt durch den Arzt oder angeregt durch ein entsprechendes Verkaufs- gespräch des Apothekers –, dass das rabattierte Medika- ment die gleiche medizinische Wirkung im Rahmen der Therapie ihrer Krankheit hat, und dann eben etwas draufzahlen müssen. Insofern bleibt das aber bei denen hängen, die sich das auch leisten können. Diejenigen, die sich das nicht leisten können, haben diese Wahlfreiheit nicht. Zum anderen möchte ich nachfragen, inwieweit die bestehenden Rabattverträge, die ja darauf basieren, dass sich die Kasse gegenüber dem pharmazeutischen Unter- nehmen verpflichtet, eine bestimmte Menge abzuneh- men – dagegen steht dann der Rabatt des Unternehmens, das sagt, wenn ihr so viel abnehmt, dann gebe ich euch einen entsprechenden Rabatt –, in Zukunft noch garan- tiert werden können. Normalerweise ist es so: Je größer die Abnahmemenge ist, desto mehr Rabatt bekomme ich. Wenn ich diese Abnahmemenge aber nicht mehr ga- rantieren kann, dann wird der Rabatt wahrscheinlich ge- ringer werden. Deshalb ist ja wohl davon auszugehen, dass die 2,5 Milliarden Euro, die bisher durch die Ra- battverträge eingespart worden sind, in Zukunft nicht mehr zu erzielen sein werden. Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Die zweite Frage hatte ich bereits in Teilen beantwor- tet. Wir gehen nicht davon aus, dass die Menschen jetzt in enormer Zahl – schon gar nicht entsprechend dem ge- samten Einsparvolumen von 2,5 Milliarden Euro im Rahmen der bisherigen Rabattverträge – zur Apotheke laufen und sagen, ich werde künftig bereit sein, mehr für mein altes Medikament zu bezahlen, und damit – das ist ja Ihre Befürchtung – die Gesamtrabattverträge unterlau- fen. Davon gehen wir, wie gesagt, nicht aus. Im Gegen- teil, es ist ja auch Aufgabe und das explizite Ziel von Apotheken, über die unterschiedlichen Möglichkeiten aufzuklären. Also werden sie aufklären und sagen: Sie können natürlich bei Ihrem Medikament bleiben mit der Möglichkeit der Zuzahlung, Sie können aber auch ein Alternativmedikament nehmen. Dann müssen Sie nichts zuzahlen, dann haben Sie aber ein etwas anderes Medi- kament. Es heißt anders, und vielleicht ist auch die Ein- nahmevorgabe etwas anders als bei dem Ihnen bekann- ten Medikament. – Es spricht ja nichts dagegen, die Patientin, den Patienten aufzuklären. Also nochmals: Wir gehen nicht davon aus, dass Ra- battverträge in großen Mengen unterlaufen werden. Ihr erster Punkt ist übrigens sehr spannend. Das zeigt offensichtlich die unterschiedliche Sichtweise von Ihnen und uns bezüglich der Rechte und der Mitwirkungsmög- lichkeiten von Patientinnen und Patienten, wenn man vom Bild eines selbstbestimmten Patienten ausgeht. Sie haben zwar völlig recht, dass der Arzt natürlich schon Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5305 Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) (C) (D)(B) heute durch das Ankreuzen bestimmter Felder auf dem Rezept die Möglichkeit hat, dem Patienten aus medizi- nisch notwendigen Gründen andere Medikamente zu verschreiben als die Rabattvertragsmedikamente. Diese Möglichkeit stellen wir auch nicht infrage. Das ist Punkt eins. Aber es ist die Sichtweise des Arztes, wenn er aus medizinischen Gründen ein anderes Medikament weiter vorgibt. (Elke Ferner [SPD]: Wer weiß das denn besser, der Arzt oder der Patient?) Aber die Patientin und der Patient haben auch Rechte, jedenfalls nach unserer Sichtweise. Sie sind aufgeklärt und können selbstbestimmt entscheiden, ob sie ein ande- res Medikament haben wollen oder nicht. Selbstver- ständlich müssen sie dann, wenn sie sich außerhalb der Rabattverträge bewegen, mehr bezahlen. (Elke Ferner [SPD]: Die, die es sich leisten können!) Aber sie haben die Wahlmöglichkeit. (Elke Ferner [SPD]: Aber nur, wenn ich das Geld dafür habe!) Diese Wahlmöglichkeit haben sie momentan nicht, Frau Ferner. Sie müssen sie ja nicht nutzen. Ich verstehe nicht, warum Sie sich hier gegen die Freiheitsrechte von Patientinnen und Patienten so vehement aussprechen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Weil das wieder die Freiheit der Wohlhabenden ist!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Weinberg, bitte. Harald Weinberg (DIE LINKE): Herr Minister, die vorgesehenen Regelungen zu Ein- sparungen betreffen ja in erster Linie den Erstattungs- preis im Bereich der ambulanten Versorgung, nicht aber den Krankenhaussektor. Dort erfolgen Abrechnung, Er- stattung und Preisgestaltung anders. Wie steht die Bundesregierung zu der Befürchtung, dass die Hersteller wegen eventueller Rabatte im ambu- lanten Versorgungssektor zur Kompensation höhere Preise im stationären Bereich verlangen werden und letztlich die Einsparungen unter dem Strich geringer aus- fallen können? Plant die Bundesregierung auch für den stationären Bereich Regelungen? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Zunächst einmal ist es, glaube ich, ein guter Weg, be- vor man sich neue Maßnahmen vornimmt, erst einmal zu sehen, wie die jetzt geplanten Maßnahmen dann, wenn sie in Kraft getreten sind, wirken. Aber in der Tat ist es häufig so, dass Regeln, die geschaffen werden, zu Aus- weichbewegungen führen. Dann besteht die Gefahr, dass man gleich wiederum neue Regeln auf den Weg bringt. Selbstverständlich schauen wir uns an, wie sich die Preise in allen anderen Bereichen entwickeln, weil es na- türlich die Möglichkeit gibt, dass man einen Verlust, den man auf der einen Seite hat – im ambulanten Bereich, im Bereich der GKV –, durch Kompensation in anderen Be- reichen versucht „zurückzuholen“. Unser Ziel ist, insge- samt zu Einsparungen im Bereich der GKV zu kommen. Sie können sicher sein, dass wir die Situation sehr genau beobachten werden. Sollte es zu einer Kompensation kommen, dann müssten Gesetzgeber und Bundesregie- rung gemeinsam handeln. Das würden wir in jedem Fall auch tun. Ich will hier noch auf etwas hinweisen, auch wenn das nicht explizit Teil Ihrer Frage war. Aufseiten der Koalitionsfraktionen wird zu Recht darüber diskutiert, wie man Teile dieses Gesetzentwurfes auch auf den Be- reich der privaten Krankenversicherung übertragen kann; denn es kann ja sein, dass solche Kompensations- möglichkeiten, wie Sie sie im stationären Bereich sehen, auch im Bereich der privaten Krankenversicherung ge- sucht werden. Beides gilt es aus meiner Sicht zu verhin- dern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Klein-Schmeink, bitte. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, Sie unternehmen mit dem Gesetzent- wurf den Versuch, im Arzneimittelmarkt mehr Regulie- rungsregelungen, gerade bei der Preisgestaltung, einzu- ziehen. Im europäischen Umfeld hat man dafür die Positivliste. Man versucht so, das Ganze zu begrenzen. Sowohl für die Ärzteschaft als auch für die Patienten legt man eine Liste vor, die Qualität und Transparenz mitei- nander verbindet. Haben Sie ein solches Vorgehen nicht geprüft? Warum haben wir in Deutschland 40 000 zuge- lassene Medikamente, während es in anderen europäi- schen Ländern sehr viel weniger gibt? Haben Sie nicht die Notwendigkeit gesehen, da einzugreifen? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: In der Tat gibt es viele Medikamente. Ich will aus- drücklich festhalten, dass wir es sehr positiv finden, dass es viele Medikamente gibt; denn Sinn und Zweck ist ja, mit Medikamenten Menschen in Krankheit und Not zu helfen. (Elke Ferner [SPD]: Dazu muss man wissen, wie sie wirken!) Wir würden uns nicht anmaßen, von vornherein zu sa- gen, was gut ist und was nicht gut ist, was in dieser Liste erscheinen und was in dieser Liste nicht erscheinen soll. Wir wollen den Menschen in Deutschland Zugang zu den bestmöglichen wirksamen Medikamenten und auch zu Innovationen in diesem Bereich bieten. Solche Posi- tivlisten sind bekanntermaßen sehr innovationsfeindlich. Es muss aber zu Innovationen, zu Neuerungen kommen. 5306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Bundesminister Dr. Philipp Rösler (A) (C) (D)(B) Bis die sich auf einer Positivliste wiederfinden, geht meist sehr viel Zeit ins Land. Das wäre zum Nachteil der Patientinnen und Patienten. Deswegen haben wir uns für einen anderen Weg entschieden. Ich sage es noch einmal: Wir sind davon überzeugt, dass wir die richtige Balance zwischen Innovationsfä- higkeit auf der einen Seite und Kostenkontrolle auf der anderen Seite gefunden haben. Bei der reinen Positiv- liste hat man nur die Kostenkontrolle im Blick, aber lei- der nicht die Interessen der Patientinnen und Patienten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die letzte Frage, die in unser Zeitbudget passt, ist die von Frau Reimann. Dr. Carola Reimann (SPD): Danke, Frau Präsidentin. – Herr Minister, in Ihrem Gesetzentwurf sehen Sie eine umfassende Geltung des Kartellrechts für den Gesundheitsbereich vor. Ich möchte fragen: Welche Konsequenzen erwarten Sie da- raus auf Vertragsbeziehungen, auf die gemeinsamen Ver- träge von Leistungserbringern, auf die im Gesetz eigent- lich vorgeschriebenen Verträge zur Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, auf den Gemeinsamen Bundesausschuss und auch auf die Rabattverträge? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Ziel ist insbesondere, das Wettbewerbs- und Kartell- recht bei Rabattverträgen zur Anwendung zu bringen. Wir gehen davon aus, dass wir damit verhindern, dass eine Seite ihre Marktmacht zu einer Monopolstellung ausbaut und damit fairen Wettbewerb verhindert. Ein- zelne Kassen verhandeln schon mit kleinen mittelständi- schen Unternehmen. Teilweise haben große Kassen re- gional bereits ein Monopol. Für kleine mittelständische Unternehmen wird es dann schwierig, in einem solchen Bereich überhaupt noch Fuß zu fassen, weil es de facto keinen echten Wettbewerb der Kostenträger untereinan- der mehr gibt. Das wollen wir durch diese Maßnahme verhindern. Wir wollen das gezielt auf die Rabattverträge anwenden. Von daher gehen wir nicht davon aus, dass zum Beispiel die Integrierten Versorgungsverträge zwischen Leis- tungserbringern, Kostenträgern und, wenn das zum Tra- gen kommt, Industrieherstellern in Mitleidenschaft gezogen werden. Unser Ziel ist, dass für die Rabattver- träge, die wir selber ausdrücklich nicht infrage stellen, faire Wettbewerbsregeln gelten; denn auch hier besteht die richtige Balance zwischen Kostenkontrolle auf der einen Seite – die 2,5 Milliarden Euro wurden schon an- gesprochen – und fairem Wettbewerb auf der anderen Seite. Daran zeigt sich die Mittelstandsfreundlichkeit dieser Regierungskoalition. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit beende ich die Befragung der Bundesregie- rung. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 auf: Fragestunde – Drucksachen 17/2285, 17/2323 – Ich möchte darauf hinweisen, dass für die Frage- stunde heute nur eine Stunde angesetzt ist. Wir beginnen gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde mit der dringlichen Frage auf Drucksa- che 17/2323 zum Geschäftsbereich des Bundesministe- riums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamen- tarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung. Ich rufe die dringliche Frage des Kollegen Hans- Christian Ströbele auf: Inwieweit treffen aktuelle Medienberichte zu (Der Spiegel vom 28. Juni 2010), wonach der von deutschen Ermittlern ge- suchte deutsche Staatsbürger Rami M. sich am 21. Juni 2010 in Pakistan in der deutschen Botschaft Islamabad habe stellen und nach Deutschland zurückkehren wollen, die Botschaft ihm dafür einen Passierschein ausstellte mit der Bitte um all- seitige behördliche Unterstützung, jedoch das Bundeskrimi- nalamt, BKA – nach einem Disput zwischen Auswärtigem Amt sowie dem Bundesministerium des Innern –, seine Er- kenntnisse zu dem Deutschen an die pakistanische Polizei übermittelte und ihn auf dem Hinweg zu dem Besuch der deutschen Botschaft durch die berüchtigte pakistanische Poli- zei festnehmen ließ, wie diese bestätigte, und teilt die Bundes- regierung die Auffassung, dass eine solche Datenübermittlung des BKA an die pakistanische Polizei schon mangels hinrei- chender Rechtsgrundlage (§ 14 Abs. 7 Satz 5 des Bundeskri- minalamtgesetzes) rechtswidrig wäre und den deutschen Staatsangehörigen ohne Not und weitgehend schutzlos einer ungewissen Haft ausliefern würde, wo ihm Folter durch den pakistanischen Geheimdienst droht? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte. Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister des Innern: Der Bundesregierung liegen keine bestätigten Infor- mationen zur Festnahme eines deutschen Staatsangehö- rigen namens Rami M. vor, der in Waziristan verkleidet und schwer bewaffnet durch das pakistanische Militär festgenommen worden sein soll. Das Auswärtige Amt bemüht sich derzeit um Aufklärung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Ströbele, Sie haben eine Nachfrage. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, liegen denn der Bundesregierung Informationen darüber vor, dass das Auswärtige Amt mit dem Fall zu tun hatte, dass dieser Herr – er wurde in meiner Frage angesprochen – mit der deutschen Bot- schaft Kontakt aufgenommen hatte und sich am 21. Juni in der deutschen Botschaft seine Papiere abholen wollte – das war fest vereinbart –, um nach Deutschland zu- rückzukehren und sich hier den Behörden zu stellen? Haben Sie das mit dem Kollegen Stadler, der neben Ihnen sitzt, insbesondere auch deshalb intensiv bespro- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5307 Hans-Christian Ströbele (A) (C) (D)(B) chen, weil sich der Kollege Stadler als Mitkombattant im Untersuchungsausschuss zur BND-Affäre seinerzeit in einer Pressekonferenz in dem parallel gelagerten Fall Zammar sehr drastisch dahin gehend geäußert hat, dass es unzulässig sei, wenn das Bundeskriminalamt Daten an ausländische Dienste weitergebe und diese dann zum Nachteil eines deutschen Staatsbürgers dazu führen könnten, dass dieser in ein Foltergefängnis kommt? (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da war er ganz scharf, der Herr Staats- sekretär!) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister des Innern: Welche Daten unter welchen Umständen übermittelt werden dürfen, ist geregelt. Daran müssen sich natürlich die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere auch das BKA, halten. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof führt gegen mehrere Beschuldigte ein Ermittlungsver- fahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, der Islami- schen Bewegung Usbekistan, durch, darunter auch ge- gen einen deutsch-syrischen Doppelstaatler namens Rami M., die Person, die Sie in Ihrer Anfrage gemeint haben. Die Bundesregierung nimmt zu laufenden Ermitt- lungsverfahren aus grundsätzlichen Erwägungen keine Stellung. Eine Stellungnahme könnte weiter gehende Er- mittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich zu diesem ganz konkreten Fall nichts sagen kann. Er wird aber Ge- genstand der nächsten Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums sein. Da wird darüber sicherlich aus- führlich berichtet werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben noch eine weitere Nachfrage? – Bitte schön. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, können Sie denn bestätigen, dass das Bundeskriminalamt in diesem Fall Informationen an die pakistanischen Behörden, insbesondere an die dor- tige Polizei oder andere Sicherheitsbehörden, wie zum Beispiel den berüchtigten pakistanischen Geheimdienst, über diesen deutschen Staatsbürger gegeben hat und dass dies, wenn es denn geschehen ist, mit § 14 Abs. 7 letzter Satz des Bundeskriminalamtgesetzes nicht zu vereinba- ren ist, weil danach die Übermittlung von Daten dann zu unterbleiben hat, wenn schutzwürdige Interessen des Be- troffenen dem entgegenstehen? Das ist hier zweifellos der Fall. Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister des Innern: Die von Ihnen angesprochene Vorschrift sieht vor, dass Daten natürlich dann übermittelt werden dürfen, wenn dies zur Abwehr von Gefahren erforderlich ist. Wenn beispielsweise schwere Gefahren für Mitglieder der Botschaft drohten, dann dürften Daten, die zur Ab- wehr dieser Gefahren notwendig sind, selbstverständlich auch übermittelt werden. Es muss im Einzelfall genau abgewogen werden, inwieweit einerseits die berechtig- ten Interessen desjenigen, dessen Daten übermittelt wer- den, beeinträchtigt werden bzw. der Datenschutz ge- währleistet ist und andererseits die schutzwürdigen Interessen derjenigen, die in Gefahr sind, gewahrt wer- den können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Wieland, Sie haben noch eine Nach- frage dazu. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, da ich ja nun nicht den Vorteil habe, im Parlamentarischen Kontrollgremium zu sitzen, und der Kollege Ströbele mich nach wie vor nicht da- rüber informieren darf, was dort besprochen wird, nun noch einmal ganz konkret gefragt: Laut eines Berichts des Spiegel von dieser Woche werfen Angehörige dieses offenbar inhaftierten deutsch-syrischen Staatsbürgers der Bundesregierung, insbesondere dem Bundesinnenminis- terium, vor, diesen Menschen an den pakistanischen Ge- heimdienst bzw. an die pakistanischen Innenbehörden sozusagen verpfiffen zu haben. Die Frage ist: Trifft das zu? Und vor allen Dingen: Trifft die Meldung zu, dass es über diesen Umstand, ob man Informationen an die pa- kistanischen Sicherheitsbehörden geben soll, eine Kon- troverse zwischen Auswärtigem Amt, Ihrem Ministe- rium und möglicherweise auch dem Justizministerium – der Kollege Stadler war ja schon angesprochen – gege- ben hat? Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine CDU-Abgeordnete, die seinerzeit noch Kristina Köhler hieß, die derartige Datenweitergaben sehr kri- tisch kommentiert und begleitet hat. Kurzum: Wir alle haben seinerzeit gesagt, das, was im Fall „Zammar“ geschehen ist, ist sehr kritisch zu sehen. Es steht im Raum, dass es sich bei diesem Fall um einen zweiten Fall „Zammar“ handeln könnte. Deshalb frage ich Sie: Glauben Sie wirklich, dass die Auskunft: „Wir sagen nichts, solange das ein schwebendes Verfahren ist“, trägt und dass damit die Besorgnis aus der Welt ge- räumt werden kann? Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister des Innern: Da ich jetzt zum ganz konkreten Fall nichts sagen kann, kann ich natürlich auch Ihre Besorgnis nicht aus- räumen. Das ist wohl so. Ich möchte nur, dass Sie zur Kenntnis nehmen, dass eine Datenübermittlung nicht in jedem Fall ausgeschlossen ist, dass eine Datenübermitt- lung vielmehr dann notwendig ist und die Sicherheitsbe- hörden hierzu sogar verpflichtet sind, wenn es darum geht, Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Darüber sind wir uns doch alle einig. Es ist in jedem konkreten Einzelfall abzuwägen, inwieweit die Datenübermittlung verhältnismäßig ist, um Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Wir sind uns ja auch einig, dass in dem konkreten Fall, dass Gefahr für Leib und Leben durch 5308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder (A) (C) (D)(B) Übermittlung von Daten abzuwenden ist, eine solche Datenübermittlung erforderlich und verhältnismäßig ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit kommen wir zu den Fragen auf Drucksache 17/2285 in der üblichen Reihenfolge. Es handelt sich zunächst um Fragen zum Geschäfts- bereich des Bundesministeriums für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staats- sekretärin Katherina Reiche zur Verfügung. Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Bärbel Kofler auf: Welche konkreten Projekte im Bereich des internationalen Klimaschutzes hat das Bundesministerium für Umwelt, Na- turschutz und Reaktorsicherheit, BMU, in diesem Jahr durch die Mittel der Fast-Start-Initiative finanziert, um die Zusagen der Kopenhagen-Konferenz zu erfüllen, und wie wird zukünf- tig diese Mittelzusage im Haushaltsentwurf 2011 umgesetzt? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Frau Kollegin Kofler, ich beantworte Ihre Frage zur Fast-Start-Initiative wie folgt: Das Bundesumweltminis- terium wird seinen Anteil an der deutschen Fast-Start- Finanzierung über die Internationale Klimaschutzinitia- tive, IKI – circa 110 Millionen Euro im Jahr 2010 –, und über den neuen Haushaltstitel „Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern“ – das sind 35 Millionen Euro im Jahr 2010 – bereitstellen. Zu konkreten Projekten kann derzeit noch keine Aus- sage gemacht werden, da die Projektideen fachlich geprüft und mit dem Bundesministerium für wirtschaftli- che Zusammenarbeit und Entwicklung sowie dem Aus- wärtigen Amt abgestimmt werden. Dieser Prozess wird voraussichtlich im August abgeschlossen. Die bereits laufenden IKI-Projekte können Sie auf der Internetseite der Internationalen Klimaschutzinitiative abrufen. Das BMU wird im Zusammenhang mit der Fast-Start- Finanzierung dieses Jahr zudem 10 Millionen Euro für den UN-Anpassungsfonds im Rahmen des Kioto-Proto- kolls bereitstellen. Die genaue Ausgestaltung der deut- schen Fast-Start-Finanzierung im Haushaltsjahr 2011 ist Gegenstand der laufenden Haushaltsaufstellung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kofler, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Danke für die Antwort, Frau Staatssekretärin. Sie be- antworten meine Frage nach den Fast-Start-Mitteln mit der Auskunft, dass die Mittel unter anderem über die In- ternationale Klimaschutzinitiative, IKI, zur Verfügung gestellt werden. Ich finde das erstaunlich; denn in Ko- penhagen wurde im Jahr 2009 zugesagt, in den Jahren 2010 bis 2012 jeweils 420 Millionen Euro einzustellen. IKI gibt es seit 2007 und war 2008 erstmals im Bundes- haushalt enthalten. Stimmen Sie mit mir darin überein, dass das eine Umschichtung von bereits vorhandenen Mitteln ist, also alter Wein in neuen Schläuchen, und nicht das, was versprochen wurde, nämlich zusätzliche Mittel für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungslän- dern? Wie bewerten Sie die mittlerweile im Raum ste- henden Aussagen, nach denen die Mittel, die eingestellt wurden unter dem Titel „Klimaschutz in Entwicklungs- ländern“, der im Haushalt 2010 das erste Mal aufgeführt wurde – das waren nur 35 Millionen Euro –, im nächsten Haushalt auf null gesetzt werden sollen und mit Buch- haltungstricks beim Climate Investment Fund ausgegli- chen werden sollen? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Frau Kollegin, ich würde Ihnen gerne die Struktur er- klären, Ihnen sagen, wie wir unsere Fast-Start-Finanzie- rung ernst nehmen, wahrnehmen und umsetzen wollen. In der Tat hat sich die Weltgemeinschaft, darin die Euro- päische Union und selbstverständlich auch Deutschland, im Rahmen des Kopenhagen-Accords, der ein Ergebnis der Klimaverhandlungen von Kopenhagen war, zur Fi- nanzierung verpflichtet. Deutschland hat sich verpflich- tet, die von Ihnen eben erwähnten 420 Millionen Euro durchschnittlich pro Jahr zu übernehmen; das ist unser Beitrag. Wir werden unter anderem im Bereich „Wald- schutz, Wiederaufforstung, nachhaltiges Waldmanage- ment“ investieren. IKI ist Teil der deutschen Fast-Start- Initiative. Jährlich stehen 120 Millionen Euro für die IKI zur Verfügung. Ich möchte darauf hinweisen, dass der Mechanismus, den wir gewählt haben – Versteigerung von Emissions- zertifikaten –, weltweit einmalig ist. In Kopenhagen ist mehrfach positiv erwähnt worden, dass Deutschland das einzige Land ist, das einen direkten Zusammenhang zwi- schen der Reduktion von CO2-Emissionen und innovati- ven Finanzierungsmechanismen bzw. Investitionen in Klimaschutz herstellen kann. Das ist in Kopenhagen und darüber hinaus sehr gelobt worden. Dass wir erfolgreich sind, zeigt sich allein daran, dass uns für das Jahr 2010 500 Projektskizzen vorlagen. Sie werden zurzeit bewertet. 60 Projekte sind momentan in der Vorauswahl. Ich finde, das zeigt den Erfolg dieser Initiative. Das Angebot, das wir über die Fast-Start-Ini- tiative machen, ist erfolgreich, transparent und wettbe- werbsorientiert. Außerdem orientiert es sich am interna- tionalen Klimaschutz. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bevor Frau Kofler ihre zweite Nachfrage stellt, habe ich zwei weitere Fragende, zunächst Herrn Ott. Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä- rin, herzlichen Glückwunsch zum knappen Sieg gestern bei der Bundespräsidentenwahl. Wie komme ich darauf? Die fast missglückte Wahl ist ja nicht das einzige Gur- kenspiel Ihrer Mannschaft, das wir in der letzten Zeit ge- sehen haben. Ein weiteres Feld ist die Klimapolitik, bei der Zusagen, die die Bundeskanzlerin und die Bundes- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5309 Dr. Hermann Ott (A) (C) (D)(B) regierung insgesamt gemacht haben – auch Ihr Ministe- rium und das Ministerium des Kollegen Niebel –, Schritt für Schritt zurückgenommen werden: von einmal ver- sprochenen 420 Millionen Euro pro Jahr für die Jahre 2010 bis 2012 runter auf 70 Millionen Euro. Jetzt soll das, wenn man den Meldungen des Spiegel glauben darf, auf null gesetzt werden. Meine Frage lautet deshalb: Kämpfen Sie, kämpft das Bundesministerium für Umwelt dafür, dass zumindest diese geringen Mittel in Höhe von 70 Millionen Euro für die Jahre 2011 und 2012 zusätzlich in den Haushalt ein- gestellt werden? Es gab, wie uns zu Ohren gekommen ist, schon internationale Interventionen aus Ländern des Südens, die deutlich machen, dass Deutschland dabei ist, sein Renommee zu verspielen. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Vielen Dank für die Glückwünsche, die ich Christian Wulff und nicht mir persönlich zurechne. Aber ich nehme sie gern entgegen, Herr Kollege. Zu unseren Verpflichtungen: Wir nehmen sie nicht nur ernst, sondern wir wollen und werden unseren Ver- pflichtungen nachkommen. Denn uns ist sehr bewusst, dass die Glaubwürdigkeit Deutschlands und auch der Europäischen Union bei Cancún und allen weiteren Ver- handlungen davon abhängt, Verpflichtungen, die wir ein- gegangen sind, einzuhalten. Insbesondere die Entwick- lungs- und Schwellenländer schauen darauf, dass konkrete Projekte ans Laufen kommen. Ich glaube, die Zahlen, die ich hier nur kurz skizzie- ren kann, zeigen, wie attraktiv, glaubwürdig und nachge- fragt die Projekte sind. Die Haushaltsverhandlungen für das Jahr 2011 laufen. Ich kann Ihnen hiermit sagen, dass wir alles unternehmen werden, um die Zusagen zu hal- ten, die Haushaltsmittel tatsächlich abrufen zu können und zur Verfügung zu stellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Miersch. Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Staatssekretärin, die Kollegen haben eben schon darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung arge Pro- bleme damit hat, die internationalen Verpflichtungen einzuhalten. Nun konnten wir diese Woche einer Presse- meldung entnehmen, dass Sie offenbar für den interna- tionalen Klimaschutz Kredite geben wollen, dass Sie einen Klimaschutzfonds einrichten wollen, der sich vor allen Dingen an Privathaushalte in Entwicklungs- und Schwellenländern richten soll. In der Pressemitteilung heißt es: Zugang zu Finanzierungsmitteln und Beratungsleis- tungen wird über die Hausbanken ermöglicht. Ich frage Sie – ich denke dabei an die Entwicklungs- länder –: Wäre es nicht sinnvoller, wirkliche Investitio- nen zu ermöglichen, statt Kredite zu vergeben? An wel- che Hausbanken in Entwicklungsländern denkt die Bundesregierung? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Herr Kollege, diesen Fonds haben wir bereits in Ko- penhagen vorgestellt. Ich nehme an, die Kollegen, die mitgefahren sind, werden Ihnen davon und auch von den Reaktionen darauf berichtet haben. Das Innovative an diesem Fonds ist, dass es sich um einen revolvierenden Fonds handelt. Es ist also kein Fonds, bei dem die öf- fentlichen Mittel aufgezehrt werden, sondern ein Fonds, bei dem die Mittel immer wieder zurückfließen. Wir wissen, dass wir den gesamten weltweiten Bedarf für Klimaanpassung, für den Aufbau von Kapazitäten zum Klimaschutz, zum Ertüchtigen von Entwicklungs- und Schwellenländern, in erneuerbare Energien zu in- vestieren, allein aus staatlichen Geldern nicht decken können und wir Private dazu brauchen. Private wie- derum wollen sich absichern, wenn sie sich in Regionen bewegen, die, vorsichtig gesagt, für sie nicht immer übersichtlich sind; sie gehen dabei ein hohes Risiko ein, sowohl hinsichtlich der Technologie als auch des Invest- ments. Deshalb haben KfW und Bundesumweltministe- rium diesen Fonds über insgesamt 100 Millionen US- Dollar zusammen aufgelegt. Das BMU stellt das Eigen- kapital bereit. Wir übernehmen damit auch einen Teil der wirtschaftlichen Risiken, weil, wie ich eben erwähnt habe, private Investoren einen Anreiz brauchen. Wir haben gehört, dass dieser Fonds nicht nur gut an- kommt, sondern auch nachgefragt wird. Zumindest ha- ben wir nach Kopenhagen viele Anfragen dazu bekom- men. Auch diese Mittel sind innerhalb der IKI, die ich gerade erläutert habe, angesiedelt. Wir erwarten, dass wir pro eingesetzten Euro unge- fähr das Fünf- bis Sechsfache herausbekommen bzw. an Investitionen auslösen können, wie wir es auch schon bei Angeboten innerhalb Deutschlands, aber auch bei anderen internationalen Angeboten umsetzen konnten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kofler. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Ich möchte noch einmal nachfragen, weil ich die Ant- wort auf die Frage des Kollegen sehr ausweichend fand. Eine Analyse der Zusagen der Kopenhagen-Konferenz zeigt, dass alle Zusagen, die Sie in die Fast-Start-Initia- tive einrechnen, 2007 und 2008 gemacht bzw. in den Haushalt eingestellt worden sind, nämlich 2008 auf dem G-8-Gipfel in Tokio und auf der UN-Biodiversitätskon- ferenz und 2007 auf dem UN-Klimagipfel auf Bali. Die einzigen beiden Positionen, die neu in den Haushalt ein- gestellt worden sind, sind die je 35 Millionen Euro in den Etat des BMU und des BMZ. Stimmt es, dass diese Mittel im Haushalt 2011 auf null gesenkt werden sollen? Wie setzt sich das Umweltministerium dafür ein, dass dies nicht passiert? Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Verhandlungen in Cancún ein, wenn die Mittel 5310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Bärbel Kofler (A) (C) (D)(B) auf null gesenkt werden? Dann stehen nämlich die Glaubwürdigkeit unserer Politik und die Zuverlässigkeit unserer Zusagen auf dem Spiel. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Frau Kollegin, ich habe gerade ausgeführt, dass die Haushaltsverhandlungen für das Jahr 2011 laufen. Wir werden Anfang Juli den ersten Haushaltsentwurf im Ka- binett beraten, und wir setzen alles daran, dass wir un- sere Zusagen einhalten können. Dass wir insgesamt in wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben, dürfte auch der SPD nicht entgangen sein. Wir haben gerade den Vor- mittag damit verbracht, über Haushaltsrisiken und die damit verbundenen Schwierigkeiten zu sprechen. Dennoch sind wir uns unserer Verantwortung bewusst und werden die Haushaltstitel, die mit der Fast-Start-Fi- nanzierung zusammenhängen, mit konkreten Projekten ausfüllen, um in Cancún glaubwürdig aufzutreten. Ich glaube, dass es nicht nur um Haushaltstitel geht. Ich finde, dass Sie damit die Debatte ein wenig verkürzen. Bitte vergessen Sie nicht, dass wir auf vielen Wegen un- terwegs sind, vor allem um wieder Vertrauen aufzu- bauen, das offenbar in Kopenhagen zerstört wurde. Wir haben mit der Konferenz auf dem Petersberg mit interessierten und engagierten Entwicklungsländern und Industrieländern einen guten Aufschlag gehabt, um die Verhandlungen für Cancún vorzubereiten. Dabei ist nicht nur das Engagement Deutschlands gewürdigt wor- den, sondern wir haben auch mitgenommen: Je konkre- ter Initiativen und die bilaterale und trilaterale Zusam- menarbeit laufen, desto überzeugender kann ein Land wie Deutschland oder auch die Europäische Union in Cancún auftreten und hoffentlich die Verhandlungen be- fruchten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen jetzt zu Frage 2 der Kollegin Kofler: Wie bewertet das Bundesministerium für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit die Auswirkungen des Markt- anreizprogramms auf Investitionen und Steuereinnahmen als Beitrag für einen wirtschaftlichen Aufschwung, und welche Anstrengungen unternimmt das BMU, damit das Marktan- reizprogramm und die Internationale Klimaschutzinitiative im Jahr 2011 fortgesetzt werden? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Frau Kollegin, ich möchte Ihnen wie folgt antworten: Das Marktanreizprogramm Erneuerbare Energien setzt Anreize zur Errichtung von Anlagen zur Nutzung erneu- erbarer Energien und stützt so die Nachfrage von Privat- personen und Unternehmen in diesem Bereich. Selbst- verständlich führt das dann auch zu zusätzlichen steuerlichen Effekten in diesen Sektoren. Gesamtwirtschaftlich ist dabei aber zu berücksichti- gen, dass dann, wenn öffentliche Mittel anderen Verwen- dungen entzogen werden, dies auch gegenläufige Effekte auslöst. Dass die Bundesregierung überzeugt ist, dass das Marktanreizprogramm ein sinnvolles Programm ist, zeigt sich darin, dass in dem Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2011 die Finanzierung dieses Pro- gramms und der Internationalen Klimaschutzinitiative auf hohem Niveau fortgeführt wird. Zu den Auswirkungen des Marktanreizprogramms auf Steuereinnahmen liegt dem BMU keine eigene Ana- lyse vor. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kofler, eine Nachfrage. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Ihre Formulierung „auf hohem Niveau fortgeführt“ klingt zwar schön, ist aber natürlich zu hinterfragen. Können Sie mir bestätigen, dass für die beiden Initiati- ven im Etat 2011 88 Millionen Euro weniger als im Etat 2010 zur Verfügung stehen? Wenn Ihnen keine Erkenntnisse über Steuereinnahmen vorliegen, wie be- werten Sie die Aussage des Ifo-Instituts zum Thema Marktanreizprogramme, dass allein den Ländern und Kommunen in diesem Jahr 151 Millionen Euro an Steu- ereinnahmen entgehen, wenn jeder zweite Auftrag weg- bricht? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Frau Kollegin, Ihre Sorge wegen des Programm- stopps, der verhängt werden musste, weil wir nach wie vor eine Haushaltssperre von 115 Millionen Euro haben, teile ich. Wir versuchen derzeit in intensiven Verhand- lungen, diese Sperre aufzuheben. In der Tat stehen dann in diesem Jahr weniger Mittel zur Verfügung als ur- sprünglich geplant. Die Nachfrage ist groß; das haben Sie gerade indirekt bestätigt. In diesem Jahr haben wir bereits 138,5 Millionen Euro für 90 000 Investitionsvor- haben ausgezahlt. Wir müssen außerdem die Förderzusa- gen im KfW-Programm „Erneuerbare Energien“ aus den Vorjahren abarbeiten. Da Mittel reduziert wurden, wir aber die Zusagen einhalten wollen, haben wir einen Pro- grammstopp verhängt. Noch einmal: Konkrete Zahlen steuerlicher Natur kann ich Ihnen nicht geben. Was ich allerdings feststelle, ist eine nach wie vor rege Aktivität bei Handwerksbe- trieben, nicht nur aufgrund des Marktanreizprogramms. Diese Aktivität bezieht sich unter anderem auf den So- larbereich, etwa auf die PV-Installation. Mir scheint, dass wir durch die Förderung erneuerba- rer Energien auf verschiedenen Wegen insgesamt dafür sorgen, dass wir auf der einen Seite einen höheren Anteil erneuerbarer Energien haben – er steigt erfreulicher- weise weiterhin – und dass wir auf der anderen Seite sehr wohl einen Beitrag zur Förderung der Investitionen von Handwerk und Mittelstand leisten. (Jens Ackermann [FDP]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5311 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kofler, Sie haben das Wort zu einer weiteren Nachfrage. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Sie haben zum Schluss das Handwerk und den Mittel- stand angesprochen. Sie haben darauf hingewiesen, dass das Marktanreizprogramm durchaus sehr attraktiv ist. Können Sie bestätigen, dass trotz dieser Attraktivität eine Kürzung in diesem Haushaltstitel vorgesehen ist? Wie bewerten Sie die Aussagen zahlreicher Handwerks- betriebe, kleiner Unternehmen und Verbände in den ver- schiedensten Regionen Deutschlands, die schwere wirt- schaftliche Einbußen befürchten? Ist es richtig, Mittel für Programme zu kürzen, die ökologisch sinnvoll sind? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Frau Kollegin, wie ich gerade gesagt habe, bemühen wir uns seit Wochen und Monaten unter tatkräftiger Mit- hilfe der Fachpolitiker, diese Haushaltssperre aufzuhe- ben. Ich sage erneut, dass wir nach wie vor über den Haushaltsentwurf 2011 verhandeln. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Ott, bitte. Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin der Kollegin Kofler sehr dankbar, dass sie die Frage nach den steuerli- chen Wirkungen der Streichung des Marktanreizpro- gramms gestellt hat. Ich bin etwas enttäuscht über die Antwort. Die Bundesregierung ist sich überhaupt nicht darüber im Klaren, was für negative, schädliche Folgen ihre Handlung auf die Konjunktur hat. Ich möchte den Blick von den Steuereinnahmen ab- und zu den wirtschaftlichen Aktivitäten hinwenden. Ich sehe den Kollegen Peter Hintze aus dem Wirtschafts- ministerium bei Ihnen sitzen. Mein Kollege ist er nicht nur als MdB, sondern auch als Wuppertaler Abgeordne- ter. Haben Sie sich mit dem Kollegen vom Wirtschafts- ministerium einmal zusammengesetzt oder haben Sie vor, das zu tun, um die Auswirkungen der Streichungen beim Marktanreizprogramm auf die lokale und regionale Wirtschaft zu untersuchen? Schätzungen gehen nämlich davon aus, dass allein der in Wuppertal ansässigen Wirtschaft, den kleinen und mittelständischen Unternehmen, mehrere 100 000 Euro entgehen werden. Meine Frage ist also: Setzen Sie sich mit dem Kollegen Hintze und anderen zusammen, um die Auswirkungen einer Streichung des Marktanreizpro- gramms auf die lokale Wirtschaft zu untersuchen? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Herr Kollege, zu Ihrer Erbauung, vielleicht auch zu Ihrem Missfallen muss ich Ihnen sagen, dass ich quasi täglich mit Peter Hintze zusammensitze. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ein Vergnügen ist, nehme ich an!) – Sehen Sie! Kein Neid auf den Plätzen der Opposition! Weil wir uns gerade mit der Historie und den Ent- wicklungen der Zukunft beschäftigen, möchte ich ein- mal darauf hinweisen, dass es zur Zeit von Rot-Grün – da gab es dieses Programm auch schon – ein ständiges Auf und Ab gab und wir deutlich weniger Geld zur Ver- fügung hatten, als wir es jetzt haben. Wir haben in der Großen Koalition gemeinsam dafür gesorgt, dass die Mittel des MAPs verrechtlicht wurden, und wir haben den entsprechenden Ansatz mehr als verdoppelt, infolge guter Zertifikatserlöse sogar fast verdreifacht. Dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen Zertifikatserlö- sen und MAP war im Haushalt 2009 nicht mehr gege- ben. Da hat das Umweltministerium noch unter Minister Gabriel nicht mehr hart genug dafür gekämpft, das Geld zu bekommen. Das Geld für das MAP ist aber geblieben. Wir haben dafür gesorgt, dass über einen langen Zeitraum sehr sta- bil sehr viel in den Klimaschutz investiert wurde. Noch einmal: Gerade in diesem Bereich sollen die Haushalts- verhandlungen dafür sorgen, dass wir die Investitionen stabil halten; denn wir wissen gerade aus der rot-grünen Zeit, was ein dauerndes Auf und Ab bei Förderprogram- men für die Wirtschaft und die Investoren bedeutet. Sie wissen auch, dass die Zertifikatspreise, die wir in guten Zeiten ansetzen konnten – etwa 20 Euro –, in der Rezession auf mittlerweile knapp 15 Euro gerutscht sind. Auch da fehlt es an Geld. Das müssen und wollen wir kompensieren; wir wollen an der Stelle Sicherheit schaffen. Das weiß auch das Wirtschaftsministerium. In- sofern verhandeln wir beim Haushalt 2011 über Finanz- sicherheit. Parallel kämpfen wir beim Haushaltsaus- schuss und beim Finanzminister gemeinsam für die Entsperrung der Mittel. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt der Kollege Miersch. Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Staatssekretärin, Sie haben eben davon gespro- chen, dass die Bundesregierung in Kopenhagen viel Lob geerntet habe und dass ich mir darüber von Kollegen hätte berichten lassen können. Ich will Sie darauf hin- weisen, dass ich einer der dort anwesenden Kollegen war. Ich konnte allerdings kein Lob vernehmen, sondern viel Entsetzen über das Agieren der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Die Grund- sätze des Klimaschutzes und die Glaubwürdigkeit sind beim Marktanreizprogramm doch an eklatanter Stelle verletzt worden. Oder würden Sie allen Handwerkern, Handwerkspräsidenten und Unternehmen, die in den letzten Wochen das BMU kontaktiert haben, nicht recht geben, dass der Förderstopp eine entscheidende Investi- tionsbremse ist und dass alles getan werden muss, damit sich so etwas im Haushalt 2011 nicht wiederholt? 5312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Zum einen: Ich teile Ihre Einschätzung zu Kopenha- gen nicht. Zum zweiten – ich wiederhole mich –: Wir finden ge- nau wie die SPD und die Grünen, dass das Marktanreiz- programm wichtig ist. Wir bedauern den jetzigen För- derstopp und arbeiten gemeinsam an der Aufhebung der Sperre. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Fell. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin Staatssekretärin Reiche, ich nehme Ihre Aussage, dass Ihnen der Haushaltsstopp beim Marktan- reizprogramm Sorgen macht und Sie negative Auswir- kungen befürchten, gerne zur Kenntnis. Diese negativen Auswirkungen sind aber seit langem bekannt: Mit dem Tag des Förderstopps waren am Markt sofort Stornierun- gen erfolgt. Firmen haben sich hilfesuchend an uns ge- wandt. Als ich einige Wochen später die Bundesregie- rung fragte, haben Sie mir für die Bundesregierung schriftlich geantwortet, dass der Bundesregierung keine Auswirkungen des Förderstopps beim Marktanreizpro- gramm bekannt sind. Ich frage Sie: Inwiefern sind Ihnen inzwischen Auswirkungen bekannt? Haben Sie Zahlen, die belegen, wie massiv der Einbruch der Nachfrage nach Solarwärmeanlagen, Holzpelletsanlagen, Wärme- pumpen und anderen Heizungsanlagen war, nachdem diese nicht mehr durch entsprechende Programme geför- dert wurden? Wie groß ist der Schaden, der durch den Förderstopp entstanden ist? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Konkrete Zahlen über Absagen oder nicht erfolgte Aufträge kann ich Ihnen nicht nennen. Ich habe bereits Frau Kollegin Kofler geantwortet, dass keine konkreten steuerlichen Daten vorliegen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Gerd Bollmann zum Zeitplan für die Umsetzung der EU-Ab- fallrahmenrichtlinie in nationales Recht. Diese Frage wird schriftlich beantwortet. Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Scheer zur regiona- len Wertschöpfung und Akzeptanz von Windenergiean- lagen werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Kollegen Miersch auf: Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit die Einigung zwischen dem Eu- ropäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rahmen der Verhandlungen über die Novelle zur IVU-Richtlinie über eine Übergangsfrist bis Ende 2023 für veraltete Kraftwerke und Großfeuerungsanlagen, innerhalb der diese umgerüstet oder abgeschaltet werden müssen? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Herr Kollege Miersch, Ihre Frage nimmt offensicht- lich Bezug auf Art. 33 der IVU-Richtlinie über Ausnah- men von emissionsbegrenzten Anforderungen an Groß- feuerungsanlagen mit einer begrenzten Restlaufzeit. Es handelt sich um die sogenannte Opt-out-Regelung. Im Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 15. Februar 2010 war bereits eine entsprechende Regelung vorgese- hen. Sie war aus Sicht der Bundesregierung akzeptabel, weil sie zeitlich bis Ende 2023 und auf insgesamt 20 000 Betriebsstunden begrenzt war. Der gefundene Kompromiss stellt gegenüber dem Gemeinsamen Stand- punkt des Rates aus Sicht des BMU eine Verbesserung dar, weil die Restlaufzeit auf 17 500 Betriebsstunden be- grenzt wurde. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dazu gibt es keine Nachfrage. Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Miersch auf: Welche Erkenntnisse hat das Bundesministerium für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit über die Auswirkun- gen des seit fast 20 Jahren aus einem explodierten Bohrloch der Firma Exxon Mobil in der Nordsee ausströmenden Me- thangases auf die Umwelt und das Klima, und in welcher Weise wird dazu mit der britischen Regierung zusammengear- beitet? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Herr Kollege Miersch, ich hätte Ihnen gerne noch et- was zur EU-Richtlinie und zu den Verhandlungen er- zählt. Aber ich komme zu Ihrer nächsten Frage. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das können Sie mir dann ja schreiben!) – Ja, das schreibe ich Ihnen. Ich möchte Ihnen wie folgt antworten. Vom britischen Umweltministerium, dem Department for Environment, Food and Rural Affairs, wurde dem Bundesumwelt- ministerium im März 2010 auf Anfrage Folgendes mit- geteilt: Bei einer Explorationsbohrung durch Mobil Oil wurde im November 1990 eine vergleichsweise nahe an der Oberfläche liegende, unter hohem Druck stehende Gasblase – shallow gas deposit – getroffen, wodurch es zu einem Blow-out mit Bildung eines großen Kraters kam. Versuche, das Leck zu schließen, verliefen erfolg- los. In den 1990er-Jahren hat sich der Gasausstrom so weit reduziert, dass das Leck weder als Gefahr für die Umwelt noch für die Schifffahrt angesehen wurde. Die Stelle wurde aber in Seekarten mit Warnhinweisen mar- kiert. Es gibt Hinweise, dass sich im Bereich der Leckage eine spezielle Ökosystemstruktur ausgebildet hat. Nach den vom Kieler Leibniz-Institut für Meeres- wissenschaften, dem IFM-GEOMAR, bestätigten Infor- mationen betrug der Gasaustritt 1994 circa 25 Prozent des gesamten Methanausstoßes der Nordsee. Neuere Messungen aus dem Jahr 2006 zeigten, dass vom Me- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5313 Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche (A) (C) (D)(B) thanstrom aus dem Leck circa ein Drittel an die Was- seroberfläche gelangt und zwei Drittel im Meerwasser gelöst oder von Bakterien oxidiert werden. Dabei ist es im Bereich des Kraters zur Ausbildung eines Ökosys- tems mit hochspezialisierten Bakterien, Muscheln, Blu- mentieren und Fischen gekommen. Die Stärke der Quelle ist lokal erheblich. Die Auswirkungen dieser ein- zelnen Quelle auf das Weltklima sind eher gering. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort zu einer Nachfrage hat Herr Miersch. Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Staatssekretärin, teilen Sie meine Einschätzung, dass wir somit auch vor der Haustür – in der Nordsee – eine Situation haben, wo wir es mit einem Leck zu tun haben – allerdings nicht mit einem Ölleck – und es mit den technischen Möglichkeiten seit 20 Jahren nicht ge- lingt, es zu schließen? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Anders als im Golf von Mexiko – ich glaube, nach dieser Parallele fragen Sie – handelt es sich hier nicht um ein Bohrloch, sondern um einen Krater, der wohl nur mit ganz erheblichen Schwierigkeiten zu verschließen wäre, was in der Vergangenheit auch gescheitert ist. Von der Leckage geht aber – anders als im Golf von Mexiko – keine vergleichbare Umweltgefährdung aus. Ich habe Ih- nen ja gesagt, dass sich verschiedene Institute das ange- guckt haben. Noch einmal: Etwa ein Drittel des Methans gelangt an die Oberfläche; zwei Drittel werden im Meer- wasser gelöst bzw. von spezialisierten Bakterien, die sich im Bereich der Austrittsstelle angesiedelt haben, verstoffwechselt. Insofern wird auch ein Teil des austre- tenden Methans eliminiert. Die Bakterien – so sagen uns Ökologen – bilden zudem eine lokale Nahrungsgrund- lage für andere Organismen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Miersch. Dr. Matthias Miersch (SPD): Das war – jedenfalls nach meiner Auffassung – nicht meine Frage, aber ich will jetzt meine zweite Nachfrage damit nicht verbrauchen. Wir konnten vernehmen, dass in den letzten Wochen sogar Bundes- bzw. Landesum- weltminister die Bundesregierung aufgefordert haben, die Sicherheitsvorkehrungen und die Gesetze in Bezug auf Tiefsee-, aber auch andere Bohrungen zu prüfen. Können Sie mir über die Schritte, die das Bundesum- weltministerium diesbezüglich in den letzten Wochen unternommen hat, etwas sagen? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Zum einen, Herr Kollege, haben Sie völlig recht, wenn Sie bemerken oder in Ihrer Frage implizieren, dass es, wenn man Erdöl oder auch Erdgas ausbeutet, immer gewisse Risiken gibt. Ich habe aber auch schon im Aus- schuss erläutert, dass wir sowohl an die Gas- als auch an die Ölexploration, bei dem, was wir in Deutschland zu verantworten haben – Stichwort: Doggerbank –, mit sehr viel höheren Standards, mit sehr viel mehr Überprüfung, Absicherung von Risiken sowie auch mit anderen Er- kundungsmethoden herangehen, als das beispielsweise im Golf von Mexiko der Fall gewesen ist. Was tun wir? Es gibt in der Tat einen Austausch mit Fachleuten aus Niedersachsen, die wir hinsichtlich der Förderung in Schleswig-Holstein fachlich mit in An- spruch genommen haben. Auch Bundesumweltminister Röttgen hat kürzlich in einem Interview noch einmal da- rauf hingewiesen, dass unsere gesamte Politik darauf ge- richtet sein muss, weniger Explorationen zu haben; Stichwort: Weg vom Öl, weg vom Verbrauch fossiler Energieträger. Solange wir diese aber brauchen, müssen wir, wo es in unserer Verantwortung liegt, alles unter- nehmen, die Risiken möglichst zu minimieren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Fell. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin Reiche, ich will das nur klarstellen, weil sich ansonsten ein interessanter und eigentlich un- glaublicher Verdacht entwickeln könnte, nachdem Sie auf die Frage des Herrn Kollegen Miersch eine Antwort gegeben haben, nach der er gar nicht gefragt hatte, näm- lich einem Dimensionsvergleich zwischen dem Krater in der Nordsee, aus dem Methan ausgestoßen wird, und dem Leck im Golf von Mexiko. Ich bin mir sicher, dass Herr Miersch nicht gemeint hat, dass dieser Krater in der Nordsee die gleiche Dimension hat. Sie haben es aber auf diese Ebene gehoben und gesagt, solche Auswirkun- gen gebe es nicht. Sie haben nur entlastende und be- schwichtigende Argumente gebracht, die diesen Methan- gasausstoß eigentlich verharmlosen und verniedlichen. Deswegen will ich noch einmal nachfragen, ob es wirklich Ihre Meinung ist, dass man solche Leckagen und Umweltauswirkungen bei den konventionellen Energieträgern Öl und Gas nur dann als schlimm emp- findet, wenn sie Auswirkungen haben, wie sie im Golf von Mexiko durch das dortige Bohrloch entstanden sind. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Herr Kollege, wenn Sie unterstellen, dass die Bundes- regierung Havarien oder auch Risiken nicht ernst nehme, dann weise ich dies wiederum zurück. Ich weise noch einmal darauf hin, dass Explorationen hierzulande mit sehr viel höheren Sicherheitsstandards gefahren werden. Sowohl bei der Exploration als auch beim Betrieb über- prüfen wir sehr viel mehr. Ferner werden die Mitarbeiter geschult. Das habe ich im Ausschuss erläutert. Das, was ich mündlich vorgetragen habe, habe ich Ihnen auch schriftlich zukommen lassen. Ich bin mir sicher, Sie wer- den das intensiv gelesen haben. 5314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche (A) (C) (D)(B) „Verharmlosung“ ist nicht das Stichwort, sondern „Minimierung der Risiken“, so gut es technisch geht. Ich bin überzeugt, dass sowohl das zuständige Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie des Landes Nieder- sachsen als auch die Unternehmen daran arbeiten, Mög- lichkeiten zu entwickeln, um noch genauer hinzu- schauen. In der Vorlage, die Ihnen das BMU hat zukommen lassen, finden Sie Angaben dazu, welche Si- cherheitsstandards bei uns gelten, welche Überprüfun- gen bei uns Standard sind und welche Anforderungen es gibt. Insofern möchte ich Ihre Aussage, dass wir Risiken verharmlosen oder erst dann aktiv würden, wenn etwas passiert, zurückweisen. Das ist definitiv nicht der Fall. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Ott. Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Ich glaube, ich muss meinen Kollegen Hans-Josef Fell in Schutz nehmen. Er meinte das sicher- lich nicht so, dass Sie irgendetwas verharmlosen wollen. Ich muss in Bezug auf die Frage des Kollegen Miersch eine Nachfrage stellen. Gerade im Hinblick auf die Befürchtung, dass auch im Golf von Mexiko die ge- samte Kammer einbricht, dort ein Riesenkrater entsteht und sich das gesamte Öl auf einmal in den Ozean er- gießt, frage ich Sie: Gibt es im BMU Überlegungen, ob nicht alle Bohrungen unterhalb des Meeresspiegels un- terlassen werden sollten bzw. ob zumindest in deutschen Gewässern, auf die wir direkt Einfluss haben, keinerlei Bohrungen mehr erfolgen sollten? Bei einer solchen Bohrung kann immer ein Unfall passieren. Es kann im- mer passieren, dass Kavernen einstürzen und plötzlich eine Situation entsteht, die überhaupt nicht mehr zu be- herrschen ist. Wir haben nur Glück, dass bei diesem Erd- gasausstoß anscheinend keine größeren Umwelt- und Menschenschäden zu beklagen sind. Gibt es solche Überlegungen im BMU? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Es gibt keine Überlegungen, laufende Vorhaben zu unterbinden. Außer den 17 Förderbohrungen auf der Mittelplate und der auf der A6-A – Informationen dazu habe ich Ihnen zukommen lassen – sind keine Details zu Explorationsvorhaben oder Planungen bekannt. Weitere sind unserer Kenntnis nach nicht in Planung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen jetzt zu Frage 8 der Kollegin Ute Vogt, die schriftlich beantwortet wird, ebenso wie die Fragen 9 und 10 des Kollegen Frank Schwabe und die Frage 11 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl. Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Oliver Kaczmarek auf, die jetzt beantwortet wird: Wie ist der aktuelle Stand der Erarbeitung der Grundwas- serverordnung innerhalb der Bundesregierung, und in welcher Form plant die Bundesregierung die Beteiligung des Deut- schen Bundestages? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Herr Kollege Kaczmarek, Sie erkundigen sich nach dem Stand der Erarbeitung der Grundwasserverordnung und insbesondere nach der Beteiligung des Bundestages, was mich nicht verwundert. Der Entwurf einer Verordnung zum Schutz des Grundwassers – so möchte ich Ihnen antworten – ist zur- zeit in der Abstimmung zwischen den Ressorts. Es ist geplant, den Entwurf Mitte Juli 2010 dem Kabinett zur Billigung vorzulegen. Im September 2010 soll der Ent- wurf dann im Bundesrat behandelt werden. Die Konkretisierung des Besorgnisgrundsatzes ent- sprechend § 48 Wasserhaushaltsgesetz, der der Zustim- mung des Bundestages bedarf, wurde im Verlauf der Ressortabstimmungen zunächst aus dem Verordnungs- entwurf herausgenommen. Damit bedarf der Verord- nungsentwurf nicht mehr der Zustimmung des Bundesta- ges. Die Konkretisierung der Anforderungen aus dem § 48 des Wasserhaushaltsgesetzes soll zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen einer Artikelverordnung zusam- men mit der geplanten Ersatzbaustoffverordnung und der Novelle der Bundes-Bodenschutzverordnung gere- gelt werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kaczmarek, eine Nachfrage? – Bitte schön. Oliver Kaczmarek (SPD): Zunächst einmal, Frau Staatssekretärin, vielen Dank für die Beantwortung meiner Frage. – Ich beziehe mich auf die Schadstoffeinträge bzw. auf die Vorgaben, die zu erlassen sind. Nach Prognosen wird es so sein, dass knapp die Hälfte der Grundwasserkörper bis 2015 kei- nen chemisch guten Zustand erreichen wird. Viele Verbände haben darauf hingewiesen, dass die diffusen Einträge aus der Landwirtschaft in dem vorlie- genden Entwurf nicht ausreichend berücksichtigt wer- den, der sich – wie Sie sagen – in der Abstimmung be- findet. Deswegen die Frage: Wie beurteilen Sie diese Stellungnahmen? Können Sie sie beurteilen, und können Sie Auskunft darüber geben, ob es in dieser Hinsicht noch Änderungsbedarf gibt? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Das Bundesumweltministerium hatte einen Entwurf geplant, der auf einem Schwellenwertkonzept basiert. Im Laufe der Ressortverhandlungen ist man allerdings zu dem Schluss gekommen, dass ein Schwellenwertkon- zept, das wichtig für die Einträge ist, auf die Ihre Frage abzielt, erst in einem nächsten Anlauf, nämlich dann, wenn wir die Ersatzbaustoffverordnung verabschieden, vorgelegt wird. Es war angemahnt worden, dass die Poli- tikfolgenabschätzung für die einzelnen Stoffe, die wir im Blick hatten, noch nicht umfassend genug gewesen ist, dass Materialwerte weiter bewertet werden müssten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5315 Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche (A) (C) (D)(B) Uns als Bundesumweltministerium kommt es darauf an, die Wasserqualität auf höchstem Niveau zu halten. Wir halten das auch mit Blick auf den Ressourcenschutz für wichtig. Da wir fachlich so gut wie möglich arbeiten wollen, haben wir das Schwellenwertkonzept noch einmal zurückgenommen, um die fachliche Arbeit zu er- ledigen und wissenschaftlich das zu erbringen, was ge- fordert wurde, und wollen dann im Herbst an die Erar- beitung der Ersatzbaustoffverordnung gehen, die das Schwellenwertkonzept umfassen soll. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Noch eine Nachfrage? – Bitte sehr. Oliver Kaczmarek (SPD): Meine Frage geht in die Richtung, die Sie schon ange- sprochen haben. Ich beziehe mich auf die Schadstoffein- träge durch Bauprodukte im Grundwasser. Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie in dem ersten Entwurf geregelt, dass die Erlaubnis nach Wasserhaushaltsgesetz dann erteilt wird, wenn die Schwellenwerte insgesamt nicht überschritten werden. Es gibt einen neuen Entwurf, nach dem es möglich sein soll, dass verunreinigtes Grundwasser in einem angemessenen Zeitraum toleriert wird, nämlich im Durchschnitt über einen kurzen Zeit- raum und in räumlich begrenztem Volumen. Können Sie sagen, auf welcher Grundlage Sie zu diesen Veränderun- gen gekommen sind und ob das mit den EU-Vorgaben vereinbar ist? Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit: Ich fange mit der Frage nach den EU-Vorgaben an. Ja, es ist damit vereinbar. Allerdings sind wir auch unter zeitlichem Druck, weil wir die Verordnung schon längst hätten umsetzen müssen und uns in einem Vertragsver- letzungsverfahren befinden. Das Schwellenwertkonzept geht – das haben Sie völ- lig richtig gesagt – davon aus, dass dann, wenn ein be- stimmter Wert unterschritten wird, eine Genehmigung erteilt wird. Die Philosophie dahinter war, einen hohen Umweltschutz, einen hohen Schutz des Gutes Wasser zu haben, allerdings gepaart mit Verfahrenserleichterungen. Dieses Konzept hat noch nicht jeden überzeugt. Deswe- gen haben wir das Schwellenwertkonzept zunächst he- rausgenommen. Wir wollen es dann in die Ersatzbau- stoffverordnung, die in einem unmittelbaren fachlichen Zusammenhang auch mit den von Ihnen erwähnten Bau- zusatzstoffen steht, einbringen. Unser Ziel ist es aber zu- nächst, bei der Europäischen Kommission etwas abzu- liefern, was die Richtlinie eins zu eins umsetzt und für einen hohen Wasserschutz sorgt. Wir hoffen, noch in diesem Jahr mit einem auch ein Schwellenwertkonzept umfassenden Entwurf aufwarten können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vielen Dank. Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes- ministeriums für Bildung und Forschung. Der Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Thomas Rachel steht für die Beantwortung zur Verfügung. Wir beginnen mit der Frage 13 des Kollegen Röspel zum Beitrag der Grünen Gentechnik: Ist die Erklärung der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, dass die sogenannte Grüne Gentechnik einen Beitrag zur Welternährung leisten kann (Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Gentechnik kann Beitrag zur Welternährung leis- ten“ vom 8. Juni 2010), dahin gehend zu verstehen, dass die Bundesministerin Dr. Annette Schavan davon ausgeht, dass transgene Pflanzen einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des Problems der Welternährung leisten können, und auf wel- chen wissenschaftlichen Gutachten basiert diese Argumenta- tion? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Lieber Herr Kollege Röspel, Frau Bundesministerin Annette Schavan geht davon aus, dass die Gentechnik einen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherheit leis- ten kann. Die Potenziale der Gentechnik werden in einer Vielzahl von Publikationen beschrieben, beispielsweise in der Broschüre Grüne Gentechnik der Deutschen For- schungsgemeinschaft sowie in der dort angegebenen Literatur, aber auch in einer Vielzahl von referierten wis- senschaftlichen Publikationen. In dem Zusammenhang verweise ich auf Nature Biotechnology von 2010, Jahr- gang 28, Heft 4, Seite 319 bis 321. René Röspel (SPD): Vielen Dank. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann kommen wir zu zwei Fragen der Kollegin Sager. Hier geht es um die Umstrukturierung der medizi- nischen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein. Zunächst die Frage 14: Wie steht die Bundesregierung zu den Plänen, wie sie in der Presse zu lesen waren, die Medizinerausbildung aus der Universität Lübeck herauszulösen und in das Forschungszen- trum Borstel zu integrieren und anschließend das Forschungs- zentrum Borstel von der Leibniz-Gemeinschaft in die Helmholtz-Gemeinschaft zu überführen, und ist vorgesehen, im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der medizini- schen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein zusätzliche Bundesmittel nach Schleswig-Holstein zu transferieren? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Frau Kollegin Sager, die Universität Lübeck ist eine Hochschule in der Rechtsträgerschaft des Landes Schleswig-Holstein. Maßnahmen zur strukturellen Um- gestaltung der Medizinischen Fakultät an der Universität Lübeck fallen demnach logischerweise nicht in die Ent- scheidungskompetenz des Bundes, sondern in die origi- näre Zuständigkeit des jeweiligen Landes, in dem Fall Schleswig-Holsteins. Insofern sind auch Aussagen der Bundesregierung zu Finanzierungs- oder Umsetzungsszenarien, wie einer möglichen Integration von Teilbereichen der Universität Lübeck in das Forschungszentrum Borstel oder Überfüh- rungen von der Leibniz-Gemeinschaft in die Helmholtz- Gemeinschaft, in Anbetracht des geltenden föderalisti- 5316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Parl. Staatssekretär Thomas Rachel (A) (C) (D)(B) schen Kompetenzgefüges und des aktuellen Verfahrens- standes nicht angezeigt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Eine Nachfrage, Frau Sager. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, Ihre Ministerin Frau Schavan wurde am 16. Juni mit der Aussage zitiert: „Ich will nicht mit ansehen, wie der Studiengang abgewickelt wird“ und am 17. Juni mit dem Satz: „Wir prüfen Mög- lichkeiten einer Hilfe“ – alles bezogen auf die Ankündi- gung, dass im Sparpaket von Schleswig-Holstein die Abwicklung des Studiengangs Medizin an der Universi- tät Lübeck vorgesehen ist. Was haben Ihre Prüfungen in Bezug auf die Möglichkeit einer Hilfe inzwischen erge- ben, und in welcher Weise will Frau Schavan der Ab- wicklung dieses Studiengangs entgegentreten? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Frau Kollegin Sager, bei der genaueren Betrachtung des Themas wird deutlich, dass die Universität Lübeck und die Frage der Ausgestaltung oder Veränderung der Medizinischen Fakultät in die Entscheidungskompetenz des dafür zuständigen Landes Schleswig-Holstein fallen und insofern auch Schleswig-Holstein entsprechend der eigenen politischen Prioritätensetzung und auch den fachlichen Einsichten in der Frage zu entscheiden hat. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Eine weitere Nachfrage, Frau Sager. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Darf ich das so verstehen, dass die Aussagen von Frau Schavan: „Ich will nicht mit ansehen, wie der Studien- gang abgewickelt wird“ und: „Wir prüfen Möglichkeiten einer Hilfe“ in Wirklichkeit nur heiße Luft gewesen sind und dass in Wirklichkeit gar nichts geprüft wird? Oder haben Sie Pläne im Zusammenhang mit der angeblichen Zusage, dass Schleswig-Holstein bis zu 100 Millionen Euro als Belohnung dafür bekommen soll, dass es dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz am Ende im Bundes- rat doch zugestimmt hat? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Das dürfen Sie so nicht verstehen. Ich verweise da- rauf, dass selbstverständlich bei allen Aktivitäten sowohl die Länder als auch der Bund die jeweiligen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten ha- ben, und auch die Bundesbildungs- und -forschungsmi- nisterin wird dies selbstverständlich tun. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr von Notz. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, am 14. Juni 2010 gab es ein Tref- fen zwischen der Bildungsministerin, Herrn Carstensen und Herrn Kubicki, das genau dieses Thema zum Ge- genstand hatte. Die von meiner Kollegin zitierten Sätze sind dort so gesagt worden. Insofern verwundern Ihre Antworten. Vielleicht können Sie mit der folgenden Frage mehr anfangen: Hält es die Bundesregierung für möglich, durch die von der Bundesforschungsministerin angeregte Rücknahme des Mehrwertsteuerprivilegs für Hotels die Einnahmesituation Schleswig-Holsteins so zu verbessern, dass die dortige schwarz-gelbe Landesregie- rung vom Abbau der Medizinstudienplätze in Lübeck absehen kann? (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Was ihr damit alles bezahlen wollt!) – Das hat die Ministerin angeregt. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die Minis- terin ist eine hervorragende Fachkraft!) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Herr Kollege, mit Ihrer Frage beziehen Sie sich auf die Frage 17 des Kollegen Sönke Rix. – Die Mehrwert- steuerhöhe wird in einer Kommission noch einmal in Ruhe behandelt werden. Insofern wäre es zu früh, heute abschließende Aussagen dazu zu machen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist natürlich schade! Darf ich noch eine Frage stellen?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nein, da Sie nicht die Ursprungsfrage, sondern nur eine Nachfrage gestellt haben. Ich gebe jetzt noch drei Nachfragenden zu dieser Frage das Wort. Danach ist die Zeit für unsere Frage- stunde abgelaufen. – Herr Rossmann, bitte. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Kollege Rachel, ist es richtig, dass der Bund in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz vertreten ist? Wenn das so ist und wenn sich diese Gemeinsame Wis- senschaftskonferenz aktuell damit befasst, einen Ge- samtplan hinsichtlich des Bedarfs an und der Versorgung mit Medizinstudienplätzen für Deutschland mit zu erar- beiten: Macht es dann nicht doch Sinn, dass sich auch der Bund dazu stellt? Meine konkreten Fragen lauten: Wie stellt sich der Bund dazu, dass in Lübeck real hochqualifizierte Stu- dienplätze, die zu einer Bestbewertung der Medizini- schen Fakultät an dieser Hochschule beigetragen haben, abgebaut werden sollen, was nicht nur für Schleswig- Holstein, sondern hinsichtlich der gesamten Versorgung mit Studienplätzen der Medizin in Deutschland einen gravierenden Einschnitt bedeuten könnte? Können Sie bestätigen, dass dies von der Ministerin durchaus auch sehr kritisch wahrgenommen worden ist, weshalb sie sich ja dafür engagiert hat? Von daher ist es umso unver- ständlicher, dass Sie davon jetzt weder etwas wissen noch die Ministerin in ihrem Bemühen stützen wollen, dieser besonderen Universität Lübeck für den medizini- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5317 Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) (C) (D)(B) schen Bereich eine Unterstützung zu geben – egal, auf welchem Weg. Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Herr Kollege Dr. Rossmann, die Studienplätze für Medizin in der Bundesrepublik Deutschland sind Gegen- stand in den Gesprächen zwischen den Bundesländern und der Bundesregierung in den dafür vorgesehenen Gremien. Eine Einzelbetrachtung eines Hochschulstand- ortes kann für die dafür zuständige Landesregierung be- sonders relevant sein, die dort auch in der Verantwortung ist. Die Länder haben generell die Möglichkeit, eine Un- terstützung des Bundes im Rahmen des Hochschulpakts 2020 zu erhalten, wenn sie zusätzliche Studienplätze im Bereich Medizin zur Verfügung stellen. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Darf ich noch eine zweite Frage stellen?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Hiller-Ohm, bitte. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Staatssekretär, durch die Schließung der Medizi- nerausbildung an der Universität Lübeck ist auch der Be- stand der gesamten Universität Lübeck stark gefährdet. Ich frage Sie, welche Schlussfolgerungen die Bundesre- gierung aus den Befürchtungen zieht, dass mit der Schließung der Universität Lübeck auch Forschungsein- richtungen in der Region Schaden nehmen könnten? Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft hat zum Bei- spiel geäußert, dass das Borsteler Leibniz-Zentrum ge- zwungen sein könnte, sich anders, beispielsweise in Richtung Hamburg, zu orientieren. Meine Frage dazu: Wie plant die Bundesregierung zu verhindern, dass durch die Schließung der Medizinischen Fakultät in Lü- beck auch vom Bund mitfinanzierte Einrichtungen Scha- den erleiden? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Sehr geehrte Frau Kollegin, die Frage, welche weitere Existenz, welche Veränderungen oder Nichtveränderun- gen Hochschulstandorte haben, fällt nach unserem Grundgesetz ausschließlich in die Zuständigkeit des je- weiligen Bundeslandes. Insofern ist die Frage von der zuständigen Landesregierung zu beantworten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die letzte Frage stellt der Kollege Röspel. Bitte René Röspel (SPD): Herr Staatssekretär, wie bewertet die Bundesregie- rung die Tatsache, dass Medienberichten zufolge die Landesregierung von Schleswig-Holstein eine Bewer- bung der Universität Lübeck im Rahmen der Fortsetzung der dritten Exzellenzinitiative als nicht erwünscht abge- lehnt und jegliche Unterstützung seitens des Landes Schleswig-Holstein abgelehnt hat, um die Bewerbung der Universität Kiel in gleicher Sache nicht zu gefähr- den, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregie- rung daraus für die weitere Ausgestaltung und Bewer- tung der Exzellenzinitiative? Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Herr Kollege Röspel, die Exzellenzinitiative hat sich bisher als außerordentlich interessante und erfolgreiche Stimulierung der Forschung an den deutschen Hoch- schulen herausgestellt. Wir haben bereits in den ersten Monaten und Jahren feststellen können, dass sie eine dy- namische Entwicklung an den Hochschulen und eine en- gere Kooperation zwischen den Hochschulen und außer- universitären Forschungspartnern bewirkt hat. Wir als Bundesregierung sind sehr gespannt, welche Bundeslän- der und welche Hochschulstandorte sich in der dritten Runde der Exzellenzinitiative bewerben werden. Die Bundesregierung wird weder die Initiative ergreifen, da- mit sich einzelne Regionen bewerben, noch wird sie ein- zelne Regionen davon abhalten, sich zu bewerben. Es ist ausschließlich Aufgabe der zuständigen Hochschulinsti- tutionen, dies gegebenenfalls im Zusammenwirken mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen und gege- benenfalls in einer Diskussion mit dem zuständigen Land zu tun. Die Bewertung der anschließend eingehen- den Vorschläge wird ausschließlich auf wissenschaftli- cher Grundlage und anhand wissenschaftlicher Expertise erfolgen. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Darf man noch eine Frage stellen?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nein. Wir sind bereits sechs Minuten über die Zeit. – Deswegen beende ich jetzt die Fragestunde.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des § 33 des Gerichtsverfassungsgeset- zes – Drucksache 17/1462 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 17/2350 – Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Christine Lambrecht Jörg van Essen Jens Petermann Jerzy Montag Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Bundesministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger. 1) Die Fragen 15 bis 88 werden schriftlich beantwortet. Die Frage 75 wurde zurückgezogen. 5318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- ministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei unterschiedli- che Probleme gelöst werden, und zwar in der Art und Weise, dass im Ergebnis der Rechtsstaat gestärkt wird. Mit der Ergänzung des Schöffenrechts greifen wir einen Vorstoß der Länder auf. Niemand kann – darüber sind wir uns einig – an einem Strafprozess als Schöffe sinn- voll mitwirken, wenn er die deutsche Sprache nicht aus- reichend beherrscht. Er kann in diesem Fall dem Lauf der Verhandlung nicht richtig folgen, und er kann bei der abschließenden Beratung des Gerichts nicht richtig mit- wirken. Es hat in der Vergangenheit Einzelfälle gegeben, in denen genau das der Fall gewesen ist. Dieser Miss- stand wird mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes aufge- griffen. Es geht um die Gründe für die Nichtberufung in das Amt des Schöffen. Es soll festgeschrieben werden, dass künftig niemand zum Schöffen berufen werden soll, der die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht. Das richtet sich zunächst an die Institutionen, die die Schöffen wählen, aber es wird auch eine gesetzliche Grundlage geschaf- fen, damit jemand von der Schöffenliste gestrichen wer- den kann. Wichtig ist – das betone ich hier ausdrücklich, weil es in den Beratungen des Rechtsausschusses eine Rolle gespielt hat –, dass die Anforderungen an die Sprachkenntnisse nicht überspannt werden dürfen. Es geht nicht darum, das gesamte juristische Fachvokabular zu beherrschen, sondern es geht darum, zu verstehen, was vorgetragen wird, der Verhandlung zu folgen und die Beratung nicht nur mitverfolgen, sondern auch sich selbst einbringen zu können. Das ist in den Beratungen des Rechtsausschusses betont und auch von uns erklärt und so zu Protokoll gegeben worden. Das gilt natürlich auch bei der Anwendung. Ich denke, mit dieser Ergän- zung des Gerichtsverfassungsgesetzes sind wir auf ei- nem guten Weg. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Schöffen sollen möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen repräsentieren, also auch Zuwanderer. Gerade Migranten mit deutschem Pass sollen künftig öfter zu Schöffen berufen werden. Gerade weil wir wollen, dass es mehr Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Amt gibt, gilt natürlich die Anforderung, dass dieses Amt nur dann sinnvoll ausgefüllt werden kann, wenn die deutsche Sprache ausreichend beherrscht wird. Auch un- ter diesem Aspekt ist die Ergänzung richtig. Aber es gibt noch einen zweiten Gegenstand, der im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingebracht worden ist und nicht schon Gegenstand des Gesetzentwurfs des Bundesrats gewesen ist. Hintergrund ist die Entwicklung in den letzten Monaten, die Sie alle kennen, und zwar die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Hinblick auf die Änderung des Ge- setzes zur Sicherungsverwahrung im Jahr 1998, mit der die Befristung auf zehn Jahre rückwirkend aufgehoben wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschen- rechte kam hier anders als früher das Bundesverfas- sungsgericht zu dem Ergebnis, dass es sich in diesen Fäl- len um eine unzulässige Rückwirkung handele. Jetzt geht es in einem ersten Schritt – wir haben im Kabinett mehrere Schritte vereinbart – darum, den Ge- richten eine Hilfe an die Hand zu geben. Wir wissen, dass es 75 bis 85, vielleicht auch 90 Menschen in Siche- rungsverwahrung gibt – ganz genau kann man das nicht sagen –, für die diese Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zutreffen kann. Wir erleben jetzt in der Praxis, dass die Gerichte unterschied- liche Entscheidungen treffen – es kommt zu Entlassun- gen; es kommt zur Ablehnung des Antrags auf Entlas- sung –, weil man sich an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die- sem Punkt nicht gebunden fühlt. Im Moment enden die Verfahren beim Oberlandesgericht. Wir wollen nun mit der Divergenzvorlage eine Ergänzung in unser System aufnehmen. Die Vorlagepflicht an den Bundesgerichts- hof, wenn die Oberlandesgerichte von der Rechtspre- chung eines anderen Gerichts abweichen wollen, hat sich in anderen Fällen bewährt. Das ist also nicht neu. Wir wollen dieses Instrument jetzt auch für den Fall der Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einführen. Die Umsetzung eilt. Deshalb bedanke ich mich sehr dafür, dass es möglich gewesen ist, diese Änderung mit in dieses Gesetzgebungsverfahren aufzunehmen. Es passt inhaltlich ganz gut zusammen; denn es geht in bei- den Fällen um das Gerichtsverfassungsgesetz. Das ist jetzt also nicht ein abwegiger Omnibus, der da gewählt wird, was von Rechtspolitikern immer zu Recht kritisiert wird, sondern es passt inhaltlich zusammen. Außerdem kommt aus allen Bundesländern, noch einmal auf der Justizministerkonferenz in der letzten Woche ausdrück- lich bekräftigt, der Wunsch, diese Regelung zu haben. Wer davon Gebrauch macht, das können wir nicht beur- teilen; aber hier angesichts einer sich unterschiedlich entwickelnden Rechtsprechung einen Beitrag zu leisten, damit es durch eine Vorlage an den Bundesgerichtshof zu einer Einheitlichkeit in diesen wichtigen Fragen der Entscheidungsfindung kommt, ist geboten, richtig und angemessen. Alle verantwortlichen Landesjustizminister haben sich dafür ausgesprochen. Das ist nur ein Aspekt im Zusammenhang mit den schwierigen Fragen der Sicherungsverwahrung. Es gibt zwei weitere Aspekte, die heute nicht zur Beratung an- stehen: die Änderung der Führungsaufsicht, die wir Ih- nen vorschlagen werden, und auch die grundlegende Ausrichtung der Sicherungsverwahrung. Das hat jetzt nichts mit dem Fall Mücke vor dem Europäischen Ge- richtshof für Menschenrechte zu tun. Wir wollen ein in sich möglichst widerspruchsfreies System und Konzept schaffen. Dazu sind Eckpunkte Grundlage der Be- schlussfassung im Bundeskabinett gewesen. Die Eckpunkte – ich habe sie dem Rechtsausschuss zugeleitet – sehen eine deutliche Verlagerung vor, näm- lich weg von der nachträglichen hin zu der vorbehalte- nen Sicherungsverwahrung, und natürlich den Erhalt der primären Sicherungsverwahrung. Dazu gibt es viele Fra- gen, auch wichtige Fragen der Ausgestaltung. Das ist Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5319 Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) (C) (D)(B) aber nicht Gegenstand des jetzigen Gesetzgebungsver- fahrens, sondern wird Gegenstand eines weiteren Ver- fahrens sein, mit dem wir uns hoffentlich sehr zügig nach der Sommerpause befassen. Ganz herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Danckert von der SPD-Fraktion. Dr. Peter Danckert (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- desministerin, das ist in der Tat heute nicht Gegenstand, aber Sie haben das Stichwort „Sicherungsverwahrung“ und die Eckpunkte angesprochen. Wir von der SPD- Fraktion sind bereit, dabei konstruktiv mitzuarbeiten. Die große Linie stimmt. Ich persönlich würde aus heuti- ger Sicht sagen: Wenn die vorbehaltene Sicherungsver- wahrung sozusagen eine Art Regelfall würde, nach dem Motto „Vorsichtshalber behalten wir uns mal die Siche- rungsverwahrung vor“, dann wäre das nicht der richtige Weg. Aber wir sind ja noch dabei, das auszuformulieren. Das Thema Führungsaufsicht wird eine Rolle spielen. Wir sind also bereit, dabei mitzuarbeiten. Auf den ursprünglichen Gesetzentwurf ist etwas draufgesattelt worden. Danach sollen die Oberlandesge- richte die Möglichkeit haben, zur Vereinheitlichung ihrer Rechtsprechung eine Sache dem Bundesgerichtshof vor- zulegen. Diese Möglichkeit zu schaffen, ist völlig rich- tig. Das ist eine praktische Notwendigkeit, wie wir aus Hinweisen, die wir zum Bereich der Gesamtrechtspre- chung der Oberlandesgerichte bekommen haben, erken- nen können. Hier ist eine Vereinheitlichung erforderlich. Deshalb tragen wir das Gesetz insgesamt mit. Unser Kritikpunkt betrifft die Änderung des § 33 Ge- richtsverfassungsgesetz. Das ist ein Anliegen der Bun- desländer, das wir schon in der letzten Legislaturperiode behandeln sollten. Die damalige Koalition aus CDU/ CSU und SPD hat es nicht für erforderlich angesehen, dem zu folgen. Für mich persönlich und für meine Frak- tion hat sich daran auch nichts Wesentliches geändert. Wenn das der einzige Punkt wäre, über den wir heute ab- stimmen, würden wir nicht zustimmen können. Aber wir lassen uns wegen der Gesamtbedeutung dazu bringen, dem Gesetzentwurf doch zuzustimmen. § 33 Gerichtsverfassungsgesetz gibt vor, wann eine Person nicht zum Schöffenamt berufen werden soll. Wenn die Person etwa ein bestimmtes Lebensalter noch nicht erreicht hat oder ein bestimmtes Lebensalter schon vollendet hat oder ihr Wohnsitz nicht in einem bestimm- ten Bereich liegt, soll sie nicht zum Schöffen berufen werden. Auch der gesundheitliche Zustand spielt eine Rolle. Aus meiner beruflichen Erfahrung sage ich: Der Grundsatz, dass der Angeklagte im Verfahren den ver- fassungsrechtlichen Anspruch auf den gesetzlichen Richter hat, ist nicht hoch genug zu bewerten. Nun kann man meinen, bei den vielen Schöffen sei es doch egal, ob es diese oder jene Person ist. Nein, das ist durchaus ein erheblicher Unterschied. Deshalb müssen wir an dieser Stelle genau darauf achten, dass die Regeln, die das Ge- richtsverfassungsgesetz vorschreibt, eingehalten werden. Ich blicke jetzt ein bisschen zurück, weil die Zeit es erlaubt. Aus meiner beruflichen Erfahrung als Strafver- teidiger sage ich: Es gab keine Defizite des Gerichtsver- fassungsgesetzes, sondern Defizite in der Umsetzung der gesetzlichen Regelungen. Zunächst einmal war der Ein- schnitt am 1. Januar 1979, als man den Verteidigern die Verpflichtung auferlegt hat – den Staatsanwaltschaften übrigens auch, aber die haben davon nie Gebrauch ge- macht –, die Gerichtsbesetzung bei Verfahren, die am Landgericht oder Oberlandesgericht beginnen, wenn überhaupt, dann zu Beginn der Hauptverhandlung zu rü- gen. Die Überlegung war gar nicht so schlecht. Es gab zwei Gesichtspunkte. Man wollte nicht am Ende des Verfahrens von irgendeiner Besetzungsrüge überrascht werden, also der Rüge, dass es nicht der gesetzliche Richter war, der mitgewirkt hat. Man spekulierte darauf, dass die Verteidiger am Beginn des Verfahrens noch nicht so initiativ werden würden. Das genaue Gegenteil war der Fall. Man hat sich mit dieser neuen Materie sehr intensiv beschäftigt. Das war auch eine meiner damali- gen Aufgaben. Dabei ergab sich, dass die Hauptmängel, die wir im Rahmen der Besetzungsrüge aufgedeckt ha- ben, Verfahrensverstöße waren, die in den Etappen Vor- schlagsliste und Schöffenwahl bzw. Schöffenauslosung passiert waren, weil man, was eigentlich überrascht, feststellen konnte, dass diese klaren gesetzlichen Rege- lungen nicht richtig gelesen wurden oder man sich die Sache sehr einfach gemacht hat. In dieser Situation sind wir auch heute noch. Der An- lass für diese vorgeschlagene gesetzliche Änderung ist, dass sich am Beginn oder während einer Hauptverhand- lung herausstellt, dass ein Schöffe die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht oder keine ausreichenden Kenntnisse besitzt. Das ist das Kriterium. Die Gerichtssprache ist nach dem Gerichtsverfas- sungsgesetz deutsch. Gewählt werden kann als Schöffe nur jemand, der Deutscher ist. Insofern fragt man: Wo ist das Problem? Das Problem besteht darin, dass man sich die Sache bei der Erstellung der Vorschlagsliste – das ist die erste Etappe – sehr einfach macht. Hier hat die Kom- mune die Aufgabe, 100, 200, 500, manchmal 1 000 – in Großstädten noch mehr – Namen von Einwohnern aus ihrem Bereich auf die Schöffenliste zu setzen. Die Sache wird oft sehr mechanisch – ich sage nicht: willkürlich – gemacht, also ohne sich die Personen, deren Namen auf die Vorschlagsliste sollen, genauer anzusehen und mög- licherweise auch ohne anhand von persönlichen Daten zu klären: Ist diese Person geeignet, als Schöffe vorge- schlagen zu werden, oder nicht? Wenn man das täte, dann gäbe es gar keine Notwendigkeit, § 33 des Ge- richtsverfassungsgesetzes um Personen zu erweitern, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen. Man könnte solche Personen schon vorher aussortieren. Das Problem aber ist, dass diese Dinge sehr pauschal ge- handhabt werden und man sich nicht die Zeit nimmt, 5320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Peter Danckert (A) (C) (D)(B) dem Grundsatz des gesetzlichen Richters genügend Be- deutung beizumessen. Die Erstellung der Liste wird als eine ärgerliche und überflüssige Verwaltungsarbeit ange- sehen. Diese Ansicht führt dann zu Verstößen und zu Si- tuationen, die dazu führen, dass man im Verfahren eine Entscheidung treffen muss, auf die ich noch kurz einge- hen werde. Ein weiterer Punkt, den wir damals aufgedeckt haben, bezog sich auf die Schöffenwahl. Wenn man sich wie das Landgericht Frankfurt die Sache sehr leicht macht und die Schöffen zulost, obwohl im Gesetz steht, dass die Schöffen aus der Schöffenliste gewählt werden müs- sen, kann es passieren, dass sich, wenn sich die Verteidi- ger mit dieser Frage beschäftigen, ein gesetzlicher Ver- stoß herausstellt, der in Berlin bei der Hilfsschöffenliste und in Frankfurt bei der Schöffenwahl dazu geführt hat, dass die Wahl ungültig war. Das hat aber nichts damit zu tun, dass das System, in dem wir arbeiten, erhebliche Mängel hat, sondern das hat damit zu tun – ich sage es einmal mit meinen Worten –, dass eine gewisse Faulheit oder Nachlässigkeit an den Tag gelegt wurde, die zu die- sen Mängeln geführt hat. In Augsburg war es eine andere Situation. Die Par- teien, die in der Gemeindevertretung saßen, haben ge- sagt: Wir brauchen 52 Schöffen. Die CSU kann – so sage ich es einmal – 16 Vorschläge machen. Eine Abspaltung von der CSU – Herr Stadler, wie hieß sie noch? – kann 14 Schöffen vorschlagen, und die SPD kann 12 oder 13 Schöffen benennen. Dann kamen noch ein paar an- dere Parteien zum Zuge. – Auch das war ein eklatanter Verstoß gegen das Gesetz, und auch diese Schöffenliste ist vom Bundesgerichtshof sozusagen atomisiert wor- den. Bei einer normalen Prüfung wäre das nicht möglich gewesen. Man kann an diesem schön abgestuften Verfahren Er- stellung der Vorschlagsliste, Schöffenwahl bzw. Schöf- fenauslosung schon erkennen, was notwendig ist, um zu sehen: Steht auf dieser Liste der Name eines Schöffen, der die deutsche Sprache beherrscht? Jetzt soll eine Än- derung eingeführt werden, weil es Einzelfälle gegeben hat, in denen der Schöffe die deutsche Sprache nicht be- herrscht hat. In ganz Deutschland, wo jeden Tag gericht- liche Verfahren mit Schöffen ablaufen, gibt es gerade zwei, drei oder vier Verfahren mit einem solchen Man- gel. An diesem Vorschlag stört mich am meisten, dass so- zusagen ein Einfallstor geöffnet wird, mit dem man in der Hauptverhandlung einen nicht genehmen, weil mög- licherweise sehr aktiven Schöffen aus dem Verfahren he- rausnehmen kann. Dieser Missbrauch muss ausgeschlos- sen werden. Das ist erforderlich. Nach der jetzigen gesetzlichen Regelung – insofern halte ich sie für unvoll- kommen – handelt es sich bei der Schöffenbestellung um eine unanfechtbare Entscheidung eines Vorsitzenden. Nun werden die allermeisten Vorsitzenden keine will- kürlichen Entscheidungen treffen; aber ich wünsche mir, dass auf der Basis des derzeit geltenden Rechts im Ge- richtsverfassungsgesetz ein Verfahrensweg ermöglicht wird, mit dem auch dieser Missbrauch ausgeschlossen wird. Wir hatten hierzu ein erweitertes Berichterstatter- gespräch geführt – Sie werden sich daran erinnern, oder es ist Ihnen darüber berichtet worden –, in dem gesagt wurde, dass es sich, wenn Entsprechendes passiert, um Willkür handele und ein so gravierender Verstoß sei, den man dann wieder rügen könne. Wer schon einmal eine Revisionsrüge auf richterliche Willkür zu stützen ver- sucht hat, der weiß, dass das ein Unterfangen ist, das ei- nen wirklich nicht weiterbringt. Mir wäre sehr viel daran gelegen, wenn wir neben ei- ner Lösung für diese nun wirklich nicht eilige Frage, die ja nun seit Jahren im Raum steht – ich glaube, fünf bis sechs Jahre –, uns auch einmal überlegten, wie wir ei- gentlich unser System der ehrenamtlichen Richter, das richtig und notwendig ist, so reformieren können, dass wirklich etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Hier wird nur der eine Punkt aufgegriffen, nämlich dass es sich um einen Schöffen handelt, der die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht. Das ist eine sehr vage und pro- blematische Formulierung: Wird hier vom Niveau des Lesers der Bild-Zeitung ausgegangen oder von welchem Niveau? Außerdem sollten wir auch an Wirtschaftsstraf- verfahren denken. Hier kommt es ja nicht darauf an, dass jemand gut deutsch sprechen kann, sondern darauf, dass er versteht, worum es geht. Aber genau in diesem Be- reich handeln wir nicht, obwohl hier Handlungsbedarf besteht. Mir wäre es lieb gewesen, wenn wir eine Gesamtre- form dieser inzwischen sehr schwierigen Fragen – das gebe ich zu – gemeinsam auf den Weg gebracht hätten. Es handelt sich hierbei um kein parteipolitisches Thema – das sehe ich durchaus –, sondern um ein Thema, bei dem es auch darum geht, unsere Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Arbeit als ehrenamtlicher Richter bei strafrechtlichen Entscheidungen – bei verwaltungs- rechtlichen ist es so ähnlich – notwendig und richtig ist. Wenn wir nur an einer Stelle herumdoktern, ist das nicht überzeugend. Ich habe deshalb erhebliche Bedenken, zu- mal hier auch die Möglichkeit eröffnet wird, dass es zu willkürlichen Entscheidungen kommt. Ich hoffe, dass das nicht eintritt. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich hoffe, dass Sie im Rahmen Ihrer Regierungsarbeit der nächsten Zeit – man weiß ja nicht, wie lange das noch geht – sich dieses Themas noch einmal annehmen. Bei der Sicherungsverwahrung sind wir dabei; bei einer wei- terführenden Diskussion über dieses Thema wären wir auch dabei. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Andrea Voßhoff von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Danckert, große Reformen brauchen manchmal viel Zeit. Dass wir das als christlich-liberale Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5321 Andrea Astrid Voßhoff (A) (C) (D)(B) Koalition noch in dieser Legislaturperiode schaffen, kann ich Ihnen nicht zusagen. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, mit kleinen Schritten in die richtige Richtung zu gehen. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Seien Sie sicher, dass die christlich-liberale Koalition diese Legislaturperiode gut durchstehen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Da müssen Sie sich aber völlig wandeln! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Überraschungen gibt es immer wieder!) Mit der heutigen abschließenden Beratung der Bun- desratsinitiative zur Änderung des Gerichtsverfassungs- gesetzes nehmen wir die Klarstellung auf, dass Schöffen – das ist schon gesagt worden –, die die deutsche Spra- che nicht ausreichend beherrschen, von der Ausübung des Schöffenamtes ausgeschlossen sind. Auch wir als Union halten diese rechtliche Klarstellung für notwendig und geboten. Mein Kollege Heveling wird dazu gleich noch einiges aus Sicht der Union sagen. Den Gesetzentwurf des Bundesrates – das ist heute auch schon erwähnt worden –, den wir heute abschlie- ßend beraten, haben wir als Trägergesetz für eine weitere Initiative nutzen können. Dass dies zügig geschehen und heute zum Abschluss gebracht werden konnte, dafür und für die zielgerichtete Vorarbeit dürfen auch wir uns, Frau Ministerin, bei Ihnen und beim BMJ, aber auch bei der Opposition, die dies ebenfalls konstruktiv begleitet hat, ganz herzlich bedanken. Der eigentliche Grund für die Eile dieses Gesetzge- bungsverfahrens ist – das wissen Sie, und das kann man auch ganz offen sagen –, dass wir uns wieder einmal mit Schutzlücken und grundsätzlichen Fragen im Bereich der Sicherungsverwahrung auseinandersetzen müssen. Mit diesem Gesetzentwurf eröffnen wir sozusagen er- neut eine parlamentarische und – davon gehe ich aus – intensive und nachhaltige Debatte zu den Grundsatzfra- gen der Sicherungsverwahrung. Dass dies notwendig ge- worden ist, hat – das ist schon angeklungen – seinen konkreten Anlass in der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der im Dezember vergangenen Jahres und mittlerweile auch rechtskräftig entschieden hat, dass es sich bei der Siche- rungsverwahrung nicht um eine Maßregel, sondern um eine Strafe im Sinne der Europäischen Menschenrechts- konvention handle, die dem Rückwirkungsverbot unter- liegt. Diese Entscheidung ist rechtskräftig. Sie betrifft, auch wenn immer eine Einzelfallentscheidung erforder- lich ist, potenziell alle Straftäter, gegen die vor 1998 eine Sicherungsverwahrung ausgesprochen wurde, weil der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt die bis dahin beste- hende Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung von zehn Jahren auf unbefristet verlängert hat. Man geht davon aus, dass bundesweit bei circa 70 Personen – Frau Ministerin, Sie nannten andere Zah- len – die Frage zu klären ist, ob sie in Ansehung des Ur- teils des EGMR zu entlassen sind. Dazu gibt es bereits erste Entscheidungen mit unterschiedlichen rechtlichen Ergebnissen. Aller Voraussicht nach stehen demnächst weitere Entscheidungen an. Deshalb und wegen der grundsätzlichen Frage, um die es hier geht – einerseits geht es um den grundrechtlich geschützten Freiheitsan- spruch des Einzelnen und andererseits um die ebenso schützenswerten Interessen der Opfer und Bürger vor nach wie vor gemeingefährlichen Tätern –, ist auch aus unserer Sicht eine einheitliche Rechtsprechung von grundsätzlicher Bedeutung. Wie eben ausgeführt, ist Eile geboten. Deshalb nutzen wir diesen Gesetzentwurf, um in einer ersten gesetzge- berischen Reaktion eine Antwort auf das Urteil des EGMR zu geben. Diese Antwort ist rein verfahrens- rechtlicher Natur. Durch die Vorlagepflicht zum Großen Strafsenat des BGH wollen wir vermeiden, dass bei den Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte in den Ländern mit Blick auf die potenziell betroffenen Täter ein rechtlicher Flickenteppich entsteht, also nicht Gericht A den betroffenen Täter freilässt, während Gericht B ihn in der Sicherungsverwahrung belässt. Das Urteil des EGMR hat aber auch neue Fragen im Bereich der Sicherungsverwahrung aufgeworfen, die es nicht heute, aber langfristig für den Gesetzgeber zu be- antworten gilt. Dazu gehört die Frage – auch das ist heute schon angeklungen –, ob und wie wir in Fällen un- umgänglicher Entlassungen die Führungsaufsicht für weiterhin gefährliche Straftäter effizienter gestalten kön- nen. Die christlich-liberale Koalition ist sich einig, Än- derungen im Bereich der Führungsaufsicht auf den Weg zu bringen. Das betriff zum einen die Einführung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung für Gewalt- und Sexualstraftäter. Um es gleich vorweg zu sagen: Das soll keine elektronische Fußfessel im eigentlichen Sinn sein, weil es im vorliegenden Fall nicht darum geht, den be- treffenden Delinquenten zu Hause festzuhalten. Wir wollen vielmehr eine Lösung, die es ermöglicht, mithilfe von GPS-Signalen den jeweiligen Aufenthaltsort von Sexual- oder Gewaltstraftätern feststellen zu können. Wenn er sich beispielsweise einem Kindergarten oder ei- nem Spielplatz nähert, soll das der Führungsaufsichts- stelle umgehend signalisiert werden, damit dort schnell reagiert werden kann. Auch über die Erweiterung der Möglichkeit der unbefristeten Verlängerung der Füh- rungsaufsicht von Sexualstraftätern auf Gewaltstraftäter wollen wir in diesem Zusammenhang diskutieren. Wir müssen auch Antworten auf weitere grundsätzli- che Fragen geben. Die christlich-liberale Koalition ist sich der Bedeutung des Themas bewusst. Sie weiß um die Notwendigkeit gesetzgeberischen Handlungsbedarfs und wird dieser nachkommen. Die Ministerin hat auf die Eckpunkte der Bundesregierung verwiesen. Ich denke, das Recht der Sicherungsverwahrung ist eines der schwierigsten, wenn nicht gar das schwierigste Thema in der Rechtspolitik. Dieses Thema hat uns in den vergangenen Jahren immer wieder vor Herausforde- rungen gestellt; das zeigen auch die Entscheidungen der Obergerichte. Seit 1995 ist allein im Bereich des Erwach- senenstrafrechts die Sicherungsverwahrung fünfmal ge- ändert worden. Trotzdem ist immer noch kein wider- 5322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Andrea Astrid Voßhoff (A) (C) (D)(B) spruchsfreies System entstanden. Diejenigen, die das Thema eine Zeit lang begleitet haben – dazu gehöre ich –, wissen, dass wir als Gesetzgeber oftmals auf Einzelfälle zu reagieren hatten und deshalb oft zu kurzfristigen Ent- scheidungen gezwungen waren. Nichtsdestotrotz haben wir es jetzt mit einer Entschei- dung des EGMR zu tun. Es liegt mir völlig fern, die Ent- scheidung des EGMR zu kritisieren. Ich denke, an dieser Stelle darf ich aber sagen: Ich hätte es als sehr wün- schenswert empfunden, wenn das EGMR die Entschei- dung wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser An- gelegenheit zur Großen Kammer verfügt hätte und die Entscheidung von dort gekommen wäre. (Beifall des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]) Den Bürgern ist es nur schwer zu vermitteln, dass Men- schenrechte es gebieten, dass nach wie vor hochgefährli- che Straftäter sehenden Auges auf die Menschheit losge- lassen werden. Das muss man an dieser Stelle erwähnen dürfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gleichwohl haben wir uns der Herausforderung zu stellen, die die deutsche Rechtslage uns im Lichte der EGMR-Entscheidung aufzwingt bzw. in der Folge von uns verlangt. Der Gesetzgeber kann nicht untätig blei- ben. Wenn man die Entscheidungen des Bundesverfas- sungsgerichts der Vergangenheit liest, wird klar, dass es durchaus möglich ist, tätig zu werden. Das Bundesver- fassungsgericht hat entschieden, dass ein Verstoß gegen die EMRK durch eine entscheidende Änderung der Sach- und Rechtslage entfallen kann. Sogar ein formal unrechtmäßiger Freiheitsentzug kann für eine Über- gangszeit gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber die Zeit nutzt, um eine neue, konventionskonforme Rege- lung zu schaffen. Aus diesem Grunde, denke ich, führt kein Weg an der Reform der Sicherungsverwahrung vor- bei. Das ist von der Justizministerin vorhin erwähnt wor- den. Das Eckpunktepapier ist auch aus Sicht der Union eine gute Ausgangsgrundlage. Es ist ein Maßnahmen- bündel, durch das in vielfältiger Weise versucht wird, nicht nur die aktuelle Lage nach dem EGMR-Urteil zu verbessern und die Führungsaufsicht effizienter zu ge- stalten, sondern auch die Frage der zukünftigen Gestal- tung der Sicherungsverwahrung neu auszutarieren. Die Ministerin hat einige Punkte genannt. Ich kann sie aus Zeitgründen nicht wiederholen. Auch wenn die Eckpunkte für uns eine gute Aus- gangsgrundlage sind, sage ich an dieser Stelle – das ist dem Koalitionspartner bekannt; darüber ist gesprochen worden –: Wir als Union haben noch Diskussionsbedarf bezüglich der nachträglichen Sicherungsverwahrung. In der derzeitigen Form kann sie nicht bestehen bleiben; wir wollen aber nicht, dass sie in Gänze zurückgedrängt wird. Ich denke, angesichts dieses komplexen Themas muss noch eine Diskussion geführt werden. Wir Rechtspolitiker haben in einem Positionspapier zur Diskussion gestellt, ob man die Sicherungsverwah- rung in ein neues System der nachträglichen Sicherungs- unterbringung überführen und dabei ganz bewusst die Kriterien der Strafe – die Entscheidung des EGMR be- sagt, dass die bestehende Sicherungsverwahrung eine Strafe sei – von der künftigen Sicherheitsunterbringung abtrennen sollte. Das bezieht sich nicht auf die Verurtei- lung. Es wird immer wieder gesagt, wir könnten jeman- den nicht nur aufgrund seiner Gefährlichkeit im An- schluss an die Haft in Sicherheitsunterbringung nehmen; darum geht es nicht. Es muss immer ein Bezug zu der Straftat, die zur Verurteilung geführt hat, bestehen. Das ist selbstverständlich. Wenn dann in einem neuen Ver- fahren entschieden werden muss, ob eine Unterbringung erforderlich ist oder nicht, muss von der Gefährlichkeit des Täters zu dem Zeitpunkt ausgegangen werden. Die Unterbringung muss dann eine Form von Therapie sein. Ein eigener Spruchkörper, an dem auch Psychiater betei- ligt sind, sollte dies entscheiden. Auch Therapieansätze und Resozialisierungsmöglichkeiten dienen dem Schutz der Bevölkerung. Wir meinen, dass man über dieses neue Verfahren dis- kutieren sollte. Ob der Weg gangbar ist, wird die fachli- che Diskussion zeigen. In jedem Fall wird die christlich- liberale Koalition dieses Gesetzgebungsverfahren zu ei- nem der schwierigsten Gebiete der Rechtspolitik mit der gebotenen Gründlichkeit betreiben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jens Petermann (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates soll ermöglicht werden, Bürgerinnen und Bürger, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, vom Schöffenamt auszuschließen. An die Schöffinnen und Schöffen, die regelmäßig als juristische Laien in das Eh- renamt berufen werden, sind in der Tat beträchtliche An- forderungen gestellt. Sie haben während der Hauptver- handlung richterliche Befugnisse. Ihre Stimme hat bei der Urteilsfindung das gleiche Gewicht wie die Stimme eines Berufsrichters. Schöffinnen und Schöffen sind gleichfalls mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet. Deshalb müssen sie in gleicher Weise wie Berufsrichter geeignet sein, die für die Entscheidung erheblichen Tat- sachen aufzunehmen. Was erwartet man also von den Personen, die bereit sind, dieses wichtige Ehrenamt auszuüben? Sie müssen zwischen 25 und 70 Jahre alt sein, ihren Wohnsitz im Gerichtsbezirk haben und dürfen nicht in Vermögensver- fall geraten sein. Sie müssen gesundheitlich für das Amt geeignet sein. Darüber hinaus kann das Ehrenamt des Schöffen nur von einem deutschen Staatsbürger ausge- übt werden. Das Recht auf ein faires Verfahren für den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5323 Jens Petermann (A) (C) (D)(B) Angeklagten gebietet eine sorgfältige Auswahl der Schöffen. Das Gerichtsverfassungsgesetz verlangt indes für die Eignung als Schöffe generell keine besonderen intellek- tuellen Fähigkeiten. Dennoch bedarf es hinreichender Kenntnisse der deutschen Sprache, da die Gerichtsspra- che bekanntermaßen Deutsch ist. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht auf der Grundlage des geltenden Rechts dem Problem mangelnder Deutschkenntnisse von Schöf- fen begegnet werden kann. Die Große Koalition – das wurde bereits angesprochen – sah diesbezüglich in der letzten Legislaturperiode keinen Handlungsbedarf, wo- bei insbesondere die SPD vor einem Einfallstor für Missbrauch warnte. Die angesprochenen Fälle mangelnder Deutschkennt- nisse bei Schöffen sind für uns jedenfalls kein Argument für die dringende Notwendigkeit der geplanten Rege- lung, die nun im Galopp durch das Parlament gejagt werden soll. (Beifall bei der LINKEN) Wir vertreten die Auffassung, dass Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen muss. Bereits aufgrund der beste- henden Rechtslage ist ein Schöffe, der der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig ist, unfähig, ein Schöffenamt auszuüben, und kann von der Schöffenliste gestrichen werden. Der Gesetzentwurf lässt völlig offen, auf welcher Grundlage die Gemeindeverwaltungen die sprachlichen Fähigkeiten der Kandidaten und Kandidatinnen überprü- fen sollen, und kann damit dem selbstgestellten An- spruch nicht gerecht werden. Es ist vielmehr zu befürch- ten, dass allein ein fremdländisch klingender Name Indiz für die Nichtbeherrschung der deutschen Sprache ist. Dies ergab jedenfalls die Anhörung der von der Koali- tion geladenen Sachverständigen in einem Berichterstat- tergespräch. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch überhaupt nicht!) Wie die betroffenen Personen ihre Kenntnisse nach- weisen müssten oder wie die Gemeinden, die die Vor- schlagslisten aufzustellen haben, mit diesen Anforderun- gen umgehen sollen, wird ausgeblendet. Damit öffnet der Gesetzentwurf wiederum willkürlichen Entscheidun- gen Tür und Tor. Zum Thema Divergenzvorlage: Es ist offensichtlich, dass die Koalition nunmehr mangels bestehender, durch- dachter Konzepte zur Sicherungsverwahrung an den ur- sprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates den Vor- schlag zur Divergenzvorlage des Bundesgerichtshofs anhängen will. Dies hat aber mit der Frage der Eignung zum Schöffenamt, dem ursprünglichen Thema, nichts zu tun. Am Umgang mit diesem Thema zeigt sich wieder, dass sich die Koalition sehr schwertut. Selbst ein Rüffel des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Sicherungsverwahrung führt nicht dazu, dass sich hier besonders viel bewegt. Die Koalition reagiert mit einem verfahrensrechtlichen Vorschlag zur Diver- genzvorlage an den Bundesgerichtshof in der Hoffnung, dass es die Richter in ihrem Sinne richten werden. Die Linke kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Allein das fragwürdige Verfahren des Anhängens an ei- nen inhaltsfremden Gesetzentwurf ist schon Grund ge- nug für eine Ablehnung. Aber auch inhaltlich überzeugt uns der Gesetzentwurf nicht. Die absehbare Verzögerung wegen der Vorlage zum Bundesgerichtshof wird dazu führen, dass die Sicherungsverwahrten weiter einsitzen, während die Regierung weiter streitet, wie nun zu ver- fahren sei. Das halten wir für unwürdig und kann aus un- serer Sicht auch nicht als Fortschritt gefeiert werden. (Beifall bei der LINKEN) Es ist offensichtlich, dass es darum geht, Zeit zu ge- winnen, um den inhaltlichen Dissens zwischen CDU/ CSU und der Bundesjustizministerin auszufechten. Statt sich mit den grundrechtsrelevanten Regelungen der Si- cherungsverwahrung zu befassen und gesetzgeberisch tätig zu werden, verlagern Sie die Frage auf die Recht- sprechung. Dem können wir nicht zustimmen. Wir sagen aber grundsätzlich zu, dass wir uns in der Frage der Si- cherungsverwahrung konstruktiv an einer Diskussion beteiligen werden. (Beifall bei der LINKEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würden wir gerne hören!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag von Bündnis 90/Die Grünen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gerichtssprache ist Deutsch. Ich halte es für selbsterklä- rend, dass selbstverständlich alle Verfahrensbeteiligten deutsch verstehen und sprechen können müssen. Viele Jahrzehnte war das so unproblematisch, dass der Gesetz- geber nicht die Notwendigkeit sah, in das Gesetz hinein- zuschreiben, dass Schöffen deutsch sprechen und verste- hen müssen. Die Frage ist, ob es jetzt notwendig ist. Es gibt einige wenige Fälle, in denen Schöffen sich tatsächlich selbst meldeten und sagten, dass sie nicht teilnehmen wollen, weil sie nicht deutsch sprechen können, oder Vorsit- zende dies festgestellt haben. In diesen Fällen haben Ge- richte entschieden, interessanterweise die einen, indem sie dem Schöffen einen Dolmetscher zur Seite gestellt haben, und die anderen, indem sie einen solchen Schöf- fen als ungeeignet zurückgewiesen haben. Wir sind der Meinung, dass eine Regelung notwendig ist. Deswegen haben wir auch gegenüber der ursprüngli- chen Formulierung, dass ein Schöffe über hinreichende Deutschkenntnisse verfügen muss, im Grundsatz keine Einwände gehabt. Aber die Tatsache, dass die Koalition in den letzten Tagen die Formulierung geändert hat, und die Ergebnisse im erweiterten Berichterstattergespräch haben uns schon nachdenklich gemacht. 5324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Jerzy Montag (A) (C) (D)(B) Diese Regelung richtet sich – der Kollege Danckert hat das ganz ausführlich und völlig korrekt dargestellt – an die Kommunen. Es stellt sich die Frage: Was machen die Kommunen eigentlich mit dieser Regelung bei der Auswahl der Bürgerinnen und Bürger für die Schöffen- wahl? Wir haben im erweiterten Berichterstattergespräch zwei Varianten vernommen. Die eine Variante war: Die Kommunen werden be- reits nach dem Namen oder nach dem Geburtsort aussie- ben. Wenn das geschähe, dann wäre das willkürlich, und das wäre rechtswidrig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und bei den LINKEN) Zur zweiten Variante. Der Vertreter aus Hamburg, der die dortige Behörde leitet, hat gesagt, nach seiner Mei- nung werde seine Behörde auf diese gesetzliche Rege- lung überhaupt nicht reagieren, sondern die Vorschlags- listen weiter so zusammenstellen, wie sie es bisher getan hat. Damit verlagert sich das Problem, ob ein Schöffe Deutsch kann, auf die Situation vor Beginn der Haupt- verhandlung: Was macht der Vorsitzende, wenn er mit einem Schöffen konfrontiert wird, von dem er denkt, dass er nicht genügend Deutsch kann? Schon angesichts dieser Problematik ist die Änderung des Vorschlags von Bedeutung. Während es bisher auf Vorschlag des Bun- desrats geheißen hat, es müssten hinreichende Kennt- nisse der deutschen Sprache vorliegen, und man dazu er- klärend gelesen hat, ein Schöffe müsse Deutsch verstehen und Deutsch sprechen können, soll jetzt eine Veränderung vorgenommen werden. Jetzt heißt es, er müsse die deutsche Sprache ausreichend beherrschen. Jetzt stelle ich Ihnen die Frage: Wer entscheidet ei- gentlich nach welchen Kriterien, wer von uns die Spra- che ausreichend beherrscht? Einige könnten sagen: Selbst die, die in diesem Hohen Hause reden, beherr- schen die deutsche Sprache nicht ausreichend. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Viele!) Damit wird sozusagen das Feld eröffnet. Ich greife den Gedanken von Herrn Danckert auf – dieser Gedanke ist nämlich richtig –: Wenn die Entscheidung des Vorsitzen- den Richters nicht angreifbar ist und unwiderruflich gilt, dann gibt es die Möglichkeit zu einem Missbrauch. An- gesichts dessen sagen wir: Wir wären den Weg, hinrei- chende Deutschkenntnisse zu verlangen, mitgegangen; aber die Änderung, eine ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache zur Voraussetzung zu machen, ver- bunden mit dem Hinweis, dass das eine aktive Sprachbe- herrschung bedeutet, wollen wir nicht mitgehen. Deswe- gen lehnen wir diesen Änderungsvorschlag ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun noch ein Wort zur Sicherungsverwahrung, die hier ebenfalls in Rede steht. Das, was jetzt zu reparieren ist, hat Schwarz-Gelb vor über zehn Jahren verbockt. Vor über zehn Jahren wurde die Zehnjahresfrist gestri- chen. Über die Übergangsregelungen hat man sich keine Gedanken gemacht. Die Tatsache, dass das nicht gesche- hen ist, holt Sie jetzt ein. Trotzdem ist die Divergenzvor- lage notwendig. Das Argument der Linken, das wir hier gehört haben, hat mit der Sache nicht das Geringste zu tun. Es kommt nicht auf eine Verzögerung an, sondern auf einen Fall wie folgenden: Wenn das Oberlandesge- richt Nürnberg in Kenntnis der Entscheidung des Euro- päischen Gerichtshofs für Menschenrechte Personen aus einer Sicherungsverwahrung nicht herauslässt, das Ober- landesgericht Stuttgart dies allerdings tut, dann haben wir es mit einer unterschiedlichen Behandlung durch die Oberlandesgerichte zu tun, ohne dass es eine Möglich- keit der Vereinheitlichung gibt. Diese Möglichkeit muss es geben. Bisher ist sie nicht vorgesehen. Deswegen stimmen wir der Divergenzvorlage zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber das entbindet nicht von der Kritik, dass die Ko- alition – sie geht jetzt in die Sommerferien – zur Frage der Sicherungsverwahrung bei der Führungsaufsicht – auch da geht es um 70 bis 80 Personen – nichts vorge- legt hat, obwohl die Zeit drängt. Das kritisieren wir. Wir werden an den Debatten im Herbst teilnehmen. Wir wer- den uns konstruktiv einbringen. Wir finden einige As- pekte der Eckpunkte der Vorlage der Union sogar posi- tiv. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Montag! Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Andere finden wir natürlich nicht positiv. Dass Sie zu der Frage der Führungsaufsicht – sie ist genauso bren- nend wie die Divergenzvorlage – hier nicht sofort etwas vorgelegt haben, das kreiden wir Ihnen an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine der zentralen Forderungen der bürgerlichen Revo- lutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Forderung nach einer Bürgerbeteiligung bei der Justiz. Entsprechend den Zielen der Vormärzbewegung, die Freiheit des Einzelnen zu sichern und die staatliche Macht zu begrenzen, verlangte das Bürgertum Möglich- keiten zur Mitwirkung an sämtlichen Staatsfunktionen einschließlich der Justiz. (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Man forderte die Einführung von Schwurgerichten nach französischem Vorbild, und das mit Erfolg: Nach Aus- bruch der Revolution im Jahr 1848 wurde die Institution Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5325 Ansgar Heveling (A) (C) (D)(B) der Geschworenengerichte in die Paulskirchenverfas- sung und die Landesverfassungen aufgenommen. Wenn ein Amt damals so hart von den Bürgern er- kämpft wurde, dann beweist dies: Unser Schöffenamt verkörpert die direkte Beteiligung des Volkes an der drit- ten Gewalt. Es stellt sicher, dass Urteile eben nicht am grünen Tisch, sondern im Namen des Volkes gesprochen werden. Die Laienbeteiligung ist nach wie vor eine we- sentliche und notwendige Ausgestaltung des Demokra- tieprinzips und Ausdruck unserer vielfältigen demokrati- schen Verschränkungen der rechtsprechenden Gewalt. Neben dem notwendigen juristischen Sachverstand, der durch die Berufsrichter in das Verfahren eingebracht wird, wird auf diesem Wege das gesellschaftlich aner- kannte Gerechtigkeitsempfinden in den Prozess inte- griert. Schöffen wirken dabei nicht nur als gesetzliche Richter an der Entscheidungsfindung mit; sie sind zu- gleich Garanten für die gesellschaftliche Befriedungs- funktion des Rechts. Schöffen sind mithin aus unserem Gerichtssystem nicht mehr wegzudenken. Angesichts des zutiefst demokratischen und richtigen Anspruchs, Schöffen aus möglichst allen Bevölkerungs- schichten zu rekrutieren, bestehen nur relativ wenige formale Grenzen. Grundsätzlich soll das Schöffenamt von jedem deutschen Staatsbürger ausgeübt werden kön- nen. Das soll und muss so bleiben. Daher gibt es in den §§ 33 und 34 des Gerichtsverfassungsgesetzes nur einen eng gefassten Katalog von persönlichen und funktiona- len Ausschließungsgründen. Korrespondierend dazu kann nur ein sehr begrenzter Personenkreis, der in § 35 des Gerichtsverfassungsgesetzes benannt ist, die Beru- fung in das Schöffenamt von sich aus ablehnen. So wichtig es aber aus grundsätzlichen, den Kern un- seres Demokratieverständnisses berührenden Erwägun- gen heraus ist, allen Teilen der Bevölkerung den Zugang zum Schöffenamt zu eröffnen, so wichtig ist es aus grundsätzlichen und grundrechtlichen Erwägungen auch, die Funktionsfähigkeit der Gerichte und die Be- achtung sämtlicher Verfahrensgrundsätze wie etwa der Unmittelbarkeit im Strafprozess sicherzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Bei der vorgesehenen Änderung des § 33 des Ge- richtsverfassungsgesetzes geht es daher um die richtige und schonende Ausbalancierung dieses Spannungsfel- des. Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, sicherzustel- len, dass nach wie vor allen Teilen der Bevölkerung der Zugang zum Schöffenamt eröffnet wird. Es ist aber ebenso unsere Aufgabe, zur Sicherstellung der Funk- tionsfähigkeit des Schöffenamtes dafür Sorge zu tragen, dass Schöffinnen und Schöffen tatsächlich in der Lage sind, ihre wichtige Aufgabe angemessen und amtsent- sprechend auszuüben. Ein in der Praxis zwar quantitativ nicht zu überschät- zendes, in den rechtlichen und tatsächlichen Auswirkun- gen aber nicht zu unterschätzendes Problem führt daher bei den Bestellungsvoraussetzungen an einer Stelle zu Anpassungsbedarf. Hintergrund ist, dass es in der Praxis Verfahren gegeben hat und gibt, bei denen sich heraus- stellt, dass die beigezogenen Schöffen nicht in ausrei- chendem Maße der deutschen Sprache mächtig sind. Für diesen Fall kennt das Gesetz bislang keine rechtlich ein- wandfreie Lösung. Offensichtlich ist damit alles doch nicht ganz so selbstverständlich, wie es mein Vorredner hier dargestellt hat. Wenn diese Situation eintritt, stellt dies die gerichtli- che Praxis vor erhebliche Probleme. Die Praxis versucht derzeit im Wesentlichen auf zwei Wegen, dieses Pro- blem zu lösen. Beide stehen jedoch auf rechtlich töner- nen Füßen. Der eine Weg ist, solche Schöffinnen und Schöffen von der Schöffenliste zu streichen. Dies ist in- dessen rechtlich problematisch, weil das Gesetz derzeit das Spracherfordernis gerade nicht als Bestellungsvor- aussetzung konstituiert. Mit welcher rechtlich tragfähi- gen Begründung ließe sich dann so vorgehen? Der an- dere Weg ist nicht minder problematisch. Hierbei wird dem des Deutschen nicht mächtigen Schöffen ein Dol- metscher zur Seite gestellt. Inwieweit damit noch die un- mittelbare Wahrnehmung des Prozessgeschehens als Vo- raussetzung zur Beurteilung gewährleistet ist, erscheint fraglich. Ebenso problematisch und strittig ist die Betei- ligung des Dolmetschers an der Urteilsberatung, an der nur die zur Entscheidung berufenen Richter teilnehmen dürfen. Es stellt sich also auch die Frage nach der ord- nungsgemäßen Besetzung des Gerichts. Es zeigt sich: Beide derzeit von der Praxis gewählten Lösungswege sind wackelig und daher rechtlich bis hin zu revisionsrelevanten Überlegungen angreifbar. Das lässt es sinnvoll erscheinen, mit einer gesetzgeberischen Klarstellung zu reagieren. Dies geschieht mit der Ergän- zung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes, wonach Personen, die mangels ausreichender Beherrschung der deutschen Sprache für das Amt nicht geeignet sind, nicht zu Schöffinnen und Schöffen berufen werden sollen. Die Koalitionsfraktionen sind der Auffassung, dass durch die Ergänzung des § 33 GVG dem vorstehend beschriebe- nen Problem mit einer rechtlich ausreichend klaren Re- gelung begegnet wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Heveling, erlauben Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Danckert? Ansgar Heveling (CDU/CSU): Ja. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Danckert. Dr. Peter Danckert (SPD): Herr Kollege, wenn wir schon diese Vorschrift ein- führen, mit all den Problemen, die im Laufe dieser Debatte beschrieben worden sind, wäre es dann nicht an- gezeigt, dass man im Bereich des § 52 Abs. 3 Gerichts- verfassungsgesetz – das Gericht macht sich unter Betei- ligung der Staatsanwaltschaft ein Bild über die Eignung des Schöffen bezüglich der ausreichenden Beherrschung der Sprache – den Verteidiger des Angeklagten an der Entscheidung beteiligen würde? 5326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Es ist nicht ausgeschlossen, dass es noch zu weiteren Diskussionen kommt. Die heutige Entscheidung über das GVG ist sicherlich nicht die abschließende Entschei- dung. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das war eine halbe Zusage! – Gegenruf des Abg. Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Eine Diskussion ist noch gar nichts!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: War das Ihre Antwort? Ansgar Heveling (CDU/CSU): Das war die Antwort. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Dann fahren Sie fort. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Auf diese Weise wird ein revisionsfester Weg eröff- net, um Schöffinnen und Schöffen von der Schöffenliste zu streichen, wenn sich erweist, dass sie der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind. Natürlich gibt jede neue Regelung, jedes neue ein- schränkende Zulassungskriterium Raum für Beurteilun- gen. Insoweit sind die in der Diskussion vonseiten der Opposition aufgeworfenen Fragen keineswegs falsch. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Wir als Koalition sind indessen der Auffassung, dass der Gesamtproblematik durch die Ergänzung des § 33 GVG gut und richtig Rechnung getragen wird. Natürlich könn- ten die Kommunalverwaltungen – wie vom Kollegen Montag eben angesprochen – trotzdem versucht sein, bei der Aufstellung bloß nach den Namen zu gehen. Aber wir haben ein gestuftes Verfahren. Wir haben zwei Kol- legialorgane, die darüber entscheiden: den Gemeinderat, der die Listen beschließt, und das Gremium, das die Schöffen auswählt. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Abhaken!) – Herr Danckert, abhaken mag an manchen Stellen die Praxis sein, aber ich selbst bin lange genug kommunaler Fraktionsvorsitzender gewesen, um zu wissen, dass man die Listen schon sehr genau durchgeht; denn man hat eine demokratische Entscheidung zu treffen. Insofern ist das aus theoretischer Sicht kein Angriffspunkt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Heveling, es gibt eine weitere Frage des Kolle- gen Jerzy Montag. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Herr Kollege Montag, gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Montag. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke sehr. – Herr Kollege, Sie haben zu Recht da- rauf hingewiesen, dass es Gremien gibt – den Gemeinde- rat, aber auch im Wahlverfahren –, in denen Überprü- fungsinstanzen möglich sind. Würden Sie mir zustimmen, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Zusammensetzung der Schöffenliste bei- spielsweise am Landgericht Amberg in der Oberpfalz mit einem überschaubaren Kreis von Personen, Interes- sierten und Vorgeschlagenen gibt (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kennt jeder jeden!) und dem, was wir im erweiterten Berichterstatterge- spräch zum Beispiel über Hamburg gehört haben? Dort müssen in jeder Wahlperiode 1 700 Schöffen gewählt, das heißt 3 400 Personen in die Liste eintragen werden. Der Leiter der Abteilung, der in Hamburg damit be- schäftigt ist, hat uns gesagt, es ist absolut ausgeschlos- sen, dass sich die Gemeinde – auf welcher Ebene auch immer – mit diesen Personen näher beschäftigt und mit ihnen spricht. Vielmehr nehmen sie die Leute, die vorge- schlagen werden. Die genügen aber nicht. Dann nehmen sie welche nach dem Zufallsgenerator aus dem Einwoh- nermeldeamt. Er hat uns gesagt: Entweder schmeißen wir die Leute mit ausländischem Namen und Auslands- geburtsorten raus, oder wir machen nichts. Ich frage Sie, ob Sie den Unterschied zwischen kleinen Gemeinden, in denen Sie vielleicht in der Vergangenheit mitgearbeitet haben, und Großstädten sehen, in denen sich dieses Pro- blem ergibt. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Herr Kollege Montag, ich kann natürlich kaum be- streiten, dass Amberg und Hamburg unterschiedlich große Städte sind. Da gebe ich Ihnen – das ist Punkt eins – vollkommen recht. Punkt zwei: Es mag auch sein, dass vonseiten der Kommunalverwaltung – das habe ich ja auch entsprechend so angesprochen – diese Praxis so ge- übt wird. Aber es ist doch ein ganz übliches Verfahren, dass die Fraktionen bzw. Parteien und sonstige gesell- schaftliche Organisationen auch noch eigene Vorschläge in die Ratsgremien einbringen können, die dann in die Abstimmung eingehen. Das heißt, es wäre jeder Partei bzw. jeder Institution unbenommen – wenn das eben so wichtig ist –, selbst darauf zu achten. So praktizieren wir das in meiner zugegebenermaßen eher kleinstädtisch ge- prägten Situation; aber das spricht nicht dagegen, dass man das in Großstädten nicht genauso praktizieren kann. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sortieren doch gar nicht aus!) Natürlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Kriterium der Beherrschung der deutschen Sprache missbraucht werden kann, um Schöffen von der Liste zu streichen. Diese Möglichkeit wird aber auch durch andere Kriterien – wie zum Beispiel die gesund- heitliche Eignung – theoretisch eröffnet. Hier gilt, was überall gilt: Willkürentscheidungen werden durch kei- nerlei gesetzliche Grundlagen abgedeckt und sind dem- entsprechend auch weiterhin rechtlich angreifbar. Wir sind der Auffassung, dass es richtig ist, auf die Beherrschung der deutschen Sprache – im Gegensatz zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5327 Ansgar Heveling (A) (C) (D)(B) bloßen Kenntnissen – abzustellen. Das Schöffenamt ist ein aktives Amt. Schöffinnen und Schöffen müssen dem Geschehen nicht nur passiv folgen können, sie haben eine aktive Rolle. Ein Urteil ist das Ergebnis von Bera- tungen. Für und Wider sind diskursiv abzuwägen. Auch das ist ein hohes und zutiefst demokratisches Element in unseren Gerichtsverfahren. (Beifall bei der CDU/CSU) Das setzt aber voraus, dass die an der Beratung Beteilig- ten ihre Standpunkte auch tatsächlich vor- und einbrin- gen können. Dazu muss man mehr können, als bloß zu verstehen. Salopp formuliert: Man muss in der Lage sein, den gesunden Menschenverstand, den Schöffinnen und Schöffen in die Beratung einbringen sollen, auch tatsächlich zu artikulieren – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Daher werden wir der vorgesehenen Ergän- zung des § 33 GVG zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab- stimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichts- verfassungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2350, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1462 in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt getrennte Abstimmung. Ich rufe die Ziffer 2 der Beschlussempfehlung auf, und zwar nur Art. 1 Buchstaben a und b. Ich bitte dieje- nigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Teil des Ge- setzentwurfs ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen, der Fraktion der SPD bei Gegenstimmen von den Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. Zum anderen rufe ich die Ziffer 1 der Beschlussemp- fehlung und Ziffer 2 der Beschlussempfehlung, und zwar nur Art. 1 Buchstabe c sowie Art. 2 des Gesetzent- wurfs auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Auch dieser Teil des Gesetzentwurfs ist – diesmal mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke – angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf insgesamt angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Frak- tion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Ent- haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD Keine Patente auf Pflanzen und Tiere – Drucksache 17/2016 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Patentierung von Pflanzen, Tieren und biolo- gischen Züchtungsverfahren stoppen – Drucksache 17/2141 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? – Das ist wohl nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Dr. Matthias Miersch von der SPD- Fraktion das Wort. Dr. Matthias Miersch (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Keine Patente auf Pflanzen und Tiere“, das ruft bei dem einen oder anderen Zuhörer dieser Debatte sicherlich erst einmal Erstaunen hervor: Worum geht es? Wenn man dann noch hört, dass es darum geht, dass den Pa- tentämtern inzwischen in der Tat Anträge vorliegen, sich das gute Schnitzel oder den herkömmlichen Brokkoli pa- tentieren zu lassen, dann merkt man schnell: Auf der ei- nen Seite ist das Schmunzeln vielleicht nicht aus dem Gesicht zu bekommen, auf der anderen Seite aber auch die Verwunderung nicht. Um das Thema, um das es hier und heute geht, auf den Punkt zu bringen, will ich zu Beginn meiner Rede ein Zitat eines Vertreters eines großen, multinationalen Konzerns anführen, der gesagt hat: Unser Ziel ist es, die Ernährung der Bevölkerung vom Acker bis zum Teller zu steuern. – An diesem Zitat wird deutlich, welche Stra- tegie in bestimmten Zentralen dieser Welt ausgeheckt wird und wie diese Strategie aussieht. Wir sind gut bera- ten, diese Entwicklung sehr aufmerksam zu verfolgen. Es geht um drei zentrale Bereiche, die alle Menschen weltweit betreffen: Das ist Energie, das ist Wasser, und 5328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Matthias Miersch (A) (C) (D)(B) das ist die Ernährung. Wenn es gelingt, sich ein Recht auf die Ernährung zu sichern und dieses Recht als Werk- zeug zu verwenden, um die Ernährung zu steuern, wenn nicht sogar zu monopolisieren, dann haben wir nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein ökonomisches und vor allen Dingen ein soziales Problem. Deswegen haben wir heute diesen Antrag eingebracht. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Worum geht es? Wir können sehen, dass die Zahl der Anträge für Patente auf Pflanzen, aber nicht nur auf Pflanzen, sondern generell auf die ganze Ernährungs- kette, angefangen bei der Pflanze über Samen bis hin zu den daraus resultierenden Produkten einer Pflanze – es geht beispielsweise nicht nur um die Sojapflanze, son- dern auch um ihr Öl –, zunimmt. Wir sehen auch, dass es nicht mehr nur darum geht, sich beispielsweise gentech- nisch verändertes Futter schützen zu lassen, sondern gleich das Futter, das Schwein, das es gefressen hat, und auch das Schnitzel, das daraus letztlich erwachsen wird. Diese Beispiele zeigen, ein bisschen umgangssprach- lich formuliert, dass es hier tatsächlich um das Elemen- tarste geht. Wir müssen aufpassen, dass wir unser Recht auf gewerblichen Schutz, das eigentlich dazu dient, Er- findungen zu schützen, sehr wohl in Einklang mit den Interessen der Bevölkerung weltweit bringen. Wir erleben augenblicklich aber genau das Gegenteil: dass dieses Recht zu ungenau ist, dass die Begriffe, mit denen in den Patentämtern hantiert wird, auslegungsfä- hig sind, sodass sie nach unserer Auffassung miss- braucht werden. Wir sind gut beraten, uns zu fragen: Wie können wir hier eine Grenze einziehen, damit es nicht zu diesen Missbräuchen kommt? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es kann nicht sein, dass wir sagen: Eine Pflanzensorte darf nicht patentiert werden; aber das Gen, das wir in eine Pflanze stecken, kann dazu führen, dass sämtliche Pflanzenarten, ganze Baumgruppen beispielsweise, plötzlich patentierungsfähig sind. Dies erleben wir zur- zeit. Wir als Gesetzgeber dürfen nicht als Zuschauer agieren, sondern wir sind es, die über gesetzliche Grund- lagen entscheiden. Wir müssen diese Verantwortung wahrnehmen und dürfen diese Verantwortung nicht Ge- richten überlassen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer sich vor Augen hält, worüber das Europäische Patentamt in München am 20. und 21. Juli dieses Jahres verhandelt, der sieht, dass wir es mit dem Versuch zu tun haben, sogar konventionelle Züchtungsverfahren schüt- zen zu lassen. Damit schafft man nicht nur das Recht an einer Pflanzensorte, sondern man setzt sehr viel früher an. Man setzt beim Züchtungsverfahren an und versucht, sich das Recht, mit diesem Verfahren eine Pflanzensorte zu züchten, schützen zu lassen. Wenn jemand dieses Recht hat, dann wird es niemand anderem möglich sein, auf dieses Züchtungsverfahren zurückzugreifen. Dies wird zu einem Problem, weil so- zusagen der Ursprung der Ernährung schon mit einem Recht behaftet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass dies nicht sein darf. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir in diesem Hohen Hause sind gut beraten, uns diese Rechtsentwicklung aufmerksam anzusehen und im Übrigen auch das zur Kenntnis zu nehmen, was der Wis- senschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministe- rium uns sogar schon vor einigen Jahren auferlegt hat. Da hat er nämlich geschrieben, dass er die Erteilungspra- xis des Europäischen Patentamts mit Besorgnis zur Kenntnis nimmt. Wenn man dann noch sieht, dass eine unabhängige Kontrollinstanz fehlt und dass dieses Amt durch die für die Patente gezahlten Gebühren und nicht durch unabhängige Gelder finanziert wird, sodass die Neigung, ein Patent zu verwehren, nicht besonders stark ausgeprägt ist, dann weiß man, dass wir hier über sehr grundsätzliche Dinge reden müssen. Ich lade Sie alle recht herzlich ein, das gemeinsam zu tun. Der Deutsche Bundestag sollte möglichst einmütig zum Ausdruck bringen, dass diese Rechtsentwicklung von uns allen nicht gewollt ist. Das ist ein dickes Brett, weil es nicht nur um nationales, sondern auch um europäisches Recht geht. Aber wir müssen hier handeln, weil diese Rechts- entwicklung schädlich für die Menschen ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über das Thema der Patentierung von Tieren und Pflan- zen hat der Deutsche Bundestag bereits im vergangenen Jahr debattiert. Damals wurde ein Antrag diskutiert, der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wurde. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in den jetzt eingebrachten Anträgen durchaus erstrebenswerte Zielsetzungen. Auch in der Koalitionsvereinbarung hat die christlich-liberale Koalition klar geäußert, dass sie auf landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen keine Patente will. Wörtlich heißt es dort: Unabhängig vom Schutz des geistigen Eigentums wollen wir auf landwirtschaftliche Nutztiere und -pflanzen kein Patentrecht. Das ist an Klarheit nicht zu überbieten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir bekennen uns im Koalitionsvertrag – auch vor dem Hintergrund internationaler Abkommen – aber auch ganz klar und ebenso zu Recht zum Schutz des geistigen Eigentums: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5329 Dr. Stephan Harbarth (A) (C) (D)(B) Innovationen und Erfindungen sind für die volks- wirtschaftliche Entwicklung unseres an Rohstoffen armen Landes, für die internationale Wettbewerbs- fähigkeit unseres Landes und für den Schutz von Arbeitsplätzen in Deutschland von zentraler Bedeu- tung. Wir wollen deshalb den rechtlichen Rahmen für einen wirksamen Schutz des geistigen Eigen- tums durch Patente, Marken und Muster weiter stärken und den Zugang zu Schutzrechten für den Mittelstand erleichtern. Wir werden uns auch auf europäischer und interna- tionaler Ebene für wirksame Maßnahmen gegen die weltweite Marken- und Produktpiraterie einsetzen. So formuliert es der Koalitionsvertrag sehr eindrucks- voll. Wir stehen für den Schutz des geistigen Eigentums. Aber wir stehen nicht für einen Schutz des geistigen Ei- gentums um jeden Preis. Wir stehen nicht für einen Schutz des geistigen Eigentums unter Aufgabe ethischer Grundsätze. Zu diesen ethischen Grundsätzen gehört die Überzeugung, dass Tiere und Pflanzen zentrale Bestand- teile unserer Schöpfung sind. Eine Politik, die sich ethi- schen Grundsätzen verpflichtet weiß, kann aber nicht bei dieser Überzeugung stehen bleiben. Sie muss zugleich berücksichtigen, dass auch wissenschaftlicher Fortschritt zur Lösung von Problemen und zur Linderung von Leid ethisch begründet sein mag. Legt man diese Maßstäbe zugrunde, wird klar: Auch im Biopatentrecht werden Änderungen unumgänglich sein. Aber ebenso klar ist: Der heutige Zeitpunkt ist für die Diskussion, an welchen Stellen man das Biopatent- recht tatsächlich ändern muss, um die Patentierung von Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungsverfahren zu verhindern, denkbar ungeeignet. Warum ist er denkbar ungeeignet? Er ist deshalb denkbar ungeeignet, weil in wenigen Tagen vor der Gro- ßen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts die mündliche Verhandlung zum sogenannten Brokkoli- Patent stattfinden wird. Dabei geht es entscheidend um den Begriff eines im Wesentlichen biologischen Verfah- rens. Dies ist von herausragender Bedeutung für die Ab- grenzung herkömmlicher, nicht patentierungsfähiger Züchtungsverfahren einerseits und patentierbarer erfin- derischer Leistungen andererseits. Diese Entscheidung sollten wir in Ruhe abwarten und sie dann der weiteren Debatte zugrunde legen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sollte sich dabei herausstellen, dass solche biologi- schen Verfahren, bei denen ein geringer und damit unwe- sentlicher technischer Anteil hinzukommt, keine – wie das Gesetz es formuliert – „im Wesentlichen biologi- schen Verfahren“ sind, dann wird gesetzlicher Ände- rungsbedarf bestehen. Dann wird es darum gehen, die gesetzlichen Grundlagen zu ändern, weil anderenfalls Patente möglich wären, für die es inhaltlich keine Recht- fertigung gibt. Dies darf nicht sein. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen in Erin- nerung rufen, dass es vor fünf Jahren CDU und CSU wa- ren, die im Rahmen der Umsetzung der Biopatentrichtli- nie die Eingrenzung der Reichweite des Patentschutzes durch die Einschränkung des Stoffschutzes initiiert ha- ben. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie waren gar nicht dabei!) Damit haben wir in Deutschland ein Schutzniveau durchgesetzt, das über die europäischen Vorgaben hi- nausgeht. Der damalige Vorschlag der rot-grünen Bun- desregierung sah vor, die Bestimmung der Reichweite des Patentschutzes den Gerichten zu überlassen. Auf- grund der Initiative von CDU/CSU ist in Deutschland nun eine Patentierung menschlicher Gensequenzen nur dann möglich, wenn die Verwendung der Sequenz mit in den Patentanspruch aufgenommen wird. Damit wurde der absolute Stoffschutz durch einen zweckgebundenen Stoffschutz ersetzt, sodass der Stoffschutz in Deutsch- land nur für die in dem Patent beschriebene Verwendung gilt. Dass Sie dieses hohe Schutzniveau, das Sie CDU und CSU verdanken, heute auch auf europäischer Ebene erreichen wollen, spricht allerdings für Ihre Erkenntnis- fähigkeit und freut uns deshalb umso mehr. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch die christlich-liberale Koalition will nicht, dass Patente auf jahrhundertealte Züchtungs- und Selektions- verfahren und deren Nutzen zu einer Gewinnmaximie- rung für wenige und zum gleichzeitigen Ausschluss brei- ter Bevölkerungsschichten von diesen Errungenschaften führt. Auch wir sind gegen Patente auf landwirtschaftli- che Nutztiere und Nutzpflanzen und sprechen uns des- halb für eine entsprechende Änderung des europäischen Biopatentrechts aus. Wir sind jedoch der Meinung, dass es erst nach der Entscheidung des Europäischen Patent- amts Sinn machen wird, sich im Rahmen des Schnürens eines Gesamtpakets zu überlegen, inwieweit zur Errei- chung dieses Ziels und darüber hinaus Handlungsbedarf auf europäischer Ebene besteht und inwieweit das Bio- patentrecht tatsächlich geändert werden muss. Dabei kann es definitiv nicht angehen, unsere Schöp- fung zu kommerzialisieren. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Bewahrung der Schöpfung auch vor kommerzieller Reservierung sind Kernanliegen christlich-demokratischer Politik. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Aber es muss auch klar sein: Wir dürfen berechtigte Interessen von Forschung und Wissenschaft nicht ein- fach grundlos vom Tisch wischen. Wir dürfen nicht zu- lassen, dass die Früchte der herausragenden deutschen Forschungsleistungen in anderen Ländern geerntet wer- den. Deshalb brauchen wir auch ein zeitgemäßes Patent- recht, das internationalen Standards entspricht. Dabei leben wir in Deutschland mit Sicherheit nicht von zweifelhaften Patenten, um die man sich so lange streiten muss, bis sie ohnehin wertlos geworden sind. Aber wir leben vom Rohstoff Grips. Wir leben von der Innovationskraft unserer Menschen im Dienste der Men- schen, und dies dürfen wir nicht grundlos preisgeben. 5330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Stephan Harbarth (A) (C) (D)(B) Meine Damen und Herren, seien Sie versichert: Die christlich-liberale Koalition hat ein großes Interesse da- ran, gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren eine gute, eine tragfähige Lösung zu finden. Ich appelliere daher an Sie und an uns alle, ohne überkommene Klischees und ohne selbstauferlegte Denkverbote und ohne pawlow- sche Reflexe in eine sachliche, lösungsorientierte Dis- kussion einzutreten, sobald die Entscheidung des Euro- päischen Patentamts vorliegt. Und es geht hier wie immer auch um Ehrlichkeit. Und zur Ehrlichkeit gehört es, an dieser Stelle anzumerken, dass Rot-Grün die europäische Biopatentrichtlinie erst mit fünf Jahren Verspätung in deutsches Recht umge- setzt hat. Die Richtlinie ist von 1998, sie war bis 2000 umzusetzen. Sie haben unter Bruch geltenden Rechts diese Richtlinie erst 2005 umgesetzt. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Gott sei Dank!) Schon damals haben Sie offensichtlich keine Dringlich- keit der Materie gesehen. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Waren Sie eigentlich dabei?) Heute pressiert es Ihnen so sehr, dass Sie nicht einmal die Entscheidung des Europäischen Patentamts abwarten wollen. Dass Sie jetzt eine solche Eile zur Schau stellen, macht Sie gewiss nicht glaubwürdiger. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist doch Blödsinn! Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, Entschuldigung, ich darf Sie einen Mo- ment unterbrechen. Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röspel zu? Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Sehr gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Röspel. René Röspel (SPD): Vielen Dank. – Herr Kollege, Sie haben jetzt mehr- fach behauptet, es sei der Union zu verdanken, dass ge- wisse Ausnahmen gegenüber der europäischen Biopa- tentrichtlinie bei der Umsetzung zum Tragen gekommen sind. Ich habe das ganz anders in Erinnerung, nämlich so, dass die Kollegen aus der FDP und aus der Union auf eine Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie von 1998 ohne Veränderung, nämlich eins zu eins, gedrängt haben. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Eins zu eins!) Ich bitte Sie, mir jetzt Ihre Quellen und Belege dafür zu nennen bzw. zu geben, dass Sie die Genpatentierung und auch die Reichweite einschränken wollten. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Wir haben in den Verfahren damals zum Ausdruck gebracht, dass wir keinen absoluten Stoffschutz, sondern einen konkreten Stoffschutz wollten. Ich reiche Ihnen die entsprechenden Unterlagen gerne nach. (René Röspel [SPD]: Darauf bin ich sehr ge- spannt!) Ihre Erfolgsbilanz ist, dass Sie die EU-Biopatentricht- linie von 1998 nicht mit einem Jahr, nicht mit zwei Jah- ren und auch nicht mit drei Jahren, sondern mit sage und schreibe fünf Jahren Verspätung umgesetzt haben. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Herr Röspel! Unglaublich! Da hätten Sie mal lieber keine Zwischenfrage gestellt!) Sie haben das im Stile eines Bummelzugs betrieben, und nachdem Sie von Bord gegangen waren, beschweren Sie sich jetzt, dass er nicht die Geschwindigkeit eines ICEs aufgenommen hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – René Röspel [SPD]: Ich bin gespannt auf die Unterlagen! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Sie haben nicht einmal verstanden, was in den Un- terlagen steht!) Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion macht die von Ih- nen demonstrierte Eile keinen Sinn. Lassen Sie uns zu- nächst die Entscheidung des Europäischen Patentamts abwarten. Deshalb sind Ihre Anträge zum jetzigen Zeit- punkt abzulehnen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Warum werden Biopatente über- haupt beantragt, und warum sind es gerade Brokkoli, Schweine und Sonnenblumen, die ins Visier der Patent- jäger geraten sind? Aus Sicht der Linken ist das kein Zu- fall. Das Ziel, das mit Patenten verfolgt wird, ist nämlich die Kontrolle über Wissen, und in allen drei Fällen geht es um Lebensmittel. Wer über Biopatente Nahrungsmittel kontrolliert, hat Macht bis hin zur Erpressbarkeit. Deshalb ist die Kon- trolle über Nahrungsmittelquellen eine der effektivsten Gelddruckmaschinen, die es gibt, weshalb wir dort ge- nau hinschauen müssen. Beim Patentrecht geht es um eine sehr grundsätzliche Frage: Was hat Vorrang? Ist es der Schutz des Rechts auf Zugang zu Wissen oder die Sicherung des Rechts auf seine wirtschaftliche Verwertung? Bei Biopatenten spitzt sich dieser Interessenkonflikt noch weiter zu, weil es um Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5331 Dr. Kirsten Tackmann (A) (C) (D)(B) Wissen über Nahrungsquellen geht. Aus Sicht der Lin- ken ist der Zugang zu diesem Wissen durch Biopatente aber nicht zu blockieren. Der Grundsatz „Keine Patente auf Leben“ ist für uns nicht verhandelbar. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Dies ist auch breiter Konsens inner- und außerhalb der Parlamente. Auch der Bundestag hätte diese Position längst beschließen können. Linke, SPD und Grüne wa- ren sich schon vor einem Jahr einig – zumindest bei die- sem Thema –, aber die SPD hatte in der Großen Koali- tion leider nicht die Kraft, das dann auch durchzusetzen. Dabei besteht dringender Handlungsbedarf; denn die Kritik an der europäischen Patentgesetzgebung und dem Europäischen Patentamt wächst; das ist schon genannt worden. Die Spielräume in der schwammigen EU-Biopatent- richtlinie werden skrupellos ausgenutzt. Sie existieren nicht versehentlich, sondern absichtsvoll. Ein Beispiel: Patente auf im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen und Tieren dürfen nicht erteilt werden. Doch wer definiert „im Wesentlichen“? Dem Missbrauch durch findige Juristen im Auftrag von Saat- gutkonzernen, der Chemieindustrie und Gentechnikun- ternehmen wird hier Tür und Tor geöffnet. Die Linke will verhindern, dass die Grundlagen des Lebens zur Beute privatwirtschaftlicher Interessenten werden. Die Natur ist keine schützenswerte Erfindung, sondern das Ergebnis der Evolution. Gene können ent- deckt und ihre Funktion kann aufgeklärt und genutzt werden, aber sie sind kein privater Besitz, und sie dürfen es auch nicht werden. (Beifall bei der LINKEN) Es ist doch geradewegs absurd, dass immer öfter wichtige Forschungsergebnisse nur deshalb nicht mehr wissenschaftlich veröffentlicht und damit allgemein zu- gänglich gemacht werden, um ihre wirtschaftliche Ver- wertung nicht zu gefährden. Wenn Forschung in diesem Maße finanziellen Ver- wertungsinteressen unterworfen wird, behindert das den Wissensfortschritt, den die gesamte Gesellschaft drin- gend braucht. Dieser Fesselung auch der Agrarwissen- schaften dürfen wir nicht tatenlos zusehen. Ein weiterer Aspekt ist mir wichtig, der im Grünen- Antrag steht. Die Agrogentechnik ist eine Risikotechno- logie. Eine unabhängige Begleitforschung zu ökologi- schen und gesundheitlichen Gefahren wird deshalb drin- gend gebraucht. Wir müssen genau wissen, ob zum Beispiel Gentechnikmais das Bodenleben beeinflusst, ob die Gentechkartoffel Amflora von Wildschweinen ge- fressen wird und was gegebenenfalls die Folgen sind. Doch es mehren sich Berichte, dass kritischen Forsche- rinnen und Forschern das für diese Arbeiten dringend nötige gentechnisch veränderte Saatgut nicht zur Verfü- gung gestellt wird. Damit sabotieren Konzerne die kriti- sche Forschung, selbst dann, wenn sie öffentlich finan- ziert wird. Das ist absolut inakzeptabel und muss unverzüglich korrigiert werden. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Das Fazit der Linken: Das aktuelle Biopatentrecht verstärkt die Macht von Agrokonzernen gegen die Inte- ressen der Gesellschaft. Dagegen müssen wir Wider- stand leisten – in Deutschland, in der EU und bei der WTO. Das Biopatentrecht darf das Recht auf Teilhabe an Wissen nicht einschränken. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stephan Thomae (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Anträge auf ein vollständiges Ver- bot der Patentierung von Tieren und Pflanzen greifen zwar durchaus diskussionswürdige Themen und Frage- stellungen auf, aber sie gehen eindeutig viel zu weit. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Bleser [CDU/CSU]) Patente haben eine wichtige Doppelfunktion: zugunsten des Erfinders und der Allgemeinheit. Einerseits schützen sie nämlich die Investitionen des Patentinhabers, ande- rerseits aber gewährleisten sie der Öffentlichkeit Ein- blick in die Erfindung. Durch die Veröffentlichung fließt die Erfindung in den allgemein zugänglichen wissen- schaftlichen Wissensstand ein. Die Alternative wäre, dass ein Unternehmen seine Neuentwicklungen nicht zum Patent anmeldet, sondern geheim hält. Dann aber kann die Wissenschaft nicht auf der Grundlage des Pa- tentes aufbauen und weiterforschen, und sie kann die Er- findung nicht substanziell und substanziiert kritisieren. Es muss deshalb gerade im Interesse einer kritischen Wissenschaftsbeobachtung sein, dass biotechnologische Erfindungen im Patentverfahren veröffentlicht werden. Das ist aber mit dem geforderten Pauschalverbot jegli- cher Patente auf Tiere und Pflanzen nicht möglich. Es geht, Frau Kollegin Dr. Tackmann, nicht darum, die Kontrolle über Natur und Lebensmittel zu erhalten, sondern es geht darum, dass Patente das geistige Eigen- tum eines Erfinders schützen und die Erfindung zugleich auch der Öffentlichkeit zugänglich machen sollen. Sie stellen damit eine Alternative zur Geheimhaltung von Forschungsergebnissen dar. Auch die FDP ist der Meinung, dass eine Überprü- fung der Patenterteilungspraxis des Europäischen Pa- tentamtes im biotechnologischen Bereich – übrigens 5332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Stephan Thomae (A) (C) (D)(B) auch in anderen Bereichen – durchaus Sinn macht. Die FDP teilt auch die Auffassung, dass Patente konsequent ausschließlich auf biotechnologische Erfindungen erteilt werden sollten und nicht auf biologische Entdeckungen. Auch die Patentierung biologischer Züchtungsverfahren und ihrer Produkte lehnt die FDP ab. Diese Abgrenzung muss möglicherweise verbessert oder auch gesetzlich konkretisiert werden, falls das die Rechtsprechung nicht aus eigener Kraft leisten kann. Allerdings gibt es mo- mentan dafür nicht genügend Anhaltspunkte. Die FDP ist ebenfalls der Ansicht, dass die bestehenden Rechts- unsicherheiten beseitigt werden müssen. Das aber kann nicht jetzt im Zusammenhang mit den von Ihnen vorge- legten Anträgen geschehen, sondern das muss nach der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Euro- päischen Patentamtes in den aktuellen Fällen – Brokkoli und Tomaten – geprüft werden. Momentan ist es dafür noch zu früh. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken von Bündnis 90/Die Grünen. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Kollegen Harbarth nur so viel: Neue Ab- geordnete genießen ja immer einen gewissen Welpen- schutz, aber die Debatte völlig von den Füßen auf den Kopf zu stellen, das geht nicht. Ich glaube, Sie haben die Unterlagen der rot-grünen Koalition mit denen der CDU/ CSU oder der jetzigen Koalition verwechselt. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Steht so im Proto- koll des Bundestags!) Es war nun so, dass die Umsetzung der Biopatent- richtlinie genau die Probleme geschaffen hat, die wir ge- rade haben. Wir haben damals sehr zu Recht – übrigens auch mit vielen von Ihnen und dem Deutschen Bauern- verband – gegen das ganze Heer der Juristen dafür ge- kämpft, in der deutschen Rechtsprechung ein Züchter- privileg oder eine Percy-Schmeiser-Klausel und Ähnliches zu verankern, um das Schlimmste zu verhin- dern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Nichtsdestotrotz, Kollege Miersch, ich wäre auch glücklich gewesen, Sie hätten diese Rede schon vor ge- nau einem Jahr halten können. Damals war die Situation genau umgekehrt. Zu dem damaligen Antrag der Grünen zur Veränderung der Biopatentrichtlinie haben Sie ge- sagt: Lassen Sie uns doch abwarten, überprüfen. – In- zwischen haben wir erteilte Patente. Ich will jetzt auf das zu sprechen kommen, was im Mai passiert ist, nämlich auf die Erteilung des „Sonnen- blumen-Patents“. Das ist übrigens ein klarer Vorgriff auf die „Brokkoli-Entscheidung“ oder die „Tomaten-Ent- scheidung“, die jetzt kommt. Beim „Sonnenblumen-Pa- tent“ ist es genau zu dem gekommen, was die Kollegen von der FDP auch nicht wollen: Der ursprüngliche Pa- tentantrag umfasste neben dem konventionellen Züch- tungsverfahren einer speziellen Sonnenblumensorte auch das Saatgut, die Pflanze, sogar die Verwendung des Öls zum Braten und Backen und einen unglaublich wei- ten Claim. Dieses Patent ist dann im Verfahren auch tat- sächlich erteilt worden. Man hat im Einspruchsverfahren nur das Züchtungsverfahren als „nicht patentierbar“ be- urteilt, aber die anderen Ansprüche bestehen lassen. Damit ist genau die Situation eingetreten, die wir schon Dutzende Male erlebt haben, nämlich dass etwas patentiert wird, was mit Erfindung nichts mehr zu tun hat. Das heißt, wir müssen zu einer rechtlichen Konse- quenz kommen, zu einer Veränderung dieser Gesetze. Ich finde, das muss im Sinne einer Eigentumswahrung, im Sinne von Innovationsermöglichung möglichst schnell geschehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Moment werden jeden Monat 10 bis 20 neue Pa- tente erteilt. Übrigens war vor einem Jahr ein Argument von Ihnen, die Widerspruchsverfahren seien doch alle so klasse und erfolgreich. 70 Prozent sind tatsächlich er- folgreich. Aber Sie müssen sich auch mal vor Augen halten, was das für die mittelständischen Firmen oder Länder oder auch die Umweltgruppen, Kirchen, und wer alles dabei ist, bedeutet. Im Fall einer solchen Ein- spruchseinlegung fallen oft Kosten von bis zu 100 000 Euro an, und auf den Kosten bleibt man auch bei Erfolg sitzen. Das heißt, im Fall des Patentrechts gilt de facto das Recht des finanziell Stärkeren. Das kann ja nun nicht Grundlage einer Gesetzgebung sein. Das ist eine grobe Wettbewerbsverletzung und fördert eine bis- her undenkbare Monopolisierung in der Land- und Le- bensmittelwirtschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Patente sind die Lizenz zum Gelddrucken. Das sehe ich auch so wie die Kollegin Tackmann. Man sieht übrigens, dass die Patente echte Preistreiber sind. Wenn man mal auf die Daten in den USA schaut, die dort über die Kosten des Saatguts veröffentlicht worden sind, dann sieht man beim Mais eine 30-prozentige Preissteigerung im Jahr 2009 gegenüber 2008. Bei Soja sind es 25 Prozent, womit nicht im Mindesten entsprechende Ertragssteigerungen verbunden sind. Inzwischen beherrschen zehn große Konzerne zwei Drittel des globalen Saatgutmarktes, und die dominie- renden von denen, Monsanto, Syngenta, DuPont und Bayer, beherrschen auch den Düngemittel- und Pestizid- markt. Hier sind die Patente tatsächlich eine Lizenz zum Gelddrucken. Wir wollen die Forschungsfreiheit sicherstellen und damit auch die Praxis wieder so gestalten, dass For- schungsfreiheit und Zugang zu Daten im Sinne des Ge- setzes wieder möglich sind. (Zuruf von der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5333 Ulrike Höfken (A) (C) (D)(B) Wir wollen kein Patent auf Leben, kein Patent auf Pflanzen und Tiere – so wie es in Ihrem Koalitionsver- trag steht; daran darf ich erinnern –, wir wollen eine Überarbeitung der Konstruktion des Europäischen Pa- tentamts und die Beseitigung aller Interpretationsspiel- räume. Ich hoffe, dass wir gemeinsam dazu kommen, hier eine bessere Gesetzesgrundlage zu erstreiten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Matthias Miersch. Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Kollegin Höfken, Sie haben mich persönlich an- gesprochen und gesagt, Sie hätten sich gewünscht, dass ich bereits vor einem Jahr diese Rede gehalten hätte. Ich möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- men, dass ich, seitdem ich diesem Hohen Hause ange- höre, nämlich seit 2005, in vielen Reden diesen Stand- punkt für die SPD-Bundestagsfraktion immer sehr deutlich vertreten habe, dass man aber, wenn man in ei- ner Koalition ist – das wissen Sie sicherlich auch aus ei- gener Erfahrung –, seine Position nicht immer eins zu eins in Gesetzentwürfe und Entschließungsanträge um- setzen kann? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Erwiderung, Frau Höfken. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das erkenne ich sehr gern an. Das war auch kein An- griff auf Sie. Ich hoffe nur, dass wir aus der Debatte von vor einem Jahr lernen können. Alle Argumente, die da- mals gegen eine Gesetzesänderung und entsprechende Initiativen vorgebracht worden sind, wurden inzwischen einer Prüfung unterzogen. Jetzt muss man endlich zum Handeln kommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vielen Dank. – Dann hat als nächster Redner das Wort der Kollege Dr. Max Lehmer von der CDU/CSU- Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- nen und Kollegen! Werte Gäste! Die politische Diskus- sion um die Patentierung von Nutztieren und Nutzpflan- zen wird in der Öffentlichkeit, sicher auch heute, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Mit der rasant fort- schreitenden Entwicklung der Biotechnologie im In- und Ausland gewinnt dieses Thema selbstverständlich immer mehr an Bedeutung und – Herr Miersch, Sie haben auf Entwicklungen hingewiesen, die zu Recht Sorge bereiten – gibt den Menschen Anlass zu Ängsten und Befürchtun- gen. Gerade deshalb, denke ich, muss die Debatte mit großer Sorgfalt geführt werden. Die Frage der Patentierbarkeit führt automatisch zu Interessenkonflikten zwischen dem Schutz des geistigen Eigentums auf der einen Seite und dem Grundsatz der allgemeinen Verfügbarkeit natürlicher genetischer Res- sourcen auf der anderen Seite. Ich glaube, das ist der Kernpunkt. Der Schutz geistigen Eigentums über Pa- tente ist in einem Hochtechnologieland wie Deutschland generell unverzichtbar; denn der Schutz einer Erfindung und die Wertschöpfung, die aus deren Vermarktung ge- zogen werden kann, sind ein großer Ansporn, erfinde- risch tätig zu werden und besser zu sein als andere. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Des Weiteren macht dieser Schutz Innovationen der Öffentlichkeit zugänglich. Frau Höfken, Sie sollten nicht nur negativ über Patente und Verteuerungen in der Praxis reden; Sie sollten auch sagen, dass Patentschutz zumin- dest in Deutschland etwas ermöglicht, nämlich dass die gefundenen neuen Erkenntnisse für alle verfügbar ge- macht werden. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Darauf gründet sich ein großer Teil unserer Wirt- schaftskraft und unseres Wohlstands. Das Patent ist folg- lich ein elementarer Baustein unserer Wettbewerbswirt- schaft und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Wir sehen aber auch die nicht unberechtigte Sorge von Züchtern und Landwirten, dass Biopatente zu einer zunehmenden Konzentration der Pflanzenzüchtung auf wenige große Unternehmen sowie zu einer Verengung der biologischen Vielfalt in der Produktion auf wenige Hochleistungssorten und Rassen führen können. Der un- gehinderte Zugriff auf genetische Ressourcen muss aber allgemein möglich sein und bleiben. Ich glaube, das ist eine Forderung, die wir alle unterschreiben können. Biopatente stellen allerdings eine Besonderheit im Patentrechtssystem dar. Wir haben es hier nicht mit tech- nischer – toter – Materie zu tun, sondern mit Lebewesen, die sich fortpflanzen und vermehren können. Dabei sind die Belange der Naturwissenschaften, rechtliche Rah- menbedingungen, ökonomische Nutzerinteressen und nicht zuletzt auch ethische Grundsatzfragen zu berück- sichtigen und miteinander in Einklang zu bringen – ein sehr komplexes System also. Die Erteilung von Patenten ist an das Europäische Pa- tentübereinkommen sowie die EU-Biopatentrichtlinie gebunden. Ich will mich jetzt nicht mit der Vergangen- heit aufhalten. Ich nehme den Status, wie er ist, und kon- zentriere mich darauf, wie man die weitere Entwicklung in den Griff bekommen kann. Für eine Biopatentierung muss die Frage gestellt werden, ob insbesondere die EU- Biopatentrichtlinie, die konkrete Aussagen zur Reich- weite von Biopatenten auf lebende Organismen enthält, noch die Anforderungen an eine verantwortbare Politik erfüllt oder ob Anpassungen in Erwägung gezogen wer- den sollten. Die derzeit geltenden europarechtlichen Grundlagen – das ist wichtig – schließen nur Patente auf Pflanzensor- 5334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Max Lehmer (A) (C) (D)(B) ten und Tierrassen aus. Aber wie ist mit patentierten Ver- fahren umzugehen, die nicht auf den Schutz einer Sorte oder Rasse gerichtet sind, sondern bewusst oberhalb oder unterhalb dieser taxonomischen Ebene ganz legal zu einem Patentschutz für Nutzpflanzen oder Nutztiere, dem sogenannten abgeleiteten Stoffschutz, führen kön- nen? Als prominentestes Beispiel ist das mehrfach ange- sprochene Brokkoli-Patent zu erwähnen, das im Juli vor der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Pa- tentamtes in München verhandelt wird. Die Patentierung von Pflanzen und deren Nachkommen ist hier mittels ei- nes Verfahrenspatents – sozusagen durch die Hintertür – möglich, da der Patentantrag sich nicht auf eine spezielle Sorte bezieht. Das sieht meine Fraktion sehr kritisch. Hier wird eine klare – auch ethische – Grenze überschritten; das möchte ich ganz deutlich postulieren. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir müssen die Vielfalt unserer genetischen Ressourcen an landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen er- halten. Unseren Landwirten und Züchtern müssen sie auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns der Bedeutung dieses Themas voll bewusst. Ministerin Aigner hat bereits Mitte vergangenen Jahres zu einem runden Tisch zum Thema Biopatentierung mit Vertretern von Landwirtschaft, Industrie und Verbraucherschutzor- ganisationen eingeladen. Ich halte es für wichtig, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen. Der Beirat für Biodiversität und genetische Ressour- cen beim BMELV wurde gebeten, eine Analyse der zu erwartenden Auswirkungen der Biopatentierung auf Landwirtschaft und Züchtung durchzuführen. Das ange- forderte Gutachten wird bereits in den nächsten Tagen vorliegen. Wie ich gehört habe, wird es am kommenden Mittwoch der Ministerin übergeben und der Öffentlich- keit vorgestellt. Ich bin gespannt. Mitte Juli wird vor der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes eine Anhörung zum be- reits erwähnten Brokkoli-Patent stattfinden. Dort soll ge- klärt werden, welche technischen Schritte ausreichend bzw. notwendig sind, um aus einem nicht patentierbaren – ich zitiere – „im Wesentlichen biologischen Verfahren“ ein patentierbares „technisches Herstellungsverfahren“ zu machen. Ich schlage vor, das Gutachten des Beirats für Biodi- versität und die Anhörung zum Brokkoli-Patent zunächst abzuwarten und aus den Ergebnissen dann die nächsten Schritte abzuleiten. Zwei Fragestellungen werden dabei in den kommen- den Wochen und Monaten im Mittelpunkt stehen. Erstens. Ab wann ist ein Verfahren überhaupt paten- tierbar? Zweitens. Die Reichweite eines Patents ist ebenfalls eine elementare Frage. Wie weit also darf sich der abge- leitete Stoffschutz eines Verfahrenspatents überhaupt er- strecken? Müssen die Nachkommen eines mittels des pa- tentierten Verfahrens erzeugten Tieres oder einer entsprechenden Pflanze vom Schutz des Patents erfasst sein? Die Kernbotschaften der heute zur Debatte stehenden Anträge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, sich gegen eine Patentierung von Pflanzen und Tieren starkzumachen, stehen in weiten Teilen im Ein- klang mit der Position der Regierungskoalition – und auch meiner persönlichen Position. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Daher plädiere ich – trotz der unterschiedlichen Vor- stellungen zu Nutzung und Einsatzmöglichkeiten der Biotechnologie; hier gab es ja oft genug Dissens – aus- drücklich für einen breiten Konsens innerhalb des ge- samten Hauses, der eine klare Grenze – ich sage es noch einmal – zwischen Erfindungen als geistigen Leistungen und Entdeckungen von natürlichen Ressourcen in Form von Genen zieht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sollten die Positionen zu einem fraktionsüber- greifenden Antrag bündeln. Das ist heute mein Vor- schlag. Herr Miersch, ich nehme gern die Einladung an, das gemeinsam zu tun. Wir liegen in der Zielprojektion sehr nahe beieinander. Dies wäre nicht nur ein wichtiges Signal gegenüber der Öffentlichkeit. Ein gemeinsamer Antrag würde auch die Position Deutschlands in dieser Frage auf EU-Ebene stärken und könnte eine Signalwir- kung haben, um dann erforderliche Änderungen des eu- ropäischen Rechts anzustoßen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lehmer, ich danke Ihnen für Ihre Positionierung und auch für Ihre Rede. Sie haben im Verhältnis zum Kollegen Harbarth etwas abgerüstet. Ich glaube, das ist auch im Hinblick auf die notwendige gemeinsame Zielfindung in diesem Bereich vernünftig gewesen. Meine Damen und Herren, wer die Schöpfungsge- schichte im 1. Buch Mose gelesen hat, der weiß, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Er hat uns auch beauftragt: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5335 Dr. Wilhelm Priesmeier (A) (C) (D)(B) … füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vö- gel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht. Da steht nichts vom Europäischen Patentamt. Gott sei Dank! (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Aber aus diesen Worten wird vielleicht deutlich, dass wir eine ethische Verantwortung für all unser Tun und all un- ser Handeln tragen, für den verantwortungsvollen Um- gang miteinander, aber auch für den verantwortungsvol- len Umgang mit unserer Umwelt und mit unseren Mitgeschöpfen. Das sollten wir in dieser Debatte und ge- rade auch in der Auseinandersetzung über die Frage der Biopatente immer im Blick behalten. Die Debatte hier wird von einem großen Grundkon- sens getragen. Ich sehe durchaus die Möglichkeit, etwas Gemeinsames zu formulieren und einen gemeinsamen Beschluss zu fassen. Es wäre sicherlich auch für unsere deutsche Position im Hinblick auf die europäische Rechtsetzung hilfreich, wenn wir mit einer Stimme spre- chen würden. Ich gebe zu: Die Rechtsmaterie ist recht kompliziert. Ich bin Tierarzt und kein Jurist. Aber nehmen wir einmal ein Beispiel aus der Praxis: In den 60er- und 70er-Jahren haben wir große Fortschritte bei der Verbesserung der Mastleistung von Schweinen erreicht. Insbesondere wurde ein hoher Magerfleischanteil erreicht. Kollege Holzenkamp könnte uns, wenn er da wäre, sagen, wie wichtig das ist. Wir hatten aber auch Probleme: Wässri- ges Fleisch schrumpfte beim Erhitzen in der Pfanne um die Hälfte; das kennen Sie alle noch. Schweine sind zwar nicht serienweise, aber häufig aufgrund von Kreislauf- problemen umgefallen und verendet. Ein typisches Symptom für mich in der Behandlung war das Bananenschwein; es war aufgrund einer Mus- keldegeneration immer ein wenig gekrümmt. Ursache dafür war ein Gen, das man nicht genau bestimmen konnte. Es gab aber ein einfaches Verfahren: Die Tiere wurden mit Halothan narkotisiert, und dann wurde ge- schaut, wie sie reagieren. Daran konnte man feststellen, ob das Tier eine positive oder eine negative Entwicklung nehmen würde. Hätte jemand dieses Verfahren patentie- ren lassen, hätte er ein Durchgriffsrecht bekommen, das ihn am Umsatz eines jeden Schnitzels und Bockwürst- chens beteiligt hätte. Der Verbraucher hätte dafür an der Ladentheke unter Umständen die nächsten 20 Jahre ei- nen höheren Preis bezahlen müssen, während der Erfin- der zugleich in ganz entscheidender Weise die Zuchtrichtung in Europa hätte mitbestimmen können. An diesem einfachen Beispiel wird deutlich, welche Tragweite Biopatente für unsere Ernährung und unsere Lebensmittel entfalten können. Lebensmittel sind ja ein Mittel zum Leben und aus diesem Grunde nicht allein ökonomischen Interessen preiszugeben. Dass das nicht geschieht, dafür tragen auch wir die Verantwortung. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Kern muss es darum gehen, dass auch zukünftig alle Züchter das tun können, was sie bereits seit Jahrhun- derten tun, nämlich die Eigenschaften von Pflanzen und Tieren so zu verbessern, dass ihr Nutzen zum Wohle al- ler zunimmt. Das setzt einen Wettbewerb aller Züchter untereinander voraus, und nicht nur zwischen einzelnen Züchtern, die sich Patente gesichert haben. Die Zucht war und ist immer eine große kulturelle Leistung. Diese sollte man nicht kleinreden, auch wenn es natürlich sinn- volle Regelungen für die Wahrung des geistigen Eigen- tums geben muss. Wir stehen nun vor großen Herausforderungen. Wir müssen die Produktivität der Tiere und der Nutzpflanzen bis 2050 um mindestens 70 Prozent verbessern. Im Hin- blick auf den Klimawandel haben wir Sorge dafür zu tra- gen, dass standortangepasste Sorten entwickelt werden. Hierzu muss auch die Gelegenheit gegeben werden; das darf nicht mit globalen Patenten verhindert werden. Vielmehr muss jeder einzelne Züchter die Gelegenheit haben, das Zuchtprodukt, das gerade jemand vor ihm er- reicht hat, weiter zu verbessern. In diesem Bereich darf es keinen Ausschließlichkeitsanspruch geben. Dafür be- nötigen wir einen verlässlichen und eindeutigen Rechts- rahmen. Bei der Umsetzung der Biopatentrichtlinie ist sicher- lich nicht alles optimal gelaufen. Wir sollten aber dafür Sorge tragen, dass weiterhin gerade das Züchterprivileg und das Landwirteprivileg – für diesen Bereich können und wollen wir ja Politik gestalten – erhalten bleiben. Patente an sich bedeuten ein Monopol auf Zeit für eine befristete oder ausschließliche Nutzung. Das kann natür- lich von Dritten genutzt werden, aber nicht jeder ist dazu in der Lage. Man muss das Augenmerk beim Patentrecht nicht nur auf die europäische Ebene und die europäische Land- wirtschaft richten, sondern auch darüber hinaus. Unter Umständen sind Züchter nicht in der Lage, die Patentge- bühren zu bezahlen. Wer heute erfahren hat, wie teuer es sein kann, ein Patent anzumelden, der weiß nun, dass man dafür viel Kompetenz und viel Geld braucht. Davon kann man die Entscheidung im Patentrecht letztendlich aber nicht ausschließlich abhängig machen. Da heute 70 Prozent der Biopatente von den zehn größten Unter- nehmen angemeldet werden, muss man darüber nach- denken, inwieweit das zur Monopolisierung der Pflan- zen- und Tierzucht beiträgt. Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es uns nach der Entscheidung am 20. Juli 2010 gelingen wird, gemeinsam eine Position zu finden, die wir weiter- entwickeln können und die allen nutzen wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 5336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan von der FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir bei dieser die Menschen im Lande be- wegenden Frage, bei dieser Frage, die einen bedeuten- den ethischen Hintergrund hat, zu einer vergleichsweise großen Gemeinsamkeit gefunden haben. Ich denke, dass damit die Voraussetzung dafür gegeben ist, dass wir ei- nen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringen. Ich be- danke mich dafür. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Ich bedanke mich auch für das Beispiel, das Kollege Priesmeier genannt hat. Es hat uns verdeutlicht, worum es geht. Ich bedanke mich auch für den Beitrag des Kol- legen Lehmer, der die ganze Palette beschrieben hat. Was uns im Zusammenhang mit der Biopatentrichtli- nie und deren Umsetzung stört, ist die Tatsache, dass im- mer mehr Anstrengungen unternommen werden, mit ju- ristischen Methoden Minierfindungen rechtlich abzu- sichern, statt mit naturwissenschaftlichen Methoden neue Erfindungen zu erdenken. Genau das wollen wir anders haben. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir sind uns aber auch darüber einig – das ist in den Beiträgen deutlich geworden –, dass wir auch in Zukunft Patente brauchen. Wir brauchen den Schutz geistigen Ei- gentums bei biotechnologischen Erfindungen. Vor die- sem Hintergrund möchte ich noch einmal deutlich ma- chen: Es geht nicht um „Kein Patent auf Leben!“. Mit diesem Schlachtruf vermitteln wir genau die falsche Bot- schaft. Es gibt kein Patent auf Leben. Niemandem ist es gelungen, eine chemische Verbindung zum Leben zu er- wecken. Es gilt: Omne vivum ex vivo. Alles Leben ent- steht aus Leben, (Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]) und deswegen kann Leben nicht patentiert werden. Da- rüber sind wir uns alle, glaube ich, einig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]) Gleichzeitig sollte man einmal sagen: Es ist nicht sinnvoll, dass wir als eine erfindungsreiche Nation Pa- tente stigmatisieren. Wir haben seit circa 130 Jahren Patente auf Lebewesen. 1873 erhielt Louis Pasteur das Patent auf Bäckerhefe. Wir haben inzwischen mehrere Tausend Patente auf Mikroorganismen, und zwar nicht nur auf Bakterien, sondern auch auf Pilze, beispielsweise auf Hefen. Mit Hefen kann man verschiedene Sachen machen: Abends trinken Sie das Bier oder den Wein – da sind die Hefen mit dabei –, und morgens haben Sie ein Brötchen gegessen; da ist die Hefe auch dabei. Sie spielt eine Rolle beim Thema CO2, man kann Bioethanol da- raus herstellen usw. Es gibt also viele verschiedene He- fen. Eine ganze Reihe von ihnen ist patentiert, damit die Erfindung bewahrt wird. Wir müssen sagen: Das wollen wir weiterhin so haben. Wir wollen auch, dass die Krebsmaus als Instrument zur Erforschung von Krebs und für die Ermittlung von Heilmitteln genutzt wird. Das ist aber etwas ganz ande- res als das, was beispielsweise mit einem Schnitzelpa- tent versucht wird. Das wollen wir alle miteinander nicht. Die Studie „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäfti- gungspotenziale der Biotechnologie in Deutschland“, die von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie zusammen mit dem Fraunhofer-Institut, der Hans-Böckler-Stiftung und der Industrievereingung Bio- technologie vorgelegt wurde, sagt uns ganz deutlich, dass wir erhebliche Potenziale haben. Es gilt, was im Fa- zit steht: Die Biotechnologie ist eine ausgesprochene Spitzen- und Wachstumstechnologie. Sie schafft Ar- beitsplätze. Dafür muss die Rote, Weiße und Grüne Bio- technologie in ihrer gesamten Bandbreite forciert ange- wendet werden. Um die Erfindungshöhe zu halten, brauchen wir Pa- tente. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Poli- tiker, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der unseren Anforderungen genügt. Wir wollen nur Erfindungen mit einer bestimmten Erfindungshöhe und keine Kleinigkei- ten patentieren. Herkömmliche Verfahren und Produkte aus herkömmlichen Verfahren wollen wir nicht patentie- ren; das ist zurzeit der Fall. Wir wollen sicherstellen, dass wir weiterhin ein Land sind, in dem es Innovationen gibt, die zum Wohle der Menschen angewendet werden, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in an- deren Ländern. Zur Bewältigung der Herausforderungen im Bereich des Klimawandels und der Welternährung brauchen wir entsprechende Erfindungen. Ich glaube, dass wir auf ei- nem guten Weg sind, wenn wir uns über unsere Positio- nen in dieser rechtlich ausgesprochen schwierigen Frage austauschen und zu einem gemeinsamen Beschluss kom- men. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2016 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Vorlage auf Drucksache 17/2141 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktio- nen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5337 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) (D)(B) beim Rechtsausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Er- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Agrarausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge- genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Federführung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Berichts des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2009 – Drucksache 17/2100 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider- spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- schlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nerin der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Kersten Steinke von der Fraktion Die Linke, das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Kersten Steinke (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver- ehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss- dienstes! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit nunmehr 61 Jahren ist der Petitionsausschuss die zentrale Einrichtung unseres Parlaments für die Behandlung aller an den Deutschen Bundestag gerichteten Bitten und Be- schwerden aus der Bevölkerung. Trotz aller Klagen über eine in Deutschland grassierende Politikverdrossenheit wurden 2009 18 861 Petitionen von den Bürgerinnen und Bürgern eingereicht. Diese Zahl macht deutlich, welch enormes Vertrauen unserem Parlament und somit uns Abgeordneten entgegengebracht wird. Verstärkt wird diese Tatsache dadurch, dass sich hinter dieser Zahl von 18 861 Einzelpetitionen fast 900 000 Unterstützerinnen und Unterstützer von Massen- und Sammelpetitionen verbergen. Noch beeindruckender sieht das Bild aus, wenn man die Nutzung unseres Internetportals betrachtet. 525 000 Nut- zer haben sich allein im Berichtsjahr registrieren lassen. Es gab über 1 Million Mitzeichnungen von öffentlichen Petitionen, und circa 60 000 Diskussionsbeiträge wur- den abgegeben. Am Montag, also vor drei Tagen, haben wir in einer öffentlichen Sitzung über die wirtschaftli- che Lage der Hebammen beraten, die sich mit der Re- kordzahl von 180 000 Unterstützerinnen und Unterstüt- zern an das Parlament gewandt haben. Bereits im Februar hatten wir es mit einer ähnlich hohen Zahl von Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern zu tun, als wir die im Berichtsjahr 2009 eingegangene Petition zum Thema Internetsperren behandelten. So erfreulich die Entwick- lung dieses Portals auch ist und so sehr wir es begrüßen, dass auf diese Weise die Petitionsmöglichkeiten in der Bevölkerung besser bekannt werden, dürfen wir nie ver- gessen: Unser Kerngeschäft bleibt die herkömmliche Pe- tition, die persönliche Bitte und Beschwerde. Der Einzelpetent, der keine Unterstützer an seiner Seite hat, wird von uns genauso ernst genommen und seine Eingabe wird genauso sorgfältig geprüft und bear- beitet wie die Masseneingabe mit 100 000 oder mehr Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern. (Beifall im ganzen Hause) Erwähnen möchte ich an dieser Stelle den Polizisten, der seiner erkrankten Ehefrau eine Niere spenden wollte und der zunächst die Auskunft erhielt, danach den Polizei- dienst nicht mehr ausüben zu dürfen. Der Petitionsaus- schuss konnte hier wie auch in den folgenden Beispielen helfen. In weiteren Petitionen ging es um die bessere Aus- wahl einer passenden Rehabilitationsklinik für ein be- hindertes Kind, die nachträgliche Zuerkennung einer Er- werbsminderungsrente oder die Anerkennung von Kindererziehungszeiten für 13 Pflegekinder, die die Pe- tentin neben ihren eigenen vier Kindern im Laufe der Jahre in ihrer Familie aufgenommen hatte. Meine Damen und Herren, zu Beginn habe ich von Vertrauen gesprochen, das Petentinnen und Petenten uns entgegenbringen. Dieses Vertrauen müssen wir aber auch durch sorgfältige Arbeit rechtfertigen. Doch angesichts der großen Zahl von Petitionen ist es nicht einfach, das große Arbeitspensum immer in angemessener Zeit zu er- ledigen. Dies geht nur mit einer ausreichenden organisa- torischen und materiellen Ausstattung sowie mit qualifi- ziertem und hochmotiviertem Personal. Auf dieses Personal des Petitionausschussdienstes und der Fraktio- nen können wir Abgeordneten uns jederzeit verlassen. Gerade unsere öffentlichen Petitionen bedürfen eines höheren Betreuungs- und Arbeitsaufwandes, welcher den Ausschussdienst oft an die Grenzen der Kapazität bringt. Ich möchte mich deshalb besonders bei den Mit- arbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschuss- dienstes unter Leitung Herrn Haases recht herzlich be- danken und den Wunsch und die Hoffnung äußern, dass die Zusammenarbeit weiterhin so gut bleibt, wie sie jetzt ist. (Beifall im ganzen Hause) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ausgesprochen är- gerlich sind bei der hohen Arbeitsbelastung und den knappen Ressourcen Posteingänge von einigen wenigen Petenten, die sich mit großer Regelmäßigkeit an den 5338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Kersten Steinke (A) (C) (D)(B) Ausschuss wenden, und zwar nicht mit persönlichen An- liegen, sondern mit Bitten höchst allgemeiner Art. Selbstverständlich gilt auch für diesen Personenkreis das Recht aus Art. 17 des Grundgesetzes. Art. 17 besagt, dass jedermann das Recht hat, sich mit Bitten und Be- schwerden an die zuständigen Stellen und an die Volks- vertretung zu wenden. Wenn aber eine einzelne Person monatlich bis zu 100 Petitionen an uns sendet, stellt sich schon die Frage nach einer Missbrauchsgrenze für die Ausübung des Petitionsrechtes. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Der Petitionsaus- schuss wurde geschaffen, um bedrängten Menschen mit zum Teil existenziellen Problemen beizustehen. Selbst hierfür ist die uns zur Verfügung stehende Arbeitszeit eher knapp bemessen. Schriftverkehr als Beschäfti- gungstherapie gehört nicht dazu. Wenn also ein Petent gerne seinen Geburtstag im Bundeskanzleramt feiern möchte oder ein anderer Blondinenwitze verbieten las- sen will, so gehört das für uns ausdrücklich nicht in die Kategorie wirkliche Sorgen und Nöte der Menschen. (Beifall im ganzen Hause) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in 17 Sitzungen im Jahr 2009 wurden vom Petitionsausschuss rund 7 000 Pe- titionen abschließend behandelt. In 13 Berichterstatter- gesprächen haben wir uns mit Petitionen zu Themen wie die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, die Rechtsstellung der Beamten oder dem Dauerbrenner Lärmschutz beschäftigt. Gerade diese aufwendigen Beratungen mit Vertretern der Bundesregierung sind für uns in besonderer Weise geeignet, Hilfen im Einzelfall auszuloten. Es ist eben nicht damit getan, an die jeweils zuständigen Institutio- nen eine Anfrage zum Sachverhalt zu senden und deren Stellungnahme dann als unabänderliche Tatsache hinzu- nehmen. Die Mitglieder des Ausschusses sehen ihre Aufgabe darin, alles nur Machbare im Interesse der Pe- tentinnen und Petenten zu erreichen. Dabei nutzen wir alle Möglichkeiten, die dem Petitionsausschuss zur Ver- fügung stehen. Diese reichen von der unmittelbaren Ein- bindung von Vertretern der Bundesregierung im Rahmen der Berichterstattergespräche über die Durchführung öf- fentlicher Anhörungen bis hin zu einem Ortstermin. All dies hilft den Mitgliedern des Petitionsausschusses, sachkundige Entscheidungen zu fällen. Meine Damen und Herren, 6 552 Bitten und Be- schwerden konnten 2009 durch Rat, Auskunft oder Über- sendung von Materialien erledigt werden. 1 316 Anliegen wurden vom Petitionsausschuss positiv beschieden. Etwa 600 Petitionen überwies der Deutsche Bundestag auf Vorschlag des Ausschusses an die Bundesregierung mit der Bitte, für Abhilfe zu sorgen. Kritisch anmerken möchte ich in diesem Zusammen- hang, dass wir nicht über alle Berichte der Bundes- regierung glücklich sind, mit denen sie auf unsere Abhil- feersuchen antwortet, und dass wir uns in vielen Fällen eine zügigere Beantwortung von Anfragen wünschen. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Regierung viel- leicht zu sehr verdrängt, dass es sich bei diesen Abhil- feersuchen um Beschlüsse des gesamten Bundestages handelt und dass es nicht nur die Wünsche einzelner Op- positionsfraktionen sind. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jahresbericht des Petitionsausschusses belegt eindrucksvoll, welche Probleme und Sorgen die Menschen in unserem Land haben. Mit gut 20 Prozent der Eingaben ist das Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales das am stärksten betroffene Ressort. Dabei waren die dominierenden Themen die Grundsicherung für Arbeitsuchende in all ihren Facetten und Eingaben zur Rente. Den zweiten Platz – mit der größten Steigerungsrate im Vergleich zum Vorjahr – belegen Eingaben aus dem Geschäftsbe- reich des Bundesministeriums der Justiz. Die Hauptpro- blemfelder sind hier Eingaben zum Unterhalts- und Scheidungsrecht sowie zu Privatinsolvenzverfahren. Es folgen mit je 10 Prozent der Eingaben die Geschäftsbe- reiche des Bundesministeriums des Innern und des Bun- desministeriums der Finanzen und schließlich mit fast 10 Prozent der Bereich des Bundesministeriums für Ge- sundheit. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es gibt viel Ar- beit. Ich möchte deshalb besonders das Engagement her- vorheben, mit dem die Mitglieder unseres Ausschusses um die bestmögliche Lösung für die Petentin oder den Petenten ringen. Eine Antwort aus den Ministerien oder deren untergeordneten Behörden wird nicht einfach hin- genommen, sondern hinterfragt. (Beifall bei der LINKEN) So haben sich in vielen Fällen, obwohl sie beim ersten Ansehen als aussichtslos eingestuft worden waren, Lö- sungen gefunden, die den Petenten wieder Hoffnung ga- ben, sodass diese Fälle in deren Sinn doch noch positiv abgeschlossen werden konnten. Es gab auch immer wie- der Fälle, bei denen bereits bestehende Gesetze aufgrund von Petitionen überarbeitet werden mussten, da mögli- che Härtefälle im Vorfeld nicht bedacht worden waren. Das sind die Erfahrungen, bei denen wir stolz auf das Er- reichte sind. Leider kann ich nicht verschweigen, dass es schon traurig stimmt, wenn wir in manchen Situationen fest- stellen müssen, dass uns bedauerlicherweise die Hände gebunden sind und wir kein positives Votum abgeben können. Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich nochmals betonen: Art. 17 und Art. 45 c des Grundge- setzes sind nicht irgendwelche Artikel von vielen, son- dern die Rechtsgrundlage für unsere Tätigkeit. Das ist unser Auftrag, und um diesen zu erfüllen, erwarten wir die uneingeschränkte Kooperation der von uns angerufe- nen Stellen. Wir werden nicht lockerlassen und immer wieder nachhaken, wenn es um die Petentinnen und Pe- tenten geht, die sich voller Vertrauen an uns, an den Bundestag, und an die Bundesregierung gewandt haben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die kommen- den Jahre erhoffe ich mir von den Mitgliedern unseres Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5339 Kersten Steinke (A) (C) (D)(B) Parlaments weiterhin eine über alle Fraktionsgrenzen hi- nausgehende konstruktive Zusammenarbeit, so wie wir es im Petitionsausschuss in den meisten Fällen praktizie- ren. Meinen schon nicht mehr ganz neuen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss möchte ich sagen, dass ich mich auf die gut begonnene Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode auch in den kommenden Jahren freue. Herzlichen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Baumann von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Günter Baumann (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade in den letzten Tagen haben sich Peten- ten bei uns bedankt. Da Dank bei uns Abgeordneten nicht allzu oft vorkommt – Dank tut gut –, möchte ich mit der Schilderung folgenden Beispiels beginnen: An- wohner einer schönen Wohngegend in Zossen-Wüns- dorf, Brandenburg, beschwerten sich im April 2008 beim Petitionsausschuss des Bundestages über Lärmbe- lästigungen durch Diesellokomotiven, die in der Nähe ihrer Wohngebäude abgestellt worden waren. Seit einer Fahrplanumstellung der Bahn im Jahre 2006 werden diese Lokomotiven verändert abgestellt, und deren Ag- gregate laufen am Tag und nachts, sodass die Anwohner nicht schlafen können. Die Petenten wandten sich zu- nächst an die Bahn. Es gab eine Reihe von Gesprächen – ohne jede positive Reaktion. Der Petitionsausschuss hat 2009 fraktionsübergrei- fend beschlossen, die Petition dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Erwägung zu überweisen – ein sehr hohes Votum. Wer dachte, dass sich nun etwas bewegt, hat sich natürlich geirrt. Wir ver- mochten zu erkennen, dass es Alternativen gibt. Das Ministerium hat uns die Antwort der Bahn mitgeteilt, man sehe keine Alternativen. Diese Antwort akzeptier- ten wir nicht. Am 3. Mai dieses Jahres führten wir in Wünsdorf einen Ortstermin durch. Trotz Regens und schlechten Wetters haben wir dort alles besichtigt und gesagt: Es gibt garantiert Möglichkeiten, die Lokomoti- ven anders abzustellen. Uns war klar: Die Petenten ha- ben keinen rechtlichen Anspruch auf Lärmschutz, da es sich um keine Neubaustrecke handelt. Trotzdem waren wir, speziell nach dem Ortstermin, der Meinung: Es gibt Möglichkeiten. In dem Gespräch vor Ort mit Petenten und der Bahn haben wir festgestellt: Die Bahn bewegt sich keinen Zentimeter und rückt von ihrer Meinung nicht ab. Wir haben deutlich gemacht, dass wir dies nicht akzeptieren, und haben die Angelegenheit nicht für erledigt erklärt. Diese Woche teilten die Petenten dem Petitionsaus- schuss mit, der Ortstermin habe offensichtlich Wirkung gezeigt, die Züge würden anders abgestellt. Es gibt für die betroffenen Bürger im Prinzip keine Lärmbelästi- gung mehr. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Ich denke, ein solches Beispiel zeigt deutlich: Es geht nicht nur um Gesetzesänderungen; wir müssen nicht im- mer hier im Plenum irgendetwas ändern. Es geht darum, Wege zu suchen, mit den Petenten und den zuständigen Ministerien Lösungen oder zumindest Kompromisse zu finden. Ein zweites Beispiel verdeutlicht das noch eindrucks- voller. Einem dienstunfähigen Oberstleutnant der Bun- deswehr war die Fortführung seines Studiums an einer staatlichen Landesuniversität versagt worden. Mit einem hohen Votum konnten wir erreichen, dass er das Studium fortsetzen konnte. Darüber hinaus hat das Verteidigungs- ministerium die Petition zum Anlass genommen, für die Universitäten der Bundeswehr eine generelle Festlegung zu treffen, dass dienstunfähige Soldaten und Offiziere ihr Studium fortsetzen können. Die beiden beliebig herausgegriffenen Beispiele aus dem letzten Jahr zeigen, dass wir im Ausschuss mit Hartnäckigkeit eine Menge für die Bürgerinnen und Bür- ger erreichen können. Immerhin sind im letzten Jahr rund 50 Prozent der Petitionen positiv ausgegangen: In 7 Prozent der Fälle haben wir dem Anliegen direkt ent- sprochen. In 4 Prozent der Fälle haben wir ein hohes Vo- tum an die Adresse der Bundesregierung erzielt. In den meisten Fällen konnten wir damit etwas bewegen. In 39 Prozent der Fälle haben wir den Petenten mit Rat, Auskunft oder Materialübersendung geholfen. Die Bearbeitung von Petitionen ist ein wichtiges Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, das gut angenommen wird. Wir stellen uns dieser Auf- gabe. Die Vorsitzende sprach davon: Im letzten Jahr gin- gen fast 19 000 Petitionen ein. Man muss sich eine wei- tere Zahl auf der Zunge zergehen lassen: Täglich gehen 75 neue Petitionen im Bundestag ein. Die Zahl der Peti- tionen, die bearbeitet werden müssen, ist schon gewaltig. Die Vorsitzende hat bereits auch diese Zahl genannt: Im vergangenen Jahr haben sich 2 Millionen Bürgerinnen und Bürger durch Einreichung von Petitionen und Mas- senpetitionen sowie Mitunterzeichnung, auch im Inter- net, in irgendeiner Art am Petitionswesen beteiligt. Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu der Frage, wie die Petitionen in Deutschland verteilt sind. Trotz eines Rückgangs stellen wir nach wie vor fest, dass die meis- ten Petitionen aus den neuen Bundesländern kommen. Spitzenreiter ist Brandenburg mit 1 504 Petitionen im Jahr; das sind 598 Petitionen auf eine Million Einwoh- ner. Auf den folgenden Plätzen liegen Berlin, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpom- mern. Nun kann man natürlich wieder sagen: Die Ossis meckern am meisten. Aber ganz so einfach ist es eben doch nicht. Es gibt in den neuen Bundesländern eine Reihe von Problemen, die im Einigungsvertrag nicht komplett geregelt werden konnten und die heute nach wie vor bestehen. Zum Beispiel haben wir uns mit einer ganzen Reihe von Rentenfällen oder offenen Vermö- 5340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Günter Baumann (A) (C) (D)(B) gensfragen – Probleme mit der Treuhand, die noch heute bestehen – in den neuen Bundesländern beschäftigt, die es in den alten Bundesländern nicht gibt. Zwei weitere Zahlen: Der Ausschuss hat im letzten Jahr insgesamt über 17 000 Petitionen bearbeitet – auch das ist eine beachtliche Zahl –; in Ausschusssitzungen waren es durchschnittlich 30 Petitionen. An dieser Stelle sage ich einen herzlichen Dank an alle Abgeordneten im Ausschuss, die wöchentlich in ih- ren Büros mindestens zehn, manchmal bis zu 30 Petitio- nen – bei Klaus Hagemann und mir sind es meist noch ein paar mehr – bearbeiten müssen, und dies neben ihrer Arbeit in mindestens einem zweiten oder gar einem drit- ten Ausschuss. Das muss an dieser Stelle einmal gewür- digt werden. (Beifall im ganzen Hause) Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen im Ausschuss auch für das überwiegend gute und kollegiale Miteinander herzlich bedanken. Man merkt ständig: Im Mittelpunkt steht das Problem, um das wir uns kümmern wollen, und nicht der Parteienstreit. (Beifall im ganzen Hause) An dieser Stelle richte ich im Namen der CDU/CSU- Bundestagsfraktion einen besonderen Dank an die Mit- arbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes. Die Vorsitzende sprach bereits davon: Ohne die Arbeit des Ausschussdienstes könnten wir unsere Arbeit nicht durchführen. Wir brauchen eine kompetente und sachli- che Vorarbeit, sonst würde vieles nicht funktionieren. (Beifall im ganzen Hause) Natürlich muss es der Ausschussdienst auch aushalten können, wenn wir Abgeordnete manchmal eine ganz be- sondere Meinung haben, die nicht der des Ausschuss- dienstes entspricht. Aber so sind halt die Abgeordneten. Mit der Einführung des Systems der öffentlichen Peti- tionen im Herbst 2008 haben wir eine neue Form der Pe- tition gefunden, die sich bewährt hat. Eine Reihe von Abgeordneten – auch ich gehörte damals dazu – hatte Angst vor starkem Missbrauch. Die Befürchtungen sind bisher nicht eingetreten. Die Bürger sind klug genug, das Angebot ordentlich zu nutzen. Wir haben damit einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Politikverdrossenheit geleistet. Es tut jedem Abgeordneten gut, wenn er nach einer öffentlichen Sitzung mit einem Petenten ins Gespräch kommt und der Petent sich dafür bedankt, dass er nach Berlin kommen durfte und sein Anliegen vortragen konnte. In vielen Fällen können wir nicht helfen; aber dass sie in Berlin waren und mit uns gesprochen haben, ist für sie ein besonderes Ereignis. Dafür sind sie dank- bar. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Günter Baumann (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss. – Wir haben eine Reihe be- sonderer Befugnisse, was uns ermöglicht, uns ein inten- sives Wissen anzueignen. Es gibt Ortstermine und Berichterstattergespräche, die wir stark nutzen. Im Ex- tremfall erhalten wir Akteneinsicht. Das ist für unsere Arbeit wichtig. Wir stehen mit unserer Tätigkeit nicht immer im Mittelpunkt des Parlaments, aber mit unserer geräuschlosen Arbeit erreichen wir die Bürger und erzie- len dadurch eine Reihe von Erfolgen. Wir können viele Probleme lösen, aber nicht alle. Ich habe mit einem Beispiel begonnen, ich möchte mit einem Beispiel enden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber bitte sehr kurz, Herr Kollege, Sie haben schon deutlich überzogen. Günter Baumann (CDU/CSU): Wenn sich zum Beispiel ein Petent an uns wendet und uns auffordert, man möge in Deutschland alle Autos gelb spritzen, (Stephan Thomae [FDP]: Sympathische Farbe!) weil damit die Wirtschaft angekurbelt und die Verkehrs- sicherheit erhöht würde, können wir dem natürlich nicht stattgeben. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der nächste Redner ist der Kollege Stefan Schwartze für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan Thomae [FDP]) Stefan Schwartze (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen des Petitionsberichtes 2009 sind beeindru- ckend. Wieder sind fast 19 000 Petitionen an den Deut- schen Bundestag gerichtet worden. Um einen Vergleich zu nennen: Das entspricht der Einwohnerzahl meiner Heimatstadt Vlotho. Es ist also wirklich beeindruckend. Dass so viele Menschen dem Petitionsausschuss des Bundestages ihr Vertrauen entgegenbringen, ist ein gro- ßer Erfolg. Als neues Mitglied habe ich schnell gemerkt, was die Mitgliedschaft im Petitionsausschuss vor allem bedeutet: tiefe Einblicke und Erfahrungen in die ganz persönlichen Lebensbereiche und Schicksale von Menschen in unse- rem Land, Erfahrungen, die man sonst nicht gewinnen kann und die einen oft persönlich berühren. Diese Viel- zahl von persönlichen Schicksalen und Problemen, aber auch die Vielzahl von Ideen und Anregungen der Bürge- rinnen und Bürger sorgen dafür, dass man sich als Abge- ordneter immer wieder mit neuen Themen befasst. Als Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5341 Stefan Schwartze (A) (C) (D)(B) Mitglied des Petitionsausschusses kann man sich über Arbeitsmangel nicht beklagen. Der Ausschuss ist mehr als der Kummerkasten der Nation. Er gewährt einen Blick darauf, welche Sorgen die Menschen haben und an welchen Stellen Probleme in unserer Gesellschaft entstehen. (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist die ureigene Aufgabe der Politik, diese Sorgen zu erkennen und den Menschen zu helfen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben das Petitionsrecht daher nicht nur fest im Grundgesetz verankert, sondern sie ha- ben auch dafür gesorgt, dass der Petitionsausschuss als Verfassungsausschuss einen hervorgehobenen Rang im Bundestag genießt. Es ist unsere Aufgabe als Mitglieder dieses Ausschus- ses, die hohen Ansprüche zu erfüllen. Dazu gehört auch, dass wir das Petitionsverfahren ständig weiterentwi- ckeln, wie dies zuletzt bei der Einführung der E-Petition im Jahr 2008 erfolgt ist. Die Zahlen des Onlineportals zeigen deutlich, dass der Petitionsausschuss den Sprung in die neuen Medien geschafft hat. Dies ist deswegen so wichtig, weil dadurch der jungen Generation das Peti- tionsrecht nahegebracht wird. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Erfolg sollte uns darin bestärken, das Petitions- recht auch zukünftig populärer und leichter zugänglich zu machen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben daher die An- regung des Deutschen Kinderhilfswerks aufgenommen, Kindern und Jugendlichen den Zugang zum Petitions- ausschuss im Internet zu erleichtern. Gemeinsam arbei- ten wir an Vorschlägen, wie ein solches Internetportal aussehen könnte. Ein kinder- und jugendgerechtes Peti- tionsportal im Internet ist der richtige Weg, auch die ganz Jungen über ihr Petitionsrecht aufzuklären und sie zu ermutigen, ihre eigenen Probleme oder Vorschläge an den Petitionsausschuss zu richten. Damit können wir frühzeitig für Vertrauen in die Demokratie und ihre ge- wählten Vertreter werben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Wie wichtig es ist, das Petitionsverfahren modern zu präsentieren und neue Verfahren zu ermöglichen, hat eine Petition gezeigt, die für große Aufmerksamkeit und eine breite Debatte gesorgt hat. Es handelt sich dabei um die Petition gegen die Einrichtung von Internetsperren. Nachdem das sogenannte Sperrgesetz vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden war, bildete sich eine breite Protestbewegung derjenigen, die das Internet aus- giebig und regelmäßig nutzen. Besonders junge Bürge- rinnen und Bürger organisierten sich aus Angst vor Zen- sur. Eine Onlinepetition wurde in wenigen Wochen von mehr als 130 000 Mitzeichnern unterstützt, und es kam zur öffentlichen Ausschusssitzung. Dabei wurde deut- lich, dass keine Fraktion dieses Hauses mehr an diesem Sperrgesetz festhält. Das ist ein Musterbeispiel für die positive Entwicklung des Petitionswesens in den vergan- genen Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Durch die Möglichkeit der Mitzeichnung und die öffent- liche Beratung ist es gelungen, die Aufmerksamkeit auf den Petitionsausschuss und seine Arbeit zu lenken. Es ist außerdem gelungen, die Schwächen eines untauglichen Gesetzes zu erkennen. Es ist gewiss kein Zufall, dass unter den am häufigs- ten mitgezeichneten Onlinepetitionen zwei Petitionen sind, die sich mit dem Thema Internet und PC-Spiele be- fassen. Die jungen Menschen, die mit dem Internet auf- gewachsen sind und die neuen Medien ganz selbstver- ständlich nutzen, haben mit der Onlinepetition ein Medium entdeckt, welches ihrer Lebenswelt entspricht. Dass sich die Onlinepetition nicht nur auf diese Gene- ration beschränkt, hat die Petition der Hebammen, die wir in dieser Woche in einer öffentlichen Anhörung be- handelt haben, gezeigt. Dabei ist deutlich geworden, dass durch die Arbeitsbedingungen, die schlechte Be- zahlung und die dramatisch ansteigenden Kosten der Berufshaftpflicht eine ganze Berufsgruppe um ihre Exis- tenz bangt. Es ging um Arbeitsbedingungen, wie sie auf viele Freiberufler zutreffen. Es ist deutlich: Hier muss gehandelt werden. Wir werden hierzu auch eine Initia- tive einbringen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diese öffentliche Petition hat bewiesen, dass durch die Modernisierung des Petitionswesens die Menschen wichtige gesellschaftliche Themen besser auf die politi- sche Bühne bringen können. Die Petition der Hebammen ist ein Musterbeispiel dafür. Der Sprung in die neuen Medien war erfolgreich. Durch die Onlinepetition haben wir viele junge Men- schen erreichen können. Mit Kindern und Jugendlichen wollen wir SPD-Abgeordnete nun eine Zielgruppe errei- chen, die von ihrem Petitionsrecht bisher leider sehr we- nig Gebrauch macht. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir auch in diesem Punkt erfolgreich sein werden. Das Petitionsrecht als Grundrecht ist in diesem Ausschuss in guten Händen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit der letzten Monate bedanken. Ich freue mich auch auf die weitere Arbeit im Ausschuss. Mein ganz besonderer Dank gilt den Mitarbeitern des Ausschussdienstes. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 5342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Stefan Schwartze (A) (C) (D)(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Stephan Thomae. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stephan Thomae (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren des Aus- schussdienstes! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Grundgesetz sieht in seinem Art. 17 vor, dass jedermann sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schrift- lich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung wenden kann. In Art. 45 c regelt das Grundgesetz, dass für die Behand- lung dieser Bitten und Beschwerden ein Petitionsaus- schuss eingesetzt wird. Der Petitionsausschuss ist damit neben dem Auswärtigen Ausschuss, dem Verteidigungs- ausschuss und dem Europaausschuss einer der vier Ver- fassungsausschüsse; Kollege Schwartze hat gerade da- rauf hingewiesen. Diesem Ausschuss kommt in der Architektur der ge- setzgebenden Gewalt eine doppelte Sonderstellung zu: Zum einen ist er neben dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung der einzige Aus- schuss, dem aufseiten der Bundesregierung kein Minis- terium gegenübersteht; wir sind also sozusagen eine rein parlamentarische Veranstaltung. Zum anderen ist der Pe- titionsausschuss diejenige Einrichtung des Bundestages, über die auch der einzelne Bürger direkt und unmittelbar ein Handeln der Volksvertretung auslösen kann. Die Verfassung hatte ursprünglich Einzelbitten und -be- schwerden aus dem persönlichen Lebens- und Erfah- rungsbereich der Menschen im Sinn. Aber es bleibt nicht aus, dass in Petitionen auch Themen aufgegriffen wer- den, die allgemeine oder öffentliche Anliegen zum In- halt haben. Das kommt manchmal in sogenannten Ein- zelpetitionen einzelner Bürger zum Ausdruck, noch viel mehr aber in Mehrfach- oder Sammelpetitionen. Mehrfachpetitionen sind Petitionen mehr oder weni- ger gleichen Inhalts, die mehr oder weniger zufällig und unabhängig voneinander den Bundestag erreichen und dann gemeinsam beraten und behandelt werden. Bei Sammelpetitionen werden für eine bestimmte Petition systematisch Unterschriften gesammelt. Das geschieht seit 2005 – es ist schon darauf hingewiesen worden – im Wesentlichen im Wege der öffentlichen Petitionen, bei denen die Bürger über das Petitionsportal des Internet- auftritts des Deutschen Bundestages die aktuellen öffent- lichen Petitionen einsehen, mitzeichnen und Diskus- sionsbeiträge dazu verfassen können. Dies hat den Charakter des Petitionswesens verändert. Einzelpetitionen oder Mehrfach- und Sammelpetitionen weniger Petenten werden allerdings sowohl vom Aus- schussdienst als auch von uns Abgeordneten genauso ernst genommen und genauso gründlich studiert und be- arbeitet wie Massenpetitionen. Dem Petitionsausschuss ist sehr wohl bewusst, dass die Zahl der Petenten allein noch kein Kriterium für die Relevanz und Signifikanz eines Anliegens darstellt. Der Vorschlag eines einzelnen Petenten kann genauso gut wie ein Vorschlag sein – manchmal auch viel besser –, für den vielleicht durch eine geschickte Kampagne Tausende von Unterschriften gesammelt worden sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Petitionsportal des Bundestages ist ein ausdrück- licher Aufruf an die Bürger, an der politischen Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken und sich konstruktiv politisch-gestalterisch einzumischen. Diese Möglichkeit ist also ein Erfolgsprodukt des Bundesta- ges. Aus dem Ihnen vorliegenden Bericht des Petitions- ausschusses ergibt sich: Im Jahr 2009 – es ist schon da- rauf hingewiesen worden – haben 51 öffentliche Petitio- nen mehr als 2 000 Unterstützer gefunden. Interessant ist, dass die Zahl der Zugriffe auf das Peti- tionsportal des Bundestages höher ist als die Zahl der Aufrufe jeder anderen Webseite des Bundestages, sogar der Hauptseite. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2010 wurde über 31-Millionen-mal auf die Peti- tionsseiten des Bundestages zugegriffen. Das zeigt das große Interesse der Menschen an diesem Instrument. Wenn eine Petition innerhalb von drei Wochen seit Einreichung mehr als 50 000 Unterstützer findet, dann erhält der Petent die Möglichkeit, sein Anliegen den Ab- geordneten in einer öffentlichen Sitzung des Ausschus- ses noch einmal mündlich zu erläutern; der Kollege Baumann hat schon ausgeführt, dass es für die Petenten auch ein besonderes Erlebnis ist, hier in Berlin im Bun- destag aufzutreten. Damit werden Petitionen mehr und mehr zu einem Instrument politischer Teilhabe. Die Erfolgsgeschichte öffentlicher Petitionen ermu- tigt die Regierungsfraktionen, das Petitionswesen wei- terzudenken und weiterzuentwickeln. CDU, CSU und FDP haben deshalb in ihrem Koalitionsvertrag verein- bart, dass Massenpetitionen unter Beteiligung der Fach- ausschüsse im Plenum des Bundestages beraten werden. Damit öffnet sich sozusagen die Kronkammer unserer parlamentarischen Demokratie erstmals direkt und un- mittelbar für Anträge aus der Mitte der Bevölkerung. In Zeiten, in denen sich viele Menschen von der Demokra- tie abwenden, ist es ein gutes Zeichen, dass wir uns ganz ostentativ den Menschen stärker zuwenden und sie in den Deutschen Bundestag hineinnehmen, in dem wir uns wiederum unmittelbar und direkt an die Öffentlichkeit wenden. Trotzdem muss herausgestellt werden: Die eigentli- che Bestimmung des Petitionsrechts ist es natürlich nicht, dass im Wege der Petitionen noch einmal alle poli- tischen Diskussionen wiederholt werden, die ohnehin das Tagesgeschehen bestimmen. Es mag zwar ein Unter- schied sein, ob nur eine Fraktion des Bundestages oder aber 100 000 Bürger eine politische Frage zum Gegen- stand einer parlamentarischen Beratung machen. Aber Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5343 Stephan Thomae (A) (C) (D)(B) das Petitionswesen kann und soll die Tagesordnung des Bundestages nicht bestimmen. Wir wollen bestimmten Petitionen den Weg in die Plenardebatten öffnen. Aber die Voraussetzungen dafür sollen doch so ambitioniert sein, dass der Beratung einer Petition im Plenum ein be- sonderer Ausnahmecharakter anhaftet. Regelfall und Hauptaufgabe des Ausschusses sollten bleiben, sich mit konkreten Bitten und Beschwerden zu beschäftigen, mit denen sich Menschen hilfesuchend an die Volksvertretung wenden. Über alle Fraktionsgrenzen hinweg prüfen die Mitglieder des Petitionsausschusses und des Ausschussdienstes sehr gewissenhaft die Sub- stanz einer jeden Petition. In vielen Fällen holen wir Stellungnahmen der Ministerien ein oder führen zusam- men mit Ministerialbeamten oder gar Staatssekretären mündliche Anhörungen durch. Wir lassen uns Bericht erstatten mit dem Ziel, dass eine Behörde ihre Entschei- dung unter neuen Gesichtspunkten vielleicht noch ein- mal prüft. Aber natürlich haben wir als Ausschuss die Teilung der Staatsgewalten zu respektieren. Der Petitionsaus- schuss ist weder eine Superrevisionsinstanz der Ge- richtsbarkeit noch eine oberste Bundesbehörde. Wir kön- nen der Staatsverwaltung keine Weisungen erteilen. Aber wir können versuchen, Anstöße zu geben. Wir kön- nen Signale aufnehmen. Der Petitionsausschuss ist ein Seismograf des Gesetzgebers. Wir spüren oft als Erste die kleinen und die großen Beben, die eine gesetzgeberi- sche Entscheidung hervorrufen kann, aber auch Pro- bleme, die vielleicht gar nicht auf die Gesetzgebung zu- rückzuführen sind. Ich möchte abschließend auf zwei – für meine Be- griffe sehr spektakuläre – Massenpetitionen hinweisen, nämlich einmal auf die GEMA-Petition, die von einer Petentin aus meinem Wahlkreis Oberallgäu initiiert und eingereicht worden ist, und auf die schon erwähnte Peti- tion der Hebammen. In beiden Fällen ist es nicht so, dass wir als Gesetzgeber diese Probleme ohne Weiteres lösen können. Dafür mangelt es uns an direkter Gesetzge- bungskompetenz. Deswegen können wir das nicht legis- lativ lösen. Aber das Parlament kann seinen informellen Einfluss geltend machen. Das Parlament kann sein Ge- wicht in die Waagschale werfen. So zeigt sich in der hohen Zahl von 18 861 Petitionen im Jahre 2009 und von fast 900 000 Unterstützern von Massenpetitionen, dass trotz aller – oft auch berechtigten – Kritik an den Riten der parlamentarischen Demokratie die Volksvertretung weiterhin als Gravitationszentrum unseres Staatsaufbaus verstanden wird. Somit sollte die Rolle des Petitionsausschusses in unserer Verfassungs- architektur nicht zu gering geachtet werden. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ingrid Remmers (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiter des Ausschuss- dienstes! Die Wählerinnen und Wähler sind der Souve- rän eines jeden demokratischen Staates. Sie stimmen für eine Kandidatin oder einen Kandidaten und eine Partei und übertragen ihr damit die Wahrnehmung ihrer Inte- ressen. Allerdings wächst in Deutschland die Zahl der Menschen, die sich durch die derzeitigen Mehrheitsver- hältnisse und vor allem die Mehrheitsentscheidungen nicht mehr repräsentiert fühlen und tatsächlich allzu oft auch nicht mehr repräsentiert werden. Bis zu einem ge- wissen Grad ist das sicher ein Stück weit normal. Aber Demokratie verliert ihre Legitimation, wenn zu viele einzelne Menschen und ganze gesellschaftliche Gruppen den Eindruck haben, dass ihre Stimme und ihre Interes- sen überhaupt nicht mehr zählen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das verfassungsrechtlich verankerte Recht, sich mit seinen Bitten und Beschwerden direkt an den Bundestag zu wenden, kann ein Mittel sein, dem zumindest teil- weise entgegenzuwirken. Deswegen ist es umso wichti- ger, dass der Bundestag – also wir alle – die Arbeit des Petitionsausschusses ernst nimmt. Es handelt sich bei den Petentinnen und Petenten eben nicht um lästige Bitt- steller. Die Eingaben der Menschen – einzeln oder in Gruppen – müssen auch und gerade von der Bundes- regierung als notwendiges Korrektiv ihrer politischen Entscheidungen anerkannt werden. Die Petitionsstatis- tik weist als Seismograf und Indikator der aktuellen poli- tischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu viele Missstände und Ungerechtigkeiten aus. Es ist schließlich unsere Aufgabe, diese Missstände und Ungerechtigkei- ten als Fehlfolgen der hier beschlossenen Gesetze wieder zu beseitigen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Arbeit des Petitionsausschusses erlaubt sowohl die qualitative als auch die quantitative Evaluation der Gesetzgebung. Sie nimmt vorweg, was oft später in der öffentlichen und politischen Diskussion erscheint. Damit zeigen sowohl der Einzelfall als auch die Massenpetition anschaulich die Tauglichkeit von einzelnen Gesetzen. Vor allem in der Hartz-IV-Gesetzgebung zeigt sich immer wieder an erschütternden Beispielen, welche of- fensichtlichen Härtefälle vor dem Gesetz vollkommen korrekt sind. So bringen beispielsweise die Anrechen- barkeit von fast allen anderen Einkünften oder auch die Falschberechnungen der zuständigen Behörden Arbeit- suchende viel zu oft in existenzielle Notlagen. Solche Ergebnisse in der Umsetzung von Gesetzen sind völlig inakzeptabel, und die Architekten der Hartz-IV-Gesetz- gebung wären gut beraten, die auch durch das Petitions- wesen festgestellten Auswirkungen ihrer Reform schnellstens abzustellen. (Beifall bei der LINKEN) 5344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Ingrid Remmers (A) (C) (D)(B) Ich möchte neben der Hartz-IV-Gesetzgebung auf ei- nen weiteren Schwerpunkt im Jahresbericht 2009 näher eingehen. Die Arbeit der bundeseigenen Bodenverwer- tungs- und -verwaltungs GmbH als Nachfolgerin der Treuhand war und ist Gegenstand zahlreicher Beschwer- den – und das nicht nur in Bezug auf die Privatisierung von Seen. Die oft undurchsichtigen Richtlinien für den Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen und die in- transparenten Entscheidungen waren häufig Grundlage von Beschwerden. Hier setzt sich die vor allem von Ost- deutschen erlebte unrühmliche Vergangenheit der Treu- hand fort und gipfelt in dem eben schon erwähnten flä- chendeckenden Verkauf von Seen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Kurzzeitig hatte die Vorgän- gerregierung – bei diesem Thema strategisch clever – den Verkauf vor der Bundestagswahl im September letz- ten Jahres gestoppt, um ihn nach der Wahl gleich wieder zu erlauben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bürgerin- nen und Bürger ernst nehmen sieht anders aus. (Beifall bei der LINKEN) Um das Beispiel zu Ende zu führen: Laut einem Be- richt des RBB vom 19. Juni dieses Jahres plant die BVVG den Verkauf von weiteren 300 Seen in Ost- deutschland in den nächsten Jahren. Demnach sollen die Seen zwar vorrangig den Kommunen zum Kauf angebo- ten werden, die Frage ist aber, ob sich die klammen Städte und Landkreise ihre eigenen Seen überhaupt leis- ten können. Obwohl die Seen sowieso der öffentlichen Hand in Form der BVVG gehören, sollen die Kommu- nen dafür bezahlen, einen wichtigen Faktor für den Tou- rismus auch weiterhin nutzen zu dürfen. Das ist schon eine seltsame Logik, wenn es um die wirtschaftliche Zu- kunft der neuen Länder geht. Vergleichbar mit der Seenprivatisierung im vergange- nen Jahr haben im ersten Halbjahr 2010 auch die Heb- ammen mithilfe breiter öffentlicher Unterstützung in kürzester Zeit eine öffentliche Ausschusssitzung durch- gesetzt. Dazu musste sich die Bundesregierung am ver- gangenen Montag erklären. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich denke, wir reden über 2009!) – Dies ist nur ein kleines weiteres Beispiel, Frau Kolle- gin. Die zehn Sekunden haben wir, glaube ich, übrig. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Es geht nicht um die zehn Sekunden, Frau Kollegin!) Die Hebammen haben in absoluter Rekordzeit mit ei- ner öffentlichen Petition auf ihr Anliegen aufmerksam gemacht. In der Folge musste und muss sich der Aus- schuss wie auch das Gesundheitsministerium mit den massiv steigenden Haftpflichtprämien im Vergleich zu der kaum steigenden Vergütung der Hebammen beschäf- tigen. Diese und andere Beispiele, speziell Beispiele von öf- fentlichen Petitionen, zeigen die direkte Einflussmög- lichkeit der Bürgerinnen und Bürger, die durch die Ver- öffentlichung der Themen diese viel stärker in das öffentliche Bewusstsein bringen. Sie zeigen aber auch, dass sich die öffentliche Petition zunehmend zum Instru- ment zivilgesellschaftlicher Lobbyarbeit entwickelt. Ich halte diese Entwicklung vor allem deshalb für sehr erfreulich, weil sie die bislang benachteiligte zivilgesell- schaftliche Interessenvertretung – also bürgerschaftli- ches Engagement oder die sogenannten Graswurzelbe- wegungen – gegenüber anderen, finanziell meist recht gut ausgestatteten Verbänden, zum Beispiel der Wirt- schaft, erheblich stärkt. Damit verhilft das Instrument der öffentlichen Petition den zivilgesellschaftlichen Gruppen zu mehr Gerechtigkeit bei der Vertretung ihrer Interessen, und das ist gut so. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abschließend noch kurz einige Punkte. Meine Frak- tion und ich wünschen uns von Herzen, dass noch sehr viel mehr Menschen die Möglichkeiten nutzen mögen, sich mit ihren Anliegen direkt an den Bundestag zu wen- den – in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Demokratie. Auch ich möchte mich in diesem Zusammenhang für die gute Zusammenarbeit im Ausschuss und die Arbeit des Ausschussdienstes herzlich bedanken. Zuletzt möchte ich betonen, wie wichtig es ist, dass der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit die von den Bürgerinnen und Bürgern mittels Petitionen aufge- zeigten Probleme und Missstände wirklich ernst nimmt. Das gilt für jedes Einzelanliegen genauso wie für die Massenpetitionen. Passiert das nicht, bleibt es beim öffentlichen Debat- tierklub, und das Petitionsrecht verkommt womöglich zur plebiszitären Krücke. Als Folge würden sich die Bürgerinnen und Bürger zu Recht weniger denn je ernst genommen fühlen. Dies würde die Politikverdrossenheit verstärken und an der Legitimation des Parlaments na- gen. Das Vertrauen in die Demokratie würde weiter ge- schwächt werden. Das dürfen wir nicht zulassen. (Beifall bei der LINKEN) Der Wähler ist der Souverän des Staates und nicht sein Bittsteller. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Klaus Hagemann [SPD]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Memet Kilic. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der Frau Vorsitzenden und den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen sowie deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die bisher gute und faire Zusammenarbeit im Ausschuss danken. (Beifall im ganzen Hause) Ich bin neu in diesem Ausschuss. Darum gilt mein Dank insbesondere auch den Mitarbeiterinnen und Mit- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5345 Memet Kilic (A) (C) (D)(B) arbeitern des Ausschussdienstes. Ihnen ist es gelungen, mir und den vielen anderen neuen Abgeordneten mit größter Geduld, Engagement und Kompetenz den Ein- stieg in die Arbeit des Ausschusses zu erleichtern. Dafür mein Dank auch im Namen meiner Fraktion! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP) Im vorliegenden Jahresbericht finden sich einige ein- drucksvolle Beispiele dafür, dass der Petitionsausschuss nicht nur bei den laut vorgetragenen Anliegen aufmerk- sam wird. Gerade bei den leise, verzweifelt und einsam vorgetragenen Petitionen hört der Petitionsausschuss ge- nau hin; denn das Anliegen der Einzelnen ist sein Kern- geschäft. Der Petitionsausschuss kümmert sich um die, die sonst nicht gehört werden. Ganz gleich, ob sie von einer Person eingereicht oder von Hunderttausenden un- terstützt wird: Jede Petition ist dem Petitionsausschuss gleich viel wert. Durch die Instrumente E-Petition, öffentliche Petition und öffentliche Ausschusssitzung ist der Zugang zum Petitionsausschuss einfacher und das Verfahren durch- sichtiger geworden. Die Bürgerinnen und Bürger ma- chen rege davon Gebrauch. Über das Internetportal des Petitionsausschusses können sich die Bürgerinnen und Bürger direkt in das parlamentarische Geschehen einmi- schen. Das ist einzigartig im Bundestag. Mit über 56 000 Beiträgen ist es zudem eines der größten Politikforen in Deutschland überhaupt. Die Petitionen haben einen Namen und ein Gesicht bekommen. Die Menschen hinter den Anliegen werden sichtbar. Somit erkennt jeder, dass Politik nicht nur die Angelegenheit von einigen wenigen, sondern von jedem Mann und jeder Frau sein muss, die in unserem Land et- was ändern und verbessern wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Sie heißen beispielsweise Susanne Wiest, eine Tages- mutter aus Greifswald, die für ein bedingungsloses Grundeinkommen streitet und binnen kurzer Zeit 53 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner für ihre Petition gewonnen hat. Da ist Franziska Heine, eine Webdesigne- rin, die für ihre Petition zur geplanten Netzsperre nicht nur 130 000 Unterstützerinnen und Unterstützer fand, sondern auch ein Umdenken in der Bundesregierung be- wirkt hat. Da ist der Schüler Isaak Schwarzkopf. Der 13-jährige Junge aus Thüringen fordert in seiner öffentli- chen Petition, den Worten zur Begrenzung der Klima- erwärmung auf 2 Grad endlich Taten folgen zu lassen, und macht konkrete Vorschläge an die Politiker. Der kleine Isaak gegen den Rest der Welt? Nein. Auch der Schüler Isaak hat für seine Onlinepetition bereits viele Unterstützer und Mitstreiter gefunden. Die Menschen waren mit der Arbeits-, Sozial- und Gesundheitspolitik der Bundesregierung nicht zufrie- den – Tendenz steigend. Im Jahresbericht 2009 findet der unzulängliche und ungerechte Umgang der Bundes- regierung mit der Bankenkrise, der Abwrackprämie und dem Konjunkturpaket sein unmittelbares Echo. Das Be- wusstsein dafür, dass Politik nicht nur alle vier Jahre bei Wahlen gemacht wird, wächst. Es passiert sehr viel zwi- schendurch. Darauf können wir aufbauen, aber es bleibt natürlich noch viel zu tun. Wir müssen nachlegen. Die besondere Bedeutung des Petitionsrechts zeigt sich auch darin, dass es nicht nur als Bürgerrecht, son- dern auch als Menschenrecht im Grundgesetz verankert ist. Es steht allen Menschen offen, Erwachsenen wie Kindern, Inhaftierten und Geschäftsunfähigen, deut- schen Staatsbürgern und Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, gleichgültig wo auf dieser Welt sie leben. Mehrere Hundert Menschen aus dem Ausland ha- ben dieses Recht im vergangenen Jahr wahrgenommen. Viele von ihnen beklagen sich über die restriktive Visa- vergabepraxis der deutschen Auslandsvertretungen. Viele Familien werden zerrissen, weil Ehegatten und Angehörige nicht zu ihren in Deutschland lebenden Ver- wandten ziehen dürfen. Sie können keine hinreichenden Deutschkenntnisse nachweisen, haben oft aber auch keine Möglichkeit, die Sprache im Ausland zu erlernen. Wir verzeichnen allerdings auch einen besonders star- ken Anstieg bei den Petitionen zum Aufenthalts- und Asylrecht. Die Zahl der Petitionen zum Asylrecht ver- doppelte sich im vergangenen Jahr. Fast ausschließlich ging es hier um die Angst der Menschen vor einer Über- stellung in die griechischen Auffanglager. Obwohl das Bundesverfassungsgericht in mindestens sieben Fällen im Eilverfahren untersagt hat, dass Menschen an Grie- chenland überstellt werden, ist die Bundesregierung in der Regel nicht bereit, hier Abhilfe zu schaffen. Sie ver- weist auf die aus ihrer Sicht noch unklare Rechtslage. Unglücklicherweise konnten wir daher weniger Men- schen helfen, als ich mir gewünscht hätte. Es liegt an uns, uns in diesem Punkt anzustrengen. Die Menschen wollen mitreden und mitgestalten. Sie wollen als mündige Bürgerinnen und Bürger ernst ge- nommen werden. Mitbestimmung ist das wichtigste Mit- tel gegen die angebliche Politikverdrossenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- ordneten der FDP) Daher müssen wir das Petitionsrecht noch bekannter ma- chen und den Zugang vereinfachen. Wir müssen auch die Menschen gewinnen, die bisher zu wenig von den Möglichkeiten Gebrauch machen, sich einzumischen, zum Beispiel Erwerbslose, Frauen, Ältere und Immi- granten. Ändern muss sich auch die hohe Quote der Ein- gaben, die nicht als öffentliche Petition zugelassen wer- den. Gerade bei den öffentlichen Petitionen könnte die Mitzeichnungsfrist verlängert und das Quorum gesenkt werden. Rund 60 Prozent der eingereichten öffentlichen Petitionen wurden nicht als solche zugelassen. Ich würde mich freuen, wenn diese hohe Quote sinken würde. Ich freue mich auf weitere spannende und erfolgrei- che Jahre im Dienst der Bürgerinnen und Bürger. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN) 5346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gero Storjohann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Jahr 2009 – um dieses Jahr geht es im vor- liegenden Bericht – war in zweierlei Hinsicht ein beson- deres Jahr für den Petitionsausschuss: Erstens konnten wir unser 60-jähriges Bestehen feiern, und zweitens war es über das ganze Jahr möglich, öffentliche Petitionen im Internet einzureichen, zu diskutieren und mitzuzeich- nen. Es war ein schönes Jahr, das wir heute würdigen. Das 60-jährige Jubiläum zeigt, dass wir Kontinuität haben. Es zeigt aber auch, dass wir uns der Zeit anpassen müssen und dies auch tun wollen. Das Petitionswesen hat sich stetig weiterentwickelt. Es ist ein Vorzeigemodell geworden. Es wird sowohl im Inland als auch im Ausland anerkannt, und es wird nach- gefragt, wie wir das Petitionsrecht handhaben. Es stößt auf viel Interesse. Ich erinnere daran, dass in England, der Urdemokratie, gar kein Petitionswesen existiert. Wir sind schon wesentlich weiter. Wir haben in Berlin viele ausländische Delegationen empfangen kön- nen, die sich danach erkundigten, wie hier die Zusam- menarbeit funktioniert und wie das Petitionswesen orga- nisiert ist. Besonders Delegationen aus frankophonen Ländern Westafrikas – ich freue mich, dass Herr „Afrika-Fischer“ anwesend ist –, (Heiterkeit bei der CDU/CSU) aus Algerien, Marokko und Tunesien sowie aus Vietnam haben sich generell über unser Ausschusswesen infor- miert. Die Petitionsausschüsse und Ombudsleute aus dem Inland, die nach Berlin reisten, interessierten sich natür- lich vor allen Dingen für das System der öffentlichen Eingaben. Allgemein erfährt die Praxis eine sehr posi- tive Resonanz – nicht nur vonseiten der Vertreter anderer Parlamente, auch seitens der Bürgerinnen und Bürger. Sie wissen, dass wir uns als Petitionsausschuss auch um die Zusammenarbeit mit den Petitionsausschüssen der Landesparlamente kümmern. Deswegen laden wir regelmäßig die Vorsitzenden der Petitionsausschüsse der Landesparlamente ein. Wir freuen uns schon außeror- dentlich auf die Laudatio der Vizepräsidentin Frau Hasselfeldt zum 60-jährigen Bestehen Ende September in Schwerin. Wir Mitglieder des Petitionsausschusses gehen auch vor Ort, wenn wir es für angebracht halten. Zeitbedingt geht das nicht in jedem Fall. Aber wir machen das doch sehr häufig. Wir waren an der A14, um uns den Lärm höchstpersönlich anzuhören. Die Gefahr ist bloß immer, dass der Wind in dem Augenblick aus der falschen Rich- tung kommt und wir uns dann die Lärmbelastung vor- stellen müssen. Hier war das an der Sülzetalbrücke, und wir haben rechtlich nicht unbedingt helfen können. Aber wir haben die Petition dann dem Petitionsausschuss des Landesparlaments zugewiesen mit dem Hinweis, dem Anliegen des Petenten, wenn man eine Möglichkeit sehe, nachkommen zu wollen und für Lärmschutz zu sorgen. Das ist also ein positives Beispiel dafür gewesen, dass wir im Gespräch die schwierige Situation haben verbessern können. Der Petitionsausschuss selbst ist sehr offen für Kritik, und er nimmt auch gern Probleme auf, um daraus dann Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wir möchten kon- krete Verbesserungen erreichen. Ein Problem in der letzten Zeit waren fehlende Ab- stellplätze an den Autobahnen für Lkws. Es gab eine Petition, es gab eine öffentliche Beratung im Petitions- ausschuss, und es gab auch eine Begleitung durch Ra- diosender, die dieses Thema speziell für Trucker aufbe- reitet haben. Es ist kein Hauptpunkt gewesen, aber wir haben dieses Anliegen begleitet. Jetzt sind viele Initia- tiven gestartet worden, um Stellplätze für Trucks aus- zubauen. Bis zum Jahre 2012 sollen insgesamt etwa 15 000 Plätze zur Verfügung stehen. Das ist ein gutes Programm, das wir mit begleiten konnten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zum Schluss, meine Damen und Herren, möchte ich deutlich machen, dass wir Individualinteressen sehr wohl unterstützen und dass wir uns als Korrektiv bei Ge- setzen sehen, die die gesamte Bevölkerung betreffen. Ohne die Mitarbeiter in unseren Büros und ohne die Mit- arbeiter des Petitionsausschusses wäre diese wichtige Aufgabe nicht vollumfänglich zu leisten. Deshalb möchte auch ich mich im Namen der CDU/CSU-Frak- tion für diese tolle Mitarbeit und Unterstützung herzlich bedanken. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Hagemann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Klaus Hagemann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Gestern haben wir um diese Zeit den neuen Bundespräsi- denten gewählt. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Noch nicht! Versucht!) – Doch, er ist es schon. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber nicht gestern um diese Zeit!) – Der dritte Wahlgang zeichnete sich ab. (Zuruf von der SPD: Der zweite!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5347 Klaus Hagemann (A) (C) (D)(B) Meine Damen und Herren, wir haben ihn gewählt, ob Sie wollen oder nicht, (Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN) und es ist Herr Wulff geworden. Ich gratuliere ihm sehr herzlich zu dieser Wahl. Er ist unser Staatsoberhaupt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Eines, liebe Sibylle Pfeiffer, muss ich dazu allerdings doch sagen: Gestern waren ein paar Leute mehr hier im Plenarsaal als jetzt. (Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Ich meine nicht Sie, liebe Gäste, sondern meine Kolle- ginnen und Kollegen Abgeordnete. Wir Petitionsaus- schussleute sind hier quasi unter uns und können unsere Diskussionen weiterführen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Es ist wie in der Kirche: Du beschimpfst die Falschen!) – Es ist immer so: Man trifft die Falschen. – Aber ich möchte für dieses Thema jetzt nicht zu viel Zeit ver- plempern. Es wurde immer wieder herausgestellt, der Bundes- präsident sei ein Kümmerer, er sei ein Brückenbauer, er müsse Gräben zuschütten, er sei ein Ermutiger – alles richtig. Das sind Wendungen, die gestern zu hören und zu lesen waren. Das gilt aber genauso für uns vom Peti- tionsausschuss, vom Parlament, die wir für die Mitbür- gerinnen und Mitbürger tätig sind, die sich an uns wen- den. Auch das ist von Ihnen allen schon gesagt worden. Wir haben diese Aufgabe wahrzunehmen. Wir sind gezwungen, immer wieder neue Formen zu entwickeln; denn nichts ist beständiger als der Wandel. Ich möchte eine Petition herausgreifen, die von uns ver- langt hat, solche neuen Formen zu entwickeln, und zwar die Beschwerden von ehemaligen Heimkindern, die in den 40er-, 50er-, 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahr- hunderts im Heim waren, uns ihr Schicksal geschildert und aufgezeigt haben, wie dramatisch es gewesen ist. Ich möchte hier die Vorgängerin in meinem Amt, Gabriele Lösekrug-Möller, erwähnen und ihr herzlich dafür danken, dass sie unser Petitionswesen immer wie- der mit Ideen sehr bereichert hat. Ein Dankeschön an dieser Stelle! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie hat auch erkannt, dass es notwendig ist, einen runden Tisch einzurichten, weil wir mit dieser Thematik über- fordert waren, weil Sachverständige dazukommen muss- ten. Nur so konnten wir uns intensiver mit der Thematik beschäftigen. Liebe Gabriele, noch einmal herzlichen Dank! Wir haben noch einen Wandel vollzogen; auf die öf- fentlichen Petitionen ist schon hingewiesen worden. Lie- ber Günter Baumann, Sie haben eben deutlich gemacht, dass bei der Union und der FDP erst große Bedenken be- standen haben. Ich würde es ein bisschen flapsiger sa- gen: Wir haben euch zum Jagen getragen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein, nein! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Absolut falsch!) – Sie waren noch gar nicht dabei, Herr Lehrieder. – Ihr habt dann mitgemacht, und wir haben es zusammen hin- bekommen. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Die Rede war bis jetzt gut!) Das hat sich so positiv entwickelt, dass jetzt alle Väter dieses Gedankens sind. Es ist richtig, öffentliche Petitio- nen zu ermöglichen, um die Zivilgesellschaft zu stärken, um die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubinden. Ich möchte, Herr Kollege Thomae, Ihre Anregung aufgreifen, wieder eine Weiterentwicklung vorzuneh- men. Das ist eine gute Anregung. Wir bieten auch hier- für die Zusammenarbeit an, so wie es üblich ist. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir die öffentli- chen Petitionen noch stärker ausweiten müssen. Was nützt dem Petenten die Debatte hier im Plenarsaal, wenn er sich nicht beteiligen kann? Zumindest im Rahmen der öffentlichen Petition und der Anhörung kann er sich ein- bringen. Das ist sicher ein guter Weg, den wir hier gehen können. Ein anderes Beispiel ist die Diskussion um das Gesetz über Internetsperren. Durch die Petition dazu ist erreicht worden, dass das Gesetz jetzt nicht angewendet wird bzw. hinfällig ist. Ein weiteres Beispiel ist die große Petition zur Finanzmarkttransaktionsteuer. Diese Petition hat ausge- löst, dass sogar die Bundesregierung sich mit dieser Idee auseinandersetzt, und hat sie in der Diskussion unter- stützt. Der Petent hat also einiges bewegt. Ich hoffe, dass die Anhörung dazu bald erfolgen kann; denn die Forde- rung ist berechtigt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diejenigen, die die Finanz- und Wirtschaftskrise durch ihre Geldgier ausgelöst haben, müssen an der Finanzie- rung der Banken- und Wirtschaftsrettungsschirme betei- ligt werden. Das steht in der Petition, und das kann nur so erreicht werden, wie es darin dargelegt worden ist. Es darf nicht der Eindruck entstehen: Wer Geld hat, der darf sich alles erlauben. Es gibt bei uns auch Petitionen, die ruhen. Sie ruhen sanft, und es geht nicht voran. Dies betrifft das Thema „Generation Praktikum“. Auf der Tribüne sitzen viele junge Leute. Man hört es immer wieder in Gesprächen: Es besteht die Furcht, dass man nach einer qualifizierten Ausbildung nicht die Chance hat, aktiv in das Berufsle- ben einzusteigen. In diesem Zusammenhang ist die Zeit- arbeit sowie die Tatsache zu nennen, dass es nicht genü- 5348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Klaus Hagemann (A) (C) (D)(B) gend Arbeitsplätze gibt. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Es werden Praktika über Praktika angeboten; man soll noch ein schlecht oder gar nicht bezahltes Praktikum hintendran absolvieren. Wir haben diese Petitionen schon vor Jahren in Zeiten der Großen Koalition aufgegriffen und sind als Tiger gesprungen. Bisher sind wir noch nicht gelandet – noch nicht einmal als Bettvorleger –, weil man sich in der Bundesregierung – damit meine ich nicht nur die jetzige Bundesregierung, es ist noch ein Staatssekre- tär anwesend, (Zuruf von der CDU/CSU: Aber ein guter!) sondern auch ihre Vorgängerin während der Großen Ko- alition – zwischen zwei Ministerien nicht einigen konnte, welche Stellungnahme gegenüber dem Petitions- ausschuss dazu abgegeben wird. Das darf nicht sein. Die Bundesregierung muss hier schneller handeln. Wir müs- sen zu einem Ergebnis kommen; denn die jungen Men- schen haben sich als Petenten in dem vollen Vertrauen, dass wir handeln, an uns gewandt. An dieser Stelle be- steht Handlungsbedarf. Lassen Sie uns das vorantreiben und nach vorne bringen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nach Ausbildung und Studium müssen die jungen Men- schen eine Perspektive haben. Wir sprechen immer vom Fachkräftemangel. Wir sagen ihnen, dass sie eine Fami- lie gründen und Kinder bekommen sollen. Gleichzeitig stehen derart schlechte Voraussetzungen am Anfang des Berufslebens. Dort besteht in der Tat Handlungsbedarf. Lassen Sie uns das endlich nach vorne bringen. Lassen Sie uns hier die Bundesregierung treiben. Ich möchte noch die Diskussion um das Quorum, das erforderlich ist, um eine öffentliche Anhörung durchzu- führen, in Erinnerung rufen. Zwar gehen wir jetzt in der Entwicklung voran, wie ich schon gesagt habe. Dennoch sollten wir nachdenken; da stimme ich dem Kollegen Kilic zu. Vielleicht ist es doch zu viel verlangt, 50 000 Unterschriften in drei Wochen zu erreichen. Au- ßerdem stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen, wenn nach der Zeit des Quorums noch Zigtausende Un- terschriften eingehen. Diese Unterschriften können wir nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Hier gibt es also genügend Ansatzpunkte, die wir uns anschauen und die wir aufgreifen sollten. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab- schluss noch kurz die von uns verwendete Sprache an- sprechen. Leider habe ich keine Zeit mehr, Ihnen sehr delikate Formulierungen vorzulesen, die von Juristen vorgelegt worden sind und die kein Mensch versteht. – Frau Präsidentin, ich sehe das Leuchten. – Übrigens müssen auch wir zwei Formen des Petitionsberichtes vorlegen: einen Bericht, der formaljuristisch in Ordnung ist und alle Facetten betrachtet, und zusätzlich eine ver- ständliche Form, damit die Bürgerinnen und Bürger das Ganze verstehen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, das Sehen des Leuchtens reicht nicht. Klaus Hagemann (SPD): Ich sehe es, Frau Präsidentin. Der Kollege Baumann hat aber auch zwei Minuten überzogen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bei Ihnen geht es auch in diese Richtung. Klaus Hagemann (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen besser, einfacher und verständlicher formulieren. Das gilt sowohl für die Bundesregierung, an die ich diese Bitte richte, Herr Staatssekretär Dr. Schröder, als auch für uns selbst. Zum Schluss sage ich ein Dankeschön an Sie alle für die gute, kollegiale, zum Teil freundschaftliche Zusam- menarbeit. Ein herzliches Dankeschön geht auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich will mich nicht der Unsitte der Vor- redner anschließen und gnadenlos überziehen, weil die nach mir folgende Rednerin meiner Fraktion das auszu- baden hätte, liebe Sibylle Pfeiffer. Seit nunmehr viereinhalb Jahren darf ich im Petitions- ausschuss mitwirken. Am Anfang bin ich nolens volens in diesen Ausschuss geraten und dann freiwillig dort ge- blieben, weil hier, wie die Vorredner bereits ausgeführt haben, ein sehr kollegiales Verhältnis sowie ein partei- übergreifendes Verständnis der Probleme der Mitbürge- rinnen und Mitbürger festzustellen sind. Mit jeder Eingabe, die ich als Berichterstatter im Peti- tionsausschuss bearbeiten darf, bestätigt sich: In kaum einem Gremium des Deutschen Bundestages hat man als Volksvertreter eine so unmittelbare Berührung mit den Anliegen der Wählerinnen und Wähler. Wer sich an den Petitionsausschuss wendet, bekommt für ein konkretes Anliegen Unterstützung. Behörden und Gesetzgeber er- halten ein Feedback aus dem täglichen Leben und Ant- worten auf die Frage, wo noch Korrekturbedarf besteht. Sie dürfen versichert sein – das gilt auch für die Zu- schauer auf den Tribünen –: Auch wenn Otto Normal- verbraucher vielleicht nicht so schnell eine befriedi- gende Antwort bekommt – wenn wir als Abgeordnete Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5349 Paul Lehrieder (A) (C) (D)(B) bzw. als Petitionsausschuss eine Behörde anschreiben, bekommen wir eine Antwort. Wir können ein Vorhaben, ein Anliegen oder ein Problem also transparent, öffent- lich und bei der Behörde mit entsprechendem Gewicht vortragen. Als Abgeordnete bekommen wir Rückkopplung über das Wirken der Gesetzgebung in Fällen, wie sie jedem von uns auch in unserer Wahlkreisarbeit begegnen. Wer sich an den Petitionsausschuss wendet, sollte allerdings wissen: Der Ausschuss kann weder einen Verwaltungs- akt noch einen Gerichtsbeschluss verändern oder aufhe- ben. Er ist vor allem ein Untersuchungsorgan, das das Handeln von Verwaltungen und die Wirkung von Geset- zen überprüft. Sobald ein Petent an den Petitionsaus- schuss herantritt, wird seine Beschwerde oder Bitte von einer privaten Angelegenheit zu einem öffentlichen An- liegen. Sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie sich sicher- lich denken können, ist dies besonders auf den Feldern Arbeit und Soziales der Fall, für die ich im Petitionsaus- schuss in erster Linie Bericht erstatten darf. Viele Bürger nutzen das Petitionsrecht, um sich über die Gesetze des Bereichs Arbeitsmarkt oder deren Umsetzung zu be- schweren oder Verbesserungen vorzuschlagen. Einige Vorredner sind bereits darauf eingegangen. Mit 21 Pro- zent der Eingaben ist das Ressort Arbeit und Soziales wie auch in den Vorjahren das Ressort im Petitionsaus- schuss, zu dem die meisten Zuschriften eingingen. Von den Themen her bildeten auch in diesem Jahr die Grund- sicherung für Arbeitsuchende – Stichwort Arbeitslosen- geld II – mit 1 120 Petitionen und das klassische Ar- beitslosengeld mit 144 Petitionen den Schwerpunkt. Stark vertreten waren auch Problematiken rund um den Arbeitslohn, die Förderung der beruflichen Weiterbil- dung sowie die Arbeitsmarktpolitik an sich und die Bun- desagentur für Arbeit als Institution. Im Übergang zur Rente war das Thema des Nachwei- ses von Zeiten der Arbeitslosigkeit für die Rentenversi- cherung von großer Bedeutung. Das Schwergewicht der Petitionen zur Grundsiche- rung für Arbeitsuchende betraf Fälle, in denen sich Petenten über die Bearbeitung ihres persönlichen Leis- tungsfalles durch die örtlichen Träger der Grundsiche- rung für Arbeitsuchende beschwerten. Dabei ging es oft um die Anrechnung einmaliger Einnahmen, zum Bei- spiel um die von Geldgeschenken oder Rückerstattungen im Rahmen der Lohnsteuer oder der Betriebskosten der Wohnung, oder auch um Sanktionen, die den Petenten auferlegt worden waren, Stichwort: Fordern und För- dern. Gerade auch die Höhe der Regelsätze der Grund- sicherung nach dem SGB II war immer wieder Thema. Im Vorfeld der in diesem Jahr erfolgten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar, insbe- sondere bezogen auf die Regelsätze für Kinder und Ju- gendliche, beanstandeten zahlreiche Bürgerinnen und Bürger deren Höhe und machten Verbesserungsvor- schläge. Viele dieser Petitionen stammen noch aus der vergangenen Wahlperiode. Da sie nicht der Diskontinui- tät unterliegen und somit auch in dieser Legislatur- periode weiterbehandelt werden, ist es nun notwendig, sie mit Wissen um das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar noch einmal neu bewerten zu lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie in folgendem aktuellen Beispiel münden die Anliegen von Bürgern in Gestalt von Eingaben an den Deutschen Bundestag im- mer wieder in konkrete Entscheidungen und Korrektu- ren. Für die Petenten ist wichtig, zu sehen: Die Politik nimmt die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernst. So wurde in einem konkreten, von mir behandelten Fall ein Antrag auf ALG-II-Leistungen abgelehnt. Grund: die Verwertbarkeit eines Vermögens aus der privaten Ren- tenversicherung. Der Petent gab an, der vorzeitige Ver- kauf wäre für ihn mit finanziellen Verlusten von etwa 15 000 Euro verbunden gewesen und bringe ihn in die Gefahr von Altersarmut. Bei Abschluss des Rentenversi- cherungsvertrages habe er keine Möglichkeit gehabt, im Rahmen eines Modells für das Alter zu sparen, welches rechtlich anrechnungsfrei sei. Die Problematik, die diesem und ähnlichen Anliegen zugrunde liegt, war der unionsgeführten Bundesregie- rung bewusst. Wir haben bereits in unserem Koalitions- vertrag, lieber Kollege Thomae, aufgenommen, dass die Höhe des Schonvermögens verdreifacht werden soll, um für das Alter entsprechend Vorsorge leisten zu können. Anstelle von bisher 250 Euro sollen zukünftig 750 Euro pro Lebensjahr aus einer selbst erwirtschafteten Renten- zusatzleistung anrechnungsfrei bleiben. Der Bericht des Petitionsausschusses sieht auf Seite 28 insofern aus- drücklich vor – mit Ihrem Einverständnis, Frau Präsi- dentin, würde ich gerne die genaue Formulierung zitie- ren –: Der Petitionsausschuss empfahl daher, die Eingabe der Bundesregierung als Material zuzuleiten, damit sie im Rahmen der zukünftigen Gesetzgebung in die Überlegungen einbezogen werden kann, und leitete sie auch den Fraktionen des Deutschen Bun- destages zu. Sie sehen an diesem Beispiel – damit möchte ich be- reits vorzeitig zum Ende kommen –, dass die Politik rea- giert. Politik und Gesetze sind ein lernendes System. Die Rückkopplung in Form der Anliegen der Bürgerinnen und Bürger im Petitionsausschuss ist hierfür eine wert- volle Unterstützung. In diesem Ausschuss werden die Anliegen der Bürger nicht als Arbeitsbelastung, sondern als positive Anregung und als wohlmeinende Begleitung unserer Initiativen hier in Berlin gesehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist für mich die dritte Legislaturperiode als Mitglied 5350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Sibylle Pfeiffer (A) (C) (D)(B) des Petitionsausschusses. Ich mache das leidenschaftlich gerne, freiwillig, zusätzlich und, wie ich glaube, mit sehr viel Liebe und sehr viel Einsatz. Deshalb kann ich all das Gute und Schöne, was meine neun Vorredner zur Ar- beitsweise des Petitionsausschusses gesagt haben, unter- streichen. An dieser Stelle erlaube ich mir aber auch zwei, drei kritische Bemerkungen. Ich denke, auch die dürfen wir einmal äußern. Ich glaube, dass der Petitionsausschuss nach völlig anderen Regeln funktionieren sollte als unsere übrigen Ausschüsse. Unsere Arbeit ist nämlich eine andere. Wir sollen objektiv, anonym und unvoreingenommen den Einzelfall betrachten und schauen, ob wir den Bürger in irgendeiner Art und Weise unterstützen können, ob wir hilfreich sein können, ob wir etwas ändern können. Lei- der stelle ich aber fest, dass ideologische und parteipoli- tische Debatten zunehmend gerade und vor allen Dingen im Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksamen Mas- senpetitionen vorkommen. Das finde ich schade. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So schaut es aus!) Ein Schelm, der Böses dabei denkt, aber es besteht die Gefahr, dass der Petitionsausschuss manipuliert und für Partikularinteressen instrumentalisiert wird. (Klaus Hagemann [SPD]: Das ist bei allen Fraktionen so!) Inhaltliche Debatten dieser Art gehören in die zuständi- gen Fachausschüsse und nicht in den Petitionsausschuss. Wir können nicht so etwas wie Ersatzgesetzgeber sein. Das fällt in die Zuständigkeit der anderen Ausschüsse. Massenpetitionen werfen meiner Ansicht nach ein weiteres Problem auf. Oft genug geht es dabei nicht um Ausnahmefälle oder ein konkretes Problem, sondern es geht häufig um politische Fragen im engeren Sinne. Die politische Willensbildung sollte aber in und vor allen Dingen über die Parteien stattfinden. So ist es im Grund- gesetz, bei der Parteienprivilegierung, verankert. Hier überschreiten wir manchmal die Grenze dessen, was der Petitionsausschuss leisten kann, und betreten die Arena der parteipolitischen Auseinandersetzung. Aber gerade dafür sind wir nicht da. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich wünsche mir, dass wir die parteipolitischen Grund- satzdebatten zukünftig aus der Arbeit des Petitionsaus- schusses heraushalten. Nach wie vor halte ich die Beschäftigung des Peti- tionsausschusses mit Einzelpetitionen für unheimlich wichtig und für unheimlich wertvoll. Aber auch bei den Einzelpetitionen habe ich manchmal ein ambivalentes Gefühl; denn wir können es nicht allen Petenten recht machen. Wir können nicht alle Wünsche erfüllen, und wir können nicht alle Anliegen umsetzen. Als Bundes- tagsabgeordnete müssen wir uns auch einmal etwas trauen. Wir müssen mutig sein und den Bürgern die Wahrheit sagen: Der Staat kann und darf nicht alles leis- ten, und er kann es nicht jedem recht machen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die im Petitionsausschuss anfallende Arbeit und die hohe Zahl der Petitionen ein Spiegelbild der Gesellschaft sind: Der eine Bürger verlangt, dass der Staat alles regelt, der zweite Bürger meint, dass der Staat gar nichts regelt, während der dritte Bürger meint, dass der Staat zu viel regelt und seine persönliche Freiheit zu sehr einschränkt. Dieses Spannungsverhältnis müssen wir aushalten, und wir müssen objektiv beurteilen, ob die Entscheidung im vorgebrachten Einzelfall angemessen ist oder nicht. In all den Jahren im Ausschuss, die ich nun hinter mir habe, habe ich gelernt: Egal wie die Mehrheitsverhält- nisse im Parlament gerade sind, macht die Arbeit im Pe- titionsausschuss den Angehörigen der Opposition beson- ders viel Spaß. Man kann alles versprechen, ohne in der Verantwortung zu stehen. Das ist einfach. Die jetzige Opposition ist in dieser Hinsicht – das habe ich festge- stellt – äußerst fleißig. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Im Versprechen!) Rechnerisch ist es aber wahrscheinlich die teuerste Op- position, die wir, soweit ich das überblicken kann, je hat- ten. (Klaus Hagemann [SPD]: Warum?) Dass wir im Petitionsausschuss trotz aller parteipoliti- schen Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen zweifel- los ein kollegiales Verhältnis haben, verleiht der Arbeit die Würde und Substanz, die wir brauchen. Der Bürger weiß: Sein persönliches Anliegen ist bei uns in besten Händen. Ich glaube, auf diese Art und Weise sind wir für die Demokratie sehr hilfreich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte von die- ser Stelle aus den Mitgliedern des Petitionsausschusses für deren Engagement und die zusätzliche Arbeit, die sie zu ihrer fachlichen Arbeit in diesem Haus erbringen, ei- nen herzlichen Dank aussprechen und wünsche ihnen al- les Gute. (Beifall) Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Roland Claus, Jörn Wunderlich, Dr. Dietmar Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schuld- rechtsanpassungsgesetzes – Drucksache 17/2150 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5351 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) (C) (D)(B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos- sen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Roland Claus (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden hier über Lauben, Datschen und Ga- ragen im Osten Deutschlands, also in den neuen Bundes- ländern. Genauer gesagt: Es geht im Kern um die Rechte von Grundeigentümern einerseits und Besitzern und Nutzern von Baulichkeiten, Anpflanzungen etc. anderer- seits. Die juristischen Feinheiten sind hinlänglich in der Begründung unseres Gesetzentwurfes nachzulesen. Zu DDR-Zeiten geschaffene private Werte auf volkseige- nem Grund und Boden sind der Gegenstand. Zur Erinne- rung: Es gab in der DDR mehr als 3 Millionen Kleingär- ten. Diese waren Orte der Erholung und zum Teil auch der Selbstversorgung. Ich sage es gleich: Es wäre für ganz Deutschland klug und modern gewesen, das Klein- gartenrecht der DDR für die ganze Bundesrepublik zu übernehmen. (Beifall bei der LINKEN) Nach der Wende kam es zum Einigungsvertrag. Es wurde der unsägliche Grundsatz „Rückgabe vor Ent- schädigung“ angewandt. Die neue Rechtslage bedeutete, dass die Vertragsbeziehungen zwischen Verpächtern und Nutzern völlig neu geregelt werden mussten. Dafür steht das Schuldrechtsanpassungsgesetz. Zu diesem Gesetz hat meine Fraktion hier, auch als sie noch anders hieß, bereits seit 1994 – ich habe etwas recherchiert – kontinu- ierlich Vorschläge eingebracht. Wir schlagen Ihnen heute eine kleine Änderung dieses Gesetzes vor, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, und zwar für beide Seiten: mehr Rechtssicherheit für die Verpächter und für die Nutzer. Ich weiß, dass seit fast 20 Jahren zwischen den neuen Grundeigentümern und den Nutzern solcher Erholungs- grundstücke sehr viele vernünftige Regelungen getroffen wurden. Auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit, wenn man einen solchen Gesetzentwurf einbringt. Denn das verdient Anerkennung. Es ist aber auch viel mehr als nötig vor den Gerichten gelandet. Deshalb streben wir eine Verbesserung der Rechtssicherheit bzw. Abschaf- fung der Rechtsunsicherheit an, die bei Vertragsbeendi- gung eintritt. Dabei geht es um die Fragen: Was muss an Werthaltigem entschädigt werden? Wie hoch sind die Abrisskosten, und wie verteilen sie sich? Wir haben jetzt zum Teil eine so kuriose Rechtslage, dass Vertragsbrüchige zum Teil besser gestellt werden als Vertragstreue. Der Bundesgerichtshof hat das bereits mit einem Urteil im Jahre 2008 deutlich bestätigt. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf eine Praxis beenden, wonach der Eigentümer eines Wochenendhauses oder ei- ner Garage, in die er jahre- oder jahrzehntelang Mühen und Geld gesteckt hat, den Abriss voll bezahlen muss, wenn der Vertrag ausläuft. (Beifall bei der LINKEN) Wir bitten Sie um Zustimmung zum Gesetzentwurf, davor natürlich um sachgerechte Behandlung in den Ausschüssen. Wir wissen sehr wohl, dass es Einwände gegen unseren Vorschlag gibt. Es gibt Verbände, die sa- gen, das Urteil des BGH von 2008 gebe hinreichend Si- cherheit, man brauche den Schritt gar nicht. Wir haben mit diesen Verbänden erst jüngst ausführlich diskutiert. Ich sage Ihnen: Das mag auf jene Nutzer zutreffen, die ausreichend selbstverteidigungsfähig sind. Es trifft auf sehr viele nicht zu. Wir alle im Hause wissen, dass zwi- schen recht haben und recht bekommen zuweilen ein großer Unterschied besteht. Deshalb ist die Initiative notwendig. Wir werden darüber hinaus weitere Vorschläge unter- breiten, wie im Osten gewonnene Erkenntnisse und ge- machte Erfahrungen mehr als bisher bundesweit genutzt werden können. (Beifall bei der LINKEN) Im 20. Jahr der deutschen Einheit ist es an der Zeit, den Erfahrungsvorsprung, den Menschen im Osten im Um- gang mit Umbrüchen, schwierigsten Situationen und Neuanfängen gewonnen haben, für ganz Deutschland nutzbar zu machen. Vergessen wir eines nicht: Aus der Krise führen nur neue Wege. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Jan- Marco Luczak das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Wir diskutieren hier und heute über das Schuld- rechtsanpassungsgesetz, ein Instrument, das in der Tat zwei völlig gegenläufige und vor allen Dingen hochemo- tionale Interessenlagen ausgleichen will: Auf der einen Seite stehen die vielen Nutzer von Freizeit- und Erho- lungsgrundstücken, für die ihre Datsche zu DDR-Zeiten in der Tat ein Stück gelebter Freiheit war. Auf der ande- ren Seite stehen die Grundstückseigentümer. Auf ihrem Grund und Boden sind diese Datschen errichtet worden. Die Nutzungsverträge wurden seinerzeit auf Grundlage des Zivilgesetzbuches der DDR geschlossen. Damit gründeten sie auf einer sozialistischen Rechts- und Wirt- schaftsordnung, die staatlich gelenkt war und kaum pri- vate Freiheit für die Ausgestaltung dieser Rechtsverhält- nisse ließ. So waren die Nutzungsverträge für diese Erholungs- grundstücke und die darauf errichteten Datschen faktisch unkündbar. Darauf haben die Nutzer vertraut und Inves- titionen getätigt. Dieses Vertrauen ist in der Tat schutz- würdig. 5352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Jan-Marco Luczak (A) (C) (D)(B) Für die Union ist es aber genauso wichtig, an dieser Stelle herauszustellen, dass auch die Eigentümer ein be- rechtigtes Interesse daran haben, ihre Eigentumsrechte unter den heutigen freiheitlichen Vorzeichen der sozialen Marktwirtschaft zur Geltung zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir wollen, dass die Eigentümer die Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob sie über kurz oder lang ihr Grund- stück wieder selbst nutzen wollen oder ein kostende- ckendes Nutzungsentgelt hierfür erhalten. Um die Dimension deutlich zu machen – der Kol- lege Claus hat schon einige Zahlen genannt –: In der DDR hatte mehr als jeder Zweite ein solches Erho- lungsgrundstück. Wenn man die vielen Kleingartenan- lagen herausnimmt – sie unterliegen nämlich anderen gesetzlichen Voraussetzungen –, so verblieben immer noch rund 1 Million Verträge, die in bundesdeutsches Recht zu überführen waren. Das Schuldrechtsanpassungsgesetz regelt die Frage, wie diese DDR-Grundstücksnutzungsverträge in bun- desdeutsches Recht überführt werden können. Das Ziel war und ist, das möglichst sozialverträglich zu machen und die Interessen beider Seiten zum Ausgleich zu brin- gen. Ich finde, das ist seinerzeit sehr gut gelungen. Das Schuldrechtsanpassungsgesetz hat diesen wirklich schwierigen Interessenkonflikt mithilfe eines sehr weit gehenden Kündigungsschutzes, einer Begrenzung der Nutzungsentgelte und einer differenzierten Regelung über die Entschädigung bei einer Vertragsbeendigung aufgelöst. Was macht nun die Linke aus dieser gelungenen und auch von den Betroffenen allseits akzeptierten Rege- lung? Sie schreibt in ihrem Gesetzentwurf, dass es sich um „ein durch Zeit- und Handlungsdruck geprägtes spe- kulatives Termingeschäft sui generis“ handelt. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Für mich klingt das eigentlich nur nach blankem Popu- lismus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Linke versucht mit dieser Wortwahl, wieder auf der allgemeinen Welle der Empörung gegen die Exzesse auf den Finanzmärkten zu reiten. Das mag Ihnen zu Zei- ten der Wirtschafts- und Finanzkrise opportun erschei- nen, aber es ersetzt keine sachliche Auseinandersetzung. Daran lassen Sie es an dieser Stelle wieder einmal feh- len. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Tatsächlich wird hier nämlich versucht, die Schlach- ten von gestern erneut zu schlagen. Wir haben schon im Jahr 2006 sehr ausführlich über das Schuldrechtsanpas- sungsgesetz diskutiert. Damals ging es um recht ähnlich gelagerte Problemstellungen. Seinerzeit haben Sie, um im Bild zu bleiben, die Schlacht verloren, und Ihr Vor- schlag wurde abgelehnt. Ich wage, vorherzusagen: Das wird Ihnen auch heute passieren. Ich will Ihnen auch gerne erklären, warum wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen werden. Im Kern wollen Sie mit Ihrem rück- wärtsgewandten Gesetzentwurf nichts anderes erreichen – das schreiben Sie auch selbst –, als die Rechtsposition der Nutzerinnen und Nutzer zu stärken, also letztlich die Nutzer im Verhältnis zu den Eigentümern besserzustel- len. Dazu wollen Sie zwei Dinge ändern: Erstens. Die zu zahlende Entschädigung für errichtete Bauwerke soll unabhängig davon sein, aus welchem Grund und von wem ein Nutzungsverhältnis gekündigt wird. Zweitens. Die zu zahlende Entschädigung soll immer mindestens nach dem Zeitwert des Bauwerkes und höchstens bis zur Höhe der Verkehrswerterhöhung des Grundstücks durch das Bauwerk bemessen sein. Mit dem ersten Punkt wollen Sie letztlich eine wohl- durchdachte Differenzierung des Gesetzgebers aushe- beln. Im Gesetz wird nämlich danach unterschieden, ob das Nutzungsverhältnis durch den Eigentümer oder durch den Nutzer bzw. durch eine von ihm verschuldete Kündigung beendet wird. Kündigt der Vermieter bzw. der Eigentümer, so verliert der Nutzer das von ihm er- richtete Gebäude gegen seinen Willen. Damit gehen die Investitionen, die er im Vertrauen auf den langfristigen Fortbestand des Nutzungsverhältnisses getätigt hat, ver- loren. Es ist dann nur recht und billig, dass er dafür eine Entschädigung bekommen soll. Das sieht das Gesetz so vor. Der Nutzer soll eine Entschädigung bekommen, die das Gesetz nach dem Zeitwert des Bauwerks zum Zeit- punkt der Rückgabe als Entschädigung bemisst. Kündigt hingegen der Nutzer selbst oder gibt er durch sein eigenes vertragswidriges Verhalten den Anlass zur Kündigung, dann ist er in Bezug auf seine Investitionen gerade nicht schutzbedürftig bzw. beendet er das Nut- zungsverhältnis aus freien Stücken. Dennoch soll er für die Erhöhung des Verkehrswertes des Grundstücks eine Entschädigung erhalten; denn immerhin handelt es sich um einen Vermögenswert, der dem Eigentümer zufließt, ohne dass er einen Beitrag dazu geleistet hat. Deswegen ist es richtig, dass auch an dieser Stelle eine Entschädi- gung fließen soll. Allerdings ist diese nach den Vorstel- lungen des Gesetzgebers in der Regel niedriger zu hal- ten, als es der Zeitwert des Gebäudes wäre. Das ist auch sachlich begründbar: Wegen der fehlenden Schutzbe- dürftigkeit des Nutzers erhält dieser nicht eine Entschä- digung in Höhe seiner Aufwendungen, sondern weniger. Dass der Gesetzgeber diese unterschiedlichen Sach- verhalte aufgrund der unterschiedlichen Schutzbedürf- tigkeit auf der Ebene der Entschädigungen auch unter- schiedlich behandelt, ist konsequent und in der Sache absolut berechtigt. Deswegen liegt die Linke in der Sa- che völlig daneben, wenn sie die genannten Unter- schiede beseitigen will, wie immer am liebsten dadurch, dass alles über einen Kamm geschoren und gleichge- macht wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wenden hier dagegen ein, der BGH habe diese Differenzierung mit einem Urteil aus dem Jahre 2008 letztlich ad absurdum geführt. Ich kann mich des Ein- drucks nicht erwehren, dass Sie dieses Urteil gar nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5353 Dr. Jan-Marco Luczak (A) (C) (D)(B) gelesen haben. Aber das wäre vielleicht ein bisschen zu einfach, und deswegen will ich das an dieser Stelle nicht unterstellen. Als Alternative bleibt dann freilich nur, dass Sie dieses Urteil nicht verstanden haben. Das würde diese Sache auch nicht wirklich besser machen. In der Sache hat der BGH nämlich gesagt, dass es im Einzelfall tatsächlich sein kann, dass ein Nutzer mehr Entschädigung erhält, obwohl er selbst kündigt oder ob- wohl ihm aufgrund vertragswidrigen Verhaltens gekün- digt wurde. Daraus ziehen Sie dann aber den Schluss, dass hier eine völlig willkürliche Rechtslage entstanden sei, nach der im Ergebnis die Höhe der Entschädigungs- leistung überwiegend zufällig davon abhänge, welche der Parteien die Kündigung zuerst ausspreche. Damit versuchen Sie wiederum, zu insinuieren, dass es einen Wettlauf geben könnte, wer das Nutzungsverhältnis zu- erst kündigt, um sich eine möglichst hohe Entschädi- gung zu sichern. Das wiederum soll letztlich den gerade angesprochenen spekulativen Charakter des Nutzungs- verhältnisses bzw. der gesetzlichen Regelung begründen. Tatsächlich hat der BGH sehr deutlich gemacht, dass es – anders als Sie in Ihrem Gesetzentwurf behaupten – gerade keine Besorgnis gibt, dass das Nutzungsverhält- nis einen solchen spekulativen Charakter erhält. Richtig ist nämlich, dass es dem Nutzer darauf ankommt, das Gebäude auf dem Erholungsgrundstück möglichst lange zu nutzen und nicht irgendwelche Spekulationsgewinne zu erzielen. Er hat also gerade kein Interesse daran, die Nutzung vorzeitig aufzugeben. Auch bei dem Eigentümer kann es zu dem behaupte- ten Wettlauf überhaupt nicht kommen. Das Gesetz sieht hier eine sehr weitgehende Beschränkung der Kündi- gungsmöglichkeiten vor. Der BGH hat sehr deutlich ge- sagt, dass die im Gesetz verankerte Wertung entspre- chend hinzunehmen ist. Alles in allem geht ihre Argumentation also an der Sache vorbei. Das wurde Ihnen auch höchstrichterlich vom BGH bestätigt. Dass Sie hier trotzdem einen sol- chen Gesetzentwurf vorlegen, lässt mich wieder zu dem Schluss kommen, dass Sie das Urteil des BGH entweder nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, den Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen, ist die Entschädigung mit mindestens dem Zeitwert des Bau- werkes, ganz unabhängig davon, wer aus welchem Grund gekündigt hat. Das ist schlicht verfassungswidrig; das muss man hier ganz klar und deutlich sagen. Wenn Sie sich das Urteil des BGH anschauen, dann wird Ihnen das klar. In der Tat wundert mich ein solcher Gesetzent- wurf nicht. Wir alle wissen, dass Ihre Partei und Ihre Fraktion immer noch ein recht gespaltenes Verhältnis zu den Grundrechten und den rechtsstaatlichen Prinzipien unseres Grundgesetzes haben. Das haben Sie jüngst wie- der sehr deutlich unter Beweis gestellt, als sich Ihre Prä- sidentschaftskandidatin weigerte, die DDR als das zu be- zeichnen, was sie war, nämlich als einen Unrechtsstaat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vor diesem Hintergrund müsste man Sie eigentlich sehr deutlich darauf hinweisen, wie der Schutzumfang des Eigentums nach unserem Grundgesetz ausgestattet ist. Ich will es mir jetzt aber nicht anmaßen, Ihnen hier Nachhilfeunterricht zu geben. Ich könnte hier das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitieren, auf das Sie Be- zug nehmen. Darin steht sehr deutlich, dass der eigen- tumsrechtliche Gehalt vor allen Dingen durch Privatnüt- zigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers gekennzeichnet ist. Nun kontern Sie gleich wieder mit Art. 14 Abs. 2 GG, mit der Sozialbindung des Eigentums. Es ist völlig richtig, dass diese besteht; aber auch dazu hat das Bundesverfassungsgericht in dem zi- tierten Urteil sehr deutlich gesagt, dass eine einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung mit den verfassungs- rechtlichen Vorstellungen eines sozialgebundenen Pri- vateigentums nicht im Einklang steht. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht das Schuld- rechtsanpassungsgesetz, als es dies 1999 genau unter die Lupe genommen hat, im Wesentlichen bestätigt. Das Ge- richt hat nur eines gemacht: Es hat einzelne Regelungen in der Tat für nicht in vollem Umfang mit der Eigentums- garantie vereinbar erklärt. Das lag aber nicht etwa daran, dass das Gesetz hier zu eigentumsfreundlich ausgestaltet gewesen wäre. Im Gegenteil: Das Gericht hat das Gesetz als zu nutzerfreundlich ausgestaltet betrachtet. Wenn Sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf behaupten, dass die Regelungen des Schuldrechtsanpassungsgeset- zes der gescheiterte Versuch seien, einseitig die „Rechte der Grundstückseigentümer zu erweitern“, dann wird dies weder dem Willen des Gesetzgebers noch der Reali- tät gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Gesetzgeber hat letztendlich die Konsequenzen aus diesem Urteil gezogen und das Schuldrechtsanpas- sungsgesetz geändert. Sie wollen hier mit Ihrem Gesetz- entwurf eigentlich nichts anderes erreichen als eine Rolle rückwärts: Sie wollen wieder zu dem Zustand zu- rück, bei dem man Nutzer gegenüber den Eigentümern einseitig bevorteilt. Daran merkt man erneut, dass Sie of- fensichtlich immer noch in Ihren sozialistischen Denk- strukturen verhaftet sind und sich davon nicht lösen kön- nen. (Zuruf von der CDU/CSU: Reiner Populis- mus!) Das Schlimme dabei ist aber, dass Sie sich damit in of- fenen Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts begeben. Ich habe es gerade ausge- führt: Die Grundrechte der Eigentümer müssen auch im Rahmen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes gewahrt werden. Hierzu ist sehr deutlich ausgeführt worden, dass es das Bundesverfassungsgericht als Verletzung der Grundrechte der Eigentümer ansieht, wenn der Eigentü- mer den Nutzer auch dann für den Verlust des Nutzungs- rechts entschädigen muss, wenn es keinen korrespondie- renden Vorteil des Grundstückseigentümers gibt. Genau das könnte aber der Fall sein, wenn man ausnahmslos und ohne Differenzierung immer auf den Zeitwert eines Bau- werkes abstellte; denn es ist überhaupt nicht gesichert – es kommt auf den Einzelfall an –, ob ein solcher Mehrwert überhaupt besteht und ob er realisierbar ist. Deswegen 5354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Jan-Marco Luczak (A) (C) (D)(B) stehen Sie da in völligem Widerspruch zur Rechtspre- chung des Bundesverfassungsgerichts. Ihr Gesetzentwurf ist letztendlich – damit komme ich zum Schluss – ein Unterfangen, das offensichtlich da- rauf abzielt, eine verfassungsrechtlich anerkannte Aus- gleichsleistung, eine akzeptierte Ausgleichsregelung, au- ßer Kraft zu setzen und erneut Zwist und Zwietracht zwischen den Alteigentümern und den Datschenbesit- zern zu säen. Damit spielt die Linke mit den Ängsten der Menschen und versucht hier, populistisch, einseitig und unredlich ihre Interessen durchzusetzen. Sie werden ver- stehen, dass wir von der Union einem solchen Antrag nicht zustimmen können. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Steffen für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je länger das Spiel dauert, desto weniger Zeit bleibt; das gilt im Sport und in vielen anderen Lebensbe- reichen. Dies wissen auch die Eigentümer der Datschen in den neuen Bundesländern. Die Häuschen zur Erho- lung, um die es in der heutigen Debatte im Wesentlichen geht, stehen nämlich meist auf fremdem Grund und Bo- den. Für diese Fälle gilt das Schuldrechtsanpassungsge- setz. Es besagt, dass der gesetzliche Kündigungsschutz im Jahr 2015 endet. Bis dahin ist nicht mehr viel Zeit. Was passiert dann mit den Datschen? Müssen die Nutzer Angst haben, dass das Nutzungsverhältnis 2015 automatisch endet und die Baulichkeiten dann dem Grundstückseigentümer zufal- len? Nein, kein Vertrag endet automatisch. Richtig ist: Mit dem 3. Oktober 2015 endet der gesetzliche Kündi- gungsschutz des Schuldrechtsanpassungsgesetzes. Grund- stückseigentümer können dann die Verträge nach Maßgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches kündigen. Entscheidend ist: Die Grundstückseigentümer können, sie müssen aber nicht kündigen. Die alten Verträge behalten weiterhin ihre Gültigkeit, wenn sie nicht gekündigt werden. Was passiert aber, wenn ein Grundstückseigentümer dennoch von seinem Kündigungsrecht Gebrauch macht? Dann fällt ihm auch das Eigentum an der Baulichkeit zu. In diesem Fall hat der Nutzer einen Entschädigungsan- spruch auf den aktuellen Zeitwert des von ihm errichte- ten Bauwerks. Herr Kollege, Sie haben bereits darauf hingewiesen. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Grundstückseigentümer für das Bauwerk Verwendung hat. Zudem muss der Eigentümer eine Entschädigung für die Anpflanzungen zahlen. Wenn der bisherige Nutzer kündigt, so bedarf es kei- nes Schutzes bezüglich seiner Investitionen. Da er das Nutzungsverhältnis aus freien Stücken beendet, ist er nicht schutzbedürftig. Selbst wenn das Gebäude noch ei- nen Wert hat, erhält er keine Entschädigung. Nur wenn die Errichtung des Gebäudes zu einer Werterhöhung des Grundstücks insgesamt führt, soll der Eigentümer den bisherigen Nutzer nach dem durch das Bauwerk erhöh- ten Verkehrswert des Grundstücks entschädigen. Das heißt: Der Nutzer kann bei eigener Kündigung zwar laut Schuldrechtsanpassungsgesetz keine Entschädigung nach dem Zeitwert des Bauwerks beanspruchen, wohl aber bereits jetzt die oftmals bessere Entschädigung wegen der Verkehrswerterhöhung des Grundstücks. Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, über den wir diskutieren, fordert, dass der Grundstückseigentümer zukünftig immer einen Wertausgleich bei der Vertrags- beendigung zahlen soll, und zwar unabhängig davon, welcher Vertragsteil die Kündigung vornimmt. Bei der Anpassung der Rechts- und Eigentumsord- nung der DDR an das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland stand der Deutsche Bundestag vor der schwierigen Aufgabe, die Interessen von Nutzern und Ei- gentümern in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Die Datsche bedeutete – darauf ist heute schon hingewie- sen worden – für zahlreiche Bürger der DDR ein wertvol- les Stück Freiheit. Hinzu kam, dass die Nutzer von Erho- lungsgrundstücken in der DDR – das waren eine ganze Menge – eine erheblich stärkere Rechtsposition gegen- über den Eigentümern hatten, als dies nach dem heutigen Recht der Fall ist. Schließlich war zu berücksichtigen, dass viele Nutzer das Grundstück zum Teil mit viel Zeit und großer Mühe nutzbar gemacht haben. Der Gesetzgeber hat andererseits auch den Interessen der Eigentümer Rechnung zu tragen und die Entschädi- gungsregelungen in einem ausgewogenen Verhältnis zu gestalten. Das Schuldrechtsanpassungsgesetz hat einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden In- teressen von Nutzern und Eigentümern hergestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz im Jahr 1999 im Wesentlichen bestätigt. Die Entschädigungsre- gelungen wurden vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet. Die Forderung der Fraktion Die Linke, dem Nutzer stets eine Entschädigung mindestens nach dem Zeitwert des Bauwerks zukommen zu lassen, ist mit den Grund- sätzen des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht ver- einbar und stellt auch nicht, wie Sie, Herr Kollege Claus, meinten, eine kleine Änderung dar. Für die Eigentümer ist sie erheblich. In vielen Fällen hat das Bauwerk für den Grundstückseigentümer keinerlei wirtschaftlichen Wert. Es ist gerecht, dass der Nutzer im Falle einer Ei- genkündigung nur dann eine Entschädigung erhält, wenn der Verkehrswert des Grundstücks durch das Bauwerk erhöht wird. Wenn keine Werterhöhung vorliegt, wäre es unbillig, dem Eigentümer den vollen Wertausgleich für das Bauwerk aufzubürden. Die Gesetzesinitiative ist meiner Meinung nach einseitig, populistisch und daher abzulehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5355 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Marco Buschmann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Marco Buschmann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den ausgezeichneten Ausführungen des Kollegen Luczak und auch der Kollegin Steffen will ich die eben vorgetragenen Punkte nicht wiederholen. Mir scheint es aber angebracht – insbesondere nach den Aus- führungen von Herrn Claus, der gewissermaßen obiter dictum vorgetragen hat, dass er das DDR-Recht gegen- über dem deutschen, bundesrepublikanischen Recht für vorzugswürdig hält –, die Materie systematisch zu be- leuchten. Unserem geltenden Zivilrecht liegen kluge, volks- wirtschaftlich sinnvolle und auch gerechte Entscheidun- gen und Erwägungen zugrunde. So finden wir im BGB etwa den Grundsatz, dass die Verbindung von verschie- denen Gegenständen unterschiedlicher Eigentümer zu einem einheitlichen Gegenstand auch zu einer einheitli- chen Zuordnung bei einem einzigen Eigentümer führt. Wir finden das beispielsweise in § 947 BGB für die Ver- bindung beweglicher Sachen. Dort ist geregelt: Entsteht durch die Verbindung zweier beweglicher Sachen eine neue einheitliche Sache, so steht das Eigentum daran demjenigen zu, der Eigentümer der Hauptsache ist. – Diesen Grundsatz finden wir auch bei den Grundstücken und den Gebäuden – nämlich in § 946 BGB – konkreti- siert. Dort geht es um die Verbindung von beweglichen Sachen mit einem Grundstück. Dabei ist klar, dass das Grundstück genau diese Hauptsache ist. Daher steht das Eigentum auch dem Grundstückseigentümer zu. Wer nach diesen Vorschriften – das ist auch das Ge- rechte an dem System – sein Eigentum verliert, der steht nicht ohne Ersatz da, sondern dem steht nach § 951 BGB ein entsprechender Ersatz zu. Dieses Regelungssystem ist klug und auch gerecht. Man sollte es hier nicht dis- kreditieren. Es ist nämlich klug, weil es volkswirtschaft- lich zweckmäßig ist. Bleiben wir bei den beweglichen Sachen: Wenn wir ein mechanisches Uhrwerk wieder auseinandernehmen müssten, nur weil die Zahnräder un- terschiedlichen Eigentümern gehören, dann würde ein Wirtschaftsgut, dessen Wert größer ist als die Summe seiner Teile, zerstört werden, und der darin verkörperte Mehrwert würde auch zerstört werden. Das ist nicht sinnvoll. Es ist klug, weil es Streit vermeidet, und auch gerecht, weil die Interessen aller Beteiligten – siehe den Ersatzanspruch – berücksichtigt werden. Das Zivilrecht der DDR folgte diesem klugen und ge- rechten Regelungssystem nicht, wenn es um Bauwerke auf Grundstücken ging. Da hatte man eine unterschiedli- che Zuordnung vorgenommen. Es ist ein Problem der Transformation in ein anderes Rechtssystem, das man lösen muss. Für die notwendige Überführung in die heutige gül- tige Rechtslage hat man Übergangsregelungen gefunden, die sinnvoll sind. Das ist zum Teil schon ausgeführt wor- den. Man kann es eben nicht anders machen, als dass das Eigentum an einem Bauwerk dem Grundstückseigentü- mer zugeordnet wird. Natürlich muss es dafür einen Er- satzanspruch geben. Dass man dabei das wesentliche In- teresse des Bauwerkseigentümers berücksichtigt, ist doch völlig klar; aber das wesentliche Interesse lag eben in der Nutzung. Wenn jemand freiwillig auf die Nutzung verzichtet, dann ist ebenso völlig klar, dass man den an- ders behandelt, weil sein Interesse anders ist, als denjeni- gen, bei dem die Nutzung unfreiwillig beendet wird. Deshalb ist die Unterscheidung, die wir im Schuld- rechtsanpassungsgesetz vorfinden, sachgemäß. Die bei- den Fallkategorien haben Herr Kollege Luczak und Frau Kollegin Steffen hier schon differenziert dargestellt. Die Kritik der Linken an diesem System ist deshalb nicht nachvollziehbar. Sie fordern, dass man diese Un- terscheidung aufheben soll. Es sind auch einzelne tech- nische Punkte – ich will auf die Details kommen – nicht nachvollziehbar. So soll etwa klargestellt werden, dass der Ersatzanspruch zum Zeitpunkt der Vertragsbeendi- gung über das Nutzungsrecht geschehen soll. Das gibt die geltende Rechtslage bereits her. Der Blick in § 12 Abs. 1 Satz 1 des Schuldrechtsanpassungsgesetzes er- leichtert die Findung der Rechtslage. Danach muss die Entschädigung durch den Grundstückseigentümer „nach Beendigung des Vertragsverhältnisses“ geleistet werden. Auch Ihre grundsätzliche Kritik an dieser Differenzie- rung ist abzulehnen. Wenn der ehemalige Bauwerks- eigentümer freiwillig auf die Nutzung verzichtet, ist er eben weniger schutzwürdig. Das ist hier schon ausge- führt worden. Diese Unterscheidung ist, wie gesagt, inte- ressengerecht. Über die eine Ausnahmekonstellation, die Sie hervor- heben, quasi zum Grundsatz erheben und als Begrün- dung nehmen, das ganze System über den Haufen zu werfen, können wir gerne nachdenken. Diese Konstella- tion kennen wir tatsächlich: Es kommt wirklich in Aus- nahmefällen vor, dass der Zeitwert des Grundstücks durch die Existenz eines Gebäudes stärker steigt, als das Gebäude selber wert ist. Diese Fälle treten in attraktiven Lagen im Außenbereich durch den erweiterten Bestands- schutz, den auch das Bundesverfassungsgericht gewährt, ein. Aber das sind Ausnahmefälle, bei denen Sie über- haupt nicht klarmachen, um welche Größenordnungen es geht. Das gesamte System, dem volkswirtschaftlich sinnvolle Erwägungen und auch Gerechtigkeitserwägun- gen, die absolut überzeugend sind, zugrunde liegen, we- gen dieser einen Ausnahme bzw. Fallgruppe, die Sie nicht einmal quantifizieren, über den Haufen zu werfen, ist nicht sinnvoll. Wir können gerne über diese spezielle Fallkonstellation nachdenken; dann müssten wir einmal empirisch untersuchen, um wie viele Fälle es überhaupt geht. Aber das ist kein Grund für einen Systemwechsel. Deshalb werden Sie verstehen, dass wir Ihrem Anliegen nicht folgen werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 5356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ingrid Hönlinger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns bei dem Entwurf eines Ge- setzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgeset- zes mit einem Thema, das seinen Ursprung in der Wie- dervereinigung von Ost- und Westdeutschland hat. Es lohnt sich, diese Geschichte der Vereinigung auf eine faire und ausgewogene Grundlage zu stellen. Aus die- sem Grunde war die Frage, wie wir mit den Nutzungs- verhältnissen an Grundstücken im Osten Deutschlands umgehen, schon mehrfach Gegenstand der Beratungen in diesem Haus. Die Kernfrage besteht darin, wie wir die Rechtsverhältnisse von Eigentümern und Nutzern von Grundstücken in der ehemaligen DDR regeln, auf denen Wochenendhäuser, Datschen oder Garagen errichtet worden sind. Konkret geht es um die Folgen der Beendi- gung des Nutzungsverhältnisses. Ziel des Gesetzentwurfes der Linken ist es, in vier Punkten Änderungen an der Gesetzeslage herbeizufüh- ren: beim Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf eine Entschädigung, bei der Bemessung der Höhe der Entschädigung, bei der Tragung der Kosten für den Ab- bruch von Bauwerken und bei der Erhöhung des Nut- zungsentgelts. Anfangen möchte ich mit der Frage der Bemessung der Entschädigung im Falle der Beendigung des Nut- zungsverhältnisses. Bisher wird im Gesetz eine Unter- scheidung danach getroffen, wer das Ende des Nut- zungsverhältnisses veranlasst hat. Die erste Regelung betrifft die Fälle, in denen der Nutzer selbst kündigt oder durch sein vertragswidriges Verhalten Anlass zur Kündi- gung gegeben hat. In diesen Fällen bemisst sich die Höhe der Entschädigung danach, wie der Verkehrswert des Grundstücks durch das Bauwerk erhöht wird. Die zweite Regelung betrifft die Fälle, in denen der Eigentümer dem Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält, kündigt. Hier ersetzt die Entschädigung den Zeitwert des Bauwerks. Bei dieser Regelung ist der Gesetzgeber da- von ausgegangen, dass der Zeitwert des Bauwerks höher ist als die Verkehrswertsteigerung durch das Bauwerk. Das heißt, der Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält, sollte im Falle einer Kündigung des Eigentümers besser- gestellt werden. Die Linke problematisiert jetzt den Fall, dass die Ver- kehrswertsteigerung des Grundstücks höher sein könnte als der Zeitwert des Bauwerks. Werde in diesen Fällen nur der Zeitwert des Bauwerks ersetzt, könne das den vertragstreuen Nutzer gegenüber dem Nutzer, der selbst kündigt oder sich vertragswidrig verhält, schlechterstel- len. Diesen Vorschlag kann man noch einmal überprü- fen. Allerdings führt das aus unserer Sicht zu einer Ver- komplizierung des Verfahrens. Denn es hat zur Folge, dass gleich zwei Werte ermittelt werden müssen, näm- lich die Verkehrswertsteigerung des Grundstücks und der Zeitwert des Bauwerks. Ich stelle mir auch die Frage, weshalb wir diesen Weg dann nicht auch in umgekehrter Richtung gehen sollten, wenn nämlich der Grund für die Vertragsbeendigung in der Sphäre des Nutzers liegt, weil dieser selbst kündigt oder sich vertragswidrig verhält. Wenn in diesen Fällen der Zeitwert des Bauwerks unter der Verkehrswertsteige- rung des Grundstücks liegt, dann müsste man dies, wenn man Ihren Gedanken zu Ende denkt, auch dem Eigentü- mer zugute kommen lassen. Eine einseitige Lösung zu- gunsten des Nutzers erscheint mir hier nicht klar und auch nicht ausgewogen. Ähnliches gilt, wenn wir den Zeitpunkt für die Entste- hung des Anspruchs auf Entschädigung so abändern, wie es die Linke vorschlägt. Bei der jetzigen gesetzlichen Regelung ist der Zeit- punkt der Rückgabe des Grundstücks an den Eigentümer maßgeblich. Dieser Zeitpunkt soll nach Vorstellung der Linken auf die Vertragsbeendigung vorverlagert werden. Sie begründen dies mit möglichen zivilrechtlichen An- sprüchen des Nutzers. Was passiert aber, wenn Vertragsbeendigung und Rückgabe des Grundstücks zeitlich auseinanderfallen, wenn sich der Zustand des Bauwerks in dieser Zeit ver- schlechtert? Dann ist das Bauwerk immer noch in der Verfügungsgewalt des Nutzers. Der Eigentümer kann nicht darauf einwirken. Warum sollte der Eigentümer dann das Risiko der Verschlechterung tragen? Zu einer ausgewogenen Regelung gehört auch, dass Risiken nicht einseitig auf den Nutzer oder einseitig auf den Eigentümer verteilt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen auch von der Linken, wir wollen doch auf eine Balance der Rechte und Pflichten aller Beteiligten ach- ten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Auch bei den Abbruchkosten schlagen Sie eine neue Regelung vor. Sie ist aus unserer Sicht zu unbestimmt. Deswegen können wir ihr nicht folgen. Aus den genannten Gründen können wir Ihrem An- trag insgesamt nicht zustimmen. Er ist in wichtigen De- tails nicht ausgewogen. Er begünstigt unverhältnismäßig eine Seite. Er verkompliziert das Verfahren. Er erhöht das Risiko von Rechtsstreitigkeiten und fördert die Bü- rokratie, insbesondere wenn ich an Ihren Vorschlag zur Erhöhung der Nutzungsentgelte denke. Insgesamt stellt der Gesetzentwurf aus unserer Sicht keine Verbesserung der Rechtslage dar. Deswegen lehnt meine Fraktion ihn ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/2150 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5357 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) (C) (D)(B) damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un- terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung – Peer Review der deutschen Nachhaltigkeitspolitik – Drucksachen 17/1657, 17/2061 Nr. 1.1, 17/2314 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Dr. Matthias Miersch Michael Kauch Ralph Lenkert Dr. Valerie Wilms Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver- fahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Frak- tion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist die erste Debatte, die wir als Mitglieder des Par- lamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in dieser Legislaturperiode im Plenum führen können. Des- halb gestatten sie mir zunächst eine grundsätzliche Be- merkung. Aus unserer Sicht ist Nachhaltigkeit nicht irgendein Politikbereich neben anderen, sondern es handelt sich um eine zentrale Querschnittsaufgabe, die in allen Poli- tikbereichen zur Geltung kommen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Das gilt selbstverständlich für den klassischen Be- reich von Umwelt- und Naturschutz. Es gilt aber ganz genauso für den Bereich Haushalt und Finanzen; es gilt für Wirtschaft und Soziales. Die Liste ließe sich fortfüh- ren. Wir haben in all diesen Bereichen die besondere Verantwortung, nicht an den kurzfristigen Erfolg, an kurzfristigen Gewinn zu denken, sondern an das lang- fristige Erfordernis, heute so zu handeln, dass es auch künftigen Generationen gerecht wird. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Um es auf einen Nenner zu bringen: Wir dürfen nicht heute auf Kosten von morgen leben. Das ist unsere ge- meinsame Verantwortung als Abgeordnete im Deutschen Bundestag, und es ist die besondere Aufgabe des Parla- mentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Des- halb freuen wir uns, dass der Parlamentarische Beirat zum dritten Mal in Folge vom Deutschen Bundestag ein- gesetzt wurde, dass sich mit diesem Gremium auch die Bedeutung, die man diesem Thema beimisst, verstetigt hat. Wir freuen uns, dass wir in dieser Legislaturperiode – es ist Schritt für Schritt ein Ringen um mehr Kompe- tenzen gewesen – wiederum mit neuen Rechten ausge- stattet worden sind, dass wir jetzt die Befugnis erhalten haben, jeden einzelnen Gesetzentwurf der Bundesregie- rung daraufhin zu überprüfen, ob dem Erfordernis, eine Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen, konsequent und ausführlich Rechnung getragen wurde. Kurz: Wir freuen uns, dass wir mit handfesten Rechten im parlamentari- schen Alltag ausgestattet sind. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Man kann sagen: Wir sind fast so gestellt wie ein rich- tiger Ausschuss. Ich sage „fast“. Das zeigt, dass wir Er- folge haben. Es zeigt aber auch, dass es neben den Berei- chen, in denen wir eine stärkere Stellung als normale Ausschüsse haben, die sich immer nur mit ihren spezifi- schen Themenbereichen befassen dürfen, während wir eine globale Zuständigkeit für Nachhaltigkeit haben, noch bestimmte Dinge gibt, die wir fordern. Wir freuen uns, dass der Peer Review, über den wir heute diskutieren, ganz dezidiert diese Forderung unter- stützt und sagt, man muss die Stellung des Parlaments bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie stärken, und dass die Peers fordern, dass ein ständiger Ausschuss für Nachhaltigkeit eingesetzt wird. Wir begreifen das als Rückenwind, unsere Forderung weiter zu vertreten und darauf zu dringen, dass wir in der Geschäftsordnung des Bundestags ausdrücklich erwähnt werden und die Feder- führung für die Begleitung der nationalen Nachhaltig- keitsstrategie, aber auch für die Begleitung der Nachhal- tigkeitsstrategie der Europäischen Union erhalten. Ich finde, das ist die logische Konsequenz aus der hohen Be- deutung, die wir dem Thema Nachhaltigkeit politisch beimessen. Deshalb kämpfen wir als Beirat über alle Fraktionen hinweg gemeinsam dafür. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben Anlass, noch weitere Punkte aus dem Be- richt der Peers aufzugreifen und zu unterstützen, wie wir es in unserem gemeinsamen Antrag tun. Ich will an die- ser Stelle sagen: Es ist bemerkenswert, dass wir eine ge- meinsame Stellungnahme aller Fraktionen im Deutschen Bundestag abgeben – bei einem Sondervotum der Links- Partei in einer Frage. Das zeigt, dass es hier bei allem ta- gespolitischen Streit einen Konsens gibt, diese wichtigen Zukunftsfragen gemeinsam zu lösen. Einer dieser Punkte ist unsere Forderung, die nationale Nachhaltig- keitsstrategie, die bisher einen Zeithorizont bis 2020 hat, langfristiger zu formulieren. Auch das fordern die Peers. Sie fordern, man muss mindestens bis zum Jahr 2030 denken, planen und skizzieren, am besten aber in den Bereichen, in denen es angezeigt ist, bis zum Jahr 2050. Diese Forderung machen wir uns zu eigen – gerade an- 5358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Andreas Jung (Konstanz) (A) (C) (D)(B) gesichts der wachsenden globalen Herausforderungen wie Umwelt, Klimaschutz, Ressourcenschutz und Arten- vielfalt. Aber auch in den wirtschaftlichen Fragen ist es rich- tig, zu sagen: Wenn wir nachhaltig handeln wollen, dann muss es sich tatsächlich auf einen solchen langen Zeit- raum beziehen. Es ist gut, dass auch die Bundesregie- rung in ihrer Stellungnahme nach der letzten Sitzung des Staatssekretärsausschusses erklärt hat, auch sie sehe diese Notwendigkeit. Wir werden uns dafür einsetzen, dass bei der Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie im Jahr 2012 diese Konsequenzen tatsächlich gezogen werden. Ich will abschließend noch darauf hinweisen, dass ich zwei weitere Punkte aus diesem Bericht für besonders wichtig halte. Es wird darauf hingewiesen, Nachhaltig- keit noch besser mit den Ländern und in der Zusammen- arbeit zwischen Bund und Ländern abzustimmen, und es wird auf das Erfordernis hingewiesen, bürgerschaftliches Engagement und die gesellschaftlichen Akteure einzube- ziehen und eine gesellschaftliche Debatte zu führen. Ich finde allgemein, dass das wichtig ist. Es wird besonders wichtig bei der Vorbereitung der Nachfolgekonferenz Rio-plus-20 sein – 20 Jahre nach Rio. Da wird es not- wendig sein, dass gesellschaftliche Akteure, Parlament und Regierung an einem Strang ziehen, um gemeinsam den Durchbruch zu schaffen, den wir für Nachhaltigkeit national und international bis zum Letzten brauchen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Lösekrug- Möller für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Peer Review, über den wir heute reden, richtet den Fokus stark auf Wirt- schaft und Energie und betrachtet Anstrengungen der Politik, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu imple- mentieren. Dieser Blick internationaler Experten auf un- sere nationalen Anstrengungen ist der SPD-Bundestags- fraktion willkommen, und wir begrüßen das ausdrück- lich. (Beifall bei der SPD) Wir als Parlamentarischer Beirat sind auch Gegenstand der Betrachtung. Der Kollege Jung hat schon darauf hin- gewiesen: Wir wurden sehr wohlwollend betrachtet, und eigentlich wünscht man, dass man uns verstetigt. Das ist ein großes Lob. Allerdings haben wir uns auch selbst mit den zahlreichen Empfehlungen befasst, die die Peers gegeben haben. Sie beschreiben Stärken und Schwä- chen, Chancen und Risiken, und sie geben Empfehlun- gen, was wir besser machen könnten. Das Ergebnis un- serer Betrachtung haben wir in eine gemeinsame Stellungnahme gefasst und gemeinsam einen Entschlie- ßungsantrag vorgelegt. Diese fraktionsübergreifenden Beratungen und die aus ihnen hervorgehenden Papiere sind stark konsensorientiert. Ich will an dieser Stelle sa- gen: Das ist auch gut so. Erinnern wir uns: Seit 2002 haben wir die Fragen der Nachhaltigkeitspolitik am Ende immer mit einer sehr breiten Mehrheit beantworten können. Das ist gut für dieses Thema. Ich sage: Würden wir das nicht hinbe- kommen, dann würden wir kein gutes Zeichen setzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich muss allerdings sagen: Der Parlamentarische Bei- rat für nachhaltige Entwicklung ist deshalb keine parla- mentarische Kuschelecke, und einen Schmusekurs gibt es da auch nicht. Wir wissen ja: In vielen Bereichen der Politik des Alltags haben wir durchaus unterschiedliche Positionen. Deshalb will ich nicht den Eindruck erwe- cken, dass wir in allem immer übereinstimmen. Mitnich- ten! Als Mitglieder des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung müssen wir uns in den Dienst der besonderen Aufgabe stellen, und die heißt „nachhal- tige Politik“. Wir gucken über Legislaturperioden hin- weg, wir schauen über lebende Generationen hinaus, und wir arbeiten quer zu den Ressorts. Das ist eine große Herausforderung. In der Regel wird hier eher darüber diskutiert: Was machen wir heute, und was betrifft uns jetzt? Es geht also nicht um die lange Perspektive. Ich behaupte: Wenn sich die Nachhaltig- keitspolitik auf das Tagesgeschäft beschränken würde, dann würde sie dieses Etikett nicht verdienen. Deshalb will ich nur sagen: In der Tagespolitik sind wir in vielen Fällen anderer Meinung als die jetzige Mehrheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das gilt für das Marktanreizprogramm, für das EEG, für die Atomkraft und für die Steuerpolitik. Ja, das sehen wir anders als Sie. Trotzdem sagen wir: Wir sind bei- sammen, wenn es darum geht, gemeinsam etwas Gutes für die Zukunft zu gestalten. Was wird uns durch den Peer Review dazu beschei- nigt? Rückblickend wird festgestellt: Wir sind klug und kraftvoll gestartet. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist der richtige Ansatz. Nach starkem Start sind nun die Institu- tionen etabliert, und es stellen sich weitere Aufgaben. Herr Jung, Sie haben schon die Nachhaltigkeitsprü- fung in der Gesetzesfolgenabschätzung angesprochen. Damit haben wir uns einen dicken Brocken vorgenom- men, den wir aber gut bewältigen müssen. Wir müssen Wert darauf legen, dass das im Gesetzgebungsverfahren verbindlich eingefügt wird. Unser Augenmerk muss na- türlich auch darauf liegen, dass wir die Länder ermun- tern, uns zu folgen, wenn wir das auf Bundesebene er- folgreich gemacht haben. Wir müssen die Zusammen- arbeit von Bund und Ländern in der Nachhaltigkeitspoli- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5359 Gabriele Lösekrug-Möller (A) (C) (D)(B) tik grundsätzlich voranbringen. Hier gibt es noch jede Menge zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schauen wir auf das gesamte Verfahren, dann stellen wir aber auch fest: Wir beschäftigen uns im Augenblick sehr mit den grundsätzlichen Regeln und mit der Frage, wie wir das institutionalisieren. Das ist gut so, aber wir dürfen hier nicht stecken bleiben. Wenn wir bei den Ver- fahrensfragen stecken bleiben, dann haben wir einen Ef- fekt wie beim Mehltau. Viele werden das von ihren Ro- sen her kennen. Dabei kann auf Dauer nichts Rechtes herauskommen. Deshalb sage ich: Das eine ist es, diese Arbeit zu erledigen, das andere ist aber, die beschriebene Sorge der Peers ernst zu nehmen. Was für eine Sorge haben sie beschrieben? Ich will das mit den Worten von Volker Hauff sagen, der bis vor kurzem ja der Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung war. Er sagte als Erstes: Es ist gut, dass diese Peers, namhafte internationale Experten, bestellt wurden. Sie kommen zu dem Ergebnis: Früher war Deutschland spitze in der Umweltindustrie, heute – und das ist die Warnung – verliert Deutschland aber an Bo- den, jedenfalls dann, wenn Deutschland die neuen Spiel- regeln des internationalen Green Race nicht beherzigt. Was ist der Green Race? – Dabei geht es um die Glo- balisierung mit Nachhaltigkeitskriterien. Der Wettlauf um die Entwicklung und Produktion der effizientesten Systemlösungen für die nachhaltige Wirtschaft ist in vol- lem Gang. Es geht um den Umbau von Produktion und Konsum zu klimagerechten, ressourceneffizienten und nachhaltigen Formen, also um keine Kleinigkeiten. Deshalb finde ich den Bericht anregend; mit ihm soll nicht kritisiert werden. Ich verstehe ihn als mutmachend, als Herausforderung und als ein Impuls, zu sagen: Lasst nicht nach! Ihr habt so stark angefangen, macht stark weiter! – Ich glaube, der Parlamentarische Beirat unter- stützt das umfassend. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Ich will allerdings auch einen Aspekt der Nachhaltig- keit ansprechen, den ich persönlich in dem Bericht etwas unterbelichtet dargestellt finde, nämlich die Bevölke- rungsentwicklung. Wir alle wissen: Weltweit wächst die Bevölkerung, und die Lebensbedingungen der Menschen sind noch immer vom Mangel geprägt. In Deutschland wächst die Bevölkerung jedoch nicht; sie schrumpft. Das heißt, wir stehen hier vor anderen Aufgaben, aber nicht vor leichteren. Bevölkerungsentwicklung von der Zukunft her zu denken, ist deshalb eine sehr große und anspruchsvolle Aufgabe. Welche Fragen stellen sich dann, und welche möglichen Antworten gibt es? Was be- deutet das für Gerechtigkeit heute, öffentliche Haushalte und Steuerpolitik? Dazu darf ich den Kolleginnen und Kollegen von den Linken sagen: Ihr Minderheitenvotum ist ein bisschen zu schlank. Ich glaube, dass nicht funk- tioniert, was Sie postulieren. Sie sagen, eine gerechte Verteilung heute sei eine gute Basis für das Recht kom- mender Generationen. Als wäre es damit gesichert! Nein, wir wissen, dass das nicht der Fall ist. Wir sind ambitionierter. Wir wollen Gerechtigkeit heute mit der Option auf Gerechtigkeit und gutes Leben kommender Generationen in Einklang bringen. Das ist der Anspruch, und der ist nicht gering. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der FDP) In konkrete Politik übersetzt heißt das: Wir wollen die im Bereich der Nachhaltigkeit interagierenden Felder von Ökologie, Ökonomie und Sozialem miteinander ver- bunden diskutieren und entwickeln, weil wir glauben, dass nur ein solcher zusammenführender Ansatz die richtigen Vorschläge für die Politik der Zukunft und für die Politik von heute bringt. Willy Brandt hat dazu schon vor 30 Jahren festgestellt: Es gilt, von der ständigen Ver- wechslung von Wachstum und Entwicklung wegzukom- men. – Recht hat er gehabt. Noch heute ist die Gefahr groß, dass wir das eine mit dem anderen verwechseln. Es ist schon der Mühe wert, darüber zu diskutieren, was wir unter Wachstum verstehen. Auf diese Debatte im Beirat und hier im Parlament freue ich mich. Ich halte es für geboten, sie jetzt zu führen. Deshalb sagt die SPD: Aus gutem Grund werden wir grundsätzlich. Die Regierung hat eine große Selbstverpflichtung seit 2002. Wir wollen das Regierungshandeln konstruktiv begleiten. Wir wer- den dabei aufmerksam sein. Wir werden konstruktiv sein und eigene Vorschläge einbringen, wie es für die SPD üblich ist, und das ist immer gut gewesen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Vorrednerin, Frau Lösekrug-Möller, hat gesagt: Die Nach- haltigkeitspolitik muss heraus aus der Kuschelecke. – Ich glaube, das ist richtig und wichtig. Ich will versuchen, das kuschelige Thema mit ein paar harten Fakten anzu- reichern. Die FDP setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass es eine Politik der Generationengerechtigkeit gibt. Frau Lösekrug-Möller hat schon angedeutet, dass wir hier schon einmal eine Rednerin der Linken erlebt ha- ben, die gesagt hat: Es gibt kein Gerechtigkeitsproblem zwischen den Generationen, nicht einmal zwischen Arm und Reich, sondern nur zwischen denen, die die Produk- tionsmittel besitzen, und denen, die sie nicht besitzen. – Das war keine Sternstunde des Parlamentarismus. Ich hoffe, dass Herr Lenkert diese Tradition heute nicht fort- setzen wird. 5360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Michael Kauch (A) (C) (D) Wir sollten uns anschauen, was Generationengerech- tigkeit bedeutet und was wir in den vergangenen Jahren vielleicht falsch gemacht haben. Ich denke, die Finanz- krise hat gezeigt: Wir haben mit unseren Staatsausgaben über unsere Verhältnisse gelebt. Jetzt präsentieren wir mit den Rettungspaketen, die wir schnüren müssen, den kommenden Generationen die Rechnung. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Finanzmärkte dereguliert – das haben Sie gemacht!) Das sollte uns nicht noch einmal passieren. Wir müs- sen jetzt die Haushalte in Ordnung bringen, sonst ist al- les Gerede von Nachhaltigkeit nur Sonntagsrede. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Mit von Ihnen unterstützten Steuersenkungen!) Deshalb müssen wir auch unsere Sozialsysteme für die Veränderungen wetterfest machen, die angesichts ei- ner schrumpfenden und alternden Bevölkerung auf uns zukommen. Man kann sich nicht wie die Linken hinstel- len und sagen: Wir wollen immer mehr, und alles soll so bleiben, wie es ist. – Wir müssen uns vielmehr Gedan- ken darüber machen, wie wir soziale Sicherheit auch noch für die Generationen schaffen, die mit mir oder nach mir in Rente gehen oder Pflege in Anspruch neh- men müssen. Auch dann müssen diese Systeme noch funktionieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen uns auch bei Infrastrukturprojekten, für die wir viel Geld ausgeben, überlegen: Ist auch in 100 Jahren noch Nachfrage für das da, was wir hier in Stein meißeln, oder sind vielleicht flexiblere, neue Tech- nologien beispielsweise bei der Abwasserentsorgung ein sinnvollerer Weg in der Investitionspolitik dieses Staa- tes? Es ist eine Binsenweisheit, aber ich sage es hier noch einmal deutlich als Mitglied des Umweltausschusses: Auch bei den natürlichen Ressourcen haben wir vom Kapital statt von den Zinsen gelebt, und deshalb ist es richtig, dass sich der Umweltausschuss federführend mit dem Bericht des Nachhaltigkeitsbeirats beschäftigt hat. Das zeigt aber, dass sich die Nachhaltigkeitspolitik auf- grund der Verantwortung gegenüber kommenden Gene- rationen wie ein roter Faden durch alle Politikbereiche ziehen muss. Die FDP hat dies im Koalitionsvertrag ver- ankert und erreicht, dass zur Nachhaltigkeitsprüfung, die wir seit letztem Jahr im Bereich der Gesetzgebung ha- ben, im Laufe dieser Legislaturperiode eine Generatio- nenbilanzierung hinzukommen muss; denn Transparenz ist der erste Schritt zur Umkehr. Wir müssen zunächst er- kennen, welches die langfristigen Wirkungen unserer Gesetze sind, um sie dann verbessern zu können. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU]) Politik braucht Perspektive für Jahrzehnte und nicht für Legislaturperioden. Deshalb finde ich es richtig, dass der Nachhaltigkeitsbeirat sehr klar gesagt hat, die Nach- haltigkeitsstrategie sei in die Jahre gekommen. Sie ist jetzt acht Jahre alt und hat immer noch den gleichen Zeithorizont. Wir sollten bei der nächsten Überprüfung der Nachhaltigkeitsstrategie, die in dieser Wahlperiode ansteht, nicht nur wieder um zehn Jahre nach vorn bli- cken, sondern bis 2030. Ich begrüße, dass der Staats- sekretärsausschuss im letzten Monat die Aussage getrof- fen hat, dass der Zeithorizont verlängert werden soll. Ich hätte mir aber eine klarere Aussage gewünscht. Ich sage deshalb sehr deutlich – ich denke, auch im Namen der Koalitionsfraktionen –, dass wir hier ein klares Vorgehen erwarten, so wie es der Deutsche Bundestag heute be- schließen wird, nämlich die Perspektive auf 2030 zu er- weitern und in den Feldern, wo es sinnvoll ist – beim Klimaschutz und auch beim Energiekonzept –, auf 2050. Die Bundesländer sind angesprochen worden. Wir haben ein völlig zersplittertes System von Nachhaltig- keitsstrategien. Manche Länder haben eine Nachhaltig- keitsstrategie, andere haben keine; die einen machen es ernsthaft mit Indikatoren, bei den anderen hat man den Eindruck, das ist Greenwashing für die PR. Deshalb müssen wir die Bundesländer endlich klarer in die natio- nale Nachhaltigkeitsstrategie – es ist nicht die bundes- politische Nachhaltigkeitsstrategie, es ist die nationale Nachhaltigkeitsstrategie – integrieren, als das heute der Fall ist. Die internationalen Experten haben an einigen Stellen gute Anregungen gegeben; an anderen Stellen wollen wir ihnen nicht folgen. Das finde ich richtig. Ich finde es richtig, dass wir ihnen nicht folgen, wenn es um die For- derung geht, das Amt eines Nachhaltigkeitsbeauftragten der Bundesregierung einzuführen. Auf Beauftragte schiebt man häufig Dinge ab. Man kann einen Beauf- tragten einsetzen, wenn es sich um ein enges Gebiet han- delt, aber nicht, wenn es sich um eine Querschnittsauf- gabe handelt. Es ist richtig, dass an dieser Stelle das Kanzleramt das federführende Ministerium ist. Das soll- ten wir auch nicht ändern. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die guten Anregungen des Peer Reviews aufgreifen, wie wir es in unserem Antrag getan haben, und erkennen wir Nach- haltigkeitspolitik als das, was es ist: eine Chance für die deutsche Wirtschaft, eine Verantwortung gegenüber kommenden Generationen und eine Politik, die wir ge- meinsam mit den Menschen machen müssen. Denn nicht nur durch Gesetze, sondern erst durch das Engagement der Bürgergesellschaft wird Politik tatsächlich nachhal- tig. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute sprechen wir endlich über Nachhaltigkeit. (B) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5361 Ralph Lenkert (A) (C) (D)(B) Wir von der Linken tragen die Stellungnahme des Bei- rats für nachhaltige Entwicklung zum Bericht zur Nach- haltigkeitsstrategie teilweise mit, aber wir stellen fest, dass die starke Ungleichheit von Arm und Reich zu Spannungen in der Gesellschaft führt. Das ist eine Ge- fahr für die Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) Das ist der Boden, auf dem religiöser und politischer Fa- natismus entstehen. Extreme Armut, aber auch Chancen- losigkeit, fehlende Bildung und Ungerechtigkeiten füh- ren über die Stationen „Resignation“ und „Frustration“ zu Wut und Hass. Nachhaltige Politik muss dies stoppen. (Beifall bei der LINKEN) Einige Beispiele: Erstens zu den Universitäten. Bis zum Jahr 2000 stellten neben Professoren festangestellte Dozenten die Mehrzahl der Lehrkräfte an den Hochschu- len. Der Beruf war für die besten Studienabsolventen at- traktiv. Die Erfahrungen sagen: Mehr als vier bis fünf hochwertige Lehrveranstaltungen je Woche inklusive der notwendigen Vor- und Nachbereitungszeiten und der ausreichenden Betreuung der Studenten sind für Dozen- ten nicht machbar. Wegen der Regierungspolitik, auch Ihrer Regierungs- politik, müssen Hochschulen sparen. Deshalb beschäfti- gen sie jetzt statt Dozenten Lehrbeauftragte. Die Arbeit ist die gleiche wie vorher, aber die Lehrbeauftragten erhalten je wöchentlicher Lehrveranstaltung nur circa 500 Euro pro Semester. Das macht bei vier bis fünf Lehrveranstaltungen fette 2 000 bis 2 500 Euro in sechs Monaten. Das ist untragbar. (Beifall bei der LINKEN) Mit etwa 400 Euro im Monat müssen diese Ausbilder un- serer akademischen Zukunft entweder mittels Hartz IV aufstocken, oder sie liegen ihren Verwandten und Part- nern auf der Tasche, und das ist beschämend für unser Land. (Beifall bei der LINKEN) Die meisten Lehrbeauftragten übernehmen diese Ar- beit als Pausenfüller in ihrer beruflichen Entwicklung. Die Leidtragenden davon sind unsere Studenten als unsere Zukunft. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, er- reichen wir garantiert keine nachhaltigen Studienbedin- gungen an den Hochschulen. Was wir brauchen, sind Mindeststandards in der Arbeitsgesetzgebung, geänderte Arbeitszeitgesetze und ein gesetzlicher Mindestlohn auch an den Hochschulen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schipanski? Ralph Lenkert (DIE LINKE): Gern. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Kollege Lenkert, ich wollte nur fragen, von welcher Studie Sie im Zusammenhang mit den Lehrbeauftragten sprechen. Im zuständigen Bildungsausschuss ist eine derartige Studie nicht bekannt. Auch in unser beider Heimatland, Thüringen, ist das nicht so. Ich komme von einer Universität. Was Sie da sagen, ist einfach nicht richtig. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Wenn Sie einmal rein zufällig die Statistiken gelesen hätten (Michael Kauch [FDP]: Welche? – Daniela Raab [CDU/CSU]: Welche? Die Quelle!) – die Statistiken der Arbeitsämter –, dann hätten Sie fest- gestellt, dass wir in der Bundesrepublik mehrere Tau- send gut bezahlte Dozenten hatten. Jetzt sind es noch 94. Wenn Sie einen Lehrbeauftragten suchen, dann gehen Sie in die Universitäten! Dort können Sie mit Leuten sprechen, die für 500 Euro diese Arbeit machen und auf- stocken gehen oder mehrere Jobs nebenbei machen. Im Wahlkampf sind manche zu mir gekommen und haben gesagt, sie arbeiteten für 800 Euro 40 Stunden die Wo- che und wüssten nicht, wie sie ihre Familie über die Runden bringen sollen. Herr Schipanski, Sie verschließen die Augen davor. Sie haben sicherlich die richtigen Fragen zum Bericht gestellt, aber mit Sicherheit haben Sie niemals nachge- fragt, wie die Situation dort wirklich ist. Mit Sicherheit haben Sie beim Bildungsstreik nicht die Schilderungen der Situation aufgenommen. Wenn Sie auf die Internet- seite bildungsstreik.net gehen, werden Sie diese Be- schreibung finden. Wenn Sie sich erkundigen, werden Sie feststellen, dass Ihre Politik an dieser Stelle versagt hat. Wenn Sie studiert haben, ist das schön, aber gelernt haben Sie nicht genug. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Man darf zu allem reden, auch nicht zur Sache! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist ja unverschämt! Herr Kollege, reden Sie mal zum Thema! Sie haben die falsche Rede gegriffen!) Zweitens zum Bahnverkehr. Für den Prestigebahnhof „Stuttgart 21“ plant die Regierung in den Haushalten mindestens 4,9 Milliarden Euro ein. Ich komme aus Jena, dem gern gepriesenen technologischen Leuchtturm Thüringens, der wohl 2017 vom Fernverkehr abgehängt wird, weil die ICEs dann über die Neubaustrecke über Erfurt fahren. (Zuruf von der CDU/CSU: Was hat das mit dem Peer Review zu tun?) Die Bahn verspricht eine super Zugverbindung nach Er- furt, aber Schwarz-Gelb streicht die Mittel für den not- wendigen Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung. (Patrick Döring [FDP]: Das stimmt nicht!) Die Stadt Gera, die auch zu meinem Wahlkreis ge- hört, kämpft mit wirtschaftlichen Problemen. Eine gute 5362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Ralph Lenkert (A) (C) (D)(B) Verkehrsanbindung würde nachhaltig helfen. Leider ist Gera seit Jahren vom Fernverkehr abgehängt. Chemnitz, Zwickau, Weimar, Eisenach – alle diese Städte liegen ebenfalls an der Mitte-Deutschland-Verbindung und könnten sich nachhaltig entwickeln. Weil die Regierung aber Milliarden für „Stuttgart 21“ verschleudert, ist für andere Bahnnetzinvestitionen kein Geld mehr da. Das ist eine für uns nicht nachvollziehbare nachhaltige Deindus- trialisierungspolitik. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das ist schlicht falsch! – Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!) Ändern Sie die Haushaltsplanung zugunsten der Bahn- strecken in der Fläche. Das wäre nachhaltig. Drittens ganz kurz zur Steuerpolitik. Hätten FDP und CSU eine Nachhaltigkeitsprüfung gemacht, wäre ihnen mit Sicherheit der Hotel-Mehrwertsteuer-Schwachsinn nicht passiert. (Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Ihre Rede wäre beim Nachhaltigkeits- test auch nicht zugelassen worden!) Sie können sicher sein, dass wir die Arbeit des Beira- tes engagiert und nachhaltig unterstützen. (Daniela Raab [CDU/CSU]: Aber bitte nicht so! Darauf können wir gerne verzichten!) Aus unserer Sicht sind in der Stellungnahme zum Be- richt die entscheidenden Schwerpunkte bislang nicht ausreichend berücksichtigt. Deshalb werden wir uns ent- halten. (Beifall bei der LINKEN – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben Afghanistan vergessen! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Treuhand hätte man auch noch anführen können!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, wieder auf das Thema „Peer Re- view“ zurückzukommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Lassen Sie mich in den mir zur Verfügung stehenden vier Minuten aus der Sicht der Grünen darstellen, wo wir noch einige Schwächen sehen. Herr Kollege Jung hat schon geschildert, wie der Parla- mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung funktio- niert. Ich bin sehr froh, in diesem Gremium mitzuwirken. Wir arbeiten dort interfraktionell und konsensorientiert, um wirklich etwas zu bewegen; denn das Thema Nach- haltigkeit betrifft uns alle und orientiert sich nicht an kurzzeitigem Legislaturperiodendenken, sondern muss auf die Zukunft ausgerichtet sein. Insofern freue ich mich, dass wir, nachdem wir den Parlamentarischen Bei- rat sehr schnell eingesetzt haben – ich bedanke mich noch einmal für die Unterstützung dabei –, heute auch einmal eine Debatte zu diesem Thema führen können. Lassen Sie mich zum Thema kommen. Was bedeutet Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit heißt: Wir müssen im Bundestag unsere Entscheidungen so treffen, dass wir den künftigen Generationen nicht mehr Lasten aufbür- den als den heute lebenden. Wenn ich mir die Gesetzent- würfe anschaue, die wir in dieser bislang erst kurzen Legislaturperiode schon vorgelegt bekommen haben, insbesondere die bedeutenden und umfangreichen, dann muss ich leider feststellen, dass sie durch die Bank weg alles andere als nachhaltig sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) Dabei sind die Bundesministerien bereits seit Sommer 2009 verpflichtet, Gesetzentwürfe auf ihre nachhaltige Entwicklung hin zu prüfen. Ich dachte, wir wären hier schon einen deutlichen Schritt in Richtung nachhaltiges Deutschland vorangekommen. Die Nachhaltigkeitsziele wurden seinerzeit von Rot- Grün eingeführt. Auch die jetzige Bundesregierung stellt sie nicht infrage. Diese Ziele sind in Anbetracht der enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wie Klimawandel und Zunahme der Weltbevölkerung abso- lut unabdingbar. Daran kommen wir nicht vorbei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Auch die bislang Benachteiligten müssen endlich in die Lage versetzt werden, sich etwas vom Wohlstands- kuchen zu nehmen. Doch dieser Kuchen kann nicht stän- dig wachsen; schauen wir nach Indien und China. Viel- mehr müssen die Anteile am Kuchen stets kleiner werden. Wir in den Industriestaaten und gerade in Deutschland sind hingegen immer noch dabei, aus dem Kuchen die letzten Reste herauszupressen, also unsere Schöpfung und damit unsere Lebensgrundlage langfris- tig zu zerstören. Schauen wir uns in diesem Peer Review einmal an, wie die Experten, die von außen auf Deutschland ge- schaut haben, unsere Nachhaltigkeitsstrategie bewerten. Auf jeden Fall stellen sie fest – diese Kritik ist schon ge- kommen –, dass der Zeithorizont der Nachhaltigkeits- strategie zu kurz ist. Das sehen wir von den Grünen genauso. Wir müssen bis 2030 und perspektivisch si- cherlich bis 2050 blicken; Herr Kauch hat es eben ge- sagt. Darüber besteht wohl im gesamten Beirat Konsens. Vor allen Dingen muss – die gegenwärtige Situation halte ich für eine absolute Katastrophe – die Zusammen- arbeit der Akteure, insbesondere zwischen Bund und Ländern, deutlich besser werden. (Beifall im ganzen Hause) Ich wende mich zunächst einmal an die Länder. So- weit ich informiert bin, haben die Länder die Erarbei- tung einer gemeinsamen deutschen Nachhaltigkeitsstra- tegie für nicht notwendig erachtet. Man muss sich das Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5363 Dr. Valerie Wilms (A) (C) (D)(B) einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das führt zu dem Ergebnis, dass wir mit unterschiedlichen Zielvorgaben arbeiten. Wir hier im Bund haben 21 Indikatoren, Schleswig-Holstein hat 35 Indikatoren. Das passt nicht überein. So schaffen wir es wirklich nicht, die Strategie auch noch bis auf die kommunale Ebene herunterzubre- chen. Hier klaffen also große Lücken. Ein Beispiel ist die Flächenreduzierung. Hier müssen nun wirklich die Länder ran; aber es passiert nichts. Wir entziehen der Natur jeden Tag immer noch 104 Hektar; das Nachhaltigkeitsziel sind 30 Hektar pro Tag. Perspek- tivisch müssen wir bis auf 0 Hektar herunter, wenn wir wirklich etwas erreichen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Punkte, die wir den nachfolgenden Generationen als Hypotheken auf- bürden. Ich denke nur an das Thema Staatsschulden. Ge- rade die Gesetzentwürfe zur Griechenland-Hilfe und für den Euro-Rettungsschirm hätten es verdient, einer Nach- haltigkeitsprüfung unterzogen zu werden; diese konnten wir jedoch aus formalen Gründen bislang noch nicht durchführen. Ich habe nun in aller Kürze ein paar Problempunkte aufgezeigt. Ich möchte mich aber auf jeden Fall auch für die sehr intensive und gute Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg bedanken. Im Parlamentari- schen Beirat schaffen wir es wirklich, für eine nachhal- tige Entwicklung zu agieren. Wir haben aber nur eine ge- wisse Stärke, wenn wir zusammenarbeiten; wir sind nämlich kein Ausschuss, sondern nur ein Beirat. Wir können nur dann etwas erreichen, wenn wir gemeinsam etwas in Gang setzen. Ich hoffe, Herr Lenkert, dass die Linken auch zukünftig immer mit dabei sein werden. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP und des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Daniela Raab für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Daniela Raab (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jawohl, der Peer Review ist eine gute Sa- che. Wir haben ihn nicht nur mit großer Freude zur Kenntnis genommen, sondern gerade in unserem Beirat auch durchaus verinnerlicht. Allerdings ist auch ein we- nig Kritik zu üben. Diese ist an der einen oder anderen Stelle schon einmal angeklungen. Die Hauptkritik, die ich für meine Fraktion und auch für meine Arbeitsgruppe äußern möchte, betrifft einen Punkt, der heute schon den einen oder anderen Redner beschäftigt hat. Der Peer Review, gleichsam ein Gutach- ten über die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, setzt ei- nen, wie ich und auch meine Kolleginnen und Kollegen finden, sehr einseitigen Schwerpunkt auf die Fragen, wie wir mit dem Klimawandel umgehen und was für uns Umweltschutz im täglichen Politikverständnis bedeutet. Dabei verkennt dieses Gutachten, um es auf Deutsch zu formulieren, leider – ich bedaure das sehr und erhoffe mir, dass sich das in der zukünftigen Entwicklung anders darstellen wird –, dass nachhaltige Politik nicht nur Klima- und Umweltschutz bedeutet, sondern sehr, sehr viel mehr. Nachhaltige Politik muss sich zum Beispiel auch, wie Kollege Kauch richtigerweise angesprochen hat, mit der Frage beschäftigen: Wie können wir uns umweltgerecht verhalten und generationengerecht in unserem politi- schen Tagesgeschäft denken? Diesbezüglich kann ich mich der Kritik vollumfänglich anschließen. Es muss uns gelingen, neben den vielen Umweltverbänden, die natürlich eine wichtige Rolle bei der Nachhaltigkeits- strategie spielen, auch die Gewerkschaften, die Wirt- schaftsunternehmen, Familienunternehmen sowie die Kirchen und die Sozialverbände auf unserem Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung mitzunehmen und von diesem zu überzeugen, sofern sie diesen nicht sowieso schon eingeschlagen haben. Unsere Familienunterneh- men, liebe Marie-Luise Dött, handeln und denken ei- gentlich schon ziemlich nachhaltig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Sie bilden aus, übernehmen im Optimalfall die Auszu- bildenden und sorgen damit dafür, dass auch diese für ihre Familien da sein können und sich im Unternehmen so lange wie möglich fortbilden und weiterentwickeln können. Auch das ist nachhaltig. Hier besteht aber durchaus noch Entwicklungspotenzial. Auch die Frage der Infrastruktur – das ist völlig rich- tig, Frau Kollegin Wilms; auch das Verkehrsministerium ist hier vertreten – berührt Nachhaltigkeitsgesichts- punkte und sollte nicht nur unter kurzfristigen Gesichts- punkten betrachtet werden. In diesem Bereich haben wir, wie ich glaube, auch noch einiges aufzuholen. Ich meine deswegen: Lassen Sie uns dieses Thema so breit wie möglich angehen und manchmal unser politi- sches Tagesgeschäft wirklich hintanstellen, um visionär zukünftige politische Forderungen gemeinsam zu entwi- ckeln. Ich glaube, wir müssen uns unter diesem Dach zu- sammenfinden. An der einen oder anderen Stelle werden wir zwar nach wie vor auseinanderdriften, weil wir un- terschiedliche Vorstellungen haben, was gut ist, weil das Ausdruck des politischen Wettbewerbs ist; aber das ge- meinsame Ziel muss in der Tat die Schaffung von Gene- rationengerechtigkeit auf allen Politikfeldern sein. Wir müssen uns den Problemen in den sozialen Sicherungs- systemen ehrlich stellen, und wir müssen uns ehrlich der Frage stellen, wie viel Schulden wir noch machen wol- len. Damit wir uns richtig verstehen: Das bereitet keinem in diesem Raum Freude, weder der Regierung noch der 5364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Daniela Raab (A) (C) (D)(B) Opposition. Das, was wir insbesondere in den letzten zwei Jahren getan haben, mussten wir tun, und die Ent- wicklung auf dem Arbeitsmarkt gibt uns diesbezüglich – das haben wir heute wieder gehört – recht. Auch das möchte ich an dieser Stelle unbedingt festhalten. Die Empfehlungen des Peer Review, die wir teilen, sind schon genannt worden. Die Stärkung des Kanzler- amtes möchte ich hier doppelt und dreifach unterstrei- chen. Auch wir Mitglieder der Unionsfraktion wünschen uns, dass wir im Organisationsplan des Kanzleramtes nicht nur irgendwo das Wort „Nachhaltigkeit“ finden, sondern dies auch mit personellen Ressourcen unterlegt wird. (Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das wäre sehr schön. Dafür werden wir natürlich weiter- hin arbeiten. Liebe Frau Wilms, Sie haben mir aus der Seele ge- sprochen. Es wäre wirklich schön, wenn die Nachhaltig- keitsprüfung in den Ministerien auch einmal stattfinden würde. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es wäre schön, wenn nicht nur die gerne verwendeten Textbausteine „Wir haben die Nachhaltigkeit geprüft; es ist alles in Ordnung“ oder „Keine Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitspolitik“ genutzt würden, sondern man sich wirklich einmal die Mühe machen würde, sich zu überlegen – das macht man bei anderen Punkten ja auch –, ob der Gesetzentwurf vielleicht doch nicht so ganz nach- haltig ist. Vielleicht ist er zu Recht nicht nachhaltig, weil es sich um ein drängendes Problem handelt; das kann ja sein. Aber wenn er nachhaltig ist, meine lieben Freunde, dann sagt es uns. Es ist doch ein Qualitätsbeweis, wenn ich unter einen Gesetzentwurf schreiben kann: Er ist aus folgenden Gründen nachhaltig: erstens, zweitens, drit- tens. – Es geht also nicht nur um die formelle Kabinetts- reife, die ich mit einer solchen Prüfung erreichen möchte, sondern es geht auch um die materielle Ausfül- lung des Begriffs „Nachhaltigkeit“ in der täglichen Ge- setzgebung. Auch das wünschen wir uns aus vollem Herzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir allein die Möglichkeiten nutzen, die uns zum Teil schon gegeben sind, dann können wir – da bin ich ganz beim Kollegen Kauch – sehr gut auf einen Ak- tionsplan Nachhaltigkeit und einen Beauftragten für Nachhaltigkeit verzichten. Mir ist es schon wichtig, dass wir das Thema nicht auslagern, sondern wir uns als Par- lament selber ernst nehmen und sagen: Hierher gehört die Debatte. Das Thema gehört nicht zu einer Einzelper- son, die von der jeweiligen Regierung benannt wird, sondern wir wollen das selber machen, weil das unserem parlamentarischen Selbstverständnis entspricht. Wir können das. – Ich glaube, dieser Beirat beweist das. Des- halb ist mein letzter Wunsch an die Damen und Herren, die die Geschäftsordnung derzeit umgestalten: Nehmt den Beirat nicht nur ernst, sondern wertet ihn weiter auf. In dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP wur- den ganz eindeutige Sätze dazu gefunden. Es wird Zeit, dass wir sie in der Praxis umsetzen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zu dem Peer Review der deut- schen Nachhaltigkeitspolitik. Das betrifft die Drucksa- chen 17/1657 und 17/2314. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh- men. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltung? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom- men. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine soziale Revision der Entsenderichtli- nie – Drucksache 17/1770 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so ver- fahren. Ich eröffne die Aussprache. Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre Gespräche vor dem Saal führen, können wir uns auf den Redner konzentrieren. – Als erster Redner hat das Wort der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Die Wirtschaftskrise hat gezeigt: Wir müssen der sozialen Dimension Europas endlich eine Gestalt geben. Darüber sind wir uns einig, zumindest in Sonntagsreden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5365 Josip Juratovic (A) (C) (D)(B) Ein soziales Europa ist nur mit einer Revision der Entsenderichtlinie möglich. Mit der Entsenderichtlinie sollte ursprünglich Lohndumping verhindert werden. Je- doch wurde die Richtlinie in den vergangenen Jahren vom EuGH anders interpretiert. Was einst Fairness zum Ziel hatte, verhindert heute Fairness auf dem Arbeits- markt. Wir fordern eine Revision der Richtlinie, um das ursprüngliche Ziel, den fairen Wettbewerb ohne Lohn- dumping, klarzustellen. (Beifall bei der SPD) Mit dieser Forderung stehen wir in einer langen Tra- dition. Schon 1919, als die Internationale Arbeitsorgani- sation ins Leben gerufen wurde, war den Gründungs- staaten klar: Wir müssen Sozialdumping verhindern, indem wir Mindestarbeitsbedingungen festlegen. Keine Volkswirtschaft soll einen Vorteil durch Unterbietung er- langen. Daran arbeitet die ILO bis heute, und daran müs- sen auch wir arbeiten: weg vom Lohndumping, hin zum fairen Wettbewerb. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Fairer Wettbewerb war auch der Grundgedanke, als die Entsenderichtlinie geschaffen wurde. In einem Mit- gliedstaat sollen keine Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum tätig sein, für die ein anderes Recht gilt. Die Arbeitnehmer, die in ein anderes Land gehen, sollen die gleichen Rechte haben wie die dortigen Arbeitnehmer. Dazu gehören unter anderem Regelungen zu Höchstar- beitszeiten, Mindesturlaub, Mindestlöhnen, Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Die Entsenderichtlinie wurde aber nicht immer so ge- handhabt, wie sie geplant war. In mehreren Entschei- dungen meinte der Europäische Gerichtshof, dass von ausländischen Unternehmen nur bestimmte Mindest- standards gefordert werden dürfen. Höhere Standards, zum Beispiel Tarifverträge, müssen laut dem EuGH von ausländischen Arbeitnehmern nicht eingehalten werden – so die Rechtsprechung im Rüffert-Urteil; Gegner war das Land Niedersachsen. Demnach dürfen in Deutsch- land keine öffentlichen Aufträge mehr vergeben werden, die eine Tariftreueklausel beinhalten. Die Bindung an Tarifverträge darf laut EuGH kein Kriterium für die Auf- tragsvergabe sein. Die Entsenderichtlinie wurde damit ins Gegenteil ver- kehrt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Politisch war gewollt, dass wir Lohndumping verhin- dern. Wenn ausländische Unternehmer nicht an unsere Tarifverträge gebunden sind, wird aber mit genau dieser Richtlinie Lohndumping legitimiert. Zudem werden die Arbeitsbedingungen mit Arbeit am Wochenende und Nachtarbeit schlechter, und das häufig ohne wirksame Kontrolle des Arbeitsschutzes. Dies macht mehr als deutlich: Wir müssen die Entsenderichtlinie revidieren und zurück zu den ursprünglichen Zielen kommen. Von der Uminterpretation der Richtlinie sind alle Län- der betroffen. Die reicheren Länder werden durch die är- meren Länder zu Niedriglöhnen gedrängt. Die Men- schen aus ärmeren Ländern werden zu unanständigen Arbeitsbedingungen eingesetzt, was zu Wettbewerbsver- zerrungen führt. Damit werden die Arbeitnehmer aus verschiedenen Ländern gegeneinander ausgespielt. Sie stehen in einem Unterbietungswettbewerb. Diesen unso- zialen Wettbewerb müssen wir verhindern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Alle reden immer von einem fairen Wettbewerb; doch wir haben keinen fairen Wettbewerb, sondern pures Lohndumping. Wie Sie wissen, gilt ab 2011 die Arbeitnehmerfreizü- gigkeit für mindestens acht weitere EU-Mitgliedstaaten. Wir müssen vorher klären, welche Arbeitsbedingungen und Tariflöhne von den ausländischen Unternehmen hier in Deutschland beachtet werden müssen. Denn Lohn- dumping schadet uns allen. Vor allem schwächen wir un- sere Unternehmer, die ihren Mitarbeitern faire Arbeitsbe- dingungen bieten. Sie können bei diesem Lohndumping nicht mithalten und sind dadurch gefährdet. Mit Niedriglöhnen schwächen wir auch unsere Ar- beitnehmer. Die Arbeitnehmer in Deutschland verlieren entweder ihren Job, weil es billigere Arbeitskräfte aus anderen Staaten gibt, oder sie verdienen Hungerlöhne, um mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu kön- nen. Kolleginnen und Kollegen, wir müssen gegen diese Klassengesellschaft unter den Arbeitnehmern vorgehen. Eine Klasse kommt in den Genuss von fairen Arbeitsbedin- gungen, steht aber vor der Gefahr, ihre Jobs zu verlieren. Die andere Klasse arbeitet unter niedrigeren Standards und lebt deswegen am Rande des Existenzminimums. Eine solche Klassengesellschaft ist zutiefst unsozial und unge- recht, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Unser Grundprinzip muss lauten: Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am glei- chen Ort. Das ist keine Gleichmacherei, sondern ein Grundprinzip von Fairness auf dem Arbeitsmarkt. Wir wollen nicht, dass Arbeitnehmer in ein anderes EU-Land entsandt werden und dort zu schlechteren Bedingungen arbeiten müssen als die Arbeitnehmer im Gastland. Für entsandte Arbeitnehmer müssen die gleichen Bedingun- gen gelten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Öffentliche Auftraggeber müssen das Recht haben, ihre Aufträge so zu vergeben, dass die Unternehmen Ta- rifverträge einhalten müssen. Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland Tarifverträge abschließen, die dann 5366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Josip Juratovic (A) (C) (D)(B) ein Unternehmen aus dem Ausland einfach aushebeln kann. Im Übrigen wollen öffentliche Auftraggeber, darunter viele Bundesländer, ihre Aufträge zu fairen Bedingun- gen vergeben. Das zeigt das Beispiel Niedersachsen, und das zeigt sich dadurch, dass viele Länder unseren hier eingebrachten Antrag unterstützen. Mit der geforderten sozialen Revision der Entsende- richtlinie arbeiten wir auch an unserem Ziel eines sozia- len Europas. Wir haben vier Dimensionen in Europa: den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen, die ge- meinsame Währung und die soziale Dimension Europas. Die ersten drei Dimensionen haben wir bereits erfolg- reich umgesetzt. Nun geht es darum, aus der wirtschaftli- chen Einheit auch ein soziales Europa zu entwickeln. Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den Euro oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet auch, dass faire Arbeitsbedingungen für alle Menschen in un- serer Union geschaffen werden. Dahin muss unser Weg führen. Dafür tragen wir Verantwortung. (Beifall bei der SPD) Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, setzen Sie sich nicht nur in Sonntagsreden für einen fairen Wettbewerb ein! Lassen Sie uns gemeinsam die Bundes- regierung dazu bewegen, mit unseren EU-Partnern eine Revision der Entsenderichtlinie in Angriff zu nehmen und damit einen weiteren Schritt in Richtung eines sozial gerechten Europas zu gehen. Ich freue mich auf die weitere Beratung und danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Jahr 2004 setzte der lettische Bauun- ternehmer Laval Arbeitskräfte aus seinem Heimatland auf einer Baustelle in Schweden ein. Die Entlohnung er- folgte gemäß den lettischen Tarifverträgen. Schwedische Baugewerkschaften fassten dies als Lohndumping auf und versuchten, den Bauunternehmer dazu zu bewegen, die eingesetzten Beschäftigten gemäß den schwedischen Tarifvereinbarungen zu entlohnen. Zur Durchsetzung ih- rer Forderungen blockierten sie die Baustelle in Schwe- den. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Klasse, die Schweden! Bravo!) – Ja, das hätten auch die Linken machen können. Der Europäische Gerichtshof erkannte in seinem Ur- teil vom 18. Dezember 2007 das Grundrecht auf Streik zwar ausdrücklich an, er vertrat aber die Auffassung, dass ein Streik keine der vier Grundfreiheiten der EU – Waren- verkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrs- freiheit sowie Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs – einschränken darf. Es wird oft behauptet, der EuGH habe mit seinen Ent- scheidungen im Fall Viking und in den ähnlich gelagerten Fällen Laval und Rüffert den wirtschaftlichen Freiheits- rechten des EG-Vertrags, besonders der Niederlassungs- freiheit und der Dienstleistungsfreiheit, Priorität gegen- über der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit eingeräumt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt!) Hier reihen sich mit ihrer Antragsbegründung die Kolle- gen der SPD ein. Sie nehmen dabei besonders auf das gewerkschaftliche Streikrecht und auf die Tarifautono- mie Bezug. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lieber Kollege Juratovic, mit Ihrem Antrag setzen Sie sich un- ter anderem dafür ein, dass in allen Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene, die Fragen der Entsendung be- rühren, das Grundrecht auf Tarifverhandlungen und kol- lektive Maßnahmen verankert wird. Ihre Forderungen betreffen größtenteils übergreifende europäische Sach- verhalte, auf die die Bundesregierung nur geringen Ein- fluss hat. (Widerspruch der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Sie können nachher noch reden, Frau Pothmer. Stellen Sie eine Frage, dann schauen wir mal. Zur Frage, ob die Entsenderichtlinie als Konsequenz der Urteile des EuGH revidiert werden muss, gab es am 2. Juni dieses Jahres eine Anhörung des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Euro- päischen Parlaments. Die Europäische Kommission hat in diesem Zusammenhang angekündigt, zu prüfen, ob überhaupt ein Bedarf für eine Revision der Entsende- richtlinie besteht, und frühestens 2011 einen entspre- chenden Vorschlag vorzulegen. Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, greifen Sie die- sen Prüfungsergebnissen vor. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs drücken die Spannung zwischen ökonomischen Sachzwängen ei- nerseits und dem notwendigen Arbeitnehmerschutz an- dererseits aus. Hier muss sine ira et studio eine Lösung gefunden werden. Anders als die SPD bin ich aber der Auffassung, dass diese Urteile eine Revision der Entsen- derichtlinie nicht notwendigerweise erzwingen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der EuGH hat in seinen Entscheidungen betont, dass die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach dem EG-Vertrag als fundamentale wirtschaftliche Frei- heitsrechte garantiert werden. Ihnen kommt aber nicht nur eine Wirkung als Abwehrrecht bei staatlichen Ein- griffen zu, sondern auch eine direkte Wirkung gegenüber den Behinderungen der Freiheitsrechte durch private Dritte. Zu diesen zählen auch die Gewerkschaften. Der EuGH hat damit zum ersten Mal anerkannt, dass das Streikrecht als soziales Grundrecht im Sinne des Ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5367 Paul Lehrieder (A) (C) (D)(B) meinschaftsrechts anzusehen sei. Im Urteil Laval greift er den Begriff des Sozialdumpings auf und sieht im Streikrecht zum Schutz der Arbeitnehmer gegen So- zialdumping ein zwingendes Allgemeininteresse. Abschließend möchte ich noch auf ein interessantes Detail aufmerksam machen, das die SPD im letzten Ab- satz ihrer Antragsbegründung versteckt hat. Sie hält demnach nicht mehr kompromisslos an ihrer ursprüngli- chen Forderung nach einem flächendeckenden gesetzli- chen Mindestlohn fest, sondern scheint endlich dem stets von der Union bevorzugten Weg der tarifvertraglichen Mindestlöhne Positives abgewinnen zu können. Danke schön! Aber das nur am Rande. Unsere ehemaligen sozialdemokratischen Mitkoalitio- näre werden sich noch daran erinnern können, dass die Große Koalition in der letzten Wahlperiode gerade die Entsenderichtlinie zum Anlass genommen hat, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auszuweiten. Insgesamt wurden mit Gebäudereinigern, Briefdienstleistern, der Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistern, der Abfallwirt- schaft, Aus- und Weiterbildungsdienstleistern nach dem SGB II oder SGB III, Wäschereidienstleistern und auch Bergbauspezialarbeitern acht Branchen neu in den Gel- tungsbereich des Gesetzes aufgenommen. Die Zahl der Arbeitnehmer, die durch Mindestlöhne nach dem Arbeit- nehmer-Entsendegesetz geschützt werden können, war damit von 700 000 auf 3 Millionen gestiegen. Daneben sind durch die Modernisierung des Mindest- arbeitsbedingungengesetzes, des MiArbG, Mindest- löhne auch in solchen Bereichen ermöglicht worden, in denen die Tarifbindung gering ist und das Arbeitnehmer- Entsendegesetz nicht angewandt werden kann. Wir ha- ben damit eine gute Voraussetzung für die Einführung der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit ge- schaffen, die ab dem Jahr 2011 gelten wird. Aus diesem Grund ist eine Revision der Entsenderichtlinie zum jetzi- gen Zeitpunkt nicht notwendig. Ich denke deshalb, wir sollten hier zunächst abwarten, zu welchem Ergebnis die EU-Kommission bei der Überprüfung der Richtlinie kommt. Aufgrund des ausdrücklichen Wunsches meines Nachredners, des Kollegen Wadephul, möchte ich ihm die verbleibende Minute hiermit schenken. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Mai 2011 kommt die absolute Arbeitnehmerfreizügigkeit in Eu- ropa: Die Übergangsregelungen für die Entsendung von Arbeitnehmern aus den neuen Beitrittsländern, die bis- her keinen freien Zugang hatten, laufen dann aus. Die europäische Entsenderichtlinie muss daher sozial gestal- tet werden. Das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz muss auf alle Branchen erweitert werden. Die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen muss erleichtert werden. Ein flächendeckender Mindestlohn muss eingeführt werden. (Beifall bei der LINKEN) Damit wären die größten Löcher gestopft. Wir wollen aber noch mehr als nur Löcher stopfen. Bereits im Februar 2006 fanden in Berlin und Straßburg zwei große Demonstrationen statt, und zwar unter Eis und Schnee; das war eine schweinekalte Angelegenheit. Das Ergebnis war: Die Dienstleistungsrichtlinie wurde anschließend mit Änderungen eingeführt. Die Dienstleistungsrichtlinie regelt, dass Unterneh- men in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union Dienstleistungen anbieten können. Viele Menschen sor- gen sich seitdem, dass Beschäftigte, die nun europaweit arbeiten können, europaweit um die billigsten Löhne konkurrieren müssen. Um das zu verhindern, gibt es die europäische Entsenderichtlinie. Sie regelt, dass Beschäf- tigte, die mit ihren Unternehmen innerhalb der EU arbei- ten, nicht schutzlos sind. Sie enthält Mindestarbeitsbe- dingungen; dabei geht immer mehr als das Minimum. Vor Ort gelten dann für inländische und entsendete Ar- beitnehmer die gleichen Bedingungen. Ziel der Entsen- derichtlinie ist es also, Lohndumping und Lohnkonkur- renz zu vermeiden sowie einheitliche Rechtsstandards an einem Arbeitsort zu sichern. Das ist an sich eine gute Idee. Dieser Plan wurde jedoch ohne den Europäischen Ge- richtshof gemacht. Er hat mit seinem Urteil die Minimal- standards in Maximalstandards verwandelt. Mehr als das, was in der Richtlinie steht, geht demnach nicht. Plötzlich wurde das Streikrecht vor Ort eingeschränkt. Geltende Tarifverträge wurden als Wettbewerbshemmnis erachtet und für ungültig erklärt. Wirtschaftliche Frei- heitsrechte – Herr Lehrieder hat sie erwähnt – gehen da- mit auch in diesem Land vor Freiheitsrechte der Men- schen. Das ist skandalös und verkehrt das Anliegen der Richtlinie in das Gegenteil. Schon einmal wurde versucht, die Arbeitnehmer- rechte in Europa auszuhebeln. Nach dem ersten Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie sollte der Firmensitz da- rüber entscheiden, welche Arbeits- und Tarifstandards gelten. Ein Chaos von 27 parallel geltenden Arbeitsrech- ten drohte. Die Firmen hätten sich durch eine Verlage- rung ihres Firmensitzes die für sie günstigsten Bedin- gungen heraussuchen können. Das wurde zum Glück verhindert. Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes kom- men diese Zustände nun durch die Hintertür zurück. Deswegen muss ein absoluter Riegel vorgeschoben wer- den. Es muss dafür gesorgt werden, dass auf soziale Standards geachtet wird, auch auf europäischer Ebene. Ich wiederhole: Wir brauchen in diesem Bereich Nachbesserungen; an dieser Stelle muss sich etwas än- dern. Es muss einen Mindestlohn geben. Tarifstandards müssen eingehalten und ihre Durchsetzung erleichtert werden. Im Grunde muss die Richtlinie über die Entsen- 5368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Jutta Krellmann (A) (C) (D) dung von Arbeitnehmern auf alle Bereiche ausgeweitet werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der europäische Binnenmarkt ist für den Wohlstand und den wirtschaftlichen Erfolg der Mitgliedstaaten der EU von wesentlicher Bedeutung. Gerade weil wir uns viel- leicht schon daran gewöhnt haben, ist der Hinweis wich- tig, dass offene, europaweit freie Märkte für Waren und Dienstleistungen die besten Voraussetzungen für Wachs- tum und Beschäftigung in jedem der Mitgliedsländer der Europäischen Union sind. Die Europäische Union hat einen erheblichen Beitrag zum europaweiten Wohlstand, zur Schaffung von Ar- beitsplätzen und zum sozialen Fortschritt geleistet. Ich will hier einmal einige Daten nennen: Nach Berechnun- gen der EU-Kommission wäre der Wohlstand der EU, ge- messen am Bruttoinlandsprodukt, im Jahr 2006 um 2,2 Prozent niedriger gewesen, wenn es den europäischen Binnenmarkt nicht gegeben hätte. Die Beschäftigung wäre im Jahr 2006 um 1,4 Prozent – das sind über die ge- samte EU gerechnet 2,75 Millionen Arbeitsplätze – nied- riger ausgefallen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hat nichts mit der Entsenderichtlinie zu tun!) – Ja, das ist das Problem, Herr Kollege. Sie sagen: Das hat nichts damit zu tun. Aus meiner Sicht hat das schon etwas damit zu tun. Gerade in den neuen mittel- und ost- europäischen Mitgliedstaaten ist das Pro-Kopf-Einkom- men in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen, um fast ein Drittel auf 52 Prozent des Durchschnitts der al- ten Mitgliedstaaten. Die Löhne in den neuen Mitglied- staaten sind zwischen 2000 und 2008 erheblich gestie- gen. In mehreren neuen Mitgliedstaaten legten die realen Bruttolöhne um mehr als 100 Prozent zu. Warum sage ich das? Ich sage das, weil wir bei allem, was wir tun und bei den durchaus nachvollziehbaren Schutzinteressen, die hier vorgetragen werden, am Ende nicht gefährden dürfen, dass der von uns gewollte, sinn- volle Austausch von Gütern und Dienstleistungen über Gebühr behindert wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen hat der Europäische Gerichtshof die in der EU garantierten Grundfreiheiten gestärkt. Er hat deutlich gemacht, dass in einem Katalog von rund 70 Richtlinien und zahlreichen Verordnungen ein Mindeststandard in Europa festgelegt ist, der ohnehin in jedem einzelnen Mitgliedsland gewährleistet wird. Er hat zusätzlich klar- gestellt, dass die Entsenderichtlinie zusätzlich zu den EU-weit geltenden sozialen Mindeststandards einen har- ten Kern an Sozialschutzbestimmungen des Ziellandes für entsandte Arbeitnehmer vorschreibt und diesen zu- sätzlichen Schutz auch gewährleistet. Es ist also eine Richtlinie im Interesse der entsandten Arbeitnehmer und nicht im Interesse der Arbeitnehmer im Zielland. Man muss sich deutlich vor Augen führen: Das ist der Hinter- grund der Entsenderichtlinie, Herr Juratovic, Sie schüt- teln so sinnend den Kopf. Vor diesem Hintergrund ist es schlicht falsch, zu behaupten, dass das soziale Europa unter die Räder der wirtschaftlichen Grundfreiheiten ge- raten sei. Das ist ausdrücklich nicht der Fall. Die Entsenderichtlinie darf nicht dazu missbraucht werden, unter dem Deckmantel des Schutzes sozialer Rechte protektionistische Maßnahmen zu treffen, (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Schützen Sie die Menschen und nicht die Waren, die Unter- nehmen!) um die Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit ein- zuschränken – das will ich für meine Fraktion sehr deut- lich sagen –, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) weil dadurch die genannten enormen Vorteile des euro- päischen Binnenmarktes gefährdet wären. Ein europäi- scher Binnenmarkt ist aber erforderlich, um auf den Weltmärkten gegenüber Wettbewerbern mit großen Hei- matmärkten erfolgreich konkurrieren zu können. Sozialer Fortschritt realisiert sich nur durch wirt- schaftlichen Fortschritt. Das verkennt der Antrag der SPD, Herr Juratovic. Ihr Antrag ist von Protektionismus geprägt. Er stellt die soziale Freiheit – deswegen habe ich den Gedanken bewusst entwickelt – schlichtweg auf den Kopf. Er schränkt in gewisser Weise auch die Chan- cengerechtigkeit ein. Zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes hat der Kollege Lehrieder schon einiges gesagt. Ich finde, Viking, Laval, Rüffert und Luxembourg machen eines klar: Die Richtlinie soll das Arbeitsrecht in den Mit- gliedstaaten nicht harmonisieren, sondern koordinieren. Das ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Unterschied. Ich möchte deutlich sagen, dass die Urteile viel Freiraum für die Lohnfindung in den Mitgliedstaaten zulassen. Die Urteile sind, wie ich finde, ein effektives Instrument, um Sozialdumping zu verhindern. Sie bauen auf dem Prinzip auf, dass die Rahmengestaltung der Arbeitsbe- dingungen für entsandte Arbeitnehmer vorrangig durch Gesetze und Tarifabschlüsse des Gastlandes bestimmt wird und dass die Arbeitnehmer von diesen Rahmenbe- dingungen profitieren können, ohne sie selbst aushan- deln zu müssen. Zu den einzelnen Punkten in Ihrem Antrag will ich Folgendes sagen: Eine europäische Regelung zur Tarif- autonomie ist unserer Auffassung nach vor dem Hinter- grund des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht notwen- dig. Es ist auch nicht die Aufgabe europäischer Rechtsetzung, über Mindeststandards hinaus Sozialpoli- tik zu betreiben. Der Grund für Beschränkungen auf ge- (B) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5369 Dr. Heinrich L. Kolb (A) (C) (D)(B) wisse Faktoren in den Richtlinien ist – darauf haben Sie eben selbst hingewiesen –, dass das Entsendeverhältnis temporärer Natur ist. Die Arbeitnehmer, die zu uns kom- men, sind nicht Teil des hiesigen Arbeitsmarktes. Sie ha- ben sich unserem Arbeitsmarkt auch nicht verpflichtet. Eine zeitliche Begrenzung sehe ich nicht als hilfreich an. Sie würde zu einem ständigen Wechsel der Arbeitneh- merschaft führen. Und eine Änderung der Ausschrei- bungskriterien – das ist ja auch ein Punkt Ihres Antrags – widerspricht ausdrücklich der Idee des offenen Binnen- marktes. Das ist, wenn ich es richtig sehe, bei den Urtei- len des Europäischen Gerichtshofes in Bezug auf Rüffert und Luxembourg genauso gesehen worden. Die Idee, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen auszuweiten, wird von uns abgelehnt. Da rate ich wirklich zur Vorsicht. Schon in der Vergangenheit wurde das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch in Bran- chen, in denen es keine klassische Entsendeproblematik gab, ich will es mal so sagen, „missbraucht“. Wie das im Mai 2011 werden wird, das sollten wir uns einmal in Ruhe ansehen. Ich glaube, dass da im Moment – mit Hinweis auf die Freizügigkeit, die sich dann ergibt – sehr viel Panik gemacht wird. Ich bin zurückhaltend und rate auch allen anderen zur Vorsicht. Gerade die Anhö- rung vier verschiedener Verbände und auch der Bundes- agentur am Montag – das will ich auf die Frage des Kol- legen Vogel noch einmal sehr deutlich sagen – hat gezeigt, dass man nichts Genaues weiß. Es gibt auch viel Überlieferung von einem zum anderen, und am Ende machen die sich gegenseitig verrückt. Also gehen wir das ruhig, sachlich und mit der gebo- tenen Vorsicht an. Dann wird es auch eine vernünftige Regelung geben. Eine Überarbeitung der Entsendericht- linie ist aus unserer Sicht jedenfalls nicht erforderlich. Deswegen stehen wir dem Antrag des Kollegen Juratovic, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, kritisch und ablehnend gegenüber. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist sehr schade!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die grüne Position ist ganz klar und ganz eindeutig: Das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ muss innerhalb der gesamten EU durchgesetzt wer- den. Dieses Prinzip muss einen höheren Stellenwert ha- ben als die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlas- sungsfreiheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Deswegen muss die Entsenderichtlinie überarbeitet wer- den, und zwar so, dass sie zugunsten von Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmern nicht durch die Dienstleis- tungsfreiheit eingeschränkt werden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb? Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage des Kollegen Kolb. (Zurufe bei der CDU/CSU: Oh!) Ich möchte mit meiner Rede fortfahren. – Das betrifft sowohl die Löhne, die Arbeitszeiten, die Urlaubsansprü- che und auch andere soziale Standards. Zukünftig müs- sen die Standards gelten, die in dem Land, in dem die Dienstleistung angeboten wird, gesetzlich oder tariflich vereinbart worden sind. Genau das gilt jetzt nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Laval und Rüffert eben nicht mehr. Nach diesem Urteil werden entsandte Beschäftigte tatsächlich zu so etwas wie Sendboten des Lohndum- pings. Das ist für die Betroffenen, aber auch für die Be- schäftigten hier ein Zustand, den wir nicht hinnehmen können. Es ist aber auch ein Rückschlag für das soziale Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Kolb, wir werden eine Akzeptanz der europäi- schen Verständigung in viel stärkerem Umfang brau- chen, als das bisher der Fall ist. Und wenn wir keine Ak- zeptanz für Europa schaffen, dann wird es uns auch nicht gelingen, in der Wirtschafts- und der Finanzpolitik – da, wo wir es dringend brauchen – Regelungen zu treffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Herr Kolb, versuchen Sie es nicht noch einmal. Ich finde, dass Sie Ihre Redezeit hatten. Ich muss Ihnen ein- mal sagen: Ich finde, es reicht auch einfach. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn mit Ihnen passiert?) Es ist die Aufgabe der Politik, genau hier auf soziale Rahmen zu setzen. Es muss vollkommen und unmissver- ständlich geklärt werden, dass Mindestanforderungen eben keine maximalen Normen darstellen, wie es derzeit nach diesem Gerichtsurteil der Fall ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat doch nun wirk- lich – das müsste eigentlich auch bei Ihnen angekommen sein – endgültig geklärt, dass die Freiheit des Marktes nicht über alles gestellt werden darf. Daraus müssen wir Lehren ziehen. Der europäische Wettbewerb muss ein Wettbewerb um die Qualität der Dienstleistung sein und nicht ein Wettbewerb um Schmutzlöhne. Genau dafür 5370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Brigitte Pothmer (A) (C) (D)(B) braucht man für diesen Wettbewerb einen Rahmen. Der Rahmen muss so gesetzt sein, dass die Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit haben, über die Mindeststandards hinauszugehen. Diese Standards müssen sowohl für ein- heimische als auch für entsandte Beschäftigte einheitlich gelten. Seit dem Urteil des EuGH ist in der Sache allerdings ganz wenig passiert; auch das muss man an dieser Stelle einmal sagen. Das Europäische Parlament hat die Kom- mission bereits 2008 aufgefordert, tätig zu werden. Aber handfeste Ergebnisse haben wir nicht vorzuweisen. Sie, Herr Lehrieder, haben vorhin gesagt: Was kann denn die arme Bundesregierung dafür? Deutschland ist das größte europäische Land. Wenn sich Deutschland in dieser Frage engagieren würde, dann wäre da auch Be- wegung drin; das muss man eindeutig sagen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, das ist auch zu Zeiten der Großen Koalition, als Sie mitregiert haben, nicht geschehen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Pothmer, kommen Sie bitte zum Schluss. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Es folgt gleich eine Kurzintervention. Sie haben also noch viele Möglichkei- ten. Bitte sagen Sie Ihren letzten Satz. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich würde mir wünschen, dass die Union und die FDP endlich ihre Blockade aufgeben. Es liegt auf nationaler und auf europäischer Ebene einiges im Argen. Es ist jetzt wirklich allerhöchste Zeit, zu handeln. Wenn Sie Ih- ren Ruf als Beschützer der Lohn- und Standarddrücker nicht weiter zementieren wollen, dann sollten Sie sich in Bewegung setzen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heinrich Kolb das Wort. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Der hatte doch schon sechs Minuten!) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin Pothmer, es ist eigentlich schade: Ich lasse Ihre Fragen immer zu. Da wäre es doch nur angemessen, wenn auch ich Sie fragen dürfte. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie hatten doch gerade schon sechs Mi- nuten!) Das ist auch eine Chance auf eine Verlängerung der Re- dezeit. Sie waren heute nämlich ein bisschen knapp. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber ich kann mich auch kurzfassen, Herr Kolb!) Meine Zwischenfrage hätte Ihnen also die Chance gebo- ten, noch etwas mehr zu diesem Thema zu sagen. Was ich Sie gefragt hätte und worauf ich Sie jetzt hin- weisen möchte, ist Folgendes: Es muss in den letzten Jahren irgendein entscheidendes Ereignis gegeben ha- ben. Denn wenn ich es richtig sehe, hat Rot-Grün in der eigenen Regierungszeit mit den Hartz-Gesetzen im Be- reich der Zeitarbeit genau das Prinzip, von dem Sie ge- rade gesprochen haben – gleicher Lohn für gleiche Ar- beit am gleichen Ort –, außer Kraft gesetzt. Der Grundsatz des Equal Pay kann nämlich überschrieben werden. Genau das befürchten Sie auch jetzt: dass Ar- beitnehmer bzw. Zeitarbeitnehmer aus anderen Ländern zu uns kommen könnten und auf der Basis eines Tarif- vertrages hier billiger wären. Wann in den letzten Jahren ist da Entscheidendes passiert, was dazu geführt hat, dass Sie heute sagen: „Jetzt sehen wir die Welt vollkom- men anders; jetzt glauben wir, die Dinge sind nicht mehr so, wie sie vorher waren“? (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Aus Fehlern muss man auch lernen können!) Ich will Sie auf einen letzten Punkt hinweisen, weil Sie der FDP immer einen Lobbyismusvorwurf machen – ich will Ihre Beschimpfungen gar nicht wiederholen, sondern ich weise all das, was Sie über uns gesagt ha- ben, mit Nachdruck, Abscheu und Empörung zurück –: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich habe meinen Kindern früher immer aus einem Kin- derbuch vorgelesen. Es heißt: Der große Platsch. In die- sem Buch passiert Folgendes: Drei Hasen schlafen am Ufer eines Sees im Urwald. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Kurzintervention!) Dann fällt eine Papaya ins Wasser, und die drei Hasen erschrecken sich so sehr, dass sie fluchtartig losrennen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Frau Präsiden- tin, müssen wir uns ein Märchen erzählen las- sen? – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Der Letzte macht das Licht aus!) Dann kommen ihnen andere Tiere entgegen, und alle fra- gen sie: Was ist denn los? Am Ende heißt es: „Der Platsch kommt.“ Alle Tiere im ganzen Urwald waren fluchtartig in Bewegung, bis sie dem erfahrenen, alten Löwen begegnet sind. Er hat dann zu ihnen gesagt: Im- mer mit der Ruhe! (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Und die FDP ist der Platsch?) Damit komme ich zum Ende meiner Kurzinterven- tion, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das rate ich auch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5371 Dr. Heinrich L. Kolb (A) (C) (D)(B) uns: Wir sollten überprüfen, was genau passiert ist, ob ein Platsch unterwegs ist, (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Morgen er- zählen wir das nächste Märchen!) von dem sich alle gegenseitig verrückt machen lassen, oder ob da wirklich etwas dran ist. Das wird uns die Er- fahrung wohl am besten lehren können. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigen uns doch schon die Zahlen!) Deswegen sollten wir hier, wie ich es gesagt habe, ganz langsam und vorsichtig ans Werk gehen. Das hätte ich Sie gerne gefragt, das hätte ich Ihnen gerne gesagt. Jetzt machen wir es auf diesem Wege. Ich hoffe, dass Sie meine Zwischenfragen beim nächsten Mal wieder zulassen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Platsch nimmt Platz!) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben das Wort zur Erwiderung. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Kollege Kolb, ich lasse Ihre Zwischenfragen zukünftig nur dann zu, wenn Sie sie mir vorher vorlegen. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LIN- KEN) Ich glaube, Ihre Geschichte über Platsch und der Auf- ruf, Ruhe zu bewahren, ist eine Aufforderung an Ihre ei- gene Fraktion. Denn seitdem Ihre Umfragewerte um 4 Prozent herumdümpeln, kann man von Ruhe in Ihrer Truppe überhaupt nicht mehr reden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD) Das ist ein Hühnerhaufen, ein Hühnerhof. Daher wäre es wahrscheinlich besser, Sie würden eine solche Kurz- intervention an Ihre eigenen Leute richten. Jetzt zum Kern Ihrer Kurzintervention. Herr Kolb, ich finde es bedauerlich, dass Sie, wenn Sie eine bestimmte Information aufgenommen haben, stehen bleiben. Sie haben nicht zur Kenntnis genommen, dass wir nach der von Rot-Grün getroffenen Entscheidung, die Leiharbeit zu öffnen, schon zwei Anträge gestellt haben, das zu korrigieren; denn wenn wir bemerken, dass wir einen Fehler gemacht haben, sind wir – anders als Sie – in der Lage, das selbstkritisch zu hinterfragen und diesen Feh- ler zu korrigieren. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auf Ihrer sonntäglichen Klausursitzung genau nach diesem Prinzip gehandelt hätten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dann hätten Sie vielleicht wieder eine Chance. Wenn Sie mit kaltem Herzen und kalter Hand so weitermachen, wird die FDP-Fraktion jedenfalls in diesem Parlament nur eine geringe Zukunft haben. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dann macht es platsch!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die Kollegin Krellmann vorhin einen Tiervergleich angestellt hat, hatte ich die Befürchtung, dass uns auch das weggenommen wird. Aber nach der Kurzintervention vonseiten der FDP haben wir gemerkt: Tierwelt kann die Koalition besser. Vergleiche aus die- sem Bereich sind unser Privileg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bringe das Buch mal mit! Schönes Buch!) Ich komme auf den Kern der Debatte zurück. Nach- dem der Kollege Lehrieder in einer zeitlich etwas knapp geratenen, aber inhaltlich sehr fundierten Rede die we- sentlichen Punkte erwähnt hat, will ich die Sachlage schildern, wie sie sich auf europäischer Ebene darstellt. Wir dürfen uns im Deutschen Bundestag schließlich keine Scheinwelt aufbauen. Die Kommission hat eindeu- tig erklärt, dass sie nach der entsprechenden Diskussion im Fachausschuss des Europäischen Parlaments evaluie- ren und die Richtlinie überprüfen wird. Der gerade im Amt befindliche EU-Kommissar Herr Andor hat ange- kündigt, im nächsten Jahr gegebenenfalls eine revidierte Richtlinie vorzulegen. In dieser Situation soll man die europäischen Institutionen das machen lassen, wofür sie da sind. Wenn sie angekündigt haben, zu evaluieren, dann kann sich jeder daran beteiligen und Einzelergeb- nisse dazu liefern. Aber man soll die europäischen Insti- tutionen erst einmal arbeiten lassen und nicht mit einer vorgefassten Meinung an die Sache herangehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein weiterer Punkt, der darauf hinweist, dass es sich Ihrerseits um einen Schnellschuss handelt, ist – wir se- hen das mit Freude –, dass die SPD jetzt von einem ge- setzlichen Mindestlohn Abstand genommen hat; das hat der Kollege Lehrieder gesagt. Sie wollen auf das zurück- kommen, was sinnvoll und vernünftig ist. Der tarifliche Mindestlohn soll in den einzelnen Branchen durch die Tarifvertragsparteien festgelegt werden. Das haben Sie klugerweise in Ihren Antrag hineingeschrieben. Das begrüße ich und zeigt die von Frau Pothmer angemahnte Lernfähigkeit bei den Sozialdemokraten. Diese gibt es übrigens auch bei der FDP. 5372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Johann Wadephul (A) (C) (D)(B) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja?) Auf der angesprochenen Klausursitzung hat der General- sekretär der Freien Demokratischen Partei etwas zur Mehrwertsteuersenkung zugunsten der Hoteliers gesagt. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Müssen Sie jetzt schon die FDP vertei- digen?) Seitens der Union kann man das nur begrüßen. Vielleicht kommen wir im Herbst nach ausführlichen Beratungen gemeinsam zu neuen Ergebnissen. Auch die Grünen ha- ben noch Nachholbedarf. Was auch dafür spricht, dass es sich um einen Schnellschuss handelt, ist, dass Sie die europäische Rechtsprechung nicht ausgewertet haben. Ich will gar nicht meine Meinung dazu sagen; ich bin zwar Jurist, aber kein Europarechtler. Nur so viel: Lesen Sie in der tageszeitung vom 12. September 2008 nach, was der deutsche EuGH-Richter Thomas von Danwitz zu den in- frage kommenden Urteilen gesagt hat. Dann würden Sie von der linken Seite des Hauses wesentliche Teile des- sen, was Sie vorgetragen haben, nicht wiederholen. Der Richter hat gesagt – ich darf zitieren –: Wenn man die Urteile genau ansieht, erkennt man, dass es keine derart einseitige Linie gibt. Nehmen wir das Viking-Urteil …, das in meinen Augen die grundsätzlichste Bedeutung hat. Hier wurde klar das Streikrecht der Gewerkschaften als Grundrecht anerkannt. Zwar werden Streiks als potenzieller Eingriff in die Binnenmarkt-Grundfreiheiten der Unternehmen eingestuft, laut EuGH sind Streiks aber grundsätzlich gerechtfertigt, wenn sie für die Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen notwen- dig sind. An anderer Stelle sagt er, als er gefragt wird, ob die Richtlinie denn dem wichtigen Zweck der Erhaltung des sozialen Friedens dient: Entscheidend ist aber, dass die Entsenderichtlinie ein Kompromiss ist, der hinterher nicht einfach un- ter Berufung auf bestimmte Interessen wieder in- frage gestellt werden kann. Wenn ich mit Kollegen aus Ungarn oder Polen spreche, dann ist aus ihrer Sicht der Marktzugang jedenfalls sehr wichtig. Auf den Aspekt möchte ich hinweisen. Wir können uns als Exportnation Deutschland nicht hinstellen und sagen: „Die sollen alle unsere Produkte kaufen“, aber uns dann, wenn diese eine Chance auf dem Arbeitsmarkt nutzen wollen, auf den sie möglicherweise mit günstige- ren Personalkosten kommen könnten, abschotten. Wir schaffen kein Zweiklassen-Arbeitnehmerrecht, Herr Juratovic, sondern wir schaffen zwei Klassen von Staa- ten in der Europäischen Union. Das wird außerordent- lich kritisch gesehen, das sollten wir nicht machen. Wenn Sie guter Europäer sind, (Josip Juratovic [SPD]: Ein sehr guter Euro- päer!) dann überdenken Sie das an dieser Stelle noch einmal und ziehen Ihren Antrag zurück. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1770 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2010 (JStG 2010) – Drucksache 17/2249 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Olav Gutting für die Unionsfraktion, Lothar Binding für die SPD-Fraktion, Dr. Daniel Volk für die FDP-Fraktion, Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke, Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des Parla- mentarischen Staatssekretärs Hartmut Koschyk für die Bundesregierung.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/2249 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Manfred Zöllmer, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesamtkonzept zur Stärkung des Verbrau- cherschutzes bei Finanzdienstleistungen vorle- gen – Drucksache 17/2136 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss 1) Anlage 65 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5373 Vizepräsidentin Petra Pau (A) (C) (D)(B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD- Fraktion hat der Kollege Dr. Carsten Sieling. (Beifall bei der SPD) Dr. Carsten Sieling (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurz nach der Bundestags- wahl kam in eine meiner ersten Bürgersprechstunden, die ich als neu gewählter Abgeordneter durchgeführt habe, ein älteres Ehepaar und trug mir vor, was ihnen zwei Jahre zuvor, schon im Jahr 2007, geschehen ist. Sie waren immer noch empört. Sie hatten einen Anruf eines ihnen vertrauten Bankberaters bekommen, und dieser hatte gesagt, er habe ein Angebot nur für ganz spezielle Kunden: Zertifikate der Lehman-Bank: gute Zinsen, si- cher, kein Risiko. Das Ehepaar schlug zu, wie es so viele gemacht haben. Den Ausgang kennen wir alle. Sie haben sich verspekuliert, die Altersvorsorge ist dahin. So geht es Tausenden Menschen. Das ist das Problem und der Grund, warum wir sagen, dass es dringend notwendig ist, dass wir im Bereich des Anlegerschutzes und des Verbraucherschutzes erweiterte Maßnahmen treffen, da- mit so etwas vermieden wird. Der Schaden in Deutsch- land wird auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Das ist deut- lich zu viel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen hier handeln. Darum haben wir unseren Antrag vorgelegt. (Beifall bei der SPD) Es gibt viele Gründe dafür, dass das so passiert ist. Die Berater sind nicht ausreichend qualifiziert. Die Be- raterinnen und Berater stehen unter Erfolgsdruck, weil sie mehr Provision erbringen müssen. All dies ist in den letzten Wochen auch durch die Medien gegangen. Auf tariflicher Ebene hat es Vereinbarungen dazu gegeben. Die Informationen über die Finanzprodukte – hier wird es noch ernster – sind unverständlich und nicht durchschaubar. Niemand beaufsichtigt das, was auf den Märkten passiert und angeboten wird. Diese Dinge müssen geändert werden. Die Große Ko- alition hat schon in der letzten Legislaturperiode durch- aus einige Verbesserungen erzielt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich nenne nur das Stichwort „Verlängerung der Verjäh- rung bei Falschberatung durch die Banken“. Das war ein richtiger und wichtiger Schritt. Wir haben damals ge- meinsam mit der CDU/CSU einen Antrag auf den Weg gebracht, der viele gute Vorschläge beinhaltet hat. Pas- siert ist seitdem aber leider gar nichts. (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie haben eine komische Wahr- nehmung, Herr Kollege!) Man muss sagen: Gar nichts ist passiert. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Komische Wahr- nehmung!) – Ich sage gleich noch etwas dazu. Das größte Problem ist aber, dass ein Gesamtkonzept fehlt, Kollege Dautzenberg. Da kommen Sie auch nicht drum herum und nicht heraus. Wir brauchen ein Gesamt- konzept für den Anlegerschutz, das alle Aspekte um- fasst. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die werden Sie nie erfassen, weil es immer neue Produkte gibt!) Das ist ein Grund, warum wir heute hier diesen Antrag vorlegen, in dessen Zentrum die Überlegung steht, dass wir einen Finanz-TÜV, ein Bündel von Maßnahmen, brauchen, mit dem dafür gesorgt wird, dass die einzelnen Dinge beobachtet und kontrolliert werden. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das sind alles nur Sprechblasen, Herr Kollege!) Die Finanzprodukte müssen vom Anfang bis zum Schluss, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie verkauft werden, durchleuchtet werden. Wir müssen die Situation erreichen, dass Produkte, Beratung und Verkauf unter ständiger Beobachtung stehen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!) Was dafür nötig ist, haben wir in unserem Antrag darge- legt. Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen: Erstens. Wir wollen gesetzlich verbindliche – und nicht nur mehr oder weniger freiwillige – und verständli- che Produktinformationsblätter mit standardisierten An- gaben, damit die Dinge verglichen werden können. Wer falsche Informationen hineinschreibt, der muss dafür auch haften. (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Zweitens. Wir wollen die Aufsichtsbefugnisse der BaFin weiterentwickeln. Dafür gibt es bereits Vorbilder im Investmentbereich. Das muss ausgeweitet werden, ohne dass für die BaFin oder die öffentliche Hand ein Haftungsverhältnis begründet wird. Das muss vermieden werden, aber die Aufsicht kann weiterentwickelt wer- den. Drittens. Wir müssen die Verbraucherverbände stär- ken. Bellen und Beißen: Das ist das Prinzip, nach dem wir dort handeln. Viele weitere Dinge stehen in unserem Antrag, zum Beispiel die Regulierung des Grauen Kapitalmarkts und Weiteres. Die Zwischenrufe haben schon gezeigt: Gleich wer- den die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition hier sprechen und sich mit ihren Taten rühmen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!) Sie werden sich Ihrer vermeintlichen Taten mit lauen warmen Worten rühmen. Da ist nicht viel gewesen. Frau 5374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Carsten Sieling (A) (C) (D)(B) Aigner, die Verbraucherschutzministerin, hat eine „Qua- litätsoffensive Verbraucherfinanzen“ vorgelegt, passiert ist aber nichts. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Interessant wurde es, als der Bundesfinanzminister ei- nen Gesetzentwurf mit einigen durchaus beachtenswer- ten Aspekten im Hinblick auf die Qualifikation von Fi- nanzberatern und vielen anderen Verbesserungen ins Spiel gebracht hat. Was aber ist passiert? (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was denn?) Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf schon im Juni im Kabinett beschlossen werden, damit wir hier etwas Or- dentliches zu beraten haben. Er ist aber wieder von der Tagesordnung genommen worden. So verlautete es je- denfalls. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Auf welcher Tages- ordnung war er denn, Herr Kollege?) – Ob er auf der Tagesordnung war? – Es wurde jeden- falls vorbereitet, und Sie wissen auch, dass es eine Vor- abstimmung darüber gab. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist aber ein großer Unterschied!) Was ist der Hintergrund? – Der Wirtschaftsminister Brüderle hat Gesprächsbedarf. Es ist das übliche Spiel: CDU/CSU und FDP laufen in unterschiedliche Richtun- gen. Dahinter steckt wahrscheinlich, dass die einen oder anderen Lobbyverbände wieder interveniert haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) – Sie können ja das Gegenteil belegen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Sieling, kommen Sie bitte zum Schluss. Dr. Carsten Sieling (SPD): Ich komme zum Schluss. – Allein durch diesen Vor- gang wird deutlich, wie richtig und wichtig es war, dass wir als SPD unseren Antrag hier vorlegt haben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Klaus- Peter Flosbach das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jetzt kommt Qualität in die De- batte!) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sieling, Sie fordern ein schlüssiges Ge- samtkonzept zur Stärkung des Verbraucherschutzes. Warten Sie doch noch ein paar Tage. In wenigen Tagen wird dieses Konzept vorgelegt, Herr Sieling. Sie haben elf Jahre den Bundesfinanzminister gestellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bei uns dauert es nur acht Monate, bis ein schlüssiges Gesamtkonzept vorgelegt wird. Das wird mit Sicherheit noch in diesem Monat vom Kabinett verabschiedet. Wir werden schon im September, also nur ein Jahr nach der Bundestagswahl, dieses Konzept sehr intensiv beraten können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP] – Kerstin Tack [SPD]: Die Sicherheit kennen wir!) Wir haben deutlich gesagt, dass wir jedes Produkt, je- den Produzenten und jeden Vermittler einer Regulierung unterwerfen wollen. Sie haben als Beispiel die Lehman- Zertifikate genannt und auf den vertrauensvollen Bank- berater hingewiesen. In der Tat hat es riesige Schäden gegeben. Aber Sie haben den geregelten Markt ange- sprochen. Das war der Bankenmarkt – da gibt es das Wertpapierhandelsgesetz und das Kreditwesengesetz –, der sehr stark reguliert ist. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber er kann das nicht auseinanderhalten!) Trotzdem gab es 50 000 Lehman-Geschädigte. Wir ken- nen den Fall von Phönix Kapitaldienst. Da gab es 30 000 geschädigte Anleger. Auch da hat die Aufsicht geprüft, konnte den Schaden aber nicht verhindern. Ich erinnere an die Göttinger Gruppe – atypische Beteiligun- gen –, die auch ständig geprüft wurde. Alle Kapital- dienste haben geschrieben, was das für ein schlimmer Verein sei, aber trotzdem hat die bestehende Aufsicht nicht eingegriffen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Flosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick? Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Na klar. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn es der Sache dient!) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Flosbach, Sie haben gerade ein einheitliches An- legerschutzkonzept angekündigt, das in wenigen Wo- chen vorliegen werde. Meine Frage ist, ob der Gesetz- entwurf zum Anlegerschutz, der angekündigt ist, schon dieses Konzept ist oder ob Sie noch etwas Weiteres vor- legen wollen, mit dem die Ziele des Koalitionsvertrages erreicht werden sollen. Das war mir bei Ihren Ausfüh- rungen nicht ganz klar. Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Es gibt einen Entwurf der Bundesregierung – das wis- sen Sie wahrscheinlich –, der bereits mit Verbänden dis- kutiert wird. Er wird uns in Kürze vorliegen. Er wird Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5375 Klaus-Peter Flosbach (A) (C) (D)(B) wesentliche Teile der im Bereich Verbraucherschutz dis- kutierten Themen enthalten. Darüber und über die An- träge, die Sie vorgelegt haben, werden wir mit Ihnen ge- meinsam gerne im September und Oktober diskutieren. (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]) Sie haben es in elf Jahren nicht hinbekommen. Warten Sie die paar Tage ab, bis wir unser Konzept vorlegen. Das ist doch der einfachste Weg. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich bin nicht in der SPD!) – Sie waren viele Jahre mit dabei. Es gibt Schäden auf dem Finanzmarkt. Sie kennen die Schrottimmobilien. Auch in diesem Zusammenhang sind Tausende von Leuten über den Tisch gezogen wor- den. Auch hier haben wieder die Banken gehandelt, die Kredite gegeben und die Immobilien zu 100 Prozent in einer Höhe beliehen haben, die diese nicht wert waren. Sie fordern in Ihrem Antrag, es müsse vom Beginn der Anlage bis zum Ende alles geprüft werden. Wir kön- nen das versuchen. Wir haben derzeit eine Prospektprü- fung. Das ist aber nur eine formelle Prüfung, keine in- haltliche Prüfung. Wir müssen aufpassen, dass wir keine Scheinsicherheit erzeugen. Entscheidend ist, was in dem Produkt steckt. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) Das muss natürlich geprüft werden. Wir bekommen jetzt eine neue europäische Richtlinie zu den alternativen In- vestments. Auch hier, meine ich, muss zunächst einmal der Anbieter geprüft werden. Die Schäden sind bei den Anbietern entstanden. Diese sind die Verursacher des Schadens. Deswegen ist es wichtig – das sage ich in Richtung von Herrn Schick –, dass die Prospekthaftung über die sechs Monate hinausgeht. Es ist also wichtig, dass der Anbieter stärker geprüft wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Denken Sie doch bitte an unsere Diskussion im ver- gangenen Sommer. Ich spreche von der großen Anhö- rung zum grauen Kapitalmarkt. Auch da ging es um die Frage, was inhaltlich geprüft werden kann. Die Aufsicht hat uns Abgeordneten gesagt: Wir sind in der Lage, for- mell zu prüfen, aber den wirtschaftlichen Gehalt einer Anlage können wir nicht prüfen, weil wir nicht die Fach- leute dafür haben. Um das einzelne Produkt bewerten zu können, müssten wir riesige Abteilungen von Experten beschäftigen, die auch entsprechende Prognosen auswer- ten. – Denken Sie an den klassischen Fall des geschlos- senen Immobilienfonds. In den neuen Bundesländern gab es in der Startphase teilweise hohe Mieten. Wenn ein Mieter ausfällt, ist das ganze Konzept im Eimer. Es ist eine Risikoinvestition. Beim Verbraucherschutz geht es darum, dass der Verbraucher weiß, dass auf einem Pro- dukt deutlich steht, wenn in ihm ein Risiko steckt. Es muss dem Einzelnen klargemacht werden, dass das Ri- siko hoch ist und es sich nicht um eine Anlage handelt, die 1, 2 oder 3 Prozent abwirft. Das Risiko muss deutlich beschrieben werden. Darin sind wir uns wahrscheinlich einig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das steht schon im Wertpapierhandelsgesetz!) Das Wichtigste dabei ist, dass wir Möglichkeiten eröff- nen, wie die Anlegersicherheit gestaltet werden kann. Ich sehe das auch so wie Sie, dass wir ein breites Spek- trum standardisierter Produkte für den Anleger haben müssen, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) bei denen er weiß, ob es eine Einlagensicherung gibt und sein Geld nicht verlorengehen kann. Das ist meines Er- achtens wichtig. Aber für den Anleger, der bereit ist, auch ein größeres Risiko einzugehen, müssen wir andere Schutzvorschriften schaffen. Zum Beispiel bei geschlos- senen Fonds ist meines Erachtens das Gutachten der Wirtschaftsprüfer, das sogenannte IDW-S4-Gutachten, der richtige Weg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Be- reich, der eine hohe Bedeutung hat, ist natürlich die Re- gulierung der Vermittler. Hier gibt es derzeit zwei Kon- zepte, aber in beiden Konzepten sind mehrere Positionen völlig identisch. Wir wollen, dass es ein einheitliches und öffentliches Register gibt. Jeder Anleger soll öffent- lich sehen können, wer ihm da gegenübersteht, von mir aus, welche Vita er hat, welche Qualifikation er hat, ob er eine Haftpflichtversicherung hat, ob er abgesichert ist für mögliche Risiken. Ich bin außerdem der Meinung, dass ein Gespräch dokumentiert und protokolliert wer- den muss, damit man weiß, was da gelaufen ist. Wir brauchen natürlich – das ist wichtig – den Prospekt. Da- rin steht normalerweise – gucken Sie sich die Prospekte an –, der Vermittler darf nicht vom Prospekt abweichen. Dennoch bin ich der Meinung, das Gespräch sollte pro- tokolliert werden. Das ist meines Erachtens auch für den Verbraucher der beste Schutz. Es muss einfach deutlich sein, dass der Verbraucher erkennt, ob es eine Risiko- anlage oder eine Nichtrisikoanlage ist. Es gibt zwei Konzepte: Soll das alles über die Gewer- beordnung reguliert werden, oder soll es über die BaFin, also die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, als Aufsicht reguliert werden? – Ich meine, wir müssen hier an den Verbraucher denken. Was dient dem Verbraucher am meisten? Die Situation ist doch, dass wir im Markt viele ver- schiedene Wettbewerber haben, die sich um den Ver- braucher bewerben, und jedes Gespräch wird protokol- liert. Wenn der Anbieter ein faires Angebot gemacht hat, wird er nichts dagegen haben, und dann wird er auch da- für haften können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Wichtig ist, dass wir den Verbrauchern fair und offen aufzeigen, wo sie Schutz haben können, aber auch deutlich machen, wo es keinen Schutz gibt. Wer ein Ri- siko bewusst eingeht, der muss auch das Risiko tragen können. Das ist dann nicht die Sache des Verbraucher- schutzes. Wir wollen nicht jeden reglementieren, ihm 5376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Klaus-Peter Flosbach (A) (C) (D)(B) vorschreiben, dass er sein Geld nur im Sparbuch anlegen kann, sondern wir wollen schon einen Wettbewerb im Finanzmarkt haben. Ich freue mich auf die weitere Bera- tung zu diesem Thema. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Frak- tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Harald Koch (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden in den vergangenen Monaten etli- che Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern eingegan- gen sein, die Sorge um ihr mühsam Erspartes haben. Das klang hier ja auch schon bei Herrn Dr. Sieling durch. Viele haben in der Finanzkrise durch hoch riskante, in- transparente Finanzprodukte, die ihnen als sicher und renditeträchtig verkauft wurden, eine Menge Geld verlo- ren. Auch die Verschuldung durch verantwortungslose Kreditvergaben ist ein großes Problem. Von mehr als 6 Millionen überschuldeten Menschen sind gut 85 Pro- zent nicht selbst für ihre Lage verantwortlich. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, na!) Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie dürfen nicht länger zulassen, dass Tausende Menschen ihre Rücklagen für das Alter, für die Pflege oder für Not- fälle verlieren (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wo verlieren die das denn, Herr Kollege?) bzw. finanziell gar keine Zukunft mehr sehen. Viel zu spät wurde in Deutschland, aber ebenso welt- weit bemerkt, dass eine Regulierung der Finanz- und Kreditmärkte auch aus Verbraucher- und Anlegersicht dringend geboten ist. Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen, es wäre schön, wenn nicht immer so lange gewar- tet würde, bis das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Die SPD spricht im Titel ihres Antrags aus meiner Sicht etwas großspurig von einem „Gesamtkonzept“. (Zuruf von der SPD: Warten Sie ab!) Doch über die Kreditvergabe als wichtigste Finanz- dienstleistung und die damit verbundenen Probleme ver- liert der Antrag kein Wort. Die Linke fordert beispiels- weise eine Stärkung der Schuldnerberatungsstellen. (Beifall bei der LINKEN und des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Die SPD hätte, wenn sie es ernst meinte, ihre Forde- rungen bereits im letzten Jahr umsetzen können, weil sie meist von Linken und Grünen übernommen worden sind. Stattdessen verfolgte die SPD während ihrer Regie- rungsbeteiligung andere Interessen. Mit dem Zahlungs- diensteaufsichtsgesetz, kurz „ZAG“ genannt, hat sie für eine Verbreitung von Wildwestmethoden im Bereich der Kreditkartenkredite beigetragen. (Beifall bei der LINKEN) Trotz dieser großen Lücke enthält der SPD-Antrag – das möchte ich nach den kritischen Anmerkungen be- tonen – viele unterstützenswerte Forderungen, mit denen linke Positionen aufgegriffen werden. Auch die Linke will die unabhängige Finanzberatung ausbauen und sagt Nein zum Provisions- und Profitstreben in der Finanz- und Versicherungsbranche. Honorarberatung bedeutet nicht zwangsläufig mehr Qualität; doch ohne die Über- windung provisionsgetriebener Beratung und produktbe- zogener Verkaufsvorgaben gibt es keine wirklich unab- hängige Beratung. Warum sorgen wir hier zum Beispiel nicht dafür, dass das Berufsbild eines zertifizierten Finanzberaters etabliert wird? (Kerstin Tack [SPD]: Das steht im Antrag! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja, in unserem An- trag!) Auch die gesetzlichen Regelungen zu Beratungspro- tokollen weisen viele Lücken auf. Sie schützen eher die Berater vor Haftungsrisiken als die Beratenen vor Nach- teilen. Produktinformationsblätter sollten einheitlich die Risikoklasse, den maximal möglichen Verlust sowie die tatsächlichen Gesamtkosten ausweisen. Die Linke for- dert für beides standardisierte und insbesondere verbind- liche Verfahren. Ein Finanz-TÜV muss ferner wichtiger Bestandteil der Finanzaufsicht sein. Finanzprodukte sind vor ihrer Zulassung auf Verbraucherfreundlichkeit, wirtschaftli- che Nachhaltigkeit, Sozial- und Umweltverträglichkeit sowie Risikopotenzial zu prüfen und zu klassifizieren. Gefährliche und schlichtweg überflüssige Produkte, die nur der Spekulation im globalen Finanzkasino dienen, müssen endlich vom Markt genommen werden. (Beifall bei der LINKEN) Der finanzielle Verbraucherschutz muss gesetzlich verbindlicher geregelt und gestärkt werden, erstens durch Regulierung und Entschleunigung der Finanz- märkte, unter anderem durch eine Finanztransaktion- steuer, sowie durch Maßnahmen für eine verantwor- tungsvolle Kreditvergabe, – Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Koch, achten Sie bitte auf das Signal. Harald Koch (DIE LINKE): – ja –, zweitens durch die Entschlackung der für die Privatanleger schier undurchschaubaren Masse an Fi- nanzprodukten und drittens vor allem durch bessere Re- gulierung, Transparenz und Verständlichkeit der verblei- benden Produkte. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5377 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor Dr. Erik Schweickert das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es geht aber nicht um Wein, Herr Kollege!) Dr. Erik Schweickert (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht nur deshalb, weil vielleicht der eine oder andere, der noch reden muss, zu spät gekommen ist, möchte ich das aufgreifen, was Sie, Herr Kollege Sieling, zu Anfang aus Ihrem Wahlkreisbüro berichtet haben. Wenn ich richtig zugehört habe, hat die Dame (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ehepaar!) Ihnen erzählt, was sie 2007 erlebt hat. Ich hoffe, Sie ha- ben der Dame dann auch gesagt, wer denn 2007 die Ver- antwortung getragen hat und was 2007 von denen unter- nommen worden ist, sehr geehrter Herr Kollege. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wo? In den USA? In den USA war es Bush! – Kerstin Tack [SPD]: Nicht richtig zugehört, Herr Kollege!) – Ich glaube schon, dass ich zugehört habe. Sonst hätte ich zum Beispiel das „Bellen und Beißen“ nicht auf- schreiben können; da bin ich mir sicher. Im Bellen sind Sie großartig; das gestehe ich Ihnen zu. (Zuruf) – Ihr Kollege hat das gesagt. Ich zitiere nur den Antrag- steller. Ich glaube, es ist gut, wenn man da mal ein biss- chen Substanz hineinbringt. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Jetzt geht’s aber mal los!) Wir bellen und beißen nicht, sondern wir arbeiten or- dentlich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbrau- cher. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir sind uns im Ziel doch einig. Wir wollen mehr Transparenz. Wir wollen eine bessere Regulierung bei den Finanzdienstleistungen und somit ein Mehr an Verbraucherschutz. Die Euro-Krise hat uns gezeigt, dass es am Finanzmarkt noch Rege- lungsbedarf gibt. Der Antrag, den die Sozialdemokraten eingebracht haben, zeigt aber auch die gute und zügige Arbeit der christlich-liberalen Koalition. In dem Antrag beschrei- ben Sie viele Problembereiche und sagen: Da müsste man etwas tun. – Sie haben elf Jahre lang nichts getan. Ich möchte Ihnen sagen, wo wir etwas getan haben. Sie haben das ja schon als Erwartung geäußert. Ich möchte Sie nicht enttäuschen, sehr geehrter Herr Kollege, und Ihnen das noch einmal vor Augen führen. Mit dem Ge- setz zur Stärkung des Anlegerschutzes und der Verbesse- rung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes wird dieser sogenannte graue Kapitalmarkt nämlich einer durchgreifenden Regulierung unterzogen. (Beifall bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?) – Wir lesen Zeitungen sehr wohl. – Die Pflicht zur Füh- rung eines Beratungsprotokolls, zur Einhaltung des Ge- bots einer anlegergerechten Beratung und zur Offenle- gung von Provisionen wird mehr Transparenz in die Anlageformen bringen und somit den Anlegerschutz deutlich erhöhen. (Kerstin Tack [SPD]: Das ist nicht Ihr Ver- dienst! Das war die Große Koalition! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und was hat die FDP damit zu tun?) Seien Sie zuversichtlich, dass es, wenn die BaFin als Aufsicht über Finanzdienstleistungen das Recht be- kommt, Bußgelder für Falschberatungen zu erheben, bei 50 000 Euro doch schon wehtut. Das ist wieder ein klei- ner Baustein in die richtige Richtung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch bei den Qualifikationsvoraussetzungen von Fi- nanzberatern gehen wir voran. Anders als vielleicht der eine oder andere hier möchte ich nicht den mehr oder minder staatlichen Bankberater haben. Die Berater und auch die Vertriebsverantwortlichen – das wird oftmals vergessen – müssen sich registrieren. Wir wollen, dass bei falscher Anlageberatung auch die Möglichkeit be- steht, Kundenbeschwerden nachzugehen, sodass die BaFin dem dann entgegenwirken kann. Die BaFin wird damit auch die Kompetenz bekommen, Wertpapier- dienstleistungsunternehmen den Einsatz des einen oder anderen Mitarbeiters zu untersagen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) Sie sehen also: Wir gehen nach vorne. Die Informationsblätter werden künftig stärker regle- mentiert sein. Der Diskussionsentwurf aus dem Bundes- finanzministerium sieht ein – das finde ich übrigens sehr gut – nicht mehr als zwei DIN-A4-Seiten umfassendes Produktinformationsblatt vor. Wir sind doch alle genervt – seien wir einmal ehrlich –, wenn wir 30 Seiten bekom- men, die letztendlich keiner liest. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lieber sollten es weniger sein, die dafür die wichtigen Punkte enthalten. Dann haben wir alle gewonnen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Warum hat Herr Brüderle nicht auf Sie ge- hört? – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat mit Herrn Brüderle nichts zu tun!) – Seit wann ist Herr Brüderle denn Bundesfinanzminis- ter? Gehen wir einmal weiter. Es war die christlich-libe- rale Koalition – auch wenn es wehtut, Herr Kollege –, die mit dem Gesetz zur Vorbeugung gegen missbräuch- liche Wertpapier- und Derivategeschäfte eine Regelung zum Verbot ungedeckter Leerverkäufe auf den Weg ge- 5378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Erik Schweickert (A) (C) (D)(B) bracht hat. Wir wirken damit den Risiken für die Funk- tionsfähigkeit der Finanzmärkte entgegen. Damit habe ich Ihnen nur einige Beispiele genannt, mit denen wir das Anlegerschutzniveau deutlich erhö- hen. Für mich als Verbraucherschützer gibt es weitere Baustellen, an denen wir arbeiten müssen. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir sie angehen. Im Rahmen der Zusammenführung der deutschen Fi- nanzaufsicht bei der Bundesbank wäre für uns eine Eta- blierung des Verbraucherschutzes ein wichtiger Punkt; denn wir brauchen eine bessere Aufsicht und keine Ver- staatlichung der Verbraucherzentralen, wie das in Ihrem Antrag mit den Marktwächtern gefordert wird. Der Marktwächter darf kein Nachtwächter sein. Aus diesem Grunde möchte ich eine gute, schlagkräftige Verbrau- cherzentrale haben, die schaut, was am Markt möglich ist und welche Entwicklungen es am Markt gibt. Wir wollen aber keine Verstaatlichung der Verbraucherzen- tralen. Wir brauchen keine Hilfssheriffs, die der Mei- nung sind, sie müssten jetzt losgehen. Das muss die Auf- sicht machen. Jeder muss dort tätig werden, wo er hinge- hört, und seine Kernkompetenz in diesem Bereich auch ausfüllen. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Oh! Die FDP fordert mehr Staat!) Auch beim Thema Honorarberater ist nach unserer Meinung ein Ausbau erforderlich. Wir brauchen ein kla- res Profil. Jeder muss wissen, ob er einem Honorarbera- ter oder einem Verkäufer gegenübersitzt. Das muss transparent ausgewiesen werden. Diese Punkte sind für den Verbraucherschutz notwen- dig. Dann bekommen wir auch das Vertrauen wieder zu- rück, das sehr viele Banken tatsächlich verspielt haben. Ich bin mir auch sicher, dass sehr viele Banken noch nicht verstanden haben, was sie den Anlegerinnen und Anlegern angetan haben. Hier müssen wir ein bisschen für ein Umdenken in der Branche Sorge tragen. Sehr ge- ehrter Herr Kollege, das muss aber mit den Vorschlägen geschehen, die wir auf den Weg gebracht haben. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Auf welchen Weg?) – Sehr geehrter Herr Kollege, wenn Sie es in elf Jahren nicht schaffen, ein Gesetz vorzulegen, während wir uns in der kurzen Zeit, die wir jetzt hier die Verantwortung tragen, schon auf Gesetzentwürfe geeinigt haben, (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber noch ist es nicht passiert!) dann müssen Sie auch einmal akzeptieren, dass wir den Schritt in die richtige Richtung gehen, den Sie elf Jahre lang verpasst haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Können Sie mir das Papier überreichen?) Bevor Frau Präsidentin jetzt anfängt, es blinken zu lassen, will ich Ihnen nur noch Folgendes sagen: Wir werden auch weiterhin im Sinne eines guten Anleger- schutzes vorangehen. Ich freue mich auf die gute Zu- sammenarbeit und auf die Aussprache mit Ihnen. Ich hoffe, dass Sie Ihren Leuten dann, wenn Sie erläutern, was 2007 falsch gelaufen ist, auch sagen, wer es jetzt re- gelt. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Jahre nach Beginn der Finanzkrise ist die verbrau- cherpolitische Bilanz der Regierung immer noch relativ schlecht. Banken und andere Anbieter von Finanzpro- dukten machen mehr oder weniger weiter wie bisher. Die Regierung hat es versäumt, die notwendigen Refor- men zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärkten umzusetzen. Ich will Ihnen drei Beispiele aus Verbrauchersicht nennen. Da geht es weni- ger um Regulierung im Großen als um kleine Ärger- nisse, die enormen volkswirtschaftlichen Schaden an- richten. Nehmen wir als erstes Beispiel die Überziehungszin- sen. Die Verbraucherzentrale in Bremen schätzt, dass die Deutschen allein von Dezember 2008 bis April 2010 über 700 Millionen Euro aufgrund überhöhter Dispo- und Überziehungszinsen gezahlt haben. (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) Das mag man vielleicht als Kleinigkeit abtun, aber 0,7 Mil- liarden Euro sind eine ganze Menge Geld. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer hat das denn festgestellt, Frau Kollegin?) Die in der Studie untersuchten Banken kassierten Über- ziehungszinsen zwischen 17 und 20 Prozent. Wenn wir uns den Leitzins anschauen, den die Europäische Zen- tralbank im Moment festgelegt hat, stellen wir fest, dass das Geld derzeit eigentlich relativ billig ist. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist wahr!) Wer aber den Dispo überzieht, den kommt das sehr teuer zu stehen. Besonders dreist ist die Commerzbank; denn sie nimmt den höchsten Überziehungszins. Dabei ist das die Bank, die wir nicht mit Millionen, sondern mit Mil- liarden an Steuergeldern päppeln. Da frage ich mich: Ist das nicht ein Anlass, um auf den Finanzmärkten einzu- greifen? Man muss sich doch die Frage stellen: Wenn so weit von dem abgewichen wird, was die Geldpolitik vor- gibt, nämlich einen niedrigen Leitzins, müsste man dann nicht im volkswirtschaftlichen Sinne regulierend ein- greifen? (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist wirklich ökonomischer Unsinn!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5379 Nicole Maisch (A) (C) (D)(B) Beispiel Nummer zwei: Abzocke bei EC-Kartenge- bühren. Die FDP hat dieses Thema erfreulicherweise im Verbraucherausschuss auf die Tagesordnung gesetzt. Wir haben ein Fachgespräch durchgeführt, zu dem leider kein Vertreter der Union erschienen ist; trotzdem war es sehr gut. Da haben wir herausgefunden, dass die EC-Kar- tengebühren immer mehr steigen. Aber auch hier bleibt es bei der Thematisierung in der Presse. Das ist zwar schön, aber das reicht noch nicht. Eine Pressemitteilung hat noch keinem Verbraucher, keiner Verbraucherin ge- nutzt. Der Grund, warum Sie an diese ganzen Themen nicht herangehen, ist, dass Sie, wie ich glaube, eine Beiß- hemmung gegenüber der Finanzbranche haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Sie scheuen den Konflikt: Sie schreiben zwar Pressemit- teilungen, aber Sie trauen sich nicht, gesetzliche Rege- lungen zu treffen. Ähnliches gilt für das dritte Beispiel, die Provisionen. Herr Professor Schweickert hat über die Honorarbera- tungen gesprochen. Wir wissen, dass Provisionen häufig Fehlanreize für Beratung setzen. Man berät unter dem Aspekt: „Wie kann ich die höchste Provision erzielen?“, aber nicht nach dem Grundsatz: „Was ist das Beste für den Kunden?“ Jetzt müssen sich Frau Aigner und Herr Schäuble aber fragen lassen: Wo sind Ihre Vorschläge zur Deckelung von Provisionen? Trauen Sie sich an die Kick-backs heran? Wie wollen Sie Transparenz bei den Provisionen schaffen? Wie wollen Sie die verbraucher- freundliche Honorarberatung fördern? Nur in Über- schriften zu reden, reicht nicht. Man muss auch konkrete Konzepte vorlegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ein kleines Beispiel: Ministerin Aigner verspricht uns seit vielen Monaten, dass sie den Begriff „Honorarbera- ter“ gesetzlich schützen lassen wird. Das macht Sinn. Das löst zwar nicht das ganze Problem, würde zumindest aber dafür sorgen, dass jemand, der „Honorarberater“ auf seinem Türschild stehen hat, nicht noch zusätzlich Provision kassiert. Das ist eigentlich keine so schwierige Sache. Trotzdem haben wir hierzu bislang noch keinen Gesetzentwurf gesehen. (Kerstin Tack [SPD]: Im Herbst!) – Wahrscheinlich im Herbst; alles kommt im Herbst. (Nicolette Kressl [SPD]: Welches Jahr?) Wir Grünen fordern seit langem eine Reform der Fi- nanzaufsicht. Dazu werden Sie in der morgigen Debatte vom Kollegen Schick noch genauere Ausführungen hö- ren. Wir möchten auch, dass der Verbraucherschutz zu ei- ner Kernaufgabe der Finanzaufsicht wird. Wir wünschen uns, dass sich am Wettbewerb der Ideen um die beste Fi- nanzaufsicht, den Brüderle und Schäuble ausgerufen ha- ben, auch Frau Ministerin Aigner beteiligt. Wenn die Ideen nur so sprudeln, wäre es ganz gut, wenn auch der Verbraucherschutz Gehör finden würde. Zum Schluss: Funktionierende Märkte brauchen gut informierte Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn Sie das Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellie- ren, dann wäre es doch schön, wenn Sie auch die Finanz- dienstleistungen aufnähmen. Wir wissen, dass auch die FDP das möchte. Wir werden Sie daran messen, ob Sie sich in diesem Punkt gegen die CDU durchsetzen. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Steht im Koali- tionsvertrag drin!) – Es steht ja so viel im Koalitionsvertrag. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wir setzen ihn um, Schritt für Schritt!) – Schritt für Schritt, ja; aber man hat ja normalerweise nur vier Jahre Zeit. Deshalb denke ich, jetzt wäre es an der Zeit, konkret ans Arbeiten zu gehen, statt nur Presse- mitteilungen zu schreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Frank Steffel für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde habe ich den Eindruck: Mancher Streit ist etwas künstlich und die Aufregung auch. Ich vermute, dass wir uns einig sind, dass die internationale Finanz- krise leider auch Spuren bei Verbrauchern und Bankkun- den hinterlassen hat. Ich teile auch ausdrücklich das, was Sie, Frau Maisch, gesagt haben, nämlich dass die Sen- kung der Zinsen, beispielsweise durch die Europäische Zentralbank, im Wesentlichen natürlich dazu dienen sollte, den Mittelstand zu unterstützen, die eigenen Zins- sätze zu senken, Anreize für Investitionen zu geben und den Verbrauchern und Konsumenten durch günstige Zinssätze ein Stück weit das Investieren zu erleichtern, statt die Vorteile aus dieser Maßnahme für die Sanierung der Banken zu verwenden, wie es momentan offenkun- dig die meisten Institute tun. Ich glaube, wir sind uns auch darüber einig, dass die Banken selbst ein sehr großes Interesse daran haben müssen, dass das verloren gegangene Vertrauen in ihre Institutionen, aber auch in ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möglichst schnell zurückgewonnen wird; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) denn wenige Branchen leben stärker von ihrer gesell- schaftlichen Akzeptanz als die sensible Geldanlagebran- che. Wenn wir einmal bei den Kleinanlegern bleiben: Die berühmte Omi mit ihrem Sparbuch überlegt sich schon sehr genau, ob sie der Person und dem Institut ver- 5380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Frank Steffel (A) (C) (D)(B) traut. Im Übrigen hat die schwierige Entwicklung für mich auch etwas Positives, nämlich, dass das Vertrauen in Sparkassen sowie in Volks- und Raiffeisenbanken in Deutschland nachhaltig gestärkt wurde. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – Beifall bei Besuchern auf der Tribüne) – Ich bedanke mich für den Beifall von den Tribünen, obwohl das, wenn ich recht informiert bin, nach der Ge- schäftsordnung nicht gestattet ist. – Ich glaube, dass es für die Struktur des Finanzplatzes Deutschland erfreu- lich ist, dass wir weiterhin Privatbanken, öffentlich- rechtliche Banken und genossenschaftliche Banken wie die Volks- und Raiffeisenbanken haben. Mein Kollege Flosbach ist, wie ich finde, auf sehr viele Details auf fundierte und qualifizierte Weise einge- gangen. Deswegen möchte ich den Grundsatz, der auch in einigen anderen Reden thematisiert wurde und un- streitig ist, unterstreichen: Das Anreizsystem in den Banken ist bei den sensiblen Produkten, die dort gehan- delt werden, nach meiner Überzeugung inakzeptabel. Es kann nicht sein, dass ein Mitarbeiter primär entspre- chend dem Zinsertrag seines Instituts entlohnt wird, wenn es darum geht, einer älteren Dame, einer Rentne- rin, für ihre Alterssicherung mehr oder weniger mündel- sichere Anleihen oder Anlageformen zu empfehlen. Das ist eine Fehlsteuerung. Ich hoffe, dass die Institute das begriffen haben. Ich weiß übrigens nicht, ob man das in letzter Konsequenz gesetzlich regeln kann. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das haben Sie ja abgelehnt!) – Ich komme gleich zu den Gesetzen. Lassen Sie mich das kurz sagen. Ich finde zwei Dinge wichtig: Der erste Punkt: Wir dürfen es den Banken nicht zu leicht machen und sagen: Wir von der Politik nehmen euch die Verantwortung ab; wir erlassen Gesetze, ihr richtet euch nach den Gesetzen, und das war es. (Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]) Nein, ich erwarte, dass die Banken ihrer volkswirtschaft- lichen und – das sage ich ausdrücklich – ihrer morali- schen Verpflichtung gegenüber Konsumenten nachkom- men, die das System und das Produkt im Einzelnen gar nicht überblicken können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP]) Der zweite Punkt: Ich appelliere sehr bewusst an uns – da kann jeder in seinem persönlichen Umfeld anfan- gen –, dass wir die Gier von Anlegern und Konsumenten thematisieren. Es ist eben nicht besonders geschickt, für einen halben Prozentpunkt mehr Zinsen irgendeine mehr oder weniger unübersichtliche Anlageform zu wählen. Die gute alte Bundesanleihe, das gute alte Festgeld und der gute alte Sparkredit haben auch ihre Vorteile. Des- wegen sollten wir der deutschen Bevölkerung sagen: Manchmal bringt ein halber Prozentpunkt weniger am Ende wesentlich mehr Erträge und auch ruhigere Nächte, als wenn man gierig versucht, sich mit einem halben Prozentpunkt mehr selbst zu übertreffen. Auch diese Mentalität müssen wir, glaube ich, in Deutschland ändern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP]) Ich will noch etwas anderes thematisieren. Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle in einer Rede zu einem anderen Thema – Kollege Sieling wird sich vielleicht er- innern – darauf hingewiesen, dass es für mich als Mittel- ständler, der ich neben meinem Mandat sein darf, ganz entscheidend ist, dass bei diesen Bankgeschäften der verheerende Eindruck entsteht, dass man mit Geldanla- gen mehr Geld verdienen kann als mit ordentlicher Ar- beit. Das demoralisiert Arbeitnehmer, das demoralisiert kleine und mittlere Unternehmen. Das zerstört mehr als den Finanzplatz Deutschland. Das zerstört die Leis- tungsbereitschaft von 82 Millionen Menschen, die wir in diesem Land dringend brauchen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Viele Dinge wurden angesprochen, (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wann kommt das Gesetz?) und viele Dinge wurden durchgesetzt. Wir haben die Prospektrichtlinie verändert. Wir haben die Durchsetz- barkeit von Ansprüchen aus Falschberatung bereits vor einem Jahr verändert; der Kollege Flosbach hat darauf hingewiesen. Ein wesentliches Gesetz, das den grauen Kapitalmarkt optimieren soll und über das in diesem Hause intensiv diskutiert wird, steht vor der Schlussab- stimmung. Insofern bin ich zuversichtlich, dass die Bun- desrepublik Deutschland sowohl in der Großen Koali- tion als auch jetzt in der bürgerlich-liberalen Koalition in diesem Punkt einmal mehr nicht nur Motor in Europa ist, sondern im Anlegerschutz, im Konsumentenschutz auch wieder einmal federführend in der Welt ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt kein Land, das es in den letzten drei Jahren bes- ser gemacht hat als wir. Auch deswegen sinkt die Ar- beitslosigkeit und geht es den deutschen Unternehmen nach der Krise besser als vielen Unternehmen in anderen Ländern. Ich möchte abschließend auf eines hinweisen, das mir wichtig ist. Ich glaube, wir sollten versuchen, die Debat- ten der letzten Monate, die uns hier sehr intensiv be- schäftigt haben, so zu nutzen, dass wir jetzt für Vertrauen werben – das hat nichts mit Parteipolitik zu tun –: Ver- trauen in unseren Finanzplatz, Vertrauen in unsere Ban- ken, Vertrauen übrigens auch in unsere Politik, in alle Parteien und Fraktionen. Wir müssen zeigen, dass wir die Lehren aus der Krise gezogen haben, dass es sich lohnt, in Deutschland zu investieren, dass es sich lohnt, sein Geld in Deutschland anzulegen. Am Ende der Krise gehen wir mit allen Konsequenzen gestärkt daraus her- vor, haben weniger Arbeitslose und mehr Wohlstand als vor der Krise. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5381 (A) (C) (D)(B) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Steffel, ich danke für den Hinweis auf unsere Geschäftsordnung. Für diejenigen, die im Rahmen der politischen Bildung unserer Debatte weiter folgen, ver- weise ich auf § 41 unserer Geschäftsordnung: Wer auf den Tribünen Beifall oder Mißbilligung äu- ßert oder Ordnung und Anstand verletzt, kann auf Anordnung des Präsidenten sofort entfernt werden. Das hatte ich natürlich nicht vor, aber ich bitte darum, dies auch denjenigen zu übermitteln, die inzwischen tur- nusgemäß die Tribüne verlassen haben. Beifallsbekun- dungen und Ähnliches sind nur hier im Plenum erlaubt. Diese Geschäftsordnung haben wir uns gemeinsam ge- geben. Wir sollten versuchen, das entsprechend durchzu- halten. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD- Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kerstin Tack (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum diskutieren wir heute Abend und morgen früh über Anträge zu einem Thema, bei dem wir merken, dass es Brisanz hat? Sie sagen, das sei alles im Fluss, im Herbst komme Ihr Konzept. Sie haben sich sogar selber Mut zugesprochen und haben ge- sagt: mit Sicherheit. Wir warten auf genau dieses Kon- zept. Wir legen alle unsere Konzepte vor, weil wir die Hoffnung haben, dass Sie die Ansprüche, die unserer Meinung nach zu einem richtigen und sinnvollen Anle- ger- und Verbraucherschutz gehören, in Ihr Konzept auf- nehmen. Das, was wir bisher gehört haben, zeigt, dass es Lücken gibt, über die wir reden müssen. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Die haben Sie hinterlassen!) – Nun legen Sie Ihr Konzept erst einmal vor; dann schauen wir es uns an. An vielen Stellen brauchen wir eine Stärkung derjeni- gen, die schwächer sind und sich nicht so vieles leisten können. Deswegen, Herr Schweickert, geht es mitnich- ten darum, Verbraucherzentralen zu verstaatlichen, son- dern es geht darum, Zugänge zu einer unabhängigen Finanzberatung zu ermöglichen, vor allem für die Men- schen, die sich eine Beratung organisieren und leisten können müssen, die ihnen nützt, die frei zugänglich ist und ein hohes Vertrauensgehalt hat. Deshalb muss man insbesondere beim Anleger- und Verbraucherschutz auch die Organisationen, nämlich die Verbraucherzentra- len, deutlich stärken; dies wird nicht durch Verstaatli- chung erreicht. (Beifall bei der SPD – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Verbraucherpolitik ist keine Sozialpoli- tik!) Zur Frage der Protokollierung. Die Protokollierung ist bereits Gesetz. Die BaFin hat ausgeführt, dass zwei Drit- tel der Protokolle nicht ausreichend, miserabel, unver- ständlich und den Verlauf nicht nachvollziehend sind. Das heißt, wir brauchen eine bessere Regelung für kla- rere Standardisierung. Genauso ist es beim Informations- freiheitsgesetz. Es geht nicht darum, dass das zwei Seiten hat; das ist ja schön. Viel wichtiger sind Verständ- lichkeit, Transparenz und Klarheit. Deshalb brauchen wir Standardisierungen, die klarmachen, dass man mitei- nander vergleichbare Strukturen erwirbt. (Beifall bei der SPD) Das ist das Anliegen, das uns umtreibt. Wir reden über Verbraucherschutz. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das hätten Sie besser gemacht, als Sie in der Regierungsver- antwortung waren!) Auch dem BMELV ist die Debatte heute Abend nicht wichtig genug, um die Regierung zu vertreten. Die De- batte, die wir heute Abend und morgen früh führen, muss einer Regierung mehr wert sein, als sie lediglich hinterher im Protokoll nachzulesen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Frau Ministerin Aigner als Verbraucherschützerin der Nation kündigt nicht nur eine stärkere Regulierung im Bereich der Vermittler an. Sie hat durch die Presse auch verlauten lassen, wie wichtig ihr die Informationsblätter sind. Es ist aber nichts gekommen. Was hat sie zum Datenschutz gesagt? Sie hat nichts dazu gesagt. Was hat sie zum Thema Protokollierung vorlegen wollen? (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir haben doch die Protokollierung, Frau Kollegin!) Es ist nichts gekommen. Sie ist nicht einmal in die Ge- spräche zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium eingebunden. Wenn wir schon über Verbraucherschutz reden, dann ist er mindestens zu beteiligen. Das machen wir heute Abend und morgen früh. Herzlichen Dank da- für! Ich hoffe, dass die eine oder andere hilfreiche Idee in Ihr Konzept aufgenommen wird. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2136 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Axel Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael 5382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Vizepräsidentin Petra Pau (A) (C) (D)(B) Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- ten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP Brücken bauen – Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahebringen – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD Innovationslücke schließen – Zügig ein trag- fähiges Konzept zur Stärkung der Innova- tions- und Validierungsforschung vorlegen – Drucksachen 17/1757, 17/1958, 17/2368 – Berichterstattung: Abgeordnete Axel Knoerig René Röspel Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dr. Petra Sitte Krista Sager Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Axel Knoerig für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Axel Knoerig (CDU/CSU): Wertes Präsidium! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Union und FDP wollen in dieser Legislatur- periode den Brückenschlag zwischen Wirtschaft und Wissenschaft voranbringen. Das wollen wir zum einen, um die Ergebnisse der Forschung für die Wirtschaft bes- ser nutzbar zu machen, zum anderen aber auch, um die Wirtschaft besser an der Bildungs- und Forschungspoli- tik zu beteiligen. Der zur Debatte stehende Antrag „Brücken bauen – Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahebringen“ trägt genau diese Handschrift. Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb festgehalten: Wir werden neue Impulse für den Wissens- und Technologietransfer und die Validierung von For- schungsergebnissen geben. Damit wollen wir die Gleichmacherei in Bildung und Forschung sowie in der Wirtschaftsferne der For- schungspolitik von SPD, Grünen und der Linken über- winden. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, zwischen Erfindung und Innovation, ist nur individuell zu schlagen, indem Forschungsleistungen projektbezo- gen geprüft werden. Die zukunftsfähige Hightech-Strate- gie der Bundesregierung will neue Akzente setzen und richtet sich an den fünf Bedarfsfeldern Klima und Ener- gie, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit sowie Kommuni- kation aus. Mit innovativen Produkten, Technologien und Dienst- leistungen entstehen dort neue Leitmärkte mit hohem Wachstumspotenzial. Ein aktuelles Beispiel ist die Na- notechnologie. Sie gilt als Schlüsseltechnologie für viele Branchen wie Chemie, Pharmaindustrie oder die Auto- mobilindustrie. Erfolge aus diesem Nanokosmos sind unter anderem Nanopartikel, die Tumore bekämpfen können. Winzige Datenspeicher ganzer DVDs passen auf Flächen eines Centstücks. Nanotechnologien setzen früh in der Wertschöpfungs- kette an. Marktprognosen sprechen von einer Hebelwir- kung von bis zu 100 Milliarden Euro für den gesamten Weltmarkt. Ohne Validierungsförderung wären diese Produkterfolge nicht zustande gekommen. Damit soll erreicht werden, dass die Ergebnisse der Forschung von Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen als Quelle für neue Ideen, Verfahren, Pro- dukte und Dienstleistungen sehr viel stärker genutzt werden. Am 26. Mai 2010 hat das BMBF die Fördermaß- nahme „Validierung des Innovationspotenzials wissen- schaftlicher Forschung“ gestartet. Hier sind nun 32 Mil- lionen Euro freigesetzt, um die Innovationslücke in der Forschungspolitik zu schließen. Man greift auf das Wis- sen markterfahrener Investitionsmentoren zurück. Sie stellen sicher, dass Neuentwicklungen marktgerecht positioniert werden können. Einen neuen Gründergeist kann man nicht – das wis- sen wir – über Nacht schaffen. Er erfordert ein kulturel- les Umdenken. Die Forscher müssen aus ihrer traditio- nellen Rolle, in ihrer Disziplin zu denken, herausgelöst werden. Sie müssen pragmatisch zu Entwicklern, zu un- ternehmensbezogenen Persönlichkeiten werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das duale System bei uns hat sich bewährt. Berufs- schulbesuch und Ausbildung in einem Betrieb, das ist eine gute Mischung. Dieses Jahr drängen über 150 000 Menschen weniger auf den Arbeitsmarkt. Des- wegen ist es gut, auf der einen Seite die Ausbildung zu stärken und auf der anderen Seite die bewährte For- schungspolitik fortzuführen. Nach der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise ist dies wichtig, damit wir wieder zu Wachstum kommen. Wir haben gute Zahlen in Aussicht. Deutschland er- wartet ein Wachstum von 2,1 Prozent. 24 Prozent der Betriebe wollen jetzt neue Arbeitsplätze schaffen. Ende 2010 kann die Arbeitslosenzahl unter 3 Millionen fallen. Das sind gute Zahlen für unser Land. Das ist Wirt- schafts-, Innovations- und Forschungspolitik aus einem Guss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch einige grundsätzliche Betrachtungen ausführen. Wesentliche Indikatoren weisen darauf hin, dass Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten relativ zu- rückgefallen ist. Das heißt, wir sind zwar immer noch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5383 Axel Knoerig (A) (C) (D)(B) stark, aber andere sind dabei, uns zu überholen. Wir wol- len an die technologische Führungsposition, die wir vor dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, an- knüpfen; da müssen wir hin. Eines wissen wir: Sozialis- tische Funktionäre haben noch nie Wohlstand erarbeitet, sondern ihn bestenfalls schlecht verwaltet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die konservativ-liberale Regierung strebt die Verbes- serung von Rahmenbedingungen für die Erarbeitung von mehr Wohlstand an, während der rot-rot-grüne Links- block für immer mehr Umverteilung von immer weniger Wohlstand steht. (Lachen des Abg. Harald Koch [DIE LINKE] – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist ein Gruselkabinett!) Einen Hoffnungsschimmer hat es gestern gegeben, als die rot-rot-grüne Zusammenarbeit nicht so richtig klap- pen wollte; das lässt für Nordrhein-Westfalen hoffen. Sollte dieses Trio infernale doch eines Tages Deutsch- land regieren, (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Gott bewahre!) wird ein weiterer, zumindest relativer Niedergang die si- chere Konsequenz sein. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) – Ja, Sie lachen. – Wer wie die 68er-Bewegung gute Werte verneint und mit den Erben des totalitären DDR- Staatssozialismus zusammenarbeitet, der demontiert die strukturellen Grundvoraussetzungen für Frieden, Frei- heit und Wohlstand noch stärker. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Selbst das müssen Sie ablesen!) – Ja, lieber Kollege. Ein gutes Studium hört bekanntlich nie auf. Sie würden nicht so kräftig dazwischenrufen, wenn Sie nicht ordentlich zugehört hätten. Damit komme ich zum Schluss. Die heute zur Diskus- sion stehende Validierungsförderung ist ein kleiner, aber wichtiger Baustein für unser Land. Wir können als roh- stoffarmes Land den noch vorhandenen Wohlstand nur halten, wenn wir um das, was wir teurer sind, auch bes- ser sind. Wohlstand entsteht nicht durch sozialistische Umverteilung, sondern durch Innovation und Fleiß. Wir können vermelden, dass die Innovationspolitik der CDU/CSU-FDP-Regierung gegriffen hat, auch dank ei- ner vorausschauenden und bewährten Bildungs- und Forschungspolitik von Frau Bundesministerin Professor Annette Schavan und ihren beiden Parlamentarischen Staatssekretären, Thomas Rachel und Helge Braun. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion. René Röspel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Knoerig, Sie sind ja noch relativ neu im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung. Auch im Rückblick auf die letzten Jahre muss ich feststellen, dass wir da eigentlich immer einen recht sachlichen Umgang gepflegt und uns an den Inhalten orientiert haben. Ich bin ein bisschen erstaunt, dass Sie Ihren Beitrag hier – wir wollen eigentlich über Validierungsforschung reden; das habe ich so verstan- den; das steht jedenfalls so in der Tagesordnung – gleich mit Begriffen wie „Gleichmacherei“ und „sozialistische Umverteilung“ begonnen haben. Vielleicht sollten wir so etwas zumindest zu so später Stunde einfach einmal bei- seitelegen – es sind ja nicht mehr so viele Zuschauer da – und tatsächlich über das reden, worüber wir hier wirklich sprechen sollen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Wenn man sich die Bilanz, was Technologiezuwachs in Deutschland anbelangt, der letzten elf Jahre – bei Rot- Grün beginnend, in die Große Koalition mündend – an- schaut, ist sehr leicht von der Hand zu weisen, dass das Schreckgespenst, das Sie hier gerade aufgezeigt haben, überhaupt aufgetreten ist und jemals auftreten wird. Wir haben damals in der rot-grünen Regierung begon- nen – übrigens in Fortsetzung der Politik der schwarz- gelben Regierung –, die Nanotechnologie weiterzuent- wickeln. Wir haben einen gewaltigen Schub an neuer Technologie in den Bereichen der Energieeffizienz, der erneuerbaren Energien und anderer Energien auf den Weg gebracht. Wir brauchen uns also überhaupt nicht zu schämen. Mit Blick auf den Vorwurf der Technikfeind- lichkeit, den Sie immer wieder zu konstruieren versu- chen, kann ich nur an den Bundespräsidenten erinnern, der in meinem Wahlkreis geboren wurde und einmal ganz klug gesagt hat: Wer mit dem Zeigefinger auf andere Leute zeigt, sollte nie vergessen, dass drei Finger seiner Hand auf ihn selbst zeigen. Das war ein kluges Wort von Gustav Heinemann. Wir reden über Validierungsforschung. Was ist das? Wir haben in Deutschland in den letzten Jahren alle gemeinsam eine exzellente Forschungsinfrastruktur ge- schaffen. Wir haben eine sehr gute angewandte Forschung. Wir sind im Automobilbereich, im Chemie- bereich und im pharmazeutischen Bereich sehr gut. Wir haben eine hervorragende Grundlagenforschung; daran sind die Max-Planck-Gesellschaft und andere beteiligt. Sicherlich gibt es im universitären Bereich Defizite. So gut wir aber in der Theorie häufig sind, so groß ist unser Problem – das haben wir auch von der Experten- kommission Forschung und Innovation immer wieder und zu Recht zu hören bekommen – bei der Umsetzung der Theorie in die Praxis. Wie also gelingt es uns besser, Forschungsergebnisse tatsächlich in Produkte umzuset- zen, die kommerziell anwendbar, also kommerzialisierbar sind? Das ist genau der Punkt, an dem die Validierungs- forschung ansetzt: Wie schaffen wir es, Forschungser- gebnisse zu bewerten und daraus Produkte zu machen? 5384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 René Röspel (A) (C) (D)(B) Wir befinden uns auch da in einer guten Tradition. Noch zur Zeit der Großen Koalition haben wir uns zu- sammengesetzt, dieses Thema aufgenommen und nicht nur mit Fraktionskollegen von Ihnen, sondern auch mit dem Ministerium sehr intensive Diskussionen geführt, wie wir im Bereich der Validierungsforschung weiter- kommen. Seien Sie mir nicht böse – es ist nicht abwertend ge- meint –; aber ich glaube, Sie haben tatsächlich noch nicht den Kern des Problems verstanden, über das wir reden und um das wir uns kümmern sollten. Validie- rungsforschung heißt nämlich, recht schnell, gut und zu- verlässig, möglicherweise auch sehr hart zu beurteilen: Ist das Forschungsergebnis eines Forschers wirklich ge- eignet, kommerzialisiert zu werden oder nicht? Dafür ist die Maßnahme „VIP“ des BMBF – Sie haben sie ange- führt – einschließlich Ihres begleitenden Antrags, der im Prinzip nichts anderes als den Inhalt der BMBF-Maß- nahme wiedergibt, wirklich nicht geeignet. Um das zu belegen, will ich Ihnen zwei Beispiele nennen: Erstens. Der Forscher soll sich selbst einen Innova- tionsmentor suchen, also jemanden, der das Projekt be- gleitet. Das hört sich zunächst einmal gut an, führt aber möglicherweise zu zwei unterschiedlichen Problemen. Sie zwingen einen Forscher oder eine Forscherin, der oder die sich jahrelang exzellent mit Grundlagenfor- schung oder anderem befasst hat, jetzt gute Ergebnisse hat und sich eigentlich nur mit Forschung befassen will, sich einen Innovationsmentor zu suchen, jemanden, der dazu geeignet ist, wirtschaftlich zu beurteilen, ob ein Forschungsergebnis vernünftig zu nutzen ist oder nicht. Das heißt, Sie verlangen von einem Forscher, der mögli- cherweise nichts anderes will als forschen, dass er sich erst einmal einen Experten sucht, der in der Lage ist, zu beurteilen, ob sein Projekt, seine Forschungsergebnisse kommerzialisierbar sind. Ich sage Ihnen: Daran wird der Forscher im Regelfall gar nicht viel Interesse haben; er will sich nicht auf diese Suche machen. Es kann aber auch ein zweites Problem auftreten. Es kann sein, dass der Forscher im Rahmen von Ausgrün- dungen bereits Kontakte zu jemandem in der Wirtschaft hat, der sagt: Ich kann mir vorstellen, vielleicht einmal dein Projekt zu fördern, aber ich werde es nicht finanzie- ren. – Dann hat der Forscher jemanden, der das Projekt kennt; er kann ihn auch als Innovationsmentor benen- nen. In diesem Moment bricht aber eine der zentralen Voraussetzungen für eine vernünftige Validierung, für eine Bewertung, ob das Forschungsergebnis kommerzia- lisierbar ist oder nicht, in sich zusammen. Die Neutralität und Objektivität des Innovationsmentors ist nämlich nicht mehr gegeben, weil er ein Interesse hat, dass es mit diesem Forschungsprojekt irgendwie weitergeht, mögli- cherweise mithilfe einer öffentlichen Förderung. Das sind zwei Probleme, die wir den Forschern nicht zumu- ten wollen. Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel im Zusammen- hang mit den Leitlinien der VIP-Fördermaßnahme. Sie verlangen von den Forschern zunächst einmal, die euro- päische Forschungsförderung sowie die Förderung durch den Bund und durch die Länder daraufhin zu untersu- chen, ob es nicht irgendein Programm gibt, das geeignet ist, eine finanzielle Förderung für dieses Projekt auf den Weg zu bringen. Herzlichen Glückwunsch! Wenn Sie von einem Forscher verlangen, erst einmal alle Möglich- keiten der Förderung zu überprüfen, dann wird er sicher- lich in 50 Prozent der Fälle das Handtuch werfen. Er wird dann von Ihnen – das wird in den Richtlinien des BMBF erwartet – auch noch gezwungen bzw. es wird vorausgesetzt, dass er den Nachweis führt, dass er keine andere Möglichkeit der Förderung bekommen konnte. Erst dann kann er sich auf die Suche nach einem Innova- tionsmentor begeben und möglicherweise eine Validie- rungsförderung erhalten. Wenn das keine Bürokratie ist, wenn das nicht Behinderung von Validierung ist, dann weiß ich es auch nicht. (Beifall bei der SPD) Der Antrag der SPD stellt eine Alternative dar. Mit ihm schlagen wir den richtigen Weg ein. Ich will noch einmal sagen, worum es im Kern geht. Es geht nicht da- rum, zu beurteilen, ob es sich um exzellente Grundlagen- forschung handelt oder nicht. Das ist nicht die Frage. Vielmehr geht es darum, ob sie kommerzialisierbar ist. Das heißt, es kann sein, dass jemand hervorragende, no- belpreisverdächtige Forschung betreibt, der Validierer aber sagen muss: Das ist super, aber nicht kommerziali- sierbar. Umgekehrt kann es genauso sein: Bei jeman- dem, der eher durchschnittliche, nicht aufregende For- schung betreibt, sagt ein Validierer: Mit dem richtigen Anstoß und einer vernünftigen Begleitung werden wir daraus ein innovationsfähiges und vermarktbares Pro- dukt machen. Darum geht es: Wir brauchen jemanden aus einer un- abhängigen Validierungsagentur – das ist der Vorschlag, den die SPD macht –, einen Profi, der dafür bezahlt wird und der nicht ehrenamtlich tätig ist wie ein Pate. Dieser kann klar entscheiden: Das ist ein Projekt, das umgesetzt werden kann, das ist ein Forschungsprojekt, das wir kommerzialisieren können. Wenn das nicht der Fall ist, dann muss er eine harte Entscheidung treffen. Dann wird die Forschung zwar fortgesetzt, aber es bleibt bei der Forschung. Das ist der Ansatz von Validierungsfor- schung. Das bestätigen Ihnen viele Wissenschaftsorgani- sationen, wenn Sie mit ihnen Gespräche führen. Sie soll- ten auf sie hören. Wir glauben, dass das von Ihnen vorgeschlagene In- strument versanden wird, da es keinen großen Unter- schied zur üblichen Projektförderung darstellt, die ver- nünftigerweise seit Jahren durchgeführt wird. Es wird nicht dazu führen, dass mehr Forschungsprojekte in kommerzialisierbare Produkte umgesetzt werden. Fol- gen Sie unserem Weg. Er enthält weniger Bürokratie, und er zeigt den Forschern eine vernünftige Perspektive auf. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Martin Neumann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5385 (A) (C) (D)(B) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Röspel, ich habe Ihnen intensiv zugehört (René Röspel [SPD]: Das ist gut!) – was aus dem einen oder anderen Vorschlag wird, wird man sehen –, aber ich bin anderer Auffassung. Ich bin nämlich der Meinung, dass man unseren Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftlern vieles zutrauen kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Das stimmt!) Ich selbst habe viele Jahre auf dem Gebiet der For- schung gearbeitet. Das zentrale Kriterium war immer: Die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler muss über den Inhalt der Forschungsarbeit hinaus in der Lage sein, das eine oder andere auch auf dem Weg, den wir beschließen werden, selbst zu machen. Innovationen sind der Schritt in die Zukunft. Ideenge- ber für diesen Prozess sind viele fleißige Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler. Sie sind es, die für uns Durchbrüche in Forschung und Entwicklung erzielen. Für diese große Aufgabe brauchen sie unsere Unterstüt- zung; (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) denn wir wissen – das haben Sie richtig gesagt –, dass in Deutschland zwischen den wissenschaftlichen Ergebnis- sen und der Möglichkeit, diese wirtschaftlich zu verwer- ten, leider eine große Lücke klafft – international gibt es andere Wege –, die wir endlich schließen müssen. In den vergangenen Jahren gab es viele Gutachten und Expertisen, die auf den erheblichen Bedarf an öf- fentlicher Validierungsförderung aufmerksam gemacht haben. Es wurde deutlich, dass es vielen Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftlern an nötigen finanziellen Ressourcen fehlt – darum geht es vor allen Dingen, das Know-how ist das andere Problem, das Sie angespro- chen haben –, das wirtschaftliche Potenzial ihrer Ideen zu überprüfen und damit zu validieren, das heißt, zu überführen. Wir wollen endlich eine Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft schlagen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir wollen die wichtigen Akteure auf diesen Gebieten zusammenführen und die klaffende Lücke endlich schließen. Mit unserem Antrag „Brücken bauen – Grundlagen- forschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahebringen“ fordern wir die Bundesregierung auf, ein Konzept zur Validierungsförderung vorzulegen. Ein sol- ches Förderprogramm liegt nun vor und wird im Jahr 2011 umgesetzt. Dieses Programm soll Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler motivieren, die Ergebnisse und Erkenntnisse auf ihre Markttauglichkeit hin zu über- prüfen und dann endlich in die Wirtschaft zu überführen. Die Fördermaßnahme wird – davon bin ich überzeugt – der Wissenschaft konkrete Unterstützung, Hilfestellung und Nachweise für die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen geben. Viele ähnliche – auch internationale – Aktivitäten zeigen, dass dies möglich sein wird. Wir fördern – es ist wichtig, das an der Stelle hervor- zuheben – Projekte aller Forschungsbereiche, die tech- nisch machbar sind und die ihr wirtschaftliches Potenzial unter Beweis stellen. Entscheidend dafür – das ist der Punkt, den Sie angesprochen haben – sind eine Mach- barkeitsstudie bzw. eine Machbarkeitsuntersuchung, technische Weiterentwicklung, Erschließung neuer An- wendungen und natürlich am Ende dann auch eine ge- wisse Demonstrationsentwicklung. Bedeutsam und außerordentlich wichtig bei diesen Förderprogrammen ist die Technologieoffenheit. Darauf legen wir ganz großen Wert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Wir auch!) Denn nur durch die Öffnung wird es möglich werden – das muss man noch einmal ganz klar hervorheben –, alle Potenziale der Grundlagenforschung zu nutzen. Na- türlich können auch noch nicht etablierte Forschungsfel- der, von denen es eine ganze Menge gibt, von dieser För- derung profitieren. Eines ist doch völlig klar an dieser Stelle: Wir können heute noch nicht genau wissen, in welchen Bereichen in den nächsten Jahren Innovationen entstehen werden. Die Ausgrenzung von Forschungsbereichen ist daher nicht zukunftsweisend und kann uns später, glaube ich, teuer zu stehen kommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich spreche jetzt alle Frak- tionen an. Ich freue mich, dass die Idee der Validierungs- förderung auch bei Ihnen auf fruchtbaren Boden fällt und Sie dieses Vorhaben unterstützen. Dass in Bezug auf Detailfragen Meinungen auseinandergehen – darüber können wir in Zukunft auch reden –, ist bei solchen Pro- zessen nichts Neues. Sie stimmen mir aber sicherlich zu, Herr Röspel, dass die Kernbotschaft klar ist: Wir wollen eine Innovationsbewegung aus der Wissenschaft heraus entstehen lassen – mit flachen Strukturen, kurzen An- tragswegen, schnellen Entscheidungswegen und ohne den Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Devise lautet dabei: einfach, schnell und gut. Ich bedanke mich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die beiden folgenden Rednerinnen – Petra Sitte und Krista Sager – haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Damit kann ich dem Kollegen Philipp Murmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1) Anlage 66 5386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Wir haben heute Morgen über die aktuelle wirt- schaftliche Situation in Deutschland gesprochen und sind, glaube ich, übereingekommen, dass wir uns auf dem Weg aus der sogenannten realwirtschaftlichen Krise befinden. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Investitionen ziehen an, Unternehmen machen wieder mehr Umsatz und stellen sogar neue Leute ein. Dazu haben verschie- dene Faktoren beigetragen: Investitionen wurden ver- schoben, die jetzt natürlich nachgeholt werden. Der ak- tuelle Euro-Kurs spielt dabei sicherlich auch eine Rolle. Der Euro ist wieder – im Gegensatz zu den Höhenflügen zuvor – auf einem Niveau angekommen, das man als Unternehmer eher als normal empfindet. Aber es gibt eben auch viele Unternehmen – man sieht das –, die ins- besondere in Entwicklung investiert haben. Diese kön- nen jetzt den Aufschwung nutzen und zusätzliche Um- sätze generieren. Ich denke, das muss man auch dazu sagen: Auch un- ser Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat einen Stein in diese Mauer gelegt. (René Röspel [SPD]: Reine Hypothese!) Wir haben nämlich nicht nur die Arbeitnehmerfamilien entlastet, sondern auch im Unternehmensbereich einige Weichen gestellt, was dazu beiträgt, dass die Unterneh- men wieder investieren. Diesen Erfolg sollte man aner- kennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – René Röspel [SPD]: Diesen Glauben lassen wir Ihnen!) Die Frage ist nun: Wie können wir diese Entwicklung nachhaltig gestalten? Die Stichworte dazu sind gefallen: Forschung und Entwicklung, Innovation, Technologie. Wir wollen diese Dinge voranbringen und Wirtschaft und Wissenschaft vernetzen. Genau da setzt der Antrag zur Validierungsforschung an. Wir wollen damit auch das schon genannte Programm, welches das Ministerium erfreulicherweise so schnell auf den Weg gebracht hat, flankieren und noch weiter unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was bedeutet Validierung? Kennen Sie den Lotus- effekt für selbstreinigende Fassaden? Oder die Erkennt- nisse über die Papillomviren, denen wir die Impfung ge- gen Gebärmutterhalskrebs verdanken? Oder den GMR- Effekt, der die Basis für die Datenspeicherung auf Fest- platten war? Das alles sind Ergebnisse von Grundlagen- forschung. Sie alle haben das Potenzial für sehr gute An- wendungen. Um diese Anwendungen früh zu erkennen, bedarf es besonderer Anstrengungen. Hier wollen wir ansetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1996, Sir Harold Kroto – nicht jeder von uns wird ihn kennen –, entdeckte die C60-Fullerene, ein Material, das 100-mal stärker als Stahl und nur ein Sechstel so schwer wie Stahl ist. (René Röspel [SPD]: Er hat sie erfunden!) Das Projekt war in England als praktisch irrelevant ein- gestuft und nicht gefördert worden. Kroto führte dann et- was verbittert aus – ich zitiere –: Alle angewandten Forschungsstrategien sind zweit- rangig. Wenn man genau weiß, was man erforschen will, kann man mit Sicherheit nichts grundlegend Neues entdecken. (René Röspel [SPD]: Er hat sie erfunden! Ent- deckt hat sie der Architekt Fuller!) Damit hat er ein Problem angesprochen, das wir auch in der Validierungsforschung lösen wollen. Es gibt zwei unterschiedliche Kulturen – Herr Röspel, auch Sie haben das beschrieben –: Der Forscher ist an seiner Forschung interessiert. Das soll er auch sein. Er soll Experimente durchführen und Hypothesen aufstellen. Erfolgreich ist er dann, wenn er eine gute Veröffentlichung in einer an- gesehenen Zeitschrift vorzuweisen hat und von seinen Kollegen dafür Anerkennung erfährt. Aber wir brauchen auch denjenigen, der die Frage stellt: Welche neuen Pro- dukte und Anwendungen kann man daraus generieren? Das ist ein anderer Blickwinkel auf das gleiche Projekt, den wir ebenfalls einnehmen müssen. Dafür ist das Vali- dierungsprojekt genau richtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Anwendungspotenziale zu erkennen, ist für un- sere Volkswirtschaft von sehr großer Bedeutung. Denn wozu forschen wir, wenn wir die Anwendungen, die sich generieren lassen, nicht auch in volkswirtschaftlichen Nutzen umsetzen? Wir brauchen beides: Forschergeist, aber auch Unternehmergeist. Beides müssen wir weiter fördern. Die Validierungsforschung soll die Schnittstelle zwischen diesen beiden Sichtweisen sein. Die Konkurrenz wächst. Viele neue Entwicklungen stammen nicht mehr aus den klassischen Industrielän- dern, also aus Amerika oder den europäischen Staaten, sondern Asien spielt im Wettbewerb um Talente, um Technologien und natürlich auch um neue Märkte eine immer größere Rolle. In Deutschland sind wir weiterhin gut. Der Erfinder- geist ist ungebrochen. 2009 wurden 47 859 Patente aus Deutschland beim Deutschen Patentamt angemeldet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) – Ich denke, das ist einen Applaus von allen wert. – (René Röspel [SPD]: Aber wir alle können nichts dafür!) Aber viel zu wenige Patente erreichen die Inkubations- phase; hier liegt das Problem. Auch im dritten EFI-Gut- achten wurde festgestellt, dass viele erfolgversprechende Forschungsergebnisse gerade aus dem öffentlichen Be- reich nicht effektiv vermarktet werden. Auch hierfür ist die Validierungsförderung wichtig. Ich möchte noch ganz kurz auf den SPD-Antrag zu sprechen kommen. Erst einmal stelle ich fest – auch Sie haben das beschrieben, Herr Röspel –: Wir sind uns im Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5387 Dr. Philipp Murmann (A) (C) (D)(B) Grunde einig, dass dieses Thema wichtig ist und wir es fördern müssen. (René Röspel [SPD]: Das ist ja schon mal gut!) – Ja, das ist schon einmal gut. – Jetzt kommt es darauf an: Wie macht man das am besten? Sie schlagen einen Fonds vor. Ich denke, auch darüber kann man reden. Aber eine Zentralstelle, die darüber wacht, wie validiert wird, halte ich für nicht sinnvoll. Ich bin eher der Mei- nung, dass dadurch Bürokratie geschaffen wird. Sie behaupten das von unseren Vorschlägen. Ich glaube al- lerdings, das Modell, das Sie vorschlagen, ist bürokratie- lastiger als unseres. (René Röspel [SPD]: Lieber Bürokratie für den Mentor als für den Forscher!) Wenn man Ihren Antrag liest, stellt man außerdem fest, dass Sie sich an der einen oder anderen Stelle widerspre- chen. (Florian Pronold [SPD]: Was? Das kann nicht sein!) Insofern bin ich der Meinung, dass man darüber noch einmal reden muss. Ich komme zum Schluss auf den GMR-Effekt zurück, (René Röspel [SPD]: Wofür steht denn die Abkürzung?) der übrigens vom deutschen Professor Grünberg am For- schungszentrum Jülich entdeckt wurde, wofür er 2007 den Nobelpreis für Physik erhielt. Welche Anwendungen sich daraus ergeben könnten, haben die Amerikaner zu- erst festgestellt. So wurde IBM in diesem Bereich zum Marktführer. Meine Damen und Herren, so etwas sollte uns nicht allzu häufig passieren. Deswegen betreiben wir Validierungsförderung. Ich hoffe, wir haben damit gro- ßen Erfolg. Auch dieses Projekt wird natürlich ständig überprüft. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Ich danke für die Aufmerksamkeit an diesem wunder- baren Sommerabend und wünsche uns allen noch eine gute Diskussion. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/2368. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1757 mit dem Titel „Brücken bauen – Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahebrin- gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1958 mit dem Titel „Innovationslücke schließen – Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung der Innovations- und Validierungsforschung vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE UN-geführte Untersuchung des israelischen Angriffs auf den Gaza-Hilfstransport – Sofor- tige Aufhebung der Blockade – Drucksache 17/2259 – b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären – Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nah- ost-Friedensprozess unterstützen – Drucksache 17/2328 – Nach einer interfraktionelle Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass wir alle Veranlassung haben, den Menschen zu danken, die sich für die Aufhebung der Blockade ein- gesetzt und sich an der Aktion „Free Gaza“ beteiligt ha- ben. Sie haben etwas hinbekommen, das wir nicht ge- schafft haben. Sie haben eine Situation herbeigeführt, in der die Blockade möglicherweise aufgehoben wird und ein Stück weit Hoffnung in Gaza einzieht. Ich finde, das ist ein bedeutender Fortschritt. Deswegen bin ich dank- bar. Das gilt auch für meine Kolleginnen Annette Groth und Inge Höger, die sich an dieser Aktion beteiligt ha- ben. Ich finde, da kann man durchaus großmütig sein. (Beifall bei der LINKEN) Uns allen ist klar, dass diese Blockade völkerrechts- widrig ist, dass sie in den Beschlüssen der UNO kritisiert wird, dass sie eine Entmündigung und Entwürdigung der Menschen in Gaza herbeigeführt hat und dass sie ihnen die Luft zum Atmen genommen hat. Ich sage ausdrück- lich: Diese Blockade hat auch eine Schattenwirtschaft und einen Schwarzmarkt in Gaza hervorgerufen und hat den Terrorismus gestärkt und nicht geschwächt. Das sind 5388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Wolfgang Gehrcke (A) (C) (D)(B) einfach die nüchternen Ergebnisse. Zu diesen kommt man, wenn man Bilanz zieht. (Beifall bei der LINKEN) Die Blockade ist so etwas wie die Fortsetzung des Krie- ges. Das kann man einfach nicht akzeptieren. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt ist etwas Besonderes passiert, das ich hier gewür- digt wissen will. Der Antrag der vier Fraktionen kann nun zu einem wirklich interfraktionellen Antrag gemacht werden. Wir werden diesem Antrag zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das heißt, dass zum ersten Mal in der Nahostfrage alle Fraktionen des Hauses einen gemeinsamen Antrag ha- ben. (Beifall bei der LINKEN) Dieses Signal wird mit Sicherheit auch im Nahen Osten, insbesondere in Israel und Palästina, wahrgenommen werden. (Beifall bei der LINKEN) Diese Gewichtung muss man verstehen. Ich will gar nicht über Details reden. Der Antrag enthält jedenfalls zwei klare Forderungen, denen ich nur zustimmen kann. Erstens wird gefordert, eine internationale Untersuchung einzuleiten. Zweitens wird die Forderung erhoben, einen Weg zur Aufhebung der Blockade zu finden. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das steht da alles drin!) – Warten Sie doch ein bisschen ab! – Wenn das die ge- meinsame Position des Hauses ist, dann kann man rela- tiv viel erreichen. Für mich ist es ein Rätsel, wie die israelische Regie- rung so dauerhaft und nachhaltig gegen die Interessen des eigenen Landes handeln kann. (Beifall bei der LINKEN) Dieses Signal ist wichtig, um zu einer politischen Um- kehr zu kommen. (Beifall bei der LINKEN) Mit Sicherheit – das wird keiner bestreiten – werden die Sicherheitsinteressen Israels zu beachten sein. Ich möchte, dass meine Freunde in Israel wieder ins Café gehen können, ohne Angst vor Selbstmordanschlägen haben zu müssen. Ich möchte, dass sich meine Freunde in Palästina, im Westjordanland und in Gaza endlich im eigenen Land frei bewegen können. Das ist doch nicht zu viel verlangt. (Beifall bei der LINKEN) Eine Politik in diese Richtung zu öffnen, kann doch nur im Interesse des ganzen Hauses sein. Wir müssen klarmachen und uns wünschen, dass in diesem Friedensprozess möglichst alle politischen Kräfte einbezogen werden, damit er stabil ist. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Reden Sie mit Ihren Freunden von der Hamas!) Wir haben heute – Kollege Stinner und andere waren da- bei – sehr viele Ratschläge von den Kollegen der Verein- ten Nationen erhalten, wie man einen solchen Friedens- prozess fördern und durchsetzen kann. Ich will zum Schluss noch eine Bitte äußern, die sich mehr an die Politiker in Israel und Palästina richtet. Ich bitte, dass die gemeinsame, nicht einmütige, sondern einstimmige Entscheidung dieses Hauses nicht als anti- israelisch und nicht als antipalästinensisch interpretiert wird, sondern so genommen wird, wie sie von den ver- schiedenen Fraktionen hier gemeint ist: als ein Versuch, endlich einen unwürdigen und den Frieden gefährdenden Zustand zu beenden. Das ist der Gestus dieser Resolu- tion, und ich bin froh, dass wir den gemeinsam so tragen können. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Hilfsaktionen für Gaza, die heute Gegen- stand der Debatte sind, waren ersichtlich nur der äußere Rahmen für das eigentliche Ziel dieser Aktion, nämlich die israelische Blockade zu durchbrechen. Es ist auch unstrittig, dass deswegen das Angebot abgelehnt worden ist, die Ladung auf dem Landweg nach Gaza zu bringen. Insoweit reden wir nicht von einer humanitären, sondern von einer in erster Linie zu propagandistischen Zwecken veranstalteten Aktion. Es ging Ihnen nicht in erster Linie um die Menschen in Gaza, sondern es ging um die Kon- frontation mit Israel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es! Sehr richtig!) Auch wenn vonseiten der Linken Zustimmung zu dem fraktionsübergreifenden Antrag signalisiert wird, muss schon erwähnt werden, dass die Linke aktiv die Provokation durch sogenannte Friedensaktivisten unter- stützt hat, die mit Waffen ausgestattet waren und islamis- tischen Terrorgruppen zuzurechnen sind. (Zurufe von der Linken) Das passt ins Bild, nachdem Vertreter der Linken immer wieder die Solidarität mit der radikal-islamistischen His- bollah und der Hamas bekundet haben. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!) Das gehört zur ganzen Wahrheit dazu. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Lesen Sie mal Ihren Antrag!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5389 Thomas Silberhorn (A) (C) (D)(B) Deswegen sage ich ganz deutlich: Bevor Sie vonsei- ten der Linken sich auf das Völkerrecht berufen, müssen Sie sich schon die Frage stellen, welchen Aktionen Sie hier den Mantel des Gutmenschentums umhängen wol- len. Die Linke steht in einer bis heute ungebrochenen Tradition zur SED – zur Partei des Mauerbaus, des Schießbefehls, des Missbrauchs und der Missachtung des Völkerrechts. (Widerspruch bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Langsam wird es aber langwei- lig! – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Darum geht es heute nicht!) Und dass die ach so friedliebende DDR ein Unrechts- staat war, wird bis heute von Ihnen ausdrücklich geleug- net. Deswegen sage ich ganz deutlich: Ihnen fehlt in die- ser Debatte jegliche Legitimation. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Langweilig!) Ich darf Sie erinnern, was Gregor Gysi zum 60. Jah- restag der Gründung Israels im April 2008 erklärt hat. Er hat Kritik an der einseitigen Parteinahme der Linken im Nahost-Konflikt geübt, und er hat erklärt, dass Solidari- tät mit Israel zur deutschen Staatsräson gehöre. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja, und?) Davon ist bis heute bei Ihnen wenig übriggeblieben. Denn wenn man dieser Auffassung ist, dann muss das Konsequenzen haben. Wenn die Sicherheit und das Exis- tenzrecht Israels Teil der deutschen Staatsräson sind, dann hat das die Konsequenz, dass weder die Öffnung des Gazastreifens noch eine weitergehende Friedenslö- sung mit den Palästinensern zulasten der Sicherheit Is- raels gehen darf. Allerdings müssen wir durchaus die Frage stellen, wie das israelische Sicherheitsinteresse zu definieren ist, was genau der Sicherheit Israels dient. Mit Blick auf einige der Handlungen der israelischen Regierung in den letz- ten Monaten kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass manche in dieser Regierung israelische Sicherheitsinteressen fundamental anders definieren, als das etwa die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, weite Teile der internationalen Gemeinschaft und sogar ein nicht unerheblicher Teil der israelischen Gesellschaft selbst tun. Das birgt durchaus zwei nicht zu unterschätzende Ge- fahren: Zum einen kann es eine Eskalation dieses Kon- flikts geben. Zum anderen liegt darin eine mögliche Be- lastung auch für die Koalition gegen das iranische Atom- programm und die iranischen Vormachtbestrebungen in dieser Region, die auch Israel als die größte Gefährdung für die regionale Stabilität betrachtet. Ich meine, dass die israelische Regierung gespürt hat, dass sie zuletzt bei mehreren Gelegenheiten selbst engste Freunde geradezu vor den Kopf gestoßen und zum Teil sehr schwerwiegende Fragen aufgeworfen hat. Das be- gann bei der Ankündigung während des Besuchs des US-Vizepräsidenten Biden, in Ostjerusalem neue Sied- lungen zu bauen, reichte über die Behandlung des türki- schen Botschafters entgegen allen diplomatischen Geflo- genheiten und ging hin bis zu dem Vorgehen gegen die Gaza-Solidaritätsflotte. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Vergessen Sie Kollege Niebel nicht!) Immerhin sind Anzeichen für ein Umdenken erkenn- bar. Die israelische Regierung hat beschlossen, eine unab- hängige Untersuchungskommission zum Einsatz gegen diese Flotte einzurichten. Der Bundestag unterstützt die Forderung des UN-Generalsekretärs nach einer internatio- nalen Untersuchung des Einsatzes in seiner fraktionsüber- greifenden Resolution ausdrücklich. Wir brauchen in der Tat eine rückhaltlose und objektive Aufklärung dieser Vorgänge. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident, da sich meine Redezeit dem Ende zu- neigt, darf ich darauf hinweisen, dass noch weitere sie- ben Minuten für unsere Fraktion ausstehen, die ich gerne für mich in Anspruch nehmen würde, weil mein Kollege nicht anwesend ist. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie müssen sie nicht unbedingt in Anspruch nehmen; denn der andere Redner Ihrer Fraktion, der Kollege Mißfelder, ist erschienen. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Ach, er ist hier; wunderbar. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie müssen also nicht filibustern. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich würde gerne noch Herrn Mißfelder hören!) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Das ist mir leider entgangen. Ich darf dann abschließend nur noch ausführen, dass in einem weiteren Punkt ein Umdenken Israels erkenn- bar ist, nämlich durch das Angebot Israels, die Positiv- liste durch eine sogenannte Negativliste zu ersetzen, also dadurch, nicht mehr zu bestimmen, welche Güter im Einzelnen in den Gazastreifen hineindürfen, sondern umgekehrt festzulegen, was ausdrücklich nicht hinein- darf. Das ist ein wichtiger und konstruktiver erster Schritt, um hier weiterzukommen. Ich meine, dass wir sehr deutlich sehen müssen, dass eine dauerhafte Friedenslösung auch im Interesse Israels liegt. Alle Komponenten für eine Verhandlungslösung liegen seit Jahren auf dem Tisch. Jetzt tut der politische Wille not, tatsächlich zu Ergebnissen zu kommen. Wenn man die Lage auf der palästinensischen Seite betrachtet, wird deutlich, dass die Situation dafür im Moment güns- tig ist. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie sollten Ihrem Kollegen nicht die Redezeit wegnehmen. 5390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Ich komme zu meinem letzten Satz. – Ich denke, dass dieses Zeitfenster, das sich durch die Konstellation vor Ort bietet, jetzt genutzt werden sollte. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird aber angerechnet!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Rolf Mützenich (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir schon gewünscht, dass man ein bisschen von den vorbereiteten Redemanuskripten abgewichen wäre und zu der aktuellen Situation, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) dass nämlich auch die Fraktion der Linken einem ge- meinsamen Antrag zustimmen will – ich begrüße das –, zumindest das eine oder andere gesagt worden wäre. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollege Gehrcke, ich weiß um Ihre Arbeit innerhalb Ihrer Partei. Sie bemühen sich, für die Interessen Israels im Allgemeinen und auch für die Sicherheitsinteressen zu werben. Sie haben das gerade in Ihrer Rede noch ein- mal getan. Ich halte es für einen wesentlichen Fortschritt im Vergleich zu anderen Legislaturperioden zuvor, wenn man bei einer so schwerwiegenden Frage hier im Deut- schen Bundestag zu einem gemeinsamen Konsens kommt. (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist gut, dass es gelungen ist, die vier Fraktionen zusammen- zuhalten. Das war nicht so einfach. Kollege Mißfelder, wir haben den einen oder anderen Anruf in dieser Hin- sicht erhalten. Ein Teil des Problems ist – das wird da- durch ersichtlich –, dass die unterschiedlichen Gruppen so stark in ihrer Vorstellung verhaftet sind, dass sie glau- ben, diesen Konflikt nur aus ihrer Sichtweise heraus lö- sen zu können, was dazu führt, dass Empathie fehlt. Umso mehr bin ich froh, dass zwischen diesen vier Frak- tionen ein Konsens erreicht worden ist. Es ist richtig, dass die Situation in den letzten Wochen zu Bewegung geführt hat. Herr Kollege Gehrcke, ich glaube aber, das ist nicht allein wegen der Gaza-Flottille erfolgt, sondern wegen dieses schrecklichen Anlasses und auch wegen des unverhältnismäßigen Einsatzes von Gewalt in diesem Konflikt, durch den die Gewaltspirale im Nahen Osten verstärkt wird. Die israelische Regierung versucht – auch das müssen wir anerkennen –, in der fragilen Situation, in der sich ihre Koalition befindet, Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist richtig, dass jetzt eine Negativliste für den Gaza- streifen beschlossen worden ist, von der ich hoffe, dass sie Anwendung finden wird, damit die humanitäre Situa- tion im Gazastreifen verbessert wird. Wir sollten hier auch vermerken, dass die ägyptische Regierung versucht hat, in der schwierigen Situation eine konstruktive Rolle zu übernehmen. Ich glaube, wir müssen Israel deutlich machen, dass durch die Abriegelung des Gazastreifens genau das Ge- genteil von dem erreicht wird, was Israel eigentlich er- reichen will. (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ging damals um die Befreiung des entführten Solda- ten Schalit und darum, den Waffenhandel einzuschrän- ken und die Hamas zu schwächen. All diese Ziele, die mit der Gaza-Abriegelung erreicht werden sollten, sind nicht erreicht worden. Herr Staatsminister, es ist die Auf- gabe der Bundesregierung, dazu beizutragen – das kön- nen wir aufgrund unserer besonderen Beziehungen zu Is- rael –, dass dieses Problemfeld endlich von den politischen Akteuren in Israel erkannt wird. Ich würde mir wünschen, dass sowohl die Bundeskanzlerin als auch der Außenminister gegenüber der israelischen Re- gierung noch aktiver werden würden, als sie das bisher gewesen sind. Es ist richtig, dass wir die Rolle der Vereinten Natio- nen, der Europäischen Union und auch des Quartetts be- tont haben. Diese haben sich sehr stark aus der Verant- wortung lösen müssen, weil es nicht genügend Fortschritte gegeben hat. Wenn das Quartett gerade auf- grund der Situation im Gazastreifen wieder eine Rolle spielt, dann stellt sich auch eine neue Herausforderung für die Europäische Union. Mit den neuen Strukturen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik muss es gelingen, zwischen Israel und Palästina zu vermitteln und in Bezug auf den Gazastreifen zu politischen Fort- schritten zu kommen. Wir können die humanitären Pro- bleme zum jetzigen Zeitpunkt nicht lösen; wir sollten aber alles tun, damit die Situation der Menschen, die in diesem Konflikt von allen in Geiselhaft genommen wer- den, zumindest verbessert wird. Langfristig wird aber Hilfe nicht ausreichen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Langfristig wird eine Lösung nur gelingen, wenn die Menschen im Gazastreifen wieder ein wirtschaftliches Fundament finden. Dazu muss die Privatwirtschaft wie- der funktionsfähig werden. (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin froh, dass es gelungen ist, in dem gemeinsa- men Antrag zu betonen, dass es nicht reicht, was die is- raelische Regierung jetzt unternommen hat, wenn auch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5391 Dr. Rolf Mützenich (A) (C) (D)(B) der eine oder andere internationale Beobachter eingela- den werden soll. Die Forderung der Vereinten Nationen und der Europäischen Union nach einer internationalen und transparenten Aufklärung, aus der auch Konsequen- zen gezogen werden müssen, muss erfüllt werden. Das gilt insbesondere dann, wenn internationales Recht verletzt worden ist; denn internationales Recht ist die Richtschnur für das Handeln Deutschlands und der Europäischen Union, aber auch für das Handeln des de- mokratischen Staates Israel. Auch er muss sich interna- tionalem Recht unterwerfen. (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Staatsminister, der deutsche Außenminister hat die Einladung des israelischen Kabinetts angenommen, in den Gazastreifen zu reisen. Es darf nicht bei einer Showveranstaltung bleiben. – Sie schütteln den Kopf. Ich kenne die neuesten Informationen nicht. Vielleicht sollte ich zurückhaltender formulieren. – Der Besuch darf keine Showveranstaltung werden. Ich hätte mir ge- wünscht, dass die israelische Regierung auch andere europäische Regierungen eingeladen hätte, und zwar so- wohl solche, die innerhalb der Europäischen Union große Verantwortung tragen, als auch solche, die eine kritischere Haltung gegenüber Israel einnehmen, als wir – ich habe eben über unsere historische Verantwortung gesprochen – das tun. Auch das wird zu der geforderten Transparenz gehören. Das müssen wir im europäischen Rahmen deutlich machen. (Beifall bei der SPD) Der Gazastreifen ist das vorherrschende Problem, über das wir reden. Wir müssen aber auch daran erin- nern, dass die US-amerikanische Regierung vielleicht nicht das letzte Mittel, aber eines der letzten Mittel ein- setzt, um die Gespräche zwischen der Regierung Fajjad und Präsident Abbas auf der einen Seite und der israeli- schen Regierung auf der anderen Seite voranzubringen. Das ist gut. Ich sage aber auch ganz klar: Die Zeit läuft weg. Es stehen letztlich nur noch ganz wenige Wochen zur Verfügung. Wir müssen aufpassen, dass wir durch unsere Politik die Spaltung der palästinensischen Gesell- schaft nicht noch verstärken. Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch einmal appellieren: Ich glaube, dass das Abkommen von Mekka, das ein wichtiger Punkt für die nationale Ein- heitsregierung in Palästina gewesen ist, durchaus wieder auf die Tagesordnung gehört. Wir müssen auch gegen- über den palästinensischen Fraktionen dafür werben, dass eine Regierung der nationalen Einheit die einzige Chance (Beifall bei der SPD und der LINKEN) für eine anhaltende und gerechte Friedenslösung in Pa- lästina ist – und dann auch zum Nutzen Israels. Zum Schluss will ich noch Folgendes sagen. Wir ha- ben während der Aktuellen Stunde über die Situation im Gazastreifen gesprochen, aber auch über die Rolle des politischen Islam. Ich glaube, wir müssen unsere Rolle gegenüber der Hamas überdenken und die Frage klären, wie wir damit umgehen. Wir führen im Grunde genom- men auf Bitten der israelischen Regierung schon Gesprä- che mit der Hamas wegen des entführten Soldaten Scha- lit. Aber wir müssen versuchen, uns aus diesen Widersprüchen zu befreien. Denn hinter der Hamas droht, so glaube ich, vielleicht noch eine viel größere Herausforderung, die wir im Gazastreifen immer wieder gesehen haben. Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir darüber im Auswärtigen Ausschuss sprechen. Insbesondere bin ich froh, dass es gestern zu einem Treffen von Vertretern der türkischen und der israeli- schen Regierung gekommen ist; denn wir werden die türkische Regierung weiterhin für eine Vermittlung in diesem Konflikt brauchen. Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung das unterstützen würde. Ganz herzlichen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Rainer Stinner von der FDP-Fraktion. Dr. Rainer Stinner (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der fraktionsübergreifende Antrag, den wir heute beraten, hat ja schon im Vorfeld durchaus Öffentlichkeitswirkung erreicht; darüber ist völlig zu Recht berichtet worden. Denn das, was wir hier erleben, ist tatsächlich eine neue Qualität gemeinsamer deutscher Außen- und Sicher- heitspolitik. Ich würdige das ausdrücklich. Ich möchte insbesondere unserer Kollegin Frau Müller ganz herzlich für ihren Beitrag dazu danken. Er war hervorragend. (Beifall im ganzen Hause) Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Das begrüße ich außerordentlich. Auch Ihnen ist es vielleicht so gegangen wie mir: Ich habe in den letzten Tagen eine ganze Reihe von Briefen und Mails von besorgten Menschen überwiegend aus is- raelorientierten Organisationen bekommen. Die müssen wir natürlich ernst nehmen. Deswegen lassen Sie mich einleitend sehr deutlich sagen, was dieser Antrag nicht beinhaltet. Er beinhaltet erstens keine endgültige, abschließende Bewertung der Ereignisse vom 31. Mai, (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Ja, klar!) sondern die eindeutige Forderung nach einer internatio- nalen Untersuchung. Zweitens. Er beinhaltet nichts, was die berechtigten Sicherheitsinteressen Israels in irgendeiner Weise ver- nachlässigt. Ganz im Gegenteil: Wir weisen in diesem Antrag gemeinsam bestimmt fünfmal auf die wirklich berechtigten israelischen Interessen hin. Das haben wir immer wieder dort, wo wir es tun konnten und sollten, sehr deutlich formuliert. 5392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Dr. Rainer Stinner (A) (C) (D)(B) Drittens ist ganz bedeutsam für uns alle: Dieser An- trag bedeutet natürlich in keinster Weise – in keinster Weise! – irgendein Abrücken von dem gemeinsamen Konsens im Deutschen Bundestag über unsere historisch bedingte besondere Beziehung zum Staat Israel. Die ist von diesem Antrag in keinster Weise grundsätzlich be- rührt. Das möchte ich sehr deutlich sagen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In diesem Antrag geht es nicht mehr und nicht weni- ger um die dringend gebotene Verbesserung der Lebens- bedingungen im Gaza. Wir hatten heute Morgen wieder mit John Ging beim Frühstück ein interessantes Ge- spräch, in dem er uns eindrücklich geschildert hat, wel- che miserablen Bedingungen humanitärer Art im Ga- zastreifen herrschen. Das Wichtige daran ist erstens die humanitäre Frage, die gelöst werden muss. Die ist aber in vielen Teilen der Welt ähnlich schlimm. Hinzu kommt aber zweitens: Wir sind der festen Überzeugung, dass die Negativsituation im Gazastreifen gegen die Interes- sen Israels gerichtet ist und dass sie insbesondere die In- teressen der Hamas fördert. Denn der Hamas ist es durch die Blockade, die wir erleben, gelungen, eine Tunnel- und Schattenwirtschaft aufzubauen, bei der sehr viel Geld fließt und sehr viele Leute reich werden. Der für die Entwicklung des Gazastreifens dringend notwendige Aufbau einer tragenden Wirtschaft im Gazastreifen wird dadurch aber nicht erreicht. Ich sage sehr deutlich: Nach unserem Dafürhalten er- höht die Verbesserung der Lebenssituation im Gazastrei- fen gerade auch die Sicherheit Israels. Auch deshalb ist es so wichtig, dass wir hier entsprechend vorankommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb sagen wir im Antrag gemeinsam ganz deut- lich: Es reicht nicht aus, die Zahl der Lkws von 140 auf etwa 160 zu erhöhen. Es geht darum, grundsätzlich an der Blockade zu arbeiten und sie zu beseitigen, um bes- sere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Das ist ganz wichtig, und daran müssen wir gemeinsam arbeiten. „Gemeinsam arbeiten“ heißt für mich natürlich, dass dies nicht nur Deutschland tut. Es ist schön, dass wir die- sen gemeinsamen Antrag haben – das ist völlig klar –, aber wir sollten unsere Rolle im Rahmen der Europäi- schen Union sehen. Herr Staatsminister, falls Sie noch eine Unterstützung des Parlaments brauchen, um die eu- ropäischen Institutionen, insbesondere Frau Ashton, an- zustoßen, ein bisschen mehr zu tun, kann ich Ihnen ver- sichern: Die Unterstützung durch unsere Fraktion hätten Sie dafür. Wir würden die notwendige Hilfestellung ge- ben. Ich sage das so deutlich, weil ich den Energy Level – um es auf Neudeutsch zu sagen – der Europäischen Union für überschaubar halte. Hier kann und muss noch mehr geschehen. Ich bin dankbar, Herr Staatsminister, dass die Bundes- regierung seit Monaten betont, dass sie die Rolle des Quartetts stärken will. Das ist völlig richtig. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kann bisher noch nicht so richtig erkennen, dass das auch geschieht. Wir alle wün- schen uns, dass das Quartett und damit auch die Europäi- sche Union in diesem wichtigen Konflikt eine stärkere Rolle spielen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Ich bitte Sie, Herr Staatsminister, das mit Ihren Mitteln zu unterstützen und in Europa entsprechend voranzutrei- ben. (Beifall bei der FDP) Die Ereignisse vom 31. Mai, so tragisch sie waren – ich erinnere an die Toten –, haben etwas in Gang ge- bracht. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen: Die Diskussion heute Abend führen wir eigentlich nur infolge der Diskussion, die vor drei Wochen dazu statt- gefunden hat; gar keine Frage. Sie hat einen Prozess des Überlegens in Gang gebracht. Ich bin sehr froh darüber, mit welcher Konsequenz unser Minister Niebel seine Position vertreten hat. Er hält es für völlig inakzeptabel, dass es, nachdem Deutschland im Gazastreifen mit Zu- stimmung Israels, zum Teil sogar auf Wunsch Israels hu- manitäre Projekte durchführt, einem deutschen Minister nicht erlaubt sein soll, diese Projekte zu besuchen. Es war richtig, dass Minister Niebel darauf deutlich reagiert hat. Das muss möglich sein. Es ist notwendig, dass wir hier so klar Position beziehen. Ich bedanke mich bei Minister Niebel ausdrücklich für diese klare und deutli- che Haltung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir alle wissen, dass speziell Minister Niebel völlig unverdächtig ist, was Israel angeht. Er gehört – ich darf das einmal so sagen – zu den Hardlinern unter den Is- rael-Unterstützern. Wenn ihm hier der Kamm schwillt, dann ist, glaube ich, wirklich etwas geschehen. Es ist ganz wichtig, dass wir diese Botschaft senden. Wir stehen für den gemeinsamen Antrag. Ich bin froh darüber, dass wir das geschafft haben. Damit ist ein Be- ginn gemacht; dies ist kein Ende. Wir stehen als Deut- scher Bundestag, als FDP-Fraktion weiterhin dafür: Wir wollen europäische Initiativen und deutsche Initiativen in diesen wichtigen Friedensprozess einbringen. Wir ste- hen dafür, dass wir dabei sehr wohl die berechtigten In- teressen der beteiligten Parteien berücksichtigen. Aber wir wollen Fortschritt, wir brauchen Fortschritt, und wir werden unseren Beitrag dazu leisten. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich bin sehr froh, Herr Stinner, Herr Mützenich, Herr Mißfelder Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5393 Kerstin Müller (Köln) (A) (C) (D)(B) (Zuruf von der LINKEN: Herr Gehrcke!) – er hat daran nicht mitgearbeitet, aber ich sage gleich noch etwas dazu –, dass es uns gelungen ist, einen An- trag der vier Fraktionen zustande zu bringen. Ich möchte mich bei Ihnen ganz herzlich bedanken. Ich glaube, dass es ein ausgewogener Antrag ist – Sie haben es gerade erwähnt –, bei dem wir einerseits wirk- lich die Sicherheitsinteressen Israels im Blick haben und in dem wir andererseits ganz konkret Vorschläge dazu machen, wie, mit welchen Schritten man die humanitäre Lage der Menschen in Gaza verbessern kann. Ich begrüße es, dass dieser Antrag schon von der Bundesregierung aufgegriffen wurde; denn Herr Niebel hat sich auf seiner Reise, an der Parlamentarier aus allen Fraktionen teilgenommen haben, bereits auf den Antrag bezogen, obwohl er erst heute beschlossen wird. So wünschen wir uns das. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist auch mal etwas!) Ich habe das schon öffentlich erklärt und will es auch hier im Deutschen Bundestag noch einmal sagen: Auch ich war nicht damit einverstanden, dass man dem Ent- wicklungshilfeminister den Zugang nach Gaza verwei- gert hat. Wir führen dort Entwicklungsprojekte durch. Wir haben vor, ein Klärwerk zu bauen, das sehr wichtig und entscheidend für die dortigen Lebensbedingungen ist. In diesem Fall muss es ihm möglich sein, sich anzu- schauen, was dort gebaut wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Meine Damen und Herren von der Linken, ich bin froh, dass Sie sich entschlossen haben, diesem Antrag zuzustimmen. Ich hatte heute ein Gespräch mit John Ging, dem Leiter von UNRWA. Ich weiß nicht, ob einige von Ihnen ebenfalls die Gelegenheit dazu hatten; er ist auch morgen noch einmal hier. Er ist begeistert davon, dass gerade von Deutschland ein solches Signal ausgeht. Er hat noch einmal betont, dass er auf eine interfraktio- nelle Initiative hofft – die natürlich stärker wird, wenn alle dabei sind; ich sage das für meine Fraktion sehr klar. Da können alle mal über ihren Schatten springen. Dann hat dies nämlich eine andere Bedeutung in Europa. Auch die Chance, in Europa gehört zu werden, wird größer, weil gerade die Deutschen mit ihrem besonderen Ver- hältnis zu Israel hier natürlich immer eine besondere Rolle spielen müssen. Diese Rolle nehmen wir wahr, in- dem wir diesen Antrag gemeinsam auf den Weg bringen. Dafür möchte ich mich bei allen bedanken. (Beifall im ganzen Hause) Wir sind uns einig, dass die Gaza-Blockade beendet werden muss. Sie ist inhuman. Sie ist aber auch politisch kontraproduktiv, weil sie nicht im Interesse Israels ist. Wenn sie es denn wäre, würde man vielleicht noch einen anderen Blick darauf haben. Sie hat die Ziele aber nicht erreicht. Leider ist Gilad Schalit immer noch nicht be- freit. Auch der Raketenbeschuss konnte nicht gestoppt werden. Die Blockade hat bisher die Hamas sowie andere Ex- tremisten gestärkt und eben nicht geschwächt. Das kann die UNO sehr deutlich daran darstellen, dass eine ille- gale Schattenwirtschaft durch die Tunnel errichtet wurde, die nun die Hamas stärkt und diejenigen schwächt, die nicht mit der Hamas kooperieren wollen und die die illegalen Güter, die über diese Tunnel in den Gazastreifen kommen, nicht kaufen wollen, um zum Beispiel Schulen zu bauen. Es ist wirklich absurd, zu sehen, dass diese Blockade de facto eine Blockade der UNO ist, die sagt: „Wir kaufen dieses illegale Material nicht, auch wenn wir damit Schulen errichten könnten“, aber gleichzeitig – heute habe ich von John Ging diese Zahl noch einmal gehört – 40 000 Flüchtlingskinder ab- lehnen muss, weil die UNO-Schulen überlaufen sind. Diese Kinder gehen dann in die Koranschulen der Ha- mas. Was macht das für einen Sinn? Es macht keinen Sinn. Man schwächt diejenigen, die aktiv gegen das Islamisie- rungsprojekt der Hamas und anderer im Gazastreifen vorgehen wollen. Das darf nicht sein. Deshalb brauchen wir eine schrittweise Öffnung, und zwar sowohl eine Öffnung über den Landweg als auch parallel dazu Ver- handlungen über einen Transport von UN-Gütern über den Seeweg. Das hat John Ging noch einmal deutlich gemacht. Ich will hier noch kurz darauf eingehen, dass es die Sorge gibt, damit würden die Sicherheitsinteressen Is- raels nicht gewahrt. Wir sagen hier sehr klar: Das soll mit Israel vereinbart werden. Die Idee ist, dass entweder in Aschdod oder in Zypern eine Kontrolle stattfindet und erst dann die Schiffe nach Gaza gelassen werden. Damit würde man erstens einen unbürokratischen Zugang schaffen und zweitens denjenigen den Wind aus den Se- geln nehmen, die vielleicht unter ganz anderer politi- scher Flagge demnächst wieder auf Gaza zusteuern wol- len. Das ist der Charme der Idee, zusätzlich einen Seeweg zu eröffnen. Ich würde mich freuen, wenn auch das möglich wäre und wenn sich die Europäische Union, auch ausgehend von unserem Antrag, hierfür einsetzen würde. Letzter Punkt. Wir sehen in Europa zunehmend eine antiisraelische Stimmung. Ich halte es auch deshalb für wichtig, dass wir mit konkreten Initiativen – das hat John Ging heute noch einmal deutlich gesagt – nach vorne blicken und sehen, wie man die Lage verbessern kann. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): In diesem Sinne freue ich mich, wenn wir heute eine breite Zustimmung zu unserem Antrag bekommen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU) 5394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Müller, zunächst möchte ich Ihnen für Ihre Initiative danken. Es handelt sich um einen fraktions- übergreifenden Antrag. Nach den Vorfällen um die Gaza-Flottille haben wir im Auswärtigen Ausschuss frühzeitig miteinander gesprochen. Um es nicht zu ver- schweigen: Sie haben den Anstoß für diese Debatte ge- geben und die Idee zu einem fraktionsübergreifenden Antrag gehabt. Dem haben wir nach Diskussionen in unserer Frak- tion gerne zugestimmt, weil wir bei der Diskussion im Auswärtigen Ausschuss und vielen anderen Gelegenhei- ten festgestellt haben, wie groß und wie breit der Kon- sens bei diesem Thema eigentlich ist. Selbst wenn in der Außendarstellung häufig der Ein- druck entsteht, dass die Linkspartei grundsätzlich ande- rer Meinung sei, so glaube ich doch, Herr Gehrcke, dass gerade auch die Wortbeiträge, die Sie schon an verschie- denen Stellen abgegeben haben, keinen Zweifel daran lassen, dass Sie sich auf einem ähnlichen, gemeinsamen Boden befinden, wie wir das tun. Das gilt für Ihre Frak- tion allerdings nur eingeschränkt. Diesen Eindruck habe ich leider häufig. Ich wünschte mir, dass Sie sich viel- leicht hätten überwinden können, unseren Antrag zu un- terstützen und auf Ihren eigenen Antrag heute zu ver- zichten. Nichtsdestotrotz wollen wir dafür werben, dass die Debatte in Zukunft mit großer Ernsthaftigkeit weiterge- führt wird. Auch der bisherige Verlauf dieser Debatte hat ja gezeigt, dass wir den sachlichen Blick auf die Tatsa- chen behalten wollen und unseren Grundsätzen treu blei- ben wollen, was die Ausrichtung der Politik gegenüber unseren Freunden in Israel angeht. Vor diesem Hintergrund möchte ich, ähnlich wie Rainer Stinner es schon gemacht hat, auf die Reaktionen im Vorfeld verweisen: Bevor die Drucksache vorlag, wurde der eine oder andere von uns schon von Personen aus Israel nahestehenden Bewegungen gefragt: Was steckt eigentlich hinter diesem Antrag, von dem wir in der Zeitung gelesen haben? Welche Zielrichtung verfolgt er? Ist denn gesichert, dass die Sicherheitsinteressen Is- raels im Mittelpunkt der Beratungen stehen? – Zu kei- nem Zeitpunkt der Beratungen des Antrags hat dies ein geringe Rolle gespielt, sondern dies stand immer – das war fraktionsübergreifend der Fall – im Mittelpunkt un- serer Überlegungen. Ich möchte in dieser Debatte auch klar sagen, dass es wahrscheinlich, zumindest nach unserem heutigen Dis- kussionsstand, technisch nur möglich sein wird, eine Seeverbindung nach Gaza einzurichten, wenn man so verfährt, dass die Güter der Schiffe in Aschdod gelöscht werden und nach entsprechenden Kontrollen nach Gaza eingeführt werden. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schiffe dort kontrollieren und weiterfahren lassen!) Allein schon diese technische Frage darf man nicht au- ßer Acht lassen. Das zeigt erneut, dass die Aktionen, die im Zusammenhang mit der Flottille geschehen sind, nicht in erster Linie dazu dienten, Hilfsgüter nach Gaza zu bringen, sondern vielmehr mediale Aufmerksamkeit und propagandistische Effekte im Blick hatten. Auch das ist zumindest nach heutigem Stand bei dieser Debatte zu beachten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für uns – das hat unsere Bundeskanzlerin in ihrer Rede am 18. März 2008 vor der Knesset zum 60. Jahres- tag der Gründung des Staates Israel deutlich gemacht – stehen die Sicherheitsinteressen Israels an erster Stelle. Wortwörtlich hat die Bundeskanzlerin gesagt: … das Bewusstsein für die historische Verantwor- tung und das Eintreten für unsere gemeinsamen Werte – das bildet das Fundament der deutsch-is- raelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis heute. Deshalb ist es auch richtig, dass es zu unserer Staats- räson gehört, die besonderen Beziehungen zu Israel nicht nur in Worthülsen zu kleiden, sondern auch mit Le- ben zu füllen. Das bedeutet, dass wir zu jedem Zeit- punkt, auch bei der Betrachtung der Situation in Gaza, die legitimen Sicherheitsinteressen von Israel im Blick haben. Trotzdem darf natürlich die Frage der politischen Im- plikationen nicht außer Acht gelassen werden. Man darf wohl sagen – Herr Mützenich, Frau Müller, Rainer Stinner, wir haben uns in dieser Legislaturperiode mit vielen Freunden aus Israel bei vielen Gelegenheiten da- rüber unterhalten und das Ganze auch mit viel Empathie begleitet –, dass wir als Freunde Israels selbstverständ- lich auch die politische Dimension des israelischen Han- delns im Blick haben und uns deshalb als Freunde auch ein klares, offenes Wort erlauben. Insofern möchte ich der Bundesregierung danken, dass sie in ihrer unmittel- baren Reaktion auf die Vorfälle rund um die Gaza-Flot- tille diese Grundhaltung zum Ausdruck gebracht hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es geht in unserem Antrag nicht um die simple Forde- rung nach Aufhebung der Blockade. Vielmehr muss auch die Sicherheit der Menschen in Israel garantiert werden, und zwar durch ein Grenzkontrollregime, durch die Waffenlieferungen nach Gaza strikt unterbunden werden können. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, den UN-Generalsekretär zu bitten, unter Berücksichtigung dieser Interessen im Ein- vernehmen mit Israel gemeinsam den Prozess einzulei- ten, dass Güter dorthin auf dem Seeweg eingeführt wer- den können. Wie wichtig die heutige Debatte ist, sieht man auch daran, dass ein großer Teil des Hauses diesen Antrag un- terstützt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5395 Philipp Mißfelder (A) (C) (D)(B) Ich begrüße ausdrücklich die Ankündigung der israe- lischen Regierung, dass die Blockade gelockert werden soll. Auch glaube ich, dass Ägypten an dieser Stelle eine besondere Würdigung erfahren muss: Dass Ägypten eine gute und konstruktive Rolle in diesem Prozess spielt, da- für danke ich vielen engagierten Vertretern in Ägypten. All unsere Bemühungen reichen allerdings noch nicht aus, um das große Ziel von Frieden und gemeinsamem Miteinander zu erreichen. Darum müssen sich alle noch mehr bemühen, als sie es ohnehin schon tun. Deshalb ist der Dank immer mit der Aufforderung verbunden, mehr zu tun und nichts zu unterlassen, was zu einer weiteren Annäherung führen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD] und Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Eines ist klar: Mit der heutigen Debatte und dem ge- meinsamen Antrag setzen wir ein Zeichen. Wir zeigen, dass es uns wichtig ist, die Konflikte gemeinsam an der Seite Israels zu lösen. Gerade vor dem Hintergrund unse- rer historischen Verantwortung und unserer Geschichte, die in der heutigen Zeit nicht von Schuld, sondern von großer Verantwortung geprägt ist, geht es darum, gemein- sam die Ziele des Friedens zu erreichen. Ich finde, unser Antrag ist dabei sehr hilfreich. (Zuruf von der LINKEN: Unserer aber auch!) Ich bedanke mich noch einmal bei den Fraktionen, die daran mitgewirkt haben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/2259 mit dem Titel „UN-geführte Untersuchung des israelischen An- griffs auf den Gaza-Hilfstransport – Sofortige Aufhe- bung der Blockade“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2328 mit dem Titel „Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären – Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nahost-Frie- densprozess unterstützen“. Wer stimmt für diesen An- trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An- trag ist einstimmig angenommen. (Beifall im ganzen Hause) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weite- ren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartner- schaftsgesetzes und anderer Gesetze im Be- reich des Adoptionsrechts – Drucksache 17/1429 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Katja Dörner, Ekin Deligöz, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Die revidierte Fassung des Europäischen Über- einkommens über die Adoption von Kindern unterzeichnen – Drucksache 17/2329 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ute Granold, Johannes Kahrs, Stephan Thomae, Michael Kauch, Dr. Barbara Höll, Volker Beck.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1429 und 17/2329 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 17/2329 federführend im Rechtsausschuss beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- weisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Illegalen Holzeinschlag und Holzhandel durch eine durchgreifende EU-Verordnung wirksam verhindern – Drucksachen 17/1962, 17/2315 – Berichterstattung: Abgeordnete Alois Gerig Petra Crone Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Cornelia Behm Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Alois Gerig, Petra Crone, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Behm. 1) Anlage 67 (A) (C) (D)(B) Alois Gerig (CDU/CSU): Die Europäische Union beabsichtigt, im Rahmen des Aktionsplans „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forstsektor“, Forest Law Enforcement, Governance and Trade – FLEGT, durch eine neue Ver- ordnung Regelungen für den Handel mit Holz zu treffen. Ziel der neuen Verordnung ist es, den illegalen Holzein- schlag zu bekämpfen. Illegaler Holzeinschlag ist inner- halb der EU kein ausgeprägtes Problem. In den Mit- gliedstaaten ist in der Regel gewährleistet, dass kein Raubbau am Wald betrieben wird. In anderen Teilen der Welt hingegen stellt der illegale Holzeinschlag ein gra- vierendes Problem dar – er trägt erheblich zur weltwei- ten Waldzerstörung bei. Die Nachfrage nach Holz in Eu- ropa ist dafür mitverantwortlich. Die CDU/CSU unterstützt deshalb das Vorhaben, den Handel mit Holz durch eine EU-Verordnung zu regeln und so gegen den illegalen Holzeinschlag vorzugehen. Die Einigung über einen Verordnungsentwurf erwies sich als sehr schwierig. Die Kommission hatte im Okto- ber 2008 einen ersten Entwurf vorgelegt. Erst am 10. Juni dieses Jahres konnten Parlament, Rat und Kommission im Rahmen eines Trilogs die letzten Streit- punkte ausräumen und sich auf einen Verordnungsent- wurf verständigen. Die Einigung steht am 7. Juli im Eu- ropäischen Parlament zur Abstimmung. Im Herbst will sich der Rat abschließend mit der Verordnung befassen. Es ist damit zu rechnen, dass Parlament und Rat der Verordnung zustimmen. Der Antrag der SPD-Fraktion enthält zahlreiche For- derungen, die die Bundesregierung auf EU-Ebene durchsetzen soll. Da sich die Bundesregierung engagiert in die Verhandlungen eingebracht hat, macht es keinen Sinn, sie mit diesem Antrag zum Handeln aufzufordern. Außerdem sind die Verhandlungen sowohl innerhalb des Rates als auch zwischen Rat und Parlament abgeschlos- sen. Somit besteht für die Bundesregierung derzeit keine Möglichkeit, sich für die gestellten Forderungen einzu- setzen. Aus diesen Gründen kann die CDU/CSU den An- trag nicht unterstützen. Der Antrag würde höchstens Sinn machen, wenn das Europäische Parlament die Ver- ordnung ablehnt und die Verordnung neu verhandelt werden müsste. Dies ist nach meiner Auffassung nicht nur unwahrscheinlich. Es ist auch nicht wünschenswert. Der Verordnungsentwurf, auf den sich Kommission, Rat und Parlament geeinigt haben, ist ein tragfähiger und guter Kompromiss, der nicht mehr verändert werden sollte. Um in der Bekämpfung des illegalen Holzein- schlags voranzukommen, wäre es sicher nicht hilfreich, wenn der Bundestag den Kompromiss infrage stellte. Auch dies spricht dafür, den vorliegenden Antrag abzu- lehnen. Zu den gelungenen Regelungen in der geplanten Verordnung gehört die Rückverfolgbarkeit in der Han- delskette. Natürlich sollten alle Marktteilnehmer dafür sensibilisiert sein, dass ihre Handelsware Holz nicht aus illegalem Einschlag stammt. In der geplanten Verordnung werden besondere Sorgfaltspflichten sinnvollerweise dem Erstinverkehrbringer auferlegt. Für die übrigen Markt- teilnehmer werden einfache Informationspflichten vorge- schrieben. Sie müssen bei Kontrollen der zuständigen Zu Protokoll Behörden Zulieferer bzw. Abnehmer nennen können. Da- mit wird sichergestellt, dass die Rückverfolgbarkeit in der Handelskette gewährleistet ist, gleichzeitig aber nicht alle Marktteilnehmer übermäßigen Dokumentationsaufwand betreiben müssen. Auch Waldbesitzer in Deutschland, die aus ihrem nachhaltig bewirtschafteten Wald Holz gewinnen und vermarkten, sind Erstinverkehrbringer. Das Bundes- waldgesetz, die Waldgesetze der Länder, die Forstver- waltungen und nicht zuletzt die ganz überwiegende Anzahl von verantwortungsbewussten Waldbesitzern sorgen dafür, dass in Deutschland der Wald nachhaltig bewirtschaftet wird und illegaler Holzeinschlag so gut wie keine Rolle spielt. Besondere Nachweispflichten für Waldbesitzer erscheinen mir deshalb nicht angezeigt. Es ist der Bundesregierung zu verdanken, dass in der Ver- ordnung illegaler Holzeinschlag in Deutschland wie in anderen EU-Mitgliedstaaten als ein vernachlässigbares Risiko eingestuft wird und dadurch erheblicher bürokra- tischer Aufwand für die Waldbesitzer abgewendet wer- den konnte. Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Es ist zu erwarten, dass die stoffliche und energetische Holznutzung in den kommenden Jahren zunehmen wird. Dies ist auch erforderlich, wenn wir unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele erreichen wollen. Gleichzeitig wollen wir, dass Waldbesitzer die biologische Vielfalt im Wald schützen, den Wald auf den Klimawandel vorbereiten und den Wald als Erholungsraum für Menschen erhal- ten. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, die circa 2 Millionen privaten Waldbesitzer nicht mit neuer Büro- kratie zu belasten. Ein weiterer Punkt, der mir am Herzen liegt, ist das Handelsverbot für illegal geschlagenes Holz. Man kann darüber streiten, wie wirkungsvoll ein solches Verbot ist. Ein Vermarktungsverbot wäre nur schwer umzusetzen, da im Einzelfall der illegale Einschlag, also der Rechts- bruch im Drittland, nachgewiesen werden müsste. Dies ist derzeit in aller Regel nicht gerichtsfest möglich. Aus meiner Sicht ist ein Handelsverbot dennoch wichtig. Eu- ropa muss ein klares Zeichen setzen, dass wir illegalen Holzeinschlag nicht akzeptieren und unseren Teil dazu beitragen, die globale Waldzerstörung aufzuhalten. Weltweit schreitet die Zerstörung der Wälder sehr schnell voran. Jährlich gehen 13 Millionen Hektar Na- turwälder verloren – insbesondere in den Tropen. Wald- zerstörungen gefährden nicht nur die Biodiversität – auch die für den Klimaschutz notwendige Kohlenstoff- speicherung der Wälder wird erheblich abgesenkt. Es wird also höchste Zeit, dass die EU Regelungen gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz trifft. Zwei- fellos ist es ein Schwachpunkt des Kompromisses, dass die Verordnung erst in 27 Monaten wirksam werden soll. Leider konnte sich die Bundesregierung mit ihrer Forde- rung nach einer früheren Inkraftsetzung nicht durchset- zen. In der Gesamtbewertung bleibt aber festzuhalten, dass die geplante Verordnung wirkungsvolle Regelungen gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz vor- sieht, ohne die legale und nachhaltige Waldbewirtschaf- 5396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Alois Gerig (A) (C) (D)(B) tung in Deutschland unverhältnismäßig zu belasten. So- wohl die Umweltverbände als auch die Waldbesitzer können mit dem erzielten Kompromiss leben. Ich danke der Bundesregierung, dass sie die Einigung engagiert vorangetrieben hat und die Verabschiedung dieser wich- tigen Verordnung nun in greifbare Nähe rückt. Petra Crone (SPD): Das Verbot für den Handel mit Holz aus illegaler Herkunft wird kommen. Dies ist das erfreuliche Ergeb- nis aus den Trilogverhandlungen auf europäischer Ebene. Mit der erreichten Einigung wird endlich eine Grundlage gegen die weltweite Zerstörung von Wäldern geschaffen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt, dass das zuständige Ministerium unter der Leitung von Ilse Aigner sich doch noch bewegt hat, um auch den eigenen Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP zu erfüllen. Lange Zeit sah es nicht so aus, als würde das Ministe- rium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- schutz die Maßnahmen gegen illegal geschlagenes Tro- penholz verschärfen. Mit unserem Antrag wollten wir der Regierungskoalition die Gelegenheit geben, sich am eigenen Anspruch zu messen. Schließlich besitzt Deutschland auf EU-Ebene gewichtiges Stimmenpoten- zial, um auch andere europäische Partner zu bewegen. Die Zustimmung zu den Zielen des Antrags war im Aus- schuss erfreulicherweise in allen Parteien vorhanden. Aber um ein Ziel zu erreichen, kann eine Instrumenten- auswahl nicht ausbleiben. In unserem Antrag haben wir die Maßnahmen vorgestellt, die eine Verordnung auf europäischer Ebene benötigt, um nicht als Makulatur zu enden. Schlussendlich müssen die Verbraucher und Verbrau- cherinnen durch die Verordnung in die Lage versetzt werden, eine bewusste Kaufentscheidung für legal ge- schlagenes Holz zu treffen. Tropenholzmöbel sind aus meiner Sicht bis heute nur dann akzeptabel, wenn sie mit dem Gütesiegel des FSC ausgezeichnet sind. Zur EU-Verordnung selbst. An erster Stelle stand für uns das Verbot des Handels mit illegalem Holz und ille- galen Holzprodukten. Bisher blieb der Import von ille- galem Holz in die Europäische Union und damit auch nach Deutschland ungeahndet. Dies wird sich zumindest für den Erstinverkehrbringer des Holzes ändern. Durch das Verbot, mit illegalem Holz zu handeln, wird der Nachweis von Legalität zur Pflicht. Wir hätten diese Nachweispflicht gern für alle Marktteilnehmer die ge- samte Lieferkette entlang gesehen, aber das Verbot für den Erstinverkehrbringer ist alles in allem erfreulich. Die FDP hatte ein Verbot noch in den Beratungen unse- res Antrags abgelehnt. Ich finde, dass von dieser Rege- lung eine hohe Symbolkraft von einer Region wie Europa ausgeht. Wir senden damit ein Zeichen, dass wir es nicht dulden, wenn illegales Holz vorsätzlich oder be- wusst oder grob fahrlässig auf den Markt gebracht wird. Damit flankieren wir die Bemühungen auch in den Län- dern selbst und zeigen, dass uns das Thema wirklich ernste Anstrengungen wert ist. Zu Protokoll Die Sorgfaltspflichtregeln für den Erstinverkehr- bringer des Holzes sind um das Kriterium des ver- nachlässigbaren Risikos ergänzt. Dieses wurde auf aus- drücklichen Wunsch des BMELV aufgenommen, um die deutschen Kleinstbetriebe bzw. mittelständischen Be- triebe rechtlich abzusichern. Wir stimmen mit dem Euro- päischen Parlament überein, dass es eines „negligible risk“ nicht bedürft hätte. Das vernachlässigbare Risiko wird in der Verordnung selbst nicht definiert, was bei mir die Sorge hervorruft, dass damit rechtliche Unsi- cherheiten eher verstärkt als minimiert werden. Den bürokratischen Aufwand, den unsere deutschen Klein- waldbesitzer sowie die kleinen und mittelständischen Holzfirmen durch die Sorgfaltspflichtregelung leisten müssten, sehe ich eher in geringen und überschaubaren Maßen. Genügen würde in den meisten Fällen doch die Handelsrechnung, der Lieferschein oder der Grund- buchauszug, der meinen Wald ganz legal als mein Ei- gentum ausweist. Erfreulich an der EU-Verordnung ist, dass die Rück- verfolgbarkeit für Holz und Holzprodukte über die gesamte Lieferkette in Form von einfacher Informa- tionspflicht gewährleistet ist. Wir hätten uns für die Da- tenerhebung jedoch eine stärkere Berücksichtigung der Art der Waren gewünscht. Eine Produktspezifikation, wie sie bei der Sorgfaltspflicht erforderlich ist, fehlt. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion wäre es aus Gründen eben der Rückverfolgbarkeit sehr naheliegend, wenn Art. 4 a eine Ergänzung um einen Punkt c erfahren würde, aus dem hervorgeht, was genau gekauft bzw. gehandelt wurde. Bestand die Ware aus Rund- oder Schnittholz? Die Antwort auf diese Frage könnte in der Rückverfolgbarkeit und Identifikation entlang der Han- dels- und Verarbeitungskette von eklatanter Bedeutung sein. Es ist sehr bedauerlich und unverständlich, dass die EU-Verordnung die indigenen Völker nur noch als „dritte Interessengruppe“ definiert, obwohl zuneh- mende Abholzung des Regenwalds deren Lebensweise massiv bedroht. Der Durchsetzung und Einhaltung der Menschen- und Landrechte indigener Völker ist nicht gedient, wenn wir verklausulieren, statt zu benennen. Alles in allem ist die EU-Verordnung gegen den Han- del mit illegalem Holz auf dem europäischen Markt trotz Mängel ein guter Startpunkt, doch der Weg bis zum Ziel ist noch weit. Schwachstellen sind die Ausnahmerege- lungen, zum Beispiel für Papier. Hier wird hoffentlich in den nächsten Jahren noch nachgebessert. Der gesamte Waldflächenverlust der Erde beläuft sich laut Berech- nungen der Welternährungsorganisation, FAO, auf jähr- lich etwa 13 Millionen Hektar. Dies entspricht ungefähr der Größe Griechenlands. Deutschlands Wälder mit ins- gesamt 110 000 Quadratkilometern wären innerhalb eines Jahres gerodet. An dieser Stelle möchte ich den zahlreichen Umweltorganisationen danken. Es ist deren großer Verdienst, dass sie die Problematik des illegal ge- schlagenen Holzes in das Bewusstsein der Entschei- dungsträger und in die öffentliche Diskussion gebracht haben. Vielen Dank dafür. Es bedarf nun eines coura- gierten Arbeitsprogramms, um den Raubbau an den Wäldern zu stoppen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5397 gegebene Reden (A) (C) (D)(B) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Erhaltung von Primärwäldern weltweit ist ein wichtiges Ziel. Für die Menschen vor Ort stellen intakte Urwälder die Lebensgrundlage dar. Sie schützen den Boden und das Wasser, liefern Nahrung und wertvolle nachwachsende Rohstoffe. Sie sorgen für eine bessere Luftqualität und produzieren Sauerstoff. Aber vor allem sind naturnahe Wälder die wichtigsten und größten Re- servoire der Artenvielfalt weltweit. Diese Schatzkam- mern der biologischen Information sind zudem entschei- dend an der Speicherung von atmosphärischem CO2 beteiligt. Insbesondere die Rodung von Flächen für den Anbau von Soja, die Weidehaltung und die Anlage von Palmölplantagen, aber auch der illegale Holzeinschlag bedrohen die wertvollen Waldflächen. Der Waldverlust ist in den Staaten der Tropen Afrikas, Südostasiens und Südamerikas erheblich, Satellitenbilder verdeutlichen die gravierenden Verluste. Zudem verfolgen nur wenige Staaten außerhalb der EU eine nachhaltige Forstpolitik. Wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass bei der Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags und des Holz- handels Handlungsbedarf besteht. Etwa ein Drittel ihres Rohholzbedarfs importiert die EU aus Drittstaaten. Wir müssen ein gemeinsames Interesse daran haben, dass es sich hierbei um legales Holz, gewonnen aus nachhalti- ger Bewirtschaftung, handelt. Wir als FDP haben uns immer ausdrücklich gegen den illegalen Holzeinschlag und -handel ausgesprochen. Zur Ergänzung der 2005 im Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT, Forest Law Enforcement, Government and Trade, vorgesehenen Maßnahmen, speziell der angestrebten freiwilligen Part- nerschaftsabkommen, Voluntary Partnership Agree- ments – VPA, und der Einfuhrbeschränkungen ist eine Verordnung zum Stopp des Imports von illegal geschla- genem Holz in die EU eine denkbare Option. Daher un- terstützen wir die Bemühungen von EU-Parlament, Kommission und Ministerrat, im Trilog über die Ausge- staltung einer Verordnung über den Holzhandel zu einer vernünftigen, wirkungsvollen und umsetzbaren Lösung zu kommen. Die FDP begrüßt den im Botschafterausschuss von EU-Parlament, Kommission und Ministerrat beschlos- senen ausgewogenen Kompromiss. Dieser Durchbruch bei den Verhandlungen über das europaweite Verbot illegalen Holzhandels ist eine gute Nachricht für den Klima- und Urwaldschutz. Wir haben uns immer für sinnvolle und praktikable Lösungen starkgemacht: Die jetzt erzielte Lösung be- inhaltet wirksame Kontrollmaßnahmen mit vertretbaren bürokratischen Belastungen für die betroffenen Akteure. Deswegen freuen wir uns, dass die Verordnung nun unser Vertrauen in nachhaltig wirtschaftende Kleinwaldbesit- zer ausdrückt. Die Einführung des Begriffs des „ver- nachlässigbaren Risikos“ führt zu einer vereinfachten Nachweispflicht. Die Kleinwaldbesitzer müssen nicht mehr gesondert nachweisen, dass sie ihr Holz tatsächlich legal geschlagen haben. Hier musste die Verhältnismä- ßigkeit gewahrt bleiben. Angesichts von 1 Million Klein- waldbesitzern in Deutschland ist dies eine wichtige Ent- scheidung, die Bürokratielasten mindert. Zu Protokoll Der Schwerpunkt der Nachweispflichten liegt auf dem Erstinverkehrbringer. Sie gewährleisten die vom Parla- ment geforderte Rückverfolgbarkeit von illegalen Holz- produkten. Die Kennzeichnung jedes einzelnen Holzblei- stifts, jedes einzelnen Holzspielzeugs konnte abgewehrt werden. Gleichzeitig werden mit der Einführung eines Verbots des Handels mit illegalen Holzprodukten berech- tigte Forderungen der Umweltschutzverbände, bezogen auf die Erstinverkehrbringer, berücksichtigt. Die verein- fachten Informationspflichten für die Handelskette ver- hindern einen bürokratischen Papierkrieg. Diesem Ziel dient auch das Streichen der Pflicht des Nachweises von Recyclingprodukten. Die Einbeziehung dieses umfang- reichen Feldes hätte eine kaum zu überblickende Auswei- tung der Kontrollen und des bürokratischen Aufwandes bedeutet. Die EU hat im Jahr 2006 zwar ungefähr ein Drittel ih- res Rohholzes aus Drittstaaten importiert, ist aber welt- weit gesehen nicht der größte Importeur von Holz und Holzprodukten. Für uns ist daher die Frage berechtigt, wie effektiv der Einfluss europäischer Regelungen auf den weltweiten Holzhandel ist. Wir mussten in der Ver- gangenheit feststellen, dass beispielsweise die Zertifizie- rung der Waldbewirtschaftung in Ländern ohne gute Re- gierungspraxis, ohne starke Regierungen nicht den erhofften Erfolg gebracht hat. Eine Reihe von Ländern, beispielsweise China, ist nach wie vor bereit, nichtzerti- fiziertes Holz oder solches mit fragwürdigen Dokumen- ten in riesigen Mengen zu importieren und zu verarbei- ten. Vor diesem globalen Hintergrund unterstützt die FDP vor allem die Strategie, parallel zu den Handelsver- boten über freiwillige Partnerschaftsabkommen mit Drittstaaten eine nachhaltige und sozial gerechte Wald- bewirtschaftung im Sinne einer fairen Entwicklungshilfe voranzutreiben. Der Raubbau an wertvollen Urwaldflä- chen kann nur durch eine Verbesserung der Lebenssitua- tion der Menschen vor Ort gestoppt werden. Ohne die Teilnahme der betroffenen Menschen in diesen Staaten kann eine nachhaltige Waldbewirtschaftung nicht er- reicht werden. Wir freuen uns, dass es den europäischen Institutionen unter Beteiligung der Bundesregierung gelungen ist, zu einem zielführenden Ergebnis zu kommen. Der Kompro- miss wird voraussichtlich Anfang Juli im EU-Parlament verabschiedet werden. Ich bin überzeugt, dass damit ein Instrument geschaffen wird, das helfen kann, den Raub- bau der wertvollen Urwälder einzudämmen, insbeson- dere wenn es der EU gelingt, über Partnerschaftsabkom- men mit möglichst vielen Staaten nachhaltige und effektive bilaterale Vereinbarungen zu treffen. Aus den genannten Gründen sind wir der Meinung, dass sich die Grundlage des Antrags der SPD-Fraktion durch die Kompromissvorschläge im Komitologieverfahren aufge- löst hat. Wir lehnen den Antrag der SPD somit ab. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Seit drei Wochen rollt der Ball. Endlich einmal eine Fußballweltmeisterschaft in Afrika. Wir haben das eine oder andere wirklich schöne Spiel gesehen. Fanfeste wurden gefeiert, Tore bejubelt, Bier getrunken, Würste gegrillt. Gute Stimmung und Gartenpartys standen die 5398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Dr. Kirsten Tackmann (A) (C) (D)(B) letzten Wochen auf dem Programm. Bei aller Freude- trunkenheit wird der Blick auf die Herkunft der Produkte um uns herum jedoch gerne vernebelt. Ich finde es nicht nur wichtig, zu wissen, wer die Grillwürstchen herge- stellt hat und wie die Nutztiere vorher gelebt haben. Ich finde es nicht nur wichtig, zu wissen, wo das Bier ge- braut wurde und ob die Landwirtinnen und Landwirte für ihre Braugerste einen fairen Preis erhalten haben. Ich finde es genauso wichtig, zu wissen, ob die Holz- kohle aus einer legalen und nachhaltigen Waldbewirt- schaftung stammt und ob die Gartenmöbel vielleicht aus illegalem Raubbau stammen. Gerade Gartenmöbel wer- den oft aus tropischen Hölzern hergestellt. Diese ver- sprechen durch ihr langsames Wachstum und damit här- teres Holz eine längere Lebensdauer für Stühle, Tische und Liegen. Doch so einfach ist das nicht. Man kann sich leider nicht sicher sein, dass alles mit rechten, also ökologisch und sozial verantwortungsvollen Dingen zugegangen ist. Illegaler Raubbau in den Wäldern des Südens und teilweise auch Ostens ist immer noch auf der Tagesord- nung, leider. Illegaler Raubbau muss geächtet werden. Ihm ist durch wirksame Handelseinschränkung die Grundlage zu entziehen. Genau vor dieser Aufgabe steht die Europäische Union. Darüber wurde in den vergan- genen Monaten trefflich gestritten. Im Rahmen der EU- Gesetzgebung könnte mittels einer wirklich wirksamen EU-Verordnung ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung des illegalen Raubbaus geleistet werden. Wirklich wirk- same Maßnahmen – beispielsweise die Kontrolle der ge- samten Wertschöpfungskette in Kombination mit einem Verbot des Handels mit illegalem Holz – wurden lange von der Bundesregierung und anderen Mitgliedstaaten im Agrarministerrat blockiert. Doch das beständige Lobbying von WWF, Greenpeace, Robin Wood und an- deren Umwelt- und Naturschutzverbänden hat Wirkung gezeigt. Auch die Oppositionsfraktionen von SPD, Grü- nen und Linken haben die Bundesregierung immer wie- der aufgefordert, sich einer wirksamen Verordnung nicht länger in den Weg zu stellen. Die nun zu erwartende EU- Verordnung auf EU-Ebene darf gerne als Erfolg dieses gemeinsamen Engagements gewertet werden. Denn Deutschland ist in der EU immer ein wichtiger Taktge- ber, sowohl beim Befördern von Ideen als auch beim Blockieren von Vorschlägen. Nun ist der Weg für ein europäisches Holzhandelsge- setz frei. Kommission, Parlament und Ministerrat der Europäischen Union haben sich auf einen gemeinsamen Entwurf für ein solches Gesetz verständigt. Ich hoffe, dass der euphorischen Meldung des WWF: „EU nimmt Kampf gegen illegalen Holzhandel auf“ eine wirksame EU-Verordnung folgen wird. Der Kompromissentwurf soll im Juli vom Parlament und im Herbst vom Minister- rat verabschiedet werden. Danach muss ernsthaft und wirksam an der Umsetzung in den einzelnen Mitglied- staaten gearbeitet werden. Darauf wird die Linke die kommenden Jahre achten. Bei aller Freude über den bevorstehenden Abschluss der EU-Verordnung, möchte ich trotzdem schon mal Nachbesserungsbedarf anmelden. Mittelfristig wird diese Verordnung auf ihre Wirksamkeit überprüft und Zu Protokoll überarbeitet werden müssen. Dabei sollten einige Punkte, die jetzt unter den Tisch gefallen sind, einbezo- gen werden. Beispielsweise: Bücher, Zeitungen und an- dere Druckerzeugnisse müssen in die Regelungen einge- schlossen sein. Doch natürlich bietet sich auch hier die – meiner Meinung nach sinnfreie – Möglichkeit, illega- les tropisches Holz auf den europäischen Markt zu brin- gen. Das muss kritisch im Auge behalten werden. Die Linke unterstützt den Antrag der SPD. Er fasst die auch aus unserer Sicht nötigen Kriterien einer wirk- samen EU-Verordnung zusammen. Dass nur Teile davon wirklich umgesetzt werden, anstatt alle Forderungen zu erfüllen, ist zu kritisieren. Aber es ist wichtig, dass nun das Gesetzgebungsverfahren zum Holzhandelsgesetz ab- geschlossen wird. Diesen Antrag hätten wir problemlos gemeinsam einreichen können, wahrscheinlich sogar zu dritt. Das ist leider – noch nicht – gewollt. Dem Antrag stimmen wir trotzdem zu. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Einigung von Kommission, Rat und EU-Parla- ment über eine europäische Holzhandelsverordnung Mitte dieses Monats kam – um ehrlich zu sein – überra- schend schnell. Ich hatte mit einem längeren Gezerre ge- rechnet, und ich nehme an, meinen Parlamentskollegen ging es nicht viel anders. Vor diesem Hintergrund kann man sagen: Dieser Antrag, mit dem die SPD die vorge- legte Holzhandelsverordnung im Rahmen des FLEGT- Plans verschärfen wollte, kam gerade noch rechtzeitig. Diesen SPD-Antrag haben wir von Anfang an unter- stützt, weil die von der Kommission vorgeschlagenen Sorgfaltspflichten für Holzhändler ohne ein Importver- bot für illegales Holz unvollständig und unzureichend gewesen wären. Nach dieser Einigung ist der vorlie- gende Antrag nahezu gegenstandslos geworden, aber nur nahezu; denn die abschließende Bestätigung der Ei- nigung durch das EP und den Ministerrat stehen noch aus. Theoretisch könnte diese Einigung also noch schei- tern. An dieser Stelle möchte ich jedoch an alle Beteilig- ten appellieren, die Einigung zu bestätigen. Aus meiner Sicht lohnt es sich, diesen im Trialogverfahren erzielten Kompromiss zu beschließen. Denn gegenüber der Kom- missionsvorlage und dem Ministerratsvotum konnten entscheidende Verbesserungen durchgesetzt werden. So wird die Verordnung zukünftig im Kern ein Importverbot für illegales Holz beinhalten. Außerdem muss Holz auf dem EU-Markt zukünftig eine nachweisbare Herkunft haben. Bei Verstößen sollen Strafen verhängt werden. Die seit Jahren geführte Diskussion um ein nationa- les oder ein EU-weites Verbot von illegalem Holz hat da- mit hoffentlich ein vorläufiges Ende gefunden. Mit die- ser Forderung sind wir in der letzten Legislaturperiode regelmäßig an einer schwarz-gelben Mehrheit geschei- tert, die alle Vorstöße in diese Richtung hat an sich ab- tropfen lassen, ohne sich auch nur je einmal zur Forde- rung nach einem EU-weiten Importverbot für illegal geschlagenes Holz zu bekennen. Von daher bin ich froh, dass wir nun hoffentlich einige Schritte weiter sind. Nun müssen die neuen Regelungen zunächst erst ein- mal in Kraft treten und ein paar Jahre lang wirken, da- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5399 gegebene Reden 5400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Cornelia Behm (A) (C) (D)(B) mit man beurteilen kann, ob sie ausreichend sind oder ob eine Nachbesserung notwendig ist. Der sechs Jahre nach Inkrafttreten von der Kommission vorzulegende Bericht sollte dafür genutzt werden, diese Zwischenbi- lanz zu ziehen und gegebenenfalls einen neuen legislati- ven Prozess in Gang zu setzen. An dieser Stelle kann ich natürlich nicht verhehlen, dass wir Grüne mit dieser Einigung keineswegs voll- ständig zufrieden sind, sondern noch weitergehende Forderungen und Vorstellungen hatten. Das fängt schon mit der viel zu langen Frist von 27 Monaten bis zum In- krafttreten der Regelungen an. In der Sache sind wir nicht wirklich überzeugt davon, dass die Maßnahmen auf die Erstinverkehrbringer konzentriert werden und dass für die nachgelagerte Handelskette nur einfache Informationspflichten gelten sollen. Problematisch ist es, dass Betriebe mit vernachlässigbarem Risiko von Nachweisverfahren entbunden werden sollen, weil diese Ausnahme ein Schlupfloch für die Einschleusung von il- legalem Holz sein kann. Spätestens wenn ein Betrieb mehr Holz vermarktet, als er nachhaltig ernten kann, wäre mein Misstrauen geweckt. Da dieser Betrieb je- doch von jeglicher Nachweisverpflichtung befreit ist, er- fahre ich das nicht. Und besonders kritisch sehen wir, dass Druckerzeugnisse von den Regelungen ausgenom- men sein sollen. Denn das heißt, dass in diesem Markt- segment keine Vorkehrungen gegen den Einsatz illega- len Holzes getroffen werden müssen. Aus diesem Grund werden wir Grüne die neue Verord- nung sehr genau daran messen, ob sie den hohen Erwar- tungen tatsächlich gerecht wird und den Import illegalen Holzes in die EU stoppen kann oder ob Änderungen not- wendig sind. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, ob die Sanktionen bei Verstößen für eine Wirk- samkeit der Verordnung ausreichend sein werden. Aber auch die Frage, ob es richtig war, bestimmte Holzpro- dukte von den Regelungen auszunehmen, muss mit Ein- schränkungen im Rahmen einer Zwischenbewertung noch einmal überdacht werden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/2315, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1962 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz (Herborn), Dr. Petra Sitte, Kerstin Andreae und weiterer Abgeordneter Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats zu Fragen der Ethik (Ethikbeirat) – Drucksache 17/1806 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re- den zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Re- den der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Dr. Thomas Feist, Rudolf Henke, René Röspel, Dr. Martin Neumann, Dr. Petra Sitte, Priska Hinz. Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Am 26. November des letzten Jahres hat der Deutsche Ethikrat seine erste Stellungnahme zur anonymen Kin- desabgabe veröffentlichtet. Am 15. Juni dieses Jahres folgte die zweite Stellungnahme zu Humanbiobanken in der Forschung. Diese beiden Beispiele zeigen, dass sich nicht nur beim wissenschaftlichen Fortschritt neue ethi- sche Fragestellungen, sondern dass sich in allen gesell- schaftlichen Bereichen ethische Fragen ergeben, welche die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Ge- setzgeber vor zahlreiche Herausforderungen stellen. Ich habe die jüngst veröffentlichten Stellungnahmen intensiv gelesen und bin den Mitgliedern des Deutschen Ethikrates dankbar, dass sie mit diesen Ausarbeitungen anerkannten Sachverstand in die gesellschaftliche und politische Debatte einbringen. Es war richtig, dass der Deutsche Bundestag mit dem Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrates im Jahr 2007 ein unabhängiges Expertengremium geschaffen hat, welches das Parla- ment und die Bundesregierung berät. Zur parlamentari- schen Begleitung und Unterstützung der Debatten des Deutschen Ethikrates wurde vom Deutschen Bundestag in der letzten Wahlperiode zusätzlich der Parlamentari- sche Beirat zu Fragen der Ethik insbesondere der Le- benswissenschaften, Ethikbeirat, eingesetzt. Im Tätigkeitsbericht des Ethikbeirates der letzten Wahlperiode wurde die Erforderlichkeit einer parlamen- tarischen Begleitung der Beratungen über ethische Grundsatzfragen und der Arbeit des Deutschen Ethikra- tes durch alle Fraktionen anerkannt. Auch aus den Dis- kussionen in der letzten Wahlperiode zur Einrichtung des Deutschen Ethikrates ist deutlich geworden, dass Ei- nigkeit in diesem Hohen Hause über die Notwendigkeit besteht, ethische Fragestellungen in den politischen Entscheidungsprozess verantwortlich mit einzubeziehen. Ich teile somit die Einschätzung, dass die Berücksichti- gung ethischer Fragen eine wesentliche Aufgabe der Politik darstellt und dass der Kontakt zum Deutschen Ethikrat daher unerlässlich ist. Ich komme allerdings nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Tä- tigkeitsbericht über die Arbeit des Ethikbeirates zu der Überzeugung, dass dies auf anderen Wegen besser ge- lingen wird als durch die Wiedereinsetzung dieses Gre- miums. Aus diesem Grund kann sich die Fraktion der CDU/CSU dem vorliegenden Gruppenantrag nicht an- schließen. Persönlich bin ich der Meinung, dass sich alle Abge- ordneten mit den Fragen der Ethik im politischen Ent- scheidungsprozess befassen müssen. Hierfür sind Dr. Thomas Feist (A) (C) (D)(B) direkte Kommunikationswege zwischen dem Ethikrat und dem Deutschen Bundestag – und zwar ohne Ein- schaltung eines weiteren Gremiums – wichtig. Bei der Einrichtung des Deutschen Ethikrates war es das er- klärte Ziel, den Deutschen Ethikrat als Beratungsinstanz für alle Abgeordneten zu profilieren. Wir dürfen daher als Abgeordnete nicht die Verantwortung für die Ent- scheidung von ethischen Fragestellungen auf wenige Parlamentarier delegieren. Die Befürchtung, dass der Ethikbeirat nicht als Scharnier, sondern eher als Fla- schenhals für ethische Fragen auf dem Weg in den Deut- schen Bundestag fungiert, ist nicht von der Hand zu wei- sen. Diese Befürchtung wurde auch nicht durch die Tätigkeit dieses Gremiums in der letzten Legislatur- periode entkräftet. Eher bestätigt sich der Eindruck, dass der Ethikbeirat die breite Auseinandersetzung der Abgeordneten mit der Thematik erschwert hat. Ein wei- terer Kritikpunkt: Ich halte ich es nicht für zielführend, dass der Ethikbeirat sich auf dem Wege der Selbstbefas- sung selbst Themenschwerpunkte suchen, Anhörungen durchführen und inhaltliche Empfehlungen abgeben kann. Es ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll, hiermit quasi ein parlamentarisches Gegengremium zum Deut- schen Ethikrat zu institutionalisieren, welches sich mög- licherweise parallel mit ähnlichen Themen beschäftigt und zu unterschiedlichen Empfehlungen kommen kann. Dies ist weder zweckmäßig noch effizient, vor allem wenn man bedenkt, dass der Deutsche Bundestag dem Deutschen Ethikrat im Jahr 2009 knapp 1,7 Millionen Euro für seine Arbeit zur Verfügung gestellt hat. Im parlamentarischen Diskussions- und Entschei- dungsprozess muss deutlich werden, dass alle Abgeord- neten gleichermaßen gefordert sind, sich über ethische Problemstellungen zu informieren und eigenverantwort- lich Entscheidungen zu treffen. Es muss dabei aber der Verantwortlichkeit jedes Parlamentariers überlassen sein, wie und in welchem Umfang die Empfehlungen des Ethikrates in der eigenen Arbeit zum Tragen kommen. Die Wiedereinsetzung des Ethikbeirates würde dagegen den Eindruck erwecken, dass der Deutsche Bundestag die wichtigen Fragen der Ethik an ein Gremium wegde- legiert, welches stellvertretend für die Abgeordneten tä- tig wird. Ich möchte an dieser Stelle aus der Rede des Bundestagspräsidenten, Dr. Nobert Lammert, vom 9. November 2006 zur Einsetzung des Deutschen Ethik- rates zitieren: Wir können alle miteinander kein Interesse daran haben, dass der Eindruck entsteht, es gebe im Deut- schen Bundestag eine kleine Anzahl von Ethik- experten, aber der große Rest sei bei ethischen Fra- gen entweder nicht interessiert oder indifferent. Im Übrigen wäre dies nicht nur ein verheerender, son- dern auch ein falscher Eindruck, der insbesondere in dieser Kombination kaum akzeptabel wäre. Diesen prinzipiellen Punkt möchte ich vor dem Hin- tergrund des Gruppenantrages noch einmal unterstrei- chen. Ethische Fragestellungen müssen von den Abge- ordneten in den Ausschüssen, im Plenum des Deutschen Bundestages und im Dialog mit den Experten des Deut- schen Ethikrates diskutiert werden. Zu Protokoll Ich halte die direkten Möglichkeiten der Kommunika- tion zum Deutschen Ethikrat für die bessere Variante als die verengte Kommunikation über ein zusätzliches Gre- mium wie den Ethikbeirat. Daher begrüße ich es aus- drücklich, dass der Deutsche Ethikrat angekündigt hat, in regelmäßigen Abständen parlamentarische Abende und andere thematische Veranstaltungen zu organisie- ren, um mit den Abgeordneten ins Gespräch zu kommen. Der erste parlamentarische Abend im März dieses Jahres war bereits ein voller Erfolg. Die Vielzahl der an- wesenden Mitglieder des Deutschen Bundestages hat deutlich gezeigt, wie groß das Interesse der Politiker am direkten Kontakt mit den Sachverständigen ist. Die Mit- glieder des Deutschen Ethikrates diskutierten mit den Abgeordneten über die von ihm abgegebenen Stellung- nahmen und informierten über weitere Vorhaben. Da- rüber hinaus boten sie an, die Abgeordneten auch durch persönliche Stellungnahmen in den jeweiligen Aus- schüssen zu unterstützen. Die Diskussion mit den Mitgliedern des Ethikrates in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und auf parlamentarischen Abenden oder auf anderen Veran- staltungen des Deutschen Ethikrates halte ich für den zweckmäßigeren Weg, um die Arbeit des Deutschen Ethikrates parlamentarisch zu begleiten und ethische Fragestellungen im politischen Prozess zu berücksichti- gen. Ich stelle fest, dass sich der Ethikbeirat nicht be- währt hat. Es ist legitim, Gremien, die ihre Aufgabe nicht erfüllen konnten, nicht wieder einzusetzen. Gerade in diesem Fall gibt es bessere Wege, um die parlamenta- rische Begleitung ethischer Fragestellungen sicher zu stellen. Die Nichtwiedereinsetzung des Ethikbeirates verbindet aus meiner Sicht höchstmögliche Durchlässig- keit der beiderseitigen Kommunikation mit der Entbüro- kratisierung des parlamentarischen Betriebes und spart finanzielle Mittel in Zeiten knapper Haushaltskassen ein, die zum Betrieb des Ethikbeirates notwendig wären. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich daher dem Antrag auf eine Wiedereinsetzung des Ethikbeirates aus guten Gründen nicht anschließen. Rudolf Henke (CDU/CSU): Im Zuge des raschen Fortschritts und wachsender Möglichkeiten in der medizinischen Forschung gibt es ständig neue Therapieansätze und Diagnoseverfahren, die Heilung von bisher nicht oder nur begrenzt heilbaren Erkrankungen ermöglichen oder zumindest in Aussicht stellen. Manche dieser Entwicklungen werfen ethische, gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische und rechtliche Fragen nach den voraussichtlichen Fol- gen für den Einzelnen und die Gesellschaft auf, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwick- lungen im Bereich der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben. Uns allen ist die Spannung zwischen Stammzellforschung und Embryo- nenschutz präsent. Solche Fragen berühren unser Ver- ständnis von Gesundheit, Krankheit, Behinderung sowie unsere verfassungsrechtliche Verantwortung für den Schutz der Würde des Menschen. Hier handelt es sich um einen vielfältigen Themen- kreis, der zum Beispiel die Möglichkeiten und Grenzen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5401 gegebene Reden Rudolf Henke (A) (C) (D)(B) der Medizin an der Schwelle zwischen Leben und Tod, der Organspende, die Frage des Verhältnisses von Auf- wand und Erfolg einzelner Behandlungen auch im Blick auf die Kosten und damit einhergehend die Verteilung von Gesundheitsgütern oder auch Rechte und Pflichten beim Impfen berührt. Das jüngste Urteil des Bundesge- richtshofs zum Abbruch künstlicher Ernährung während eines Wachkomas erinnert uns aktuell an die Tragweite und Schwierigkeit derartiger Fragen. Es ist notwendig, dass diese Themen, die unsere ethi- sche Haltung zu Gesundheit, Krankheit und Behinde- rung berühren, von Abgeordneten des Deutschen Bun- destages wahrgenommen und thematisiert werden. Begleitet und beraten werden wir seit 2007 bei der Bearbeitung und Erörterung solcher Fragen vom Deut- schen Ethikrat. Dieses Gremium, das bewusst ohne Mit- glieder aus dem Kreis der Abgeordneten eingerichtet wurde, hat die Aufgabe, dem gesamten Parlament in ak- tuellen Fragen der Lebenswissenschaften zur Verfügung zu stehen. Unsere Fraktion ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es dafür keiner weiteren parlamentarischen Institution bedarf, die eine Art „Scharnierfunktion“ innehätte, in- dem sie etwa aktuelle bio- und medizinethische Themen sammelt, um sie dann an den Deutschen Ethikrat weiter- zuleiten. Ich denke, dass die Möglichkeiten eines solchen Bei- rats von manchen seiner Befürworter überschätzt wer- den. Im Unterschied dazu brauchen wir einen direkten Dialog zwischen den Mitgliedern des Deutschen Ethik- rats und dem Parlament. Hierfür ist aber keine „Vor- instanz“ nötig. Unser Bundestagspräsident Norbert Lammert hat einmal gesagt, dass wir – alle Abgeordneten des Deut- schen Bundestages – kein Interesse daran haben kön- nen, dass der Eindruck entsteht, es gäbe im Parlament nur eine kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der große Rest sei bei ethischen Fragen entweder nicht inte- ressiert oder indifferent. Ein Parlamentarischer Beirat erweckt jedoch genau diesen Eindruck, da nur eine be- grenzte Anzahl von Abgeordneten aller Fraktionen in diesem Gremium zusammenarbeiten würden. Es gibt, wie schon erwähnt, eine Vielzahl von ethi- schen Themen, die wir in diesem Hause aufgreifen und bearbeiten müssen. In der Vergangenheit wurde deut- lich, dass die Mehrzahl der Themen aufgrund ihrer ho- hen Komplexität in die Zuständigkeit mehrerer Fachaus- schüsse fallen. Daher ist eine fachliche Befassung und eine intensive ressortübergreifende Bearbeitung im ge- samten Deutschen Bundestag statt in geschlossenen Zir- keln erforderlich. Somit ist es sinnvoll, den Kontakt und die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Ethikrat zu in- tensivieren, sozusagen den Ethikrat auf direktem Wege anzusprechen. Mit dem Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrates hat der Deutsche Bundestag fest- gelegt, dass das Parlament aus sich heraus den Ethikrat um Stellungnahmen bitten kann. Zu Protokoll In ethischen Fragen sind wir alle in diesem Parla- ment dazu verpflichtet und dafür verantwortlich, sich gewissenhaft und sehr genau abwägend mit jedem ein- zelnen Thema zu befassen. Zur Gewissensbildung kön- nen wir die Stellungnahmen und Empfehlungen des Deutschen Ethikrates heranziehen. Unser Urteil müssen wir jedoch auf Grundlage unserer eigenen ethischen und moralischen Vorstellungen und Wertungen bilden. René Röspel (SPD): Synthetische Biologie, Nanobiotechnologie, die Grenzen der Sterbehilfe oder die Nutzung knapper Res- sourcen im Gesundheits- und Pflegewesen – durch Fort- schritte insbesondere im Bereich der modernen Lebens- wissenschaften werden wir als Gesellschaft und als Politik seit Jahren vor alte wie neue ethische Herausfor- derungen gestellt. Das wohl bekannteste Beispiel für diese Entwicklung ist die jahrelange Debatte über die Chancen und Grenzen der Forschung an und mit menschlichen embryonalen Stammzellen. Diese Pro- bleme und Herausforderungen muss ein technikbeglei- tendes und -gestaltendes Parlament in gesetzgeberi- sches Handeln übersetzen. Wir legen heute in erster Lesung dem Deutschen Bun- destag den unterschriftenstärksten Gruppenantrag in der Geschichte unseres Parlaments zur Beratung vor. 241 Abgeordnete haben mit ihrer Unterschrift diesen Antrag unterzeichnet. Dies ist ein starkes Signal für eine aktive Rolle des Parlaments in den kommenden Beratun- gen über ethische Herausforderungen insbesondere in den Lebenswissenschaften. Mit der Ersetzung des vom Bundeskabinett von Kanz- ler Gerhard Schröder eingesetzten Nationalen Ethikra- tes durch einen Deutschen Ethikrat hat die damalige Ko- alition von SPD und CDU/CSU im Jahr 2007 einen guten Schritt getan, um die Legitimation des Ethikrates auszuweiten und gesetzlich festzuschreiben. Dies war ein richtiger Schritt, um die Beratungstätigkeit des Ethikrates zu verstetigen. Heute ist der Deutsche Ethik- rat das auch international sichtbarste biomedizinische und bioethische Beratungsgremium in Deutschland. Wir als SPD haben uns damals immer dafür einge- setzt, dass der Ethikrat als Beratungsgremium parla- mentarisch angebunden sein muss, wenn seine Empfeh- lungen in politische Beratungen und – gegebenenfalls – politisches Handeln einfließen sollen. Daher haben wir uns als Mitglieder der SPD-Fraktion – gegen Wider- stände vonseiten der CDU und CSU – für einen Ethik- beirat eingesetzt und tun dies auch heute. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Gruppenantrages setzen sich für einen Ethikbeirat ein, der stärker als in der vergangenen Legislaturperiode auch eigene inhaltliche Akzente setzen kann. In der ver- gangenen Wahlperiode hat der Ethikbeirat leider auf Wunsch der Fraktion von CDU und CSU nur ein be- grenztes – und in Teilen unklares – Mandat erhalten. Wir korrigieren mit dem vorliegenden Gruppenantrag die – damals von Unionsseite gewollten – Defizite des „alten“ Ethikbeirates. 5402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden René Röspel (A) (C) (D)(B) Hierbei knüpfen wir ausdrücklich auch an den Antrag der Fraktion der FDP an, die im November 2006 einen Antrag zur „Einrichtung eines Parlamentarischen Bei- rates für Bio- und Medizinethik“ in die Beratungen ein- gebracht hatte. Warum sich trotzdem bisher aus der Fraktion der FDP fast keine Abgeordnete bzw. kein Ab- geordneter unserer Gruppeninitiative angeschlossen hat, ist mir nicht verständlich. Ich kann mir dies nur da- mit erklären, dass CDU und CSU unter Verweis auf die Koalitionsvereinbarung viele der Mitglieder der FDP- Fraktion von einer Unterstützung abgehalten haben. Dabei hatte der FDP-Abgeordnete Michael Kauch am 9. November 2006 im Bundestag noch richtigerweise festgestellt: „Ohne parlamentarische Begleitung bleibt der Ethikrat aber ein Torso.“ Genau dies wollen wir mit unserem Antrag verhindern. Der Ethikbeirat soll sich – wie schon in der vergange- nen Legislaturperiode erfolgreich praktiziert – regelmä- ßig mit dem Ethikrat und seinen Mitgliedern austau- schen. So können wir sicherstellen, dass das Parlament über den Fortgang der Beratungen im Ethikrat regelmä- ßig informiert wird und nicht erst nach der Veröffentli- chung von Stellungnahmen über kommende Fragestel- lungen in Kenntnis gesetzt wird. Gleichzeitig können der Ethikbeirat und seine Mitglieder dem Deutschen Ethikrat signalisieren, welche Themen aus Sicht des Parlaments eine besondere Relevanz hätten. Auch eine Tendenz, wie bestimmte Regelungsvorschläge im parlamentarischen Umfeld aufgenommen werden würden, ließe sich durch einen regelmäßigen Austausch zwischen Deutschem Ethikrat und Beirat zumindest andeuten. Der Ethikrat hätte dann die Möglichkeit, in seinen Stellungnahmen bestimmte Fragen oder Punkte, die von besonderem In- teresse für die interessierten Mitglieder des Bundestages sind, noch ausführlicher darzustellen, was sich positiv auf die politische Anschlussfähigkeit der Stellungnah- men auswirken dürfte. Zur Verbreiterung der Ethikdebatte im Parlament sieht unser Antrag auch vor, die Zahl der Mitglieder des Ethikbeirates auf 18 zu erhöhen. So ist möglich, dass sich mehr Mitglieder des Bundestages über ihre Mitar- beit im Ethikbeirat über ethische Problemfragen austau- schen und informieren und Themen in die parlamentari- sche Beratung tragen. An Themen wird es weder Ethikbeirat noch dem Deutschen Ethikrat mangeln. Trotz der offenkundigen positiven Rückwirkungen für die Ethikdebatte in Deutschland haben Vertreter der CDU/CSU den Gruppenantrag bereits öffentlich abge- lehnt. Das finde ich bedauerlich. Die hierbei verwende- ten Argumente sind jedoch nicht stichhaltig. Nachgerade absurd ist insbesondere das Argument, dass in Zeiten der Kostensenkung ein Ethikbeirat eine vermeidbare finanzielle Belastung darstelle. Als ob die Informationsmöglichkeiten des Parlaments der erste Punkt sind, bei dem man finanzpolitisch – nach Steuer- geschenken für Hoteliers – das Sparen beginnen sollte. Auch die Möglichkeit, dass die Berichterstatterinnen und Berichterstatter im Forschungsausschuss den Ge- sprächsfaden zum Ethikrat aufrechterhalten sollen, ist ein nicht tragfähiger Vorschlag, wie schon der Blick auf Zu Protokoll die aktuellen Themen des Ethikrates zeigt. So fallen die Grenzen der Chimären- und Hybridbildung sicher (auch) in die Kompetenz des Forschungsausschusses. Bei Fragen der Sterbehilfe, der Selbstbestimmung und Demenz oder der Intersexualität sieht dies jedoch schon ganz anders aus. Genau deswegen braucht der Bundes- tag ein Gremium, welches sich gezielt mit ethischen Streitfeldern und Problemen auseinandersetzt. Ansons- ten besteht die Gefahr, dass die vom Ethikrat diskutier- ten Themen zwischen die Schnittstellen der Bundestags- ausschüsse fallen. Dieser Ethikbeirat kann und soll nicht nur als Ge- sprächspartner für den Deutschen Ethikrat fungieren, sondern auch Kontaktmöglichkeiten für Verbände, Inte- ressengruppen und interessierte Bürgerinnen und Bürger bieten. Er ist – dies muss man immer wieder betonen – kein Gegengremium zum Deutschen Ethikrat, sondern er ergänzt die Institution Ethikrat wirksam und sinnvoll. Wie die Erfahrung der letzten Legislaturperiode zeigt, sehen dies auch die Mitglieder des Ethikrates so. Bei ei- ner Ablehnung des nun vorliegenden Einsetzungsantra- ges besteht eine Gefahr, die auch von Mitgliedern des Deutschen Ethikrates gesehen wird: dass die Arbeit des Ethikrates im politischen „Nirwana“ endet und die meist mühevoll erarbeiteten Stellungnahmen ad acta ge- legt werden, sobald sie gedruckt wurden. Dies wäre dann eine echte Verschwendung von Steuergeldern, die doch offenkundig von Mitgliedern der Fraktion von CDU und CSU vermieden werden soll. Dass die enge Verbindung von ethischer Expertenin- stitution und Parlament zu einer fruchtbaren Zusam- menarbeit führen kann, zeigt das Beispiel Dänemark. Als ein seit 1987 bestehendes Beratungsgremium hat der Dänische Ethikrat über die Jahre viel Lob für seine Ar- beit erhalten. Ein wichtiger struktureller Bestandteil der Arbeit des Dänischen Ethikrates war und ist das parla- mentarische Begleitgremium, welches die Tätigkeit des Rates begleitet. Dieser dänische „Ethikbeirat“ – wenn man ihn so nennen darf – beeinflusst sogar die Beset- zung des Dänischen Ethikrates. Man kann daher sagen, dass ein Baustein der erfolgreichen Arbeit des Däni- schen Ethikrates die enge Verbindung zum Parlament ist. Von diesem erfolgreichen Beispiel wollen wir lernen. Für die „alternativen Vorschläge“ zur Vernetzung von Parlament und Ethikrat – wie sie etwa der Unions- abgeordnete Dr. Thomas Feist in der „Frankfurter All- gemeinen Zeitung“ vom 18. Mai 2010 präsentiert hat – gibt es hingegen keine erfolgreichen internationalen Vorbilder oder Beispiele. Solche Vorschläge lassen de- mokratische Legitimation und gewohnte Transparenz vermissen. Der Bundestag benötigt „ein parlamentarisches Ge- genüber, wenn der Gesetzgeber seine eigene bioethi- sche Kompetenz nicht weiter auslagern und relativieren will“ – diese Feststellung stammt nicht von einer Abge- ordneten oder einem Abgeordneten, der den Gruppenan- trag unterzeichnet hat; diese Feststellung stammt von Mechthild Löhr, der Bundesvorsitzenden der Christde- mokraten für das Leben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5403 gegebene Reden René Röspel (A) (C) (D)(B) Es ist mir vollkommen unverständlich, warum offen- kundig gerade die Fraktion von CDU und CSU ihren Mitgliedern untersagt hat, den Gruppenantrag mit zu unterzeichnen. Stattdessen scheint die Unionsfraktions- führung darauf zu drängen, dass in der Schlussabstim- mung die Koalitionsfraktionen den Gruppenantrag ge- schlossen ablehnen. Wir fordern Sie auf: Beenden Sie diese koalitionstak- tischen Spielchen und geben Sie die Abstimmung über den vorliegenden Gruppenantrag frei! Spätestens wenn im Bundestag die nächste Stammzell- oder Sterbehilfe- debatte ansteht, werden Sie sehen, dass der Ethikbeirat ein wichtiges und sinnvolles Gremium ist. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Der Parlamentarische Ethikbeirat der 16. Legislatur konstituierte sich am 23. April 2008. Die grundlegende Aufgabe sollte sein, das Parlament in ethischen Fragen zu unterstützen und die Arbeit an solchen Fragestellun- gen zu begleiten. Der Beirat sollte somit ein parlamen- tarisches Begleitgremium, eine „Scharnierstelle“ zwi- schen dem Deutschen Ethikrat und dem Parlament sein. Heute debattieren wir über einen Antrag zur erneuten Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates zu Fra- gen der Ethik in der 17. Wahlperiode. Doch bevor ein solches Gremium erneut wieder aufersteht, lohnt es sich, kritisch auf die Ergebnisse und Arbeitsweisen des Beira- tes der letzten Legislatur zu schauen. Die Unterrichtung vom Juli 2009 durch den Parlamentarischen Beirat zu Fragen der Ethik insbesondere in den Lebenswissen- schaften, Bundestagsdrucksache 16/13780, lässt einige interessante Rückschlüsse zu. So heißt es im dritten Abschnitt zum Selbstverständnis und zur Arbeitsweise des Ethikbeirats: „Selbstverständ- nis und die Arbeitsweise des Ethikbeirates sind jedoch noch nicht abschließend geklärt.“ Das Gleiche gilt für das Selbstbefassungsrecht. Dies blieb ebenfalls unge- klärt. Inhaltliche Beschlüsse und Empfehlungen zu Be- richten des Ethikrats zu fassen, fällt auch nicht in das Aufgabengebiet des Ethikbeirates. Anhörungen fanden mangels Selbstbefassungsrecht auch nicht statt. Das al- les ist außerordentlich bedenklich. Wozu soll dieser Bei- rat nun eigentlich dienen? In einer bunten Runde The- men zu besprechen, die als relevant identifiziert worden waren, ist sicher nicht verkehrt. Aber wo bleibt das Ziel? Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie doch mal ganz ehrlich: Für das, was in den letzten Jah- ren im Ethikbeirat besprochen worden ist, braucht es da die gesamte Maschinerie eines parlamentarischen Bei- rates? Eine weitere Bühne für bereits geführte Fachdis- kussionen brauchen wir nicht. In den Ausschüssen wird demnächst eine Verständi- gung darüber erfolgen, inwieweit es einer Moderation zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Deutschen Ethikrat bedarf oder ob nicht andere Formen der Zu- sammenarbeit effektiver und in der Sache zielführender sind. Wir dürfen nicht vergessen: Der Deutsche Ethikrat in seiner heutigen Form hat eine demokratische Legitima- Zu Protokoll tion! Das Parlament hat mit der Verabschiedung des Ge- setzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats, Ethik- ratgesetz – EthRG; Bundestagsdrucksache 16/2856 – klar erkennen lassen, dass es kein Parallelgremium braucht, denn der Ethikrat besetzt den Platz eines Bera- tungsgremiums für das Parlament. Es hat sich seither gezeigt, dass der Deutsche Ethik- rat kein Expertengremium ist, das hinter verschlossenen Türen tagt. Vielmehr hat er sich in seiner Arbeit durch Transparenz und öffentliche Berichterstattung ausge- zeichnet. Das wollen wir auch weiter unterstützen. Grundsätzlich muss klar sein: Es geht nicht um die Verdrängung von ethischen Fragestellungen aus dem politischen Bewusstsein. Vielmehr müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Arbeit in diesem Bereich neu strukturieren und moderieren und die Arbeit des Parla- ments stärken. Das kann auch in der Form des direkten Dialogs miteinander innerhalb politischer Prozesse stattfinden, ohne ein neues festes Gremium einzurichten. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Der vorliegende Antrag zur erneuten Einsetzung ei- nes Ethikbeirates findet meine Unterstützung. Dafür sprechen eine ganze Reihe von Gründen. Das Hauptar- gument ergibt sich aus konkreter parlamentarischer Er- fahrung meiner Mitarbeit im letzten Ethikbeirat. Nach- dem sich in der vergangenen Legislaturperiode keine Mehrheit für die Einrichtung eines Ethikkomitees des Bundestages fand, wurde die Einsetzung eines Ethikbei- rates beschlossen. Dieser hat nun entgegen mancher Er- wartung erfolgreich die Arbeit des Deutschen Ethikrates begleiten können. Der Deutsche Ethikrat, eingesetzt von Bundestag und Bundesregierung, greift als reines Sachverständigengre- mium lebenswissenschaftliche Themen auf. Der Ethik- beirat des Bundestages, besetzt mit Abgeordneten, die allerdings auch nicht ohne Sachverstand arbeiten, wurde mit keinen eigenen inhaltlichen Kompetenzen ausgestattet. Er fungierte als Schnittstelle zwischen Deutschem Ethikrat und gesellschaftlicher Öffentlich- keit. Er hat daher zum einen die parlamentarische Rele- vanz von in Politik und Gesellschaft diskutierten Ethik- themen ausgelotet. Zum anderen hat er Themen aufgegriffen, die im Deutschen Ethikrat bearbeitet wur- den. So hat er die ethischen, sozialen und rechtlichen Auswirkungen der Chimärenbildung, der synthetischen Biologie, der Nanomedizin, der Angebote anonymer Kindesabgabe oder auch den gesetzlichen Regelungsbe- darf für Biobanken erörtert, auch dies mit dem Ziel, zu klären, ob parlamentarischer Handlungsbedarf er- wächst. Meiner Erfahrung nach ist es sinnvoll, den Ethikbei- rat wieder einzusetzen, weil es dann auf parlamentari- scher Ebene einen konkreten Ansprechpartner für eine Vielzahl von Interessengruppen und für den Deutschen Ethikrat gibt. Viele Themenstellungen erweisen sich nämlich in ihrer ethischen Relevanz als klassische Quer- schnittsthemen. Es ist zumeist erst nach näherer Be- trachtung auszumachen, ob und welche Ausschüsse des Deutschen Bundestages in die Diskussion einzubinden 5404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Dr. Petra Sitte (A) (C) (D)(B) sind, erst recht wenn sich Verknüpfungen zu aktuellen Gesetzgebungsverfahren ableiten. Nicht jeder bzw. je- dem Interessierten, jeder bzw. jedem Wissenschaftler oder jeder Institution sind die parlamentarischen Gre- mien in ihrer inhaltlichen Zuständigkeit, Arbeitsteilung und institutionellen Platzierung bekannt. Auch in diesen Zusammenhängen kann der Ethikbeirat hilfreiche Mitt- lerfunktion hinein in den Bundestag übernehmen. Er soll auch in Zukunft als Begleitgremium ausgestaltet, aber kein eigenständiger Ausschuss werden. Er soll den Aus- schüssen weder in deren inhaltlichen Arbeit vor- noch in deren Kompetenzen eingreifen. In Auswertung der Er- fahrungen aus seiner Tätigkeit in der letzten Legislatur- periode enthält der Antrag dennoch Vorschläge, die Ar- beit des Beirates zu qualifizieren und verbindlicher zu gestalten. Ich halte das für sinnvoll. Ethische Fragen der Lebenswissenschaften stellen sich mit wissenschaftlichem Fortschritt, vor dem Hinter- grund der Globalisierung, der Erweiterung des Kanons von Wertekonzepten und erfolgter oder sich anbahnen- der Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen nicht immer gänzlich neu, aber sehr wohl mit neuen, zu- sätzlichen Problemstellungen. Einmal getroffene Ent- scheidungen sind also durchaus nicht für die Ewigkeit, sondern bedürfen wiederholter Prüfungen, ob sie als Re- aktionen, ob sie als Antworten noch akzeptabel sind oder ob die aktualisierte Datenbasis nicht längst Ände- rungen bzw. Anpassungen erfordert. Der Ethikbeirat sollte beispielsweise als Vorbereitungsgremium mit den Ausschüssen gemeinsam prüfen, ob dem Deutschen Ethikrat Themen zur Befassung anheimgestellt werden sollten. Dass sich sowohl der Präsident des Deutschen Bun- destages, Herr Dr. Lammert, als auch Mitglieder des Deutschen Ethikrates und Vertreter der Kirchen positiv eingestellt auf eine Neueinsetzung des Ethikbeirates ge- zeigt haben, betrachte ich als weitere Gründe, sich im Bundestag ernsthaft und interfraktionell mit diesem Ein- setzungsantrag auseinanderzusetzen. Auf der konstituie- renden Sitzung des Ethikbeirates am 23. April 2008 führte der Präsident des Bundestages aus, dass man sich vom Deutschen Ethikrat notwendige Informationen für die parlamentarische Arbeit verspreche und dass dessen sachverständige Mitglieder am gesellschaftlichen Dis- kurs mitwirkten. Dieser Diskurs solle dann auch in die parlamentarische Arbeit einbezogen werden. Die wich- tigste Aufgabe, so der Bundestagspräsident weiter, sei es, den Deutschen Ethikrat parlamentarisch zu begleiten sowie ethische Sachkompetenz und parlamentarische Arbeit miteinander zu verbinden. In diesem Sinne hoffe ich auf vielfältige Unterstüt- zung und spätere Zustimmung zum Antrag auf Einset- zung eines Ethikbeirates des Deutschen Bundestages. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): 241 Unterzeichner dieses Antrags aus vier Fraktio- nen machen es überdeutlich: Die Wiedereinsetzung des parlamentarischen Ethikbeirats ist längst überfällig und findet zahlreiche Unterstützung, nicht nur bei Parlamen- Zu Protokoll tariern, sondern auch unter anderen beim Präsident der Bundesärztekammer, bei Mitgliedern des Deutschen Ethikrates und Vertretern der Kirchen. Fragestellungen der Bioethik brauchen einen umfassenden gesellschaftli- chen und politischen Diskurs. Die Themenfelder sind komplex und berühren in besonderem Maße die ethi- schen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft; gerade deshalb ist ein intensiver Austausch zwischen Wissen- schaft, Öffentlichkeit und Politik nötig. Das bedeutet auch, dass es nicht ausreicht, ein externes Beratungs- gremium wie den Deutschen Ethikbeirat einzusetzen, ohne gleichzeitig einen Ansprechpartner im Parlament zu verankern. Wir brauchen für die Gewährleistung von parlamentarischer Kompetenz und Sensibilität ein eige- nes fachkompetentes Dialogforum und dürfen Aufga- benbereiche nicht vollständig an ein außerparlamenta- risches Gremium delegieren. Mit der Einsetzung des Deutschen Ethikrates in der 16. Wahlperiode als Nachfolger des Nationalen Ethikra- tes wurde das Gremium durch den Parlamentarischen Beirat zu Fragen der Ethik ergänzt. Doch seit Beginn der neuen Legislaturperiode im September 2009 blo- ckiert Schwarz-Gelb die erneute Einsetzung des parla- mentarischen Gremiums, das eine wichtige Scharnier- funktion übernommen hat und durch die Ausweitung der Kompetenzen, wie es dieser Antrag vorsieht, weiter gestärkt würde. Lassen Sie mich eines zunächst erwähnen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich schätze die Arbeit des Deutschen Ethikrates sehr und sehe die Ein- setzung eines parlamentarischen Beirats in keiner Weise als Konkurrenz. Es geht und ging nie darum, ein Gegen- gremium oder Parallelstrukturen aufzubauen. Nein, der parlamentarische Ethikbeirat hat seine eigene Bedeu- tung und Legitimation. Der Deutsche Ethikrat braucht einen Ansprechpartner im Bundestag; dafür ist der par- lamentarische Beirat das adäquate Gremium. Um Poli- tikberatung erfolgreich zu machen, muss es Abgeordnete geben, die – auch aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Bei- rat – Themen und Empfehlungen aufarbeiten und in die Fraktionsdebatten einbringen. Dies hat auch der Be- richt über die Tätigkeit des Beirats deutlich gemacht: Wir brauchen die Scharnierfunktion zwischen externem Ethikrat und Parlament, um zu verhindern, dass wich- tige ethische Fragestellungen nicht im Alltagsgeschäft untergehen. Die Arbeit des parlamentarischen Beirats hat in den zwei Jahren seiner Existenz Positives geleistet und die Debatte bereichert. Um Themen zu identifizieren, hat sich der Beirat auch mit inhaltlichen Fragestellungen befasst und Expertengespräche beispielsweise zu Nano- technologie, Chimären- bzw. Hybridbildung und synthe- tischer Biologie durchgeführt. Letztgenannter For- schungsbereich, synthetische Biologie, wurde durch den Beirat neu aufgegriffen und damit in seiner Bedeutung gestärkt. Im Anschluss daran wurde im Juli 2009 das Büro für Technikfolgenabschätzung beauftragt, eine Stellungnahme zu den Entwicklungen in der syntheti- schen Biologie unter Einbeziehung der Aktivitäten auf europäischer und internationaler Ebene vorzubereiten. Dennoch haben wir Grünen von Anfang an kritisiert, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5405 gegebene Reden 5406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Priska Hinz (Herborn) (A) (C) (D)(B) dass der Beirat nicht über ausreichende Kompetenzen verfügt und sich die Arbeitsweise nur teilweise bewährt hat. Die Zusammenarbeit zwischen Ethikbeirat und Deutschem Ethikrat kann sich nicht weiterhin darauf beschränken, Stellungnahmen und Berichte entgegenzu- nehmen, sich aber selbst nicht inhaltlich äußern zu dür- fen und Empfehlungen zu erarbeiten. Aus diesem Grund fordern wir in diesem Antrag zu- sätzliche Kompetenzen, damit der Deutsche Bundestag selbstbewusst und in eigenständiger Rolle Positionen aufbereiten kann. Der Beirat soll sich in Zukunft auf dem Wege der Selbstbefassung Schwerpunkte geben können, Empfehlungen vorlegen und Anhörungen durchführen sowie inhaltliche Beschlüsse fassen können. Ethische Fragestellungen gehören in die Mitte des Parlaments und dürfen nicht komplett ausgelagert werden. Durch Abstimmung und Kooperation mit dem Deutschen Ethik- rat würden auch weiterhin keine Doppelstrukturen ent- stehen. Die Einsetzung eines parlamentarischen Ethik- beirates ist dringend geboten. Warum sich die Damen und Herren der CDU/CSU-Fraktion dagegen so zur Wehr setzen, ist mir nicht verständlich. Herr Kollege Feist hat in der FAZ kritisiert, es käme zu einem „Flaschenhals“, wenn ethische Themen auf den Beirat beschränkt blieben. Ich möchten Ihnen ent- gegnen, dass die Einladung des Ethikrates in den For- schungsausschuss und zu parlamentarischen Abenden keine kontinuierliche Behandlung von bioethischen The- men in einem dafür zuständigen Gremium ersetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und FDP, geben Sie sich einen Ruck; stimmen Sie diesem An- trag zu und lassen Sie uns dann im Ethikbeirat konstruk- tiv zusammenarbeiten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1806 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Unterstützung für Alleinerziehende verbes- sern – Drucksache 17/2330 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dorothee Bär, Nadine Müller, Christel Humme, Miriam Gruß, Jörn Wunderlich und Katja Dörner. Dorothee Bär (CDU/CSU): Wir debattieren heute über einen Antrag, von dem die Antragsteller selbst zugestehen, dass er in der Mehrzahl Forderungen an die Bundesregierung enthält, an deren Umsetzung ohnehin bereits seit längerem gearbeitet wird. Die Bundesregierung ist nicht tatenlos geblieben. Alleinerziehende sind in unserer Gesellschaft längst keine Randgruppe mehr. Fast jede fünfte Familie in Deutschland ist alleinerziehend; über 2 Millionen min- derjährige Kinder leben bei ihren alleinerziehenden Müttern oder Vätern. Obwohl der Wunsch alleinerzie- hender Eltern nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit groß ist und die meisten gerne erwerbstätig wären, rei- chen die vorhandenen Rahmenbedingungen häufig nicht aus, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. 41 Prozent der Alleinerziehenden – das sind über 600 000 Eltern mit 1 Million Kindern – erhalten Leis- tungen nach dem SGB II. Es mangelt an Plätzen in Kin- dertagesstätten und Ganztagsschulen sowie an familien- freundlichen Arbeitszeiten. Daher war und ist es richtig, dass Alleinerziehende die besondere Unterstützung der Gesellschaft benötigen und auch bekommen müssen. Bereits in der letzten Legislaturperiode hat die von CDU/CSU geführte Bundesregierung neue Handlungs- konzepte zur Unterstützung Alleinerziehender entwi- ckelt, die jetzt auch im Antrag der Grünen eingefordert werden: Alleinerziehende benötigen finanzielle Unterstützung zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit der Einführung des Elterngeldes, der Weiterentwicklung des Kinderzu- schlags, der Anhebung des Kindergeldes und der Ein- führung des Schulbedarfspakets wurde Erhebliches zur Armutsvermeidung von Alleinerziehenden geleistet. Im Koalitionsvertrag haben Union und FDP zudem verein- bart, den Unterhaltsvorschuss künftig bis zum 14. Le- bensjahr des Kindes zu zahlen. Alleinerziehende benötigen Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben. Um sie in die Lage zu versetzen, selbst für ihren Unterhalt zu sor- gen, hat das Familienministerium vor gut einem Jahr das Modellprojekt „Vereinbarkeit für Alleinerziehende“ aufgelegt. Bis März 2010 sind an 12 Pilotstandorten die Angebote der Arbeitsagenturen und Grundsicherungs- stellen mit der bestehenden Infrastruktur vor Ort ver- zahnt worden. Es entstanden wirksame Netzwerke aus Beratung und praktischer Hilfe vor Ort – von einem abgestimmten Angebot an Kinderbetreuung bis zur zielgenauen Qualifizierung und Beschäftigung, die Al- leinerziehende in die Lage versetzten, sich aus dem Transferbezug zu befreien. Die Pilotprojekte wurden un- terstützt von den Lokalen Bündnissen für Familie und sollen jetzt in die Breite getragen werden. Darüber hinaus hat Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen angekündigt, dass sie dafür Sorge tragen wird, dass in den Jobcentern der Blickwinkel auf Allein- erziehende verändert wird. Jobcenter sollen Alleinerzie- hende nicht länger als schwer vermittelbar ansehen, sondern aktiv mithelfen, ihnen konsequent alle Hürden aus dem Weg zu räumen, die einer Erwerbstätigkeit im Wege stehen. Eine gute Kinderbetreuung zu organisieren und mit den Arbeitgebern flexible und damit familienge- rechte Arbeitsbedingungen aushandeln, ist keine fami- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) (C) (D)(B) lienpolitische Schwärmerei, sondern handfeste zukunfts- weisende Arbeitsmarktpolitik. Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit bleibt für Alleinerziehende eine Leerformel ohne ausreichende und qualitativ hochwertige Angebote der Kinderbetreu- ung. Durch bevorzugte Berücksichtigung von Alleiner- ziehenden bei der Platzvergabe wird diesem Anliegen Rechnung getragen. Der geplante Rechtsanspruch ab 2013 beschränkt sich nicht auf halbtägige Betreuung. Der Umfang der täglichen Unterstützung richtet sich nach dem individuellen Bedarf – und der liegt bei Allein- erziehenden natürlich höher als bei anderen Familien. Auch mit der Forderung nach Qualitätsverbesserung der Kinderbetreuung tragen die Grünen mit ihrem An- trag Eulen nach Athen: Die Bundesregierung unterstützt die für die Aus- und Fortbildung verantwortlichen Bun- desländer in ihrem Bemühen, die Qualität in der Kinder- betreuung kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu ver- bessern. Der Bund beteiligt sich daher nicht nur an den Ausbaukosten für die Betreuungsplätze, sondern auch an den Betriebskosten. Hierzu zählen auch Kosten für zusätzlich erforderlich werdendes Personal. Bund und Länder haben bereits 2008 einen Qualifizierungspakt für Fachkräfte in der Betreuung von Kindern unter drei Jahren beschlossen. Seither wurde einiges erreicht: Seit 2009 ist die Auf- stiegsfortbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher bun- desweit staatlich förderfähig. Für pädagogische Fach- kräfte in Kindertageseinrichtungen wurden Programme für die Fort- und Weiterbildung entwickelt. Über das Bundesbildungsministerium wird die Medienqualifizie- rung der Erzieher gefördert; das BMFSFJ plant ein Pro- gramm zur Erhöhung der Anzahl männlicher Fachkräfte in Kitas. Es gibt das Aktionsprogramm Kindertages- pflege, mit dem Tagespflegepersonen gewonnen werden sollen. Diesen Forderungen der Grünen können wir also nicht nur zustimmen. Wir setzen sie bereits mit unseren eigenen familienpolitischen Konzepten um. Ablehnen werden wir dagegen die weiteren Vorschläge, die keines- wegs primär den Alleinerziehenden nützen. Wir lehnen es ab, das Ehegattensplitting abzuschaffen, da es – an- ders als es im Antrag behauptet wird – sehr wohl zu ei- ner Förderung von Familien führt. Das Zerrbild der kin- derlosen Millionärsgattin, die es sich auf Steuerzahlers Kosten gut gehen lässt, spiegelt ja nun wirklich nicht den Regelfall wider. Ebenfalls ablehnen werden wir die Forderung, die Ankündigung des Betreuungsgeldes aus dem SGB VIII zu streichen, das BAföG durch eine Kin- derkomponente zu ergänzen und eine Kindergrundsiche- rung einzuführen. Auch bleibt es bei der im Sparpaket vorgesehenen künftigen Anrechnung des Elterngeldes auf SGB-II-Leis- tungen. Diese Verrechnung des Elterngeldes bei Lang- zeitarbeitslosen ist uns nicht leicht gefallen. Aber dieser Schritt ist vertretbar, weil der Lebensunterhalt von Langzeitarbeitslosen und ihren Kindern vollständig vom Staat finanziert wird. Zudem werden wir an anderer Stelle das Geld gezielter in bessere Bildungschancen für diese Kinder investieren. Zu Protokoll Weil Alleinerziehende den Alltag mit ihren Kindern alleine meistern müssen und sie bei Haushaltsführung, Kindererziehung und Sicherung des finanziellen Ein- kommens viel stärker gefordert sind als Elternpaare, ha- ben CSU und CDU sie mit einem umfangreichen Maß- nahmenpaket unterstützt und bereits konkrete Hilfen angestoßen. Ich freue mich, dass wir als Familienpoliti- ker der Regierungskoalition dafür auch Unterstützung aus der Opposition zu erfahren scheinen. Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU): Wir diskutieren heute den Antrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen mit dem Titel: „Unterstützung für Al- leinerziehende verbessern“. Das Thema ist ein wichti- ges. Sie wissen, dass es der CDU/CSU-Fraktion und insbesondere den Familienpolitikerinnen und Familien- politikern ein besonderes Anliegen ist, diejenigen zu un- terstützen, die Kinder erziehen und somit für die Zukunft unserer Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Das gilt für Familien, das gilt aber selbstverständlich auch für diejenigen, die diese Verantwortung – ob ge- wollt oder ungewollt – alleine übernehmen. Das sind die Alleinerziehenden. Die Unterstützung für diejenigen zu verbessern, das halte ich für ein wichtiges Anliegen, das Sie in Ihrem Antrag formulieren. Und auch das formuliert der Antrag völlig richtig: Alleinerziehende haben einen besonders schweren Stand in unserer Gesellschaft – und das aus einer ganzen Reihe von Gründen. Signifikante Zahlen dazu findet man im jüngst erschienenen Familienbericht des Familien- ministeriums. Demnach sind von den 8,4 Millionen Fa- milien mit Kindern unter 18 Jahren 1,6 Millionen allein- erziehend – Tendenz steigend. Das bedeutet konkret, dass ungefähr jedes sechste Kind unter 18 Jahren bei ei- nem alleinerziehenden Elternteil aufwächst. In 90 Pro- zent der Fälle sind es die Mütter, die sich alleine um ih- ren Nachwuchs kümmern. Alleinerziehende Frauen und Männer stehen vor zahlreichen und vielfältigen Herausforderungen und Problemen, die sie im Alltag zu bewältigen haben. Zwar haben zwei von drei Elternteilen jemanden, der ihnen bei der Betreuung des Kindes oder mehrerer Kinder hilft. Zumeist sind es enge Verwandte und Freunde, die hier einspringen. Trotzdem haben viele das Gefühl, Fa- milie und Beruf nicht unter einen Hut zu bekommen und auch in anderen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens das Nachsehen zu haben. Dieses Spannungsver- hältnis wird besonders deutlich, wenn man sich vor Au- gen hält, dass zwei Drittel der alleinerziehenden Frauen mit Kindern unter 18 Jahren erwerbstätig sind. Sie kön- nen sich leicht ausmalen, wie wertvoll und vor allem selten freie Zeit wird, wenn sich eine alleinerziehende Mutter oder ein alleinerziehender Vater neben dem Voll- zeitjob noch um das heranwachsende Kind kümmert. Neben erwerbstätigen Alleinerziehenden mit ihren besonderen Problemen gibt es allerdings auch die weit größere Gruppe von Alleinerziehenden, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig finanzieren können. Insbesondere viele alleinerziehende Mütter sind auf Leis- tungen der Arbeitslosenversicherung und des SGB II an- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5407 gegebene Reden Nadine Müller (St. Wendel) (A) (C) (D)(B) gewiesen. Fast drei Viertel der Alleinerziehenden mit drei oder mehr Kindern beziehen Leistungen des SGB II. Diese sehr hohe Hilfsquote hat zur Folge, dass Alleiner- ziehende die gesellschaftliche Gruppe sind, die mit am stärksten unter finanziellen Problemen leidet – während der Erziehungszeit, aber auch im Alter. Vor allem für die Kinder und ihre zukünftige Entwicklung ist dieser Zu- stand sehr problematisch. Mit insgesamt einer Million armutsgefährderter Kinder, die in Alleinerziehenden- haushalten leben, ist diese Gruppe einfach viel zu groß. Diese Zahlen beschreiben die schwierige Lage, in der sich sehr viele Alleinerziehende befinden. Von daher ist ein Antrag zu diesem Thema grundsätzlich berechtigt. Bei der Lektüre der Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen war ich doch etwas verwundert, und ich will Ih- nen sagen, weshalb. Erstens könnte man bei der Lektüre Ihrer Zeilen den Eindruck bekommen, die jetzige Bun- desregierung und auch die Vorgängerregierung hätten sich nicht oder kaum um die Alleinerziehenden und ihre Kinder gekümmert, sie sogar vernachlässigt. Jeder, der Zeitung liest oder sich einmal in seinem Kreis von Ver- wandten und Bekannten umhört, weiß, dass das nicht der Fall ist. Zweitens ist in keiner Weise erkennbar, in welche Richtung Sie mit Ihren Forderungen eigentlich wollen und welches gesellschaftliche Konzept dahinter steht. Da soll mal an dieser Maßnahme etwas rumgedreht werden, mal an jener, und am Ende soll es zusätzliches Geld richten. Allem Anschein nach herrscht in Ihren Reihen eine gewisse Orientierungslosigkeit darüber, wo die familienpolitische Reise denn nun hingehen soll. Und drittens frage ich mich, weshalb Sie die jüngsten Programme und Aktivitäten des Familienministeriums auf dem Gebiet der Alleinerziehenden bewusst ignorie- ren. Ich möchte Sie deshalb recht herzlich einladen, den Blick für das zu öffnen, was die Bundesregierung für Al- leinerziehende und ihre Kinder tut. Ich bin Ihnen dabei auch gerne mit einigen Beispielen behilflich. Schon bei den Fragen, wie alleinerziehende Mütter und Väter Familie und Beruf möglichst widerspruchsfrei vereinbaren können, war und ist das Familienministe- rium sehr aktiv. Vor etwa einem Jahr genau wurde bei- spielsweise ein Projekt ins Leben gerufen, welches auf intelligente Vernetzung unterschiedlicher Akteure setzt und nicht bloß auf die Erhöhung von Leistungen, wie es so häufig von vermeintlichen und selbsternannten Gut- menschen aus dem linken politischen Spektrum gefor- dert wird. Das Programm mit dem Namen „Vereinbar- keit für Alleinerziehende“ knüpft Verbindungen zwischen Trägern der Grundsicherung, Kammern, Ver- bänden, Kommunen sowie Jugendhilfe- und Bildungs- trägern. Auf kurzem Wege wird der Informationsaus- tausch wesentlich verbessert. Alleinerziehende können nun viel einfacher eine auf ihre Bedürfnisse zurechtge- schneiderte Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten erhalten. Die Tür auf den Weg zurück in den Arbeits- markt wird ein Stück weiter aufgestoßen. Gerade am Montag dieser Woche hat das Familien- ministerium eine Impulsveranstaltung zu diesem Pro- gramm durchgeführt. Im Sommer kommt der Abschluss- Zu Protokoll bericht über die Pilotprojekte, und bereits jetzt wird an der Struktur der nächsten Förderperspektiven gearbei- tet. Dieses Programm geht Hand in Hand mit einer Viel- zahl weiterer Maßnahmen und Initiativen, die auf den Weg gebracht wurden. Ich denke dabei an das Pro- gramm „Perspektive Wiedereinstieg“ oder an die zahl- reichen Initiativen des BMAS und der Bundesagentur für Arbeit sowie des BMFSFJ, die den Wiedereinstieg ins Berufsleben und die Vereinbarkeit von Familie und Be- ruf ermöglichen und erleichtern sollen. Dabei ist es ge- rade für Alleinerziehende wichtig, ein flexibles und niedrigschwelliges Netzwerk mit verlässlichen Struktu- ren auf die Beine zu stellen und individuell zugeschnit- tene Angebote zu machen. Dabei gilt es, neue Wege zu gehen und neue Maßnahmen zu erproben sowie erfolg- reiche Modellprojekte in die Fläche zu tragen. Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen von den Grünen, der in Ihrem Antrag mal mehr, mal weniger deutlich er- hobene Vorwurf der Untätigkeit läuft für jedermann er- sichtlich voll ins Leere. Übrigens, wenn ich das hier erwähnen darf: Selbst DGB-Chef Michael Sommer, der ja nicht gerade in dem Verdacht steht, ein Lobbyist schwarz-gelber Gesell- schaftspolitik zu sein, lobt die Anstrengungen des Fami- lienministeriums, die Chancen für Alleinerziehende mit Hartz-IV-Bezug auf eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu erhöhen. Ich finde das bemerkenswert. Kaum anders verhält es sich mit dem in Ihrem Antrag erkennbaren Vorwurf, die Regierungskoalition würde zu wenig für die Kinder von Alleinerziehenden tun. Dem lässt sich einfach entgegenhalten, dass gerade der Aus- bau der Kinderbetreuungsplätze den Bedürfnissen der Familien und Alleinerziehenden entgegenkommt. Die Rahmenbedingungen zur Aufnahme einer vollen Er- werbstätigkeit werden wesentlich verbessert. Und um dann doch mal auf die monetären Leistungen zu sprechen zu kommen, möchte ich natürlich auch nicht die Erhöhung des Kindergeldes im Rahmen des Wachs- tumsbeschleunigungsgesetzes unerwähnt lassen. In die- sem Sinne wurde auch der Kinderfreibetrag von 6 024 auf 7 008 Euro erhöht. Sie sehen, dass auch in finanziell schwierigen Zeiten Schwarz-Gelb Alleinerziehende nicht im Stich lässt, sondern vielmehr auch die materielle Un- terstützung ausbaut. Nicht unerwähnt lassen möchte ich natürlich auch das Elterngeld, das einem alleinerziehenden Elternteil mit alleinigem Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht für eine Dauer von 14 statt 12 Monaten zusteht. Zusätz- liche finanzielle Unterstützung gibt es durch das Wohn- geld. Denn für Berechtigte, die allein mit ihren Kindern zusammenwohnen und wegen ihrer Erwerbstätigkeit oder einer Fortbildung länger außer Haus sind, gibt es einen Einkommensfreibetrag von 600 Euro jährlich für jedes Kind unter zwölf Jahren. Darüber hinaus schießt der Staat Unterhalt vor, wenn dieser für das Kind aus- bleibt. Unserer Koalitionsvertrag sieht dessen Auswei- tung bis zum 14. Lebensjahr der Kinder bei gleichblei- bender Leistungsdauer von maximal sechs Jahren vor. 5408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Nadine Müller (St. Wendel) (A) (C) (D)(B) Ich könnte so noch eine ganze Weile fortfahren, will dies aber mit Blick auf die Zeit nicht tun. Lassen Sie mich aber bitte Folgendes abschließend anmerken: Ihr Antrag bildet keine ernst zu nehmende Alternative zur unserer Familienpolitik und unserer Politik gegenüber alleinerziehenden Müttern und Vätern und ihren Kin- dern. Sie verheddern sich vielmehr im Klein-Klein und im Dickicht von Einzelforderungen, die einen anderslau- tenden Gesamtentwurf vermissen lassen. Es stellt sich ein wenig die Frage: wozu dieser Antrag und weshalb gerade jetzt? Weiter möchte ich noch auf einen anderen, weitestge- hend unerwähnten, aber für mich zentralen Zusammen- hang hinweisen: Meiner persönlichen Einschätzung nach hat die sozialpolitische Debatte um die Lebenswelt von Alleinerziehenden eine gewisse Schieflage. Viele scheinen zu glauben, in der Erhöhung der Bezugsleis- tungen und Vergünstigungen und dem Ausbau der Be- treuungsangebote läge die Lösung. Internationale Stu- dien wie eine der OECD und ein Vergleich zwischen den Bundesländern sprechen da eine andere Sprache. Die OECD sagt deutlich, dass es in Deutschland im Ver- gleich zu anderen Ländern für Alleinerziehende zu we- nige Anreize gibt, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Ich finde, unser Augenmerk sollte verstärkt auf der Frage liegen, wie wir Anreize und Chancen vor allem für Bezieher von Leistungen der Arbeitslosenversiche- rung und des SGB II schaffen können, wieder ihren Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu finden. In diese Richtung zielt unsere Politik für Alleinerziehende, ohne dabei die Unterstützungsleistungen zu vernachlässigen. Wir möchten, dass mehr Menschen ihr Leben und somit auch das ihrer Kinder wieder selbst in die Hand nehmen. Ich möchte dafür werben, uns auf diesem Weg zu unterstüt- zen. Christel Humme (SPD): „Alleinerziehende – von der Gesellschaft im Stich ge- lassen!“ So überschrieb 2007 eine große deutsche Frau- enzeitschrift einen Artikel, der die Lebenssituation, die Sorgen und Nöte von Alleinerziehenden näher unter die Lupe nahm. Wie berechtigt ist diese Beschreibung? Wie ist die Lage von Alleinerziehenden heute? Wie ist ihre Lebens- situation und die ihrer Kinder? – Ich begrüße es, dass sich der Deutsche Bundestag heute erneut mit der Situa- tion von Alleinerziehenden beschäftigt und wir gemein- sam eine Bestandsaufnahme vornehmen können. Sicher ist: den oder die typische Alleinerziehende gibt es nicht. Trotz der unterschiedlichen Lebenslagen haben viele der rund 1,6 Millionen Alleinerziehenden sehr ähnliche Bedürfnisse. 2,2 Millionen Kinder und Jugend- liche unter 18 Jahren leben in Alleinerziehendenhaus- halten – überwiegend bei ihren Müttern, denn 90 Pro- zent aller Alleinerziehenden in Deutschland sind Frauen. Alleinerziehende sind vor besondere Herausforde- rungen gestellt. Die immer noch problematische Verein- barkeit von Familie und Beruf, die ungleiche Bezahlung Zu Protokoll von Frauen und Männern wirken sich bei dieser Gruppe besonders nachteilig aus. Außerdem sind vor allem al- leinerziehende Frauen überproportional stark in Teilzeit oder Minijobs tätig. Staat und Gesellschaft sind hier in vielerlei Hinsicht gefordert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- ten haben in Regierungsverantwortung den Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie nach besten Chancen für alle Kinder aufgegriffen. Beim Ausbau der Kinderbetreuung müssen wir weiter vorangehen und mehr Tempo machen. Denn ein flexi- bles, bedarfsgerechtes und qualitativ gutes Betreuungs- und Bildungsangebot für Kinder aller Altersstufen ist der Schlüssel gerade für Alleinerziehende, Familie und Beruf miteinander verbinden zu können. Um den Bedarf an Betreuungsplätzen vor Ort besser einschätzen zu können, brauchen wir aktuelle Zahlen. Erst auf Grundlage dieser Daten können wir wirklich beurteilen, ob der tatsächliche Bedarf nicht zu niedrig angesetzt sein könnte. Unser gemeinsames Ziel muss sein, von Rostock bis Konstanz ein flexibles und bedarfsgerechtes Betreuungs- angebot für alle Kinder bereitstellen zu können. Denn nur so schaffen wir tatsächliche Wahlfreiheit und er- möglichen es Frauen und Männern, Familie und Beruf so zu vereinbaren, wie sie es möchten. Frau Ministerin, werden Sie aktiv und berufen Sie so schnell wie möglich einen Krippengipfel ein. Auf der Grundlage aktueller Daten muss geklärt werden, wie der Bund die Länder und Kommunen bei dieser wichti- gen gesellschaftspolitischen Aufgabe zusätzlich unter- stützen kann. Ein schneller Ausbau unserer Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur hat höchste Priorität. Nur die Hände in den Schoß zu legen und Zweckoptimismus zu verbreiten, hilft niemandem. Es ist immerhin erfreulich, dass Sie Ihrem Mentor Roland Koch öffentlich widersprochen haben, als dieser den vereinbarten Rechtsanspruch auf einen Betreuungs- platz ab 2013 infrage gestellt hat. Das allein reicht aber nicht aus. Gute und verlässliche Betreuung ist ein zentraler Baustein in der wirksamen Unterstützung von Alleiner- ziehenden. Erwerbstätige Alleinerziehende stehen häufig alleine in der Verantwortung, ein existenzsicherndes Einkom- men für sich und ihre Kinder zu erzielen. Gute Löhne sorgen außerdem für eine existenzsichernde Alterssiche- rung. Da 90 Prozent der Alleinerziehenden Frauen sind, erfahren sie besonders stark die immer noch bestehen- den Diskriminierungen im Erwerbsleben – insbesondere bei der Entlohnung. Denn noch immer verdienen Frauen im Durchschnitt 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Daher brauchen wir endlich gesetzliche Regelungen für gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit sowie einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ist der rich- tige Weg, um Alleinerziehende wirksam vor Armut und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5409 gegebene Reden Christel Humme (A) (C) (D)(B) einer dauernden Abhängigkeit von staatlichen Transfer- leistungen zu schützen. Neben guter Kinderbetreuung, existenzsichernden Löhnen und gezielten finanziellen Hilfen brauchen ar- beitsuchende Alleinerziehende eine individuelle Bera- tung und passgenaue Arbeitsvermittlung in den Arbeits- agenturen sowie speziell auf ihre Lebenssituation zugeschnittene Bildungs- und (Weiter-)Qualifizierungs- angebote. Bildung und Weiterqualifizierung kommt bei Alleiner- ziehenden eine besondere Rolle zu. Mehr als ein Viertel aller Alleinerziehenden und über die Hälfte der allein erziehenden Arbeitslosen haben keinen beruflichen Ab- schluss. Bei jungen Müttern unter 25 Jahren liegt der Anteil sogar bei 70 Prozent. Hier müssen wir mit pass- genauen Bildungs- und Qualifizierungsangeboten anset- zen. Wir haben daher in der großen Koalition den Rechts- anspruch auf das geförderte Nachholen eines Schul- abschlusses durchgesetzt. Jetzt geht es darum, dies während der Kindererziehung auch in Teilzeit zu ermög- lichen. Was hilft nun Alleinerziehenden und ihren Kindern am besten? Sie brauchen einen Mix aus Infrastruktur, zielgerichteter finanzieller Hilfe und Zeit. Stattdessen müssen sie unter der unsozialen Familien- förderung von Schwarz-Gelb ächzen. Neben der unso- zialen Kürzung bzw. gar der Streichung des Elterngeldes für Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II-Leis- tungen ist der aktuelle Familienausgleich ein weiteres Beispiel für eine verfehlte und unsoziale Steuerpolitik. Jedes Kind sollte dem Staat selbstverständlich gleich viel wert sein, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Der aktuelle Familienleistungsausgleich erfüllt dieses Ziel eindeutig nicht. Denn reiche Familien werden über höhere Steuerabzugsmöglichkeiten viel stärker entlastet als Familien mit geringem Einkommen durch ein erhöh- tes Kindergeld. Daher wollen wir einen Kindergrundfreibetrag, denn damit wird jedes Kind wirklich gleich stark gefördert. Durch diesen Abzug von der Steuerschuld würden wir auch Familien mit niedrigem Einkommen und damit auch Alleinerziehende stärker fördern können. Jetzt pro- fitieren hauptsächlich Gut- und Spitzenverdiener von der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs- kosten. Außerdem wollen wir Alleinerziehenden mit dem Kin- derzuschlag zielgenau helfen. Damit wir Alleinerzie- hende mit ihren Kindern mit diesem Instrument besser erreichen können, wollen wir den Kinderzuschlag wei- terentwickeln. Unabhängig davon bleibt unser sozialdemokratisches Ziel: kostenlose Betreuung und Bildung – von der Kita bis zur Universität! Die heutige Debatte mit vielen richtigen Vorschlägen auch aus dem Antrag der Grünen hat es noch einmal deutlich gemacht. Alleinerziehende brauchen ein abge- Zu Protokoll stimmtes Konzept und individuelle Hilfen um in ihrer be- sonderen Situation Berufstätigkeit und Kindererziehung vereinbaren zu können, nicht in Armut abzurutschen und ihren Kindern die Chancen bieten zu können, die sie ver- dient haben. Die SPD hat im April mit dem Beschluss „Alleiner- ziehende – LeistungsträgerInnen unserer Gesellschaft“ ein umfassendes Gesamtkonzept mit konkreten Schritten zur gezielten Förderung dieser Familienform vorgelegt. Und was tut die zuständige Ministerin? Sicherlich nicht nur ich hätte mir gewünscht, dass Frau Schröder auch bei der Verteidigung anderer Posi- tionen ihres Haushaltes als Interessensvertreterin von Millionen Familien und Kindern in diesem Land Wider- stand bei den massiven Haushaltseinschnitten geleistet hätte. Stattdessen hat sie die unsozialen Kürzungen beim Elterngeld und gar die Streichung des Elterngeldes für Empfängerinnen und Empfänger von Hartz IV klaglos hingenommen. Dies, Frau Ministerin, zeigt leider, dass Ihnen offenbar der Zugang und die dramatischen Aus- wirkungen dieser unsozialen Streichungen nicht bewusst sind – oder Sie diese billigend in Kauf nehmen. Stattdes- sen nicken Sie völlig überflüssige Steuerprivilegien für Luxushotels ab. Ich fasse zusammen: Ein überzeugendes Konzept ge- gen Familien- und Kinderarmut und eine zielgerichtete Förderung von Alleinerziehenden ist seitens der zustän- digen Ministerin und der schwarz-gelben Bundesregie- rung leider weit und breit nicht in Sicht. Alleinerziehende und ihre Kinder haben Besseres ver- dient als eine Regierung des sozialen Kahlschlags und eine Fachministerin auf Tauchstation. Miriam Gruß (FDP): Die FDP steht für ein neues, modernes Familienbild, das dem Wandel unserer Gesellschaft gerecht wird. Die- ser Wandel äußert sich unter anderem in der steigenden Zahl von Alleinerzieherhaushalten in Deutschland. Hier sind neue Lösungsansätze von der Politik gefordert. Die allgemeine Prämisse einer modernen liberalen Fami- lienpolitik muss deshalb sein, Konzepte zu entwickeln, die sowohl dem klassischen Familienbild als auch den neuen Realitäten gerecht werden. Die Zahl der Alleinerziehenden in Deutschland steigt, und damit auch die Zahl der Kinder, die in Alleinerzie- herhaushalten aufwachsen. Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe – die meisten Alleinerziehenden sind ge- schieden oder leben in Trennung, andere sind verwitwet. Wieder andere entscheiden sich aber auch ganz bewusst gegen eine traditionelle Form der Familie. So unter- schiedlich die Gründe für die Entscheidung auch sein mögen, so sehen sich doch Alleinerziehende grundsätz- lich ähnlichen Problemlagen gegenüber: Sie können sich im Alltag nicht auf einen Partner verlassen, befin- den sich oftmals in einer ständigen Auseinandersetzung um Unterhalt und Sozialleistungen und müssen sich ge- gebenenfalls eine neue Wohnung oder einen neuen Ar- beitsplatz suchen. Angesichts der Vielzahl von tatsächli- chen Problemen und rechtlichen Fragen unterstützen 5410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Miriam Gruß (A) (C) (D)(B) wir Liberalen die Forderung nach einer Erweiterung von Kindertagesstätten zu Familienzentren. Die finanzielle Situation von Alleinerziehenden ver- schlechtert sich nach einer Trennung oder Scheidung deutlich. Sie haben im Normalfall rund die Hälfte weni- ger Einkommen zur Verfügung als ein vergleichbarer Paarhaushalt mit zwei Kindern. Ehepaare, die getrennt leben, benötigen aber sogar mehr Geld, um den gleichen Lebensstandard zu erreichen wie eine in einem Haushalt zusammenlebende Familie. Das zusätzlich benötigte jährliche Haushaltsnettoeinkommen beträgt im Durch- schnitt fast 10 000 Euro. Die finanzielle Situation ist für das Leben und die Ge- sundheit von Alleinerziehenden und ihren Kindern aber von entscheidender Bedeutung; viel zu viele Kinder aus Alleinerziehendenfamilien leben mit einem Armutsri- siko. Der Anteil der Alleinerziehendenhaushalte, die ALG-II-Leistungen oder Sozialgeld beziehen, ist über- durchschnittlich hoch. Hier werden wir Lösungen und Wege finden, wie diesem Trend entgegengewirkt werden kann. Das Merkmal „alleinerziehend“ darf nicht in di- rekter Verbindung mit prekären finanziellen Verhältnis- sen stehen. Zwei Drittel der nicht erwerbstätigen Alleinerziehen- den würden aber gerne arbeiten. Wir werden daher neue Wege finden müssen, um alleinerziehenden Elternteilen den Weg in den Beruf zu ermöglichen. So ist zu prüfen, wie durch Anreizsysteme die Teilzeitbeschäftigung at- traktiver ausgestaltet werden kann, um die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben zu erleichtern und Al- leinerziehenden so die schrittweise Rückkehr in das Er- werbsleben zu ermöglichen. Was junge Alleinerziehende ohne Abschluss einer Ausbildung oder mit dem Wunsch nach Weiterbildung betrifft, werden wir innerhalb des jetzigen Finanzie- rungssystems bessere Unterstützungsmaßnahmen schaf- fen. Überlegungen wie etwa besondere Darlehen und Stipendien oder Zuschüsse für die Kinderbetreuung für Alleinerziehende während einer (Teilzeit-)Ausbildung oder eines Fernstudiums sind hier mögliche Optionen. Die Regierungsfraktionen setzen sich außerdem dafür ein, als Sofortmaßnahme im Rahmen der bestehenden Ausbildungsförderung für junge Menschen ein Baby- BAföG einzuführen. Danach wird jeder Mutter, die BAföG bezieht, die Möglichkeit eingeräumt, anstelle des jetzt vorgesehenen Darlehensteilerlasses nach Ab- schluss des Studiums für die Dauer ihres BAföG-Bezugs eine Zulage – Baby-BAföG – zu beziehen. Gleichzeitig wollen wir uns bei den Hochschulen, Ländern und Ge- meinden für einen qualitativen und quantitativen Aus- bau der Kinderbetreuung an Hochschulen bzw. an Hochschulstandorten einsetzen. Flexible Arbeitszeitmodelle oder auch Sabbaticals für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden wir gerade auch mit Blick auf die steigende Zahl von Alleinerziehenden ausbauen. Möglichkeiten zur Ver- einbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sind auch im Interesse der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Großbetriebe gehen zu 66 Prozent davon aus, dass fami- Zu Protokoll lienfreundliche Maßnahmen zukünftig an Bedeutung bei der Suche nach qualifiziertem Personal gewinnen wer- den; denn trotz Krise hätten derzeit fast 29 Prozent der Unternehmen Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu finden. Die Bundesregierung hält klar am ab 2013 geltenden Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz fest. Im Be- richt 2008 über den Stand des Ausbaus für ein bedarfs- gerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren wird festgestellt, dass das aktuelle An- gebot an Tageseinrichtungen und der Tagespflege für Kinder im Alter von unter drei Jahren noch gesteigert werden muss, um bis 2013 eine durchschnittliche Be- treuungsquote von 35 Prozent zu erreichen. Hier sind deutliche Anstrengungen in Ländern und Kommunen ge- fragt. Wir befinden uns hierbei aber auf einem sehr gu- ten Weg – in Ostdeutschland liegt die Betreuungsquote schon jetzt bei teilweise 60 Prozent. Im Koalitionsvertrag haben wir weitere Maßnahmen für einen verbesserten qualitativen und quantitativen flexiblen Ausbau bei Trägervielfalt auch unter Einbezie- hung der Tagespflege vereinbart. Hierzu gehört nach Auffassung der Liberalen ein Mix von Elterninitiativen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Tagesmüttern und -vä- tern, privaten und privat-gewerblichen Initiativen und betriebsnahen Einrichtungen, die sich durch Flexibilität der Betreuungszeiten, ein qualitativ hochwertiges Ange- bot oder durch Hol- und Bringdienste der veränderten Nachfragesituation anpassen. In einer Allianz von Bildungs- und Familienpolitik gehören Kindertageseinrichtungen und Tagespflege zum Fundament des Bildungssystems. Kinderbetreuungsein- richtungen und Schulen müssen personell und struktu- rell verlässlich ausgestaltet sein, um ihrem Bildungs- und Betreuungsauftrag umfassend gerecht werden zu können. Ganztagsangebote mit Mittagessen müssen ver- stärkt angeboten werden. Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest: Die Ver- besserung der Situation von Alleinerziehenden stellt klare Forderungen an den Staat, bis zu deren Erfüllung es noch viel zu tun gibt. In diesem Zusammenhang sind jedoch Maßnahmen wie ein flächendeckender Mindest- lohn, wie er im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert wird, nicht der richtige Ansatz. Anstatt Arbeitsplätze zu riskieren, geht es vielmehr darum, bes- sere Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Fa- milie und Beruf besonders auch für Alleinerziehende zu schaffen. Dafür setzen wir uns ein. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Wir befassen uns heute in erster Lesung mit dem An- trag der Fraktion der Grünen, die Unterstützung für Al- leinerziehende zu verbessern. Im September 2008 habe ich zu einem fast gleichlautenden Antrag Ihrer Fraktion festgestellt, dass Ihr Antrag in vielen Dingen die Unter- stützung der Linken findet und richtig gedacht ist. Aber kritisch habe ich auch darauf hingewiesen, dass Ihr An- trag in einigen Positionen nur halbherzig und unkonkret ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5411 gegebene Reden Jörn Wunderlich (A) (C) (D)(B) Mit Interesse habe ich nun den vorliegenden Antrag ge- lesen. Es bleibt die Frage: Was wollen Sie wirklich – ich betone: wirklich – mit dem Antrag erreichen? Wie kon- kret wollen Sie den Alleinerziehenden wirklich helfen? Ich kann nur feststellen: Den Alleinerziehenden wird mit Ihrem Forderungspaket nicht wirklich geholfen. Die Al- leinerziehenden werden wieder alleine gelassen, weil Sie in Ihren Forderungen unkonkret und an der Oberflä- che bleiben. Das Interessante jedoch ist: Mir kommen einige For- mulierungen in Ihrem Antrag bekannt vor. Ich nenne ein Beispiel: In Ihrem Antrag fordern Sie auf Seite 2 unter Punkt II.1, um die spezifischen Benachteiligungen Al- leinerziehender auszugleichen, den Rechtsanspruch auf ganztägige Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen. Eine langjährige Forderung der Linken! Bei Ihnen gibt es nur eine kleine Einschränkung: Sie haben sich nicht getraut, unsere Forderung nach Gebührenfreiheit mit zu übernehmen. Weiterhin wollen Sie spezifische Benachteiligungen in der Steuerpolitik für die Alleinerziehenden ausglei- chen. – Wie schön. Welche spezifischen Benachteiligun- gen meinen Sie? Was wollen Sie ändern? Und – falls es Ihnen nicht aufgefallen sein sollte – Sie haben den gan- zen Abschnitt zu den Steuererleichterungen für die Al- leinerziehenden, wie er im alten Antrag noch enthalten war, im vorliegenden Antrag gestrichen. Was soll das also? Weiter wollen Sie – Spiegelstrich 10 – „… gemeinsam mit den Ländern im BAföG eine Kinder- komponente … ergänzen, die eine bessere Vereinbarkeit von Elternschaft und Studium während der Ausbildungs- phase ermöglicht …“. Diese Kinderkomponente gibt es bereits. Es wäre doch im Interesse der Alleinerziehenden besser, über eine Anhebung der Kinderkomponente nachzudenken. Ich komme zu Punkt II.2 Ihres Antrages: Mit den For- derungen zu den Regelsätzen gehen wir konform. Wo bleiben Ihre Forderungen zum Kinderzuschlag? 67 Pro- zent der Alleinerziehenden nehmen den Kinderzuschlag in Anspruch; ein Großteil, obwohl er dadurch geringere Leistungen erhält als beim ALG II, und dies nur, um Hartz IV zu entkommen. Im Wissen darum, dass die Kin- der derjenigen damit zwar aus der Hartz-IV-Statistik, nicht aber aus der Armut verschwinden, verzichten Sie auf konkrete Forderungen. Wir fordern die Ministerin auf, die Einkommensgrenzen zu streichen, den Kinderzu- schlag auf wenigstens 200 Euro anzuheben und den Mehrbedarf für Alleinerziehende als Erhöhungsbetrag auszuzahlen. Damit wäre den Alleinerziehenden spür- bar geholfen. Ich komme zu Punkt II.3: Ihre Forderungen klingen genauso unverbindlich, wie die Formulierungen im Ko- alitionsvertrag der Bundesregierung. Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag: Wir wollen die Rahmenbedingungen für Alleiner- ziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern. Dieses soll insbesondere in verlässlichen Netzwerk- strukturen für Alleinerziehende lückenlos, flexibel und niedrigschwellig bereitgestellt werden. Zu Protokoll In Ihrem Antrag klingt es sinngemäß: gemeinsam mit den Ländern Unterstützungsangebote für Alleinerzie- hende im sozialen Nahraum etablieren, um bei der Be- wältigung von multiplen Problemlagen zu helfen. – Was soll das? Sie bleiben auch hier Ihren unverbindlichen Forderungen treu. Zum Schluss noch zum Punkt II.4 Ihres Antrages: Ich zitiere: Die Benachteiligung von Transferempfängern beim Elterngeld, die insbesondere Alleinerziehende be- trifft (wieder) zu beseitigen. Sie wollen hier etwas abschaffen, was noch gar nicht geltendes Recht ist? Was soll diese Forderung? Fazit: Wenn Sie den Alleinerziehenden wirklich hel- fen wollen, dann lassen Sie uns konkrete Vorschläge er- arbeiten. Es müssen sofort spürbare Veränderungen auf den Tisch, wenn die Politik nicht weiter an Glaubwür- digkeit verlieren soll. Mit Ihrem Antrag wollen Sie of- fene Türen einlaufen? Nein! Sie bleiben wieder vor den offenen Türen stehen und suchen verzweifelt nach der Klinke. Eine materielle Sicherstellung der Alleinerzie- henden lässt Ihr Antrag vermissen. Lassen Sie uns bes- ser gemeinsam eine Lösung finden – im Interesse aller Kinder. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer Kinder erzieht, verdient Respekt. Doch Respekt und warme Worte allein reichen nicht! Familien brau- chen gute Rahmenbedingungen und tatkräftige Unter- stützung. Das gilt umso mehr für Alleinerziehende. Sie sind im Alltag stärker belastet, müssen viele schwierige Entscheidungen oft alleine treffen und sind in kritischen Situationen oft auf sich gestellt. Alleinerziehende sind öfter von Armut betroffen als Paare mit Kindern. Auf- grund dieser Belastungen haben Alleinerziehende sogar einen schlechteren Gesundheitszustand. Alleinerzie- hende sind keine Randgruppe in unserer Gesellschaft. Nahezu jedes siebte Kind in den alten Bundesländern wird von einem Elternteil allein großgezogen. In den neuen Bundesländern ist es sogar jedes fünfte Kind. Fa- milie in Deutschland ist bunt und vielfältig. Dem müssen die Unterstützungsstrukturen in der Familienpolitik Rechnung tragen. Ein Blick in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag macht einen fast glauben, Union und FDP hätten das verstanden. Denn dort heißt es: „Wir wollen die Rah- menbedingungen für Alleinerziehende durch ein Maß- nahmenpaket verbessern. Dieses soll insbesondere in verlässlichen Netzwerkstrukturen für Alleinerziehende lückenlos, flexibel und niedrigschwellig bereitgestellt werden.“ Der Blick auf das Regierungshandeln ist umso ernüchternder. Was unternimmt die Bundesregierung denn tatsächlich für Alleinerziehende? Den Anspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren zu ver- teidigen, reicht nicht. Die Herausforderungen in diesem Bereich sind riesig: Nicht nur quantitativ, auch qualita- tiv brauchen wir deutliche Verbesserungen. Wo sind die Ganztagsplätze, auf die berufstätige Mütter so dringend angewiesen sind? Was unternimmt die Bundesregierung, 5412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5413 Katja Dörner (A) (C) (D)(B) um die Einkommenssituation von Alleinerziehenden zu verbessern? Passiert etwas in Richtung sozialer und ge- sundheitlicher Unterstützung? Nein, passiert ist nichts. Im Gegenteil: Die Koalition hat sich gerade von der Re- form des Kinderzuschlags verabschiedet, von der vor al- lem Alleinerziehende profitieren sollten. Auch in der Versenkung verschwunden sind Pläne zur Verbesserung des Unterhaltsvorschusses, der gezahlt wird, wenn un- terhaltspflichtige Väter keinen Unterhalt leisten. Die Koalition macht Politik mit sozialer Schieflage, von der Alleinerziehende entweder gar nicht profitieren oder die sie stärker als andere Familien belasten. Dazu ein Beispiel: Die Kindergelderhöhung auf 184 Euro bringt 38 Prozent der Alleinerziehenden keine Verbesse- rung; denn sie bekommen ALG-II-Leistungen und das Kindergeld wird komplett angerechnet. Für diese Kinder und ihre Eltern bedeutet es nicht nur leer auszugehen, sondern noch weitere 20 Euro weniger zu haben als an- dere. Ebenso sind Alleinerziehende durch die Streichung des Sockelbetrages beim Elterngeld überproportional betroffen. Und Arbeitsministerin von der Leyen setzt dem allen die Krone auf. Sie garniert die geltende Geset- zeslage zur Arbeitsförderung und Arbeitsvermittlung mit Allgemeinplätzen und Propaganda und nennt das Ver- mittlungsoffensive für Alleinerziehende. Die Koalition befindet sich seit acht Monaten in permanenten Start- schwierigkeiten. Zu Taten wird sie sich wohl schwerlich durchringen. Zu leiden haben darunter gerade die Fa- milien und Kinder, die sowieso schon mehr schultern müssen als andere. Alleinerziehende brauchen gezielte Unterstützung. Sie brauchen wirksamen Schutz vor Armut und Arbeits- losigkeit, und daher eine funktionierende adäquate Ar- beitsvermittlung und eine gerechte Kindergrundsiche- rung. Sie brauchen qualitativ hochwertige ganztägige Kinderbetreuung, und damit es mit dem Rechtsanspruch schnell klappt und überhaupt klappt, muss sich die Bun- desregierung noch mal mit Ländern und Kommunen zu- sammensetzen, realitätstaugliche Zahlen auf den Tisch legen und ein faires, solides Finanzierungssystem verab- reden. Alleinerziehende brauchen aber auch niedrig- schwellige Unterstützungsangebote, die ihnen den All- tag erleichtern und ihre Gesundheit stärken statt Sparmaßnahmen bei Gesundheit und Jugendhilfe. Bislang verweigern Sie diesen Familien die notwen- dige Unterstützung. Angesichts der Aussage im Koali- tionsvertrag will ich aber die Hoffnung noch nicht auf- geben, dass wir auf der Grundlage der Vorschläge in unserem Antrag gemeinsam Maßnahmen in die Wege leiten, um Alleinerziehende und ihre Kinder besser zu unterstützen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2330 an den Ausschuss für Familie, Se- nioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind Sie da- mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18: Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Krischer, Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Steinkohlesubventionen jetzt überprüfen – Drucksache 17/2142 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar die Reden der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Rolf Hempelmann, Paul K. Friedhoff, Ulla Lötzer und Oliver Krischer. Thomas Bareiß (CDU/CSU): Das Thema Steinkohlesubventionen ist ein schwieri- ges und emotionales Thema. Dies hat vielerlei Gründe. Zum einen entsteht diese Emotionalisierung durch die große Bedeutung der Steinkohle in unserem derzeitigen Energiemix und die langjährige Tradition in Deutsch- land, zum anderen aufgrund ihrer Bedeutung als lang- jährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrgebiet. Erstens. Bedeutung von Steinkohle: Stein- und Braun- kohle sind die einzigen heimischen fossilen Energieroh- stoffe und haben daher eine besondere Bedeutung für Deutschland. Weltweit ist Deutschland mit circa 24 Millio- nen Tonnen geförderter Steinkohle im Jahr hinter bei- spielsweise China, den USA, Indien, Australien und Russ- land weltweit auf Platz zehn bei der Förderung von Steinkohle. Innerhalb der EU liegt Deutschland nach Polen auf Platz zwei. Bei der aktuellen Förderquote liegt die Reichweite der deutschen Kohle bei etwa 400 Jahren. Insbesondere die Menschen in der Region haben eine besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem historische Gründe. Das Ruhrgebiet gilt als eine der be- deutendsten deutschen und europäischen Industrie- regionen. Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie mög- lich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war der Stein- kohlebergbau ein Fundament für den Wiederaufbau. In den 50er-Jahren erreichte der Steinkohlebergbau einen Anteil von über 10 Prozent am Bruttosozialprodukt. Heute hat die Steinkohle einen Anteil von 14 Prozent am Endenergieverbrauch und 18 Prozent am Brutto- stromverbrauch. Kurz- und mittelfristig wird sie nicht ohne Weiteres substituiert werden können. Dies ist be- sonders daran erkennbar, dass die Absicherung der Mit- tellast fast ausschließlich von Steinkohlekraftwerken be- reitgestellt wird. Mögliche Alternativen sind zwar Erd- und Biogas. Verglichen mit den Herstellungskosten von rund 3 Cent – ohne Subventionen – für die Herstellung einer Kilowattstunde Strom aus Steinkohle, sind trotz der Erhöhung des Herstellungspreises aufgrund des Weg- falls der Subventionierung Erdgas oder Biogas eine sehr Thomas Bareiß (A) (C) (D)(B) unwirtschaftliche Alternative zur Bereitstellung der Mit- tellast. Demnach wird mittelfristig die Steinkohle auch weiterhin eine wichtige Rolle in unserem Energiemix spielen. Der starke Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland ermöglicht höhere Minderungsziele für den CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber auch – und das sage ich in aller Deutlichkeit – den Neubau von Kohle- kraftwerken notwendig. Diese werden zur Ergänzung des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwankenden Angebots an erneuerbaren Energien dringend ge- braucht. Zudem ermöglicht der Bau von neuen, hoch effizien- ten Kraftwerken das Abschalten alter und ineffizienter Anlagen aus Klimaschutzgründen. Exemplarisch ist das zurzeit im Bau befindliche Kohlekraftwerk Datteln, das zu den modernsten seiner Art gehört. Mit einem Wir- kungsgrad von 45 Prozent ist Datteln eines der effizien- testen Steinkohlekraftwerke weltweit und spart gegen- über Altkraftwerken 20 Prozent CO2 pro erzeugter Kilowattstunde Strom. Mithilfe von Kraftwärmekopp- lung – KWK – kann dabei ein Nutzungsgrad von über 50 Prozent erreicht werden. Andere Länder setzen zunehmend auf Steinkohle. In China gehen jede Woche mehrere Kohlekraftwerke ans Netz. Obwohl die Chinesen bereits der größte Steinkoh- leförderer weltweit sind, importieren sie sogar Stein- kohle aus anderen Ländern. Auch die massiven Investi- tionen der USA in CCS und die Entscheidung der EU für CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Steinkohle durch- aus Zukunft hat. Zweitens. Steinkohleförderung in Deutschland: Was die Zukunft der Steinkohleförderung in Deutschland an- geht, ist Folgendes zu sagen: Mit dem Steinkohlefinan- zierungsgesetz aus 2007 ist eine wichtige ordnungspoli- tische Grundsatzentscheidung getroffen und der größte Subventionsabbau seit Bestehen der Bundesrepublik be- schlossen worden. Der deutsche Steinkohlebergbau ist seit vielen Jahren aufgrund seiner ungünstigen geologi- schen Bedingungen international nicht wettbewerbsfä- hig. Milliardenschwere Subventionen, fast zwei Milliar- den Euro pro Jahr in den letzten Jahren waren bisher notwendig, damit der deutsche Steinkohlebergbau wett- bewerbsfähig bleibt. Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt be- reits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht er- reichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirt- schaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies soll nicht heißen, dass die Förderung von Stein- kohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist, sondern dass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit stehen muss, was übrigens für alle Energieträger gilt. Folglich teile ich die Meinung der Antragsteller, dass die Beendigung der Steinkohlesubventionierung drin- gend notwendig war. Der Ausstiegsbeschluss von 2007 war somit richtig und wichtig und stellt meines Erach- Zu Protokoll tens einen gelungenen Kompromiss zwischen der Not- wendigkeit des Subventionsabbaus und dem Schutz der Arbeitnehmer in dieser Branche dar. Drittens. Revisionsklausel: Im Steinkohlefinanzie- rungsgesetz wurde festgelegt, dass dem Deutschen Bun- destag bis spätestens 30. Juni 2012 ein Bericht zugelei- tet wird, auf dessen Grundlage nochmals geprüft werden soll, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung der Ge- sichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Ener- gieversorgung und der übrigen politischen Ziele weiter gefördert werden soll. In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieser Bericht und somit die Revision der Steinkohleförderung vorgezogen werden soll. Ein Vorziehen der Revision erachte ich nicht nur für unnötig, sondern auch für falsch. Die wichtigste Komponente der Wirtschaftspolitik ist es, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich die Unternehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen können. Es wurde seinerzeit eine gute Regelung getrof- fen, auf die sich die Region und die Menschen dort ver- lassen. Diesen Vertrauensschutz und die Planungssi- cherheit dürfen wir keinesfalls gefährden. Im Sinne einer verlässlichen Wirtschaftspolitik halte ich ein Fest- halten an der derzeitigen Regelung für notwendig. Zudem halte ich es für sinnvoll, den Abschluss der Szenarienberechnungen für das Energiekonzept am 27. August und das vollständige Energiekonzept, das Ende November dieses Jahres fertiggestellt sein wird, abzuwarten. Darin werden die Strategien und Ziele für die Energiepolitik der nächsten Jahre festgelegt; ebenso, wie der künftige Energiemix aussehen wird. Auch die Bedeutung von Steinkohle wird hierin klarge- stellt werden. Demnach bin ich der Meinung, dass das Energiekonzept zunächst abgewartet werden sollte. Ferner machen eine erneute Überprüfung und ein Be- richt zu dieser Frage durch die Bundesregierung erst auf Grundlage des Energiekonzepts Sinn, da darin energie- politische Ziele und Aspekte der Energieversorgung zu- grunde gelegt werden müssen, was erst abschließend mit Verabschiedung des Energiekonzepts erfolgen wird. In dem Bericht muss ergebnisoffen und sachlich fest- gestellt werden, ob der Steinkohleabbau in Deutschland wirtschaftlich und wettbewerbsfähig ist und welche Rolle Steinkohle im Energiemix der nächsten Jahre und Jahrzehnte in Deutschland spielen wird. In dem Bericht der Bundesregierung müssen alle Belange abgewogen und Veränderungen, die seit Verabschiedung des Be- schlusses eingetreten sind, mit einbezogen werden. Viertens. Sofortiger Ausstieg: Ferner fordern Sie eine frühere Beendigung des Steinkohlebergbaus, als sie im Steinkohlefinanzierungsgesetz festgelegt wurde – 2018 –, da dies den Haushalt belasten würde. Angesichts der derzeitigen Haushaltslage und der empfindlichen Spar- anstrengungen, die jedes Ressort zu tragen hat, sind alle Subventionierungen genauestens auf den Prüfstand zu stellen. Ich bin grundsätzlich gegen Subventionierun- gen, jedoch muss in jedem Einzelfall genau abgewogen werden, welche sonstigen Auswirkungen das hat. 5414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Thomas Bareiß (A) (C) (D)(B) Richtig ist, dass mit dem Steinkohlefinanzierungsge- setz von 2007 ein historischer Schritt in Richtung Sub- ventionsabbau getan wurde. Was den endgültigen Zeit- punkt des Auslaufens der Subventionen angeht, ist zu sagen: Ein früherer Ausstieg als 2018 ist grundsätzlich möglich, jedoch zu dem Preis, dass viele Tausend Be- schäftigte in dieser Branche kurzfristig in die Arbeitslo- sigkeit entlassen werden – und das in einer ohnehin von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Region. Ich denke, zur Zeit des Ausstiegbeschlusses wurde ein vernünftiger Konsens mit allen Beteiligten – Beschäftig- ten, Unternehmen und Politik – geschlossen, der seine Berechtigung hat. Diese Regelung beendet die Subven- tionierung im deutschen Steinkohlebergbau auf sozial- verträgliche Weise. Der vereinbarte Ablaufzeitraum bis 2018 stellt sicher, dass betriebsbedingte Kündigungen im Steinkohlebergbau vermieden werden können. Ferner dürfen wir die durch langwierige politische Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und die damit entstandene Planungssicherheit und das Ver- trauen in die getroffene Regelung nicht zerstören. Ange- sichts der Größe der Branche, über die wir reden, brau- chen wir einen sozialverträglichen Ausstieg aus der Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen Men- schen eine vernünftige Perspektive bieten will. Fünftens. Fazit: Die Revision der Vereinbarung zur Beendigung der subventionierten Förderung der Stein- kohle im Jahr 2012 durch den Bundestag wie auch den Zeitpunkt des endgültigen Ausstiegs 2018 beizubehalten, halte ich aus den eben genannten Gründen für sinnvoll und richtig. Ich sehe daher keine Veranlassung, an dem Auslaufen der Steinkohlesubventionen und der angemes- senen Übergangs- und Revisionsfrist zu rütteln. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird Ihren Antrag aus diesem Grund ablehnen. In Ihrem Antrag zeigt sich ferner die unsachliche und ideologisch geprägte Einstellung der Grünen im Bereich der Energiepolitik. Weder ist der Einsatz moderner Koh- lekraftwerke gewünscht noch der Betrieb von Kernkraft- werken als Brücke in das regenerative Zeitalter. Aber auch Sie müssen einsehen, dass wir bei der Energiever- sorgung nicht von heute auf morgen auf Wind und Sonne umschalten können. Sie fordern einen Strukturwandel in der Energiepolitik, doch wird von Ihnen kein schlüssiges Konzept vorgelegt, wie ohne fossile Brennstoffe kurz- und mittelfristig die Grund- und Mittellast im Besonde- ren, die Energieversorgung im Allgemeinen sicher und bezahlbar abgesichert werden soll. Rolf Hempelmann (SPD): Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erinnert im vor- liegenden Antrag an die Revisionsklausel des Stein- kohlefinanzierungsgesetzes von 2007. Hintergrund ist der 2007 nach intensiven Verhandlungen getroffene Kompromiss zwischen Bund, Nordrhein-Westfalen, dem Saarland, der RAG AG und der IGBCE zur weiteren Zu- kunft des deutschen Steinkohlebergbaus. Der damals vereinbarte Fahrplan sieht einen sozialverträglichen Auslaufpfad für die subventionierte heimische Stein- kohleförderung bis zum Jahr 2018 vor. Eine darin ent- Zu Protokoll haltene Revisionsklausel eröffnet die Möglichkeit, dass der Steinkohlekompromiss spätestens im Jahr 2012 noch einmal im Lichte aktueller energiepolitischer Rahmen- bedingungen überdacht wird. Auf diese Weise hat sich Deutschland die Möglichkeit zur Fortführung der heimi- schen Steinkohleförderung in Form eines Sockelberg- baus erhalten. Die SPD hat immer deutlich gemacht, dass die Op- tion der Revision spätestens 2012 – möglichst schon früher – gezogen werden muss. Insofern kann meine Fraktion den Antrag der Grünen allein dem Titel nach unterstützen. Inakzeptabel ist jedoch, dass mit dem An- tragstext der Versuch unternommen wird, der geforder- ten Überprüfung ein Ergebnis vorwegzunehmen. Denn mit dem Wunsch nach einem frühzeitigeren Auslaufen des Steinkohlebergbaus fordern die Grünen nichts ande- res als die Aufkündigung des Steinkohlekompromisses. Als SPD-Fraktion sind wir ganz klar der Auffassung, dass die Revisionsklausel eine ergebnisoffene Prüfung vorsieht. Beide Pfade – sowohl der Auslaufpfad bis 2018 als auch die Fortführungsperspektive als Sockel- bergbau – müssen gleichberechtigt geprüft und im Lichte aktueller Entwicklungen bewertet werden. Bei der Ausarbeitung des Steinkohlekompromisses wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass der notwen- dige Anpassungsprozess und Strukturwandel sozialver- träglich ausgestaltet wird und ohne betriebsbedingte Kündigungen ablaufen soll. Das Jahr 2018 steht für die Maßgabe der Sozialverträglichkeit. Der im Jahr 2007 vereinbarte Fahrplan schaffte lang erwartete Klarheit für die Betroffenen und stellte die Weichen für einen be- rechenbaren Strukturwandel. Wenn die Grünen jetzt ei- nen frühzeitigeren Ausstieg aus dem heimischen Stein- kohlebergbau einfordern, so tun sie das auf Kosten der hierzulande beschäftigten Bergleute und der mittelbar vom Bergbau abhängigen Arbeitnehmer. Neben dem Strukturwandel ist das Thema der heimi- schen Steinkohleförderung aber auch eine Frage der Energieversorgungssicherheit. Die Wirtschaftlichkeit des deutschen Steinkohlebergbaus wird in dem Antrag der Grünen kategorisch verneint. Die Schlussfolgerung ist der frühzeitige Ausstieg. Ganz so einfach darf man sich es nicht machen. Es ist keine Frage, dass der Steinkohlebergbau in Deutschland wegen der schwieri- gen Förderbedingungen heute nicht wettbewerbsfähig ist. Die Versorgung mit Importkohle gilt als zuverlässig und sicher. In der Zukunft droht das Marktgleichgewicht jedoch durcheinander zu geraten, weil die stark wach- sende Nachfrage in Asien nicht gleichgewichtig durch die Erschließung neuer Quellen ausgeglichen wird. Wir wissen, dass wir in hohem Maße von Energieimporten abhängig und damit Preisentwicklungen an den interna- tionalen Rohstoffmärkten weitgehend ausgeliefert sind. Der Weltenergierat warnte kürzlich in einer Studie, dass Deutschlands Energieversorgungsrisiko wesentlich höher sei als das in anderen Industriestaaten. Daher muss im Rahmen einer Prüfung zumindest in Erwägung gezogen werden, uns den Zugang zu hiesigen Förder- stätten zu erhalten. Denn einmal aufgegebene Förder- quellen können nicht wieder reaktiviert werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5415 gegebene Reden Rolf Hempelmann (A) (C) (D)(B) Auch die Preisentwicklung zeigt in der Tendenz, dass eine zunehmende Annäherung der hiesigen Förderkos- ten an den Weltmarktpreis nicht ganz unwahrscheinlich ist. Im Jahr 2008 schraubten sich die Energiepreise in- folge steigender Ölpreise drastisch nach oben. Die Kraftwerkskohle stieg im Preis von 62 Euro pro Tonne im Jahr 2006 um 64 Prozent auf 112 Euro im Jahr 2008. Im Zuge der Rezession brachen die Kohlepreise wieder ein. Aber das dürfte nicht von Dauer sein – der Trend zeigt inzwischen wieder nach oben. Daher muss die Überprüfung des Steinkohlekompromisses ergebnisoffen und im Lichte dieser neuen Entwicklungen durchgeführt werden. Das bedeutet auch, dass vorab keine Fakten ge- schaffen werden dürfen, die den sozialverträglichen Au- slaufpfad bis 2018 gefährden bzw. eine Fortführung- sperspektive als Sockelbergbau über 2018 hinaus von vornherein ausschließen. Die SPD-Fraktion plädiert dafür, den allzu einseiti- gen Antrag abzulehnen. Wir sehen die Bundesregierung vielmehr in der Bringschuld, endlich ihr lang angekün- digtes Energiekonzept vorzulegen und konkrete Maßnahmen aufzuzeigen, die den erfolgreichen Ausbau der erneuerbaren Energien fortführen und darüber hinaus erlauben, die enormen Potenziale im Bereich der Energieeffizienz und der Energieeinsparung zu heben. Denn neben den existierenden Optionen wie der heimi- schen Steinkohle sind diese beiden Themen zentrale Baustellen auf dem Weg zu mehr Unabhängigkeit von in- ternationalen Rohstoffmärkten.. Paul K. Friedhoff (FDP): Die FDP im Deutschen Bundestag setzt sich bereits seit über 20 Jahren für ein geordnetes Auslaufen des subventionierten Steinkohlebergbaus in Deutschland ein. Zusammen mit der erfolgreichen Koalition von CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen wurde eine Eini- gung über das Ende des Steinkohlebergbaus auf den Weg gebracht. An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass die FDP grundsätzlich nichts gegen den Abbau von Steinkohle in Deutschland hat, zumindest so lange nicht, wie dieser ohne Subventionen auskommt und keine Gefahren für die Menschen und die Umwelt schafft. Wenn beim Abbau Schäden verursacht werden, so müssen die aus der abgebauten Steinkohle gewon- nenen Erträge ausreichen, um für die entstehenden Schäden dauerhaft aufzukommen. Diese Voraussetzun- gen aber sind in Deutschland seit mehr als drei Jahr- zehnten nicht mehr erfüllt. So hat sich beispielsweise der Preis für eine Tonne Importkohle nach einem kurzen Hoch im Herbst 2008 schon im Jahr 2009 wieder bei ei- nem Wert eingependelt, der etwa einem Drittel dessen entspricht, was für eine Tonne deutsche Steinkohle aus- gegeben werden muss. Deshalb hat sich die FDP als ein- zige politische Partei bereits in den 80er-Jahren für eine konsequente Beendigung der Steinkohlesubventionen eingesetzt. Zu jener Zeit haben die Vorgänger derjeni- gen, die heute hier mit ihrem Antrag einen schnelleren Ausstieg fordern, gegen uns massiv demonstriert. Wie nötig aber unser langfristiger Einsatz für den Ausstieg war und weiter ist, zeigt sich daran, dass der deutsche Steuerzahler seit 1990 bereits über 137 Mil- Zu Protokoll liarden Euro für die unrentable Steinkohleförderung in Deutschland ausgeben musste. Fast 10 Prozent aller di- rekten Subventionen gehen in Deutschland noch immer in dunkle Schächte statt in helle Köpfe. Der Rohstoff Bil- dung ist unsere Zukunft und nicht die unrentable Stein- kohleförderung. Der Ende 2007 errungene Kompromiss im Steinkoh- lefinanzierungsgesetz hat zu Recht die Weichen Rich- tung Auslaufbergbau gestellt und einen realitätsfernen Sockelbergbau abgelehnt. Das Ziel bleibt klar: In enger Abstimmung mit den Landesregierungen muss weiterhin geprüft werden, ob und wie der Ausstieg aus der subven- tionierten deutschen Steinkohle beschleunigt werden kann, ohne dass geschlossene Verträge und Zusagen ge- brochen werden. Angesichts des hohen Qualifikations- niveaus der deutschen Bergleute habe ich jedoch auch keine Bedenken, dass die Beschäftigten sozialverträg- lich unsubventioniert in anderen Bereichen eingesetzt werden können. Sozialverträglichkeit muss in diesem Zusammenhang auch heißen: verträglich für alle Steu- erzahler. Denn sie müssen die Gelder erarbeiten, mit denen der Staat die unrentablen Kohlearbeitsplätze auf- rechterhält. An höchster Stelle muss bei allem die Sicherheit derer stehen, unter deren Wohnstätten noch abgebaut wird. Erdbeben wie im Saarland 2008 oder eine Gefährdung durch Hochwasser können nicht hingenommen werden. Wenn solche Gefahren drohen, ist der Abbau unter den gefährdeten Regionen sofort einzustellen. Die FDP-Bundestagsfraktion steht mit der Bundesre- gierung für den eingeleiteten Strukturwandel. Auch die weiteren politischen Akteure sind aufgefordert, diese Aufgabe tatkräftig zu unterstützen. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Grünen wollen sich offensichtlich in Berlin Schützenhilfe für die Koalitionsverhandlungen in NRW organisieren. Tatsächlich ist die Frage der Kohlepolitik umstritten zwischen SPD und Grünen. Der hier vorlie- gende Antrag macht das sehr deutlich. Die Grünen wol- len offensichtlich den Steinkohlekompromiss aufkündi- gen. Bereits jetzt und nicht erst 2012 soll über die Frage des Sockelbergbaus entschieden werden mit der Absicht, den Sockel jetzt zu den Akten zu legen und ein vorgezo- genes Ende des Steinkohlebergbaus einzuleiten. Das lehnen wir ab. Natürlich ist die Verstromung von Kohle eine der Hauptursachen für Treibhausemissionen bei der Energieerzeugung. Wir teilen auch das Nein zum Bau neuer Kohlekraftwerke in NRW. Zusammen mit ei- ner Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken blockie- ren Kohlekraftwerke den auch in NRW dringend benö- tigten Umstieg auf erneuerbare Energien. Die Grünen berücksichtigen aber eines nicht: Die Technologiesparte der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr als 15 000 Menschen in NRW. Mit dem Erhalt eines Steinkohlesockels können ein moderner Maschinen- und Anlagenbau und hoch qualifizierte Stellen erhalten wer- den. Die hierfür benötigten Mittel des Bundes sollten an Bedingungen geknüpft und degressiv gestaltet werden. Deshalb halten wir nach wie vor an einem Steinkohle- 5416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 gegebene Reden Ulla Lötzer (A) (C) (D)(B) sockel, verbunden mit einem Ausstieg aus der Kohlver- stromung, fest. Das gilt in besonderem Maße auch für die Ausbildungsplätze. Statt einer Diskussion über die Aufkündigung der Revisionsklausel sollten die Grünen in den Koalitionsverhandlungen in NRW endlich einen Dialog mit Gewerkschaften und Handwerkskammern über die Zukunft von Jugendlichen in den betroffenen Bergbauregionen aufnehmen. Das wäre ein Stück not- wendiger Politikwechsel für NRW. Mit den Forderungen in ihrem Antrag stellen die Grünen natürlich die Sozial- verträglichkeit des Abbaus infrage. Das betrifft die früh- zeitigere Beendigung und vor allem die Prüfung der Kürzung von Subventionen. Sozialverträglichkeit und Politikwechsel gehen anders. Wir treten dafür ein, die freiwerdenden Mittel so lange für die Bewältigung des Strukturwandels einzuset- zen, bis ausreichend Ersatzarbeitsplätze geschaffen sind. Für die betroffenen Regionen im Ruhrgebiet und im Saarland ist eine Strukturpolitik zu entwickeln. Schwerpunkt soll eine gezielte Ansiedlungsstrategie für Unternehmen im Maschinen- und Anlagebau und im Be- reich der erneuerbaren Energien werden. Sie fordern Transparenz in der Verwendung der Sub- ventionen und der Mittel der RAG-Stiftung. Das reicht nicht. Wir haben schon 2007 davor gewarnt, dass durch die privatrechtliche Steinkohle-Stiftung unter dem Dach der RAG auf jegliche Einflussnahme der öffentlichen Hand beim Ausstieg verzichtet wurde. Das Konzept der Bundesregierung, über die private RAG-Stiftung den Steinkohlebergbau abzuwickeln, ohne die Steuerzahle- rinnen und Steuerzahler noch mehr zu belasten, ist ge- scheitert, bevor es losging. Die öffentliche Stiftung hätte die strukturpolitischen Aufgaben im Ausbildungsbe- reich, im öffentlichen Beschäftigungssektor und bei den Wohnungsbauunternehmen übernehmen können. Man hätte so einen Strukturwandel organisieren können, hin zu einer verstärkten Energieeffizienz und zu einer ver- stärkten Nutzung erneuerbarer Energien. Der DGB und der Naturschutzbund in Nordrhein- Westfalen sind sich der Verantwortung im größten In- dustrie- und Energieerzeugerland bewusst. Sie fordern: Der sozial-ökologische Umbau dieses Bundeslandes braucht gesellschaftlichen Dialog statt Konfrontation. Sie gehen mit dem Antrag den Weg der Konfrontation. Das lehnen wir ab. Wir werden dies auch im Landtag zum Thema machen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2007 das Gesetz zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten Steinkohlebergbaus zum Jahr 2018 verabschiedet. Die Entscheidung, den subventionierten Steinkohlebergbau zu beenden war richtig und überfällig, auch wenn der Ausstieg sozialverträglich, das heißt ohne betriebsbe- dingte Kündigungen, unserer Meinung nach auch schon deutlich früher möglich gewesen wäre. Der deutsche Steinkohlebergbau hat mit seinen Revieren im Ruhrge- biet, im Saarland und in der Aachener Region eine große Geschichte. Ohne ihn wäre die Industrialisierung unseres Landes und auch der Wiederaufbau nach dem Zu Protokoll Zweiten Weltkrieg kaum vorstellbar gewesen. Doch schon in den 1960er-Jahren zeichnete sich ab, dass die Steinkohle aufgrund der geologischen Gegebenheiten hierzulande auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich ge- winnbar sein würde. Importkohle war billiger und au- ßerdem sank die Bedeutung der Steinkohle im deutschen Energiemix. Um den Steinkohlebergbau dennoch zu er- halten, wurden mehr und mehr staatliche Subventionen eingesetzt. Doch den Niedergang des Bergbaus konnten die staatlichen Mittel nicht aufhalten. Heute sind es ge- rade noch einmal 5 Bergwerke, die übrig geblieben sind. Die Zahl der Beschäftigten liegt bei unter 5 Prozent, im Vergleich zu den Hochzeiten in den 1950er-Jahren. Was immer auch die Motive für die Steinkohlesubven- tionen waren, den notwendigen Strukturwandel in den Revieren haben sie eher behindert als gefördert. Die künstliche und dauerhafte Erhaltung nichtwirtschaftli- cher Strukturen ist für betroffene Regionen und die ganze Volkswirtschaft schädlich statt nützlich. Während die Förderkosten der deutschen Bergwerke in den letz- ten Jahren zwischen 122 und 181 Euro je geförderter Tonne je nach Bergwerk lagen – im Falle des Bergwerks Ost sogar deutlich über 200 Euro je Tonne –, sind die Erlöse für die Steinkohle nicht über 70 Euro hinausge- kommen. Und selbst 2008, als die Preise für Energieroh- stoffe weltweit explodiert waren, betrug der Erlös deut- scher Bergwerke 116 Euro je Tonne und erreichte damit trotzdem nicht die Förderkosten. Dabei muss man be- denken, dass diese Angaben zu den Förderkosten nicht einmal alle Kosten beinhalten, die der Bergbau verur- sacht. Altlasten und Ewigkosten – wie zum Beispiel die auf ewig zu zahlenden Kosten der Wasserhaltung und Polderung im Ruhrgebiet und am Niederrhein, die erfor- derlich sind, damit die durch den Bergbau um bis zu 25 Meter abgesenkten Gebiete nicht absaufen – sind bei den Förderkosten gar nicht eingerechnet. Jeder weitere Bergbau in Zukunft führt zu neuen Bergschäden, Altlasten und Ewigkosten, die angesichts der fehlenden wirtschaftlichen Perspektive und der öf- fentlichen Milliardensubventionen unverantwortlich sind. Deshalb ist es richtig, den Bergbau so schnell wie möglich auch schon vor dem im Gesetz verankerten Ter- min 2018 sozialverträglich zu beenden. Dazu schlagen wir vor, die im Steinkohlefinanzierungsgesetz verankerte Revisionsklausel von 2012 auf dieses Jahr vorzuziehen und schnell zu prüfen, welche Perspektiven der Bergbau tatsächlich noch hat. Wir wollen für die Belegschaften, für die Kommunen und für die Bergbaubetroffenen schnellstmögliche Klarheit, wann die verbliebenen Bergwerke geschlossen werden. Dann können sich alle auf die Zeit nach dem Bergbau schon heute einstellen. Und vielleicht gelingt es uns bei diesem Prozess, Mög- lichkeiten aufzuzeigen, wie die Mittel des Bundes für den Steinkohlebergbau reduziert werden können. Jedenfalls ist das ein seriöser Weg, den Bundeshaushalt zu entlas- ten. Nicht seriös ist, wenn wie in den letzten Wochen von einer Reihe von Koalitionspolitikern – so auch von Herrn Wirtschaftsminister Brüderle – die Senkung der Steinkohlesubventionen gefordert wird, und danach kommt dann nichts mehr, kein konkreter Vorschlag, wie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5417 gegebene Reden 5418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Oliver Krischer (A) (C) (D)(B) man in der Sache angesichts der von der Großen Koali- tion geschaffenen Rechtslage und bis 2013 bereits erteil- ter Bewilligungsbescheide, die Subventionen reduzieren will. Solche substanzlosen Forderungen sind nicht an- ders als Populismus, Effekthascherei für die schnelle Schlagzeile. Dass die RAG heute schon angesichts gestiegener Weltmarktpreise für Steinkohle einen Teil der Subventio- nen zurückzahlen muss, ist ein Mechanismus, den die Grünen in der rot-grünen Koalition in Berlin und Düs- seldorf 2004 durchgesetzt haben. Davon profitieren die Haushalte des Bundes und des Landes NRW heute. Vor- her war es nämlich so, dass die RAG Subventionen bekam, unabhängig von den Weltmarktpreisen und den Erlösen für die deutsche Kohle. So hat die öffentliche Hand der RAG viele Hundert Millionen Euro, wenn nicht Milliarden geschenkt, die gar nicht für den Betrieb der Bergwerke benötigt wurden. Wir machen heute den konkreten und umsetzbaren Vorschlag, die Revisionsklausel vorzuziehen. So kann man vielleicht tatsächlich die Subventionen für den Bergbau reduzieren und es nicht nur populistisch for- dern. Ein schnellerer, sozialverträglicher Ausstieg ist möglich und sinnvoll, wenn man diese Option im Rah- men der Revisionsklausel ernsthaft prüft. Allen Beteilig- ten muss aber auch klar se bergbau noch Milliarden kosten wird, auch wenn das letzte Bergwerk längst stillgelegt ist. Es gibt erhebliche Zweifel, ob die Mittel der RAG-Stiftung für die Altlasten und Ewigkosten reichen werden. Deshalb sollten wir handeln, damit neue Bergschäden und damit verbun- dene Altlasten und Ewigkosten erst gar nicht mehr ent- stehen. Dazu haben wir einen konkreten Vorschlag unterbreitet, den wir gerne mit Ihnen in der Sache disku- tieren würden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2142 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind, wie ich sehe, damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 2. Juli 2010, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch eine heitere Sommernacht. .05 Uhr) 49. Sitzung, Seite 4992 (C), dritter Absatz, der zweite Gesetzentwurf zustimmen wo llen, um das Handzeichen.“ Satz ist wie folgt zu lesen: „Ich bitte diejenigen, die dem in, dass uns der Steinkohle- (Schluss: 22 Berichtigung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5419 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/ UN-Hybrid-Operation in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Si- cherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und Folgeresolutionen (Drucksa- chen 17/1901, 17/2173) (49. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 9 b) Mein Name ist in der Liste der Antragsteller nicht aufgeführt. Ich erkläre, dass mein Votum „Ja“ lautet. Anlage 3 Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Gerd Bollmann (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 3): Wie sieht der weitere Zeitplan für die Umsetzung der Ab- fallrahmenrichtlinie vor dem Hintergrund aus, dass zum 12. Dezember 2010 die Abfallrahmenrichtlinie der EU in na- tionales Recht umgesetzt werden muss, da bis jetzt nur ein nicht abgestimmter Arbeitsentwurf vorliegt und bei Nichtein- haltung der Umsetzungsfrist ein Strafverfahren droht? Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit stimmt derzeit den Referentenentwurf zur Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes innerhalb der Bundesregierung ab und beabsichtigt, diesen mög- lichst noch vor der Sommerpause in die offizielle Anhö- rung der Beteiligten Kreise zu geben. Nach Auswertung der Anhörung und endgültiger Abstimmung innerhalb der Bundesregierung ist der Entwurf bei der Europäi- schen Kommission zu notifizieren und soll dann noch in diesem Jahr vom Bundeskabinett beschlossen werden. Die Befassung des Bundesrates und Bundestages wird 2011 erfolgen. Die Bundesregierung weist darauf hin, dass der Kom- mission der Arbeitsentwurf zur Novelle des Kreislauf- wirtschaftsgesetzes bereits vorliegt. Das Bundesministe- rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit steht im Übrigen mit der Kommission in einem Dialog über die Umsetzung. Wesentliche für die Notifizierung relevante Fragen, die vor allem mit der Neuregelung der kommunalen Überlassungspflichten zusammenhängen, werden von der Kommission im Übrigen im Zusammen- hang mit der Beantwortung des Auskunftsersuchen, COMP/B-1/39734 – Deutsche Haushaltsabfälle, vom 9. April 2010 bereits vorab geprüft. Anlage 4 Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Dr. Herrmann Scheer (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 4): Welche Erfahrungen hinsichtlich der regionalen Wert- schöpfung und der Akzeptanz von Windenergieanlagen bei Kommunen liegen der Bundesregierung nach der Einführung des besonderen Gewerbesteuersplittings für Windkraftanlagen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergesetzes vor, und wie bewertet sie diese Regelung hinsichtlich des weiteren Ausbaus der Onshore-Windenergie? Für Gemeinden, in denen Windenergieprojekte ge- plant sind bzw. betrieben werden, hat die Regelung zur Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aigner, Ilse CDU/CSU 01.07.2010 Beckmeyer, Uwe SPD 01.07.2010 Buchholz, Christine DIE LINKE 01.07.2010 Dyckmans, Mechthild FDP 01.07.2010 Freitag, Dagmar SPD 01.07.2010 Friedhoff, Paul K. FDP 01.07.2010 Groth, Annette DIE LINKE 01.07.2010 Gruß, Miriam FDP 01.07.2010 Haibach, Holger CDU/CSU 01.07.2010 Heil (Peine), Hubertus SPD 01.07.2010 Höger, Inge DIE LINKE 01.07.2010 Lange, Ulrich CDU/CSU 01.07.2010 Möller, Kornelia DIE LINKE 01.07.2010 Nietan, Dietmar SPD 01.07.2010 Özoğuz, Aydan SPD 01.07.2010 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01.07.2010 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 01.07.2010 Zapf, Uta SPD 01.07.2010 5420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Verteilung des Gewerbesteueraufkommens Rechtssi- cherheit geschaffen. Gleichzeitig stellt die Regelung ei- nen erheblichen wirtschaftlichen Anreiz für die Neuaus- weisung von Windeignungsgebieten dar. Damit trägt die Regelung zu einem erheblichen Teil mit dazu bei, die vorhandenen Windpotenziale im Konsens zwischen Ge- meinden und Investoren zu erschließen. Dies zeigt sich in einer neuen erkennbaren Dynamik bei der Auswei- sung neuer Windeignungsgebiete seit 2009, was auf eine deutlich verbesserte Akzeptanz zurückzuführen ist. Anlage 5 Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Dr. Herrmann Scheer (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 5): Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die An- reize für Gemeinden zur Ausweisung von Flächen zur Wind- energienutzung in § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergeset- zes auch nach einer möglichen Abschaffung der Gewerbe- steuer erhalten bleiben, und wie werden die Interessen der Er- neuerbaren-Energien-Branche im Rahmen der Arbeit der Ge- meindefinanzkommission angemessen berücksichtigt? Die unter Leitung des Bundesministers der Finanzen stehende Gemeindefinanzkommission prüft unter ande- rem Vorschläge zum Ersatz der Gewerbesteuer durch ei- nen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit Hebesatzrecht für die Kommu- nen. Diese Vorschläge befinden sich derzeit in der Dis- kussion. Aussagen zu Detailfragen sind derzeit noch nicht möglich. Die Bundesregierung ist von der Notwen- digkeit überzeugt, dass die Grundsätze und Ziele des § 29 Abs. 1 Nr. 2 Gewerbesteuergesetz bei einer Neu- ordnung der Gemeindefinanzierung entsprechend zu be- rücksichtigen sind. Der Kommission gehören auch Vertreter der kommu- nalen Spitzenverbände an. Für den Arbeitsschwerpunkt Kommunalsteuern wurde eine Arbeitsgruppe gebildet. Vertreter von Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerk- schaften werden in geeigneter Weise in die Arbeit der Kommission eingebunden. Anlage 6 Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage der Abgeordneten Ute Vogt (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 8): Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit Forschungsergebnisse, dass die Stickstoffoxidemissionen von Euro-5-Lkw im Realbetrieb deutlich höher sind als bei der Festlegung der Abgasgrenz- werte für diese Fahrzeuge erwartet, und besteht die Absicht, ein Beschwerdeverfahren gegen die Hersteller einzuleiten? Dem BMU sind Ergebnisse eines Forschungsvorha- bens des niederländischen Forschungsinstituts TNO be- kannt. Den Ergebnissen dieses Vorhabens zufolge zeig- ten die untersuchten Euro-5-Lkw im außerstädtischen Betrieb und auf Autobahnen hohe NOx-Minderungsra- ten. Im innerstädtischen Betrieb seien die NOx-Minde- rungsraten geringer als in früheren Abschätzungen er- wartet; trotzdem werde mit Euro 5 eine Verbesserung des NOx-Emissionsverhaltens erreicht. Die Prüfung der Belastbarkeit der Ergebnisse des Vorhabens ist noch nicht abgeschlossen. Die Ergebnisse des Vorhabens wurden jedoch bereits in Brüssel im zu- ständigen Kommissionsfachgremium, der Motor Vehicle Emission Group, unter Leitung der Europäischen Kom- mission, erörtert. Die Bundesregierung hat die Europäi- sche Kommission in dieser Sitzung eindringlich gebeten, sich des Sachverhaltes anzunehmen und eine Überprü- fung und Erörterung durchzuführen. Die Europäische Kommission hat dies zugesagt. Anlage 7 Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 9): Ist der Bundesregierung die Studie „Distant origins of Arctic black carbon: A Goddard Institute for Space Studies ModelE experiment“ von Dorothy Koch und James Hanson aus dem Jahr 2005 bekannt, die die Klimarelevanz von Die- selruß nachweist und die Auswirkungen auf das regionale Klima in der Arktis thematisiert? Die angesprochene Studie ist der Bundesregierung bekannt. Die Studie thematisiert die Herkunftsquellen von Ruß, der eine nachgewiesene Wirkung auf das re- gionale Klima der Arktis hat. Die Klimarelevanz von Ruß als solche wird in dieser Studie nicht thematisiert. Gemäß der Studie könnte ein großer Teil der Rußparti- kel, die in der Arktis gemessen werden, aus Verbrennung von Kohle und Diesel und von Biomasse in Südasien stammen. Europa trägt gemäß dieser Studie zu etwa 10 bis 15 Prozent zu diesen Emissionen bei. Anlage 8 Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) (Drucksa- che 17/2285, Frage 10): Wenn die Klimarelevanz von Dieselruß und die Auswir- kungen auf das regionale Klima in der Arktis der Bundesre- gierung bekannt sind, wann gedenkt die Bundesregierung ein konkretes Minderungsziel für Dieselruß in ihre nationale Kli- maschutzpolitik zu integrieren? Der Beitrag von Ruß zur globalen Erwärmung ist Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, seine Quantifizierung, etwa durch den IPCC in seinem 4. Sachstandsbericht, ist mit großen Unsicherheiten be- haftet. Wegen der sehr kurzen Lebensdauer von Ruß im Vergleich zu den langlebigen Treibhausgasen hat eine Minderung von Rußemissionen praktisch keine Auswir- kung auf die langfristige globale Temperaturentwick- lung. Insofern sind die Aktivitäten der Bundesregierung zur Vermindung der Rußpartikel Gegenstand der Luft- reinhaltepolitik und nicht der Klimapolitik. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5421 (A) (C) (D)(B) Anlage 9 Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 11): Wäre es aus Sicht des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit rein technisch möglich, die restlichen auf dem Gelände des GKSS-Forschungszen- trum Geesthacht befindlichen abgebrannten Brennstäbe des Forschungsschiffes „Otto Hahn“ in Deutschland, insbeson- dere auf dem Gelände des dem GKSS-Gelände sehr nahe ge- legenen Atomkraftwerks Krümmel zu verpacken – unabhän- gig von der aktuellen genehmigungsrechtlichen Situation –, und ist es aus Sicht des BMU sinnvoll, für radioaktive Stoffe möglichst kurze Transportwege – bitte mit Begründung – zu wählen? Die Grundlagen für den Umgang mit Kernbrennstof- fen sind die Anforderungen des Atomgesetzes und der zugehörigen Verordnungen. Daher sieht die Bundesre- gierung keine Möglichkeit für eine rein technische Be- trachtungsweise. Die Planungen zur Entsorgung der bestrahlen Kern- brennstoffe des ehemaligen Forschungsschiffes „Otto Hahn“ sind durch das Bundesministerium für Forschung und Bildung sorgfältig geprüft und vorbereitet worden, die Möglichkeit einer Einbeziehung des benachbarten Kernkraftwerkes Krümmel hat sich nicht ergeben. Die bereits zahlreichen erfolgten Stilllegungen von kerntechnischen Einrichtungen in Deutschland erfordern in Einzelfällen längere Transportwege. Darüber hinaus ist die Streckenlänge für die Transportsicherheit nicht entscheidend. Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage der Abgeordneten Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 15): Mit welchem Ergebnis hat es zum laut Presseinformatio- nen geplanten Wechsel des Forschungszentrums Borstel von der Leibniz-Gemeinschaft in die Helmholtz-Gemeinschaft be- reits eine Befassung des Wissenschaftsrates gegeben, bzw. in welcher Form ist eine Befassung des Wissenschaftsrates vor- gesehen? Eine Befassung des Wissenschaftsrates ist nicht er- folgt und bisher nicht vorgesehen. Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Sönke Rix (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 16): Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der beim letzten Bil- dungsgipfel zwischen Bund und Ländern bekräftigten bil- dungspolitischen Ziele gerade im Bereich der Hochschulpoli- tik, angesichts der jüngst verlängerten Exzellenzinitiative und des Hochschulpaktes und angesichts der von der Bundeskanz- lerin Dr. Angela Merkel angekündigten „Bildungsrepublik“ – aus der Absicht der schleswig-holsteinischen Landesregie- rung, die Wirtschaftsstudiengänge in Flensburg und die Medi- zinische Fakultät in Lübeck – was zugleich wohl das Aus für die Universität Lübeck insgesamt wäre – zu schließen, und welche Maßnahmen sind vonseiten der Bundesregierung zur Sicherung der Hochschulstandorte Lübeck und Flensburg ge- plant? Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären Strukturen fallen nach dem geltenden föderalistischen Kompetenzgefüge in die originäre Zuständigkeit des Landes Schleswig-Holstein. Die Initiierung konkreter Maßnahmen ist vonseiten der Bundesregierung daher nicht geplant. Anlage 12 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Sönke Rix (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 17): Welcher finanzielle Beitrag käme dem Land Schleswig- Holstein durch die von der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, angeregte Rücknahme der mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeführten Sub- vention für Hoteliers zugute, und könnte damit eine Schlie- ßung der Hochschulstandorte in Flensburg und Lübeck ver- hindert werden? Die Umsatzsteuermindereinnahmen durch die im Wachstumsbeschleunigungsgesetz erfolgte Ausdehnung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf Beherber- gungsdienstleistungen betragen jährlich rund 945 Mil- lionen Euro. Davon entfallen auf die Länder rund 422 Millionen Euro. Diese verteilen sich auf die einzel- nen Bundesländer entsprechend § 2 Finanzausgleichsge- setz nach der Einwohnerzahl. Anlage 13 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 18): Gab es Gespräche zwischen der Bundesministerin für Bil- dung und Forschung, Dr. Annette Schavan, und dem schles- wig-holsteinischen Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen mit dem Ziel, einen Weg zur Rücknahme der im Wachstums- beschleunigungsgesetz eingeführten Mehrwertsteuersubven- tion für Hoteliers auszuarbeiten oder abzustimmen? Nein. Anlage 14 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 19): Welche Maßnahmen wurden zwischen dem Bund und dem Land Schleswig-Holstein besprochen bzw. vereinbart, um der drohenden Schließung von Spitzenuniversitäten wie der Uni- versität Lübeck entgegenzuwirken, und zu welchem Ergebnis sind die Verhandlungen zwischen dem schleswig-holsteini- 5422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) schen Ministerpräsidenten und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung bzw. dem Bundeskanzleramt gelangt? Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären Strukturen fallen nach dem geltenden föderalistischen Kompetenzgefüge in die originäre Zuständigkeit des Landes Schleswig-Holstein. Die Initiierung konkreter Maßnahmen ist vonseiten der Bundesregierung daher nicht geplant. Anlage 15 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Florian Pronold (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 20): Wie will die Bundesregierung der zu beobachtenden Ten- denz, dass sich die Länder zunehmend aus den Programmen wie beispielsweise dem Hochschulpakt, der Exzellenzinitia- tive oder dem Pakt für Forschung und Innovation, die sie mit dem Bund vereinbart haben, zurückziehen, entgegenwirken, und wie will sie den daraus resultierenden Defiziten begeg- nen? Die Bundesregierung teilt Ihre Beobachtung nicht, dass sich die Länder zunehmend aus mit dem Bund ver- einbarten Programmen wie beispielsweise dem Hoch- schulpakt, der Exzellenzinitiative oder dem Pakt für For- schung und Innovation zurückziehen. Vielmehr gibt es neue gemeinsame Vereinbarungen, wie zum Beispiel das am 10. Juni 2010 beschlossene Programm zur Verbesse- rung der Studienbedingungen und der Qualität der Lehre. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefin und die Regierungschefs der Länder haben im Juni 2009 die Fortführung von Hochschulpakt 2020, Exzellenzini- tiative und Pakt für Forschung und Innovation mit erheb- lichen zusätzlichen Mitteln für Wissenschaft und For- schung beschlossen. In Umsetzung dieses Beschlusses haben Bund und Länder in der Gemeinsamen Wissen- schaftskonferenz am 21. Juni 2010 den Haushalt der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen For- schungsgemeinschaft für das Jahr 2011 mit einer 5-Pro- zent-Steigerung gegenüber 2010 beschlossen und damit ihre gemeinsamen Verpflichtungen aus dem Pakt für Forschung und Innovation erfüllt. Anlage 16 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Florian Pronold (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 21): Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Einschätzung der Hochschulrektorenkonferenz, dass die Schließung des Medizinstudiengangs an der Universität Lü- beck eine Provokation sei (Der Tagesspiegel, „Lübeck als Modell?“, 9. Juni 2010) und dass diese Entscheidung einen falschen Schritt mit weitreichenden Konsequenzen, und zwar nicht nur für die Universität Lübeck und das Land Schleswig- Holstein, sondern für die Bundesrepublik Deutschland insge- samt, darstelle, und wie gedenkt die Bundesregierung im ak- tuellen Fall sowie in denkbaren kommenden Fällen auf die Schließung von exzellenten Studiengängen und Universitäten zu reagieren? Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent- scheidungen zur Grundfinanzierung einzelner Hoch- schulen. Die Initiierung konkreter Maßnahmen ist von- seiten der Bundesregierung daher nicht geplant. Insgesamt weist die Bundesregierung darauf hin, dass das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 ver- einbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, ge- samtstaatlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt. Anlage 17 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen der Abgeordneten Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 22 und 23): Welche Auswirkungen hat die Schließung der Hochschul- standorte in Flensburg und Lübeck auf die Erreichung des Ziels, bis zum Jahr 2015 mit Mitteln des Bundes 275 000 Stu- dienplätze schaffen zu wollen, und inwieweit sieht die Bun- desregierung hier Handlungsbedarf, insbesondere in Bezug auf die Umsetzung und Weiterentwicklung des Hochschul- paktes? Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um – angesichts der Finanzsituation und der Sparzwänge der Länder – in entsprechenden Situationen die Kürzung im Bil- dungs- und Wissenschaftsbereich oder gar die Schließung von kompletten Hochschulen zu verhindern, und welche rechtli- chen Voraussetzungen sind hierfür notwendig, etwa hinsicht- lich der von der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, angeregten Abschaffung des Koopera- tionsverbotes? Zu Frage 22: Die Systematik des Hochschulpakts 2020 und die ent- sprechenden Mittel des Bundes sind an die tatsächliche bundesweite Aufnahme zusätzlicher Studienanfängerin- nen und Studienanfänger und nicht an die Existenz ein- zelner Hochschulstandorte geknüpft. Die Bundesregie- rung geht davon aus, dass die Länder, wie im Hochschulpakt 2020 vereinbart, ein bedarfsgerechtes Studienangebot zur Verfügung stellen. Dies sind verein- barungsgemäß rund 275 000 zusätzliche Studienanfän- gerinnen und Studienanfänger in den Jahren 2011 bis 2015. Insofern besteht aus Sicht der Bundesregierung kein Bedarf für eine Anpassung des Hochschulpakts. Zu Frage 23: Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte selbstständig und unabhängig vom Bund. Unbeschadet davon gilt weiterhin das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 in Dresden vereinbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaat- lich 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung auf- zuwenden. Zum Erreichen dieses Ziels sind keine Ände- rungen der rechtlichen Voraussetzungen notwendig. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5423 (A) (C) (D)(B) Anlage 18 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 24): Hat sich die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel mit der hochschulpolitischen Situation in Schleswig-Holstein be- fasst, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundeskanzle- rin aus den aktuellen Debatten für die Weiterführung der Pläne zur Schaffung einer „Bildungsrepublik Deutschland“? Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte selbstständig und unabhängig vom Bund. Unbeschadet davon gilt weiterhin das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 in Dresden vereinbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaat- lich 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung auf- zuwenden. Zum Erreichen dieses Ziels sind keine Ände- rungen der rechtlichen Voraussetzungen notwendig. Anlage 19 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 25): Hat die Bundesregierung eine Lösung zum Erhalt der Uni- versität Lübeck nach dem Modell des Karlsruher Instituts für Technologie, KIT, also des Zusammenschlusses einer Univer- sität in Landeshoheit mit Aufgaben in Lehre und Forschung und einer Großforschungseinrichtung der Helmholtz-Gemein- schaft mit programmorientierter Vorsorgeforschung im Auf- trag des Staates, geprüft, und zu welchem Ergebnis ist die Prüfung gekommen? Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären Strukturen in Lübeck fallen nach dem geltenden födera- listischen Kompetenzgefüge in die originäre Zuständig- keit des Landes Schleswig-Holstein. Konkrete Aussagen der Bundesregierung zu Modellbeispielen oder Umset- zungsszenarien sind vor dem Hintergrund des geltenden föderalistischen Kompetenzgefüges und des aktuellen Verfahrensstandes nicht angezeigt. Anlage 20 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 26 und 27): Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Äußerungen des Bundesministers für Gesundheit bezüglich des drohenden Ärztemangels – aus der seitens der schleswig-holsteinischen Landesregierung angekündigten Schließung der in den Hoch- schulrankings immer bestplatzierten Medizinerausbildung in Lübeck? Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Länder – der schleswig-holsteinische Wissenschaftsminister bei- spielsweise hat festgestellt, dass sich das Konsolidierungsland Schleswig-Holstein „zu viel Exzellenz“ nicht mehr leisten kann (Pressemitteilung des wissenschaftlichen Personalrats der Universität zu Lübeck vom 23. Juni 2010) – angesichts der Finanzkrise und der Sparzwänge zunehmend wissen- schaftliche Exzellenz nicht mehr finanzieren können, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung auch vor dem Hintergrund der jüngst verlängerten Bund-Länder-Initia- tiven Hochschulpakt, Exzellenzinitiative und Pakt für For- schung und Innovation aus den offenkundig massiven Finan- zierungsproblemen der Länder hinsichtlich des Erhalts wissenschaftlicher Exzellenz? Zu Frage 26: Angesichts der föderalen Kompetenzverteilung und der Zuständigkeit der Länder für die Hochschulen kann die Bundesregierung die Einrichtung oder Schließung von Studiengängen durch einzelne Länder nicht steuern. Der Bund leistet bereits mit dem Hochschulpakt 2020 ei- nen Beitrag zur Finanzierung der Medizinausbildung in Deutschland. Zu Frage 27: Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent- scheidungen zur Grundfinanzierung der Hochschulen und zu weiteren Maßnahmen, die die Leistungsfähigkeit der einzelnen Hochschulen in Forschung und Lehre un- terstützen. Wichtige Voraussetzungen für Innovationen und ein langfristiges Wachstum sind wissenschaftliche Exzel- lenz und hochqualifizierter Nachwuchs. Die Bundesre- gierung hat diesen Zusammenhang auch im Lichte der Finanz- und Wirtschaftskrise betont und leistet bereits zahlreiche Beiträge zur Stärkung von wissenschaftlicher Exzellenz an Hochschulen. Die Bundesregierung steht darüber hinaus zu den Verpflichtungen, die sie gemein- sam mit den Ländern beim Hochschulpakt 2020, der Ex- zellenzinitiative und dem Pakt für Forschung und Inno- vation eingegangen ist. Sie sieht diese gemeinsamen Programme und die darin verfolgten Zielsetzungen auch durch die Länder nicht infrage gestellt. So haben Bund und Länder zum Beispiel in der Gemeinsamen Wissen- schaftskonferenz am 21. Juni 2010 in Umsetzung des Pakts für Forschung und Innovation den Haushalt der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen For- schungsgemeinschaft für das Jahr 2011 mit einer 5-Pro- zent-Steigerung gegenüber 2010 beschlossen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 vereinbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaatlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt. Anlage 21 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 28 und 29): Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Redu- zierung der Staatsausgaben zulasten von Bildung und Wissen- 5424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) schaft zwar einen einfachen, aber grundfalschen Weg bei der Haushaltskonsolidierung darstellt, dass – sollte das Beispiel Lübeck Schule machen – die Universität Lübeck bundesweit vermutlich nur die erste Universität ist, deren Existenz gefähr- det ist, und dass angesichts der Haushaltssituation zahlreicher Bundesländer weitere Universitätsschließungen in anderen Konsolidierungsländern folgen dürften? Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache, dass in den Medien die schleswig-holsteinische Landesregierung das Aus für die Universität Lübeck insbe- sondere mit dem Exzellenzwettbewerb begründet, und welche Maßnahmen wären nach Auffassung der Bundesregierung ge- eignet, um das Gegeneinanderausspielen von Hochschul- standorten – hier Lübeck und Kiel – wirksam – etwa in Bezug auf die Ausgestaltung des Exzellenzwettbewerbs – zu verhin- dern? Zu Frage 28: Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus- haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent- scheidungen zur Grundfinanzierung einzelner Hoch- schulen. Die Bundesregierung geht nicht von einer Schlie- ßungswelle von Hochschulstandorten in den kommen- den Jahren aus. Die Bundesregierung geht vielmehr da- von aus, dass die Länder, wie im Hochschulpakt 2020 vereinbart, in den Jahren 2011 bis 2015 insgesamt rund 275 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten in Deutsch- land bereitstellen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 vereinbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaatlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt. Zu Frage 29: Die Bundesregierung hält an dem Ziel der gemeinsam mit den Ländern vereinbarten Exzellenzinitiative fest, in einem bundesweiten Wettbewerb zwischen Universitä- ten die besten Forschungsprojekte und Konzepte von Hochschulen zu fördern. Die Entscheidung über die zu fördernden Universitäten wird entsprechend der Bund- Länder-Vereinbarung in einem wissenschaftsgeleiteten Verfahren nach wissenschaftlichen Exzellenzkriterien getroffen. Strategische Entscheidungen zu Hochschul- standorten in einem Land fallen unter die verfassungs- mäßig garantierte Kulturhoheit der Länder. Anlage 22 Antwort des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen des Abgeordneten Willi Brase (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 30 und 31): Wie bewertet die Bundesregierung die in Medienberichten zur Rettung der Universität Lübeck („Berlin wartet Konzept zur Stiftungsuni ab“, Lübecker Nachrichten vom 24. Juni 2010) zitierten Modelle zur Rettung der Universität Lübeck, denen zufolge das Leibniz-Institut für Meereswissenschaften in Kiel unter das Dach der Helmholtz-Gemeinschaft verscho- ben werden und das Land Schleswig-Holstein durch die hö- here Bundesfinanzierung Einsparungen in Millionenhöhe er- zielen soll – insbesondere vor dem Hintergrund, dass laut Bericht der Tageszeitung Neues Deutschland vom 23. Juni 2010 bislang niemand mit der Leibniz-Gemeinschaft auch nur das Gespräch gesucht hat und diese die Verschiebung von Zu- ständigkeiten laut Medienberichten ablehnt –, und welche Chancen räumt die Bundesregierung dem zweiten Modell ei- ner Stiftungsuniversität ein? Welchen Beitrag kann aus Sicht der Bundesregierung das in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, GWK, disku- tierte Bund-Länder-Programm zur Medizinerausbildung zum Erhalt der von Schließung bedrohten Hochschulen und zur Si- cherstellung der Medizinerausbildung leisten, und in welcher Form – organisatorisch und/oder finanziell – ist der Bund be- reit, sich hier einzubringen? Zu Frage 30: Maßnahmen zur strukturellen Umgestaltung von uni- versitären Strukturen in Lübeck fallen nach dem gelten- den föderalistischen Kompetenzgefüge in die originäre Zuständigkeit des Landes Schleswig-Holstein. Konkrete Aussagen der Bundesregierung zu Modellbeispielen oder Umsetzungsszenarien sind vor dem Hintergrund des geltenden föderalistischen Kompetenzgefüges und des aktuellen Verfahrensstandes nicht angezeigt. Zu Frage 31: Der Bund leistet bereits mit dem Hochschulpakt 2020 einen Beitrag zur Finanzierung der Medizinausbildung in Deutschland. Die KMK hat auf ihrer Sitzung am 27. Mai in München beschlossen, mit dem Bund Gesprä- che über ein mögliches Sonderprogramm für zeitlich be- fristete Studienplätze in der Medizin aufzunehmen. Auf der GWK-Sitzung am 21. Juni 2010 wurden weitere Ge- spräche zwischen Bund und einigen Ländern in den kommenden Wochen vereinbart. Es liegen hierzu noch keine Ergebnisse vor. Anlage 23 Antwort der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Fragen des Abgeordneten Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 32 und 33): Wie ist sichergestellt, dass die Bundesregierung die auf dem G-8-Gipfel zugesagten Mittel nicht durch Kürzungen in anderen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit auf- bringt? Welcher Anteil an den deutschen Zusagen für Mütter- und Kindergesundheit wird in Zukunft geleistet werden, und wel- cher Anteil wurde bereits in der Vergangenheit geleistet? Zu Frage 32: Der Haushalt 2011 befindet sich derzeit im regierungs- internen Aufstellungsverfahren. Über Schwerpunktset- zungen und detaillierte Ansätze wird das Parlament durch den vom Kabinett verabschiedeten Regierungsentwurf unterrichtet. Ob sich durch aktuelle oder künftige G-8- Zusagen Anpassungserfordernisse ergeben, kann derzeit nicht ausgeschlossen werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5425 (A) (C) (D)(B) Zu Frage 33: Die bei dem G-8-Gipel 2010 zugesagten Mittel wer- den ausschließlich in der Zukunft geleistet. Anlage 24 Antwort des Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksa- che 17/2285, Frage 34): Inwieweit befürwortet die Bundesregierung die Pläne der Bundesländer, die Rundfunkgebührenbefreiung zulasten von Menschen mit Behinderung sowie gemeinnützigen Einrichtun- gen für Behinderte unter anderem zum 1. Januar 2013 abzu- schaffen (siehe Eckpunkte der Ministerpräsidenten der Länder über eine veränderte Rundfunkfinanzierung vom 9./10. Juni 2010)? Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes liegen Fragen der Finanzierung des inländischen Rund- funks in der Zuständigkeit der Länder. Die Regierungs- chefin und Regierungschefs der Länder haben auf ihrer Konferenz am 10. Juni 2010 in Berlin die im Länder- kreis erarbeiteten Eckpunkte zur Neuordnung der Finan- zierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zustim- mend zur Kenntnis genommen. Sofern Menschen mit Behinderung einen Befreiungs- grund geltend machen können, sehen die Eckpunkte eine Beitragsbefreiung für diesen Personenkreis vor. Für fi- nanziell leistungsfähige Menschen mit Behinderung wird ein ermäßigter Beitrag in Höhe von einem Drittel des Rundfunkbeitrages angesetzt. Für nichtprivate ge- meinnützige Einrichtungen für Behinderte enthalten die Eckpunkte eine Begrenzung des Rundfunkbeitrags auf höchstens einen Beitrag pro Betriebsstätte. Die Bundesregierung geht davon aus, dass nunmehr der Entwurf eines Rundfunkbeitragsstaatsvertrages durch die Länder erarbeitet werden wird, in den insbe- sondere auch Ergebnisse von Anhörungen fachlicher Kreise einfließen werden. Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt von einer Stellungnahme zu Einzelfragen möglicher künftiger Be- freiungsregelungen ab. Anlage 25 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der Abgeordneten Erika Steinbach (CDU/CSU) (Drucksa- che 17/2285, Frage 35): Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die Anzahl der Morde an Journalisten in den letzten drei Jahren, insbe- sondere im Irak, auf den Philippinen, in Kolumbien und in der Russischen Föderation? Die Bundesregierung setzt sich nachdrücklich für Meinungs- und Pressefreiheit als unveräußerliche Men- schenrechte und als Grundlage einer funktionierenden Demokratie ein. Die zunehmende Bedrohung von Journalisten mit Menschenrechtsverletzungen, ob im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, im Umfeld organisierter Krimi- nalität oder zum Beispiel nach umstrittenen Wahlen, ver- folgt die Bundesregierung mit großer Sorge. Dabei gera- ten immer mehr Menschen in Bedrängnis, die keiner journalistischen Tätigkeit im klassischen Sinne nachge- hen, sondern als Blogger oder in Onlineplattformen ge- sellschaftliche Diskussionen anstoßen und auf Men- schenrechtsverletzungen aufmerksam machen. Die Bundesregierung tritt deutlich gegen Versuche ein, Presse- und Meinungsfreiheit zu relativieren oder preiszugeben. Sie wird auch zukünftig gemeinsam mit den EU-Partnern Verletzungen der Meinungs- und Pres- sefreiheit aufgreifen. Einzelfälle von Angriffen auf Jour- nalisten und Morden an Medienschaffenden thematisiert die Bundesregierung sowohl bilateral wie auch gemein- sam mit den EU-Partnern. Zu den Fragen nach Journalistenmorden in einzelnen Ländern ist voranzustellen, dass der Bundesregierung unterschiedliche Informationen vorliegen. Die nachfol- gend genannten Zahlen für die entsprechenden Länder stammen von verschiedenen Nichtregierungsorganisa- tionen, zu denen die deutschen Auslandsvertretungen Kontakt haben. Irak: Nach Kenntnis der Bundesregierung wurden im Zeitraum 2007 bis 2009 insgesamt 47 Journalisten in Irak getötet – 2007: 32, 2008: 11, 2009: 4, 2010: 1; Quelle: International Commitee to Protect Journalists. Philippinen: Es gibt keine einheitlichen Angaben über die Anzahl der Todesopfer unter den Journalisten auf den Philippinen. Die am meisten zitierte Quelle ist die National Union of Journalists of the Philippines. Diese nennt folgende Zahlen: 2007: 5, 2008: 7, 2009: 38, da- von 32 in dem „Maguindanao Massacre“, 2010 bis heute: drei Journalisten. Diese Zahlen werden auch von dem International News Safety Institute verwendet. Davon abweichend das Center for Media Freedom & Responsibility: 2007: 2, 2008: 6, 2009: 36 Journalisten, davon 32 in dem „Maguindanao Massacre“, 2010: keine Angaben. Beide Organisationen sind der Deutschen Bot- schaft bekannt und werden von ihr als seriös einge- schätzt. Kolumbien: Nach Angaben der unabhängigen Nicht- regierungsorganisation CPJ, Committee to Protect Jour- nalists, wurden von 2007 bis 2010 zwei Journalisten er- mordet, bei denen es einen klaren Zusammenhang zwischen der Tätigkeit als Journalist und der Ermordung gab. In beiden Fällen waren wahrscheinlich Paramilitärs für die Morde verantwortlich. Im gleichen Zeitraum gab es drei Morde, bei denen ein Zusammenhang möglich, aber nicht nachgewiesen war. Russische Föderation: Die Bundesregierung kann keine Aussage über die genaue Anzahl von Morden an und Angriffen auf Journalisten machen. Bekannt wurden in den letzten Jahren Einzelfälle, zu denen folgende Morde zählen: 5426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Anna Politkowskaja, Journalistin der Nowaja Gazeta, ermordet am 7. Juni 2006; Magomed Jewlojew, Betrei- ber der Webseite lngushetia.ru, am 31. August 2008 in Polizeigewahrsam erschossen; Jaroslaw Jaroschenko, Redakteur der Zeitschrift Corruption and Crime, im April 2009 von Unbekannten brutal zusammengeschla- gen, erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus im Juni 2009; Malik Achmedilow, dagestanischer Journalist, am 11. August 2009 in Machatschkala/Dagestan erschossen, und Anastasija Baburowa, freie Journalistin, unter ande- rem für Nowaja Gazeta; am 19. Januar 2009 auf offener Straße zusammen mit dem Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow erschossen. Übergriffe werden von den Justizbehörden oftmals ignoriert oder in Abrede gestellt. Daher ist von einer ge- wissen Dunkelziffer auszugehen. Außerdem sind Über- griffe nicht in jedem Fall auf die journalistische Tätig- keit der Opfer zurückzuführen, sondern können auch andere Hintergründe haben. Die Abgrenzung und Ursa- chenforschung ist angesichts der unübersichtlichen Si- tuation – vor allem im Nordkaukasus – schwierig. Insge- samt arbeiten kritische russische Journalisten in einer Situation, die ihnen mitunter großen persönlichen Mut abverlangt. Anlage 26 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 36 und 37): Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage der Staats- ministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, dass der zweite Wahlgang darüber entscheiden werde, ob der Weg Po- lens zurück ins politische Abseits gehe, und wie beurteilt die Bundesregierung eine möglicherweise dadurch entstehende Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses? In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung sich zukünftig in Wahlauseinandersetzungen europäischer Partner- staaten einzumischen? Zu Frage 36: Die Entscheidung, wer am 4. Juni 2010 zum nächsten polnischen Präsidenten gewählt wird, obliegt alleine dem polnischen Volk. Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, hat am 23. Juni 2010 beim XIV. Deutsch-Polni- schen Forum in Warschau betont, dass ihr sehr an freundschaftlichen Beziehungen zu Polen gelegen ist und sie sich in keiner Weise in den Fortgang der Präsi- dentschaftswahl einmischen möchte. Der polnische Staatssekretär Władisław Bartoszewski hat bei derselben Veranstaltung das bilaterale Verhältnis als hervorragend bezeichnet und dabei auch seine ver- trauensvolle, enge Zusammenarbeit mit Staatsministerin Pieper als Koordinatorin für die deutsch-polnische zwi- schengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit hervorgehoben. Zu Frage 37: Die Bundesregierung kommentiert innenpolitische Wahlkampfauseinandersetzungen in europäischen Part- nerstaaten nicht. Anlage 27 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des Abgeordneten Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 38 und 39): In wie vielen Fällen haben die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei beim Ehegatten- nachzug nach Deutschland von Ehegatten, die einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss oder eine entsprechende Quali- fikation besitzen oder eine Erwerbstätigkeit ausüben, die re- gelmäßig eine solche Qualifikation voraussetzt, vor der Ein- reise den Nachweis von Deutschkenntnissen verlangt? Wie stellt das Auswärtige Amt sicher, dass die Auslandsver- tretungen der Bundesrepublik Deutschland bei Visumanträgen zum Ehegattennachzug bei erkennbar geringem Integrationsbe- darf gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes Sprachnachweise nicht verlangen? Zu Frage 38: Im Zeitraum 1. Januar 2009 bis 31. März 2010 wurde an den drei visumerteilenden Auslandsvertretungen in der Türkei, Ankara, Istanbul und Izmir, in 228 Fällen das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes bejaht und auf den Sprachnachweis verzichtet. Eine gesonderte statisti- sche Erfassung nach einzelnen Ausnahmetatbeständen findet nicht statt. Auch eine Erfassung des Bildungshin- tergrundes der Antragsteller findet nicht statt. Alleine die besondere Qualifikation genügt nach dem Gesetz nicht, um den Ausnahmetatbestand des geringen Integrationsbedarfs im Sinne des § 30 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes zu bejahen. Vielmehr muss hierzu zusätzlich eine positive Erwerbsprognose und positive Integrationsprognose bescheinigt werden können, § 4 Abs. 2 Integrationskursverordnung. Soweit die Erwerbsprognose positiv ausfällt, kann in der Regel auch die Integrationsprognose bejaht werden. Bei der Erwerbsprognose kommt der Ausländerbehörde eine wichtige Rolle zu. Zu Frage 39: Die deutschen Auslandsvertretungen sind angewie- sen, eine Ausnahme aufgrund erkennbar geringen Inte- grationsbedarfs insbesondere dann anzunehmen, wenn Antragstellern eine besondere Qualifikation, eine posi- tive Erwerbsprognose und positive Integrationsprognose bescheinigt werden kann. Im Rahmen der Beratung von Antragstellern und Ein- ladern gibt auch die Zentrale des Auswärtigen Amts Auskunft über diesen Ausnahmetatbestand. Bei entspre- chenden Anfragen von Bürgern gibt die Zentrale den Auslandsvertretungen Hinweise zu Einzelfällen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5427 (A) (C) (D)(B) Anlage 28 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 40 und 41): Wie setzt sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür ein, im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusam- menarbeit in Europa, OSZE, Polizistinnen und Polizisten nach Kirgistan zu schicken, um zur Stabilisierung der politischen Lage beizutragen (siehe auch Reuters-Meldung vom 23. Juni 2010 „OSZE fordert internationale Polizei-Truppe für Süd- Kirgistan“)? In welcher Form setzt sich die Bundesregierung dafür ein, deutsche Polizistinnen und Polizisten für eine internationale OSZE-geführte Polizeitruppe für Kirgistan bereitzustellen, und inwiefern beurteilt sie die Entsendung von Polizistinnen und Polizisten in Krisengebiete als eine langfristige struktu- relle Aufgabe der zivilen Konfliktbearbeitung? Zu Frage 40: Sowohl im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, als auch im Rah- men der EU erörtert die Bundesregierung derzeit ge- meinsam mit ihren Partnern, welche Mittel und Instru- mente neben der bereits geleisteten humanitären Hilfe noch zur Verfügung stehen, um zur Konfliktlösung und zur Stabilisierung in Kirgisistan beizutragen. Um mögliche Handlungsoptionen für die OSZE zu analysieren, hat Kasachstan als derzeitiger OSZE-Vor- sitz am 24. Juni 2010 eine Bedarfsermittlungsmission nach Kirgisistan entsandt. Die Mission soll dazu dienen, uns von der komplexen Lage vor Ort sowie den konkre- ten Unterstützungsmöglichkeiten im Sicherheitsbereich ein genaues Bild zu machen. Im EU-Rahmen hat die Bundesregierung am 23. Juni 2010 zusammen mit Frankreich eine gemeinsame Initia- tive zur Unterstützung Kirgisistans in der Krise einge- bracht. Darin rufen Frankreich und Deutschland die EU dazu auf, gemeinsam mit den Vereinten Nationen die Möglichkeit einer internationalen Erkundungsmission zu prüfen, weitere humanitäre Hilfe zu leisten, bei der Kon- fliktlösung eng mit Russland zusammenzuarbeiten sowie die von der OSZE noch zu beschließenden Maßnahmen zu unterstützen. Zu Frage 41: Bisher hat die OSZE noch keinen Beschluss gefasst, eine „internationale OSZE-geführte Polizeitruppe“ nach Kirgisistan zu entsenden. Die Bundesregierung wird im Lichte des Berichts der Bedarfsermittlungsmission der OSZE und der aktuellen Sicherheitslage prüfen, an wel- chen Maßnahmen der OSZE sie sich beteiligen wird. Grundsätzlich gewinnt im Rahmen internationaler Maßnahmen zur Konfliktbewältigung und Krisennach- sorge die zivile Komponente, das heißt also auch der Einsatz von Polizisten und Polizistinnen zunehmende Bedeutung. Der Einsatz von Polizeikräften dient kurz- fristig der Stabilisierung der Lage und kann langfristig durch Unterstützung bei Ausbildung und Aufbau einer nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitenden Polizei eine zentrale Hilfestellung leisten. Anlage 29 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 42): Sind die vielfältigen Bildungsangebote, die zum Aufga- bengebiet des Bundesministeriums des Innern gehören, wie zum Beispiel die Bundeszentrale für politische Bildung oder die Integrationskurse, auch vom Beschluss der Bundesregie- rung betroffen, den Bildungsbereich von künftigen Haushalts- kürzungen auszunehmen und sogar mit weiteren Finanzmit- teln aufzustocken? Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat für konkrete Bildungsmaßnahmen von nachgeordneten Be- hörden zusätzliche Bildungsmittel aus dem 12-Milliar- den-Euro-Programm der Bundesregierung beantragt. Diese vom 12-Milliarden-Euro-Programm profitieren- den Behörden müssen jedoch gleichermaßen zu den all- gemeinen Einsparvorgaben zur Haushaltskonsolidierung beitragen, wie die anderen Behörden im Geschäftsbe- reich des BMI. Die für den Einzelplan des BMI von der Bundesregierung beschlossenen Absenkungen belaufen sich im Jahr 2011 auf rund 77,4 Millionen Euro gegen- über dem geltenden Finanzplan; im Jahr 2012 erhöht sich der Einsparbetrag sogar auf rund 91,6 Millionen Euro, in den Jahren 2013 und 2014 dann auf rund 99,1 Millionen Euro. Das BMI ist bei allen Bemühungen um eine gleichmäßige Verteilung der Einsparungen bei der Aufstellung des Haushaltsentwurfs nicht pauschal vor- gegangen. Die beschlossenen Einsparungen richten sich an der finanziellen Leistungsfähigkeit sämtlicher Berei- che des Einzelplans aus. Auch der Grad der Flexibilisie- rung und die unterschiedlichen Möglichkeiten, Projekte zeitlich zu verschieben und damit auch kurzfristig auf Einsparvorgaben zu reagieren, mussten berücksichtigt werden. Anlage 30 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 43): Wie begründet die Bundesregierung die Auffassung, dass sich aus der Rücknahme des Vorbehalts zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes kein bundesgesetzlicher Ände- rungsbedarf ergebe, im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit unbegleiteter minderjähriger Asylbewerberinnen und Asylbe- werber, die das 16. Lebensjahr vollendet haben? Ich darf zunächst an den Wortlaut des hier einschlägi- gen Teils der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland erinnern: Nichts in dem Übereinkommen kann dahin ausge- legt werden, dass die widerrechtliche Einreise eines Ausländers in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder dessen widerrechtlicher Aufent- 5428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) halt dort erlaubt ist; auch kann keine Bestimmung dahin ausgelegt werden, dass sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Auslän- dern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu er- lassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen. In dieser Erklärung wird an keiner Stelle auf die Al- tersgrenze im Asylrecht oder im Ausländerrecht Bezug genommen. Es ist daher auch kein rechtlicher Grund er- sichtlich, warum die von der Bundesregierung am 3. Mai 2010 beschlossene Rücknahme der Erklärung diese Al- tersgrenze unzulässig machen sollte. Es bestand und besteht Konsens innerhalb der Bun- desregierung, dass die Erklärung eine deklaratorische Bedeutung hat und ihre Rücknahme demgemäß keine unmittelbaren Rechtsfolgen auslöst. Anlage 31 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage des Abgeordneten Peter Friedrich (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 44): Wie bewertet die Bundesregierung, dass rechtsextreme Gruppierungen wie die NPD vermehrt über Google-Anzeigen in den Onlineangeboten von Tageszeitungen und Blogs wer- ben, so unter anderem mit den Worten „Kostenlos objektiv über die NPD informieren“, und sind vonseiten der Bundesre- gierung rechtliche Schritte geplant, diese Praxis zu unterbin- den? Der Bundesregierung liegen nur vereinzelte Hinweise vor, wonach es der NPD gelungen ist, über den Google- Werbedienst in Onlineanzeigen seriöser Zeitungen Wer- bung zu platzieren. Bewerkstelligt wird dies mittels pro- grammgesteuerter automatisierter Kopplung an bestimmte, in Beiträgen enthaltene Schlagworte. Diese Schlagworte können auch in kritischer Berichterstattung enthalten sein. Durch die Verwendung einer entsprechenden Soft- ware kann das Aufblenden der Werbung unterbunden werden. Diese Filterfunktion kann sowohl vom einzelnen Internetbetreiber als auch vom individuellen Nutzer akti- viert werden. Seitens der von Online-nachrichtendiensten betriebenen Internetseiten, wie zum Beispiel Welt Online ist dies zwischenzeitlich auch erfolgt. Anlage 32 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage des Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 45): Wie lautet die Rechtfertigung der Bundesregierung für ihre Enthaltung zu dem im Ministerrat befürworteten SWIFT- Abkommen zur Übermittlung intimster Banktransaktionsda- ten einer nicht näher bestimmbaren, vermutlich in die Millio- nen gehenden Anzahl von Bundesbürgern für eine Dauer von fünf Jahren in die nach EU-Datenschutzrecht als unsicheres Drittland eingestufte USA angesichts ihres verfassungsrecht- lichen Schutzauftrages für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und damit auch für die Beachtung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung, in welcher bereits eine Speicherung von möglicherweise weit- aus weniger sensitiven Daten für einen weitaus kürzeren Zeit- raum von sechs Monaten für mit dem Grundgesetz unverein- bar und nichtig angesehen wird? Deutschland konnte dem Ratsbeschluss über die Un- terzeichnung des sogenannten SWIFT-Abkommens im schriftlichen Verfahren zustimmen, nachdem das Euro- päische Parlament Zustimmung signalisiert hat und weil es insbesondere im Hinblick auf den Rechtsschutz und auf den Datenschutz deutliche Verbesserungen gegen- über dem Interimsabkommen enthält. Hervorheben möchte ich insbesondere folgende Verbesserungen, die auf deutsche Initiative im Abkommen enthalten sind: Das Ersuchen muss auch in Bezug auf die Datenarten spezifiziert und eingeschränkt werden. Das Ersuchen muss so eng wie möglich gefasst sein, um die Menge der angeforderten Daten auf ein Minimum zu beschränken. Drittstaatenübermittlung ist grundsätzlich nur bei Zu- stimmung des jeweiligen Ursprungsstaats zulässig. Eine Ausnahme besteht nur bei Gefahr im Verzug bei drin- genden schweren Gefahren. Berichtigungs-, Löschungs- und Sperrungsrechte können künftig jeweils über die Datenschutzbehörde des jeweiligen Mitgliedstaats geltend gemacht werden, die die Anfrage an die USA weiterleitet. Darüber hinaus müssen die USA in ihren Ersuchen den angeforderten Übermittlungsumfang eingrenzen und zwar aufgrund eines Risikoprofils, das insbesondere bestimmte Nachrichtenarten und geografische Regionen berücksich- tigt. Daten, die sich auf den Einheitlichen Euro-Zahlungs- verkehrsraum beziehen, sogenannte SEPA-Daten, dürfen von den USA nicht angefordert werden, Art. 4 Abs. 2 d, und somit auch nicht übermittelt werden. Was die von Ihnen angesprochene Höchstspeicher- dauer der Daten anbelangt: Die Bunderegierung hat sich mit Nachdruck für eine Verkürzung auf unter fünf Jahre eingesetzt. Die USA waren aber laut Aussage der Ver- handlungsführerin der EU, der Kommission, nicht kom- promissbereit und verweisen – was zutrifft – darauf, dass bereits die Banken weltweit nach globalen Standards zur Terrorismusfinanzierungsbekämpfung genau zu dieser fünfjährigen Vorsorgespeicherung verpflichtet sind: In der EU ist dies in der Geldwäscherichtlinie genauso ge- regelt, folglich im deutschen Geldwäschegesetz genauso umgesetzt. Neu ist allerdings, dass der Vertrag nun aus- drücklich Evaluierungsvorgaben vorsieht, die auf eine Fristverkürzung zusteuern. Das Abkommen enthält in Art. 12 und 13 Regelungen zur Sicherung des Daten- schutzes in den USA. Gemäß Art. 12 Abs. 1 wird künf- tig auch eine von der Europäischen Kommission be- nannte Person vor Ort im US-Finanzministerium die Verwendung der Daten überprüfen. Art. 13 sieht eine ge- meinsame EU/US-Evaluierung spätestens nach sechs Monaten nach Inkrafttreten des Abkommens dahinge- hend vor, ob die durch das Abkommen gesetzten Vorga- ben, insbesondere im Hinblick auf den Datenschutz ein- gehalten werden. Dabei werden dieses Mal auch europäische Datenschutzbeauftragte einbezogen werden – eine der Verbesserungen, die das Abkommen gegen- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5429 (A) (C) (D)(B) über den Datenschutzzusicherungen enthält, die die USA bisher einseitig abgegeben haben und die die EU im Jahr 2007 als angemessenes Datenschutzniveau für eine Übermittlung in die USA anerkannt hatte – EU- ABI. C 166 vom 20. Juli 2007, Seite 26. Der Rat ist zudem übereingekommen, das Abkom- men erneut zu bewerten, sobald das künftige EU-USA- Rahmenabkommen über den Datenschutz abgeschlossen worden ist. Anlage 33 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Fra- gen der Abgeordneten Dr. Eva Högl (SPD) (Drucksa- che 17/2285, Fragen 46 und 47): Wie wird die Bundesregierung sich bei der Abstimmung über das sogenannte SWIFT-Abkommen im Rat der EU ver- halten? Welche Bedeutung hat nach Ansicht der Bundesregierung der im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP for- mulierte Ratifizierungsvorbehalt für das Inkrafttreten des neuen SWIFT-Abkommens? Zu Frage 46: Die Bundesregierung hat im schriftlichen Verfahren dem Ratsbeschluss über die Unterzeichnung des soge- nannten SWIFT-Abkommens zugestimmt. Die Bundes- regierung hat sich darüber hinaus damit einverstanden erklärt, dass der Entwurf des Beschlusses über den Ab- schluss des Abkommens nach der Unterzeichnung des Abkommens dem Europäischen Parlament zur Zustim- mung zugeleitet wird. Des Weiteren hat die Bundesre- gierung ihre Zustimmung dazu erteilt, dass der Rat das Europäische Parlament ersucht, die Angelegenheit im Dringlichkeitsverfahren gemäß Art. 142 seiner Ge- schäftsordnung zu behandeln. Zu Frage 47: Das sogenannte SWIFT-Abkommen wurde nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezem- ber 2009 und nach der Ablehnung des sogenannten Inte- rimsabkommens durch das Europäische Parlament am 11. Februar 2011 neu ausverhandelt. Ich gehe davon aus, dass Ihre Frage zum Koalitionsvertrag vom September 2009 darauf abzielt, ob in Deutschland ein Vertragsge- setz für das Zustandekommen des Abkommens erforder- lich ist. Dies ist nicht der Fall. Es handelt sich nicht um ein sogenanntes gemischtes Abkommen. Die Europäi- sche Union ist alleinige Vertragspartnerin der USA und nicht daneben auch noch die Mitgliedstaaten. Das Ab- kommen fällt in die Vertragsschlusskompetenz der Euro- päischen Union. Der Rat der Europäischen Union stützt das Abkommen auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, insbesondere auf die Art. 87 Abs. 2 Buchstabe a) und Art. 88 Abs. 2 in Ver- bindung mit Art. 218 AEUV. Rein mitgliedstaatliche Kom- petenzen sind von dem Abkommen nicht betroffen. Anlage 34 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 48): Hält die Bundesregierung es angesichts der in dem Rechtsgutachten des Präsidenten des Bundesverfassungsge- richtes a. D. Hans-Jürgen Papier genannten Argumente für möglich, eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwer- ken ohne Zustimmung des Bundesrates zu verabschieden und, wenn ja, auf Grundlage welcher juristischen Überlegungen? Die Bundesregierung berücksichtigt bei ihrer Bewer- tung der Zustimmungsbedürftigkeit beziehungsweise Zustimmungsfreiheit von Gesetzen insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die am 11. Juni 2010 verkündete Entscheidung des Bundesver- fassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz enthält ent- sprechende Aussagen, die von der Bundesregierung ge- genwärtig ausgewertet werden. In das Gutachten von Papier konnten sie erkennbar noch nicht einfließen. Anlage 35 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Drucksache 17/2285, Frage 49): Inwieweit spielte nach Kenntnis der Bundesregierung die sogenannte EU-Rechtsstaatsmission EULEX Kosovo eine Rolle bei der Abschiebung von über 100 Menschen – über- wiegend Roma – mit einem Flug der Fluggesellschaft Air Berlin nach Pristina am 22. Juni 2010 zum Beispiel durch Auswahl der Abzuschiebenden oder Finanzierung der Ab- schiebung, und inwiefern ist die Organisation und Finanzie- rung von Abschiebeflügen nach Kosovo durch das Mandat dieser sogenannten Rechtsstaatsmission gedeckt? Die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo, EULEX Kosovo, hatte nach Kenntnis der Bundesregierung keinen Einfluss auf die Sammel- rückführung nach Pristina am 22. Juni 2010. Weder die Organisation noch die Finanzierung von Sammelrück- führungen erfolgen über die EULEX Kosovo. Anlage 36 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Max Stadler auf die Frage der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Drucksache 17/2285, Frage 50): Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung die Be- reitstellung von Dokumenten zum Bosnien-Krieg – 1992 bis 1995 – für den Karadzić-Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, ICTY, in Den Haag verweigert, die auf Antrag des angeklagten Radovan Karadzić, ehemals Präsident der bosnischen Republika Srpska, angefordert wurden und dessen Antrag durch die ICTY-Richter am 19. Mai 2010 stattgegeben wurde, und sieht die Bundesregierung in ihrer Verweigerungshaltung eine Be- hinderung der internationalen Strafgerichtsbarkeit? 5430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Die Bundesregierung arbeitet weiterhin eng mit dem Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien zusammen. Das Gericht hat dem Beweisantrag des Angeklagten nur teilweise stattgegeben. Hinsichtlich der verbleiben- den Beweispunkte war der Bundesregierung und dem Bundestag eine Herausgabe von Dokumenten nicht möglich, weil keine entsprechenden Dokumente vorhan- den sind. Dies hat die Bundesregierung dem Gerichtshof in der vergangenen Woche fristgerecht mitgeteilt. Anlage 37 Antwort des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra- gen des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 51): Auf welche Höhe schätzt die Bundesregierung in den nächsten fünf Jahren die steuerlichen Mindereinnahmen aus der geplanten Aufhebung der Einschränkung der Agrardiesel- Steuerbegünstigung, und wie sollen diese Einnahmeverluste kompensiert werden, damit eine zusätzliche Nettoneuver- schuldung vermieden werden kann? Die Bundesregierung schätzt die Mindereinnahmen aus der Aufhebung der Einschränkungen bei der Agrar- diesel-Steuerbegünstigung auf rund 260 Millionen Euro jährlich. Die Steuermindereinnahmen werden dabei überwiegend im Haushalt des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz kom- pensiert. Anlage 38 Antwort des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra- gen der Abgeordneten Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 52): Welche steuerrechtlichen Abschreibungsmöglichkeiten gibt es in den Bereichen Bauen, Wohnen und Stadtentwick- lung, und wie sind diese ausgestaltet? Nach § 7 Absatz 4 EStG sind vor dem 1. Januar 1925 fertiggestellte Gebäude, die Wohnzwecken dienen, mit einem AfA-Satz von 2,5 Prozent linear abzuschreiben. Für nach dem 31. Dezember 1924 fertiggestellte Ge- bäude, die Wohnzwecken dienen, gilt ein AfA-Satz von 2 Prozent. Dies entspricht einer Nutzungsdauer von 40 bzw. 50 Jahren. Für Gebäude, die zu einem Betriebsver- mögen gehören und nicht Wohnzwecken dienen, gilt ein AfA-Satz von 3 Prozent. Dies entspricht einer Nutzungs- dauer von 33 Jahren. Für Gebäude, die vom Steuerpflichtigen hergestellt oder bis zum Ende des Jahres der Fertigstellung ange- schafft worden sind, kann abweichend die Absetzung in Staffelsätzen vorgenommen werden. Das gilt aber nur noch für Gebäude, die Wohnzwecken dienen und auf- grund eines bis Ende 2005 gestellten Bauantrags herge- stellt oder bis Ende 2005 aufgrund eines rechtswirksam abgeschlossenen obligatorischen Vertrages angeschafft worden sind. Die Absetzung ist dabei nach § 7 Abs. 5 EStG mit den gesetzlich vorgeschriebenen Staffelsätzen vorzunehmen. Die Staffeln legen eine Nutzungsdauer von 40 bzw. 50 Jahren zugrunde. Die Anwendung de- gressiver Abschreibung für nicht Wohnzwecken die- nende Gebäude wurde bereits Ende 1994 abgeschafft. Für Herstellungskosten infolge Modernisierungs und Instandsetzungsarbeiten an Gebäuden in einem Sanie- rungsgebiet oder städtebaulichen Entwicklungsbereich können anstelle der AfA erhöhte Absetzungen nach § 7 h EStG in Höhe von je bis zu 9 Prozent dieser Her- stellungskosten im Jahr der Herstellung und den folgen- den sieben Jahren sowie je bis zu 7 Prozent in den darauf folgenden vier Jahren steuermindernd geltend gemacht werden. § 7 i EStG fördert Herstellungskosten für Baumaß- nahmen an Baudenkmälern ebenfalls mit erhöhten Ab- setzungen mit je bis zu 9 Prozent dieser Herstellungskos- ten im Jahr der Herstellung und den folgenden sieben Jahren sowie je bis zu 7 Prozent in den darauf folgenden vier Jahren. Nach § 10 f EStG sind Steuervergünstigungen für zu eigenen Wohnzwecken genutzte Baudenkmale und Ge- bäude in Sanierungsgebieten oder städtebaulichen Ent- wicklungsgebieten möglich. Über 10 Jahre können je- weils 9 Prozent bestimmter Aufwendungen wie Sonder- ausgaben steuermindernd berücksichtigt werden. Hier handelt es sich nicht um Abschreibungen im eigentli- chen Sinne. Anlage 39 Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des Abgeordneten Peter Friedrich (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 53): Sieht die Bundesregierung in der Bereitstellung von abge- brannten Brennelementen durch deutsche Kernkraftwerks- betreiber zur Wiederaufarbeitung in Russland und den dabei anfallenden Nebenprodukten, die sich als Brennstoff für RBMK-Reaktoren eignen, einen Widerspruch zur erklärten Absicht der Bundesregierung, sich für eine sofortige Stillle- gung der RBMK-Reaktoren einzusetzen, und wie bewertet sie diesbezüglich die Äußerungen der EnBW zur Herkunft des von der EnBW verwendeten Wiederaufarbeitungsurans? Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennele- mente aus deutschen Kernkraftwerken erfolgte in Frank- reich und Großbritannien, nicht jedoch in Russland. Seit dem 1. Juni 2005 ist die Abgabe von bestrahlten Brenn- elementen zur Wiederaufarbeitung nach dem Atomge- setz nicht mehr zulässig. Zu den Äußerungen einzelner Unternehmen, deren Kontext im Übrigen nicht näher er- läutert ist, kann die Bundesregierung keine Stellung neh- men. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5431 (A) (C) (D)(B) Anlage 40 Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 54): Was waren die wesentlichen inhaltlichen Argumente der Vertreter der vier Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW, die diese bei dem Treffen mit der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 23. Juni 2010 zu einer Brennelemente- steuer und einer eventuellen Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken vorgebracht haben, und wie beurteilt das Bundeskanzleramt diese Argumente (insbesondere, welchen Argumenten kann es folgen bzw. nicht folgen)? Das Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und den Vorstandvorsitzenden der vier Energieversorgungsunter- nehmen EnBW AG, E.ON AG, RWE AG und Vattenfall Europe AG am 23. Juni 2010 im Bundeskanzleramt diente dem umfassenden Meinungsaustausch über aktu- elle energiepolitische Fragen, insbesondere das Energie- konzept der Bundesregierung, die in diesem Kontext ge- plante Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke sowie der im Rahmen des Konsolidierungspaketes beschlos- sene steuerliche Ausgleich der Kernenergiewirtschaft. Es handelte sich um ein reines Informationsgespräch. Zu den Details des Gesprächs haben die Teilnehmer Ver- traulichkeit vereinbart. Anlage 41 Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 55): Trifft es zu, dass die Bundeskanzlerin den vier Energie- konzernen bei dem Treffen im Bundeskanzleramt eingeräumt hat, dass die Bundesregierung offen für Alternativvorschläge zur Brennelementesteuer sei, und, falls ja, ist die Bundesre- gierung auch offen für Alternativvorschläge von anderen Be- troffenen der anderen Teile des Sparpaketes der Bundesregie- rung? Das Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und den Vorstandvorsitzenden der vier Energieversorgungsunter- nehmen EnBW AG, E.ON AG, RWE AG und Vattenfall Europe AG am 23. Juni 2010 im Bundeskanzleramt diente dem Informationsaustausch zu aktuellen energie- politischen Fragen, insbesondere zum Energiekonzept der Bundesregierung, die in diesem Kontext geplante Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke sowie der im Rahmen des Konsolidierungspaketes beschlossene steu- erliche Ausgleich der Kernenergiewirtschaft. Zu den De- tails des Gesprächs haben die Teilnehmer Vertraulichkeit vereinbart. Anlage 42 Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Fragen der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 56 und 57): Trifft es zu, dass Gespräche zwischen dem Bundesministe- rium der Finanzen und den Atomkraftwerksbetreibern geplant sind, um Alternativen zu einer Brennelementesteuer zu disku- tieren, und, wenn ja, wann finden diese Gespräche statt? Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesmi- nisters für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle, dass die Brennelementesteuer der Abschöpfung der Zusatzgewinne für den Fall einer Verlängerung der Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke dient und dass deshalb ein „eindeutiger poli- tischer Zusammenhang“ zwischen Steuer und Laufzeitverlän- gerung besteht (vergleiche AP-Meldung vom 23. Juni 2010)? Zu Frage 56: Im Rahmen der Umsetzung der vom Bundeskabinett am 7. Juni 2010 beschlossenen „Eckpunkte für die wei- tere Aufstellung des Haushaltentwurfs 2011 und des Fi- nanzplans bis 2014“ wird der dort vorgesehene steuerli- che Ausgleich der Kernenergiewirtschaft näher zu beraten sein. Dabei werden auch die von den geplanten Regelungen betroffenen Wirtschaftsunternehmen Gele- genheit zur Stellungnahme erhalten. Zu Frage 57: Die Bundesregierung wird, wie sie bereits wiederholt betont hat, alle Fragen, die längere Laufzeiten der Kern- kraftwerke betreffen, im Zusammenhang mit dem Ener- giekonzept entscheiden. Dies bezieht die Frage des Vorteilsausgleichs ein. Das Aufkommen des vom Bun- deskabinett am 7. Juni 2010 beschlossenen steuerlichen Ausgleichs der Kernenergiewirtschaft wird hierbei zu berücksichtigen sein. Anlage 43 Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 58): Plant die Bundesregierung, durch das sich in Erarbeitung befindliche CCS-Gesetz einen allgemeingültigen Rechtsrah- men für CCS-Projekte in ganz Deutschland zu schaffen, oder wird sich die Gültigkeit des CCS-Gesetzes auf De- monstrationsanlagen beschränken und, wenn ja, auf welche? Im derzeitigen Stadium der Erarbeitung des Referen- tenentwurfs für ein CCS-Gesetz kann sich die Bundesre- gierung noch nicht abschließend zu der Frage äußern, ob und in welcher Form sich der Gesetzentwurf auf De- monstrationsanlagen beschränken wird. Die federfüh- renden Ressorts BMWi und BMU sind sich darin einig, vorzuschlagen, dass das CCS-Gesetz bei der Regelung der dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid auf die Erprobung und Demonstration dieser Technologie be- grenzt werden soll. Anlage 44 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 59): 5432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Wie schätzt die Bundesregierung den Vorschlag ein, quali- fizierte Reha-Berater bei den SGB-II-Trägern – SGB II: Zwei- tes Buch Sozialgesetzbuch – zu verankern, die die Aufgaben nach § 104 SGB IX wahrnehmen, für die bisher allein die Bundesagentur für Arbeit als Rehabilitationsträger vorgese- hen ist, und wird der Betreuungsschlüssel für schwerbehin- derte Menschen im SGB II erhöht? Auch für Rehabilitanden im Bereich der Grund- sicherung nach dem SGB II ist die Bundesagentur für Arbeit der zuständige Rehabilitationsträger, wenn nicht nach gesetzlichen Regelungen ein anderer Rehabilita- tionsträger zuständig ist. Für die Belange behinderter und schwerbehinderter Menschen sind in jeder Agentur für Arbeit spezielle Teams bzw. Teilteams eingerichtet, § 104 Abs. 4 SGB IX. Das ermöglicht eine spezifische, auf die Personengruppe von Menschen mit Behinderung ausgerichtete Betreuung, von der auch hilfebedürftige Rehabilitanden im Bereich der Grundsicherung profitie- ren können. Bei den Arbeitsgemeinschaften und zugelassenen kommunalen Trägern besteht keine gesetzliche Ver- pflichtung zur Einrichtung besonderer Stellen zur Betreu- ung und Vermittlung behinderter und schwerbehinderter Menschen. Die Bundesagentur für Arbeit hat den Grund- sicherungsstellen gleichwohl empfohlen, entweder per- sönliche Ansprechpartner für diesen Personenkreis vor- zuhalten oder für größere Geschäftsstellen entsprechende Teams zu bilden. Ein besonderer Betreuungsschlüssel ist nicht vorgegeben. Anlage 45 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 60): In welchen Fällen werden im Rahmen des Sparpaketes der Bundesregierung Arbeitsförderungsleistungen für schwerbe- hinderte Menschen, die durch die Bundesagentur für Arbeit oder von SGB-II-Trägern als Pflichtleistungen erbracht wer- den, in Ermessensleistungen umgewandelt oder Ermessens- leistungen gestrichen? Ob und gegebenenfalls welche Pflichtleistungen der aktiven Arbeitsförderung in Ermessensleistungen umge- wandelt werden, wird im Zusammenhang mit der für das Jahr 2011 vorgesehenen Neuausrichtung der arbeits- marktpolitischen Instrumente geprüft werden. Aussagen zu einzelnen Instrumenten sind daher noch nicht mög- lich. Die Bundesregierung hat sich mit den Beschlüssen vom 6./7. Juni 2010 ausdrücklich dazu bekannt, die Zu- kunftschancen für die Menschen durch Investitionen in Bildung und Forschung, in Wachstumskräfte und in Ar- beitsplätze zu verbessern. Dieser Prämisse wird auch die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente folgen. Anlage 46 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- gen des Abgeordneten Klaus Brandner (SPD) (Druck- sache 17/2285, Fragen 61 und 62): Wie verträgt sich die Aussage des Bundesministers der Fi- nanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, in seinem Interview mit der Bild am Sonntag am 30. Mai 2010, dass Rentenkürzungen ausgeschlossen seien, mit der Abschaffung des Zuschusses an die Rentenversicherung beim Arbeitslosengeld II, ALG II, und dem Wegfall von Erstattungen einigungsbedingter Leis- tungen an die Rentenversicherung (§ 291 c SGB VI), und kann ausgeschlossen werden, dass durch die Abschaffung der Zuschüsse für den Einzelnen, zum Beispiel Langzeitarbeits- lose, keine Reduzierung der zu erwartenden Rentenzahlungen vorgenommen wird? Kann ausgeschlossen werden, dass es durch den beabsich- tigten Wegfall des Zuschusses an die Rentenversicherung beim ALG II und der Erstattungen einigungsbedingter Leis- tungen an die Rentenversicherung (§ 291 c SGB VI) nicht zu einer Gefährdung der geplanten Rentenversicherungsbeitrags- satzabsenkung im Jahr 2014 auf 19,8 Prozent und im Jahr 2015 auf 19,3 Prozent kommen wird? Zu Frage 61: Die angesproche Äußerung des Bundesministers der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, in der Bild am Sonn- tag am 30. Mai 2010 beinhaltet keinen Widerspruch. Be- reits der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom November 2005 enthält zum einen die im Jahr 2006 umgesetzte Vereinbarung, die Beitragzahlung des Bun- des für Bezieher von Arbeitslosengeld II von 78 Euro auf 40 Euro monatlich fast zu halbieren und zum ande- ren die Zusage, dass es keine Rentenkürzungen geben dürfe. Auch die derzeit diskutierten, die gesetzliche Renten- versicherung betreffenden Sparmaßnahmen zur Haus- haltskonsolidierung in Form des Wegfalls der Beitrags- zahlung des Bundes für Bezieher von Arbeitslosen- geld II und des Wegfalls der Erstattung des Bundes für sogenannte einigungsbedingte Leistungen führen nicht dazu, dass Bestandsrenten gekürzt werden. Die Beitragszahlung des Bundes für Bezieher von Ar- beitslosengeld II fällt vom Jahr 2011 an weg, sodass sich für Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II erst von diesem Zeitpunkt an Auswirkungen bei zukünftigen Ren- tenansprüchen ergeben. Dem Wegfall der jährlichen Bei- tragszahlung für Arbeitslosengeld II (derzeit 489,54 Euro) steht im Alter eine monatliche Rentenminderung von ge- genwärtig rund 2 Euro pro Jahr des Arbeitslosengeld II- Bezugs gegenüber. Der Wegfall der Erstattung der eini- gungsbedingten Leistungen durch den Bund betrifft al- lein die interne Finanzierung. Für die heutigen und künf- tigen Rentnerinnen und Rentner, deren Renten solche Leistungen enthalten, ändert sich nichts. Zu Frage 62: Bei der angesprochenen Beitragssatzentwicklung handelt es sich um das Ergebnis einer Modellrechnung und nicht um eine geplante Absenkung des Beitragssat- zes. Unter Berücksichtigung des Wegfalls der Beiträge für Bezieher von Arbeitslosengeld II sowie des Wegfalls der Erstattung einigungsbedingter Leistungen an die Rentenversicherung ergibt sich nach aktuellem Rechen- stand auch in den Jahren 2014 und 2015 ein stabiler Bei- tragssatz von 19,9 Prozent. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5433 (A) (C) (D)(B) Anlage 47 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- gen des Abgeordneten Werner Dreibus (DIE LINKE) (Drucksache 17/2285, Fragen 63 und 64): Wie hat sich seit 2005 die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Bundesagentur für Arbeit entwickelt, die örtliche Prüfungen von Verleihunternehmen vornehmen – bitte jährlich und den heutigen Istzustand darstellen –, und wie viele Beschäftigte der Verleihunternehmen waren von Verstößen gegen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – auch hier bitte die Jahreszahlen und den Stand des Jahres 2010 nennen und, wenn möglich, nach häufigsten Verstößen aufgliedern – be- troffen? Wie oft finden Nachkontrollen bei denjenigen Verleihfir- men statt, die durch die Bundesagentur für Arbeit regional ge- prüft und beanstandet wurden, und welche Ergebnisse haben diese Nachprüfungen hinsichtlich der Beseitigung des bean- standeten Verstoßes gebracht? Zu Frage 63: Nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit standen seit Ende 2004 im Fachgebiet Arbeitnehmerüberlassung bundesweit jährlich 77 Stellen für Plankräfte zur Durch- führung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, AÜG, zur Verfügung. Im ersten Quartal 2009 waren es 74 Stel- len. Auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wird die Bundesagentur für Arbeit vom 15. Juli 2010 an – vorerst befristet bis Ende 2011 – 25 zu- sätzliche Kräfte für Prüfaktivitäten einsetzen. Insgesamt stehen damit vom 15. Juli 2010 an bundesweit 99,5 Kräfte zur Durchführung des AÜG zur Verfügung. Zur Frage, wie viele Beschäftigte von Verstößen ge- gen das AÜG betroffen sind, erhebt die Bundesagentur für Arbeit keine differenzierte Statistik. Der Bundesre- gierung liegen daher keine Erkenntnisse hierzu vor. Zur Art der Verstöße verweist die Bundesregierung auf den 11. AÜG-Bericht – Bundestagsdrucksache 17/464, Seite 16. Zu Frage 64: Werden bei Zeitarbeitsfirmen, die von den Regional- direktionen geprüft wurden, Rechtsverstöße beanstandet, gibt es verschiedene Formen der Nachkontrolle. Die Art der Nachkontrolle richtet sich daher auch nach der Art des Verstoßes. So kann beispielsweise die Beseitigung eines Verstoßes – zum Beispiel gegen die Vergütungs- pflicht – auch schriftlich von dem Zeitarbeitsunterneh- men nachgewiesen werden. Nach Aussagen der Bundesagentur für Arbeit werden Zeitarbeitsunternehmen turnusmäßig mindestens vor der ersten Verlängerung einer befristeten Erlaubnis und vor Erteilung der unbefristeten Erlaubnis von den Regional- direktionen geprüft. Sofern Verstöße festgestellt wurden, erteilt die Bundesagentur für Arbeit eine Erlaubnis oft wiederholt nur befristet. Über den gesetzlichen Befris- tungsturnus hinaus ergibt sich daher eine Reihe von Möglichkeiten der Nachkontrolle im Rahmen örtlicher Prüfungen. Ihre Anzahl wird jedoch von der Bundes- agentur für Arbeit statistisch nicht erfasst. Nach Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit stellen die Regionaldirektionen bei den Nachprüfungen im Regelfall fest, dass die beanstandeten Verstöße beho- ben wurden. In den Fällen, in denen Verstöße wiederholt nicht abgestellt werden, spricht die Bundesagentur für Arbeit Sanktionen gegenüber den Zeitarbeitsunterneh- men aus. Dies kann von Geldbußen bis hin zum Entzug der Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis führen. Anlage 48 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- gen der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE LINKE) (Drucksache 17/2285, Fragen 65 und 66): Welchen politischen Handlungsbedarf sieht die Bundesre- gierung angesichts dessen, dass die Zahl der verhängten Buß- gelder aufgrund von Verstößen gegen das Arbeitnehmerüber- lassungsgesetz, AÜG, zunimmt, und wie teilen sich die seit 2005 verhängten Bußgelder bezogen auf ihre Höhe bzw. die Art der Ordnungswidrigkeit in Verbindung mit den entspre- chenden vorgegebenen Bußgeldrahmen – bitte jährlich an- hand der Klassifizierung des § 16 AÜG darstellen und auch für jede Art der Ordnungswidrigkeit bzw. für jeden vorgege- benen Bußgeldrahmen die tatsächlich im Durchschnitt ver- hängten Bußgeldhöhen beziffern – auf? Wie hoch ist die Summe der jährlich seit 2005 eingetriebe- nen Bußgelder, und wie viele der Bußgelder fallen auf die vom Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministe- rin für Arbeit und Soziales Hans-Joachim Fuchtel in der Fra- gestunde am 16. Juni 2010 benannten Verstöße – bitte die ab- soluten Zahlen für die jeweiligen Bereiche nennen? Zu Frage 65: Die Bundesregierung bezieht die vorgelegten Auswer- tungen der Bundesagentur für Arbeit, BA, und der Behör- den der Zollverwaltung zu den Verwarnungsgeldern und Geldbußen in die Überlegungen zu möglichen gesetzli- chen Änderungen im Bereich der Zeitarbeit mit ein. Nach Angaben der BA betrug die Summe der Verwarnungsgel- der und Geldbußen für Ordnungswidrigkeiten nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 bis 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, für die die BA zuständige Verwaltungsbehörde ist, im Jahr 2007: 56 103 Euro, 2008: 68 995 Euro, 2009: 81 390 Euro und im ersten Quartal 2010: 19 835 Euro. Eine Auswertung der Verfolgung und Ahndung von Buß- geldtatbeständen, die von den Behörden der Zollverwal- tung verfolgt werden – § 16 Abs. 1 Nr. 1 bis 2 a AÜG –, ist erst von 2009 an möglich. Im Jahr 2009 wurden insge- samt 851 Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das AÜG mit einer Verwarnung mit Verwarnungsgeld, ei- ner Geldbuße oder der Anordnung des Verfalls – § 29 a OWiG – abgeschlossen. Verfall bedeutet, dass dem Täter ein Geldbetrag entzogen wird, der höchstens dem Wert des aus der Tat Erlangten entspricht, sofern gegen ihn nicht eine Geldbuße verhängt wird. Insgesamt wurden 3 716 280,50 Euro an Verwarnungsgeldern und Geldbu- ßen festgesetzt bzw. für verfallen erklärt. Für eine weitergehende Differenzierung liegen der Bundesregierung keine statistischen Auswertungen vor. Die Ermittlung der durchschnittlichen Höhe der festge- setzten Geldbußen ist seriös nicht möglich. Die den ein- 5434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) zelnen Bußgeldverfahren zugrunde liegenden Sachver- halte sind hinsichtlich der Zahl der betroffenen Arbeitnehmer und der Dauer der Zuwiderhandlung so unterschiedlich, dass allein die Zahl der Bußgeldbe- scheide und die Summe der festgesetzten Geldbußen keine verlässliche Aussage zulässt. Die Zahl der in ei- nem Bußgeldverfahren jeweils betroffenen Arbeitneh- mer und die Dauer der Zuwiderhandlung – was regelmä- ßig Einfluss auf die Höhe der Geldbuße hat – können den statistischen Daten nicht entnommen werden. Zu Frage 66: Zur Höhe der Bußgelder und Verwarnungsgelder wird auf die Antwort zu Frage 65 verwiesen. Für die Ahndung und Verfolgung von Verstößen ge- gen Mindestlohnbestimmungen, beispielsweise im Ma- ler- und Lackiererhandwerk, sind die Behörden der Zoll- verwaltung zuständige Verwaltungsbehörde. Sofern Verstöße gegen Mindestlohnbestimmungen bei Prüfun- gen festgestellt werden, erfolgt vonseiten der Bundes- agentur für Arbeit eine Abgabe an das jeweils zuständige Hauptzollamt. Anlage 49 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Jutta Krellmann (DIE LINKE) (Drucksache 17/2285, Frage 67): Was sind die zehn Einsatzbranchen – bitte jährliche Anga- ben seit 2005 machen –, in denen wegen Verstößen gegen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die meisten Bußgelder ver- hängt wurden, und wie viele Beschäftigte waren von den Ver- stößen tangiert? Die Bundesagentur für Arbeit ist die für die Verfol- gung und Ahndung der Ordnungswidrigkeiten nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 bis 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, zuständige Verwaltungsbehörde. Diese Ordnungs- widrigkeiten betreffen die Zeitarbeitsbranche und Hand- lungen des Verleihers. Nur bei wenigen Verstößen ist auch die Branche des Entleihers betroffen. Dies ist in der Regel bei Verstößen gegen Mindestlohnbestimmungen der Fall. Für die Verfolgung und Ahndung von diesen Verstößen sind die Behörden der Zollverwaltung zustän- dig. Eine Aussage zur Anzahl der Beschäftigten, die von den Verstößen tangiert waren, kann nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit nicht getroffen werden, da eine derartige Statistik nicht geführt wird. Unabhängig von Bußgeldern sind Sanktionen durch Auflagen, Nichtverlängerung einer befristeten Erlaubnis, Nichterteilung einer unbefristeten Erlaubnis und Wider- rufe möglich. Diese Entscheidungen werden durch die Regionaldirektionen im Rahmen des Erlaubnisverfah- rens getroffen. Anlage 50 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 68): Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass die Anmelde- zahlen von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in den Be- rufsbildungswerken zum jetzigen Zeitpunkt gegenüber den Vorjahren stark rückläufig sind, und welche Konsequenzen zieht sie daraus? Soweit die Voraussetzungen dafür gegeben sind, sol- len behinderte wie nichtbehinderte Menschen in Betrie- ben und Verwaltungen ausgebildet werden. Wenn Be- trieb und Berufsschule bereit und in der Lage sind, die Ausbildung unter angemessener Berücksichtigung der Behinderung durchzuführen, wird für behinderte Men- schen vorrangig eine solche Ausbildung angestrebt. Sofern es Art und Schwere der Behinderung oder die Sicherung des Erfolgs der Teilhabe erfordern, werden die beruflichen Bildungsmaßnahmen in besonderen Ein- richtungen der beruflichen Rehabilitation zum Beispiel in Berufsbildungwerken durchgeführt. In den vergangenen Jahren hat die Bundesagentur für Arbeit ihre Anstrengungen zunehmend verstärkt, für Jugendliche mit Behinderungen nach der Schulzeit möglichst eine betriebliche Berufsausbildung zu er- möglichen. Diese Entwicklung spiegelt sich in der An- meldesituation in den Berufsbildungswerken wider, die im Trend der letzten Jahre in Richtung späterer Anmel- dung durch die Bundesagentur für Arbeit geht. So hat sich auch in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die tatsächliche Anmeldesituation aufgrund des Ausbildungsbeginns im Herbst erst im Oktober ersicht- lich war. Anlage 51 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 69): Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der vom Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte herausgegebenen Studie vom 22. Dezem- ber 2009, in der in den Nrn. 24 und 25 konstatiert wird, dass es für die effektive Umsetzung der UN-Behindertenrechts- konvention empfehlenswert sei, neben einem übergeordneten Focal Point nach Art. 33 Abs. 1 der Konvention auch in allen relevanten Ministerien und Abteilungen Focal Points einzu- richten, um ein entsprechendes Bewusstsein zu bilden, an der Erarbeitung eines Aktionsplanes teilzunehmen sowie die Um- setzung zu begleiten und zu kontrollieren, und in welchen Bundesministerien und deren Abteilungen wurden bislang ne- ben dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Abteilung V Focal Points eingerichtet? Die staatliche Anlaufstelle nach Art. 33 der UN-Be- hindertenrechtskonvention, Focal Point, im Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales arbeitet bei der Er- stellung des Nationalen Aktionsplans mit den übrigen Ressorts der Bundesregierung ebenso eng zusammen wie mit den übrigen Abteilungen des Hauses. Eine for- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5435 (A) (C) (D)(B) melle Benennung von weiteren Focal Points ist bislang nicht erfolgt. Im Rahmen der weiteren Entwicklung und insbesondere der anschließenden Umsetzung des Ak- tionsplans wird eine noch intensivere Vernetzung der Ressorts in diesem Bereich angestrebt. Die Benennung von weiteren Focal Points wird dabei ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Anlage 52 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 70): Welche Aktivitäten plant die Bundesregierung national und auf europäischer Ebene, um die Einführung einer Tier- schutzkennzeichnung zu implementieren? Der Ausgangspunkt der aktuellen Überlegungen zur Einführung einer Tierschutzkennzeichnung ist der Be- richt der Europäischen Kommission vom Oktober 2009. Es handelt sich mithin um ein europäisches und kein na- tionales Verfahren. Federführend für den weiteren Ver- fahrensablauf sind die jeweiligen Institutionen der EU. Die Bundesregierung wird sich in die Beratungen in den Gremien des Rates aktiv einbringen. Anlage 53 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 71): Bei welchen Haushaltstiteln im Agraretat will die Bundes- regierung Kürzungen vornehmen, um die Weiterführung der Steuerermäßigungen beim Agrardiesel im heutigen Umfang gegenzufinanzieren? Die Fortführung der Agrardieselregelung verursacht nach aktuellen Berechnungen geschätzte Steuerminder- einnahmen von rund 260 Millionen Euro pro Jahr. Von diesem Betrag muss das BMELV durch Einsparungen in seinem Haushalt – Einzelplan 10 – 170 Millionen Euro erbringen. Darüber hinaus muss der Einzelplan 10 einen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes leis- ten. Die Gegenfinanzierung von Agrardiesel und der all- gemeine Konsolidierungsbeitrag sollen – vorbehaltlich der Entscheidung der Bundesregierung über den Regie- rungsentwurf des Haushalts 2011 in der Kabinettssitzung am 7. Juli 2010 – insbesondere erbracht werden durch: Erstens. Minderausgaben in der Agrarsozialpolitik, die sich aufgrund aktueller Entwicklungen ergeben – insbe- sondere durch Änderungen in der Zahl der Leistungs- empfänger, günstigere Entwicklungen bei den Leis- tungsaufwendungen je Einzelfall und Auswirkungen von Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Änderungen in den gesetzlichen Regelungen der land- wirtschaftlichen Sozialpolitik sind damit nicht verbun- den. Zweitens Absenkung der Mittel für die Gemein- schaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, GAK, auf effektiv 600 Millionen Euro. Dies bedeutet einen Rückgang gegenüber 2010 – effek- tiv 700 Millionen Euro – um 100 Millionen Euro. Drit- tens Verzicht auf die Fortsetzung des Programms zur Li- quiditätssicherung der landwirtschaftlichen Betriebe in 2011 – Minderausgaben in 2011 von 25 Millionen Euro. Viertens Veranschlagung einer Globalen Minderausgabe – 50 Millionen Euro in 2011, die im Zuge der parlamenta- rischen Beratungen des Haushaltsentwurfs und gegebe- nenfalls im Rahmen der Haushaltsbewirtschaftung 2011 aufzulösen sein wird. Einzelheiten, in welchen Berei- chen die Globale Minderausgabe erwirtschaftet werden soll, stehen noch nicht fest. Anlage 54 Antwort des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Fra- gen der Abgeordneten Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 72 und 73): Welche Faktoren werden über die Dienstpostenzahl hinaus zur Auswahl der zu schließenden kleinen Kasernen herange- zogen, und inwieweit werden städtebauliche Belange bei der Standortauswahl der vom Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, angekündigten Schließung eine Rolle spielen? In welcher zeitlichen Frist werden die betroffenen Städte und Gemeinden über die Schließung der Kasernen informiert, und in welcher Form werden sie an dem folgenden Schlie- ßungs- und Konversionsprozess beteiligt? Zu Frage 72: Die Bundeswehr steht, insbesondere durch die Auslands- einsätze, großen Herausforderungen und Verantwortungen gegenüber. Daher ist es die Absicht des Bundesministers der Verteidigung, Anpassungen dort vorzunehmen, wo die Bundeswehr effizienter und insbesondere einsatzorien- tierter ausgerichtet werden kann. Dies alles geschieht nicht vorrangig, aber auch vor dem Hintergrund der Maß- nahmen der Bundesregierung zur Gewährleistung solider Staatsfinanzen. Eingriffe in viele Bereiche der Bundes- wehr – bis hin zur Stationierung – können vor dem bereits seit längerem bekannten Hintergrund erforderlicher Strukturreformen notwendig sein. Aussagen zu konkreten Veränderungen an einzelnen Standorten werden deshalb erst möglich sein, wenn die erforderlichen Strukturanpassungen der Bundeswehr sorgfältig geprüft und entschieden sind. Das Stationie- rungskonzept wird gegebenenfalls in Gänze zu überprü- fen sein. Der dann dabei verwendete Kriterienkatalog zur Vorbereitung von Stationierungsentscheidungen orien- tiert sich einerseits an militärischen/funktionalen Krite- rien wie Übungs- und Ausbildungsmöglichkeiten oder der geschlossenen Stationierung von Verbänden und Ein- heiten und andererseits an betriebswirtschaftlichen Krite- rien wie bereits getätigte Investitionen oder die Höhe der Kosten für den Betrieb der Liegenschaften. Dabei ist es alternativlos, dass die militärischen/funk- tionalen und betriebswirtschaftlichen Kriterien gegen- über regionalpolitischen Gesichtspunkten in den Vorder- grund treten müssen. Die städtebaulichen Belange der 5436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) betroffenen Kommunen können demgegenüber keine vorrangige Bedeutung bei der Bewertung von Standorten erlangen. Zu Frage 73: Standortentscheidungen fallen ganz am Schluss eines zeitaufwendigen Planungsprozesses. So müssen zunächst die zukünftigen Rahmenbedingungen untersucht und ent- schieden werden, dazu zählen auch die Wehrform und die Personalumfänge der Bundeswehr. Darauf aufbauend muss ein militärisches Gesamtkonzept erarbeitet werden, auf dem dann die Stationierungsplanung aufsetzt. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben im Ge- schäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen ist seit dem 1. Januar 2005 für die Verwertung der für Vertei- digungszwecke nicht mehr benötigten Immobilien des Bundes zuständig. Sie wird den Kommunen die relevan- ten liegenschaftsbezogenen Informationen zur Verfügung stellen, damit Vorüberlegungen für eine künftige Nutzung bereits weit vor der Räumung der Standorte durch die Bundeswehr einsetzen können. Die betroffenen Kommu- nen werden zu diesem Zweck so frühzeitig wie möglich über die Termine der Standorträumung informiert. Gleichzeitig werden erste Gespräche mit den Kommunen und möglichen Investoren zur Anschlussnutzung geführt. Zusätzlich werden im jeweiligen Einzelfall die betroffe- nen Landesregierungen unterrichtet. Auch die Bundes- wehr informiert im Internet, www.bundeswehr.de, über die Freigabe von Liegenschaften und unterstützt die be- troffenen Kommunen durch Informationen und Beratung. Bei den Wehrbereichsverwaltungen und Bundeswehr- Dienstleistungszentren stehen ebenfalls Ansprechpartner für Konversionsfragen zu Verfügung. Investoren und Ver- treter von Kommunen wird die Möglichkeit eingeräumt, sich vor Ort zu informieren und die freiwerdenden Lie- genschaften zu besichtigen. Die Kommunen sind dadurch in der Lage, sich auf die anstehenden Veränderungen vor- zubereiten und alternative Nutzungskonzepte zu entwi- ckeln. Eine schnelle Anschlussnutzung und damit auch die Vermeidung fortlaufender Kosten vormals militärisch ge- nutzter Liegenschaften liegt im wirtschaftlichen Interesse des Bundes. Die Bundesministerien der Verteidigung und der Finanzen haben eine gemeinsame Koordinierungs- stelle gegründet. Sie ist zentraler Ansprechpartner für Probleme und Anliegen der von Konversionsfolgen be- troffenen Länder und Kommunen und wird diese Fälle koordinieren und – sofern notwendig – unterstützend be- gleiten. Im Rahmen einer vertrauensvollen Zusammenar- beit wird die Bundesregierung auch zukünftig umfassend und zeitgerecht sowohl die Abgeordneten als auch die be- troffenen Kommunen über alle für sie wichtigen Ent- scheidungen informieren. Anlage 55 Antwort des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 74): Wie beantwortet die Bundesregierung nunmehr meine mündliche Frage vom 2. Juni 2010 zum weiteren Schicksal der acht Personen, die nach der Antwort der Bundesregierung vom 9. Juni 2010 (siehe Plenarprotokoll 17/45, Seite 4576 A) auf der Joint Priority Effects List, JPEL, der sogenannten To- desliste der NATO-Truppen für Nordafghanistan, auf Initia- tive von deutscher Seite seit Juni 2009 gelistet worden waren, insbesondere ob die Personen inzwischen festgenommen oder getötet wurden? Von den acht Personen, die seit Juni 2009 von deut- scher Seite zur Nominierung auf der Joint Prioritized Ef- fects List, JPEL, der ISAF vorgeschlagen wurden, sind zwischenzeitlich zwei bei Gefechtshandlungen ohne eine Beteiligung deutscher Kräfte zu Tode gekommen. In einem der beiden Fälle waren ausschließlich afgha- nische Kräfte an den Gefechten beteiligt. Im anderen Fall wurde eine Person getötet, als sie sich unter Anwen- dung von Waffengewalt im Verlauf einer von nichtdeut- schen Streitkräften unterstützten Operation einer Ergrei- fung durch die afghanischen Sicherheitskräfte widersetzt hatte. Damit verbleiben sechs der seit Juni 2009, und ei- ner aus der Zeit vorher, von deutscher Seite für die No- minierung auf der ISAF Joint Prioritized Effects List vorgeschlagenen Personen weiterhin mit dem Ziel der Festsetzung zur Fahndung durch ISAF und die afghani- schen Sicherheitskräfte ausgeschrieben. Der Bundesregierung ist bisher unverändert kein Fall bekannt, bei dem Personen, deren Nominierung auf die ISAF Joint Prioritized Effects List von deutscher Seite mit dem Ziel der Festsetzung veranlasst wurde, entgegen dieser Wirkungsforderung von Bündnispartnern in Af- ghanistan gezielt getötet wurden. Anlage 56 Antwort des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage des Abgeordneten René Röspel (SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 76): Wird der Plan der Bundesregierung zur Einführung einer Pflicht zur Veröffentlichung der Ergebnisse klinischer Prüfun- gen im Rahmen des Referentenentwurfs für das Arzneimittel- neuordnungsgesetz nicht zum „Aufbau eines zusätzlichen na- tionalen Registrierungs- und Publikationssystems“ führen, welches „nicht im Interesse einer einfacheren Zugänglichkeit von Daten“ ist (wie der Abgeordnete Lars Lindemann am 25. März 2010 in einer Rede argumentierte), und teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien beim Deutschen Regis- ter Klinischer Studien, DRKS, nicht gesetzlich verankerbar ist (wie es der Abgeordnete Dr. Rolf Koschorrek in einer Rede vom 25. März 2010 dargestellt hat)? Die im Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittel- marktes in der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV, vorgesehene Regelung im Arzneimittelgesetz führt nicht zum Aufbau eines zusätzlichen nationalen Registrie- rungs- und Publikationssystems. Der vorgeschlagene § 42 b des Arzneimittelgesetzes enthält die grundsätzli- che Verpflichtung für den pharmazeutischen Unterneh- mer, Ergebnisse der klinischen Prüfungen mit seinem zugelassenen oder für das Inverkehrbringen genehmig- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5437 (A) (C) (D)(B) ten Arzneimittel öffentlich zugänglich zu machen. Die Verpflichtung gilt auch für den Sponsor einer klinischen Prüfung mit einem zugelassenen Arzneimittel. Schon jetzt sind die Sponsoren von klinischen Prü- fungen nach § 13 Absatz 9 der GCP-Verordnung ver- pflichtet, der zuständigen Bundesoberbehörde und der zuständigen Ethik-Kommission innerhalb eines Jahres nach Beendigung der klinischen Prüfung eine Zusam- menfassung des Berichts über die klinische Prüfung zu übermitteln. Diese Zusammenfassung muss alle wesent- lichen Ergebnisse der klinischen Prüfung abdecken. Ort und Form der Veröffentlichung werden nicht vorgege- ben, diese kann beispielsweise auch auf dem Internetauf- tritt eines Unternehmens oder eines Sponsors erfolgen oder auf einer gesonderten Internetseite verlinkt werden. Auch die Aufnahme in ein Register wird nicht vorge- schrieben. Nach harmonisiertem europäischen Recht be- steht bereits jetzt die Verpflichtung, alle klinischen Prü- fungen in der europäischen Datenbank EudraCT zu registrieren. Die Europäische Kommission sieht vor, dass Regis- trierungsdaten aus dieser bislang nur für Behörden zu- gänglichen Datenbank ab September 2010 und Ergeb- nisse über klinische Arzneimittelprüfungen ab 2011 öf- fentlich zugänglich gemacht werden. Eine weitere gesetzliche Verpflichtung zur Registrie- rung klinischer Prüfungen wäre eine Doppelverpflich- tung und ist deshalb nicht erforderlich. Davon abgese- hen, könnte sie allenfalls für eine Registrierung bei einer Behörde und nicht bei einer anderen Institution wie dem Deutschen Register Klinischer Studien, DRKS, einge- führt werden. Denn nicht alle Informationen zu einer kli- nischen Prüfung können veröffentlicht werden, insbe- sondere soweit sie schützenswerte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie patientenbezogene Daten enthalten. Anlage 57 Antwort des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksa- che 17/2285, Frage 77): Inwieweit wird sich die Bundesregierung bei den Ver- handlungen um die 2011 anstehende Novellierung des Glücksspielstaatsvertrages dafür einsetzen, dass Soziallotte- rien, zum Beispiel „Aktion Mensch“, nicht als ebenso sucht- gefährlich eingestuft werden wie kommerzielle Lotterien, so- dass für Erstere Ausnahmeregelungen – zum Beispiel der Losverkauf über das Internet – möglich werden? Die Bundesregierung ist an den Verhandlungen um die Novellierung des Glücksspiel-Staatsvertrages nicht betei- ligt. Es handelt sich um einen Staatsvertrag der 16 Bun- desländer, insofern hat die Bundesregierung keine Ein- flussmöglichkeiten. Anlage 58 Antwort des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Fragen der Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 78 und 79): Wie schätzt die Bundesregierung die wirtschaftliche Situa- tion von freiberuflichen Hebammen ein, die von Juli 2010 an eine Prämienzahlung ihrer Haftpflichtversicherungen von 3 000 Euro und mehr jährlich zu leisten haben, und welche Folgen erwartet die Bundesregierung daraus? Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung bezüglich eines zukünftigen Engpasses der Versorgung mit Hebammen insbesondere im ländlichen Raum, und was unternimmt die Bundesregierung, um die Versorgung zu gewährleisten? Zu Frage 78: Der Bundesregierung liegen Daten zur Entwicklung der Zahl der Hebammen/Geburtshelfer sowie zu den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV, für Hebammenhilfe vor. Diese zeigen, dass sowohl die Zahl der Hebammen als auch die Ausgaben der GKV in den letzten Jahren spürbar gestiegen sind. Die Bundesregierung nimmt das Anliegen der Hebam- men sehr ernst. Es trifft zu, dass die Prämien für Berufs- haftpflichtversicherungen der in der Geburtshilfe tätigen Hebammen zum 1. Juli 2010 in erheblichem Umfang an- gehoben werden. Die Aufwendungen für Berufshaftpflichtversicherun- gen sind nach Auffassung des Bundesministeriums für Gesundheit, BMG, als Kostenfaktor bei den Vergütungs- vereinbarungen zwischen den Hebammenverbänden und dem GKV-Spitzenverband zu berücksichtigen, da § 134 a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, SGB V, ausdrück- lich vorschreibt, dass die „berechtigten wirtschaftlichen Interessen“ der freiberuflichen Hebammen im Rahmen der Vergütungsvereinbarungen zu berücksichtigen sind. Nachdem eine Einigung zwischen den Vertragsparteien nicht erzielt worden ist, ist es nun Aufgabe der gemeinsa- men Schiedsstelle, die Vergütung festzulegen. Für den 5. Juli 2010 wurde ein Termin für die Schieds- verhandlung festgesetzt. Ich erwarte, dass die Schieds- stelle bei ihrer Entscheidung auch die Erhöhung der Haft- pflichtprämien angemessen berücksichtigen wird. Eine Einflussnahme des BMG auf dieses Verfahren scheidet allerdings aus. Zu Frage 79: Nach den Angaben des GKV-Spitzenverbandes hat die Zahl der Leistungserbringerinnen – sowohl Hebammen als auch Geburtshäuser – in den vergangenen Jahren zu- genommen. Dem BMG sind bestehende Versorgungseng- pässe nicht bekannt, so dass die Versorgungslage mit Leistungen der Hebammenhilfe derzeit als gut bezeichnet werden kann. Ausgehend davon, dass der in Kürze zu erwartende Schiedsspruch die steigenden Haftpflichtprämien für ge- burtshilflich tätige Hebammen bei der Vergütung ange- messen berücksichtigen wird, ist nach Ansicht des BMG 5438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) nicht zu erwarten, dass sich die Versorgungssituation kurzfristig ändern wird. Anlage 59 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die Fragen des Abgeordneten Dirk Becher (SPD) (Drucksa- che 17/2285, Fragen 80 und 81): Hält die Bundesregierung die Deckelung von Biogasanla- gen im Außenbereich auf 500 Kilowatt weiterhin für sinnvoll, auch wenn die Anlagen ohne bauliche Veränderung mehr als 500 Kilowatt leisten könnten? Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung dazu, die Begrenzung für den Bau von Biogasanlagen nicht mehr an der Leistung, gemessen in Kilowatt, sondern an der räumlichen Größe der Anlagen festzumachen, und welche Argumente sprechen für eine Beibehaltung der derzeitig gültigen Mess- größe? Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP sieht für das Bauplanungsrecht unter anderem vor, das Baugesetzbuch zu ändern. Das Gesetzgebungsverfahren wird derzeit unter anderem durch eine Reihe von Exper- tengesprächen vorbereitet. In diesem Zusammenhang wird auch möglicher Änderungsbedarf bei der privile- gierten Zulässigkeit von Biomasseanlagen im Außenbe- reich, § 35 Abs. 1 Nr. 6 Baugesetzbuch, geprüft; Ergeb- nisse liegen bislang noch nicht vor. Das Gesetz- gebungsverfahren soll 2011 förmlich eingeleitet werden. Das Inkrafttreten der Neuregelungen ist für 2012 vorge- sehen. Anlage 60 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die Frage des Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 82): Wie ist es zu erklären, dass das geeignete Prüfungsverfah- ren der Materialforschungs- und -prüfanstalt an der Bauhaus- Universität Weimar, MFPA – Sachverständiger Dr. Gerhard Hempel –, vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bereits am 27. Oktober 1992 mit dem Schreiben StB 25/38.55.50/21 H 92 der Deutschen Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, DEGES, zur Nutzung empfohlen worden war – „Um alle im Hinblick auf Alkalikie- selsäurereaktionen bestehenden Verdachtsmomente von vorn- herein auszuräumen … Sein Prüfverfahren ist über die An- wendung im Brückenbau hinaus auch im Fahrbahndeckenbau anzuwenden und geeignet, Schäden abzuwenden“ –, ohne dass die DEGES über Jahre hinweg darauf eingegangen wäre und dadurch eindeutig vermeidbarer Schaden verursacht wurde, und welche konkreten Autobahnabschnitte – bitte in Kilometerangaben – sind nach aktuellem Kenntnisstand Ver- dachtsfälle für die Schädigung durch die Alkalikieselsäurere- aktion? Das angesprochene Prüfungsverfahren wurde in dem Institut für Baustoffe Weimar schon ab circa 1985 zur Begutachtung von potenziell alkaliempfindlichen Ge- steinskörnungen angewandt. Unter Beteiligung des damaligen Instituts für Bau- stoffe Weimar, heute MFPA-Weimar, Herrn Dr. Hempel, wurden seit etwa 1991 Untersuchungen an geschädigten Bauwerken durchgeführt, um die Richtlinie „Vorbeu- gende Maßnahmen gegen schädigende Alkalireaktionen im Beton“, Alkali-Richtlinie, fortzuschreiben. Die Al- kali-Richtlinie wurde seitdem mehrfach aktualisiert. Gesicherte Zahlen zur Länge der betroffenen Stre- ckenabschnitte können nicht genannt werden. Der Nach- weis einer schädigenden Reaktion an Betonfahrbahnde- cken durch Alkali-Kieselsäure-Reaktionen, AKR, muss durch spezielle, zeitaufwändige Untersuchungen er- bracht werden, da das Rissbild auch durch andere Schä- digungsprozesse verursacht werden kann. Im Ergebnis haben sich in den letzten Jahren die Informationen über Streckenabschnitte, für die Verdacht auf Schädigung durch AKR besteht, für die diese Schadensursache nach- gewiesen wurde und an denen Erhaltungsmaßnahmen durchgeführt wurden, zum Teil bereits auch an Ver- dachtsstrecken ohne diesen Nachweis, überschnitten. Anlage 61 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die Frage des Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 83): Wann wird die Finanzierungsvereinbarung für den zweiten S-Bahn-Tunnel in München zum Abschluss kommen, und bis zu welcher Grenze wird der Bund mögliche Kostensteigerun- gen beim Bau des zweiten S-Bahn-Tunnels in München mitfi- nanzieren? Notwendig für die Entscheidung über eine anteils- mäßige Finanzierung des zweiten Münchener S-Bahn- tunnels mit Mitteln aus dem Bundesprogramm gemäß § 6 Abs. 1 des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes ist die Vorlage eines Förderantrages, in dem die Vo- raussetzungen dafür belegt sind. Dies ist bisher noch nicht geschehen. Insofern können keine Aussagen über die Entscheidung oder die Finanzierung etwaiger Kos- tensteigerungen gemacht werden. Anlage 62 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die Frage des Abgeordneten Michael Groß (SPD) (Druck- sache 17/2285, Frage 84): Welche Wirkung auf die kommunalen Finanzen und wel- che Art der Kompensation dieser Wirkung wird es aus Sicht der Bundesregierung durch die geplante Streichung des Heiz- kostenzuschusses geben? Die Einführung der Heizkostenkomponente im Wohn- geld war Teil der Wohngeldreform 2009, deren Auswir- kungen auch auf nachgelagerte soziale Sicherungssysteme insgesamt und nicht isoliert für einzelne Komponenten berechnet wurden. Die finanziellen Auswirkungen des Wegfalls der Heizkostenkomponente werden gegenwär- tig im Zusammenhang mit dem anstehenden Gesetzge- bungsverfahren zum Haushaltsbegleitgesetz 2011 unter anderem für Leistungen der Grundsicherung für Arbeit- suchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5439 (A) (C) (D)(B) buch abgeschätzt. Welche zusätzlichen Kosten sich gege- benenfalls zukünftig für diese Systeme ergeben, ist der- zeit noch nicht absehbar. Anlage 63 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die Fragen des Abgeordneten Uwe Beckmeyer (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 85 und 86): Wie groß ist nach Kenntnis der Bundesregierung das Ver- kehrsaufkommen von Lkw mit einem Gewicht von über 12 Tonnen auf allen vier- und mehrspurigen Bundesstraßen in Deutschland, und wie wird sich auf der Grundlage vorliegen- der Verkehrsprognosen das Verkehrsaufkommen in den nächsten Jahren auf allen vier- und mehrspurigen Bundesstra- ßen entwickeln? Wie hoch schätzt die Bundesregierung die zu erwartenden Mehreinnahmen aus der Lkw-Maut auf vier- und mehrspuri- gen Bundesstraßen ein, und wie hoch werden voraussichtlich die Systemkosten einer Lkw-Maut auf vier- und mehrspurigen Bundesstraßen sein? Zu Frage 85: Dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung sind die Schwerverkehrsbelastungen einzel- ner Bundesstraßen bekannt, sowie der Durchschnittswert aller zwei- und mehrstreifigen Bundesstraßen. Zu Frage 86: Die Bundesregierung erwartet bei einer Bemautung von vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen Mautein- nahmen im unteren dreistelligen Millionenbereich. Da die Ausweitung der Lkw-Maut auf vier- und mehrstrei- fige Bundesstraßen zurzeit rechtlich, technisch und orga- nisatorisch geprüft wird, können allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch keine exakten Angaben gemacht werden. Entscheidend wird letztlich der Umfang der Fahrleis- tungen auf den betreffenden Straßenabschnitten sein. Zur Höhe der Systemkosten kann zum jetzigen Zeit- punkt ebenfalls noch keine Aussage getroffen werden. Anlage 64 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die Fragen des Abgeordneten Christian Lange (Backnang) (SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 87 und 88): Stimmen die Angaben des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer, dass bei der sogenannten Sparklausur der Bundesregierung für die Jahre 2011 bis 2014 bei den Infrastrukturinvestitionen Einsparun- gen von viermal 200 Millionen Euro vereinbart wurden, oder stimmen die Angaben des Bundesministers der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, nach denen die Einsparungen in den nächsten Jahren ansteigen sollen? Welche Folgen werden die Einsparungen für die bereits geplanten und zugesicherten Verkehrsprojekte haben, und welche finanziellen Auswirkungen werden diese Einsparun- gen auf die Bundesländer haben, insbesondere auf Baden- Württemberg? Zu Frage 87: Die Bundesregierung hat auf ihrer Klausurtagung An- fang Juni Eckpunkte für die weitere Aufstellung des Haushaltsentwurfs 2011 und des Finanzplans bis 2014 beschlossen. Zur Umsetzung werden alle Ressorts einen Beitrag leisten. Die Frage nach einzelnen Einsparbeiträgen zielt daher auf das Verfahren zur Aufstellung des Regierungsent- wurfs des Bundeshaushalts 2011 ab und richtet sich auf eine Phase der Vorbereitung der Etatplanung, die rein re- gierungsintern verläuft. Es entspricht der gängigen Staats- praxis, dass die Erörterung und die Erstellung des Regie- rungsentwurfs des Bundeshaushalts in den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortlichkeit fällt und dass über Einzelheiten dieses Verfahrens – so lange es andauert – keine Auskünfte gegeben werden. Hierzu zählen gege- benenfalls auch unterschiedliche Auffassungen zu be- stimmten Details während der Haushaltsaufstellung. Zu Frage 88: Gegenwärtig finden die Ressortgespräche zur Auf- stellung des Bundeshaushalts 2011 statt. Dabei spielt die Haushaltskonsolidierung eine gewichtige Rolle. Bevor aber zu den Auswirkungen Stellung bezogen werden kann, sind die Verhandlungen erst einmal abzuschließen. Dies erfolgt mit der Beschlussfassung des Kabinetts zum Haushaltsentwurf 2011. Anlage 65 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Jahressteuer- gesetzes 2010 (JStG 2010) (Tagesordnungs- punkt 10) Olav Gutting (CDU/CSU): Es entspricht ja fast schon einer gewissen Tradition, dass wir einmal im Jahr unser jeweiliges Jahressteuergesetz beraten. Auch in die- sem Jahr werden überwiegend steuertechnische Anpas- sungen vorgenommen, welche sich im Laufe eines Jah- res aus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben oder aus Anregungen der Verwaltung ergaben. Die bloße Menge dieser notwendigen Anpassungen hat es aller- dings in sich. Schließlich gab es letztes Jahr kein Jahres- steuergesetz, sodass wir über einen Gesetzentwurf von einem Umfang von 175 Seiten mit rund 180 Maßnahmen zu beraten haben. Die in Fachkreisen häufig verwandte Bezeichnung als Omnibusgesetz – manche bezeichnen es nachvollziehbar als klassisches Besenwagengesetz – ist deshalb dieses Jahr zutreffender denn je. Gleichwohl enthält auch der uns zur Lesung vorliegende Entwurf ei- nes Jahressteuergesetzes 2010 eine Reihe von bedeutsa- men Maßnahmen, die eine besondere Erwähnung ver- dienen. Mit dem Jahressteuergesetz werden wir – wie im Ko- alitionsvertrag vorgesehen – die gleichheitswidrigen Be- nachteiligungen von eingetragenen Lebenspartnern ge- genüber Ehegatten im Bereich der Erbschafts- und Schenkungsteuer und im Bereich der Grunderwerbsteuer 5440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) abbauen. Zur Vermeidung einer Doppelförderung bei der steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen sind bereits mit öffentlichen Mitteln geförderte Maßnah- men vereinzelt nicht absetzbar. Dies weiten wir nun kon- sequent auf weitere Förderprogramme aus. Mit dem Jahressteuergesetz 2010 wird auch der Um- satzsteuerbetrug weiter eingedämmt werden. Mit der Erweiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungs- empfängers bei der Umsatzsteuer – sogenanntes Re- verse-Charge-Verfahren – auf Lieferungen von Industrieschrott, Altmetallen und sonstigen Abfallstof- fen sowie Leistungen von Gebäudereinigern kann der sogenannte Karussellbetrug in diesem Bereich wirksam verhindert oder erschwert werden. Bedauerlich ist die notwendige Verlängerung der Übergangsregelung bei den elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmalen. Der aktuelle Entwicklungsstand des Verfahrens lässt die ur- sprünglich für 2011 geplante Einführung noch nicht zu. Als Abgeordneter des Spargelwahlkreises Bruchsal- Schwetzingen will ich noch eine, wie ich finde, sehr po- sitive Maßnahme besonders hervorheben. Mit dem Jah- ressteuergesetz 2010 werden wir die zu Recht vielfach kritisierte Steuererklärungspflicht für viele Saisonar- beitskräfte abschaffen. Bislang zwang diese Regelung 300 000 Saisonarbeitskräfte – davon alleine 200 000 in der Landwirtschaft – eine Steuererklärung abzugeben, obwohl absehbar war, dass keine Steuerlast entsteht. Seit 2009 mussten landwirtschaftliche Arbeitgeber – meist Spargelanbauer – ihre Saisonarbeitskräfte zunehmend bei Erstellung der Steuererklärung unterstützen. Es ist nicht verwunderlich, dass ausländische Saisonarbeits- kräfte – meist aus Polen, Kroatien, Rumänien oder Bul- garien – nicht in der Lage waren, die amtlichen Vordru- cke ohne Hilfestellung auszufüllen. Da tut man sich schon als Muttersprachler schwer – mit rudimentären deutschen Sprachkenntnissen geht aber rein gar nichts. Also musste der Bauer oder gleich der Steuerberater hel- fend einspringen. Die damit einhergehenden beträchtli- chen Bürokratiekosten blieben bei dem jeweiligen Arbeitgeber hängen, obwohl die Steuerbescheide regel- mäßig nur eine Steuerlast von null Euro auswiesen. Wir wollen mit dieser Entlastung nicht nur etwas für die sai- sonalen Beschäftigten tun, sondern auch für deren Ar- beitgeber und für die Finanzverwaltung gleichermaßen. Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf einen Punkt hinweisen, der mir besonders am Herzen liegt. Noch sind Ergänzungen möglich und aus meiner Sicht auch notwendig. So brauchen wir eine sinnvolle Gesamtlö- sung für die Pauschalbesteuerung nach § 37 b EStG. Konkret geht es um die Pauschalierung der Sozialversi- cherungsbeiträge bei pauschal besteuerten Entgeltbe- standteilen. Es ist wenig verständlich, dass beispiels- weise bei einer Einladung von eigenen Mitarbeitern zu kulturellen Veranstaltungen zwar die darauf zu entrich- tende Steuer vom Arbeitgeber pauschaliert abgeführt werden kann, dieser aber dann wieder die Sozialversi- cherungsbeiträge auf dieses Geschenk individuell be- rechnen muss. Ziel einer Pauschalierung ist es nicht, keine oder nur geringe Sozialversicherungsbeiträge ab- zuführen, sondern Vereinfachungen bei der Berechnung herbeizuführen. Hier sollten wir nochmals nachbessern. Vereinfachung benötigt auch unser gesamtes Einkom- mensteuerrecht. Ungeachtet des Jahressteuergesetzes 2010 wird sich die Union in dieser Legislaturperiode für durchgreifende Steuervereinfachungen im Rahmen eines Gesamtkonzeptes einsetzen. Ich freue mich auf gute Beratungen. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Heute morgen haben wir die Regierungserklärung von Bundeswirt- schaftsminister Rainer Brüderle gehört. Das lautstarke und zudem unangebrachte Übermaß an Eigenlob ist si- cherlich nicht nur mir unangenehm aufgefallen. Ich frage mich, wer denn nun recht hat: Bundeswirtschafts- minister Brüderle, der sich die konjunkturelle Entwick- lung schönredet und tatsächlich zu glauben scheint, das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz habe ir- gendetwas damit zu tun, oder seine Parteifreunde von der FDP, die sich mittlerweile gar nicht mehr gerne an ihre eigene Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernach- tungen erinnern möchten und stattdessen neuerdings für „Steuervereinfachungen“ plädieren. Und wo sind eigent- lich der Parteivorsitzende Westerwelle und sein Steuer- papst Hermann Otto Solms, die wohl ihr eigenes neoli- berales Mantra zu Steuersenkungen und Stufenmodellen mittlerweile selbst nicht mehr hören können? Die FDP verkauft uns ihre Einsicht, dass derzeit keine Steuersenkungen möglich sind, dreist als bahnbrechen- den Erkenntnisgewinn. Das ist etwa so, als behaupte man jahrhundertelang, die Erde sei eine Scheibe, um sich dann selber dafür auf die Schulter zu klopfen, dass man die Kugelform der Erde für sich entdeckt hat – aber manche sind ja offensichtlich auch mit kleinen Fort- schritten auf dem Weg der Erkenntnis zufrieden. Schließlich konnte man ja auch überhaupt nicht wis- sen, dass wir uns mitten in einer schlimmen Wirtschafts- und Finanzkrise befinden, dass die Einnahmen von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungssys- temen deutlich zurückgehen werden und dass die Ausga- ben der staatlichen Solidargemeinschaft zur Krisenbe- wältigung stark ansteigen werden. Statt Steuersenkungen stehen bei der FDP ab sofort also Steuervereinfachungen auf dem Programm. Wieder einmal ein neoliberaler Kurswechsel – kein Wunder, dass bei diesen permanenten „strategischen Neuausrich- tungen“ – oder soll ich Zick-Zack-Kurs sagen? – auch letzte Spurenelemente politischer Führung verloren ge- hen, die die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie kleine und mittelständische Unternehmen von der Bundesregie- rung in Krisenzeiten erwarten. Aber wahrscheinlich ist das auch wirklich zu viel verlangt, wenn CDU/CSU und FDP schon größte Mühe damit haben, das eigene ver- rutschte politische Koordinatensystem andauernd an die Realität anzupassen. Deshalb verwundert es nicht, dass auch dem vorlie- genden Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb die übergeord- nete politische Richtung, der Wille zur versprochenen Steuervereinfachung fehlt. Wäre das Jahressteuergesetz 2010 nicht eine gute Gelegenheit gewesen, die zu Oppo- sitionszeiten bis zur totalen Ermüdung Einzelner vorge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5441 (A) (C) (D)(B) tragenen Forderungen nach Steuervereinfachungen nun endlich wenigstens teilweise einzulösen? Ich erinnere mich an die Vorwürfe des Kollegen Volker Wissing, die er bei der abschließenden Lesung des letzten Jahressteuergesetzes 2009 am 28. November 2008 erhoben hat – ich zitiere –: Sie verweigern Deutschland ein vereinfachtes Steu- errecht, mit dem man die Probleme lösen könnte. Aus dem Problem eines zu komplizierten Steuer- rechts machen Sie einfach ein Zeitproblem. … Die Menschen in Deutschland fühlen sich nicht wohl, vor allen Dingen nicht angesichts des Steuerrechts, weil Sie die Menschen systematisch abkassieren und weil Sie sie mit einem viel zu komplizierten Steuer- recht drangsalieren und Wirtschaftsunternehmen lähmen. Wahrscheinlich wird sich insbesondere die FDP im Rückblick wirklich darüber ärgern, mit der Ausrichtung des Jahressteuergesetzes 2010 nicht einen Schritt in Richtung eines „vereinfachten Steuerrechts“ getan zu haben. Aber wahrscheinlich war sie einfach noch nicht so weit; die letzte Spitzkehre auf dem steuerpolitischen Zick-Zack-Kurs liegt ja auch gerade erst kurze Zeit zu- rück. „Einfach“ klingt zunächst einmal nicht schlecht. Wer allerdings genauer hinsieht, wird wieder einmal ent- täuscht; denn die vollmundige Ankündigung einer Steu- ervereinfachung hinterlässt leider keine erkennbaren Spuren im vorliegenden Entwurf des Jahressteuergeset- zes 2010. Aber vielleicht ist das auch besser so, wenn man sich den Schaden anschaut, den die schwarz-gelbe Lobbypolitik mit ihrem sogenannten Wachstumsbe- schleunigungsgesetz – besser Wachstumsverhinderungs- gesetz oder Schuldenaufbaugesetz oder Investitionsver- hinderungsgesetz oder Einnahmeverzichtsgesetz oder einfach: Mövenpick-Gesetz – angerichtet hat. Daher nochmals kurz zur Erinnerung und als Vorge- schmack darauf, was wir uns unter „neoliberaler Steu- ervereinfachung“ vorstellen können: Die FDP, die selbsternannte „Partei des Mittelstandes und der Leis- tungsträger“, hat in ihren langen Jahren der Oppositions- arbeit mit leichter Hand Steuervereinfachungen und Bü- rokratieabbau versprochen und führte quasi als erste Amtshandlung neue, unbefristete und kostspielige Aus- nahmen ein, die Bürgern, Unternehmen und dem Finanz- amt erheblichen Verwaltungsaufwand auferlegen. Diese neoliberale Klientelpolitik mit ihren Steuergeschenken an einen sehr kleinen Kreis von Begünstigten unter dem Deckmantel der Konjunktursteuerung wirkt auf mich ge- radezu zynisch, wenn man sich die mittel- und langfris- tige Wirkung der Beschlüsse und die Konsequenzen der Einnahmeausfälle für Bund, Länder und Gemeinden vor Augen führt. Man muss deshalb ja fast schon erleichtert sein, wenn die schwarz-gelbe Bundesregierung beim Jahressteuer- gesetz 2010 auf substanzielle Steuerung verzichtet. Ich bin daher froh, dass sich der Gesetzentwurf auf die erfor- derlichen gesetzlichen Änderungen und Anpassungen im Steuerrecht an Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und Gemeinschaftsrecht beschränkt. Die Fachbeamtinnen und -beamten aus dem Bundesfinanzministerium haben in gewohnt gewissenhafter und sachkundiger Art und Weise gearbeitet, sodass wir heute über einen Gesetzent- wurf mit einer Fülle einzelner Regelungsbereiche spre- chen. Politische Brisanz findet sich nur dort, wo Themen mit politisch motivierter Klientelpolitik fortgesetzt wer- den. Die große Bandbreite des Jahressteuergesetzes spie- gelt sich unter anderem in folgenden Regelungen: Einführung einer Steuerbefreiungsvorschrift für ehren- amtliche rechtliche Betreuer, Vormunde und Pfleger; Steuerbarkeit von Transferentschädigungen für den Wechsel eines Sportlers von einem nicht im Inland zu ei- nem im Inland ansässigen Verein, §§ 49, 50 a, 52 EStG; Aufhebung der zeitlichen Befristung der Regelung zur degressiven Abschreibung für Abnutzung, degressive AfA; Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspart- nerschaften im Bereich der Erbschaft- und Schenkung- steuer und der Grunderwerbsteuer; Anpassungen des Umsatzsteuergesetzes an EU-Recht und aktuelle Entwicklungen, zum Beispiel Bekämpfung des Umsatz- steuerbetrugs bei der Einfuhr, § 5 UStG, und durch Er- weiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsemp- fängers bei der Umsatzsteuer auf Lieferungen von Industrieschrott, Altmetallen und sonstigen Abfallstof- fen sowie Leistungen von Gebäudereinigern, § 13 b UStG. Bei diesen zahlreichen gesetzlichen Änderungen ent- stehen auch viele Fragen. Ich möchte mich in diesem ersten Durchgang des Gesetzes darauf konzentrieren, einige dieser Fragen aufzuwerfen und unsere Überlegun- gen anzudeuten. Ich hoffe, dass die folgenden Beratun- gen des zuständigen Finanzausschusses und die Erläute- rungen der Fachbeamtinnen und Fachbeamten aus dem Bundesfinanzministerium zur Klärung dieser Fragen beitragen können, sodass zumindest am Ende der parla- mentarischen Beratungen ein Gesetz steht, das unser Steuerrecht ein kleines bisschen einfacher und vielleicht sogar gerechter macht. Zum Regelungsbereich Gleichstellung von eingetra- genen Lebenspartnern mit Ehegatten im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht sowie bei der Grunderwerb- steuer. Der Entwurf des Jahressteuergesetzes 2010 sieht die Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern mit Ehegatten vor, § 15 Abs. 1 ErbStG-E. Eingetragene Lebenspartner sollen künftig auch in Steuerklasse I auf- genommen werden; ehemalige Lebenspartner werden wie geschiedene Ehegatten in Steuerklasse II erfasst. Die Gleichstellung bezieht sich auch auf die Freibetragsrege- lung, § 16 Abs. 1 ErbStG-E. Künftig soll auch bei Grundstücksübertragungen zwischen Lebenspartnern keine Grunderwerbsteuer mehr anfallen, § 3 Nr. 4 GrEStG-E. Die Arbeitsgruppe Finanzen der SPD-Bundestags- fraktion hatte für die Gleichbehandlung von Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern schon bei den Bera- tungen zur Reform der Erbschaftsteuer geworben. Lei- der war die CDU/CSU damals noch nicht zu einer ent- sprechenden sinnvollen Lösung bereit. Das führte zu 5442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) drei Steuerklassen, die nicht logisch definiert sind und deren Tarifstufen unerklärliche Sprünge aufweisen – er- klärbar nur durch Klientelpolitik für eine kleine Gruppe von Erben mit einer Erbschaft zwischen 4 und 6 Millio- nen Euro. Die Zeche zahlen nun die Erben in der Steuer- klasse II, also zum Beispiel Geschwister, Nichten, Nef- fen. Alle für einen – den am Starnberger See. Zum Regelungsbereich Verschonungsvoraussetzun- gen für Betriebsvermögen im Bereich der sogenannten Optionsverschonung. Das Jahressteuergesetz 2010 sieht auch eine Neuregelung des §13 a Abs. 8 Nr. 3 ErbStG vor. Das in den Jahren 2008/2009 geschaffene Erb- schaftsteuerrecht zielte bei der Vererbung von Unterneh- men darauf, die Arbeitsplätze zu erhalten. Wir haben bei der Reform der Erbschaftsbesteuerung ein zweiteiliges Optionsmodell für die Besteuerung von Betriebsvermö- gen eingeführt, das dem Erben eines Betriebs viel Flexi- bilität bietet und Planungssicherheit bei der Betriebsfort- führung ermöglicht. Zu den Grundvoraussetzungen für die Verschonung von Betriebsvermögen, das heißt die Steuerbefreiung des Erben, gehören, dass der Erbe den Betrieb über einen bestimmten Zeitraum hinweg fort- führt und die Arbeitsplätze – gemessen an der Lohn- summe – im Wesentlichen erhält. Die Wahlmöglichkeit in der Option 2, „Betriebsfort- führung 10 Jahre“, sieht eine vollständige Befreiung des Betriebserben von der Erbschaftsteuer vor, der Verscho- nungsabschlag beträgt also 100 Prozent. Dafür muss der Erbe strenge Kriterien erfüllen: Erstens. Der Betrieb muss zehn Jahre lang weitergeführt werden. Zweitens. Die Gesamtlohnsumme nach Ablauf dieser Zehn-Jahres- Frist muss in der Summe 1 000 Prozent der Ausgangs- lohnsumme erreichen. Diese Regelung ermöglicht dem Betriebserben einen flexiblen Ausgleich zwischen Jah- ren, in denen die Beschäftigung und damit die Lohn- summe ansteigen, und Jahren, in denen die Lohnsumme sinkt. Drittens. Der Anteil des Verwaltungsvermögens darf nicht mehr als 10 Prozent des gesamten Betriebsver- mögens betragen. Steuererleichterung und Arbeitsplätze wurden durch die Optionsverschonung eng miteinander verkoppelt. Unsere Idee war also, das Unternehmensvermögen mit Blick auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Unter- nehmensfortführung steuerlich zu entlasten, wenn im Zeitpunkt des Betriebsübergangs das Verwaltungsver- mögen kleiner gleich 10 Prozent des Betriebsvermögens beträgt, weil die Verwaltung eines großen Vermögens nur eine kleine Bedeutung für die Arbeitsplätze hat. Bei der vorgeschlagenen Neuregelung im Jahressteu- ergesetz geht es um diesen letztgenannten Aspekt, ge- nauer um die Anwendung dieser 10-Prozent-Grenze auch bei Beteiligungen an Personengesellschaften und Anteilen an Kapitalgesellschaften im Sinne des § 13 b Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 ErbStG. Sicherlich bietet das parla- mentarische Beratungsverfahren im Finanzausschuss die Gelegenheit, die Einnahmewirkungen dieser Regelung für die betroffenen Unternehmen und die Länderhaus- halte zu verdeutlichen und zu bewerten, denen die Ein- nahmen aus der Erbschaftsteuer zustehen. Mit der Übertragung von Verwaltungsvermögen auf extra gegründete Untergesellschaften wurde nun diese Idee unterlaufen, Steuerberater sind erfinderisch. Auf diese Weise ließ sich bei der Obergesellschaft totale Steuerfreiheit für große Vermögen erreichen, auch wenn der Anteil des Verwaltungsvermögens deutlich höher war als ursprünglich geplant. Ich bin froh, dass dieses „Schlupfloch“ durch das Jah- ressteuergesetz geschlossen werden soll. Dass solche engmaschigen Regelungen immer wieder notwendig sind, verdanken wir dem fantasievollen Steuervermei- dungsdrang der Bürgerinnen und Bürger, die sich an- schließend über die Kompliziertheit der Gesetzgebung echauffieren. Zum Regelungsbereich Steuerbarkeit von Transfer- entschädigungen für den Wechsel eines Sportlers. Jah- ressteuergesetze haben sich mit vielen Detailregelungen für Steuerpraxis und -verwaltung den wenig schmeichel- haften Ruf eines häufig überaus „trockenen“ Gesetzge- bungsverfahrens erworben, dem sich wohl nur über- zeugte Steuerrechtler mit Genuss widmen. Um diesen Eindruck – zumindest andeutungsweise – zu korrigieren, greife ich abschließend die Regelungen zur steuerlichen Behandlung von Transferentschädigungen für den Wechsel eines Sportlers auf, etwa eines Fußballspielers. Das ist eine fast „brandaktuelle“ Regelung; denn viele Profis nutzen die Fußballweltmeisterschaft als Bühne und wechseln während oder nach dem Turnier ins Aus- land und umgekehrt. Was macht also das Finanzamt, wenn ein verdienter Nationalspieler gegen eine Transfer- entschädigung seine Karriere bei einem Verein in der Bundesliga fortsetzen möchte? Der Bundesfinanzgerichtshof hat entschieden, dass Transferentschädigungen für den Wechsel von einem ausländischen zu einem inländischen Verein nicht steu- erbar sind. Diese Rechtsauffassung weicht allerdings von der Verwaltungspraxis ab, die vor dem Urteil des Gerichts Anwendung fand. Der Entwurf des Jahressteu- ergesetzes sieht daher vor, zu diesem Status zurückzu- kehren und solche Vergütungen an den früheren Verein im Ausland zu besteuern, § 49 Abs. 1 Nr. 2 g. Ich hoffe, dass uns die Beratungen im Finanzaus- schuss Klarheit darüber verschaffen, wie Bundesregie- rung und Koalitionsfraktionen die widerstreitenden Rechtsauffassungen von Finanzverwaltung und Finanz- gerichtsbarkeit auflösen sowie die offene Frage des Rückwirkungsverbots der Regelung beantworten möch- ten. Auf einem Feld allerdings, der Lobbyarbeit für Groß- unternehmen, beweist die neoliberale Bundesregierung hingegen leider eine ebenso ärgerliche wie bemerkens- werte Ausdauer. Auch das Jahressteuergesetz 2010 dreht die Uhren bei der Unternehmensbesteuerung zurück, um Großkonzernen erneut Steuergestaltungsmöglichkeiten zu erschließen und das Steuersubstrat in Deutschland auszudünnen. Wir sind auf die Beratungen gespannt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5443 (A) (C) (D)(B) Dr. Daniel Volk (FDP): Das Jahressteuergesetz 2010, welches wir heute beraten, enthält eine Reihe von Punk- ten, die für mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland sor- gen. Folgende Punkte sind dabei hervorzuheben: Lebenspartner werden im Erbschaftsteuer- und Schen- kungsteuergesetz – siehe §§ 15 bis 17, 37 Abs. 4 – und im Grunderwerbsteuerrecht – siehe §§ 3, 23 – mit Ehegatten gleichgestellt; keine Rückwirkung bei der Beschränkung des Vorsteuerabzugs infolge des Seeling-Urteils, § 15 Abs. 1 b UStG-E. Konkretisierungen im Bereich der haus- haltsnahen Dienstleistungen, § 35 a EStG zur Vermei- dung von Doppelförderung führen zu einem Ausschluss von bestimmten öffentlich geförderten Maßnahmen aus der Steuerermäßigung; Befreiung von der Pflicht zur Ab- gabe einer Einkommensteuererklärung (§ 46 EStG) für un- beschränkt und beschränkt steuerpflichtige Arbeitnehmer bei Arbeitslöhnen unterhalb der Steuerbelastungsgrenze, zum Beispiel für Saisonarbeiter, schon für 2009. Dies ist ein deutlicher Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts, gerade für Geringverdiener und wird die Finanzämter entlasten, damit diese sich auf andere Auf- gaben konzentrieren können. Es wird im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens da- rüber nachzudenken sein, kreditwirtschaftliche Vorleis- tungsprodukte, die innerhalb von Verbundstrukturen erbracht werden, von der Umsatzsteuerpflicht auszuneh- men. Der notwendige Strukturwandel in der deutschen Kreditwirtschaft hin zu effizienteren und leistungsfähi- geren Prozessen darf nicht an umsatzsteuerlichen Hür- den scheitern. Für die dezentral organisierte Kreditwirt- schaft bedeutet eine solche Anpassung die Schaffung vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen im Vergleich zu Großbanken. Letztlich profitieren die Verbraucher vom Wegfall der faktischen Schattenmehrwertsteuer. Ein Punkt liegt mir bei dieser Debatte noch am Herzen. Es sollte doch möglich sein, im Rahmen des laufenden Gesetzgebungsverfahrens zum Jahressteuergesetz 2010 eine Umformulierung des § 17 Satz 2 Nr. 2 KStG mit Wirkung für alle verfahrensrechtlich noch offenen Fälle vorzunehmen, die auf die tatsächliche Durchführung von Gewinnabführungen und Verlustübernahmen bzw. auf das tatsächliche Bestehen solcher Verpflichtungen und nicht auf das Vorliegen ohnehin deklaratorischer formel- ler Vereinbarungen abstellt. Diese klarstellende Gesetzes- änderung würde zur Rechts- und Planungssicherheit für die Unternehmen in Deutschland beitragen und das Ver- trauen in die Steuergerechtigkeit nachhaltig stärken. Dies mit dem Verweis auf den Koalitionsvertrag und die ohne- hin geplante Neuregelung der Gruppenbesteuerung, in die Zukunft aufzuschieben, stellt dabei nicht die beste Lö- sung dar. Die Masse an Änderungen zeigt aber eines deutlich: Unser Steuerrecht ist zu kompliziert. Da haben wir drin- genden Handlungsbedarf. Es kann nicht sein, dass wir jedes Jahr ein so umfangreiches Gesetzespaket auf den Weg bringen müssen, um Fehler und Unklarheiten zu be- seitigen. Das Gesetz zeigt, dass das Steuerrecht sehr komplex ist und damit der Lebenswirklichkeit einer ent- wickelten Industrienation entspricht. Dass nur noch Ex- perten den Durchblick haben – und das auch nur noch in Teilbereichen – liegt auf der Hand. Forderungen nach Steuervereinfachung sind berechtigt, setzen aber voraus, dass dem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit stärker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierun- gen würden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und ga- rantieren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das Ziel der Steuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das bestehende Recht an sich verändernde Verhältnisse an- gepasst werden. Leider geht das nur mit einem so kom- plexen Gesetz; das sollte sich aber ändern. Gesunde Staatsfinanzen sind das A und O einer verant- wortungsbewussten Regierungsarbeit. Da dürfte in die- sem Haus zwischen allen Fraktionen Einigkeit bestehen. Aber jede Partei in diesem Haus sollte sich auch selbst- kritisch fragen, ob unter ihrer Regierungsverantwortung – sei es im Bund, sei es in den Ländern oder sei es in den Kommunen – das auch in der Praxis eingehalten wird. Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben die Fa- milien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlastet. Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir werden Gesund- heit wieder bezahlbar machen. Wir stehen für Investitio- nen in die Zukunft. Wir werden die Bildungschancen für alle Menschen in diesem Land verbessern; denn dies be- deutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Üblicherweise wird das Jahressteuergesetz im Vorjahr, bevor es in Kraft tritt, verabschiedet. Dieses hier wird frühestens im Septem- ber 2010 verabschiedet werden können. Das ist Kon- zeptionslosigkeit und höchstproblematisch, da Änderun- gen teilweise rückwirkend sind und zu erhöhter Rechtsunsicherheit führen. Die Leidtragenden Ihrer Politik sind dann wieder einmal die Bürgerinnen und Bürger. Das Gesetz beinhaltet eine Vielzahl kleinerer Ände- rungen im Steuerrecht; es ist sozusagen ein Feinschliff des Steuerrechts mit geringen finanziellen Auswirkun- gen. Da wird mal hier, mal da etwas herumgedoktert. Aber grundlegende Änderungen – Fehlanzeige. Dabei wären diese jetzt dringend vonnöten, um auch endlich hohe Einkommen und Vermögen zur Finanzierung he- ranzuziehen. Selbst in Ihren Reihen werden Stimmen laut, die zum Beispiel den Spitzensteuersatz erhöhen wollen. Und auch von Vermögenden hört man, dass sie mehr zur Finanzierung beitragen würden. Nur die Bun- desregierung denkt nicht daran. Statt die Chance zu er- greifen, zum Beispiel die Abgeltungsteuer abzuschaffen und damit Kapitaleinkommen wieder nach der wirt- schaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern, doktern Sie wieder nur an dieser Regelung herum. Die Unge- rechtigkeit bleibt erhalten, denn Kapitaleinkommen wer- den immer noch bevorzugt behandelt, weil sehr hohe Kapitaleinkommen im Vergleich zu Arbeitseinkommen geringer besteuert werden. Die Folge des Herumdokterns: Es wird noch kompli- zierter statt einfacher. Sage und schreibe 105 Seiten Leit- linien hat das Bundesfinanzministerium veröffentlicht, um den Umgang mit der Abgeltungsteuer zu erleichtern. 5444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Steuervereinfachung ist das nicht. Daher fordern wir: Schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab und sorgen sie da- für, dass Kapitaleinkommen endlich wieder zum persön- lichen Einkommensteuersatz versteuert werden. Positiv in diesem Jahressteuergesetzentwurf möchten wir hervorheben, dass eine Angleichung der eingetrage- nen Lebenspartnerschaft an die Ehe geplant ist. Das ist aber nur ein Minischritt; denn die Gleichstellung im Be- reich der Einkommensteuer fehlt weiterhin. Also ma- chen wir es uns einfacher. Öffnen wir die Ehe. Damit wären unzählige Veränderungen von Gesetzen sowie Verordnungen auf Bundes- und Landesebene nicht mehr nötig. Ebenfalls finden wir es gut, dass Lebensversicherun- gen krisenfester werden sollen. Allerdings kritisieren wir den Weg, wie Sie das bewerkstelligen wollen. Durch die geplante Fristverlängerung von drei auf fünf Jahre, in denen die Rückstellungen steuerfrei sind, verringert sich der Anreiz für Versicherer, die Risikogewinne zeitnah auszuzahlen. Damit geht die Regelung, wie sie geplant ist, zulasten der Versicherten. Statt die Eigentümer und Aktionäre heranzuziehen, zum Beispiel über ein Divi- dendenausschüttungsverbot, wählen Sie den einfachen Weg, indem sie die Versicherten belasten. Ich möchte zum Schluss noch den Punkt Nichtanwen- dungserlasse durch das Bundesministerium der Finanzen ansprechen. Was heißt das? Jemand fühlt sich steuerlich ungerecht behandelt und klagt deswegen – und bekommt Recht. Nun folgt ein Nichtanwendungserlass des BMF, welcher dazu führt, dass von diesem zumeist steuerzah- lerfreundlichen Urteil nur der oder die Klagende profi- tiert. Für alle anderen Steuerzahler gilt das Urteil nicht. Das ist doch eine Frechheit. Wenn ein gültiges Urteil vorliegt, müsste es doch auch für alle anderen gelten. Das Ignorieren der BFH-Urteile stellt auch die Frage nach der Respektierung der Gewaltenteilung. Besser wä- ren gleich vernünftige Gesetzesänderungen, welche Sie hiermit ja zum Teil vornehmen wollen. Das waren nur ein paar Kritikpunkte. Kurzum: Über- arbeiten Sie das Jahressteuergesetz noch mal. Zeit dafür ist ja in den nächsten Wochen vorhanden. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fast kein Tag verging in den vergangenen acht Monaten ohne ei- nen steuerpolitischen Furz aus den Reihen der Regie- rungskoalition. Etwas konkreter wurde es in Ihrem Spar- paket. Da kündigten Sie steuerpolitische Änderungen wie die Einführung einer Brennelementesteuer, einer Finanzmarktsteuer und einer Flugticket-Tax an. Heute nun sollen wir das Jahressteuergesetz 2010 beraten. Aber nichts von alldem findet sich auf den 182 Seiten dieses Gesetzes. Schlimmer noch: Inzwischen gibt es zu diesem inhaltlich auf 180 von 182 Seiten nichtssagen- den, aber handwerklich miserablen Gesetz bereits Emp- fehlungen der Bundesratsausschüsse, die sich auf 100 Sei- ten erstrecken. So ein Missverhältnis zwischen Inhalt und Form habe ich noch nicht erlebt. Das Ganze kann man mit Fug und Recht als Bürokratiemonster bezeich- nen. Warum bringen Sie dieses Jahressteuergesetz fast ohne Inhalt ein? In dieser Eile ohne abschließende Bera- tung im Bundesrat und obwohl doch noch große Geset- zesvorhaben geplant sind? Diese Hektik ist nicht nach- vollziehbar und lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Es wird wohl doch nicht trotz anderer Ankündigungen zu weiteren Gesetzesvorhaben kommen. Die Buchungen in Ihrem Sparhaushalt sind heute schon, was die Einnah- meseite angeht, Luftbuchungen. Obwohl Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung laut Ihrer eigenen Aussage zentrale Politikfelder für die Bundesregierung sind, kommen Sie selbst hier nicht vo- ran, sondern schaffen mit diesem Gesetz im Gegenteil noch mehr bürokratische Hürden. Statt verstärkte An- strengungen zu unternehmen, um die elektronische Steuer-ID zum Laufen zu bringen, perpetuieren Sie mit zahlreichen Fristverlängerungen in diesem Gesetz diesen nervigen Doppelzustand mit mehr Bürokratie. Das zeigt: Gar nix ist mit einfach, niedrig und gerecht. Weder bei der rechtlichen Ausgestaltung Ihrer Vorschläge für ein besseres Steuersystem noch beim praktischen Vollzug der Steuergesetzgebung haben Sie bisher punkten kön- nen. Von einer Koalition, deren zentrales Themenfeld Bürokratieabbau und Steuervereinfachung ist, hätte ich wirklich mehr erwartet. Auch weitere Versprechen aus dem Koalitionsvertrag halten Sie nicht ein. Zwar bewegen Sie sich ein wenig in Sachen Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner- schaft im Erbschaft- und Grunderwerbsteuerrecht. Aber in der Einkommensteuer tun Sie weiterhin so, als ob ein- getragene Lebenspartner Fremde wären. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht bereits vor einem Jahr klarge- stellt, dass wegen des Gleichheitsgrundsatzes des Grundgesetzes eine vollständige Gleichstellung der ein- getragenen Lebenspartnerschaft geboten ist. Wir hatten bereits im November des vergangenen Jahres Anpassun- gen für eine echte Gleichstellung im Erbschaftsteuer- recht beantragt – Sie von Schwarz-Gelb haben dies damals abgelehnt. Wir geben Ihnen eine zweite Chance. Wir werden nun einen umfassenden Gesetzentwurf vor- legen, der alle Bereiche des Steuerrechts berücksichtigt. Ergreifen Sie diese Chance, stimmen Sie zu. Spannend finde ich, dass endlich auch in Ihren Reihen eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes nicht mehr tabu ist. Zumindest bei einigen scheint es angekommen zu sein, dass ein Sparpaket, das zum Beispiel das Elterngeld für Hartz-IV-Empfangende streicht, es der nicht arbei- tenden Millionärsgattin aber lässt, eben nicht fair und gerecht ist, wie es Herr Westerwelle formulierte, sondern eine Unverschämtheit. Damit die Lastenverteilung auch wirklich gerechter wird und die Erhöhungsdebatte nicht zu einer Placebodebatte verkommt, reicht es aber nicht aus, den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Wenn wir den Spitzensteuersatz erhöhen, belasten wir zwar die stärker, die mit ihrer Arbeit viel verdienen. Wer aber wirklich reich ist, lässt sein Geld für sich arbeiten. Dieses Geld wird aber gar nicht mit dem Spitzensteuersatz versteuert, sondern lediglich mit 25 Prozent. Wenn Herr Ackermann also knapp 10 Millionen Euro im Jahr verdient und da- von genug auf die hohe Kante legt, zahlt er nur in diesem Jahr den Spitzensteuersatz. Für die Zinserträge der kom- menden Jahre werden nur die 25 Prozent fällig, egal wie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5445 (A) (C) (D)(B) hoch die Zinserträge sind. Das müssen Sie ändern, und damit würden Sie nebenbei über 1,2 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen verbuchen. Die Zeit dafür ist überfällig. Auch wenn Sie es noch nicht begriffen haben: In der Wirtschaft hat inzwischen ein Umdenken eingesetzt. Das Angebot sollten Sie an- nehmen. Ich möchte Ihnen dazu eine Umfrage des Manager- magazins nahelegen, wonach 54 Prozent der Führungs- kräfte in der deutschen Wirtschaft am ehesten bei den Reichen mehr Steuern erheben würden. Gerhard Cromme, der Aufsichtsratsvorsitzende von Thyssen- Krupp und Siemens, spricht sich dafür aus; Uwe Hück von Porsche und Trigema-Chef Wolfgang Grupp sind dabei, um nur ein paar Namen zu nennen. Sie haben die Betroffenen an Ihrer Seite. Also zögern Sie nicht, son- dern legen Sie endlich los. Statt Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld wegzunehmen, würden Sie damit einen Beitrag von dem Teil der Gesellschaft verlangen, der es sich durchaus leisten kann, mehr zu schultern. Ich zitiere hierzu den Chef von Liqui-Moly, Ernst Probst: „Mir ist es ein Rätsel, warum die Politik Leute vor einer höheren Belastung verschonen will, die gar nicht verschont wer- den wollen.“ Ich fordere Sie auf: Lösen Sie dieses Rät- sel, hören Sie auf mit sozialem Kahlschlag und schaffen Sie mehr Steuergerechtigkeit. Auch der Bundesrat hat Ihnen bereits Nachhilfe er- teilt. Ich nenne nur ein Beispiel: Nächste Woche beraten wir in einer Anhörung des Finanzausschusses Vor- schläge zur Änderung der strafbefreienden Selbstan- zeige. Wir Grüne haben hier klare Forderungen gestellt – von der dringend erforderlichen Verbesserung der perso- nellen Ausstattung der Finanzbehörden über die Einfüh- rung einer Bundessteuerverwaltung, die Bildung von so- genannte Large Taxpayers Units für Wohlhabende und Großunternehmen bis hin zu der eigentlichen Selbstver- ständlichkeit, dass endlich gelten muss, dass Wiederho- lungstäter nicht straffrei bleiben sollten und jemand, der jahrelang systematisch Steuern hinterzieht und das ir- gendwann dem Finanzamt offenbart, nicht besser daste- hen darf als einer, der einfach nur zu spät zahlt. Die schwarz-gelben Vorstellungen dazu sind vage und un- konkret – der Umsetzungszeitpunkt unklar. Der Bundes- rat dagegen hat schon jetzt ausformuliert, wie wir eine Verschärfung der Selbstanzeige im Jahressteuergesetz vornehmen können. Das zeigt: Ein Jahressteuergesetz muss keine langweilige Auflistung redaktioneller Kor- rekturen sein. Die Steuerpolitik ist der Zankapfel von Schwarz- Gelb. Mal sollen die Steuern runter, dann soll nichts pas- sieren, dann sollen sie rauf. Die Uneinigkeit in diesem zentralen Politikfeld untergräbt die Handlungsfähigkeit der gesamten Bundesregierung. Nur so kann ich mir er- klären, dass auch in diesem 100 Seiten langen Jahres- steuergesetz im Grunde überhaupt nichts drinsteht. Aber das muss nicht so bleiben. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie in den kommenden Beratungen substanzielle Vor- schläge auf den Tisch legen, die über die Anregungen aus dem Nachhilfeunterricht des Bundesrates in Sachen Gesetzeschreiben hinausgehen. Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Das Jahressteuergesetz 2010 ist wie üblich ein überwiegend „technisches“ Gesetz. Im Verlauf des Jahres 2009 hat sich in vielen Bereichen des deutschen Steuerrechts ein fachlich notwendiger Ände- rungsbedarf ergeben, der nun in über 200 Einzelmaßnah- men umgesetzt wird. Neben den überwiegend technischen Änderungen enthält das Gesetz aber einige Maßnahmen, die steuer- politisch wichtig sind. Im Bereich der Einkommensteuer handelt es sich insbesondere um folgende Regelungen: So wird die Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuer- erklärung für sogenannte Saisonarbeitskräfte, also im wesentlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Arbeitslöhnen unterhalb der Steuerbelastungsgrenze, aufgehoben. Danach soll in den Fällen, in denen der Jahresarbeits- lohn unterhalb der Steuerbelastungsgrenze liegt, keine Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung mehr bestehen, obwohl ein Freibetrag zum Beispiel für erhöhte Werbungskosten auf der Lohnsteuerkarte bzw. Lohnsteuerbescheinigung eingetragen wurde. Die Rege- lung soll für unbeschränkt und beschränkt Steuerpflich- tige bereits ab dem Kalenderjahr 2009 gelten. Die Jahresarbeitslohngrenze wurde anhand der einem Arbeitnehmer zustehenden gesetzlichen Freibeträge er- mittelt. Da bei Arbeitslöhnen innerhalb dieser Grenze grundsätzlich keine Einkommensteuerschuld entsteht, wird diese Regelung das Besteuerungsverfahren für alle betroffenen Personen vereinfachen. Zum einen werden die Steuerpflichtigen in diesen niedrigen Einkommens- bereichen von der Abgabe einer Steuererklärung befreit. Zum anderen werden die Finanzämter von dem Arbeits- aufwand und den Verwaltungskosten entlastet, die durch den Erlass eines Steuerbescheids entstehen, in dem keine Steuer festzusetzen ist. Das vorgesehene Verfahren ist insoweit bürgerfreundlich und bürokratieabbauend. Des Weiteren wird bei der Steuerbarkeit der Transferent- schädigungen im Profisport im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht der in der Vergangenheit praktizierte Rechtszustand wiederhergestellt. Damit unterliegen Ver- gütungen für Sportlertransfers von ausländischen Verei- nen ins Inland nunmehr ab 2011 wieder der Besteuerung nach dem Einkommensteuergesetz. Eine rückwirkende Regelung ist nicht vorgesehen. Damit wird auch ein An- liegen des Koalitionsvertrages umgesetzt, gesetzgeberi- sche Maßnahmen mit Rückwirkung grundsätzlich zu ver- meiden. Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Aufhebung der Befristung für die Übertragung stiller Reserven bei der Veräußerung von Binnenschiffen. Nach bisheriger Rechtslage können stille Reserven bei der Veräußerung von Binnenschiffen lediglich bis einschließlich 2010 übertragen werden. Diese Befristung wird aufgehoben; denn auch an der Investitionsförderung nach dem Ein- kommensteuergesetz wird weiter festgehalten. Mit der Weitergeltung dieses steuerlichen Anreizes zur – drin- gend erforderlichen – Verjüngung der deutschen Binnen- schifffahrtsflotte soll deren Konkurrenzfähigkeit im euro- päischen Vergleich gewährleistet werden. Damit setzen 5446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) wir einen weiteren Punkt unserer Koalitionsvereinbarung um. Ebenfalls hervorzuheben ist die enthaltene Regelung zur Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte. Durch eine Ergänzung im Einkommensteuergesetz soll gesetz- lich klargestellt werden, dass private Veräußerungsge- schäfte mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs, zum Beispiel Gebrauchtfahrzeuge, innerhalb der Haltefrist von einem Jahr nicht steuerbar sind. Im Bereich der elektronischen Lohnsteuerabzugs- merkmale sollen Aktualisierungen und Anpassungen er- folgen, da die ursprünglich vorgesehene Einführung der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale, ELStAM, im Kalenderjahr 2011 noch nicht erfolgen kann. Daher sind Übergangsregelungen erforderlich, die es erlauben, dass der Lohnsteuerabzug in der Übergangszeit ohne neue Lohnsteuerkarte erfolgen kann. Gleichzeitig werden die Rechte des Arbeitnehmers hinsichtlich seiner Datenhoheit gestärkt; denn der Arbeitnehmer kann in Zu- kunft durch Mitteilung gegenüber dem Finanzamt be- stimmen, wer Zugriff auf seine ELStAM-Daten hat. Auch im Bereich der Umsatzsteuer sind steuerpoli- tisch wichtige Regelungen hervorzuheben: Zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs wird die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers bei der Umsatzsteuer auf Lieferungen von Industrieschrott, Alt- metallen und sonstigen Abfallstoffen sowie auf Leistun- gen von Gebäudereinigern, § 13 b UStG, erweitert. Durch die Rechtsänderungen sollen Umsatzsteueraus- fälle auch durch betrügerische Geschäfte verhindert wer- den. Des Weiteren führen wir zur Vermeidung erheblicher finanzieller Belastungen für den Kultursektor eine Ver- jährungsregelung für die Ausstellung der für die Umsatz- steuerbefreiung privater Kulturunternehmer erforderli- chen Bescheinigung ein. Künftig beträgt die Frist für die Erteilung oder Änderung derartiger Bescheinigungen grundsätzlich nur noch vier Jahre. Damit wird die erfor- derliche Rechtssicherheit für die Kulturveranstalter ge- schaffen, die künftig nicht mehr befürchten muss, durch nachträgliche Bescheidung rückwirkend die Vorsteuerab- zugsberechtigung zu verlieren. Ebenfalls hervorzuheben ist, dass im Erbschaft- und im Grunderwerbsteuerrecht Lebenspartner künftig mit Ehegatten steuerlich gleichgestellt werden. Im Erb- schaftsteuerrecht gilt nunmehr für sie: gleiche Steuer- klasse und gleicher Steuersatz wie bei Ehegatten. Auch diese Maßnahme setzt ein Ziel des Koalitionsvertrages um. Fazit: Nach dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz bringt die Bundesregierung mit dem heute beratenen Ge- setzesvorhaben ein weiteres großes Steuergesetz auf den Weg. Auch mit diesem Vorhaben werden steuerpolitisch wichtige Vorhaben umgesetzt. Daneben wird mit den vorgenommenen Rechtsänderungen ein möglichst rei- bungsloses Funktionieren des Besteuerungsverfahrens gewährleistet. Das JStG 2010 dient damit auch der Si- cherung des Steueraufkommens und steht daher im Ein- klang mit dem Ziel der Haushaltskonsolidierung und der gesamtstaatlich zu tragenden Finanzierungsverantwor- tung. Anlage 66 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Brücken bauen – Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahe- bringen – Innovationslücke schließen – Zügig ein trag- fähiges Konzept zur Stärkung der Innova- tions- und Validierungsforschung vorlegen (Tagesordnungspunkt 12) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Arbeitgeber- und Un- ternehmensverbände stellen gern Forderungen an die Politik – auch im Bereich von Wissenschaft und For- schung. Die Forschungsprämie Eins etwa geht auf eine Anregung aus diesen Kreisen zurück und kann aufgrund ihrer geringen Akzeptanz als gescheitert gelten. Eine weitere Forderung von BDI und BDA ist die derzeit dis- kutierte steuerliche Förderung von privaten Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen. Auch die hier verhan- delte Validierungsförderung wurde von der Industrie ins Gespräch gebracht. Sie wird allerdings ebenso von Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwa der Max- Planck-Gesellschaft unterstützt. Was also ist anders an dieser Art der Innovationsförderung? Mit diesem Instrument soll die sogenannte Validie- rungslücke geschlossen werden. Sie entsteht, weil die Wissenschaft auf der einen und die private Wirtschaft auf der anderen Seite unterschiedlich vorgehen. Wäh- rend die Grundlagenforschung neues Wissen erarbeitet, ohne sich durch einen bestimmten Zweck einengen zu lassen, erwarten private Unternehmen einen möglichst hohen Gewinn, erzielbar etwa durch technologische Alleinstellungsmerkmale auf dem Markt. Ergebnisse aus der Forschung sind daher für Unternehmen nur dann interessant, wenn sie bei ihrer Umsetzung möglichst we- nig riskieren und einen schnellen Return on Investment erzielen können. Von vielen Akteuren aus Wissenschaft und Wirtschaft ist die Einschätzung zu hören, dass in den Universitäten und Forschungsinstituten ein großes Potenzial an Erfin- dungen und Innovationen brachliege. Dieses Potenzial für kommerzielle Nutzung müsse gesichtet und so um betriebswirtschaftliche Informationen angereichert wer- den, dass es für Investoren attraktiv wird. Diese Aufbe- reitung soll die Validierungsforschung übernehmen und damit eine Scharnierfunktion zwischen dem wissen- schaftlichen und dem privatwirtschaftlichen Interesse er- füllen. Die Koalition verfolgt in ihrem Antrag nun die Ab- sicht, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst das Geld für die Weiterentwicklung ihrer For- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5447 (A) (C) (D)(B) schungsergebnisse in die Hand zu geben. Dann soll ih- nen noch ein Innovationsmentor an die Seite gestellt werden, der kraft seiner Erfahrung diese Weiterentwick- lung in die richtige Richtung lenkt. Dieses Konzept er- kennt jedoch gerade nicht die von mir benannten unter- schiedlichen Vorgehensweisen in Wissenschaft und in Wirtschaft an. Eine Validierung von Forschungsergeb- nissen scheitert in der Regel nicht an finanziellen Res- sourcen. Vielmehr verfügen Wissenschaftler und Wis- senschaftlerinnen oft nicht über das notwendige betriebswirtschaftliche Know-how und die Kenntnis des Marktes. Das gehört nicht zu ihrem Berufsbild und steht häufig im Widerspruch dazu. Daher fehlt es oft auch schlicht am Eigeninteresse. Gebraucht wird also eine echte Scharnierfunktion zwischen Forschung und Markt. Die Verlängerung der Forschung bis in den Markt ist nicht erfolgversprechend, wie die Forschungsprämie Eins bereits signalisiert hat. Daher unterstützt meine Fraktion das Konzept der SPD, das eine externe Agen- tur, besetzt mit wirtschaftserfahrenen Profis, vorsieht. Diese sollen für die Wirtschaft interessante Forschungs- ergebnisse aufbereiten. Wichtig ist dabei, dass jedoch das Recht an Erfindungen nicht in deren Besitz überge- hen soll. Ich möchte jedoch auch zum sozialdemokratischen Konzept kritische Hinweise geben: Solch einen Flop wie die Forschungsprämie können wir uns nicht noch einmal leisten. Wir haben keine Sicherheit, dass ein neues För- derprogramm die sogenannte Validierungslücke tatsäch- lich schließt. Probieren wir die Validierungsförderung also erst einmal auf einem begrenzten Technologiefeld aus – zum Beispiel im Bereich der Biotechnologie, wo das Programm GO-Bio bereits Gründungen unterstützt –, und werten wir nach einer Einführungsphase umfassend die Erfahrungen mit dem neuen Instrument aus, bevor wir über dessen weitere Ausdehnung entscheiden. Und der zweite Hinweis: natürlich haben auch wir Linke ein Interesse daran, dass die Ergebnisse aus der Wissenschaft bei den Menschen ankommen – man denke nur an Impfstoffe oder neue medizintechnische Verfahren. Wissenstransfer ist gut und sinnvoll. Jedoch darf es nicht sein, dass die Unternehmen ihre Gewinn- erwartung auf Kosten des Steuerzahlers abschätzen las- sen – durch die öffentlich geförderte externe Agentur – und anschließend nur noch diese Gewinne einstreichen. Wir erkennen an, dass die einzelnen Unternehmen vor einem zu großen Risiko bei der Umsetzung neuen Wis- sens zurückschrecken. In der Gesamtheit muss die In- dustrie jedoch an den Kosten für die Validierungsförde- rung beteiligt werden – zum Beispiel über eine öffentlich-private Finanzierung des einzurichtenden Fonds. Der Hightechgründerfonds hat gezeigt, dass ein solches Konzept funktionieren kann. Wirtschaft und Ar- beitgeber sollten auf diese Weise zeigen, dass mit der Forderung an die Gesellschaft auch die Übernahme von Verantwortung verbunden ist. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag zur Validie- rungsforschung vorgelegt, zur verbesserten Bewertung des Potenzials von Ergebnissen aus der öffentlichen Grundlagenforschung für den Transfer in Richtung An- wendung und Innovation. Die Zielsetzung ist richtig und die Entwicklung eines entsprechenden Förderkonzepts überfällig. Mehrfach haben Innovationsexperten in den letzten Jahren bei der Validierungsforschung politischen Handlungsbedarf identifiziert. Zuletzt mahnte 2009 die Expertenkommission für Forschung und Innovation ein- dringlich die Schließung dieser Förderlücke an. Im Bun- deshaushalt sind schon seit zweieinhalb Jahren entspre- chende Mittel veranschlagt. Aber was immer gefehlt hat, war ein Konzept für diesen Forschungsansatz. Wer nun gehofft hat, was lange währt, wird endlich gut, sieht sich allerdings enttäuscht. Das, was CDU/CSU und FDP vorgelegt haben, schrammt zielgenau am ei- gentlichen Sinn der Validierungsforschung vorbei. Eine Förderlücke besteht vor allem bei der Validierung von High-Risk-Projekten, also bei Ergebnissen aus der Grundlagenforschung, bei denen das Transfer- und Ver- marktungspotenzial tatsächlich unklar ist, die Erfolgs- chancen ungewiss sind und die eigene Bewertung durch die Grundlagenforscher selbst kaum zu leisten ist. Für die nötige Validierungsprüfung haben die Grundlagen- forscherinnen und -forscher in den Hochschulen und öf- fentlichen Forschungseinrichtungen weder die Mittel noch das Wissen über Märkte und Marktchancen. Weil der Ausgang der Bewertung aber so ungewiss ist, kön- nen und wollen auch private Kapitalgeber und Unterneh- men nicht oder noch nicht einspringen. Im Endeffekt bleiben gerade die Chancen und Möglichkeiten aus sol- chen High-Risk-Projekten sehr oft ungenutzt, auch wenn sie den Weg für vielversprechende Innovationssprünge öffnen könnten. Genau diese vielversprechenden, hoch- gradig ungewissen Projekte wird die neue Fördermaß- nahme des BMBF kaum erreichen. Das schwerfällige Antragsverfahren, die Suche nach einem Innovationsmentor, der ehrenamtlich tätig sein soll, und die Durchführung der Prüfung werden echte Grundlagenforscher eher abschrecken. Ihr VIP-Pro- gramm könnte seinen eigentlichen Sinn genauso leicht verfehlen wie zuvor schon die Forschungsprämie des BMBF. Statt der raschen und effizienten Validierungs- prüfung, damit potenzielle Kapitalgeber ihre Investitions- entscheidung treffen können, steht bei ihrem Konzept die möglichst umfangreiche Weiterentwicklung der In- vention im Fokus. Im günstigsten Fall nehmen die Grundlagenforscher aus den öffentlichen Forschungsein- richtungen und Hochschulen den Aufwand auf sich, weil sie sowieso mit der Marktgängigkeit und technischen Machbarkeit rechnen. VIP wäre dann nichts anderes als ein weiteres Innovationsförderprogramm, wie es sie für Start-ups, Ausgründungen und den Anwendungstransfer bereits gibt. Diese Gefahr ist dem BMBF durchaus be- wusst. Sonst würden Sie nicht darauf hinweisen, dass die Antragsteller doch zuerst prüfen sollen, ob es nicht schon andere, europäische, nationale oder bundesländer- spezifische Förderprogramme gibt. Die neue Maßnahme fördert also nicht vorrangig echte Validierungsfor- schung, sondern bestenfalls die Weiterentwicklung be- reits vorvalidierter Vorhaben. Statt Brücken zu bauen – wie der Antrag der Koalitionsfraktionen irreführender- weise heißt –, finanziert die Regierung die Weiterfahrt 5448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) auf bereits durch normale Transferprogramme gut be- gleiteten Wegen. Wir lehnen daher den Antrag der Koalitionsfraktionen ab. Ihr Konzept geht am Problem vorbei. Der Antrag der SPD-Fraktion erscheint uns besser geeignet, die Validie- rung hoch ungewisser Ergebnisse aus der Grundlagen- forschung zu fördern. Wir befürworten daher, das Kon- zept der SPD auszuprobieren. Anlage 67 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts – Antrag: Die revidierte Fassung des Europäi- schen Übereinkommens über die Adoption von Kindern unterzeichnen (Tagesordnungspunkt 14 a und b) Ute Granold (CDU/CSU): Nachdem wir uns bereits in der vergangenen Sitzungswoche mit verschiedenen Aspekten der Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft befasst haben, beraten wir heute speziell über das Adoptionsrecht eingetragener Lebens- partnerschaften. Hierzu liegt ein Gesetzentwurf der Grü- nen vor. Auch zu der Frage der gemeinsamen Adoption habe ich mich schon in der vergangenen Debatte geäu- ßert. Deshalb will ich mich an dieser Stelle nicht im Ein- zelnen wiederholen. Erlauben Sie mir dennoch eine An- merkung: Ich habe die rechtlichen Verbesserungen für eingetra- gene Lebenspartnerschaften der vergangenen zehn Jahre nicht als Verdienst der Union reklamiert. Mir war es le- diglich wichtig festzustellen, dass die in diesem Bereich vorgenommenen zahlreichen Veränderungen auch ein- mal zur Kenntnis genommen und von den Betroffenen entsprechend gewürdigt werden. Unsere Ablehnung des Volladoptionsrechts ist keines- wegs Ausdruck eines nicht mehr zeitgemäßen Gesell- schaftsbildes. Wir nehmen gesellschaftliche Veränderun- gen sehr wohl zur Kenntnis und reagieren hierauf auch im erforderlichen Maß. Dies geschah zuletzt zum Bei- spiel bei der Reform des Unterhaltsrechts, und das wer- den wir auch bei der jetzt anstehenden Reform des ge- meinsamen Sorgerechts nichtehelicher Eltern tun. Anders als bei der rechtlichen Ausgestaltung der einge- tragenen Lebenspartnerschaften stehen beim Adoptions- recht ausschließlich die Interessen der Kinder und nicht die der betroffenen Erwachsenen im Vordergrund. Ge- rade das ist für mich Ausdruck einer modernen Gesell- schaftspolitik. Deshalb lehnen wir das hier geforderte gemeinsame Adoptionsrecht ab. Wenn ich mir die Diskussion der letzten Jahre – aber auch den heute zur Beratung anstehenden Gesetzent- wurf – anschaue, muss ich feststellen, dass es den An- tragstellern darin im Wesentlichen um die Bedürfnisse und Interessen der potenziellen „Eltern“ geht. Es wird von Diskriminierung Homosexueller und bestimmter Lebensformen gesprochen und Gleichberechtigung durch den Gesetzgeber eingefordert. Und wo bleiben die Kin- der? Wo bleibt das Kindeswohl? Ganz offensichtlich sind die Rechte und Interessen der Kinder in dieser ganzen Diskussion allenfalls zweit- rangig. Das ist höchst problematisch; denn es sind die Kinder, die durch eine Adoption am stärksten betroffen sind. Mir scheint es, dass sich diejenigen, die sich zu die- sem Thema äußern, der Tragweite einer Adoption gar nicht bewusst sind. Eine Adoption ist der wohl einschneidendste Rechts- akt, den unsere Rechtsordnung kennt. Dieser Umstand erfordert von uns eine besondere Sensibilität, Vorsicht und Zurückhaltung. Das vermisse ich hier leider. Ihnen geht es offensichtlich immer nur um die Bedürfnisse und Lebensverwirklichung der betroffenen Erwachsenen. Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal in Er- innerung rufen: Bei Fragen der Adoption geht es um die Kinder. Die Diskussion, die wir führen, darf sich daher nicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Erwachse- nen reduzieren. Einziger Maßstab für uns als Gesetzge- ber muss vielmehr das Kindeswohl sein. Dies betrifft übrigens nicht nur das Recht eingetragener Lebenspart- nerschaften, sondern alle Bereiche des Familienrechts. Ich hatte bereits die Reform des Unterhaltsrechts in der vergangenen Legislaturperiode oder die jetzt anstehende gesetzliche Neuregelung des gemeinsamen Sorgerechts nichtverheirateter Eltern erwähnt. Ich würde mich freuen, wenn Sie – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, aber auch der FDP – das einmal aner- kennen würden. Die entscheidende Frage lautet also: Dient eine ge- setzliche Regelung, die den Weg für eine gemeinsame Adoption durch eingetragene Lebenspartnerschaften ge- nerell ermöglicht, dem Kindeswohl oder nicht? Ich meine, nein. Es entspricht unserer festen Überzeugung, dass Kin- der für eine gedeihliche Entwicklung Vater und Mutter brauchen. Keineswegs möchte ich damit in Abrede stel- len, dass sich nicht auch Homosexuelle rührend, aufop- ferungsvoll und voller Liebe um Kinder kümmern wol- len und können. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die unterschiedliche Geschlechtlichkeit der elterli- chen Bezugspersonen für die Persönlichkeitsentwick- lung der Kinder nun einmal äußerst wichtig ist. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Es be- steht auch in anderen Bereichen – ich denke etwa an das Umgangsrecht bei alleinerziehenden Müttern oder Vä- tern – nicht nur in diesem Haus Konsens, dass es für die Entwicklung des Kindes wichtig ist, auch eine Bindung zu seinem Vater bzw. seiner Mutter aufzubauen. Die Antragsteller verweisen vor diesem Hintergrund nun auf eine in der vergangenen Legislaturperiode vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Studie, die belegen soll, dass das Aufwachsen in gleichge- schlechtlichen Lebenspartnerschaften nicht dem Kindes- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5449 (A) (C) (D)(B) wohl zuwiderlaufe. Diese Interpretation ist allerdings einseitig, selektiv und ignoriert im Übrigen wesentliche Erkenntnisse der Studie. Wie ich bereits in der vergangenen Debatte ausge- führt habe, erfahren Kinder von gleichgeschlechtlichen Eltern häufig Stigmatisierungen. Das mag vielleicht be- dauerlich sein, ist aber eine Tatsache. Auch die zitierte Studie „Die Lebenssituation von Kindern in gleichge- schlechtlichen Lebenspartnerschaften“ hat diesbezüglich bestätigt: Jedes zweite der betroffenen Kinder und Ju- gendlichen gab an, dass es aufgrund seiner Lebenssitua- tion Benachteiligungen erfahren habe. Wir dürfen insbe- sondere sensible Kinder und Jugendliche, die in der Pubertät sind, einer solchen Belastung nicht aussetzen. Der Staat hat hier eine Schutzpflicht und muss daher im Zweifel von entsprechenden Gesetzesänderungen abse- hen. Außerdem sind die Ergebnisse der Studie gerade in Bezug auf die jetzt diskutierte Frage der Volladoption auch insofern nicht aussagekräftig, als Kinder, die im Wege der Fremdkindadoption angenommen worden sind, in der Gesamtstichprobe der Untersuchung seltene Ausnahmefälle bilden. So haben gerade einmal 13 von 693 Familien, also weniger als zwei Prozent, ihr Kind im Wege der Fremdkindadoption angenommen. Entspre- chend bewertet die Studie selbst die Aussagekraft ihrer Ergebnisse für diese spezielle Familienform infolge der geringen Datenbasis als eingeschränkt. Die Antragsteller argumentieren zudem, dass ein Recht auf Adoption auch verfassungsrechtlich geboten sei. Dabei verweisen sie insbesondere auf einen Be- schluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsge- richts vom Juli 2009. Besagte Entscheidung befasst sich aber konkret nur mit der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Ar- beitnehmer des öffentlichen Dienstes. Des Weiteren be- schränkt das Bundesverfassungsgericht die Feststellung der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung auf das Feld der Ehe und trennt hiervon den Schutzbe- reich der Familie gerade ausdrücklich ab, der dann eröff- net sei, wenn Kinder hinzukämen. Der Prüfungsmaßstab bei Fragen des Adoptionsrechts ist damit von vornherein ein anderer. Hinzu tritt hier als maßgeblicher Aspekt das Kindeswohl im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Grundgeset- zes. Ein gesetzgeberischer Bedarf im Bereich des Adop- tionsrechts ist damit durch die besagte Entscheidung in keiner Weise zu begründen. Soweit die Antragssteller sich nunmehr auf ein Gut- achten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundesta- ges beziehen, das die Auffassung vertritt, die Entschei- dung gebiete eine Gleichstellung auch im Bereich des Adoptionsrechts, weise ich darauf hin, dass derselbe Au- tor nur einige Monate zuvor in einem Infobrief des Wis- senschaftlichen Dienstes, den er zugleich im eigenen Namen in einer Fachzeitschrift veröffentlich hat, genau das Gegenteil feststellt. Dort kommt er nämlich – ich zi- tiere – zu folgendem Ergebnis: „Es ist nur ein Rege- lungsbereich ersichtlich, auf den die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine unmittelbare Auswir- kung hat: Das Recht der gemeinschaftlichen Adoption nach §§ 1754 ff. Bürgerliches Gesetzbuch.“ Ich denke, angesichts dieses offensichtlichen Widerspruchs hilft uns der Wissenschaftliche Dienst hier kaum weiter. Aber es lohnt sich, einen Blick auf die Grundsatzent- scheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002 zu werfen. Da heißt es ganz eindeutig: „Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz (…) gebietet als ver- bindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentli- chen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatli- che Ordnung.“ Und weiter: „Nur für sie besteht ein ver- fassungsrechtlicher Auftrag zur Förderung.“ Darüber hinaus stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass es dem Gesetzgeber zwar freistehe, anderen Einstandsge- meinschaften als der Ehe neue Möglichkeiten zu eröff- nen, ihre Beziehung in eine Rechtsform zu bringen, wenn er dabei eine Austauschbarkeit der jeweiligen rechtlichen Gestalt mit der Ehe vermeidet. Zugleich stellt das Bundesverfassungsgericht jedoch ganz klar fest: „Ein verfassungsrechtliches Gebot, solche Mög- lichkeiten zu schaffen, besteht jedoch nicht.“ Die einfache Lektüre der Gerichtsentscheidung zeigt also, dass es keinesfalls verfassungsrechtlich geboten ist, eingetragene Lebenspartnerschaften auch im Bereich des Adoptionsrechts mit der Ehe gleichzustellen. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den heute ebenfalls zur Beratung stehenden Antrag zum Europäi- schen Übereinkommen vom 24. April 1967 über die Adoption von Kindern eingehen. Die Antragsteller ge- hen zu Recht davon aus, dass ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare im Widerspruch zum besag- ten Übereinkommen stünde. Nach geltendem Recht wäre es also dem deutschen Gesetzgeber völkerrechtlich verwehrt, eine entsprechende Gesetzesänderung zu be- schließen. Die jetzt vom Europäischen Ausschuss für rechtliche Zusammenarbeit ausgehandelte Vertragsände- rung würde es aber den Mitgliedstaaten ermöglichen, auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit der gemeinsamen Adoption einzuräumen. Die Bundesregierung hat diese Vertragsänderung je- doch aus guten Gründen bisher weder gezeichnet noch ratifiziert. Für die Union kann ich sagen: Wir lehnen auf nationaler Ebene eine Gesetzesänderung ab. Aus diesem Grund besteht für uns auch kein Anlass, die Vertragsän- derung in absehbarer Zeit zu zeichnen. Johannes Kahrs (SPD): Wir debattieren hier und heute die Frage der Angleichung des Adoptionsrechtes im Hinblick auf Ehe und eingetragene Lebenspartner- schaft. Bereits heute leben in jeder achten eingetragenen Lebenspartnerschaft Kinder. Neben den leiblichen Kin- dern eines der Partner, für die es die Möglichkeit der Stiefkindadoption gibt, handelt es sich dabei auch um Adoptiv- oder Pflegekinder eines der beiden Partner. Diesen Kindern der letztgenannten Gruppe verwehren CDU und CSU wesentliche Rechte. Sie sollen weder Unterhaltsansprüche gegenüber beiden Elternteilen ha- ben noch von beiden Eltern erben dürfen. Diese Kinder 5450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) sollen also, geht es nach der Union, schlechter behandelt werden als andere. Absurderweise wird dies mit dem Wohl der Kinder begründet. In der Sitzung vom 17. Juni wurde hier der Antrag über die Gleichstellung eingetragener Lebens- partnerschaften der SPD-Fraktion beraten. Dabei agi- tierte die Kollegin Granold von der CDU vehement ge- gen jede rechtliche Angleichung im Adoptionsrecht. Ich zitiere: „Vieles spricht dafür, dass Kinder von gleichge- schlechtlichen Ehen“ – und ja, Frau Granold verwendete tatsächlich das Wort „Ehe“ – „dass Kinder von gleichge- schlechtlichen Ehen häufiger Stigmatisierungen erfahren als andere.“ Liebe Frau Granold, liebe Kollegen von CDU und CSU, woran liegt es wohl, dass es solche Dis- kriminierungen gibt? Nicht zuletzt natürlich daran, dass ihre Partei es immer entschieden abgelehnt hat, Schwu- len und Lesben die gleichen Rechte zuzugestehen wie anderen Bürgern dieses Landes. Frau Granold hat in ih- rer damaligen Rede die vielen Verbesserungen, die es im Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben und der eingetragenen Lebenspartnerschaf- ten in den letzten Jahren gegeben hat, aufgezählt. Sie hat dabei vergessen hinzuzufügen, dass jede einzelne Ver- besserung dabei gegen den zähen Widerstand ihrer eige- nen Partei erkämpft werden musste. Über die Jahre kamen die schlimmsten und abfälligsten öffentlichen Äußerungen von Politikern über Schwule und Lesben zuverlässig aus den Reihen der Union. Jedes Mal goss man damit Öl ins Feuer der Vorurteile. Die etwaige Stig- matisierung von Kindern geht somit auch auf ihr Konto, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. Kinder können nicht nur wegen des Geschlechtes ih- rer Eltern gehänselt werden. Infrage kommen leider auch Herkunft, Religion, soziale Stellung und Besitzstand. Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, den betreffenden Eltern eine gemeinsame Adoption zu ver- bieten. Die Erklärung der Kollegin Granold trägt der Tatsache nicht Rechnung, dass es in zahlreichen gleich- geschlechtlichen Partnerschaften schon lange Kinder gibt. Wie kann es für das Wohl des Kindes förderlich sein, wenn im Fall des Falles ein Elternteil nicht unter- haltspflichtig ist? Wie können Sie, liebe Unionskollegen, rechtfertigen, dass diese Kinder erbrechtlich nicht als Kinder zählen dürfen? Wie können Sie rechtfertigen, dass Sie Waisen lieber weiter im Heim sehen als bei El- tern, die zufällig dasselbe Geschlecht haben? Wie kön- nen Sie hier eigentlich mit dem Wort „Kindeswohl“ argumentieren? Ihre Argumente sind nicht fundiert, nicht durchdacht und ganz einfach zu widerlegen. Die Kollegin Granold erwähnte noch, dass Sie die Er- gebnisse der in der vergangenen Legislaturperiode von Bundesjustizministerin Zypries in Auftrag gegebenen Studie ablehnen. Die Studie hat keine gravierenden Nachteile für Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen El- tern aufwachsen, feststellen können. Sicherlich mag es bei dieser Studie gewisse Einschränkungen aufgrund der zur Verfügung stehenden Datenbasis gegeben haben. Dabei blenden Sie aber aus, dass aus anderen Ländern ebenfalls zahlreiche Studien vorliegen, die alle zum sel- ben Ergebnis kommen: Es gibt keine psychologischen oder signifikanten sozialen Nachteile für Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern. Im Gegenteil: Gerade die adoptierten Kinder sind einer aktuellen Studie aus den USA zufolge überdurchschnittlich gut materiell abgesi- chert, weil es sich immer um Wunschkinder handelt und die Entscheidung zur Adoption vorher gut abgewogen wird. Frau Granold selbst hat darauf hingewiesen, dass gleichgeschlechtliche Eltern häufig einen überdurch- schnittlich hohen sozialen Status haben. Sie sehen: Keines der Argumente von CDU und CSU ist stichhaltig. Sie, liebe Kollegen von der Union, lehnen den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne nur aus ei- nem Grund ab: Sie bringen es einfach nicht fertig, ihre Vorurteile rational zu beleuchten und über Bord zu wer- fen. Vier von fünf Fraktionen, darunter Ihr Koalitions- partner, sind in dieser Sache einer Meinung. Für alle au- ßer für die Union gilt die Gleichstellung als selbst- verständlich und lange überfällig. Sehen Sie endlich ein, dass Sie in dieser Frage in der Minderheit sind. Sehen Sie ein, dass auch die Rechtsprechung, auch auf europäi- scher Ebene, sich in der Vergangenheit nicht Ihrer, son- dern stets unserer Position angenähert hat. Sehen Sie ein, dass die Zeit gegen Sie arbeitet. Ich bin zuversichtlich, dass dieser leidige Streit in einigen Jahren Geschichte ist. Irgendwann wird man über die jetzige Haltung der Union nur noch lachen. Bevor Sie sich also völlig der Lächerlichkeit preisgeben: Geben Sie sich einen Ruck, handeln Sie im Interesse der Kinder und setzen Sie die Gleichstellung der Lebenspartnerschaften in allen Rechtsbereichen durch. Stephan Thomae (FDP): Ihnen allen ist bekannt, dass die FDP immer beharrlich und unbeirrbar dafür ein- getreten ist, dass jeder Mensch seinen Lebensentwurf verwirklichen kann. Dies galt immer und gilt auch wei- terhin im Hinblick auf unterschiedliche sexuelle Orien- tierungen. Die FDP hat dabei ihr Augenmerk immer auf das Machbare gelegt. Es war und ist uns immer wichtig, zu fragen, was politisch umsetzbar ist. Mit Schaufensteran- trägen kann man manchmal Teile der Öffentlichkeit be- eindrucken. Aber entscheidend ist, sein Ziel im Auge zu behalten, und, wenn man es nicht sofort erreichen kann, sich ihm Schritt für Schritt zu nähern. Dies tut die FDP. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag mit der CDU und der CSU vereinbart, den nächsten Schritt zu unter- nehmen, um die Schlechterstellung gleichgeschlechtli- cher Paare im Beamtenrecht zu korrigieren: Neben der Gleichstellung von Lebenspartnern im Rahmen des BAföG haben wir im Jahressteuergesetz 2010 sowohl die Gleichstellung von Lebenspartnern bei den Steuer- sätzen im Rahmen der Erbschaft- und Schenkungsteuer als auch die Befreiung des Lebenspartners in der Grund- erwerbsteuer vorgesehen. Das ist pragmatische Politik, die den Betroffenen mehr nützt als zur Schau getragene Maximalforderun- gen, wie zum Beispiel im Antrag der Linken, der viel- leicht viel Beifall finden mag und hohe Erwartungen weckt, aber dann in der gesellschaftlichen und politi- schen Diskussion Widerstand hervorruft. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5451 (A) (C) (D)(B) Und auch der SPD vermag ich heute kein viel besse- res Zeugnis auszustellen. Heute beglückt uns die SPD mit ihren guten Ideen. Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist 2001 zu rot-grüner Regierungszeit in Kraft getreten. Und es fällt uns Liberalen auch gar kein Zacken aus der Krone, das anzuerkennen. Die FDP hat damals dem Gesetz nicht zugestimmt, weil sie selbst schon 1999 einen eigenen Vorschlag in den Bundestag eingebracht hatte. Es ist allerdings, in manchen Teilen, unvollständig geblieben. Ich nenne hier Lücken in den Bereichen des Adoptionsrechts, des Be- amtenrechts, des Einkommensteuerrechts, des Erb- schaftsteuerrechts. 2004 hat die FDP dem Lebenspartnerschaftsergän- zungsgesetz zugestimmt. Umstrittenster Punkt darin war die Stiefkindadoption. Der Freistaat Bayern hatte des- halb damals auch gegen dieses Ergänzungsgesetz einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Nachdem sich nunmehr die FDP in der Bayeri- schen Staatsregierung befindet, hat der Freistaat Bayern diesen Normenkontrollantrag zurückgezogen. Und daran, dass die Union mit uns nun in dieser Le- gislatur die nächsten Schritte tun wird, kann man erken- nen: CDU, CSU und FDP tun gemeinsam weitere Schritte. Summa summarum kann ich Ihnen versichern, dass diese Regierung einen klaren rechts- und innenpoliti- schen Kompass besitzt und eine Justizministerin, die mit diesem Kompass umzugehen versteht. Ein Kompass ist kein Zauberstab, der den Wanderer gleich ans Ziel zau- bert. Aber wer seinem Kompass vertraut und unbeirrt Schritt für Schritt macht, der nähert sich unweigerlich seinem Ziel. Seien Sie gewiss: Die Regierungskoalition befindet sich auf dem richtigen Weg. Michael Kauch (FDP): Die FDP hat bereits im Jahr 2004 einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, mit dem eingetragene Lebenspartner das volle Adoptionsrecht erhalten sollten. Wir haben die Forderung erneut erhoben, als die damalige rot-grüne Bundesregierung das Lebenspartnerschaftsergänzungs- gesetz eingebracht hatte. Damals hatte es die ehemalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries von der SPD abgelehnt, das volle Adop- tionsrecht zu beschließen. Auch die damalige bündnis- grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, hielt eine flammende Rede gegen das Adoptionsrecht für Lesben und Schwule. Heraus kam dann ein Kompromiss: die Stiefkindadoption als Mög- lichkeit im Lebenspartnerschaftsgesetz – getragen von allen Fraktionen mit Ausnahme der Union. In den zurückliegenden Monaten hat die FDP in der Gleichstellungspolitik für Lesben und Schwule mehr durchgesetzt als die SPD in den vier Jahren Regierung zuvor. Für das Beamtenrecht haben wir im Koalitions- vertrag die volle Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegatten vereinbart, im Steuerrecht einen Abbau der Benachteiligungen. Die lange versprochene und von Rot-Grün und Schwarz-Rot niemals realisierte Magnus- Hirschfeld-Stiftung wird Realität. In der Entwicklungs- politik werden neue Akzente für die Menschenrechte Homosexueller gesetzt. Lediglich bei den Regenbogen-Familien sind wir an der starren Haltung unseres Koalitionspartners geschei- tert. Wir werden deshalb den Dialog mit den Kollegin- nen und Kollegen der Union fortführen. CDU und CSU haben sich in anderen Fragen der Familienpolitik bereits bewegt. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das auch hier der Fall sein wird. Alle erziehungswissenschaftlichen Studien zeigen: Kinder in schwulen oder lesbischen Beziehungen wach- sen genauso gut und selbstbewusst auf wie in heterosexu- ellen. Zudem wachsen seit mehr als zehn Jahren Kinder in gleichgeschlechtlichen Pflegefamilien auf – ebenfalls ohne irgendwelche Probleme. Die FDP steht weiterhin zum vollen Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartner. Auch wenn es nicht ge- lungen ist, diese Forderung im Koalitionsvertrag zu ver- ankern, ist und bleibt sie Ziel der Liberalen. Wir können dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zum Adoptionsrecht allerdings nicht zustimmen; denn wech- selndes Abstimmungsverhalten wäre ein Bruch des Ko- alitionsvertrages. Die Ablehnung erfolgt aber ausdrück- lich nicht aus inhaltlichen Gründen. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Seit Anfang 2000 verfolgen Millionen Menschen nahezu jeden Sonntag das Heranwachsen von Felix. Felix ist kein leichtes Kind. Er ist HIV-Positiv, mal introvertiert, mal rebel- lisch, mal hat er eine Freundin, mal keine. Zeitweise hing er dem Okkultismus an, und er treibt auch sonst viel Unfug. Er wächst innerhalb einer Familie auf, die ihn liebevoll durch die Wirren der Pubertät geleitet. Seine Eltern heißen Carsten und Käthe. Käthe ist ein Spitz- name für Georg. Carsten und Georg haben Felix im Jahre 2003 gemeinsam adoptiert, nachdem sie sich zuvor das Jawort gaben. Etwa 3 bis 5 Millionen Menschen in Deutschland sehen dies Woche für Woche in der Serie „Lindentraße“. Felix ist in einer gesicherten Position. Er hat Unterhalts- und Erbansprüche gegenüber beiden El- ternteilen. Diese Position hat Felix in der Fernsehwelt. In der realen Welt hätte Felix dies nur, wenn Georg oder Carsten sein leiblicher Vater wäre; denn dann hätte der andere Lebenspartner die Möglichkeit der Stiefkindadoption. Ansonsten bleibt ihm dies verwehrt. Es geht um das Wohl des Kindes, und dies betrifft in Deutschland schon jedes achte Kind. Deshalb halte ich es nicht nur für unverständlich, sondern für unverant- wortlich, wenn die CDU/CSU sich nicht nur einer Rege- lung, sondern sogar einer Diskussion einer realen Pro- blemlage verschließt. So wie es die Kollegin Ute Granold von der CDU am 17. Juni zu Protokoll gab, zu unserem Antrag „Öffnung der Ehe“ für Lesben und Schwule. Wie kann es sein, dass sich die CDU/CSU- Fraktion sogar jeglicher Diskussion verweigert? Das ist doch ein Unding. Damit bedienen Sie sich Ressenti- ments gegen Lesben und Schwule und zeigen, dass Ih- nen das Wohl und die Rechtssicherheit von Kindern egal sind. 5452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 (A) (C) (D)(B) Die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gege- bene Studie zur Lebenssituation von Kindern in gleichge- schlechtlichen Lebensgemeinschaften kam 2009 zu dem absehbaren Ergebnis, dass lesbische Mütter und schwule Väter in ihrer elterlichen Kompetenz heterosexuellen El- tern in nichts nachstehen. Die feststellbaren Unter- schiede im Erziehungsverhalten und Familienklima för- dern ausnahmslos das Wohl des Kindes. Art und Umfang dieser umfangreichen Studie lassen keine Zweifel auf- kommen; wir benötigen schnellstmöglich ein gemeinsa- mes Adoptionsrecht für Lesben und Schwule – im Inte- resse der Kinder. Meine Damen und Herren von der FDP, wenn Sie eine Bürgerrechtspartei nicht nur der Worte, sondern auch der Taten sein wollen, dann werden Sie endlich aktiv. Sie können nicht bloß in Interviews das gemeinsame Adoptionsrecht fordern und dann im Parlament wieder einmal den Konservativen nachgeben. Bei der Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers konnten und wollten Sie sich durchsetzen, wenn es um das Wohl der Kinder geht, kneifen sie. Das ist feige. Die Linke fordert, dass die Bundesrepublik auch die revidierte Fassung des Europäischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern unterzeichnet, welches allen Kindern zugute kommt. Deutschland würde ein Zeichen setzen, dass es mit der Zeit geht. Dieses überar- beitete Abkommen ermöglicht unter anderem den Unter- zeichnern die Möglichkeit auch gleichgeschlechtlichen Partnern ein Adoptionsrecht zuzubilligen. Lassen sie uns zum Wohle der Kinder handeln. Es bedarf einer Lösung, ob mit diesem Gesetzentwurf oder durch die Zustim- mung unseres Antrags „Öffnung der Ehe“. Was für Mil- lionen Fernsehzuschauer normal ist, sollte endlich auch Lebensrealität werden. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Es hat nicht sollen sein.“ – Das war die Antwort des Bundesaußenministers Guido Westerwelle im Bravo-In- terview auf die Frage, ob er sich nicht Kinder gewünscht hätte. Was er nicht gesagt hat: Es ist der Gesetzgeber in Deutschland, der ihm und seinem Partner diesen Wunsch verweigert, und das, obwohl ohne Zweifel ein Kind im Haushalt Westerwelle sehr behütet wäre und einen guten Start in sein Leben bekommen hätte. Aber homosexuelle Paare dürfen in Deutschland keine Kinder adoptieren, obwohl längst klar ist, dass Kinder in gleichgeschlechtli- chen Partnerschaften genauso liebevoll erzogen werden wie in der klassischen Ehe. Das zeigt ein Blick in die Le- benswirklichkeit der Menschen: In vielen gleichge- schlechtlichen Partnerschaften wachsen schon heute Kinder auf. Der Mikrozensus des statistischen Bundes- amtes geht davon aus, dass in knapp jeder achten schwu- len oder lesbischen Partnerschaft Kinder leben. Das Bundesjustizministerium hat untersuchen lassen, wie diese Familien zurechtkommen. Und siehe da: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Kinder aus Regenbogenfa- milien irgendwelche Nachteile hätten. Die repräsentative Studie zeigt, dass Lesben und Schwule gute Eltern sein können und genauso Verantwortung für Kinder überneh- men. Diese Auffassung teilt die Mehrheit der Deutschen. Am Dienstag dieser Woche hat das renommierte Mei- nungsforschungsinstitut respondi über 1 000 Menschen in Deutschland gefragt, ob nach ihrer Auffassung homo- sexuellen Paaren ermöglicht werden sollte, Kinder zu adoptieren. 61 Prozent der Befragten, die repräsentativ für alle Deutschen sind, haben dies bejaht – und die Zu- stimmung geht über alle Bevölkerungsgruppen hinweg. Männer wie Frauen, ob selbst Kinder im Haushalt oder nicht, geringe Einkommen oder hohe, hoher formaler Bildungsgrad oder geringer – in allen Bevölkerungs- gruppen hat sich eine deutliche Mehrheit dafür ausge- sprochen, hier zu einer Gleichstellung zu kommen. Dies sollte auch den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU-Fraktion zu denken geben. Meine Fraktion stellt heute zwei Anträge zur Debatte, die der Lebenswirklichkeit in Deutschland und den Wünschen der Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger Rechnung tragen. Unser vorgeschlagener Gesetzentwurf ermöglicht die Adoption durch Menschen, die eine ein- getragene Lebenspartnerschaft eingegangen sind. Zu Recht verweisen alle Fraktionen und Parteien darauf, dass beim Adoptionsrecht das Wohl des Kindes im Vor- dergrund steht. Bei den in Lebenspartnerschaften leben- den Kindern handelt es sich um eigene Kinder, aber auch um gemeinsame Pflegekinder oder Adoptivkinder einer Partnerin oder eines Partners. Obwohl zwei Erziehungs- personen für das Kind sorgen, werden die Kinder durch fehlende Ansprüche gegenüber den faktischen Eltern nach dem geltenden Unterhalts- oder Erbrecht benach- teiligt. Gegenüber gemeinschaftlich adoptierten Kin- dern verheirateter Eltern fehlt ihnen die doppelte Sicher- heit. Auch im Alltag erfahren Kinder in solchen Familien Nachteile durch die fehlende rechtliche Aner- kennung als Familie. Diese Diskriminierung ist hinsicht- lich des Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, da der Schutz der Familie und das Wohl des Kindes die rechtliche Absi- cherung dieser faktischen Eltern-Kind-Beziehungen ge- bieten. Niemand hat ein Recht auf ein Kind. Kinder haben vielmehr ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Aufmerksam- keit und Geborgenheit. All dies können sie bei gleichge- schlechtlichen Eltern grundsätzlich in gleicher Weise erfahren wie bei verschiedengeschlechtlichen Paaren. Lesben und Schwule sind genauso verantwortliche El- tern wie andere Menschen. Ein genereller Ausschluss vom gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit von Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus ideologischen Gründen pauschal infrage. Diese willkür- liche Diskriminierung ist sachlich nicht gerechtfertigt und schadet dem Kindeswohl, indem sie die Stigmatisie- rung bereits bestehender Familien mit gleichgeschlecht- lichen Eltern fördert und den Kreis der am besten geeig- neten Adoptiveltern künstlich verknappt. Ob eine Adoption im konkreten Fall dem Wohl des Kindes dient, muss bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften genauso wie bei Ehepaaren jeweils im Einzelfall der sachkundigen Entscheidung des Vormundschaftsgerichts überlassen bleiben. In Europa isoliert sich die Bundesregierung mit ihrer Verweigerungshaltung immer mehr. In acht Staaten ist es gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt, gemeinschaftlich zu adoptieren. Neun weitere Staaten haben das revidierte Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5453 (A) (C) (D)(B) europäische Übereinkommen zur Adoption bereits ge- zeichnet, das es den Mitgliedstaaten ermöglicht, die Adoption durch Schwule und Lesben zu gestatten. Die Bundesregierung verweigert bis heute die Ratifizierung, obwohl es gerade die ehemalige Bundesjustizministerin Zypries war, die die Neuauflage vorangebracht hatte. Der Antrag, den wir Grünen heute vorlegen, fordert die Bundesregierung auf, ihre Blockadehaltung zu beenden. Im Hohen Haus des Bundestages teilt die Mehrheit der Abgeordneten unsere Auffassung – zumindest in der Theorie. Gerade die FDP hat im Bundestagswahlkampf offensiv die Änderung des Adoptionsrechtes zugunsten von Lesben und Schwulen vertreten. Nun hat die Bun- desjustizministerin angekündigt, das Adoptionsrecht ei- ner umfassenden Reform zu unterziehen. Die Alters- grenzen für potenzielle Eltern sollen gesenkt werden. Nicht geplant ist dagegen, auch lesbischen oder schwu- len Paaren die Adoption zu ermöglichen. Der FDP-Ab- geordnete Kauch hat in vergangenen Debatten der dama- ligen rot-grünen Bundesregierung vorgeworfen, aus – ich zitiere – „Angst vor Gegnern des Adoptionsrechtes“ im Jahr 2005 „nur“ die Stiefkindadoption zu ermögli- chen. Ich frage ihn: Vor wem hat die FDP jetzt Angst, wenn sie in der Adoptionsfrage keinen Schritt weiter ge- hen will – obwohl die Einstellung in der Bevölkerung heute sehr viel aufgeschlossener ist? Die FDP lässt sich vollständig von der CDU/CSU-Fraktion über den Tisch ziehen. Als Anwalt für Bürgerrechte fällt sie deswegen komplett aus. Die Union dagegen betreibt aktive Verhinderungs- politik. Sie bleibt verhaftet in einem vormodernen Fami- lienbild, welches den Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. In der vergangenen Sitzungswoche war sich die Abgeordnete Ute Granold nicht zu schade, uralte und längst widerlegte Thesen aufzustellen: Kinder seien in verschiedengeschlechtlichen Familien grund- sätzlich besser aufgehoben. Gerade weil Kindern und Ju- gendlichen Diskriminierung begegne, müsse der Staat sie schützen. Hier macht sich die Union selbst vom Bock zum Gärtner. Erst sorgt sie mit ihrer permanenten Ver- weigerungshaltung dafür, dass Regenbogenfamilien stig- matisiert und diskriminiert werden, um dann diesen Tat- bestand gegen die betroffenen Kinder zu verwenden. Frau Granold, umgekehrt wird ein Schuh draus. Helfen Sie endlich mit, Vorurteile abzubauen und Diskriminie- rung zu beenden. Stimmen Sie unserem Antrag zu. 51. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14 Anlage 15 Anlage 16 Anlage 17 Anlage 18 Anlage 19 Anlage 20 Anlage 21 Anlage 22 Anlage 23 Anlage 24 Anlage 25 Anlage 26 Anlage 27 Anlage 28 Anlage 29 Anlage 30 Anlage 31 Anlage 32 Anlage 33 Anlage 34 Anlage 35 Anlage 36 Anlage 37 Anlage 38 Anlage 39 Anlage 40 Anlage 41 Anlage 42 Anlage 43 Anlage 44 Anlage 45 Anlage 46 Anlage 47 Anlage 48 Anlage 49 Anlage 50 Anlage 51 Anlage 52 Anlage 53 Anlage 54 Anlage 55 Anlage 56 Anlage 57 Anlage 58 Anlage 59 Anlage 60 Anlage 61 Anlage 62 Anlage 63 Anlage 64 Anlage 65 Anlage 66 Anlage 67
    Rede von Dr. Norbert Lammert
    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)