Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich in einem Plenarsaal, dessen Möblierung noch
nicht ganz dem Üblichen entspricht, aber in dem die
Zahl der Stühle über Nacht auf die tatsächliche Zahl der
Mitglieder des Bundestages zurückgeführt worden ist;
damit werden wir vermutlich bei der Abwicklung der
heutigen Tagesordnung gut auskommen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kolle-
gen Rainer Arnold zu seinem 60. Geburtstag gratulieren.
(Beifall)
Der Kollege Rainer Brüderle hat seinen 65. Geburtstag
gefeiert, wozu ich besonders herzlich gratuliere.
(Beifall)
Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre!
Der zunächst vorgesehene Tagesordnungspunkt 1 mit
Anträgen zur Religionsfreiheit wird für heute abgesetzt.
Wir beginnen gleich mit einer Regierungserklärung des
Bundesministers für Wirtschaft und Technologie.
Darüber hinaus ist beabsichtigt, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
Rede
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Aufschwung für Deutschland
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 23
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Bundestag bei der Reform der
Umsatzsteuer beteiligen
– Drucksache 17/2333 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
zung
, den 1. Juli 2010
.00 Uhr
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden
– Drucksache 17/1580 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 3 Befragung der Bundesregierung
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Ich mache auf eine nachträgliche Ausschussüberwei-
sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
text
zung der Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates über Endenergieeffizienz
und Energiedienstleistungen
– Drucksachen 17/1719, 17/2280 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie damit einverstanden?
von Abgeordneten der CDU/CSU, der
r FDP, der LINKEN und des BÜND-
90/DIE GRÜNEN: Ja, Herr Präsi-
(Zurufe
SPD, de
NISSES
dent!)
5248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) (C)
(D)(B)
– Das ist gut so; das erspart uns weitere Verzögerungen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Aufschwung für Deutschland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungs-
erklärung dem Bundesminister für Wirtschaft und Tech-
nologie Rainer Brüderle.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-
land ist wieder da, nicht nur sportlich, sondern auch wirt-
schaftlich und politisch.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kerstin
Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na
ja!)
Die Bundesbank sieht das Wachstum für dieses Jahr bei
1,9 Prozent, der Deutsche Industrie- und Handelskam-
mertag sogar bei 2,3 Prozent. Auch 2011 wird sich die
Erholung allen Prognosen zufolge fortsetzen. Das alles
geschieht bei historisch niedrigen Zinsen und hoher
Geldwertstabilität.
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Trotz der Regierung!)
Die Auftragsbücher der Industrie haben sich im Früh-
jahr deutlich gefüllt. Die Produktionstätigkeit hat sich
kräftig belebt. Die Auslastung der Kapazitäten nimmt
wieder zu. Die Perspektiven für den Welthandel, die
Weltwirtschaft haben sich deutlich aufgehellt. Der Inter-
nationale Währungsfonds rechnet mit einer Zunahme
des Welthandelsvolumens um 7 Prozent in diesem Jahr
und 6 Prozent im nächsten Jahr. Wir müssen dabei sein,
und wir werden dabei sein.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das sind ermutigende Signale. Das ist genau die Ent-
wicklung, die wir mit unserer wachstums- und arbeits-
platzfreundlichen Politik erreichen wollen. Die Wachs-
tumsbeschleunigung findet statt, so wie wir sie im
gleichnamigen Gesetz zum Jahresanfang angedacht ha-
ben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Davon haben die Bürger konkret etwas. Die Nettoreal-
löhne steigen seit Jahren erstmals wieder.
Die Zahlen zeigen auch: Wir sind eine exportorien-
tierte Wirtschaft, und darauf können wir stolz sein. Wir
können stolz darauf sein, dass die ganze Welt unsere
hochwertigen Waren und Dienstleistungen nachfragt,
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Schwacher Euro!)
dass wir in Deutschland hochqualifizierte und hochmoti-
vierte Arbeitskräfte haben, dass wir die Konjunkturloko-
motive für die gesamte Europäische Union sind und dass
wir in vielen Zukunftsbranchen an der Spitze der techno-
logischen Entwicklung stehen. Ich nenne beispielhaft:
Pharmabereich, Biotechnologie, Nanotechnologie, Me-
dizintechnik, Umwelttechnologie, die erneuerbaren
Energien und Energieeffizienz. Vergessen wir auch nicht
die klassischen Stärken unserer Exportwirtschaft: den
Maschinen- und Anlagenbau, Chemie und Elektrotech-
nik. Auch bei der Automobilindustrie brummt es wieder.
Nicht nur bei Daimler, Audi und BMW gibt es Sonder-
schichten, auch viele Mittelständler fahren die Kapazitä-
ten hoch.
Die internationalen Export- und Importströme sind
übrigens sehr viel komplexer, als mancher behauptet.
Der Anstieg des deutschen Exports geht vor allem auf
die starke asiatische Nachfrage zurück.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Und auf den schwachen Euro!)
Diese Länder produzieren ihrerseits Exportüberschüsse.
Sie leiden also nicht unter der deutschen Exportstärke
und an ihren Importen, sondern sie nutzen den Import
hochwertiger deutscher Produkte, um wirtschaftlich er-
folgreicher zu sein.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Auch die Vereinigten Staaten haben das offensichtlich
erkannt. Präsident Obama hat im Februar eine Außen-
wirtschaftsoffensive gestartet.
Nun gibt es einige, die unser erfolgreiches Export-
modell infrage stellen. Sie fordern: Erhöht drastisch die
Löhne, macht noch mehr Konjunkturprogramme! Aber
das ist der falsche Weg.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das wäre eine Art schleichende „Griechenlandisierung“
der deutschen Wirtschaftspolitik. Das machen wir nicht.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Es werden hundertprozentige Sofortabschreibungen vor-
geschlagen, sozusagen eine Abwrackprämie für alte Ma-
schinen. Das ist kurzsichtig. Das ist kurzatmig. Das ist
aktionistische Strohfeuerpolitik.
Natürlich ist eine starke Binnenkonjunktur wichtig.
Natürlich sind die sie stärkenden Investitionen wichtig,
aber dafür brauchen wir eine klare Politik mit langen Li-
nien und kein kurzes Denken.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was ist denn kurzes Denken?)
Wir müssen die Unternehmen auch in Deutschland in-
vestieren lassen. Technologiefeindlichkeit und ein rück-
wärtsgerichtetes Denken schaden unserem Land. Die
Binnennachfrage wird stärker gefördert, wenn wir die
Selbstblockaden etwa bei der Kernenergie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5249
Bundesminister Rainer Brüderle
(A) (C)
(D)(B)
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was?)
oder der Gentechnik auflösen.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Die Blockade ist bei Ihnen!)
Ich verweise auf den Transrapid in der Vergangenheit.
Ich nenne die CCS-Technologie mit großen Chancen für
unsere Wirtschaft, aber auch für den Klimaschutz.
Wer nicht in Deutschland investieren darf, wird zum
Export gezwungen. Im schlimmsten Fall geht er ganz.
So stärkt man die Binnennachfrage nicht. Man stärkt sie,
indem man Beschäftigung schafft. Jeder Arbeitslose, der
einen Job bekommt, macht sein eigenes Konjunktur-
programm. Er hat mehr Einkommen und damit mehr
Konsummöglichkeiten. Sie kennen die Faustformel:
100 000 Arbeitslose weniger bedeuten allein für den
Staat rund 2 Milliarden Euro mehr. Die gestiegenen pri-
vaten Konsumausgaben, die damit verbunden sind, sind
hierbei nicht eingerechnet. Ich will lieber Hunderttau-
sende kleine private Konjunkturprogramme haben als
staatlichen Dirigismus.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir erleben in Deutschland ein gar nicht so kleines
Jobwunder. Die Erwerbstätigkeit nimmt zu, die Ar-
beitslosigkeit nimmt ab. Wir können bald die Marke von
3 Millionen Arbeitslosen unterschreiten. Im Juni gab es
noch 3,15 Millionen Arbeitslose. Das sind fast 260 000 we-
niger als im Vorjahr. Erfreulich ist auch die Lage in Ost-
deutschland. Dort ist die Arbeitslosigkeit das erste Mal
seit Jahren unter 1 Million gefallen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
In ganz Deutschland hat sich die Zahl der Kurzarbei-
ter seit dem Höhepunkt im Mai letzten Jahres etwa hal-
biert. Die Bundesagentur für Arbeit sieht hierin Signale
für weitere Entspannung. Es gibt erste Schätzungen, dass
wir Ende des Jahres die Zahl auf 100 000 zurückführen
können.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit ei-
ner ILO-Arbeitslosenquote von 7,1 Prozent deutlich bes-
ser da als die Vereinigten Staaten mit 9,9 Prozent und
liegt unter dem Durchschnitt des Euro-Raums mit über
10 Prozent. Für dieses Jobwunder gibt es eine Formel:
Flexibilität und Sicherheit. Diese Entwicklung haben zu
zwei Dritteln betriebliche Bündnisse und flexible Struk-
turen ermöglicht – und nur zu einem Drittel die staatli-
che Arbeitsmarktpolitik.
Meine Damen und Herren, wir können die Weichen
für weiteren wirtschaftlichen Aufschwung in Deutsch-
land stellen. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die
Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Die christ-
lich-liberale Koalition hat diesen Kompass. In der sozia-
len Marktwirtschaft geht es um die richtige Balance von
Staat und Markt, von eigenverantwortlichen Entschei-
dungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger und
kollektiven Entscheidungen des Staates.
In diesem Zusammenhang ist das Prinzip von Eigen-
verantwortung und Haftung von zentraler Bedeutung.
Der Einzelne haftet für die Folgen seines Handelns im
Positiven wie im Negativen. Das heißt, er muss die
Früchte seiner Leistung ernten können, aber er muss
auch für die Verluste, von Fehlentscheidungen ausgelöst,
einstehen und dafür haften.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Im Zuge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise
ist dieses Prinzip durch zahlreiche Rettungsschirme für
Banken und Unternehmen und sogar für Staaten not-
gedrungen verletzt worden. Wir hatten eine heftige
keynesianische Situation mit großer Deflationsgefahr
und der Gefahr der Liquiditätsfalle, was bedeutet, dass
selbst weitere Liquidität nicht zu Impulsen führt. Karl
Schiller sagte es einmal so: Wenn die Pferde nicht sau-
fen, dann funktioniert das nicht.
(Thomas Oppermann [SPD]: Das waren noch Zei-
ten, als Karl Schiller Finanzminister war!)
Aber jetzt kommt der Unterschied zu den Politik-
ansätzen der Opposition. Es lohnt sich immer, auch das
zweite Kapitel von Keynes zu lesen: Im Aufschwung
müssen staatliche Programme zurückgefahren werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Im Aufschwung müssen die Staatsschulden wieder redu-
ziert werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) –
Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann macht mal!)
Wir müssen also wieder zu einer bewussten Gestaltung
des Ordnungsrahmens kommen. Wir bezeichnen das als
Exit-Strategie.
Der Fall Opel ist ein Beleg dafür, dass wir es mit der
sozialen Marktwirtschaft ernst meinen. Wir haben uns die
Entscheidung nicht leicht gemacht; aber General Motors
hat wenige Tage nach unserer Entscheidung alle Anträge
auf Staatshilfen in Europa zurückgezogen. General Mo-
tors übernimmt die volle unternehmerische Verantwor-
tung – übrigens mit einem historischen Börsengang im
Rücken. Dort stehen Zahlen von 80 bis 90 Milliarden US-
Dollar im Raum. Wir haben dem deutschen Steuerzahler
einen Haufen Geld gespart.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Auch in anderen europäischen Staaten wird man mit der
Entwicklung in Deutschland, was dieses Thema angeht,
nicht unzufrieden sein.
Der Fall Opel zeigt auch: Die Unternehmen sollten
ihren Gehirnschmalz und ihre Ressourcen in neue Ideen
und Produkte stecken. Viel Zeit und viel Geld für Sub-
ventionsberater, Anwälte und Lobbyisten auszugeben,
ist weder marktwirtschaftlich noch unternehmerisch.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Zum konsequenten Rückzug des Staates aus den Krisen-
mechanismen gehört, dass wir den Wirtschaftsfonds
Deutschland nicht willkürlich verlängern; sonst drohen
Gewöhnungseffekte. Bis zum 31. Dezember 2010 kön-
nen noch Anträge gestellt werden. Derzeit sehe ich kei-
5250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Bundesminister Rainer Brüderle
(A) (C)
(D)(B)
nen Grund, den Fonds darüber hinaus weiterlaufen zu
lassen.
Die Euro-Krise hat uns gezeigt: Wettbewerbsfähigkeit
und klare, saubere ordnungspolitische Grenzen sind
auch in Europa unabdingbar. Auch in Europa brauchen
wir eine ordnungspolitische Diskussion. Denn in Europa
gibt es unterschiedliche Philosophien und Ansätze, etwa
das skandinavische Wohlfahrtsmodell, das zentralisti-
sche Modell der Franzosen, die Freihandelstradition der
Engländer und die soziale Marktwirtschaft in Deutsch-
land.
Diese unterschiedlichen Kulturen müssen im Bereich
der Wirtschaftspolitik wirkungsvoll koordiniert werden.
Dabei kann es nicht um eine zentrale Detailsteuerung
von Einzelmaßnahmen der Mitgliedstaaten durch einsei-
tige Vorgaben der EU gehen; so verstehen jedenfalls wir
den Begriff „Wirtschaftsregion“ nicht. Wir brauchen
vielmehr ein strukturpolitisches Frühwarnsystem.
Die tiefer liegenden strukturellen Fehlentwicklungen
müssen früher, klarer, wirkungsvoller erkannt und ange-
gangen werden.
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Und wie
machen Sie das?)
Letztlich steht hinter den Fehlentwicklungen und den
Defiziten mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Die tiefe
Ursache der griechischen Misere ist mangelnde Wettbe-
werbsfähigkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Nicht nur der Blick auf die finanzpolitischen Indika-
toren wie Defizitquote und Schuldenstand ist wichtig,
um Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Zukünf-
tig muss auch die Entwicklung weiterer Kennzahlen
sorgfältig beobachtet werden, zum Beispiel die Entwick-
lung von Löhnen, Preisen und Produktivität. Wir brau-
chen ein neues, effektiveres Verfahren der wirtschaftspo-
litischen Begleitung und Überwachung. Es müssen
rechtzeitig die richtigen politischen Signale gesendet
und die notwendigen Reformprozesse angestoßen wer-
den. Dazu gehört auch der notwendige Nachdruck.
Ein solches Verfahren muss über klare Strukturen,
Regeln und eventuell auch Sanktionsmöglichkeiten ver-
fügen. Wir sollten dabei auf vorhandene Strukturen – ich
denke etwa an den Wettbewerbsfähigkeitsrat – auf-
bauen. Ein solcher Rat – Stichwort „ECO-COMP“ –
könnte die Mitgliedstaaten sturkturpolitisch begleiten
und zusätzlich als Frühwarnsystem dienen.
Als überzeugter Europäer sage ich: Wir müssen un-
sere eigenen Hausaufgaben machen. Unsere Zusage zur
Öffnung des Arbeitsmarktes ab April nächsten Jahres
werden wir einhalten. Wir sollten auch nicht durch neue
Schutzzäune neue Barrieren durch die Hintertür auf-
bauen, nur weil sich einzelne Branchen vor Wettbewerb
fürchten.
Meine Damen und Herren, das Vertrauen der Bürge-
rinnen und Bürger in geordnete Staatsfinanzen gehört zu
den unverzichtbaren Voraussetzungen für nachhaltiges
wirtschaftliches Wachstum. Die Konsolidierung der öf-
fentlichen Haushalte ist kein Selbstzweck. Die Be-
schlüsse des G-20-Gipfels vom vergangenen Wochen-
ende zeigen, dass die Einsicht in die Zusammenhänge
auch international gewachsen ist.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber national wird nichts umgesetzt!)
Die Industriestaaten haben sich bei diesem Treffen ver-
pflichtet, ihre Defizite bis 2013 zu halbieren. Die Bun-
desregierung ist also keineswegs international isoliert,
wenn wir ab dem kommenden Jahr den Ausstieg aus den
in der Krise angewachsenen Staatsdefiziten einleiten.
Die sogenannten nichtkeynesianischen Effekte der
Haushaltskonsolidierung können ihre Wirkung entfalten.
Die Menschen können darauf vertrauen, dass die Schul-
den von heute nicht die Steuern von morgen sind. Des-
wegen setzen wir an der Ausgabenseite an.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Für den Etat des Wirtschaftsministeriums bedeutet
das zum Beispiel weniger Subventionen für die Stein-
kohle. Bemerkenswert ist, dass die Grünen einen Antrag
zu diesem Thema auf die heutige Tagesordnung haben
setzen lassen, allerdings ohne Aussprache.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sorry! Aber auch Sie wissen, woran
das liegt!)
Schade! Dazu hätte man nämlich manches sagen kön-
nen.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Aha! Was denn? Sagen Sie doch mal etwas
dazu!)
Mit ihrem Sparpaket sendet die Bundesregierung ein
Signal der Stabilität und Klarheit. Wir kommen ohne Er-
höhung der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer
aus. Wir wollen durch Sanieren wachsen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Stoltenberg und Lambsdorff ist es Anfang der 80er-Jahre
gelungen, gleichzeitig die Nettokreditaufnahme zu hal-
bieren, die Staatsquote zu senken und dabei auch noch
neues Wachstum zu produzieren.
Im zweiten Schritt wollen wir durch Wachstum die
Haushalte sanieren. Mit unserem Sparpaket schaffen wir
den Spielraum für zukünftig niedrigere Steuern und Ab-
gaben. Wir schaffen den Spielraum für bessere Kreditbe-
dingungen. Nimmt sich der Staat bei der Kreditauf-
nahme zurück, haben die Unternehmen ein größeres
Kreditangebot zur Verfügung. Eine steuerliche Entlas-
tungsperspektive hilft Wachstumskräften. Ein einfaches
Steuerrecht, Strukturreformen und Entlastungsperspek-
tive gehören zusammen.
Wir werden nicht den Fehler von Grün-Rot wiederho-
len und ein monströses Steuervergünstigungsabbauge-
setz vorlegen, das die Entlastungsperspektive vollkom-
men außer Acht lässt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr macht erst einmal
eine Ausnahme für Hotels!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5251
Bundesminister Rainer Brüderle
(A) (C)
(D)(B)
Das ist damals ökonomisch und politisch gescheitert.
Die Bevölkerung war tief verunsichert und die Wirt-
schaft gelähmt.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wer hat denn 4 Prozent?)
Heute heißt es Maßhalten, damit morgen die Entlastung
kommen kann.
Um Maß und Mitte geht es auch bei der Energiepoli-
tik. Die christlich-liberale Koalition sorgt für eine ver-
lässliche, klimafreundliche und kostengünstige Energie-
versorgung. Deshalb werden wir die Laufzeiten für
Kernkraftwerke verlängern. Kernenergie ist eine Brücke
ins Zeitalter der erneuerbaren Energien.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Thomas Oppermann [SPD]: Habt ihr euch
schon verständigt, um wie viele Jahre?)
Im Herbst werden wir dazu die Eckdaten vorlegen.
Der Bundestag wird in der Folge über die Änderung des
Atomgesetzes abstimmen. Die Verfassungsressorts prü-
fen das gerade, übrigens auch im Blick auf die kürzlich
ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Luftsicherheitsgesetz. Ich persönlich gehe davon
aus, dass das ohne Beteiligung des Bundesrats geht, da
auch der Ausstieg aus der Kernenergie ohne Beteiligung
des Bundesrats möglich war.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das war etwas ganz anderes!)
Bezahlbare Energie ist für Wirtschaft und Verbrau-
cher wichtig. Mindestens genauso wichtig sind bezahl-
bare Rohstoffe. Das wird ein Megathema der nächsten
Jahre werden. Die großen Aktivitäten der Investment-
banken auf diesem Feld geben erste Hinweise. Die Kar-
tellbildung nach Vorbild der OPEC setzt jetzt etwa auch
bei Eisenerz an. In zwölf Monaten haben sich die Preise
für Eisenerz mehr als verdoppelt. Uns muss es darum ge-
hen, dass Deutschland weiterhin verlässliche und kos-
tengünstige Rohstoffe zur Verfügung hat.
Klar ist: Der Staat wird nicht selbst in den Markt ein-
greifen und etwa Rohstoffe einkaufen. Wir helfen dort,
wo Kooperation von Wirtschaft und Politik einen Mehr-
wert bringt. Die Bundesregierung baut derzeit in der
Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
eine Rohstoffagentur auf. Sie wird der Wirtschaft hel-
fen können, konkrete Informationen über Vorkommen zu
erlangen und Möglichkeiten anzupacken.
Auf dem Rohstoffgipfel im Wirtschaftsministerium
– die zweite Runde hat schon stattgefunden – haben wir
vereinbart, dass gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt,
dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung Rohstoffpartnerschaften mit Entwick-
lungsländern auf den Weg gebracht werden können. Die
Wirtschaft selbst wird bis Mitte Juli Vorschläge dazu
vorlegen. Die Märkte werden jetzt weltweit neu verteilt.
Da muss Deutschland als Exportnation dabei sein.
Wir sind auf einem guten Weg. Der Aufschwung geht
weiter. Der Kurs der Regierung hat sich bestätigt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Fritz
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 4 Pro-
zent!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Garrelt Duin (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Brüderle, das hatten Sie
sich so schön gedacht, als Sie – ich glaube, für das ganze
Haus überraschend – diese Regierungserklärung zum
Thema Aufschwung für den heutigen Morgen auf die
Tagesordnung gesetzt haben. Ihre Vorstellung war so:
Ich verkünde am Montag, dass der Aufschwung da ist,
am Mittwoch führen wir eine glanzvolle Bundespräsi-
dentenwahl durch, und am Donnerstagmorgen kann ich
hier noch einmal kraftvoll sagen, wie erfolgreich diese
Bundesregierung ist.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das hat leider nicht geklappt!)
Das hat nicht ganz funktioniert: Nachdem Sie ange-
kündigt hatten, wie groß der Aufschwung ist, ist der
DAX um 1,5 Prozent eingebrochen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat doch da-
mit gar nichts zu tun! Sie reden wie der Blinde
von der Farbe! – Weitere Zurufe von der CDU/
CSU)
Der gestrige Tag hat eines gezeigt: Ihnen von der Koali-
tion ist es gestern nicht gelungen, in der regulären Spiel-
zeit einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen nicht gelungen,
in der Verlängerung einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen
erst im Elfmeterschießen gelungen – unter tätiger Mit-
hilfe der Linken in diesem Parlament –, einen Sieg zu er-
ringen. Das ist die Wahrheit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Diese Regierung geht auf dem Zahnfleisch. Das wird lei-
der gerade in der Wirtschaftspolitik deutlich.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Kleine
Mathematik! Rechnen lernen!)
Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, eines will ich
noch sagen, bevor ich auf die Rede des Herrn Bundes-
wirtschaftsministers eingehe. Wir hatten in der vergan-
genen Woche einen Weltwirtschaftsgipfel, nämlich den
G-20-Gipfel. Vorher gab es einen G-8-Gipfel. Wenn uns
in diesem Hause und die deutsche Öffentlichkeit insge-
samt – jeden Bürger und jede Bürgerin – in den letzten
eineinhalb bis zwei Jahren eine Frage beschäftigt hat,
dann ist es die: Wie kriegen wir es hin, die richtigen
Lehren aus dieser Finanzmarktkrise, die eine reale
Wirtschaftskrise geworden ist, zu ziehen? Sehr verehrte
Frau Bundeskanzlerin, ich hätte erwartet, dass Sie nach
Ihrer Rückkehr aus Toronto eine Regierungserklärung
darüber abgeben, wie Sie gedenken, weltweit gegen die
Finanzmarktakteure vorzugehen und sie an den Kosten
dieser Krise zu beteiligen. Das wäre heute hier Ihr Platz
5252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Garrelt Duin
(A) (C)
(D)(B)
gewesen. Stattdessen kümmern Sie sich nur darum, Ihre
Koalition mit Ach und Krach zusammenzuhalten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]:
Merkele statt Brüderle!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Herr Wirt-
schaftsminister hat gesagt, der Aufschwung sei da und
diese Bundesregierung habe so viel dafür getan. Es wäre
ja schön, wenn der Aufschwung tatsächlich selbsttra-
gend wäre. Davon sind wir aber leider noch ein gutes
Stück entfernt, weil die Akteure auf den Märkten auch
nach wie vor verunsichert sind. Das gilt ganz besonders
für den Binnenmarkt.
Wenn Sie sich vor Augen führen, dass das Ifo-Institut
die Geschäftsentwicklung in den kommenden sechs Mo-
naten sehr zurückhaltend einschätzt, wenn Sie sich ver-
gegenwärtigen, dass das IMK sagt, dass die Wirtschafts-
dynamik bereits in der zweiten Jahreshälfte deutlich
nachlassen wird, wenn Sie sich den Konjunkturbericht
des Bankenverbandes anschauen, in dem ebenfalls steht,
dass es viele Gründe gibt, die gegen die Erwartung spre-
chen, dass es im zweiten Halbjahr ein deutlich positive-
res Gesamtbild geben wird,
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das hättet
ihr gern!)
dann ist es notwendig, mehr zu sagen als der Bundes-
wirtschaftsminister. Er hat heute nur gesagt: Wir machen
eine Exit-Strategie. – Das kann nicht die Antwort auf
diese Herausforderung sein.
Lassen Sie uns doch endlich eine Debatte darüber be-
ginnen, welche Instrumente, die wir unter anderem mit
den beiden Konjunkturpaketen auf den Weg gebracht ha-
ben und die sehr hilfreich waren – das wird inzwischen
auch von der FDP nicht mehr bestritten, auch wenn sie
damals laut dagegen vorgegangen ist –, über das Ende
dieses Jahres hinaus fortbestehen müssen, damit wir
einen dauerhaften, selbsttragenden Aufschwung in
Deutschland bekommen können. Warum kommen Sie
überhaupt auf die Idee – es ist wirklich aberwitzig –, das
erfolgreichste Programm, das wir in den letzten Jahren
gehabt haben, nämlich das CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm, so einzudampfen, wie Sie das vorhaben?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Absolut
unglaublich!)
Das ist der größte Fehler, den man überhaupt machen
kann, weil doch gerade durch dieses Programm den Bür-
gerinnen und Bürgern die Möglichkeit eröffnet wird, die
eigenen Energiekosten zu senken. Auch für das Hand-
werk war es sehr erfolgreich, weil es ihm viele Aufträge
verschafft hat.
Wie kann man in einer solchen Situation denn nicht
wenigstens einmal darüber nachdenken, ob man die Re-
gelung, die wir für die Absetzbarkeit der Handwer-
kerrechnungen in der letzten Wahlperiode gemeinsam
getroffen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, noch einmal fortsetzt, weil sie so eine
positive Wirkung gehabt hat und weil mit ihr vermieden
wurde, dass Arbeit wieder in der Grauzone, also in der
Schwarzarbeit, verschwindet? Dass ordentlich abgerech-
net wurde, war gut für die Bürgerinnen und Bürger und
für die Handwerksbetriebe in unserem Land.
(Beifall bei der SPD)
Es gäbe also eine ganze Reihe von Punkten, die man
ganz konkret anfassen könnte. Aber das ist natürlich von
diesem Wirtschaftsministerium, von dieser Bundesregie-
rung nicht zu erwarten.
Über einige Themen sind Sie heute locker hinwegge-
gangen, zum Beispiel darüber, dass die Zahl der Insol-
venzen in Deutschland trotz der konjunkturellen Erho-
lung gestiegen ist. In den ersten sechs Monaten des
laufenden Jahres haben 17 360 Unternehmen einen In-
solvenzantrag gestellt. Das sind 7,1 Prozent mehr als im
Vorjahreszeitraum. Sie haben kein Wort zu dieser Ent-
wicklung gesagt.
In der letzten Woche haben wir eine sehr schwerwie-
gende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum
Grundsatz der Tarifeinheit zur Kenntnis nehmen
müssen. Ich hätte erwartet, dass sich der Bundeswirt-
schaftsminister hier und heute, in einer solchen Regie-
rungserklärung, wenigstens ansatzweise zu diesem
Thema geäußert und gesagt hätte: Wir müssen gemein-
sam mit dem DGB und der BDA das weiterführen, was
diese beiden hierzu schon entwickelt haben. – Sie glau-
ben noch immer an das seligmachende Instrument der
betrieblichen Bündnisse. Nein, es kommt darauf an, dass
wir Frieden in den Betrieben haben, und das geht nur
über die Tarifeinheit in Deutschland. Deswegen wäre es
eine Herausforderung für dieses Parlament, gemeinsam
mit der BDA, dem DGB und anderen Partnern dafür zu
sorgen, dass wir das nach diesem Urteil auch in Zukunft
sicherstellen können, Herr Fuchs. Durch die Bewälti-
gung dieser Aufgabe könnten wir gemeinsam etwas vo-
ranbringen.
(Beifall bei der SPD)
Sie setzen stattdessen auf eine völlig falsche Sparstra-
tegie ohne jeglichen Impuls für ein wirklich nachhaltiges
Wachstum in Deutschland. Das, was Sie hierzu vorlegen,
ist zu wenig. Sie verzetteln sich in Kleinigkeiten, anstatt
eine klare Linie für Deutschland auch mit Blick auf die
internationalen Verflechtungen der deutschen Wirt-
schaft zu entwickeln. All das gibt es bei Ihnen nicht.
Deswegen bin ich genötigt, Herr Bundestagspräsi-
dent Lammert, mit Ihrer Genehmigung, die ich jetzt ein-
mal voraussetze, auf das zurückzukommen, was Sie
gestern gesagt haben. Sie haben es natürlich auf das
Amt des Bundespräsidenten bezogen, als Sie, wie ich
fand, sehr nachvollziehbar gesagt haben: Man muss in
einer Demokratie kein Amt übernehmen; aber wenn
man denn gewählt ist, dann muss man das Amt mit aller
Kraft ausüben und ausführen. – Sehr geehrter Herr Bun-
deswirtschaftsminister Brüderle, das und nicht mehr ver-
langen wir auch von Ihnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5253
(A) (C)
(D)(B)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf-
grund eines spürbaren Aufschwungs in der Wirtschaft
und ganz besonders – und das ist sehr erfreulich – auf
dem Arbeitsmarkt erleben wir momentan ein Sommer-
märchen. Nein, es ist kein Märchen, es ist real. Gott sei
Dank ist das so. Wir sind aus der Krise heraus, und zwar
schneller, als wir alle uns das gedacht haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wir haben die Folgen dieser Krise gut gemeistert.
Dazu haben alle Programme, die wir in diesem Hohen
Hause gemeinsam erarbeitet haben, beigetragen. Herr
Duin, ich gebe Ihnen recht: Die Konjunkturprogramme
haben gewirkt. Alles andere, was Sie zur Wirtschafts-
politik von sich gegeben haben, waren aber eher Klein
Fritzchens Wirtschaftsweisheiten, die nicht ganz nach-
vollziehbar sind.
Auch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat
gewirkt. Zum 1. Januar dieses Jahres haben wir die Bür-
gerinnen und Bürger in Deutschland in einem Gesamt-
umfang von rund 23 Milliarden Euro entlastet. Ein Kon-
junkturprogramm in dieser Größenordnung hat es selten
gegeben. In allen Bereichen wurden Wirkungen erzielt.
Mit Sicherheit ist das einer der Gründe dafür, dass die
Wirtschaft mittlerweile wieder boomt und dass neu ein-
gestellt wird. Bei einer Konjunkturumfrage des Ifo-Insti-
tuts haben alle befragten Unternehmen gesagt, dass sie
davon ausgehen, dass sich der Aufschwung in der zwei-
ten Jahreshälfte eher verstetigen und verstärken wird.
Herr Duin, Sie haben hierzu etwas Falsches gesagt. Man
sollte die entsprechenden Statistiken eben lesen, bevor
man etwas behauptet.
(Klaus Barthel [SPD]: Was lesen Sie denn für
Statistiken?)
Wir haben mit den Rettungsschirmen für Griechen-
land und den Euro auch auf dem europäischen Finanz-
markt richtig reagiert. Der Euro steht heute bei
1,23 Dollar. Das ist überhaupt kein Drama. Im Gegen-
teil: Die deutsche exportierende Wirtschaft ist nicht un-
zufrieden damit, weil dadurch unsere Chancen im dollar-
abhängigen Ausland, in das immerhin rund 40 Prozent
unserer Exporte gehen, verstärkt werden. Das sollte man
in diesem Zusammenhang sehen. Der Euro hat schon
einmal bei 85 Cent und auch bei 1,55 Dollar gestanden.
Das war jeweils zu handhaben; auch das gehört zur
Wahrheit.
Ich denke, dass die Bundesregierung richtig gehandelt
hat, als sie diese Krise jetzt für beendet erklärt hat. Ich
bin dem Bundeswirtschaftsminister für diese Aussage
dankbar. Es ist völlig richtig, dass wir die Lehre von
Keynes vollständig betrachten müssen. Der Keynesia-
nismus muss so verstanden werden, wie er von Keynes
gedacht war: Im Aufschwung müssen Maßnahmen so-
fort zurückgefahren und Sparmaßnahmen eingeleitet
werden, damit die Kosten der deflatorischen Phase wie-
der ausgeglichen werden können. Ich bin davon über-
zeugt, dass die Sparpakete, die wir bis jetzt beschlossen
haben, richtig sind.
Dass wir nicht so stark in das Soziale einschneiden,
will ich an zwei Beispielen klarmachen. Der Bereich So-
ziales macht ungefähr 55 Prozent des Bundesetats aus,
aber der Anteil des Bereichs Soziales an unserem Spar-
paket beträgt rund 30 Prozent. Er ist also unterproportio-
nal, weil wir uns unserer Verantwortung gegenüber den
sozial Schwächeren in der Republik bewusst sind. Das
zeigt unser Sparpaket sehr deutlich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
derspruch bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich halte es für richtig, dass wir in bestimmten Berei-
chen Einsparungen vorgenommen haben. Ich will einen
Bereich nennen: Wenn wir beim Elterngeld Einsparungen
vorgenommen haben, dann haben wir das deswegen ge-
tan, weil das Elterngeld bei Hartz-IV-Familien falsch an-
gesetzt ist. Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Das
Elterngeld war und ist eine Lohnersatzleistung und nichts
anderes. Wenn heute eine Hartz-IV-Familie mit zwei Kin-
dern inklusive Elterngeld rund 1 870 Euro netto erhält,
dann führt das dazu, dass sich sehr viele dem ersten Ar-
beitsmarkt nur relativ zögerlich zur Verfügung stellen.
Das muss korrigiert werden, und das wollen wir tun.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Haßelmann?
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Warum nicht?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Na, also. – Bitte schön, Frau Haßelmann.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Fuchs, da Sie dankenswerterweise ausgeführt
haben, dass das Elterngeld für Hartz-IV-Berechtigte ge-
strichen werden soll, weil es sich dabei um eine Lohn-
ersatzleistung handelt und das nicht der Intention des El-
terngeldes entspricht, frage ich Sie: Wenn Sie diese
Argumentation durchgängig beibehalten wollen, warum
kürzen Sie bei Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfän-
gern das Elterngeld, nicht aber bei Studierenden und bei
Hausfrauen bzw. Hausmännern, die in einer Familien-
konstellation leben, wo eine Person ein volles Gehalt be-
zieht und die andere Person nicht arbeitet? Ich finde das
insgesamt nicht richtig. Wo aber greift das Argument der
Lohnersatzleistung bei diesen beiden Gruppen?
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Ich bin der Meinung, dass die Lohnersatzleistung ge-
rade bei Hartz-IV-Empfängern, die dem Arbeitsmarkt ja
5254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Michael Fuchs
(A) (C)
(D)(B)
nicht zur Verfügung stehen – jedenfalls zurzeit nicht –,
nicht angebracht ist. Es ist richtig, dass wir das Eltern-
geld dort kürzen. Ich habe des Weiteren gesagt, dass je-
mand, der Hartz IV bezieht und Elterngeld empfängt,
rund 1 870 Euro netto hat. Wissen Sie, wie viel das
brutto ist? Das sind knapp 3 000 Euro brutto.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das war nicht die Frage!)
Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass der Hartz-IV-
Empfänger dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung
steht. Das ist einer der Gründe, warum wir diese Maß-
nahme ergriffen haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Die Situation unseres Landes hat sich deutlich verbes-
sert. Der Außenhandel gewinnt an Fahrt. Ich habe eben
schon gesagt, dass dazu der Euro-Kurs beiträgt. Die Auf-
tragsbücher der Industrie füllen sich. Der Bundeswirt-
schaftsminister hat vollkommen recht: Das gilt für fast
alle Branchen. Vor allen Dingen beim Maschinenbau,
der im letzten Jahr eine unserer kritischen Branchen war,
geht es jetzt wieder nach oben. Der IWF rechnet damit,
dass die Weltwirtschaft in diesem Jahr um 4 Prozent
wächst. Wir müssen sehen, dass wir davon unseren Teil
abbekommen. Dafür müssen wir kämpfen, dafür müssen
wir alles einsetzen. Ich glaube, dass wir dazu in der Lage
sind.
Es ist richtig, wenn wir uns auf den asiatischen Raum
fokussieren. China wird in diesem Jahr um annähernd
10 Prozent wachsen. Da werden unsere Hightechpro-
dukte gebraucht. Das zeigt sich gerade in der letzten
Zeit. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar da-
für, dass er China in den Fokus genommen hat. Dass
seine erste Auslandsreise dorthin führte, hat sicherlich
dazu beigetragen.
Viele Maßnahmen, die wir ergriffen haben, sind rich-
tig. So haben wir das Kurzarbeiterprogramm verlän-
gert. Allerdings kann man die Frage stellen, ob es auf-
grund der wesentlich verbesserten Situation auf dem
Arbeitsmarkt nicht unter Umständen schon früher zu-
rückgeführt werden kann, um Kosten zu sparen, damit
wir in unseren Sparprogrammen vorankommen. Herr
Duin, es ist festzustellen, dass die von uns umgesetzten
Programme richtig waren. Wenn sie allerdings auf dem
Arbeitsmarkt in dieser Form nicht mehr benötigt wer-
den, dann ist eben Sparen angesagt.
Das Sparpaket – lassen Sie mich das noch einmal be-
tonen – war richtig. Die Bundeskanzlerin hat in der jetzi-
gen Weltmeisterschaftsphase das wichtige Auswärtstor
geschossen, indem sie Herrn Obama dazu gebracht hat,
zu erkennen, dass zusätzliche Maßnahmen falsch sind
und dass Sparen angesagt ist. Dazu möchte ich ihr herz-
lich gratulieren. Es war alles andere als einfach, das in
Toronto umzusetzen und durchzusetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Garrelt
Duin [SPD]: Das war ein Eigentor!)
Auf dem G-20-Treffen in Toronto wurde beschlossen,
die Neuverschuldung bis zum Jahre 2013 zu halbieren
und bis zum Jahre 2016 auf null zu setzen.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja!)
Ich hoffe erstens, dass das umgesetzt wird, und zweitens,
dass dadurch ein neues Denken in der Welt einsetzt, das
dazu führt, dass endlich wirklich mit dem Sparen begon-
nen wird, und zwar in allen Bereichen; denn nur eine
Politik, die dazu führt, dass die Haushalte sich nicht
mehr neu verschulden, sondern im Gegenteil in die Lage
versetzt werden, Schulden abzutragen, wird eine lang-
fristige und nachhaltige Politik – daran müsste gerade
den Grünen gelegen sein – sein. Dafür kämpfen wir.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir machen das mit der Nachhaltigkeit
ein bisschen besser!)
Dazu gehört für mich, dass die Wirtschaft ein wenig
umdenken muss. Ich finde es schon bedenklich, wenn
immer wieder neue Forderungen an die Politik gestellt
werden. Einige dieser Forderungen aus den letzten Wo-
chen will ich einmal aufzählen.
Zum Beispiel erklären die Airlines: Da war Asche
am Himmel; jetzt brauchen wir Asche von der Politik. –
„Asche für Asche“ ist eine Politik, die ich nicht beson-
ders amüsant finde. Dabei handelt es sich um ein origi-
näres Risiko einer Airline. Das kann nicht von der Poli-
tik gelöst werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich habe auch ein Problem damit, dass wir jetzt eine
Anschubfinanzierung für den Kauf von Elektromobili-
tätsfahrzeugen leisten sollen. Es ist wiederum eine Auf-
gabe der deutschen Industrie und der deutschen Automo-
bilwirtschaft, solche Dinge ohne staatliche Hilfen zu
machen. Der Staat kann nicht an allen Stellen eingrei-
fend wirken und versuchen, die Fehler, die in der Ver-
gangenheit in den Unternehmen vielleicht gemacht wor-
den sind, überall zu korrigieren.
Im Übrigen finde ich es hervorragend, dass der Bun-
deswirtschaftsminister verhindert hat, dass Opel zusätz-
liches Geld bekommt. Dass General Motors in der Lage
ist, das alles selbst zu finanzieren, hat uns dieses Unter-
nehmen drei Tage nach dem Entscheid des Bundeswirt-
schaftsministers bestätigt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eigentlich ist es
schon eine ziemlich große Unverschämtheit, das Minis-
terium über Monate mit allen möglichen Anträgen zu be-
schäftigen – ich wüsste gerne einmal, wie viele Mann-
tage dafür draufgegangen sind – und anschließend zu
sagen: April, April! Wir brauchen euch gar nicht; wir
können es alles selber. – Das ist schon höchst ärgerlich.
So sollte man mit der Bundesregierung und dem Bundes-
wirtschaftsministerium nicht umgehen.
(Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5255
Dr. Michael Fuchs
(A) (C)
(D)(B)
Einen letzten Punkt will ich erwähnen. Ich halte es für
richtig, dass wir uns sehr intensiv mit dem Thema Ener-
giepolitik beschäftigen. Dazu gehört für mich, dass die
Kernenergie eine Brückentechnologie in das Zeitalter
der erneuerbaren Energien ist.
(Klaus Barthel [SPD]: Brückentechnologie?)
Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass
bei den erneuerbaren Energien nicht alle Wünsche in
Erfüllung gehen können. Wenn in der Zeitschrift Photon
– wahrlich kein Parteiblatt der CDU/CSU – jetzt festge-
stellt wird, dass der Strompreis nächstes Jahr nur auf-
grund der Fotovoltaik um bis zu 12 Prozent steigen wird,
dann ist das mehr als bedenklich. Nächstes Jahr wird es
im Rahmen des EEG mit Sicherheit zu einer Verdoppe-
lung der Sätze kommen. Heute ist ein Aufschlag auf den
Strompreis von ungefähr 2,04 Cent pro Kilowattstunde
erforderlich; nächstes Jahr werden es über 4, annähernd
5 Cent pro Kilowattstunde sein. Was bedeutet das? Das
bedeutet für einen Vierpersonenhaushalt, der ungefähr
3 500 Kilowattstunden im Jahr verbraucht, dass er allein
im Rahmen des EEG bis zu 200 Euro zahlen muss. In
die Richtung wird das gehen.
Jeder, der da zusätzliche Forderungen aufstellt, sollte
genau wissen, was er tut. Er sollte wissen, dass er damit
die Wirtschaft und natürlich auch die Familien, die
Haushalte überbelastet. Das ist meines Erachtens gefähr-
lich. Da müssen wir jetzt einschreiten. Ich wünsche mir,
dass der Bundesrat in der nächsten Woche eine kluge
Entscheidung trifft, damit das Gesetz endlich in Kraft
treten kann. Wir müssen schnell absenken. Das ist abso-
lut notwendig.
Für mich gehört noch etwas dazu: Bei dem Sparpaket
müssen wir darauf achten, dass im Bereich der Strom-
steuer keine Fehler gemacht werden; denn wir wollen
die Industrie in Deutschland behalten. Meines Erachtens
ist Deutschland ein Industrieland. Wir sind nur deshalb
so gut aus der Krise herausgekommen, weil die Industrie
in Deutschland schnell wieder angepackt hat, weil es
schnell wieder vorangegangen ist. Ich möchte nicht in
einem Land leben, in dem 27 Prozent des Bruttoinlands-
produkts in der City of London erzeugt werden. Nicht in
der Finanzwelt liegt die Chance für unser Land, sondern
in der deutschen Industrie.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Gregor Gysi erhält nun das Wort für die Fraktion Die
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Her-
ren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen sehr genau zugehört,
auch Ihren Ausführungen zur Atomenergie. Ich habe an
Sie die Bitte, einmal ganz im Ernst über Folgendes nach-
zudenken: Eine Technologie muss man beherrschen.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So ist es!)
Man muss sie auch im Falle eines Unfalls beherrschen
können. Wenn uns je ein Atommeiler um die Ohren
fliegt, können Sie – wie wir alle – nichts einschätzen. Sie
wissen nicht, wie viele Tote es gibt. Sie wissen nicht, ob
man unser Land noch bewohnen kann. Sie wissen nicht,
wie viele Generationen das betrifft. Ich sage Ihnen: Las-
sen Sie die Finger von einer Technologie, die wir alle
nicht beherrschen! Kein Mensch in unserem Land hat
verdient, dass Sie da umgekehrt vorgehen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD)
Sie haben mit Stolz verkündet, dass die Wirtschaft
wächst. Ich sage: trotz der Politik der Bundesregierung,
nicht etwa wegen dieser Politik. Dann schauen wir uns
einmal die drei Gründe dafür an:
Der erste Grund ist, dass die Exporte nach China
und Südostasien steigen. Warum? Weil die Chinesen
ein gewaltiges Konjunkturprogramm gestartet haben,
also das tun, was Sie für Deutschland gerade ablehnen.
Dadurch können wir dorthin natürlich mehr exportieren.
Der zweite Grund liegt in der Abwertung des Euro
gegenüber dem Dollar und anderen Währungen. Da-
durch werden unsere Produkte billiger. Das hat noch
nichts mit Qualität zu tun; sie werden erst einmal billiger
und lassen sich leichter verkaufen.
Der dritte Grund ist, dass die Löhne in Deutschland
in den letzten zehn Jahren real um 11 Prozent gesunken
sind. Dadurch haben Sie den Export erhöht. Das Pro-
blem ist nur, dass die anderen Länder das merken. China
will jetzt nicht mehr wie Deutschland das Land mit dem
berühmten Exportüberschuss sein. China versucht, das
zum Ende des Jahres hin zu korrigieren. Aber die Bun-
desregierung hier in Deutschland korrigiert das über-
haupt nicht. Sie von der Bundesregierung haben nicht
begriffen, wie wichtig der Binnenmarkt, die Binnenwirt-
schaft für Deutschland sind; Sie setzen allein auf den Ex-
port, was falsch ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Im Übrigen ist das Ganze eine Ausnahme im Jahr
2010. Das setzt sich im Jahr 2011 nicht fort, und das hat
einen Grund. Als die Krise begann, hatten Sie eine an-
dere Logik. Da hat Frau Merkel gesagt: Ich will auf gar
keinen Fall ein Sparprogramm; ich will ein Konjunktur-
programm. – Jetzt, mitten in der Krise, ändern Sie Ihre
Logik. Sie haben übrigens nie erklärt, warum, warum
also damals das Konjunkturprogramm richtig gewesen
sein soll und warum es jetzt plötzlich richtig sein soll,
dramatische Sozialkürzungen – ich werde darauf noch
eingehen – vorzunehmen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP:
Jeweils antizyklisch, Herr Gysi!)
– Ja, ja.
Der Punkt ist, dass Sie auch andere Länder zu solchen
Kürzungsprogrammen, die Sie fälschlich immer „Spar-
paket“ nennen – da wird nichts gespart; Sie kürzen
schlicht und einfach –, gezwungen haben, nämlich Grie-
5256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Gregor Gysi
(A) (C)
(D)(B)
chenland, Spanien, Portugal, Irland, Großbritannien und
Frankreich. Was ist Ihres Erachtens die Folge, wenn dort
all diese Kürzungsprogramme durchgeführt sind? Die
Folge ist, dass Deutschland dorthin weniger exportieren
kann; denn die Kaufkraft nimmt ab, und deshalb werden
weniger Produkte verkauft. Schon damit ist Ihr Boom be-
endet.
Da Sie selbst in Deutschland ein solches Sparpro-
gramm, ein solches Kürzungsprogramm, durchführen,
wird es hier entsprechende Folgen geben, worauf ich
noch eingehen werde. Ich sage Ihnen: Die reine Export-
orientierung muss weg. Wir brauchen eine deutlich stär-
kere Binnenwirtschaft.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie sagen in dem Zusammenhang, Herr Brüderle,
dass es falsch wäre, wenn wir höhere Löhne in Deutsch-
land hätten und ein Konjunkturprogramm durchführten.
Ich habe an der Stelle auf zwei Sätze gewartet, in denen
Sie das erklären oder begründen. Sie kamen nicht. Sie
sagen einfach, es sei falsch. Wieso ist das falsch? Wieso
ist es eigentlich falsch, unsere Binnenwirtschaft zu stär-
ken? Wieso ist es falsch, mehr soziale Gerechtigkeit her-
zustellen? Wieso ist es falsch, die Löhne endlich wieder
an die Produktivitätsentwicklung anzupassen und damit
zu steigern? Wieso ist es falsch, diejenigen, die Werte
schaffen, daran finanziell zu beteiligen? Dafür habe ich
von Ihnen keine Erklärung bekommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Was machen Sie jetzt? Sie schlagen ein Kürzungspro-
gramm vor. Ein erster Vorschlag ist die Umwandlung
von Pflichtleistungen in Ermessensleistungen bei Ar-
beitslosen. Wenn ich mich recht erinnere, hieß doch der
Slogan „Fordern und Fördern“. Das Fördern soll jetzt
gestrichen werden, wenn ich das richtig verstehe.
Schließlich wollen Sie 16 Milliarden Euro bis 2014 ein-
sparen. Das heißt, die ganzen Ausbildungsprogramme
und die Trainingsprogramme, all das, was es sonst noch
gibt, müssen von den Jobcentern gestrichen werden. Was
bieten Sie denn dann den Arbeitslosen? Alle Programme
sollen doch jetzt Ermessensleistungen werden. Ich weiß
gar nicht, nach welchem Ermessen entschieden wird.
Entscheidet dann ein Angestellter oder eine Angestellte
darüber, je nachdem, ob er oder sie Lust hat oder nicht?
Ermessen ist für mich Willkür. Nein, diese Leistungen
müssen Pflichtleistungen bleiben. Das ist für mich ganz
entscheidend.
(Beifall bei der LINKEN)
Ein anderer Punkt ist die geplante Streichung des Zu-
schlages beim Übergang von Arbeitslosengeld I in
Arbeitslosengeld II. Das ist grob ungerecht. Stellen Sie
sich einmal Folgendes vor: Ein erwerbsloser Ingenieur
bekommt Arbeitslosengeld I. Bisher war es so: Bevor
dieser Ingenieur ALG II erhielt, bekam er ein Über-
gangsgeld, damit er sich auf diesen Bruch, auf diese Ver-
änderung seines Lebensstandards einstellen konnte. Jetzt
aber wollen Sie diesen Zuschlag einfach streichen. Sie
weigern sich, vom Millionär einen halben Cent mehr zu
nehmen; aber dem ALG-II-Empfänger streichen Sie das
Übergangsgeld. Das können Sie nicht erklären. Mit der
Vokabel „Gerechtigkeit“ hat das Ganze überhaupt nichts
zu tun.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt komme ich zum Elterngeld; darüber hat auch
Herr Fuchs gesprochen. Beginnen wir der Ehrlichkeit
halber ganz von vorne: Am Anfang war die Große Ko-
alition. Was hat diese Große Koalition beim Elterngeld
gemacht, auch Sie, meine Damen und Herren von der
SPD? Stellen Sie sich doch einmal selbstkritisch hierhin
und erklären Sie: Das war ein Fehler. – Bis dahin bekam
die ALG-II-Empfängerin bzw. der ALG-II-Empfänger
zwei Jahre lang Elterngeld in Höhe von monatlich
300 Euro.
(Zuruf von der CDU/CSU: Erziehungsgeld!)
– Ja, Sie haben es anders genannt. Aber faktisch gab es
dieses Geld, und zwar 24 Monate lang. – In der Großen
Koalition ist entschieden worden, die Dauer des Bezugs
zu halbieren, also 12 Monate zu streichen, und zwar nur
aus dem einen Grund, damit man in der Regel der bes-
serverdienenden Frau – gelegentlich auch dem besser-
verdienenden Mann – nicht mehr 300 Euro, sondern bis
zu 1 800 Euro zahlt. Das heißt, die Sozialdemokratie
Deutschlands hat zugestimmt, für ALG-II-Empfängerin-
nen und -Empfänger die Dauer des Bezugs von Eltern-
geld zu halbieren,
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!
Das ist die Wahrheit!)
damit die Bestverdienenden einen Betrag von 1 800 Euro
bekommen können. Das ist völlig antisozialdemokra-
tisch. Sagen Sie doch einmal ehrlich, dass das ein Fehler
war.
(Beifall bei der LINKEN)
Dass die Union das macht, passt zu ihrer ideologischen
Logik. Aber bei der SPD kann ich es nicht nachvollzie-
hen.
Jetzt passiert das, was immer passiert und was mich
wirklich ärgert. Sie haben einen Schritt gemacht und die
Dauer des Bezugs für ALG-II-Empfänger halbiert. Jetzt
sagen Union und FDP: Gut, wenn die Tür schon einen
Spalt geöffnet ist, dann machen wir sie ganz auf und strei-
chen das Geld für ALG-II-Empfänger gänzlich. – Das ist
die Folge. Ich sage Ihnen: Sie hätten sich das nicht ge-
traut, wenn die SPD in der Großen Koalition nicht zuge-
stimmt hätte, die Dauer des Bezugs zu halbieren. Sie hät-
ten sich nicht getraut, das Geld für diese Menschen ganz
zu streichen. Aber genau das machen Sie jetzt.
Logisch, Herr Brüderle und Herr Fuchs, ist Ihre Argu-
mentation überhaupt nicht. Sie erklären, man könne den
ALG-II-Empfängern das Geld nicht zahlen, weil es eine
Lohnersatzleistung sei. Es ist doch ganz egal, was es ist.
Die Menschen bekamen dafür, dass sie Kinder haben,
zusätzliches Geld – das war entscheidend und wichtig –,
und zwar über einen bestimmten Zeitraum. Dieses Geld
nehmen Sie ihnen jetzt einfach weg.
Der Gattin des Millionärs, die ständig zu Hause ist
und auch keine Lohnersatzleistung bekommt, sagen Sie,
dass sie weiterhin Elterngeld bekommt; denn für sie wird
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5257
Dr. Gregor Gysi
(A) (C)
(D)(B)
es nicht gestrichen. Erklären Sie das einmal der ALG-II-
Empfängerin! Gehen Sie zu ihr und erklären Sie, warum
die Frau des Millionärs Elterngeld bekommt und sie
nicht! In beiden Fällen soll es doch keine Lohnersatzleis-
tung sein. Sie bringen keine Logik in Ihre Politik hinein.
(Beifall bei der LINKEN)
Es gibt 7 Millionen Hartz-IV-Empfängerinnen und
Hartz-IV-Empfänger. Es geht also um sehr viele Menschen.
Dann wollen Sie die Heizkostenpauschale für Gering-
verdiener streichen. Was sagen Sie diesen Menschen,
wovon sie die Heizkosten bezahlen sollen?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi, Herr Geis möchte Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ja, bitte.
Norbert Geis (CDU/CSU):
Herr Kollege, würden Sie mit mir die Unterscheidung
zwischen Elterngeld auf der einen Seite und Erziehungs-
geld auf der anderen Seite machen? Erziehungsgeld
wurde seit 1986 gezahlt, unabhängig davon, ob nun eine
Frau zur Arbeit gegangen ist oder nicht. Das wurde als Er-
ziehungsleistung abgegolten, weil die Frau eine be-
stimmte Erziehungsleistung erbracht hat. Diese Erzie-
hungsleistung erbringt sie nach wie vor, unabhängig
davon, ob sie arbeitet oder nicht. Wegen dieser Erzie-
hungsleistung bekommt sie die 300 Euro. Diese sollen er-
halten bleiben. Was haben Sie dagegen?
(Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich habe etwas dagegen, dass Sie die Erziehungsleis-
tung der ALG-II-Empfängerin nicht anerkennen. Das ist
mein Problem. Diese leistet doch auch Erziehungsarbeit.
Warum bekommt sie kein Geld? Das können Sie nicht
erklären.
(Beifall bei der LINKEN – Abg. Norbert Geis
[CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren
Zwischenfrage)
– Er möchte noch eine Frage stellen, Herr Präsident.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie möchten offenkundig auch, dass er eine weitere
Frage stellt.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das würde ich an seiner Stelle auch!
Das ist ja entlarvend!)
Dann stehe ich dem nicht im Wege. – Bitte schön.
Norbert Geis (CDU/CSU):
Stimmen Sie mit mir überein, dass es dadurch, dass
die ALG-II-Empfängerin in Form von aufgestuftem Kin-
dergeld eine Ersatzleistung bekommt
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das wird doch
angerechnet! – Weitere Zurufe von der LIN-
KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– lassen Sie mich doch meine Frage beenden –, möglich
ist, die 300 Euro zu streichen, weil in diesem Fall das Er-
ziehungsgeld über das Kindergeld läuft?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe
von der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Nein. Das kann ich Ihnen deshalb nicht zubilligen,
weil ja das Kindergeld, von dem Sie hier sprechen, jetzt
nicht erhöht wird. Sie streichen vielmehr 300 Euro, weil
Sie sagen, es sei eine Leistung, die nicht gerechtfertigt
ist. Es ist ja nicht so, dass Sie zugleich das Kindergeld
um 300 Euro erhöhen. Wenn das der Fall wäre, dann
könnten wir darüber diskutieren. Aber genau das ma-
chen Sie ja nicht. Deshalb handelt es sich um eine
Schlechterstellung, und es bleibt dabei: Die Hausfrau
des Millionärs bekommt weiterhin Geld – Sie nennen es
hier nun Erziehungsgeld –, aber die ALG-II-Empfänge-
rin bekommt nichts.
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das Kindergeld wird verrechnet bei
Hartz IV!)
– Richtig, es kommt noch hinzu, dass das Kindergeld bei
Hartz-IV-Empfängern verrechnet wird. Diese bekom-
men gar kein Kindergeld, weil sie den Zuschlag für Kin-
der bekommen. Darüber haben wir uns schon immer
aufgeregt. Wir halten das für eine völlig falsche Heran-
gehensweise.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Jetzt möchte ich gerne fortsetzen. Das Problem ist
doch folgendes: Wir haben eine Krise. Es gibt einige, die
die Schuld für diese Krise tragen. Die Schuldigen sind
nämlich die Banker, die Spekulanten und diejenigen, die
für bestimmte politische Entscheidungen verantwortlich
sind. Als Ergebnis Ihres sogenannten Sparpaketes kommt
nun heraus, dass weder die Banker noch die Spekulanten
noch die Verantwortlichen in der Politik die Folgekosten
dieser Krise bezahlen; vielmehr sollen diese die ALG-II-
Empfänger und die Geringverdiener in Deutschland be-
zahlen. Erklären Sie denen einmal, was daran gerecht sein
soll. Nichts haben Sie bisher unternommen, damit die tat-
sächlich Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen
werden.
Die Einkommen aus Unternehmenstätigkeit werden
übrigens im nächsten Jahr um 7,1 Prozent steigen. Ihr
Vorgehen hat, wenn Sie schon nicht sozial denken, auch
wirtschaftliche Auswirkungen: Eine ALG-II-Empfänge-
rin gibt all das Geld aus, das sie bekommt. Wenn Sie je-
doch Herrn Ackermann 100 Euro mehr geben, dann kauft
er nicht für 100 Euro mehr ein, sondern er spekuliert mit
diesen zusätzlichen 100 Euro. Wenn Sie einer ALG-II-
Empfängerin 10 Euro mehr geben, kauft sie dafür ein.
Das heißt, die ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger
5258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Gregor Gysi
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wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so-
wie die Geringverdiener würden die Binnenwirtschaft
stärken, wenn sie mehr Geld hätten. Die wirklich Reichen
und Vermögenden spekulieren bloß, wenn sie mehr Geld
bekommen, aber stärken nicht die Binnenwirtschaft. Die-
ser Unterschied muss doch einmal deutlich hervorgeho-
ben werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich stehe mit meiner Meinung nicht alleine da. Der
Wirtschaftsrat der CDU hat verlangt, endlich einmal für
eine gerechtere Steuerbelastung zu sorgen. Millionäre
stellen sich hin und erklären sich bereit, höhere Einkom-
mensteuern zu zahlen. Es ist doch wirklich grotesk: Nur
die FDP und die Union weigern sich und handeln konse-
quent dagegen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo bleiben
Sie denn da?)
– Ja, ich auch. Man sollte nur Politikern trauen, deren
Vorschläge dazu führen, dass auch sie selber mehr Steu-
ern zahlen müssen. Sie dagegen machen immer Vor-
schläge, die dazu führen, dass Sie selber weniger Steuern
zahlen. Das macht mich ungeheuer stutzig.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg.
Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP])
Jüngst haben Sie zusammen mit der SPD die Schul-
denbremse eingeführt. Aufgrund dieser Schuldenbremse
müssen bis 2014 knapp 96 Milliarden Euro eingespart
werden. Sagen Sie mir doch einmal, wie. Sie sagen, die
Hälfte solle durch Leistungskürzungen eingespart wer-
den. Aber die Länder sind doch am Ende, und die Kom-
munen sind schon kaputt. Wohin soll das noch führen?
Schleswig-Holstein zum Beispiel hat die Schulden-
bremse in die eigene Verfassung übernommen. Wozu
führt das dort? Um die Schuldenbremse einzuhalten,
muss man dort 5 300 Stellen, mehrheitlich im Schulbe-
reich, streichen. An den Hochschulen werden bestimmte
Studiengänge dichtgemacht. Die Landeszuschüsse für die
Schülerbeförderung werden gestrichen. Es wird also in
allen Bereichen der Bildung gespart. Wenn das alles nicht
reichen sollte, dann sollen auch noch Schwimmbäder ge-
schlossen und die Zahl der Kultureinrichtungen reduziert
werden. Ich frage Sie: Was ist das Ziel? Wohin soll das in
diesem Land noch führen?
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ha-
ben Sie in Berlin doch auch alles gemacht! –
Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann
[DIE LINKE]: Die Verschuldung in Berlin ha-
ben Sie doch zu verantworten!)
– Ja, dass es Berlin schlecht geht, weiß ich. Im Unter-
schied zu Ihnen, Herr Lindner, kümmern wir uns darum.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Frage an die in der Bundespolitik Verantwort-
lichen lautet: Wohin soll das in diesem Land führen?
Soll die kommunale Selbstverwaltung beseitigt werden
und Zwangsverwaltung eingeführt werden?
Wollen Sie keine Schwimmbäder und keine Kultur-
einrichtungen mehr haben? Das kann doch nicht der
richtige Weg sein. Wir brauchen endlich eine klare Kurs-
korrektur.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie sind stolz darauf, dass Sie die Zahl der Arbeits-
losen reduzieren. Sagen Sie doch einmal die Wahrheit:
Der DGB hat ermittelt, dass wir 1,6 Millionen weniger
Vollzeitstellen haben und die Zahl der sogenannten pre-
kären Beschäftigungsverhältnisse um 1,7 Millionen zu-
genommen hat.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Sie wollen mir wahrscheinlich sagen, dass ich zum
Ende kommen soll.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nein, Sie wissen doch, dass ich mit Ihnen besonders
großzügig umzugehen pflege. Der Kollege Lindner
möchte ebenfalls durch eine Zwischenfrage Ihre Rede-
zeit verlängern.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Na gut, Herr Lindner. Obwohl Sie mich schon in die
Psychiatrie schicken wollten, höre ich mir Ihre Frage an.
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Sie können jetzt ja beweisen, dass Sie da nicht hinge-
hören.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ob ich Sie überzeugt bekomme?
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Sie verweisen darauf, dass in Schleswig-Holstein
Stellen im Schuldienst abgebaut werden. Erklären Sie
uns doch einmal, wie es dazu kommen konnte, dass Ihre
Partei in der rot-roten Landesregierung von Berlin
insgesamt 30 000 Stellen im öffentlichen Dienst abge-
baut hat, das gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen
GSW an die böse „Heuschrecke“ Cerberus und die In-
vestmentbank Goldman Sachs verkauft hat und vor we-
nigen Monaten auch noch dem Börsengang der GSW zu-
gestimmt hat, der von Goldman Sachs und Cerberus
betrieben wird. Wie kommt es, dass Sie hier in Berlin
das Blindengeld gekürzt haben? Wie kommt es, dass Sie
gerade im Bereich des Schuldienstes gekürzt haben?
Herr Gysi, wie kommt es dazu, dass Sie uns hier den pu-
ren Sozialismus predigen, aber dort, wo Sie mitregieren,
das vollkommene Gegenteil machen? Wie kommt es,
dass von Ihnen eine ganz andere Politik verantwortet
wird?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Beifall für eine Frage heißt ja, dass Sie gar keine Ant-
wort hören wollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5259
Dr. Gregor Gysi
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(Jörg van Essen [FDP]: Weil wir sie schon
kennen!)
Im Klartext: Der Verkauf der Wohnungsbaugesell-
schaft war meines Erachtens ein Fehler. Allerdings muss
ich sagen, dass FDP, Union und Grüne daran beteiligt
waren. Ich werde Ihnen auch sagen, warum.
(Christian Lindner [FDP]: Ich dachte, Sie wol-
len eine andere Politik machen!)
– Ich werde es Ihnen erklären. Sie sind zum Landesver-
fassungsgericht gegangen und haben gesagt: Der Haus-
halt ist verfassungswidrig. Dann hat das Landesverfas-
sungsgericht gesagt: Das stimmt. Es hat gesagt: Ihr
müsst entweder die Einnahmen erhöhen oder bei den
Leistungen kürzen. Weil man bei den Leistungen nicht
kürzen wollte, ist man diesen Weg gegangen. Trotzdem
sage ich: Er war falsch. Das war aber nicht in dieser Le-
gislaturperiode, sondern in der vorigen. Dafür sind wir
schon ausreichend bestraft worden. In dieser Legislatur-
periode machen wir das wesentlich besser.
(Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!)
Zweitens. Was die Stellenkürzung betrifft, können
Sie Schleswig-Holstein und Berlin nicht gut vergleichen.
Diese Politik wurde schon von der Union eingeleitet.
Das hing damit zusammen, dass zwei öffentliche
Dienste zusammengekommen sind, nämlich der öffentli-
che Dienst von Westberlin und der öffentliche Dienst
von Ostberlin. Dadurch bedingt war vieles doppelt vor-
handen. Das war wirklich eine Sondersituation. Eine
solche Sondersituation hat Schleswig-Holstein nicht zu
bewältigen. Es hat in Berlin nicht eine einzige betriebs-
bedingte Kündigung gegeben, und dabei wird es auch
bleiben.
(Beifall bei der LINKEN)
Mit dieser Ausnahme in Berlin streiten wir überall dafür,
dass wir mehr Stellen im öffentlichen Dienst bekommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Weiter mit dem Thema „prekäre Beschäftigung“.
Sie haben Vollzeitbeschäftigung abgebaut und stattdes-
sen die Bereiche der Teilzeitarbeit, der Leiharbeit und
der 400-Euro-Jobs erweitert, und Sie haben den Kreis
der Aufstockerinnen und Aufstocker und vor allem der
befristetet Beschäftigten erweitert. Das war schon unter
SPD und Grünen so, ist von der Großen Koalition fort-
gesetzt worden und wird jetzt weiter fortgesetzt. Was
glauben Sie, wie dadurch das Land verändert wird? Im-
mer weniger Vollzeitbeschäftigung bedeutet eine Schwä-
chung der Gewerkschaften – das wissen Sie natürlich –,
aber das schwächt auch die Betroffenen. Es gibt immer
mehr 400-Euro-Jobs und immer mehr befristete Arbeits-
verhältnisse. Das, was Sie in diesem Zusammenhang or-
ganisieren, ist alles nicht hinnehmbar.
Zum Schluss muss ich kurz auf den G-20-Gipfel in
Toronto eingehen. Was haben Sie dort verkündet? Sie
haben gesagt: Die öffentlichen Schulden der Länder sol-
len bis 2013 halbiert werden. Das ist doch ein Scherz.
Die meisten Länder können das überhaupt nicht. Das ist
nichts weiter als das Verkünden einer Illusion.
US-Präsident Obama und sein Finanzminister haben
Frau Merkel dringend gebeten, ihren harten Sparkurs in
Deutschland einzustellen. Aber sie denkt gar nicht daran
und hat dem widersprochen. Warum? Obama will eine
Ankurbelung der Weltkonjunktur, während Sie organi-
sieren, dass die Weltkonjunktur abstirbt. Dort ist ein tie-
fer Gegensatz entstanden.
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Obama hat
doch zugestimmt! Lesen bildet!)
Wenn ich an die Bankenabgabe und andere Dinge
denke, muss ich sagen: In letzter Zeit hat Obama in der
Regel recht und Sie unrecht. Es ist schon merkwürdig,
welche Entwicklung wir hier zu verzeichnen haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt frage ich Sie: Was haben Sie bei der Regulierung
der Finanzmärkte erreicht?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Mit dieser Fragestellung müssen Sie es dann auch fast
bewenden lassen. Die Antwort darauf müssen andere ge-
ben.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Das ist sehr bedauerlich. Herr Präsident, sehen Sie
einmal, was Sie versäumen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ja, Sie können mir das Manuskript Ihrer Rede gerne
zur Verfügung stellen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Als Letztes sage ich Ihnen: Ihr Versuch, zulasten der
sozial Schwachen die Krise zu lösen, ist ungeheuerlich,
ist ungerecht und muss schiefgehen. Sie müssen endlich
einmal den Mut haben, bei den wirklich Vermögenden,
bei den Bestverdienenden die Steuern zu erhöhen oder
entsprechende Steuern einzuführen. Dafür stehen Sie
nicht. Deshalb setzt sich jetzt der schwarze Tag von ges-
tern als schwarzer Tag für die Bevölkerung fort. Hoffen
wir, dass es bald einmal einen roten Tag gibt.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN – Kerstin Andreae
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwarze
Monate!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Hermann Otto Solms ist der nächste Redner für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Unterhaltungsleistung von Herrn Gysi lässt
nicht nach, die inhaltliche Substanz seiner Ausführungen
5260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Hermann Otto Solms
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ist so dünn wie immer. Das beweist sich an den prakti-
schen Beispielen: Als er in der Verantwortung stand,
konnte er nichts liefern.
(Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/
CSU])
Im Namen der FDP-Fraktion möchte ich dem Wirt-
schaftsminister für den ermutigenden Bericht, den er
hier vorgelegt hat, danken.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Bundesregierung, die ja für Fehler in der volkswirt-
schaftlichen Entwicklung haftbar gemacht wird, muss
belobigt werden, wenn es gut läuft. Denn es ist ja nicht
ganz ohne ihr Zutun, dass wir eine so positive wirt-
schaftliche Entwicklung haben.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Wenn Sie das in den Zusammenhang mit den sozial-
politischen Aufgaben stellen, die wir zu bewältigen ha-
ben, so ist es das ehrgeizigste, das vornehmste Ziel der
Sozialpolitik, Menschen, die von Transfereinkommen
abhängig sind, wieder in Lohn und Brot zu bringen, da-
mit sie eigenständig und eigenverantwortlich handeln
können, ihre Familie ernähren können und nicht von an-
deren abhängig sind.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Gerade in diesem Bereich haben wir jetzt die größten Er-
folge erzielt; das zeigen die Daten. Die Arbeitslosigkeit
geht unerwartet stark zurück. Wir stellen fest: Wir haben
schon wieder Knappheit an Facharbeitern. Wenn die
Prognosen stimmen, werden wir im nächsten Jahr im
Durchschnitt die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 1991,
also seit der deutschen Einheit, erreichen. Das hätte im
letzten Jahr niemand erwartet.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Maßnahme, die diese Bundesregierung gerade am
Anfang ihrer Tätigkeit geleistet hat, nämlich das Wachs-
tumsbeschleunigungsgesetz gegen den geballten Wider-
stand der Opposition und der Journaille durchzusetzen,
hat wesentlich dazu beigetragen. 22 Milliarden Euro
wurden seit 1. Januar 2010 für die Bürger freigegeben.
Die Bürger nutzen das, wo immer sie können. Durch
Konsum und durch Investitionen stärken sie diesen
Wachstumsprozess und tragen dazu bei, dass der Wachs-
tumsprozess ein dauerhafter ist.
Die Wirtschaftskrise ist überwunden. Deswegen müs-
sen wir von kurzfristigen Wirtschaftskrisebekämpfungs-
maßnahmen zu dauerhaften, ordnungspolitisch sauber
angelegten Maßnahmen der Wirtschaftspolitik kommen.
Der Wirtschaftsminister hat hier an die Ordnungspolitik
deutscher Prägung erinnert; denn es ist ganz wichtig,
dass wir diese ordnungspolitischen Prinzipien wieder
einhalten. Der Staat setzt die Regeln und achtet darauf,
dass die Regeln eingehalten werden. Aber er darf nicht
mitspielen; denn wenn er mitspielt, verletzt er die markt-
wirtschaftlichen Prinzipien, verletzt er den Wettbewerb.
Das hat das Fußballspiel gegen Serbien gezeigt: Wenn
der Schiedsrichter einseitig eingreift und den besten
Spieler einer Mannschaft vom Feld stellt, kann kein neu-
trales Ergebnis, kein vernünftiges Wettbewerbsergebnis
erzielt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus
Barthel [SPD]: Ihr würdet die Regeln alle ab-
schaffen! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Der beste Spieler war Herr Klose
aber nicht!)
Genau so muss der Staat in Zukunft vorgehen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Fritz
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die
FDP fordert die Abschaffung des Schiedsrich-
ters! Toll!)
Das hat Rainer Brüderle in der Causa Opel genau vorge-
führt. Gegen den Widerstand auch in der eigenen Regie-
rung hat er ordnungspolitisch saubere Politik durchge-
setzt. Binnen kürzester Zeit – das haben wir alle nicht
erwartet – hat sich gezeigt, dass das tatsächlich die rich-
tige Maßnahme war.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deswegen kann ich ihn nur ermutigen, genauso fortzu-
fahren, also eine ordnungspolitisch saubere Wirtschafts-
und Wettbewerbspolitik zu betreiben. Das wird allen in
Deutschland helfen.
Nun kommt es zu Aussagen wie von Herrn Gysi, die
Löhne seien gesunken. Sie sind nicht gesunken, aber die
Lohnstückkosten, auf die es im Wettbewerb ankommt,
sind in Deutschland sehr maßvoll gestiegen. Das bekla-
gen nun unsere Wettbewerbsländer. Dazu kann man nur
sagen: Macht es doch nach!
(Klaus Barthel [SPD]: Lohndrückerei!)
Wir haben dadurch erreicht, dass wir unter allen In-
dustriestaaten weltweit den höchsten Anteil des produ-
zierenden Gewerbes am Sozialprodukt haben. Wir wer-
den von allen Ländern beneidet. Bei uns beträgt der
Anteil des produzierenden Gewerbes am Bruttoinlands-
produkt 22 bis 23 Prozent. Wenn wir die Bauwirtschaft
mit einbeziehen, sind es knapp 27 Prozent. Das liegt
noch über dem Niveau von Japan. In anderen europäi-
schen Staaten dagegen ist der Anteil stark gesunken.
Wir überwinden diese Krise deswegen besser und
nachhaltiger, weil wir uns in Deutschland eine so gute
Struktur mit kleinem und mittelgroßem Gewerbe, produ-
zierendem Gewerbe, Dienstleistungsgewerbe und Ähnli-
chem erhalten haben. Darum werden wir beneidet. Dies
hat Paul Volcker vor kurzem in einem Zeitungsbeitrag
festgestellt. Er hat gesagt, es wäre gut, wenn sich die
Vereinigten Staaten an Deutschland orientieren und grö-
ßeren Wert auf das produzierende Gewerbe gelegt hät-
ten.
Auf Großbritannien will ich jetzt gar nicht eingehen.
Dort ist es noch viel dramatischer.
Jetzt kommt es darauf an, die Aufgaben, die sich uns
stellen, möglichst schnell und klar zu lösen. Wir brau-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5261
Dr. Hermann Otto Solms
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chen klare Konzepte in der Energiepolitik. Die Bun-
desregierung hat angekündigt, das bis zum Herbst zu
leisten. Ich bitte auch darum, dass die unterschiedlichen
Ansichten innerhalb der Bundesregierung selbst geklärt
werden statt in der Öffentlichkeit, sodass wir dann ge-
meinsam handeln können.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Oh je! Gemeinsam handeln mit euch! Die
nächste Drohung!)
Wir brauchen klare Konzepte in der Gesundheitspo-
litik. Wir alle wissen, dass Gesundheit durch den medi-
zinischen Fortschritt und die längere Lebenserwartung
der Bevölkerung immer teurer wird. Das ist unvermeid-
lich. Nun müssen wir dafür sorgen, dass das System so
effizient wie möglich arbeitet. Deswegen brauchen wir
in diesem Bereich mehr Wettbewerb – daran führt kein
Weg vorbei –,
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was ist denn mit der Kopfpauschale?)
um die Effizienzreserven zu heben. Aber die steigenden
Kosten müssen auch getragen und verteilt werden. Hier
geht es darum, mehr Eigenverantwortung und Mitwir-
kung der Betroffenen, der Patienten, aber selbstverständ-
lich auch der Dienstleister im Gesundheitssystem zu er-
reichen. Wir brauchen endlich Entscheidungen, die nach
vorne gerichtet sind, statt an der überkommenen, aber
nicht mehr tragfähigen Gesundheitspolitik festzuhalten,
wie wir sie erlebt haben.
(Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit der
Kopfpauschale?)
Ich empfinde die Wahl des Bundespräsidenten ges-
tern als eine symbolische Handlung.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir auch! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es gefährlich!)
– Ich werde es Ihnen erläutern. Zugegeben, die Koalition
hat am Anfang geschwächelt. Sie hat sich im zweiten
Wahlgang deutlich gesteigert und dann, als es darauf an-
kam, die absolute Mehrheit erreicht.
(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und
der LINKEN – Garrelt Duin [SPD]: Weit unter
Ihren Möglichkeiten! – Fritz Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso hat die FDP
4 Prozent?)
Die linke Seite konnte sich bis zum letzten Wahlgang
nicht einigen. Die SPD schiebt nun die Verantwortung
auf die Linken. Das ist völlig grundlos; denn man hat
sich vorher nicht einigen können. Außerdem ist es auch
noch mathematisch falsch. Die Linken sind nicht verant-
wortlich, sondern wir haben unsere Mehrheit selbst er-
reicht.
(Beifall bei der FDP – Lachen bei der
LINKEN)
Die Bundesregierung hat in ihrer Arbeit in allen Be-
reichen am Anfang etwas geschwächelt. Jetzt nimmt sie
Fahrt auf. Wir sind mitten in der Wahlperiode. Ich sage
Ihnen voraus: Je näher wir der nächsten Bundestagswahl
kommen, desto stärker werden wir. Machen Sie sich da-
rauf gefasst.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-
vor ich mit meiner wirtschaftspolitischen Rede beginne,
will ich kurz auf Sie eingehen, Herr Solms. Wenn Sie
den Verlauf der Wahl gestern so darstellen, wie Sie es
gerade getan haben, dann hätte ich auch gerne eine Er-
klärung, warum die FDP in den Umfragen inzwischen
bei 4 Prozent gelandet ist. Ich zitiere gern die taz, die,
wie ich finde, sehr deutlich getitelt hat: „Einfach, niedrig
und gerecht“. Das beschreibt, wo Sie gerade stehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Herr Brüderle, der Aufschwung ist nicht Ihr Ver-
dienst. Sie haben in den letzten Monaten nichts dafür ge-
tan, dass dieser Aufschwung kommt. Das Schlimme ist:
Die Maßnahmen, die Sie jetzt ergreifen, werden diesen
Aufschwung abwürgen. Ich werde das im Einzelnen dar-
legen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizie-
ren für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2 Pro-
zent. Aber schon im kommenden Jahr soll das
Wirtschaftswachstum nur noch 1,5 Prozent betragen.
Jetzt werden die Weichen gestellt: Entweder wir schaf-
fen es, diesen Aufschwung zu verstetigen, oder aber wir
würgen ihn ab.
Der Aufschwung steht auf zwei Beinen. Viele meiner
Vorredner haben über die Auslandsnachfrage gespro-
chen. Die Auslandsnachfrage ist in weiten Teilen abhän-
gig von einem schwachen Euro. Das kann sich wieder
ändern. Die Stabilität des Euros können wir nur wenig
beeinflussen. Aber der Wirtschaftsminister muss durch-
aus die Entwicklung des Euros beobachten. Auf dem
Bein „Stabilität des Euros“ allein können wir nicht ste-
hen.
Allein auf dem zweiten Bein können wir aber auch
nicht stehen. Der Aufschwung ist in weiten Teilen verur-
sacht durch die Konjunkturprogramme. Weltweit sind
über 1 Billion Euro in Konjunkturprogramme investiert
worden. Diese Programme laufen aus. Das heißt, auch
dieses Bein bricht weg.
Wir von den Grünen sind der Ansicht, dass diese
Konjunkturprogramme ein Ende haben müssen. Staatli-
che Stützungsprogramme in dieser Größenordnung kön-
nen wir gar nicht dauerhaft finanzieren. Über die eine
oder andere Maßnahme muss man reden; aber in dieser
Größenordnung kann nicht weiter finanziert werden.
Wir haben heute eine Rekordneuverschuldung von
65 Milliarden Euro. Eines der Worte, die ich in den letz-
ten Monaten bei Ihnen, aber auch in der Debatte insge-
5262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Kerstin Andreae
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samt völlig vermisst habe, ist das Wort „Generationenge-
rechtigkeit“. Diese Neuverschuldung ist ein Angriff auf
die Generationengerechtigkeit, und da machen die Grü-
nen nicht mit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wie das
denn?)
Was ist jetzt zu tun? Drei Sachen: Sie müssen sparen,
ohne den Aufschwung abzuwürgen. Sie müssen die Ein-
nahmen verbessern, und vor allem müssen Sie in die Zu-
kunft investieren – in Klima, in Effizienz bei Ressourcen
und in Bildung.
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Ja, machen wir
doch!)
Auf die damit verbundenen Fragen können Sie die richti-
gen oder die falschen Antworten geben. Sie geben die
falschen Antworten. Ich erkläre Ihnen das im Einzelnen.
Was wäre denn „richtig sparen“? Sparen Sie endlich
unsinnige Verkehrsprojekte ein. Bei mir in Süddeutsch-
land gibt es eines der unsinnigsten Verkehrsprojekte
überhaupt: Stuttgart 21. Sie verbuddeln dort Milliarden
Euro, indem Sie einen Bahnhof unter die Erde legen. Be-
erdigen Sie dieses Projekt! Das wäre eine sinnvolle
Sparmaßnahme.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Jörg van Essen [FDP]: Typisch Grüne!)
Aber Sie sollten auch einmal Ihre Förderprogramme
durchforsten; allein das Wirtschaftsministerium hat 55.
Wir Grüne werden eines machen: Wir werden uns Stück
für Stück jedes einzelne dieser Förderprogramme an-
schauen und im Hinblick auf seine ökologische Ausrich-
tung – die fast nicht vorhanden ist – untersuchen. Wir
werden Ihnen sagen: Wir können mit weniger und mit
klareren Programmen mehr erreichen als mit dieser ver-
stückelten Wirtschaftsförderungspolitik. Wir werden zei-
gen, wo Sie Geld sparen können und wie Sie das einge-
sparte Geld richtig einsetzen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dass Sie falsche Antworten geben, zeigt sich auch da-
ran, dass Sie bei den Ärmsten sparen. Teilweise verste-
hen Sie gar nicht, was man Ihnen vorwirft. Der Disput
zwischen Herrn Gysi und Herrn Geis war ziemlich inte-
ressant. Auf einmal wurde klar, welche fachlichen Lü-
cken
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Löcher!)
in der Koalition zuweilen vorhanden sind. Sie wissen ja
gar nicht, worüber Sie reden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Dennoch treffen Sie auf diesem Gebiet Entscheidungen.
Wenn das eine Standbein „Auslandsnachfrage“ und
das andere Standbein „Konjunkturprogramme“ zumin-
dest nicht ganz auf festen Füßen stehen und der Auf-
schwung daher gefährdet ist, dann brauchen wir ein drit-
tes Standbein. Dieses dritte Standbein sind die
Binnennachfrage und die Binnenkonjunktur. Notwen-
dig ist also eine Investitionsoffensive im Inland im Be-
reich Bildung und im Bereich Klima. Notwendig ist na-
türlich auch, die Binnennachfrage derjenigen zu stärken,
die wenig Geld haben.
Sie haben gesagt: Wir wollen zahlreiche Konjunktur-
programme auflegen, um Arbeitslose wieder in Arbeit
zu bringen. D’accord; das klingt gut. Warum kürzen Sie
dann aber 16 Milliarden Euro bei Qualifizierung und
Umschulung, also bei genau denjenigen Maßnahmen,
durch die Arbeitslosen geholfen wird, sich auf dem Ar-
beitsmarkt zu etablieren?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Natürlich müssen Sie die Einnahmen verbessern. Mit
Sparen allein werden Sie nicht hinkommen; das wissen
Sie aber auch. Ich fand es niedlich, dass das Nachdenken
über eine Anhebung des Spitzensteuersatzes in der FDP
als Steuerrebellion empfunden wird. Ich weiß nicht, was
Sie unter Rebellion verstehen. Über eine solche Anhe-
bung ist nur nachgedacht worden. Entsprechende Über-
legungen sind gleich wieder eingesammelt worden, an
vorderster Front von Ihnen von der FDP, wie wir haben
lesen dürfen. Dabei werden Sie zum Jagen getragen. Die
Leute sagen Ihnen: Erhöhen Sie den Spitzensteuersatz!
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was habt
ihr denn damals gemacht?)
Wir alle, die wir hier sitzen, sind von Ihrem Sparpro-
gramm in keiner Weise betroffen. Im Gegenteil: Durch
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben diejenigen
von uns, die Kinder haben, noch mehr bekommen. Das
ist sozial ungerecht; das schafft eine Schieflage. So geht
es nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Es wäre auch richtig, klimaschädliche Subventionen
zu streichen. Das Umweltbundesamt spricht von Sub-
ventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro jedes Jahr.
Wenn Sie anfangen, klimaschädliche Subventionen zu
streichen, machen Sie dreierlei: Erstens helfen Sie der
Wirtschaft, umzusteuern – das ist notwendig –, zweitens
machen Sie etwas für das Klima, drittens machen Sie et-
was für die Haushalte. Streichen Sie Steuervorteile für
große Dienstwagen! Schaffen Sie Ökosteuersubventio-
nen für energieintensive Unternehmen sukzessive ab!
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Vertreiben
Sie Unternehmen aus Deutschland!)
Sie sagen natürlich, dass Sie bei der Steinkohle strei-
chen. Machen Sie aber einmal einen konkreten Vor-
schlag! Wir bringen einen konkreten Vorschlag ein, der
in die Ausschüsse geht.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und in
Nordrhein-Westfalen schreiben Sie das in den
Koalitionsvertrag!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5263
Kerstin Andreae
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Ich bin sehr gespannt, wie Sie von der Koalition sich
dazu verhalten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihre Antworten reichen nicht aus. Ihre Politik ist unso-
zial und ökologisch blind.
Warum müssen wir uns jetzt Einnahmen und Ausga-
ben anschauen? Warum müssen wir darauf achten, dass
der Staat handlungsfähig bleibt? Weil wir in die Zukunft
investieren müssen. Wie lautet die richtige Antwort? Sie
sagen, die Krise sei vorbei. Die Kanzlerin hat immer ge-
sagt, es sei wichtig, dass wir nach der Krise wieder so
dastehen wie vor der Krise. Das ist ganz gefährlich. Ent-
scheidend ist doch, dass wir jetzt die Weichen richtig
stellen. Die Weichen liegen bei der Ökologie: Die Öko-
logie ist die beste Ökonomie des 21. Jahrhunderts.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Jeder Platz in
der Solarindustrie wird mit 153 000 Euro ge-
fördert!)
In zehn Jahren – wir alle werden es hoffentlich erle-
ben – werden vier von zehn neu zugelassenen Autos in
Europa einen Elektromotor haben. Gestern schrieb das
Handelsblatt, dass die Börse das Elektroauto feiert. Die
Börse feiert aber in Amerika; nicht bei uns. Wenn wir
die Chancen auf diesem Markt nicht nutzen, dann ver-
schlafen wir einen Riesenmarkt.
Was machen Sie? Sie lassen sich für Ihren Umgang
mit Opel feiern. Helfen Sie lieber der Automobilindus-
trie, auf neuen Pfaden zu gehen! Schaffen Sie ein Markt-
anreizprogramm für schadstoffarme Autos! Geben Sie
mehr Forschungsmittel für Speicher, Werkstoffe und An-
triebe aus! Entwickeln Sie intelligente Verkehrskon-
zepte! Dann bewegen Sie sich in einem Zukunftsmarkt;
das wäre richtig. Vielleicht werden Sie dann dafür gefei-
ert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben in Deutschland 18 Millionen Wohnungen.
Wir fordern eine Sanierungsquote von 3 Prozent. Das
heißt: 540 000 Wohnungen sollen jedes Jahr saniert wer-
den.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was kostet
das denn?)
Das ist dringend notwendig, für das Klima, aber auch für
die Arbeitsplätze im Handwerk. Was glauben Sie, welch
enormen Impuls Sie geben können, wenn Sie ein ge-
scheites, vernünftiges Gebäudesanierungsprogramm
auf den Weg bringen! Das lohnt sich auch noch, weil je-
der Euro doppelt und dreifach zurückkommt, zum einen
durch Steuern und Abgaben, zum anderen, weil öffentli-
che Investitionen private Investitionen nach sich ziehen.
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, die Mittel für das
Gebäudesanierungsprogramm zu erhöhen. Was macht
die Koalition? Sie hat es abgelehnt. Das ist ökonomisch
blind. Die Zukunft der Wirtschaft – –
(Patrick Döring [FDP]: Da klatscht keiner im
Saal! Denken Sie einmal darüber nach!)
– Ach! Ich bin mir sicher, dass ganz schön viele im Saal
klatschen werden, wenn ich sage, dass die Koalition
ökologisch blind ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von
der FDP: Oh!)
Vor 20 Jahren betrug der Ölpreis 18 Dollar pro Barrel.
Damals ist prognostiziert worden, dass er in 20 Jahren
50 Dollar pro Barrel beträgt. Heute liegen wir bei
76 Dollar pro Barrel. Dieser Preis ist relativ niedrig; vor
zwei Jahren war der Preis schon deutlich höher. Wenn
wir es nicht schaffen, den Unternehmen zu helfen, sich
auf sinkende Rohstoffmengen und steigende Rohstoff-
preise einzustellen, dann haben wir nicht begriffen, wie
wir unsere Wirtschaft umstellen müssen. Deswegen sa-
gen wir: Sie geben in diesem zarten Aufschwung die
falsche Antwort, weil Sie den Unternehmen nicht hel-
fen, sich umzustellen. Wir geben die richtigen Ant-
worten. Die Effizienzrevolution im Bereich der Mate-
rialeffizienz und der Energieeffizienz ist einer der
entscheidenden Punkte. Da müssen wir hin: unsere
Kreativität, unser Mut und unsere Entschlossenheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme zum Schluss. Nietzsche hat gesagt: „Den
Stil verbessern, das heißt den Gedanken verbessern“. Ihr
Stil steht seit Monaten zu Recht in der Kritik. Der Grund
sind Ihre Ideen und der Streit, den Sie aufgrund dieser
Ideen haben. Ich sage Ihnen: Grüne Ideen sind besser
und, glauben Sie mir, unser Stil ist es auch!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion. – Nein, das ist gar nicht wahr. Zuerst ist der
Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion
dran und dann der Kollege Barthel. Das entspricht offen-
kundig auch den beiderseitigen Erwartungen, sodass wir
Irritationen vermeiden sollten. Bitte schön.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Im Mittelpunkt der heutigen Regierungserklärung
steht das Thema Aufschwung. Es ist in der Tat sinnvoll,
sich zu vergegenwärtigen, was hinter uns liegt. Es wurde
bereits angesprochen: Es ist noch keine zwei Jahre her,
dass wir in den Abgrund geblickt haben.
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: So ist es!)
Es wurden 5 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Im
letzten Jahr hatten wir einen noch nie da gewesenen
Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5 Prozent, von
den Turbulenzen auf den Finanzmärkten ganz zu
schweigen. Keiner wusste genau, was zu tun ist, weil
diese Situation kein historisches Vorbild hatte.
Die Politik hat national, auf europäischer Ebene und
international gehandelt. Die Finanzmärkte wurden mit
Rettungsschirmen stabilisiert. Weltweit wurden Konjunk-
turprogramme initiiert. In Deutschland wurden Konjunk-
turpakete mit einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden
5264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Joachim Pfeiffer
(A) (C)
(D)(B)
Euro geschnürt, was in der Krise zu Stabilität, Sicher-
heit und Vertrauen geführt hat. In diesem Jahr – wir
hatten bereits die Hoffnung, dass es aufwärts geht – ha-
ben wir die Bürger mit dem Bürgerentlastungsprogramm
und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz nochmals
um rund 23 Milliarden Euro entlastet. Das ist die größte
Entlastung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland je gab. Das sind die Fakten, die man sich
vergegenwärtigen sollte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Die Fakten sprechen eine klare und deutliche Spra-
che. Die Finanzmärkte sind wieder stabiler. Am heuti-
gen Tag wird das von der Europäischen Zentralbank
gewährte Jahresgeld in Höhe von 442 Milliarden Euro
– das war die größte Summe, die jemals für ein Jahr ge-
währt wurde –, geräuschlos zurückgezahlt werden kön-
nen. Das zeigt: Es ist wieder Vertrauen in die Märkte
vorhanden. Die Banken leihen sich gegenseitig wieder
Geld. Wir können also hoffen, dass die Finanzmärkte
wieder stabiler sind. Wir müssen und werden nun mit
weiteren Instrumenten dafür sorgen, dass sich eine sol-
che Krise nicht wiederholt.
Auch auf den Gütermärkten, die vor allem durch
staatliche Aktivitäten stabilisiert wurden – Stichwort:
Umweltprämie; zu nennen sind auch die Bereiche ener-
getische Sanierung und Handwerk –, wurde das Ver-
trauen gefestigt und Umsatz geschaffen. Das ist nicht al-
lein auf staatliche Stimulanzien zurückzuführen, sondern
wir haben einen selbsttragenden Aufschwung, der dazu
führt, dass sich die Wirtschaft weiter stabilisiert. Die Au-
tomobilindustrie und die Maschinenbauindustrie sind er-
freulicherweise wieder gut ausgelastet. Aufträge sind
vorhanden. Zum Teil werden wieder Sonderschichten
gefahren. Wir können also von einem selbsttragenden
Aufschwung sprechen.
Das Szenario von 5 Millionen Arbeitslosen ist nicht
eingetreten. Erfreulicherweise bewegt sich die Arbeits-
losigkeit auf einem Niveau von 3 Millionen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Keiner hat uns das zunächst zugetraut. Nun spricht die
ganze Welt vom „German Jobwunder“.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
2 Millionen weniger Arbeitslose zu haben, bedeutet
– die Zahlen wurden eben genannt –, dass mehr in die
Sozialkassen eingezahlt wird. 100 000 Arbeitsplätze
bringen mehr als 80 Millionen Euro an zusätzlichen Ein-
nahmen für die Bundesagentur für Arbeit. Wären sie
weggefallen, wären Kosten für Arbeitslosengeld I usw.
in Höhe von 1,6 Milliarden Euro angefallen.
Uns ist insgesamt ein Betrag von 40 Milliarden Euro
erspart geblieben. Und „uns“ heißt in dem Fall dem
Steuerzahler, weil er keine Steuern dafür aufbringen
muss, und dem Beitragszahler, weil er keine höheren So-
zialversicherungsbeiträge aufbringen muss. Das ist die
beste Art und Weise, dieses selbsttragende Wachstum
weiter zu beschleunigen und anzuheizen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Was werden wir weiter tun? Wir werden das Wachs-
tum stabilisieren und beschleunigen, und wir werden in-
telligent sparen und konsolidieren.
(Garrelt Duin [SPD]: Was heißt das denn?)
Wie wollen wir das Wachstum beschleunigen? Wir wol-
len mehr Wettbewerb durch moderne und wettbewerbs-
fördernde Regulierungen in den Gütermärkten. Bei-
spielsweise werden wir das Telekommunikationsgesetz
und das Postgesetz novellieren und dafür sorgen, dass es
mehr Wettbewerb gibt, der dann auch mehr Arbeits-
plätze schafft, und dass wir einen Infrastrukturwettbe-
werb bekommen. Bei den vor- und nachgelagerten
Diensten in diesen Bereichen wollen wir neue Dienst-
leistungen ermöglichen und damit neue Arbeitsplätze
schaffen, wodurch zusätzliches Wachstum entsteht.
Wir werden weiter entbürokratisieren. Das bringt der
Wirtschaft etwas und kostet nichts. Nehmen wir ein ein-
faches Beispiel: Wir haben uns vorgenommen, Schwel-
lenwerte zu vereinheitlichen und Aufbewahrungsfristen
zu verkürzen. Jeder Freiberufler, jeder Unternehmer
muss heute seine Rechnungen zehn Jahre lang aufbe-
wahren. Die elektronische Rechnungserstellung funktio-
niert noch nicht richtig. Der Normenkontrollrat hat aus-
gerechnet, dass allein diese Aufbewahrungsfristen fast
7 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Wenn wir vernünftige
Regelungen umsetzen und beispielsweise die Aufbewah-
rungsfristen halbieren, dann können wir auch hier
Wachstum schaffen und sinnvolle neue Ansätze bringen,
ohne dass wir uns deswegen verschulden müssten.
Wir werden auch im Energiebereich Wachstumspo-
tenziale mobilisieren. Energieeffizienz ist in der Tat un-
ser Thema. Wir wollen die Energieeffizienz bis zum Jahr
2020 noch einmal verdoppeln. Wir hatten das schon ein-
mal – von 1970 bis 1990 – geschafft. Das ist eine große
Herausforderung; aber wir werden es angehen, die ent-
sprechenden Instrumente zu schaffen.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ihr müsst was machen!)
Wir werden einen Energiemix schaffen und die Poten-
ziale, die dort vorhanden sind, heben. Wir wollen den
massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Gegenüber
heute wollen wir sie im Strombereich bis zum Jahre
2020 auf über 30 Prozent, vielleicht sogar 35 Prozent
steigern. Der Strom muss dann aber immer noch zu 60,
65 oder 70 Prozent von irgendwo anders kommen. Der
kommt ja nicht vom Mond, Herr Kuhn, auch bei Ihnen
nicht.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Von der Sonne! – Renate Künast [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Mond hat doch
keinen Strom! Er ist ein Planet, Sie Irrlicht! Er
ist ein Planet, kein Stern!)
– Oder aus der Steckdose. – Die volkswirtschaftlichen
Folgen der Fotovoltaik hat der Kollege Fuchs vorhin
schon angesprochen. Deshalb werden wir auch die
volkswirtschaftlichen Potenziale der Kernenergie nut-
zen. Nicht wir, sondern das Öko-Institut und das RWI
haben ausgerechnet, dass dort ein volkswirtschaftlicher
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5265
Dr. Joachim Pfeiffer
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Nutzen in einer Höhe von 250 Milliarden Euro verloren
gehen würde. Deshalb werden wir die Laufzeiten sub-
stanziell verlängern und dafür sorgen, dass dieses nicht
allein den großen Vier zugute kommt. Vielmehr werden
wir eine den Wettbewerb stimulierende Lösung finden,
sodass der Wettbewerb weiter vorankommt. Diese Po-
tenziale werden der gesamten Wirtschaft und letztlich
auch dem Bürger zugute kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich möchte, weil das auch heute wieder erwähnt
wurde, das Thema Binnennachfrage und Lohn anspre-
chen. Es wurde gesagt, die Löhne würden zurückgehen.
Das stimmt überhaupt nicht. Wir haben immer noch mit
die höchsten Lohnkosten in Europa. Es ist in der Tat aber
so: Wenn man den Unterschied zwischen Lohnstückkos-
ten und Lohnkosten nicht kennt, wird es schwierig.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist wie mit dem Unterschied zwi-
schen Kindergeld und Elterngeld!)
Herr Solms hat ja versucht, Ihnen das darzulegen.
Es hat sich in den letzten 20 Jahren empirisch erwie-
sen: Jedes Prozent Reallohnanstieg führt zu einer Steige-
rung der Binnennachfrage von 0,3 Prozent. Jedes Pro-
zent Beschäftigungsanstieg dagegen führt zu einer
Steigerung der Binnennachfrage von 0,8 Prozent. Das
heißt, die beste Förderung der Binnennachfrage besteht
in einer guten Beschäftigungspolitik bzw. in der Erwei-
terung des Arbeitsvolumens.
(Klaus Barthel [SPD]: Das Beste wäre: Alle
würden arbeiten und kein Geld dafür bekom-
men! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
So ein Quatsch! – Dr. Barbara Höll [DIE
LINKE]: Aber nur, wenn es ordentlich bezahlt
wird! Wir brauchen vernünftige Löhne!)
Wir haben dazu einiges in Bezug auf den Arbeitsmarkt
getan. Es ist beispielsweise gelungen, vom Jahr 2000 bis
zum Jahr 2008 die Erwerbsbeteiligung der Älteren – der
55- bis 64-Jährigen – von unter 40 Prozent – 37,6 Pro-
zent – auf 54 Prozent konsequent zu steigern. Daran
werden wir auch weiterhin arbeiten.
Beim Elterngeld – es ist vorhin schon angesprochen
worden – wollen wir Wahlfreiheit für Familien und Al-
leinerziehende. Wir können es uns auch angesichts der
demografischen Situation nicht leisten, zukünftig auf
dieses volkswirtschaftliche Asset zu verzichten.
Dieses Jahr werden wir am Ausbildungsmarkt einen
Wendepunkt erleben. Der Ausbildungspakt wird neu ge-
staltet werden. Bisher ging es darum, genug Ausbil-
dungsplätze zur Verfügung zu stellen. Das wird zukünf-
tig nicht mehr die Herausforderung sein. Es wird
zukünftig mehr Ausbildungsplätze geben, als Bewerber
vorhanden sind. Die Facharbeiter- bzw. Fachkräftelücke
zeichnet sich schon ab. Diese Entwicklung ist der Demo-
grafie geschuldet.
(Garrelt Duin [SPD]: Da wäre eine moderne
Einwanderungspolitik vonnöten!)
Unser Ziel ist, vor allem die Bereiche, in denen noch
etwas zu tun ist, besser zu fördern. Als Beispiele nenne
ich Migranten und Menschen, die schlecht ausgebildet
sind oder keinen Abschluss haben; beide Gruppen sind
häufig identisch.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Für die strei-
chen Sie die Förderprogramme!)
Diese Klientel müssen wir ganz besonders in den Blick
nehmen und effektiver fördern. Das werden wir bei-
spielsweise beim Ausbildungspakt tun.
Wenn wir all dies machen, dann gelingt es uns tat-
sächlich, stärker aus der Krise hervorzugehen, als wir in
die Krise hineingegangen sind. Das ist unser Ziel. Abge-
rechnet, meine Damen und Herren, wird zum Schluss.
Ich bin mir sicher: Wir haben einen klaren ordnungspoli-
tischen Kompass – das ist heute schon vorgetragen wor-
den –, unsere Instrumente werden wirken, und am Ende
dieser Legislaturperiode wird Deutschland durch die Ar-
beit dieser bürgerlichen Koalition von CDU, CSU und
FDP besser dastehen,
(Garrelt Duin [SPD]: Als jetzt! Schlechter geht
es ja auch nicht!)
als Deutschland nach sieben Jahren Rot-Grün dagestan-
den hat, und es wird auch besser dastehen als nach vier
Jahren Großer Koalition. Davon bin ich überzeugt. Las-
sen Sie uns die entsprechenden Zahlen, Daten und Fak-
ten dann zusammentragen. Dem sehen wir gelassen ent-
gegen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein
Pfeiffer pfeift im Walde!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Frak-
tion das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Klaus Barthel (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe
es ja gerne zu: Wir haben zumindest zwei Dinge nicht
erwartet. Wir haben das, was gestern passiert ist, nicht
erwartet,
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Gehen Sie doch mal auf heute ein! Heute ist
schließlich McAllister gewählt worden! Ist das
nicht toll?)
und wir haben nicht erwartet, dass es auf dem Arbeits-
markt einen so starken Aufschwung gibt. Das geben wir
unumwunden zu. Wir freuen uns über beides. Über den
Aufschwung am Arbeitsmarkt freuen wir uns allerdings
mehr. Zwischen beiden Dingen gibt es aber einen ent-
scheidenden Unterschied: Für das, was gestern passiert
ist, konnten Sie etwas. Aber für den Aufschwung am
Arbeitsmarkt kann diese Koalition nichts.
5266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Klaus Barthel
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/
CSU]: Aha! Interessant!)
Wir müssen uns einmal mit den Ursachen dieser Ent-
wicklung befassen. Binnenwirtschaftlich betrachtet zeh-
ren wir im Moment von den Rettungsschirmen für das
Finanzsystem, die Stabilisierung des Geldkreislaufs, die
Kreditversorgung und die Unternehmen. All das hat die
Große Koalition gemacht. Herr Brüderle – Sie werden
sich an Ihre Reden vielleicht nur ungern erinnern –, wer
war dagegen? Die FDP. Das Konjunkturprogramm mit
einem Volumen von 81 Milliarden Euro für 2009 und
2010 entfaltet in diesem Jahr seine volle Wirkung. Wer
war dafür, und wer war dagegen, Herr Brüderle?
(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Die FDP hat
zugestimmt!)
Den betrieblichen Bündnissen hat die FDP zugegebe-
nermaßen zugestimmt. Aber was ist bei der Arbeits-
marktpolitik? Kurzarbeitergeld, betriebliche Bündnisse
und Arbeitszeitkonten, das alles funktioniert auf der
Grundlage sicherer Arbeitsverhältnisse und starker Be-
triebsräte und Gewerkschaften. Das funktioniert aber
nicht auf der Grundlage Ihrer Vorstellungen vom Ar-
beitsmarkt, von „Hire and Fire“ und von sogenannter
Flexibilität, der Sie seit Jahren das Wort reden.
(Beifall bei der SPD)
Einen weiteren Beitrag zu dieser Entwicklung leistet
die Niedrigstzinspolitik der EZB, gegen die die FDP
auch immer heftig polemisiert hat.
Außerdem hilft uns im Moment die Entwicklung,
dass die Weltwirtschaft doppelt so schnell wächst wie
die Wirtschaft in Deutschland, nämlich um über 4 bis
5 Prozent. Woher kommt dieses Wachstum, das das Vo-
lumen unserer Exporte in diesem Jahr um 8 bis 9 Prozent
nach oben treiben wird? Es kommt aus Ländern, die in
der Wirtschaftspolitik das genaue Gegenteil von dem
machen, was diese schwarz-gelbe Koalition seit einem
halben Jahr predigt. In Ländern wie China und Brasilien
zum Beispiel wird sozialer Ausgleich betrieben. In
China unterstützt die Regierung streikende Arbeiter ge-
gen internationale Konzerne. In Brasilien wird seit Jah-
ren eine binnenwirtschaftlich orientierte Nachfragepoli-
tik gemacht. Im Weltmaßstab ist Deutschland als eine
der größten Volkswirtschaften leider nicht die Lokomo-
tive, sondern eher der Bremsklotz des Aufschwungs;
auch das weisen die aktuellen Zahlen aus. Sie schmü-
cken sich also mit fremden Federn. Dieser Aufschwung
kommt aus Quellen, mit denen Sie überhaupt nichts zu
tun haben; vielmehr haben Sie alles bekämpft.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin
Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das heißt bei all unseren Erfolgen aber auch: Die
schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik ist nun wirklich kein
Exportartikel. Statt Investitionsförderung zu betreiben,
sparen Sie. Bei der Gebäudesanierung, die dem Mittel-
stand helfen würde, sparen Sie. Bei der Solarförderung
kürzen Sie. Ich weiß nicht, was Atomwerke mit Mittel-
stand zu tun haben.
(Beifall der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren
[SPD])
Sie machen Steuergeschenke statt Modernisierung. Und
das nennen Sie Mittelstandspolitik. Sie schwächen die
Binnenkonjunktur durch Abkassieren bei den kleinen
Einkommen und durch Kürzungen bei den Sozialleistun-
gen; dazu haben wir heute schon etwas gehört.
Sie versagen bei der europäischen Politik und bei
G 20. Es gibt keine verbindlichen Verabredungen zur
Regulierung. Es gibt keine Refinanzierungsinstrumente
gegen die Krise wie die Finanztransaktionsteuer. Da
stellt sich Frau Merkel, kurz bevor sie nach Toronto
fliegt, hin und sagt: Wahrscheinlich haben wir keine
Mehrheit für die Finanztransaktionsteuer. Aber es ist gut
so. Wir führen die Entscheidung herbei; dann wissen wir
wenigstens, woran wir sind. – Es ist doch politischer
Masochismus pur, zu sagen: Schlagt uns; dann wissen
wir, dass wir auf dem falschen Dampfer sind. Denn ei-
gentlich wollten wir es ohnehin nicht.
(Beifall bei der SPD)
Das heißt – das ist das eigentliche Problem –, die
Lunte für die nächste Krise ist gelegt. Die Krise ist eben
nicht überwunden, Herr Solms. Die weltweiten Un-
gleichgewichte im Handel erfahren jetzt einen neuen
Schub; das weisen die Zahlen aus. Die Überschüsse in
Deutschland und in China steigen weiter, und die Defi-
zite der Schuldnerländer gehen weiter in den Keller. Die
Geldvermögen sind schon wieder so groß wie vor der
Krise und treiben die Spekulation an. Gegen Finanzbla-
sen gibt es keine Regelungen. Deswegen sind auch die
Institute für 2011 äußerst skeptisch. Wenn Sie den Insti-
tuten nicht glauben, dann schauen Sie sich einfach an,
wie es an den Börsen jeden Tag rauf und runter geht.
Dies zeigt eine hochgradige Nervosität, und die hat mit
dieser Situation zu tun. Wir sind längst nicht durch die
Krise durch.
Wir brauchen eine Strategie für die Euro-Zone. Hier
ist nichts gelöst. Die Ungleichgewichte bestehen in der
Euro-Zone bzw. in der EU fort. Wir brauchen eine Fi-
nanzierung der Krisenlasten, die nicht nur im sozialen
Sinne gerecht, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll
ist. Das heißt, man darf nicht da kürzen, wo mit dem
Geld Binnenkaufkraft gestärkt wird, sondern muss die
belasten, die das große Geld haben und bei denen etwas
zu holen ist. Belastet werden müssen also Finanztransak-
tionen und große Vermögen.
Schließlich brauchen wir eine Umkehr bei der Lohn-
entwicklung, das heißt eine Bekämpfung der Prekarisie-
rung. Ich fordere die Koalition dringend auf – da gab es
unterschiedliche Äußerungen; ich bin gespannt darauf,
wie Sie das angehen –: Tun Sie gesetzlich etwas, um die
Auswirkungen der verheerenden Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts einzugrenzen! Wir müssen das
Prinzip „ein Betrieb, eine Branche, ein Tarifvertrag“ ret-
ten. Sonst wird der Druck auf die Löhne zunehmen, und
das können wir in der jetzigen wirtschaftlichen Situation
überhaupt nicht gebrauchen.
(Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5267
Klaus Barthel
(A) (C)
(D)(B)
Herr Solms und Herr Pfeiffer, das, was Sie hier über
Lohnstückkosten erzählen, ist purer Unsinn. Herr
Pfeiffer sagt, Löhne schaden eher; wir brauchen Be-
schäftigung. – Wenn man das von der Logik her zu Ende
denkt, dann hieße das: Am besten wäre es, alle arbeiten
und bekommen kein Geld dafür. – Das wäre der volks-
wirtschaftliche Gipfel der Erkenntnis.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Geh, Herr
Kollege!)
Herr Pfeiffer, Sie sagen, die Lohnstückkosten bei uns
stärken die Wettbewerbsfähigkeit im Export. Schauen
Sie sich doch einmal die Stundenlöhne und die Lohn-
stückkosten in der Exportwirtschaft an. Sie sind, volks-
wirtschaftlich gesehen, relativ hoch. Das Problem ist
nur: Es gibt andere Sektoren, in denen die Löhne immer
weiter sinken. Dazu gehören der Dienstleistungsbereich
und andere nicht exportstarke Sektoren. Daher hat die
Anhebung der Löhne im Dienstleistungsbereich mit der
Wettbewerbsfähigkeit unserer Exportartikel – Maschi-
nen usw. – überhaupt nichts zu tun.
Sie sind dabei, dem Aufschwung, über den wir hier
reden, die Grundlage zu entziehen.
Herr Brüderle, Sie haben bisher das Richtige be-
kämpft. Was andere Regierungen getan haben, bekämp-
fen Sie.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das können Sie jetzt aber nicht mehr im Einzelnen
darstellen.
Klaus Barthel (SPD):
Was die frühere Bundesregierung auf diesem Gebiet
getan hat, bekämpfen Sie. Sie haben das Falsche gefor-
dert, und Sie nennen das Ordnungspolitik. Herr
Brüderle, ich kenne Sie ja schon länger. Sie sind als
durchaus pragmatisch und flexibel bekannt. Mein Appell
zum Schluss ist: Wenden Sie sich von dieser Art von
Wirtschafts- und Ordnungspolitik ab, und machen Sie et-
was ganz anderes!
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält der Kollege Martin Lindner für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Herr
Kollege Barthel, ich glaube, das wird der Bundeswirt-
schaftsminister ganz sicher nicht machen. Er wäre auch
verrückt.
(Beifall bei der FDP)
Jedes größere Wirtschaftsinstitut attestiert, dass hier eine
vernünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Sich davon
abzuwenden, wäre vollkommen wahnsinnig.
Wenn man Führungskräfte der Wirtschaft fragt, was
für nachhaltigen Aufschwung und nachhaltige Wirt-
schaftspolitik entscheidend sei, nennen sie überwiegend
alle als einen der wichtigsten Punkte,
(Thomas Oppermann [SPD]: Eine andere
Regierung!)
dass eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von
elementarer Bedeutung ist. Da hat die Bundesregierung
mit dem Entwurf eines Sparpakets einen richtigen und
wegweisenden ersten Schritt gemacht:
(Beifall bei der FDP – Garrelt Duin [SPD]:
Wie kommen Sie denn darauf? – Thomas
Oppermann [SPD]: Aber viele Luftbuchun-
gen!)
sozial ausgewogen, mit klaren Schwerpunkten – Bildung
und Forschung.
(Thomas Oppermann [SPD]: Ja, klar!)
Wenn, auch unter Berücksichtigung dieser Sparan-
strengungen, 55 Prozent der Ausgaben des Bundes für
Soziales getätigt werden und Sie, Herr Kollege Barthel,
uns für Sozialpolitik China und Brasilien als Vorbild
empfehlen, zeigt das, wie ver-rückt Ihr Koordinatensys-
tem in sozialpolitischen Belangen ist.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das geht doch völlig an der Realität vorbei. Es gibt
kaum ein Land, das so unbeschränkt und nachhaltig So-
zialleistungen gewährt wie Deutschland.
(Thomas Oppermann [SPD]: Was haben Sie
denn in Brasilien gemacht? – Klaus Barthel
[SPD]: Es geht um die Entwicklung der letzten
Jahre!)
Zu den anderen Themen. Natürlich ist Forschung et-
was, was mittelfristig wirtschaftspolitische Bedeutung
hat. Deswegen ist es vernünftig, dort nicht zu sparen, son-
dern auf dem Wachstumspfad zu bleiben. Bildung ist na-
türlich auch ganz elementar. Das wirkt langfristig. Deswe-
gen ist es richtig, dass die Bundesregierung hier nicht
spart. Die Konsolidierungsanstrengungen, die sich ja
hauptsächlich auf den Bereich Luftverkehrsabgabe, Ban-
kenabgabe und auf das zusätzliche Belasten von Kern-
kraftwerksbetreibern beziehen, müssten genau in Ihrem
Sinne sein. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie hier
nicht viel deutlicher Beifall klatschen, als wir das tun.
(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso „zusätzliches
Belasten von Kernkraftwerksbetreibern“? –
Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich weiß nicht, wie viele Brennele-
mente Sie in Ihrem Keller liegen haben!)
Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Steuern sa-
gen, weil auch von Kollegen Gysi das einfache Motto
ausgegeben wird: Man muss nur bei den Stärkeren ein
wenig zugreifen. – Schauen Sie sich doch einmal die
steuerpolitische Entwicklung der letzten 40 Jahre an.
1958 hat ein Lediger eine Eingangssteuer von 20 Pro-
zent, umgerechnet etwa 860 Euro pro Jahr, bezahlt. Den
Spitzensteuersatz von 53 Prozent hat ein Lediger mit
5268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Martin Lindner (Berlin)
(A) (C)
(D)(B)
110 000 DM im Jahr – heute umgerechnet 56 000 Euro –
bezahlt.
(Garrelt Duin [SPD]: Da wollen Sie wieder
hin!)
Wenn Sie das inflationsbereinigt fortschreiben würden,
dann müssten Sie heute als Lediger bei etwa 2 400 Euro
20 Prozent Steuern bezahlen und den Spitzensteuersatz
mit 160 000 Euro pro Jahr. Tatsächlich aber zahlen Sie
den Spitzensteuersatz bereits bei 53 000 Euro und den
Eingangssteuersatz von 14 Prozent bei 8 000 Euro.
(Klaus Barthel [SPD]: Das ist doch Unsinn!
Der Spitzensteuersatz ist doch nicht der effek-
tive Steuersatz! – Thomas Oppermann [SPD]:
Aber doch nicht für den ganzen Betrag! Erklä-
ren Sie doch das Steuersystem mal richtig!)
Daran sehen Sie doch ganz deutlich, wenn Sie nicht
ideologisch verblendet sind, dass die starken Schultern
und vor allen Dingen die mittleren Einkommen immer
mehr belastet wurden. Darum geht es dieser Bundesre-
gierung: Wir müssen die mittleren und auch die kleinen
Einkommen entlasten, um den Sozialstaat, den wir hier
alle wollen, finanzieren zu können. Deswegen ist es ver-
nünftig, wie hier vorgegangen wird.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]:
Wann fangen Sie denn damit an? Wann geht es
endlich los? Wann folgen Ihren Ankündigun-
gen auch Taten?)
Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen
wird auch entscheidend davon abhängig sein, inwieweit
wir die Anforderungen an die Wirtschaft in sozialpoliti-
scher, arbeitsrechtlicher und ökologischer Hinsicht opti-
mieren.
(Thomas Oppermann [SPD]: Alles nur
Sprücheklopferei!)
Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz klar: Ich halte nichts
davon, die hohen Standards, die wir in Deutschland ha-
ben, blind nach unten zu ziehen. Ich glaube auch, dass
viele deutsche Produkte ihre Geltung in der Welt und ihr
hohes Niveau auch dadurch erhalten haben, dass wir in
Deutschland höhere Standards haben als beispielsweise
in China, Korea oder sonst irgendwo. Ich glaube, dass
man hier das Optimum erreichen muss, denke aber, dass
wir uns in vielen Bereichen weg vom Optimum und hin
zu einem Maximum an Anforderungen bewegen, wo-
durch deutsche Produkte national und international
schlechter wettbewerbsfähig sind.
Mit der pharmazeutischen Industrie haben wir ein
gutes Beispiel dafür. Wir waren einmal die Apotheke
der Welt. Im Laufe der Jahre haben wir uns über Ethik-
kommissionen, andere Anforderungen, das Verbot von
Tierversuchen und Ähnlichem von dem Optimum an
Produktsicherheit und Ethik hin zu einem solchen Ma-
ximum bewegt, dass für die Entwicklung eines Pro-
dukts eine Investition von mindestens 1 Milliarde Euro
nötig ist, wodurch die Unternehmen mit ihren Produk-
ten nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Wir müssen hier
– das ist die Anforderung an diese Bundesregierung und
diese Koalition – zu einem vernünftigen Level kommen.
(Garrelt Duin [SPD]: Sollen die ethischen Fra-
gen bei Ihnen künftig keine Rolle mehr spie-
len?
Ich glaube, man muss unter dem Begriff „Bürokratieab-
bau“ versuchen – das greift ja in der Regel zu kurz –, das
in den nächsten Jahren vernünftig zu erreichen.
Dazu gehören auch die Exportvorschriften. Natürlich
müssen wir auch diese überprüfen. Es ist wichtig, die
Exportwirtschaft in Deutschland weiter zu stärken. Ich
verstehe überhaupt nicht, warum die Linke des Hauses
das jedes Mal in einen Gegensatz zur Binnennachfrage
stellt. Wir brauchen eine starke Exportwirtschaft. Alles
andere ist verrückt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE]: Das hat was mit Gleichgewicht zu
tun!)
Wir werden weiter daran arbeiten müssen, und natürlich
müssen auch die Löhne und Gehälter international kon-
kurrenzfähig sein.
Damit, dass Sie hier, genau wie in der Sozialpolitik,
Gespenster in die Welt setzen, gehen Sie völlig am ech-
ten Leben vorbei. Natürlich hat es in Deutschland in den
letzten Jahren auch bei den Löhnen und Gehältern eine
gewisse Konsolidierung gegeben, aber es kann doch
nicht Ihr Ernst sein, hier zu erzählen, das seien Dum-
pinglöhne, Herr Gysi. Im verarbeitenden und für die Ex-
portwirtschaft relevanten Gewerbe stehen wir innerhalb
der Europäischen Union noch immer an vierter Stelle
von oben.
(Klaus Barthel [SPD]: Und mit einem
Niedriglohnsektor!)
Es ist Ausdruck der völligen Unkenntnis der tatsächli-
chen Gegebenheiten, hier von Dumpinglöhnen zu reden.
Wir brauchen wettbewerbsfähige Löhne und Ge-
hälter. Dabei sind wir in Deutschland auf einem guten
Weg, und zwar auch dank der Vernunft von Gewerk-
schaften und vor allen Dingen auch dank der betriebli-
chen Vereinbarungen in den Unternehmen. Dafür dan-
ken wir. Natürlich ist man auch dort mit Vernunft
vorgegangen. Das war wegweisend, und es zeigt sich in
diesen geringen Arbeitslosenzahlen ganz deutlich,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
dass man hier eben nicht Ihren ideologischen Phantas-
magorien gefolgt ist, sondern Vernunft hat obwalten las-
sen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die ord-
nungspolitische Klarheit dieser Bundesregierung am
Beispiel Opel eingehen. Ich freue mich wirklich, dass
diese Bundesregierung – federführend der Bundeswirt-
schaftsminister Brüderle –, anders als viele Vorgänger,
egal, welcher Couleur, in dieser Frage standhaft geblie-
ben ist. Ich denke an die Maxhütte, an Philipp Holzmann
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5269
Dr. Martin Lindner (Berlin)
(A) (C)
(D)(B)
und an KarstadtQuelle und höre noch die „Gerhard,
Gerhard“-Rufe.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Lindner, all die vielen Fälle, die sich
jetzt vielleicht nennen ließen, lassen sich nach abge-
schlossener Redezeit nicht mehr unterbringen.
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Ich binde das in einem Satz zusammen und sage: Es
ist jeweils gescheitert.
Herr Duin, eine Stunde bevor GM seine Förderan-
träge zurückgezogen hat, haben Sie Seite an Seite mit Ih-
rem linken Bruder noch immer gefordert, Brüderle solle
weich werden und deutsche Steuergelder für GM ausge-
ben.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist dann die Bilanz von dem
Mann? Ich lache mich tot!)
Das ist der große ordnungspolitische Unterschied zwi-
schen Ihnen und uns. Sie wären weich geworden und
hätten deutsche Steuergelder nach Amerika gegeben.
Ich bin froh, dass er standhaft geblieben ist und einen
klaren ordnungspolitischen Kurs hat. Sie können
schreien, soviel Sie wollen: Die Bundesregierung und
diese Koalition werden diesen ordnungspolitischen Kurs
unbeirrt fortsetzen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Hinsken für
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Andreae, „Wasser predigen, aber Wein
trinken“ heißt ein schönes Sprichwort. Heute Morgen
bin ich mit meinem Fahrrad zum Büro gefahren. Ich
wurde von drei Dienstlimousinen überholt; in jeder saß
ein Grüner. Sie aber fordern die Abschaffung der Dienst-
limousinen. Fordern: Ja! Nutzen: Ja!
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: So sind sie
halt!)
– So sind sie halt. – Das alles passt nicht mehr zusam-
men. Ich wollte das bei dieser Gelegenheit ganz kurz er-
wähnen, damit ich der Öffentlichkeit das sage, was ihr
auch glaubwürdig überbracht werden kann.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Soll ich Ihnen das erklären? – Renate
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im
Vergleich zu Ihnen scheine ich schon öfter
Fahrrad gefahren zu sein!)
Verehrter Herr Kollege Duin, im Gegensatz zu Herrn
Wirtschaftsminister Brüderle haben Sie meines Erach-
tens kein realistisches Bild gezeichnet; denn es steht
doch unbestritten fest: Kein Land hat die Krise besser
bewältigt als wir. Die jetzige christlich-liberale Bundes-
regierung und ihre Vorgängerin – das betone ich aus-
drücklich – in der Großen Koalition haben doch in den
letzten zwei Jahren eine richtige Politik betrieben. Diese
führte zum Erfolg. Ich meine, wir sollten uns alle da-
rüber freuen, anstatt uns gegenseitig zu beschimpfen und
das Leben schwer zu machen. Gemeinsam an einem
Strang ziehen, ist das Gebot der Stunde.
Wir sind zwar über den Berg, aber trotzdem ist nicht
alles eitel Sonnenschein. Die konjunkturelle Frühjahrs-
belebung ist stärker als sonst. Die Auftragsbücher des
Mittelstandes und des Handwerks füllen sich. Der Ex-
port gewinnt an Fahrt. Jedes zweite produzierte Auto
geht in den Export. Die Arbeitslosigkeit liegt in ver-
schiedenen Regionen sogar unter 4 Prozent. Davon ha-
ben wir alle noch vor einem Jahr geträumt. Es ist Wirk-
lichkeit geworden, wie Kollege Fuchs vorhin bereits
ausgeführt hat. Aufgrund sehr guter Exportmöglichkei-
ten können unsere Unternehmen ihre Mitarbeiterzahl na-
hezu unverändert halten. Die Dienstleistungsbranche
plant sogar, Arbeitnehmer einzustellen.
Noch auf anderen Gebieten sind wir spitze. Die tarif-
lichen Monatsverdienste der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer in der Privatwirtschaft sind im letzten Jahr
um durchschnittlich 2,7 Prozent gestiegen, in Frankreich
nur um 2,2 Prozent. Herr Gysi, Sie haben vorhin einen
Vergleich gezogen. Ich möchte deshalb besonders darauf
verweisen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland
für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was
Verdienstmöglichkeiten anbelangt, sehr viel mehr und
Besseres geleistet haben als die Nachbarländer, die in
etwa mit uns vergleichbar sind. Auch in dieser Hinsicht
sind Sie widerlegt.
Das, was gemacht worden ist, hat den Staat viel Geld
gekostet. Das war in der Wirtschaftskrise richtig. Unbe-
stritten ist, dass unser soziales Netz spitze ist. Wir müs-
sen uns aber grundsätzlich die Frage stellen, ob das alles
noch bezahlbar ist. Haben wir nicht in den letzten Jahren
und vielleicht Jahrzehnten ein bisschen über die Verhält-
nisse gelebt?
(Klaus Barthel [SPD]: Wer denn?)
Ich setze auf die Bürger. Die Bürger, Kollege Barthel,
sind mündiger als viele Kolleginnen und Kollegen auf
Ihrer Seite des Deutschen Bundestages. Sie sind mündig
und wissen, was machbar und was nicht machbar ist.
Deshalb muss die Devise jetzt lauten, dass gespart wer-
den muss; denn die Schulden von heute sind die Steuern
von morgen. Was ist deshalb zu tun? Wir müssen auf
dem Gebiet Leitgedanken entwickeln. Erstens: Haus-
haltskonsolidierung über die Ausgabenseite vorneh-
men. Zweitens: keine Steuererhöhungen. Drittens: Zu-
kunftsinvestitionen fortführen. Viertens: selbsttragenden
Aufschwung unterstützen. Fünftens: Binnenkonjunktur
5270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Ernst Hinsken
(A) (C)
(D)(B)
ankurbeln. Sechstens: inflationäre Tendenzen im Keim
ersticken. Schließlich ist Inflation Diebstahl am kleinen
Bürger. Für den wollen wir ganz besonders da sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir wollen und werden jetzt einen dauerhaften
Wachstumsprozess anstoßen, der ohne staatliche Hilfe
auskommt.
(Klaus Barthel [SPD]: Dann brauchen Sie ihn
ja nicht anzustoßen! – Heiterkeit der Abg.
Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Was wollen wir? Erstens: mehr netto – und das trotz
Sparpakets. Zweitens: die Sozialversicherungsbeiträge
stabil halten. Das hilft den Beschäftigten, Arbeitgebern
und auch Rentnern.
(Garrelt Duin [SPD]: Führen Sie die Kopf-
pauschale ein?)
Drittens: der Jugend eine Zukunft geben. Ich möchte
Sie, Herr Minister Brüderle, ergänzen. Was die Jugend-
arbeitslosigkeit anbelangt, steht die Bundesrepublik
Deutschland als absolutes Spitzenland da. Die Jugend-
arbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei 9,5 Prozent, in
der gesamten EU bei 20,6 Prozent, in Frankreich bei
22,2 Prozent, in Spanien bei 40,3 Prozent und in den
USA bei 19,6 Prozent. Wir müssen für die Jugend, die
uns so ans Herz gewachsen ist, schon jetzt die Weichen
stellen, damit sie sich auch einmal so entfalten kann, wie
wir das jetzt tun können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Viertens. Gerade diese Bundesregierung fördert den
Mittelstand, und zwar zu Recht; denn dort, wo der Mit-
telstand stark ist, ist die Arbeitslosigkeit mit am nied-
rigsten. Herr Brüderle, gerade hier haben Sie einige Ak-
zente gesetzt, die in die richtige Richtung gehen. Mit
dem Wirtschaftsfonds Deutschland hilft die Bundesre-
gierung zielgenau vor allem mittelständischen Unterneh-
men bei der Bewältigung der durch die Krise entstande-
nen Finanzierungsprobleme.
(Joachim Poß [SPD]: Damit hat er doch nichts
zu tun! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das hat
er doch noch bekämpft!)
In diesem Zusammenhang müssen wir natürlich be-
rücksichtigen, dass es in der Bundesrepublik Deutsch-
land verschiedene Gebiete gibt, die nicht so stark sind
wie bestimmte Ballungsräume. Es ist daher erforderlich,
eine Politik aufzulegen, die dem ganzen Land dienlich
ist. Herr Minister Brüderle, ich bitte Sie, dafür zu sorgen,
dass an der regionalen Wirtschaftsförderung so weit wie
irgend möglich festgehalten wird; denn das hat sich be-
währt. Allein in den letzten 20 Jahren haben wir auf die-
sem Gebiet durch subsidiäre Hilfe des Staates
(Garrelt Duin [SPD]: Das ist doch kein
Sparen!)
über 1 Million Arbeitsplätze schaffen und darüber hi-
naus über 1,8 Millionen Arbeitsplätze erhalten können.
Das, was sich bewährt hat, gilt es hier fortzuführen.
(Garrelt Duin [SPD]: Der Minister hat aber an-
gekündigt, dort sparen zu wollen!)
Ich bitte Sie deshalb, sich dafür einzusetzen, dass das er-
folgt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss darauf hinweisen, dass die Energie ein bedeu-
tender Faktor ist. Wenn man nur 50 Kilometer von Te-
melin entfernt wohnt, macht man sich natürlich schon
Gedanken darüber, wie wir vorgehen und wie andere
vorgehen. Die Schweden zum Beispiel steigen aus dem
Ausstieg aus der Kernenergie aus. Bei uns nimmt man
das – zumindest auf der linken Seite – überhaupt nicht
zur Kenntnis. Man negiert, dass allein in Europa fast
200 Kernkraftwerke in Betrieb sind –
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
– ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin –, dass in
Deutschland 17 Kernkraftwerke betrieben werden und
dass in der europäischen Zone 14 neue Kernkraftwerke
gebaut werden. Das wird alles beiseitegeschoben. Um in
diesem Bereich wettbewerbsfähig zu sein, muss nun ein-
mal auch der Energiepreis stimmen. Der stimmt bei uns
nicht. Deshalb sind wir für Kernkraftwerke als Brücken-
technologie. Wir brauchen sie, solange wir sie nicht
durch alternative Energieerzeugung ersetzen und den
Strom anderweitig preisgünstig produzieren können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peter
Friedrich.
(Beifall bei der SPD)
Peter Friedrich (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte auf den Anlass der Debatte zurückkommen,
nämlich die Regierungserklärung von Herrn Minister
Brüderle. Herr Brüderle, die Schlüsselworte Ihrer Rede
waren „könnte“ und „müsste“. Darum hat sich alles ge-
dreht. Ich habe bei intensivstem Nachdenken und Nach-
forschen, welche wirtschaftspolitischen Aktivitäten Sie
bisher in Ihrem Amt entfaltet haben, genau drei Punkte
gefunden. Das Erste war der Kreditmediator; darauf
gehe ich gleich noch ein. Das Zweite war das sogenannte
Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Dritte war der
Opel-Entscheid. Mehr gab es nicht. Welche Ihrer Nicht-
Aktivitäten ist jetzt genau für das Jobwunder verantwort-
lich? Sie profitieren von den Ergebnissen einer ver-
nünftigen und guten Konjunkturpolitik sowie von den
Ergebnissen einer vernünftigen und guten Arbeits-
marktreform, die Rot-Grün angestoßen hat und die wir
in der Großen Koalition fortgesetzt haben. Auf dieser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5271
Peter Friedrich
(A) (C)
(D)(B)
Welle schwimmen Sie – und auf sonst nichts. So etwas
nennt man Trittbrettfahrertum. Mit konzeptioneller Wirt-
schaftspolitik hat das aber überhaupt nichts zu tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Hinsken, Sie haben den Deutschlandfonds an-
gesprochen und ihn mit Herrn Brüderle in Verbindung
gebracht. Noch vor einem halben Jahr hätte Herr
Brüderle es sich verbeten, in einem Satz mit dem
Deutschlandfonds zitiert zu werden.
(Garrelt Duin [SPD]: Ja!)
Damals hat er bei dem, was wir in der Großen Koalition
zusammen auf den Weg gebracht haben, ordnungspoli-
tisch noch Sodom und Gomorrha ausgerufen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Jetzt wird es als Erfolg abgefeiert. Man sollte zumindest
so ehrlich sein, das Copyright mit anzugeben, wenn man
sich auf Erfolge bezieht, die andere zu verantworten ha-
ben.
(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/
CSU]: Schon Adenauer hat gesagt – –)
– Ich weiß. Adenauer hat auch gesagt: Was interessiert
mich mein Geschwätz von gestern?
Aber nun zu dem Bild des selbsttragenden Auf-
schwungs, das Sie alle heute Morgen bemühen: Viel-
leicht ist es so. Wir haben Glück, wenn es so ist. Aber
das, was Sie politisch jetzt einleiten, läuft darauf hinaus,
dass das, was an selbsttragenden Elementen vorhanden
ist, kaputtgemacht wird. Ihr Sparpaket betrifft genau die
Anreize, die wir gesetzt haben. Wir wollten, dass es mit
der Konjunktur wieder aufwärts geht. Sie aber entziehen
den Kommunen exakt die Mittel, die wir ihnen vorher
gegeben haben, damit sie investieren. Über das, was Sie
an Kürzungen im Sozialbereich planen, entziehen Sie
den Menschen exakt die Gelder, die wir ihnen vorher im
Rahmen von Entlastungen gegeben haben. Sie machen
die Rolle rückwärts und würgen den selbsttragenden
Aufschwung ab. Er trägt nicht. Er erträgt nämlich nicht
Ihre Politik. Das werden Sie erleben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Schauen wir uns doch einmal nur einen Punkt aus
dem an, was Sie „Wachstumspolitik“ nennen! Sie haben
1 Milliarde Euro – ich weiß, dass Sie das nicht mehr hö-
ren mögen – darauf verwendet, die Hotels zu subventio-
nieren. 1 Milliarde Euro!
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sinnlos!)
Sie haben damit die bombastische Investition von
100 Millionen Euro ausgelöst.
(Otto Fricke [FDP]: Woher wissen Sie das?)
– Das ist die Behauptung des Fachverbandes.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es stimmen we-
der die Milliarde noch die 100 Millionen!)
Ich nenne Ihnen einmal ein anderes Beispiel. Im Be-
reich des Marktanreizprogramms haben Sie 144 Mil-
lionen Euro gesperrt, haben das abgewürgt, obwohl Sie
da nach eigener Darstellung das 7,2-Fache an Investitio-
nen auslösen.
Bei den Hotels geben Sie 1 Milliarde Euro aus für
100 Millionen Euro Investitionen, und in dem anderen
Bereich kürzen Sie rund 100 Millionen Euro, womit Sie
gut 700 Millionen Euro Investitionen abwürgen. Das ist
Ihre Wirtschaftspolitik in diesem Land!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Herr Brüderle hat gesagt: Die Kapazitäten werden
wieder hochgefahren. – Wir können uns hier über das
Thema Binnennachfrage austauschen. Ich finde den
Gegensatz, der immer hergestellt wird, interessant. Es
kommt immer von Ihrer Seite, dass Export und Binnen-
nachfrage ein Gegensatz sind. Wir betrachten das aus-
drücklich nicht so. Wir wollen, dass beides funktioniert,
dass beides gut läuft. Wir brauchen in einem ganz be-
stimmten Bereich auch Binnennachfrage. Wir müssen
nämlich wieder für mehr Investitionen sorgen.
Alle Firmen, alle Mittelständler, alle Handwerksbe-
triebe haben ihre Investitionen in der Krise geschoben.
Sie haben aus der Substanz gewirtschaftet. Sie stehen
vor großen Ersatzinvestitionen, weil man eben nicht be-
liebig lange aus der Substanz leben kann. Sie müssen
jetzt also Ersatzinvestitionen tätigen. Sie wollen auch in
Kapazitätserweiterungen investieren. Das ist gut. Das
wollen wir auch.
Erleben werden wir in diesem Herbst aber, dass der
steigende Bedarf an Kreditmitteln für Investitionen auf
die Bankenregulierung trifft, die wir ja auch wollen.
Wir stehen dazu: Wir wollen, dass die Banken die Risi-
ken vernünftiger prüfen. Wir wollen, dass mehr Eigen-
kapitalunterlegung vorhanden ist. Wir wollen auch, dass
Basel III zu einem vernünftigen Ergebnis geführt wird. –
Da trifft also etwas aufeinander, was sich nicht verträgt,
nämlich ein wachsender Kreditbedarf auf der einen Seite
und ein zurückgehendes Kreditangebot wegen der
Restriktionen, die wir in der Regulierung vornehmen,
auf der anderen Seite. Der Minister aber sagt: Das Pro-
blem gibt es nicht.
Der Kreditmediator hat seine Tätigkeit etwas süffi-
sant mit den Worten kommentiert, er müsse ein Problem
herbeireden, weil er nichts zu tun habe. Aber dass sich
ein Problem aufbaut, hat Ihr Staatssekretär, Herr
Brüderle, uns auf eine Anfrage hin bestätigt. Der Kredit-
mediator – ich nehme an, dass er für Sie eine Autorität
ist – bestätigt Ihnen das auch. Aber Sie sagen: Das Pro-
blem gibt es nicht. Darum müssen wir uns nicht küm-
mern. Das Problem sind die Energiepreise. Das Problem
ist nicht mehr die Kreditversorgung.
Das, Herr Brüderle, heißt: Sie führen Unternehmen,
die in den Aufschwung gehen wollen, die etwas dazu
beitragen wollen, jetzt sehenden Auges in eine Versor-
gungsklemme hinein, was den Kreditbereich angeht. Ich
sage Ihnen: Wir brauchen Instrumente. Ich weiß, dass
Sie das prüfen. Wir haben es im Ausschuss jede Woche
5272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Peter Friedrich
(A) (C)
(D)(B)
mit Prüfaufträgen zu tun. Uns würde einmal interessie-
ren: Was tun Sie dafür, dass die deutsche Wirtschaft in
den Aufschwung hinein investieren kann, dass Investi-
tionen bei uns ausgelöst werden und dass es sich lohnt,
die Kapazitäten auf einen Aufschwung hin auszurichten?
Die Diskussion zum Sparpaket ist bei Ihnen ja nicht
beendet. Ich weiß, es gibt immer wieder Appelle des Zu-
sammenhalts, es sei ausgewogen, jetzt müsse die Dis-
kussion aber auch beendet sein. Nach den vielen Prüf-
aufträgen, sei es zum Thema Gewerbesteuer, sei es zum
Thema Mehrwertsteuer, hatte ich mir heute ein bisschen
Klarheit darüber erhofft, wohin Sie wirtschaftspolitisch
wollen. Sie haben wieder davon gesprochen, dass Sie
eine Nettoentlastung wollen. Wir erleben aber eine Net-
tolüge. Wir erleben, dass die Kommunen die Kindergar-
tengebühren erhöhen müssen, dass die kommunalen Ge-
bühren überall steigen, dass Sie das Geld, das Sie auf der
einen Seite – angeblich – geben wollen, um den Auf-
schwung zu stärken, letzten Endes wieder vereinnahmen
wollen. Aber einem nackten Mann kann man nicht in die
Tasche greifen. Die Kommunen stehen finanziell schon
längst am Abgrund. Sie vergrößern das Problem mit Ih-
rer Politik noch.
Ich möchte noch einen Hinweis zur Schuldenbremse
geben, weil Herr Gysi das Thema angesprochen hat.
Herr Gysi, ich teile Ihre Einschätzung: Man kann das
Thema Konsolidierung nicht nur über die Ausgabenseite
angehen, sondern muss auch die Einnahmeseite sehen.
(Otto Fricke [FDP]: Wie immer bei euch!)
Was ich aber nicht verstehe, ist: Als Linker muss ich
doch dafür sein, die Staatsverschuldung möglichst ge-
ring zu halten. Die Staatsverschuldung führt doch nur zu
einem Effekt: Der Staat leiht sich Geld bei Menschen,
die genug haben, um es zu verleihen, und zahlt ihnen
dann über die Zinsen eine erhebliche Rendite. Staatsver-
schuldung sorgt für die stärkste Form der Umverteilung.
Deswegen können Sie sich doch als jemand, der angeb-
lich linke Politik machen will, nicht hier hinstellen und
der Staatsverschuldung das Wort reden. Das passt doch
nun wirklich nicht zusammen.
Der Generalsekretär der FDP hat schon zugegeben,
dass der Kompass nicht funktioniert habe. Herr Brüderle
hat behauptet, seiner funktioniere noch. Wissen Sie was?
Wenn Sie einen funktionierenden Kompass haben, dann
benutzen Sie ihn, um eine Bewegung nach vorne zu er-
zeugen. Bisher haben Sie ihn nicht eingesetzt.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Heute ist der 1. Juli. Vor genau 20 Jahren wurde
in Ostdeutschland die Währungs-, Wirtschafts- und So-
zialunion eingeführt. Damit wurde über Nacht die win-
delweiche Aluminiumwährung gegen die starke und
harte D-Mark eingetauscht. Das war natürlich auch für
die Wirtschaft eine Schocktherapie; das muss man ganz
klar sagen. Seitdem ist der wirtschaftliche Aufschwung
in Gesamtdeutschland natürlich mit dem Aufschwung in
Ostdeutschland unmittelbar verbunden.
Wenn man heute Meinungen hört und Zeitungsartikel
darüber liest, wie das damals gewesen ist und was die
letzten 20 Jahre für Ostdeutschland gebracht haben,
dann stellt man fest: Das ist so ähnlich wie in der heuti-
gen Debatte. Es wird in Deutschland immer alles
schlechtgeredet. Der Aufschwung findet gar nicht statt.
Das, was die Regierung macht, ist sowieso Mist.
(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)
Die Zahlen, denen nicht so einfach widersprochen wer-
den kann, werden zwar hingenommen, aber trotzdem ne-
gativ kommentiert.
Genauso ist es mit dem wirtschaftlichen Aufbau in
Ostdeutschland. Ein großes Politikmagazin hat in dieser
Woche einen mehrseitigen Artikel zu diesem Thema ver-
öffentlicht. Es fehlte bloß noch – das hat man schon
1990 gemacht –, dass man die Bilder nachträglich
schwärzt, um die wirtschaftliche Situation Ostdeutsch-
lands noch düsterer darzustellen. Diese Darstellung ist
einfach unfair, und zwar gegenüber beiden Seiten: unfair
gegenüber den Menschen in den alten Bundesländern,
die mit einer großen solidarischen Anstrengung den
wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland in großen
Teilen mitfinanziert haben, unfair aber auch gegenüber
den Menschen in Ostdeutschland, die nämlich diese
Schocktherapie über sich haben ergehen lassen und de-
ren gesamtes Lebensumfeld sich änderte. Ihnen wird
jetzt suggeriert: Das, was ihr gemacht habt, war sowieso
nur Mist. Lasst es doch einfach sein.
Wenn wir so weitermachen, dann haben wir die übli-
che deutsche Stimmung. Das Ausland denkt aber ganz
anders darüber. Das Ausland sieht, dass Deutschland
trotz der Finanzierung der deutschen Einheit, trotz der
großen Lasten, die aufgrund des wirtschaftlichen Auf-
baus in Ostdeutschland zu schultern waren, heute, nach
20 Jahren, die Konjunkturlokomotive in Europa ist. An-
dere Länder wie Frankreich sagen: Es kann doch nicht
mit rechten Dingen zugehen, dass wir nicht so schnell
wie Deutschland sind. – Meine Damen und Herren, das
ist doch eigentlich ein großes Lob für uns. Wir müssen
doch stolz darauf sein, dass wir nach zwei Jahren Wirt-
schaftskrise wieder die Lokomotive in Europa sind, ob-
wohl wir in Ostdeutschland noch weitere Probleme zu
lösen haben.
Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Entwick-
lung der ostdeutschen Wirtschaft der letzten 20 Jahre
und den heutigen Stand. Das Wachstum der ostdeutschen
Wirtschaft ging in der Wirtschaftskrise nicht so stark zu-
rück wie das der gesamtdeutschen Wirtschaft; der Rück-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5273
Andreas G. Lämmel
(A) (C)
(D)(B)
gang war nur halb so groß. Der Zuwachs des Bruttoin-
landsproduktes wird für dieses Jahr vom Ifo-Institut mit
1,6 Prozent prognostiziert. Ein Blick in die einzelnen
Sektoren der Volkswirtschaften zeigt – ich spreche ein-
mal die Zahl Sachsens an, weil ich sie sehr genau kenne –,
dass im verarbeitenden Bereich, also in genau dem Be-
reich, in dem wir in Gesamtdeutschland besonders stark
sind, seit über zehn Jahren zweistellige Wachstumsraten
zu verzeichnen sind. Hätte nicht die Bauwirtschaft in
den letzten Jahren ständig negative Beiträge zum Brutto-
inlandsprodukt erbracht, läge die Gesamtwachstumsrate
in Ostdeutschland deutlich höher. Das ist doch eine Leis-
tung, die wir in Gesamtdeutschland erbracht haben. Der
Aufschwung in Ostdeutschland trägt nämlich unmittel-
bar auch zum Aufschwung in Westdeutschland bei.
Ich möchte auch auf die Entwicklung der Arbeitslo-
senzahlen verweisen. Wir sind dabei, die Arbeitslosen-
zahlen in Ostdeutschland zu halbieren.
Es kann doch nicht geleugnet werden, dass große Er-
folge beim Aufbau der Wirtschaft in Ostdeutschland zu
verzeichnen sind. In besagtem Artikel wird geschrieben,
man habe es in 20 Jahren nicht einmal geschafft, dass ei-
nes der 100 größten Unternehmen in Deutschland seinen
Sitz in Ostdeutschland hat. Meine Damen und Herren,
das ist doch kein Wunder. Ich kann mich jedenfalls nicht
erinnern, dass Sie von der SPD oder von den Grünen
sich dafür eingesetzt hätten, dass Audi wieder nach
Zwickau zurückgeht, wo es eigentlich hingehört; denn
Audi ist ursprünglich kein Unternehmen aus Ingolstadt,
sondern aus Sachsen. Oder haben Sie sich dafür einge-
setzt, dass andere Unternehmen, die früher ihren Sitz in
Ostdeutschland hatten, ihre Konzernzentralen wieder zu-
rückverlegt haben? Ich habe davon nichts mitbekom-
men. Deshalb darf man sich doch heute nicht beklagen,
dass von den 100 größten deutschen Unternehmen kei-
nes in Ostdeutschland seinen Sitz hat.
In Ostdeutschland ist aber ein neuer Mittelstand ent-
standen, und es gibt hocheffiziente Unternehmen, die auf
modernste Technologien setzen. In Ostdeutschland wird
genau auf die Technologien ein Schwerpunkt gelegt, auf
die Sie – ich schaue jetzt einmal in Ihre Richtung, Frau
Andreae – ganz stark setzen. Es handelt sich um die Be-
reiche regenerative Energien, Nanotechnologie, eigent-
lich um alle neuen Technologien. Wenn Sie Ihre Blo-
ckade aufgeben würden, würde Ostdeutschland auch bei
Grüner und Weißer Gentechnologie eine Spitzenposition
einnehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich plädiere dafür, genauer hinzuschauen, wenn man
nach 20 Jahren eine Bilanz zieht.
Damit Deutschland auch in Zukunft weiterhin positiv
dasteht, gilt es nun, den beginnenden Aufschwung wei-
ter zu verstetigen. Herr Duin hat im Ausschuss gesagt, er
verstehe nicht viel von Wirtschaft, dafür aber viel von
Fußball. Das hat man auch an seiner heutigen Rede ge-
merkt. Weil das so ist, trägt Ihre Partei auch keine Regie-
rungsverantwortung mehr. Wir jedenfalls werden im
nächsten Haushalt die Kräfte unterstützen, die das
Wachstum auch weiterhin wirkungsvoll befeuern.
Hier geht es zunächst einmal um das Thema „For-
schung und Entwicklung“. In diesem Punkt, Frau
Andreae, sind wir ja nicht so weit auseinander.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Genau!)
Für regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen von
GRW und für die Mittelstandsinnovationen
(Zuruf von der LINKEN: Gekürzt!)
geben wir in einem Jahr allerdings noch nicht einmal so
viel aus wie in einem halben Jahr für die Steinkohle. Das
ist schon ein Problem. Trotzdem werden in den Haus-
haltsansätzen, die wahrscheinlich nächste Woche im
Bundeskabinett verabschiedet werden, die Themenberei-
che FuE und Innovationsförderung für den Mittelstand
an erster Stelle stehen.
Dann müssen wir Fortschritte beim Thema „freier
Handel“ erreichen. Wir müssen die sogenannte Doha-
Runde weiterentwickeln und
(Zuruf von der LINKEN: Gescheitert!)
dafür sorgen, dass freier Welthandel weiterhin möglich
ist und somit auch die deutsche Industrie freien Zugang
zu den internationalen Märkten hat.
Wir müssen auch die Rohstoffbasis sichern. Auf die-
sen Punkt ist der Minister schon eingegangen. Wir begrü-
ßen das ausdrücklich. Auch wenn der Staat gar nicht so
viele Möglichkeiten hat, hier tätig zu werden – es ist eine
Aufgabe der Wirtschaft, für die Erschließung von Roh-
stoffen zu sorgen –, wollen wir hier am Ball bleiben.
Auch die Infrastruktur muss weiter ausgebaut wer-
den. Hierbei geht es nicht bloß um den Ausbau von
Straßen, sondern genauso um den Ausbau von Breit-
bandinfrastruktur, Wissenschaftsinfrastruktur und Bil-
dungsinfrastruktur.
Das Thema Bildung ist in jedem Fall ein sehr wichti-
ger Punkt – das ist schon mehrfach angesprochen wor-
den –: Bildung in der Schule, Bildung in der Hochschule
und natürlich auch Berufsausbildung. Angesichts der zu-
rückgehenden Zahl an Schulabgängern müssen wir – das
sehe jedenfalls ich persönlich so – die Qualität in der Be-
rufsausbildung steigern.
(Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/
CSU])
Meine Damen und Herren, zusammenfassend kann
ich Ihnen versichern: Der neue Bundeshaushalt wird da-
rauf ausgerichtet sein, den Aufschwung, den wir brau-
chen und im Moment auch erleben, weiterhin zu unter-
stützen. Sie können dabei mithelfen, indem Sie Ihre
Stimme in die Haushaltsberatungen einbringen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
5274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Bonde, Priska Hinz (Herborn), Sven-
Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haushalt zukunftsfest machen – Nachhaltig
sanieren – Ökologisch und sozial investieren
– Drucksache 17/2327 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben diese Debatte beantragt, weil wir
der Regierung das, was sie vor der Sommerpause als so-
genanntes Sparpaket vorgelegt hat, nicht durchgehen las-
sen wollen. Mit dem, was Sie vorgelegt haben, erreichen
Sie das Ziel eines zukunftsfesten Haushalts nicht. Im
Wesentlichen liegt das daran, dass Ihr Sparpaket nicht
sozial gerecht ist, dass Sie in ökologischer Hinsicht völ-
lig blind sind und Sie eine Vielzahl von Luftbuchungen
vorgenommen haben. Sie haben Vorschläge niederge-
schrieben, die sich nicht realisieren lassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Der erste Punkt: Wie kann man eigentlich in einer
Zeit, in der man Milliarden Euro zur Rettung der Banken
ausgibt und die Bevölkerung fragt, ob dies sinnvoll, not-
wendig und richtig ist, die Haushaltskonsolidierung
bzw. die Sparpolitik in der Form betreiben, dass die klei-
nen Leute belastet und diejenigen, die mehr haben, ver-
schont werden? Wo ist das soziale Gewissen dieser Ko-
alition? Im Sparpaket schlägt es sich jedenfalls nicht
nieder.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich sage Ihnen: Sie können der Bevölkerung die Haus-
haltskonsolidierung nur dann zumuten, wenn Sie ihr
auch klarmachen können, dass es dabei gerecht zugeht.
„Gerecht“ heißt, dass diejenigen, die mehr haben, die
starke Schultern haben, mehr schultern müssen als dieje-
nigen, die wenig haben. Sie machen es aber so: Diejeni-
gen, die wenig haben, tragen die Hauptlast, und diejeni-
gen, die viel haben, tragen gar nichts.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Es war eine hohe Stunde der Peinlichkeit, als Frau
Merkel bei der Vorstellung des Sparpakets auf die Frage,
woran man die Gerechtigkeit erkenne, sagte, dass auch
die Wirtschaft belastet würde, und die Brennelemente-
steuer als Beispiel nahm. Wer diesen Punkt als Ausweis
sozialer Gerechtigkeit ins Feld führt, hat nicht verstan-
den, worum es geht. Im Übrigen nimmt sie den Atom-
konzernen vielleicht 2 Milliarden Euro ab, schenkt ihnen
aber 6 bis 8 Milliarden Euro durch die Laufzeitverlänge-
rung, die Sie vorhaben. Das ist Zynismus pur. So können
Sie Haushaltskonsolidierungspolitik nicht betreiben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/
CSU]: Warten Sie einmal ab, Herr Kuhn! –
Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Klassen-
kampfgequatsche!)
Der zweite Punkt: Sie streichen Mittel im Haushalt
und vergrößern gleichzeitig die „ökologische Verschul-
dung“ unseres Landes. Ich will ein Beispiel nennen: Ge-
genwärtig wird 1 Prozent aller Gebäude in Deutschland
pro Jahr energetisch saniert. Das heißt im Klartext: Wir
brauchen 100 Jahre, bis wir einmal durch sind. Schon al-
lein aufgrund dieser Schwäche können wir das Klima-
schutzziel – 2050 95 Prozent weniger CO2-Ausstoß –
gar nicht erreichen. Deswegen sagen wir: Wir müssen
auf eine Quote von 3 Prozent kommen, und dafür müs-
sen wir investieren. Aber was machen Sie? Beim Gebäu-
desanierungsprogramm streichen Sie kontinuierlich:
2009 standen 2,2 Milliarden Euro zur Verfügung, 2010
sind es noch 1,5 Milliarden Euro und 2011 werden es
nur noch 880 Millionen Euro sein. An den Stellen, an
denen Sie investieren müssen, um die „ökologische Ver-
schuldung“ abzubauen, streichen Sie die Mittel. Die da-
durch entstehenden ökologischen Schäden kosten uns
viel Geld, und das kostet uns Arbeitsplätze in wichtigen
Zukunftsbereichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wo ist bei dem, was Sie anregen, eine solide und seriöse
Konsolidierungspolitik zu erkennen?
Wir müssen uns auch endlich von dem Gedanken ver-
abschieden, dass es nur die Alternative „Investieren
oder Sparen“ gibt. Der Gegensatz, der beim G-20-Gip-
fel zwischen Obama und Merkel aufgebaut wurde, ist
doch völlig falsch. Jeder, der in einem Betrieb oder ei-
nem privaten Haushalt konsolidieren will, weiß, dass es
Felder gibt, auf denen man sparen, und andere, auf de-
nen man investieren muss.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das tun wir doch! –
Otto Fricke [FDP]: Und im Saldo?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5275
Fritz Kuhn
(A) (C)
(D)(B)
Das ist der Fehler Ihres Sparpakets. Sie investieren nicht
richtig in ökologische Bereiche. Sie haben gar nicht er-
kannt, dass soziale Gerechtigkeit in der sozialen Markt-
wirtschaft eine Produktivkraft entfalten kann. Sie glau-
ben, es ist am besten für die Wirtschaft, wenn es wenig
soziale Ausgaben gibt. Aber dass soziale Gerechtigkeit
Zufriedenheit, Sicherheit und die Fähigkeit der Men-
schen, Teilhabe zu praktizieren, beinhaltet, das verges-
sen Sie, wie das, was Sie bisher vorgelegt haben, zeigt.
Deswegen sage ich noch einmal: Wenn Sie dabei blei-
ben, wird es mit Ihnen politisch weiter bergab gehen.
Machen Sie die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers
rückgängig, heben Sie den Spitzensteuersatz an, zeigen
Sie den Menschen, dass Sie sich langsam an soziale Ge-
rechtigkeit gewöhnen! Kümmern Sie sich auch um die
Einnahmeseite des Haushalts; denn diese vernachlässi-
gen Sie sträflich. So kommen Sie nicht weiter.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte: Ihr
Sparpaket ist voller Verschiebebahnhöfe; das lassen wir
Ihnen nicht durchgehen. Sie wollen den Zuschuss zur
Rentenversicherung für Arbeitslosengeld-II-Emp-
fänger streichen; das macht 1,8 Milliarden Euro aus.
Die Große Koalition hatte diesen schon halbiert. Was be-
deutet das? Sie sparen heute im Haushalt, was zu an-
wachsender Altersarmut führt, für die in zehn Jahren zu
zahlen sein wird.
(Norbert Brackmann [CDU/CSU]: 2 Euro im
Monat!)
Wer wird das zahlen müssen? Die Gemeinden werden
dafür zahlen, weil sie für die Grundsicherung im Alter
zuständig sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto
Fricke [FDP]: Sind die Gemeinden dafür allein
zuständig?)
Wer mit solchen primitiven Verschiebebahnhöfen der
Bevölkerung und dem Parlament weismachen will, dies
wäre Konsolidierungspolitik, der hat mit Zitronen ge-
handelt. Da muss sich die FDP nicht wundern, dass sie
laut Umfragen inzwischen bei 4 Prozent gelandet ist.
(Otto Fricke [FDP]: Oh!)
Das wird so weitergehen, wenn Sie sich nicht ändern.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto
Fricke [FDP]: Danke, Papi! – Klaus-Peter
Willsch [CDU/CSU]: Das ist eine Rede aus
dem letzten Jahrhundert gewesen!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Barthle für
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Norbert Brackmann [CDU/
CSU]: Jetzt kommt endlich etwas Wegweisen-
des!)
Norbert Barthle (CDU/CSU):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, wo
wir stehen. Ich finde im Antrag – im Gegensatz zu der
wirklich sehr polemischen Schaufensterrede des Kolle-
gen Kuhn – sehr viel Übereinstimmung in der Analyse.
(Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/
CSU])
Wir in Deutschland und die Staatengemeinschaften
weltweit stehen vor finanzpolitischen Herausforderun-
gen, wie man sie sich vor einigen Jahren noch nicht hat
vorstellen können.
Die Wirtschaftskrise hat bewirkt, dass sich die
Schulden aller Nationen von 2001 bis 2009 verdoppelt
haben: von 20,4 auf 41,5 Billionen Dollar. Der Schul-
denberg in Deutschland ist auf 1,7 Billionen Euro ange-
stiegen; allein im Bundeshaushalt sind es 1,065 Billio-
nen Euro. Die Verschuldung des Bundes, der Länder und
der Kommunen ist also derzeit auf dem höchsten je er-
reichten Stand. Diese immense Verschuldung der Staats-
haushalte gefährdet nicht nur die Handlungs- und Ge-
staltungsfähigkeit des Staates, sondern destabilisiert
auch unser internationales Währungssystem. Das durften
wir jüngst beim Euro erfahren. Deshalb ist eine Rück-
kehr auf einen soliden, stabilen Konsolidierungs- und
Wachstumspfad dringend geboten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Einerseits brauchen wir das Vertrauen der Finanzmärkte,
andererseits zwingt uns unsere Schuldenbremse, die ich
sehr begrüße, zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik.
Deshalb ist eine solche Politik der Grundpfeiler christ-
lich-liberaler Politik und auch, Herr Kuhn, ein Kernele-
ment der sozialen Marktwirtschaft. Das sichert uns auch
für die Zukunft Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Zu
dem Thema komme ich gleich noch.
Nun zu Toronto. Ich bin der Auffassung, dass unsere
Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister beim
G-20-Treffen in Toronto einen wirklich großen Erfolg
erzielt haben. Denn die G-20-Staaten haben sich darauf
geeinigt, dass die großen Industrieländer bis 2013 ihre
Verschuldung halbieren und ab dem Jahr 2016 mit dem
Schuldenabbau beginnen. Damit hat sich im Kern die
deutsche Stabilitätskultur, sprich: die deutsche Schul-
denbremse, als internationales Vorbild empfohlen und
durchgesetzt. Das ist ein Riesenerfolg.
(Beifall bei der CDU/CSU)
An der Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass es
richtig war, dass sich die Bundeskanzlerin nicht dem
Druck der USA gebeugt und die Verschuldungsspirale
weiter hochgetrieben hat. Sie macht genau das Gegen-
teil, und das ist vollkommen richtig.
(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Sehr gut!)
5276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Norbert Barthle
(A) (C)
(D)(B)
Das Ergebnis dieses Treffens zeigt auch, dass Ziel
und Umfang unseres Sparpakets richtig sind. Es ist ein
Mix aus moderaten Ausgabenkürzungen und wachs-
tumsfördernden Investitionen. Es ist sozial ausgewogen
und geeignet, die Defizite maßvoll zurückzuführen und
ein nachhaltiges Wachstum zu sichern. Denn nur mit die-
sem durchgreifenden Konsolidierungskurs verschafft
sich der Staat die notwendigen Spielräume, um zu ge-
stalten und die Bürger zu entlasten. Nur ein robustes,
nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist ein Garant, um
Armutsrisiken zu vermeiden, Arbeitslosigkeit zu verrin-
gern und Wohlstand für alle zu sichern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was das Sparpaket angeht, sind mir vier Schwer-
punkte besonders wichtig: erstens Vorrang für wachs-
tumsfördernde Zukunftsinvestitionen insbesondere im
Bereich Bildung und Forschung, zweitens Überprüfung
von Transferleistungen auf ihre Effizienz und Zielgenau-
igkeit, drittens Rückführung ineffizienter Doppelleistun-
gen im Sozialbereich und viertens Subventionsabbau
und ökologische Neujustierung. Das sind die Kernbot-
schaften dieses Pakets.
Sie sehen: Wir legen – das ist mir besonders wichtig –
den Schwerpunkt nicht auf die Erhöhung der Einnah-
men, sondern auf die Kürzung der Ausgaben. Zahlrei-
che Ökonomen bestätigen uns aus den Erfahrungen der
Vergangenheit, dass Sparpakete, die die Priorität auf hö-
here Steuern oder Investitionskürzungen legen, keinen
Erfolg versprechen. Diejenigen Staaten, die Steuern er-
höhten, waren nach drei Jahren noch genauso verschul-
det wie vorher. Die Erfolgsaussichten sind dann beson-
ders gut, wenn bei den Sozialtransfers und beim
Personal im öffentlichen Dienst gespart wird. Das zeigen
die Erfahrungen. Auf mittlere Sicht hemmen Steuererhö-
hungen das Wirtschaftswachstum, was wiederum die
Steuereinnahmen senkt und letzten Endes die Konsoli-
dierung gefährdet.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Unser Sparpaket setzt deshalb die richtigen Schwer-
punkte. Wir haben aus den Erfahrungen der Vergangen-
heit, auch in anderen Ländern, gelernt, und jetzt sind wir
auf dem richtigen Weg.
In der öffentlichen Debatte ist immer wieder die Leier
zu hören – auch Herr Kuhn hat es wieder vorgetragen –,
die Gutverdiener müssten zusätzlich belastet werden.
Man sollte an dieser Stelle eines bedenken: Das obere
Drittel der Steuerpflichtigen trägt bereits heute rund
80 Prozent der Einkommensteuer. Das untere Drittel der
Einkommen erhält fast 60 Prozent aller Transferleistun-
gen, zahlt aber nur 5 Prozent der Steuern und Sozialab-
gaben. Das heißt doch de facto: Schon heute tragen die
starken Schultern den Löwenanteil der sozialen Lasten.
Auch das muss immer wieder gesagt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Im Zusammenhang mit der Steuererhöhungsdebatte
sollte auch immer bedacht werden, inwieweit durch Steu-
ererhöhungen möglicherweise auch Anreize zur Schaf-
fung von Arbeitsplätzen vernichtet werden und damit das
Wachstum behindert wird. Das darf nicht außer Acht ge-
lassen werden. Zudem würde durch Steuererhöhungen
zwar kurzzeitig zusätzliches Geld in die öffentlichen Kas-
sen gespült, dies würde aber nicht die chronische, also
strukturelle Unterfinanzierung des Staatshaushalts besei-
tigen. Das ist mit dem Satz gemeint, der in den vergan-
genen Wochen an dieser Stelle mehrfach bewusst oder
vielleicht auch unbewusst fehlinterpretiert worden ist,
nämlich dass wir in der Vergangenheit über unsere Ver-
hältnisse gelebt haben.
Das mag vielleicht für den Einzelnen so nicht gelten
– das ist keine Frage –, aber für unsere Gesellschaft als
Ganzes gilt das sehr wohl. An dieser Stelle gilt es, umzu-
steuern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Allein ein Blick auf die Sozialausgabenquote macht
dies deutlich: Die Sozialausgaben im Bundeshaushalt
2010 belaufen sich auf mehr als 170 Milliarden Euro
und machen damit rund 54 Prozent der gesamten Bun-
desausgaben aus. Im Jahr der deutschen Wiedervereini-
gung lag der Anteil noch bei 34 Prozent. So hat sich das
inzwischen entwickelt.
Auch in dem Antrag der Grünen wird wie auch eben
von Herrn Kuhn wieder der Vorwurf zum Ausdruck ge-
bracht, das Sparpaket sei sozial unausgewogen, und es
werde auf dem Rücken der Arbeitslosen und der Fami-
lien gespart.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das stimmt!)
Das ist falsch. Es ist unverantwortliche Polemik, dies
immer wieder so vorzutragen. Entweder Sie verstehen
den Kerngedanken des Sparkonzepts nicht, oder Sie
wollen ihn nicht verstehen.
Ich werde ihn Ihnen nochmals erklären: Soziale Ge-
rechtigkeit ist keine Einbahnstraße.
(Joachim Poß [SPD]: Das erklärt alles!)
An der ganzen Gerechtigkeitsdebatte stört mich eines
fundamental: dass diese Debatte ausschließlich aus einer
einzigen Blickrichtung geführt wird, nämlich aus der
Sicht der Leistungsempfänger. Gerechtigkeit ist aber
nicht eindimensional, sondern muss stets im Hinblick
auf andere betrachtet werden. Das steht auch im Ein-
klang mit dem im Grundgesetz verankerten Solidaritäts-
prinzip.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Mir stellt sich die Frage, ob es tatsächlich ein Aus-
weis sozialer Kälte ist, wenn eine immer kleiner wer-
dende Gruppe in unserer Gesellschaft, die mit ihren
Steuerbeiträgen eine immer größer werdende Gruppe
von Transferempfängern unterstützt, danach fragt, ob die
erbrachten Leistungen den gewünschten Effekt erzielen.
Genau dem werden wir an dieser Stelle gerecht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Angesichts unserer demografischen Entwicklung – Sie
alle kennen sie – wird sich das Verhältnis der Transfer-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5277
Norbert Barthle
(A) (C)
(D)(B)
zahler zu den Transferempfängern weiter verschärfen.
Deshalb muss eine Gerechtigkeitsdebatte auch vor dem
Hintergrund der Generationengerechtigkeit geführt
werden. Das blenden Sie auf der linken Seite dieses
Hauses immer aus. Das geht nicht.
Wer sich das Sparpaket genau anschaut, der wird sehr
schnell feststellen, dass insofern eine Ausgewogenheit
besteht, als Verwaltung, Unternehmen und Sozialleis-
tungsempfänger an den Lasten in etwa gleichermaßen
beteiligt werden. Was die Sozialleistungen in diesem
Sparpaket angeht, fällt mir auf: Dort wird sogar unter-
proportional gekürzt. Würden wir den von vielen immer
geforderten Rasenmäher anwenden, also proportional
gleichmäßig sparen, würde das bedeuten, dass wir im so-
zialen Bereich gut das Doppelte von dem einsparen
müssten, was wir jetzt einsparen. Das sei auch an die
Adresse derer gerichtet, die von einem Kettensägenmas-
saker oder Ähnlichem gesprochen haben. Wer so spricht,
urteilt völlig jenseits der Realität.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zu dem gleichen Ergebnis kommt man, wenn man
sich anschaut, in welchen Bereichen der Sozialleistungen
Kürzungen vorgesehen sind: Im Bereich der Eingliede-
rungsleistungen für Arbeitsuchende sollen durch Er-
weiterung des Handlungsspielraums die Arbeitsvermitt-
ler in die Lage versetzt werden, zielgenauer als bisher zu
fördern. Unser Ziel ist es, Anreize zur Aufnahme einer
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu setzen.
Das ist der Kerngedanke dieser Maßnahme; darum geht
es.
Auch die geplante Anrechnung des Elterngeldes bei
den Beziehern von Arbeitslosengeld II ist richtig. Da-
durch wird für mehr Gerechtigkeit in diesem Land in
Bezug auf den Niedriglohnsektor gesorgt. Es geht da-
rum, Doppelleistungen zu vermeiden. Die zusätzliche
Gewährung von Elterngeld für Bezieher von Arbeitslo-
sengeld II verringert den Lohnabstand. Sie müssen sich
einmal die Berechnungen der verschiedenen Wirt-
schaftsforschungsinstitute anschauen. Darin kommt man
klar zu dem Ergebnis: Ein verheirateter Alleinverdiener,
der Vollzeit arbeitet, muss mindestens einen Stunden-
lohn von 11 Euro brutto erzielen, um ohne Transferleis-
tungen auf das gleiche verfügbare Einkommen zu kom-
men, das er ohne Erwerbsarbeit erhalten würde.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Dann sorgen Sie da-
für!)
Das ist mehr, als im Niedriglohnsektor gezahlt wird.
Auch dieser Tatsache muss man ins Auge schauen.
Eine Aufstockung der Regelsätze, wie im Antrag der
Grünen gefordert, würde – das haben Sie verschwiegen,
Herr Kuhn – dieses Problem noch verschärfen. Erklären
Sie einmal einem Arbeitnehmer, der keine üppig be-
zahlte Vollzeitstelle hat, warum er eigentlich noch arbei-
ten soll, warum er in das Sozialsystem einzahlen soll und
warum er mit seinen Beiträgen unser Land stützen soll,
wenn sich jemand, der nicht arbeiten geht, finanziell bes-
serstellt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist nicht zu erklären. Das, was wir hier machen, ist
also gerecht.
Nochmals: Wir gehen nicht mit der Rasenmäherme-
thode vor. Wir setzen zielgenau dort an, wo es möglich
ist, zu sparen. Wir schaffen Wachstumspotenziale. Wir
sanieren den Bundeshaushalt. Mit all dem sind wir hier
genau auf dem richtigen Weg.
Eines sei noch hinzugefügt: Wir Haushälter werden es
mit Sicherheit nicht zulassen, dass an dem Sparpaket ge-
schliffen, dass es aufgeschnürt oder abgemildert wird.
Wer meint, angesichts einer besseren Konjunktur müsse
man weniger sparen, ist auf dem Holzweg; denn hier
geht es um konjunkturelle Effekte. Wir müssen jedoch
strukturell sparen. Das ist die Aufgabe; sie bleibt uns er-
halten.
Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Joachim Poß.
(Beifall bei der SPD)
Joachim Poß (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Barthle, ich finde es schon erschreckend, dass
Ihnen, seit die Große Koalition nicht mehr existiert,
wohl innerhalb weniger Monate das soziale Empfinden
gänzlich weggerutscht ist
(Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/
CSU]: Im Gegenteil! – Zuruf von der FDP: Ta-
schentuch!)
und dass Sie sich im Zusammenhang mit diesem Sparpa-
ket offenkundig zum politischen Gefangenen dieser klei-
nen, radikalen, neoliberalen Partei haben machen lassen.
(Otto Fricke [FDP]: Vorsicht! Was heißt „radi-
kal“?)
Dieser Vorgang ist bei den Parteien der Union zu be-
obachten, bei denen zum Beispiel der sozial verpflich-
tete Katholizismus bisher immer eine Rolle spielte.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es ist erschreckend, wie das aus dem Ruder läuft.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Joachim Poß (SPD):
Aber selbstverständlich.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Fricke, bitte.
5278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Otto Fricke (FDP):
Herr Kollege Poß, Sie haben gerade meine Partei als
eine „radikale“ Partei bezeichnet.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Carsten Schneider
[Erfurt] [SPD]: Als „kleine“ Partei!)
– Ich finde es sehr bemerkenswert, dass unter Demokra-
ten, zu denen sich die Grünen angeblich zählen, so auf
ein solches Wort reagiert wird. Herr Kollege Poß, ich
würde Sie bitten, entweder den Begriff zurückzunehmen
oder hier zu erklären, warum Sie der Meinung sind, dass
Sie im Zusammenhang mit der FDP von einer radikalen
Partei sprechen können.
(Nicolette Kressl [SPD]: Da liegen die Nerven
aber blank!)
Joachim Poß (SPD):
Sie leugnen die Notwendigkeit eines finanziellen und
sozialen Ausgleichs in dieser Gesellschaft konsequent
und radikal.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Damit waren Sie in dieser Koalition leider erfolgreich.
Das ist eine aktuelle Zustandsbeschreibung.
Es handelt sich bei der FDP um eine Partei, die sich
zum Beispiel bis Mitte Mai vehement dagegen gewehrt
hat, dass der Finanzbereich einen angemessenen Beitrag
zur Finanzierung des Gemeinwesens entrichtet. Wir ha-
ben mehrere Stunden mit Ihnen verhandelt. In einer ge-
wissen Situation ist eine solche Haltung eben vernagelt.
Man kann auch „vernagelt“ sagen, wenn man nicht „ra-
dikal“ sagen möchte;
(Otto Fricke [FDP]: Sagen Sie weiter „radikal“
oder nicht?)
aber es gibt da nichts zurückzunehmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die FDP ist in der Tat eine radikale Partei. Herr
Fricke, ich würde nie auf den Gedanken kommen, sie als
extremistische Partei zu bezeichnen; das liegt mir fern.
Die FDP ist aber eine radikale Partei in dem Sinne, dass
sie radikal die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs in
dieser Gesellschaft leugnet und den größeren Koalitions-
partner bis Mitte oder Ende Mai – bis in manchem Be-
wegung entstanden ist – zum politischen Gefangenen ge-
macht hat, zum Nachteil dieses Landes. Das ist
erschreckend.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/
CSU]: Ich habe doch eben die Fakten genannt!
Nehmen Sie das mal zur Kenntnis!)
Wenn es beim sogenannten Sparpaket im Hinblick auf
die betroffenen Individuen auch keinen sozialen Aus-
gleich gibt – ich werde gleich noch darauf eingehen –,
dann zeigt dies, dass der Einfluss der FDP weiterhin
groß ist. Sie haben sehr wahrscheinlich weitergehende
Überlegungen aus der Union, teilweise auch aus der
FDP, zur Anhebung des Spitzensteuersatzes und zu an-
deren Maßnahmen konsequent abgeblockt. Das Ergebnis
dessen wurde von Ihrem Parteivorsitzenden gemeinsam
mit Frau Merkel ziemlich ratlos vorgestellt.
Sie sind nach eigenem Bekunden dabei, sich neu auf-
zustellen, weil wohl viele, die Sie aus Versehen gewählt
haben, erkannt haben, welch unheilvollen Einfluss Sie in
der bundesdeutschen Politik ausüben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Auch das spricht für meine Ansicht.
Herr Kollege Barthle, wenn das Mindestelterngeld
für die Ehefrau eines Spitzenverdieners erhalten bleibt,
das von Hartz-IV-Empfängern aber gestrichen wird,
stellt sich die Frage: Was hat das denn mit Ordnungspo-
litik oder mit dem Lohnabstandsgebot zu tun?
(Otto Fricke [FDP]: Wer hat das denn
eingeführt?)
Das ist doch eine haarsträubende Begründung, die Sie da
gebracht haben, und sie zeigt, woran es Ihnen mangelt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Gestern ist der Versuch einer Neuaufstellung geschei-
tert. Das Sparpaket war der vorletzte Versuch einer Neu-
aufstellung dieser Koalition.
(Otto Fricke [FDP]: Sie haben Schwierigkeiten,
Ergebnisse von Wahlen zu akzeptieren!)
Auch das ist kräftig danebengegangen.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hatten wir die
absolute Mehrheit oder nicht?)
– Herr Barthle, ich wundere mich, dass Sie überhaupt
nicht zu den gemeinsamen Erfolgen der Großen Koali-
tion stehen. Sie weisen nicht auf das hin, was wir ge-
meinsam an Wichtigem für unser Land erreicht haben.
(Patrick Meinhardt [FDP]: Können Sie etwas
Sinnvolles sagen?)
Das hätten Sie in der Tat tun können.
Dem Regierungssprecher und Frau Merkel ist es le-
diglich gelungen, aus Toronto in die Wohnzimmer der
deutschen Fernsehzuschauer den Eindruck zu vermit-
teln, dass eine Protokollerklärung der Gipfelteilnehmer,
die den guten Willen der dort Versammelten zum Schul-
denabbau ausdrückt, ausreicht – in sehr unrealistischer
Weise, wenn man sich, was 2013 und 2016 angeht, die
Länder und deren Verschuldung im Einzelnen ansieht –,
um Veränderungen herbeizuführen. Beim bundesdeut-
schen Publikum wurde der Eindruck erweckt, das sei die
Hauptfrage des G-20-Gipfels gewesen. Dadurch wollte
man davon ablenken, dass man auch auf internationaler
Ebene gescheitert ist, vernünftige Maßnahmen in Sachen
Finanzmarktregulierung zu vereinbaren, weil die deut-
sche Bundesregierung in dieser Koalition nicht aufge-
stellt war – dort saßen die radikalen Bremser – und
(Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5279
Joachim Poß
(A) (C)
(D)(B)
weil Instrumente wie die Finanzmarkttransaktionsteuer
nicht durchgesetzt werden konnten. Sie haben vorher
schon den Kampf darum aufgegeben. Durch Ihren Spin
wurde davon abgelenkt, dass Frau Merkel ihren durch-
aus vorhandenen guten Ruf, den sie in Europa und auch
weltweit genoss, in der Griechenlandkrise hoffnungs-
los verspielt hat. Das ist der Vorgang, der tatsächlich
stattgefunden hat und von dem abgelenkt wurde.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]:
Im Ausland sieht man das anders! Man muss
nur Ihre Parteipostillen lesen!)
Dem sogenannten Sparpaket fehlt das Gestaltungs-
ziel, der Kompass. Es fehlt der Wachstumsimpuls für die
Zeit nach dem Auslaufen der Konjunkturpakete.
Im Moment haben wir zwei Elemente der Wirtschafts-
entwicklung. Der Export läuft super – wir alle finden das
gut, das hat auch etwas mit dem Euro-Dollar-Verhältnis
zu tun –, und die Investitionen werden vorangetrieben.
Wir werden in diesem Jahr erleben, dass bis zum Aus-
laufen der Konjunkturpakete noch ungefähr 10 Milliar-
den Euro an öffentlichen Investitionen in Bewegung ge-
setzt werden. Im letzten Jahr sind nur 3 Milliarden Euro
der Investitionen abgeflossen. Aber es stellt sich fol-
gende Frage: Was ist danach? Sie haben nicht einmal
versucht, eine Antwort darauf zu geben. Sie haben keine
Antwort gesucht. Sie haben ein jämmerliches Bild abge-
geben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe mir die Pressekonferenz von Frau Merkel
und Herrn Westerwelle am 7. Juni angesehen. Es war
nicht nur körperliche Erschöpfung, die sich da niederge-
schlagen hat, sondern offenkundig auch geistiges Ausge-
branntsein
(Beifall bei der SPD)
und das Eingeständnis, dass man die Kraft zur Führung
unseres Landes nicht mehr hat.
Was ist mit einer Soforthilfe für die Kommunen? Die
Kommunen können doch nicht auf irgendwelche Maß-
nahmen warten. Ihnen brennt bereits jetzt der Pelz. Der
Bund muss gemeinsam mit den Ländern – in erster Linie
ist es die Aufgabe der Länder – helfen, und zwar schnell.
Auf diese zentrale Frage geben Sie keine Antwort. Diese
Antwort sind Sie schuldig geblieben. Stattdessen soll die
Gewerbesteuer – eine alte Obsession von Herrn
Schäuble; es wird spekuliert, ob das ein Zugeständnis an
die FDP im Zusammenhang mit dem Präsidentenpoker
war – abgeschafft werden. Das heißt, 30 bis 40 Milliar-
den Euro, die jetzt die Wirtschaft tragen muss, sollen
bzw. werden in welcher Form und nach welchem Modell
auch immer auf Verbraucher und Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer verlagert. Das ist eine gewaltige, zu-
sätzliche Umverteilungsmaßnahme.
(Beifall bei der SPD)
Ich hoffe, dass die politischen Verhältnisse in diesem
Land – auch nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen – in-
zwischen so sind, dass eine solche Maßnahme nicht
mehr Platz greifen kann.
Es fehlt in Ihrem Konzept – Kollege Kuhn hat darauf
hingewiesen – die Streichung der neu geschaffenen Pri-
vilegien für Hotels und für Unternehmenserben. Sie
haben ja wieder eine aktuelle Auseinandersetzung in Ih-
ren Reihen. Man fasst sich an den Kopf, wenn man sieht,
welche Auseinandersetzung da bei Ihnen stattfindet.
Man fragt sich, ob Sie nach Finanz-, Wirtschafts- und
Währungskrise nicht die Kraft finden, um auch mal
Dinge zu korrigieren, die offenkundig schiefgelaufen
sind.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Und dann stellen Sie sich hin, Herr Lindner, und vertei-
digen die Streichungen bei Hartz IV und anderen sozial
Schwachen, sagen aber kein Wort zu diesen unzumutba-
ren Privilegien, die kein Mensch in dieser Republik
mehr versteht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/
CSU]: Lassen Sie sich auch etwas Neues ein-
fallen!)
Die von Ihnen behauptete Beteiligung der Wirtschaft
an der Konsolidierung besteht aus Luftbuchungen und
Hoffnungswerten. Da, wo es zur Sache geht – bei sozial
Schwachen –, wird konkret gekürzt. Das ist das Ganze.
Und dann sagen Sie: Na ja, wir haben doch einen sozia-
len Ausgleich. Frau von der Leyen sagt das lächelnd,
wie es ihre Art ist. Ich finde, das ist manchmal etwas
sehr kalt lächelnd. Sie sagt: Das ist doch sozial ausgewo-
gen, wenn wir bei Behinderten und bei Leistungen für
Rentner nicht gestrichen haben. Das war die Begrün-
dung von Frau von der Leyen, warum das Paket sozial
ausgewogen ist. Man stelle sich das vor. Ich habe es
selbst im Fernsehen gesehen und es fast nicht glauben
mögen. Wenn ich das gelesen hätte, hätte ich noch ein-
mal nachgelesen. Es ist eine unhaltbare und fast zyni-
sche Begründung, die Frau von der Leyen zur Rechtfer-
tigung dieses Pakets abgegeben hat.
Frau Merkel und Herr Schäuble argumentieren mit ei-
ner Drittelbelastung. Das Paket sei ausgewogen, weil zu
je einem Drittel die Sozialausgaben, die Wirtschaft so-
wie Beamte und Verwaltung betroffen sind. Das sind
hohle Aussagen, mit denen Sie – weder hier im Parla-
ment noch bei den Menschen – nicht durchkommen wer-
den.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind die
Fakten!)
Seit wann sind denn Unternehmen und die Verwaltung
der soziale Gegenpol zu den Arbeitslosengeld-II-Emp-
fängern oder den Wohn- und Elterngeldempfängern?
Der soziale Gegenpol, meine Damen und Herren, falls es
noch nicht in Ihre Köpfe vorgedrungen ist, zu wirtschaft-
lich schwächeren Individuen sind nicht irgendwelche In-
stitutionen, sondern wirtschaftlich stärkere Individuen
wie Spitzenverdiener und Vermögende.
5280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Joachim Poß
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist das Diktat Westerwelles und dieser radikalen
Partei, der FDP.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie dividieren
die Gesellschaft auseinander!)
Die wirtschaftlich Stärkeren spielen in Ihren Belastungs-
überlegungen gar keine Rolle. Das ist das Skandalöse.
Unklar ist, ob die Belastungen der Wirtschaft, die Sie
vorsehen, überhaupt den Sommer überleben werden. Ich
gehe davon aus, dass Frau Merkel vor der Atomlobby
noch völlig einknicken wird. Vermutlich werden wir gar
keinen Gesetzentwurf für eine Brennelementesteuer oder
Ähnliches von der Regierung vorgelegt bekommen.
(Otto Fricke [FDP]: Wenn es nach Ihnen
ginge, wäre die Welt noch eine flache
Scheibe!)
Die behauptete Beteiligung des Bankensektors ist
ebenfalls unklar. Ich hoffe, dass, wie angekündigt, um
die Transaktionsteuer in Europa wirklich gekämpft
wird. Wenn das nicht kommt, müssen wir eben über eine
nationale Lösung nachdenken.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich hoffe, dass die 2 Milliarden Euro, die dafür in 2012
als erste Scheibe vorgesehen sind, nicht gänzlich aus Ih-
rem Gedächtnis entschwinden werden.
Alles in allem: Wenn man zusammenfasst, was Sie da
mit diesem sogenannten Sparpaket vorgelegt haben,
dann ist das nicht „intelligentes Sparen“, sondern Aus-
druck einer eher dummen, kurzsichtigen und einfallslo-
sen Finanz- und Regierungspolitik.
Obwohl Sie Ihren Kandidaten für das Bundespräsi-
dentenamt dann doch noch durchgebracht haben, war
das – wie auch ich fürchte – nicht der Beginn professio-
neller und guter Regierungsarbeit. Sie werden sich – so
ist es zu erwarten – in der Koalition weiter blockieren
und den Problemen und Herausforderungen dieses Lan-
des überhaupt nicht gerecht werden. Wir alle werden
deshalb Schaden erleiden. Es ist das Bedauerliche, dass
offenkundig keine Möglichkeit besteht – es sei denn
über den Bundesrat –, den größten Schaden abzuwen-
den.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU:
Da klatschen ja nicht mal die Eigenen richtig!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für
die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Florian Toncar (FDP):
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, es ist gut, dass wir über die
Sparpolitik diskutieren. Aber, Kollege Poß, bei allem
Verständnis dafür, dass Sie Ansatzpunkte für Kritik su-
chen, muss ich sagen, dass der Tonfall und der Duktus
Ihrer Rede etwas Beschämendes hatten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir, dass viele Wähler
diese Rede gehört haben
(Joachim Poß [SPD]: Ich hoffe das auch!)
und sie unter anderem im Zusammenhang mit den ver-
meintlichen Bemühungen Ihrer eigenen Landesvorsit-
zenden in Nordrhein-Westfalen sehen, Koalitionen zu
bilden, die offensichtlich – wenn man Ihnen zuhört, be-
kommt man diesen Eindruck – nicht ernsthaft gewollt,
sondern eher ein Akt der Wählertäuschung sind.
(Lachen der Abg. Iris Gleicke [SPD])
Das, was Sie heute geboten haben, war aufschlussreich.
Dafür danken wir Ihnen herzlich.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris
Gleicke [SPD]: Backen Sie mal lieber kleine
Brötchen! Das Wort „Wählertäuschung“ soll-
ten Sie lieber nicht in den Mund nehmen! –
Johannes Kahrs [SPD]: Von Wählertäuschung
verstehen Sie ja etwas! Wulff hat sich gestern
von den Linken tolerieren lassen!)
Die Koalition wird den Haushalt in dieser Wahlpe-
riode nachhaltig sanieren. Dazu gehören zwei Aspekte:
erstens eine gute Wirtschaftsentwicklung und zweitens
die Verringerung der staatlichen Defizite. Das geht bei
dieser Koalition Hand in Hand. Das gebietet nicht nur
die Einhaltung der Schuldenbremse, unser Verfassungs-
recht, sondern das gebieten auch die Handlungsfähigkeit
des Staates in künftigen Jahren und unsere Verantwor-
tung gegenüber künftigen Generationen. Genau deswe-
gen schlägt die Regierung diesen Kurs ein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das bedeutet erstens, dass wir uns um die Wirt-
schaftsentwicklung kümmern müssen. Das ist ein
Aspekt, der mir in der Debatte bisher zu kurz kommt,
übrigens auch in dem Antrag, den Sie eingebracht haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Wir
müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, dass die
Wirtschaft wieder ins Laufen kommt. Das hat diese Ko-
alition getan, indem sie Steuerentlastungen für Mittel-
stand und Familien durchgesetzt hat, sie hat es dadurch
getan, dass sie die Sozialversicherungsbeitragssätze sta-
bil gehalten hat, und nicht zuletzt auch dadurch, dass sie
mit großen Anstrengungen den Euro, die europäische
Währungsunion stabilisiert hat.
(Otto Fricke [FDP]: Ja! Anders als Rot-Grün!)
Auch das gehört dazu, wenn man dafür sorgen will, dass
die Wirtschaft wieder läuft, dass Arbeitsplätze entstehen
können.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir haben zum Zweiten ein Konsolidierungspaket
vorgelegt, das einen Umfang von 80 Milliarden Euro
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5281
Florian Toncar
(A) (C)
(D)(B)
hat, das die Eckwerte für den Haushalt 2011 markiert,
aber darüber hinaus auch eine Finanzplanung bis 2014
beinhaltet. Das heißt, wir haben uns gleich auf vier Jahre
verständigt. Das ist, wie ich glaube, eine der besten Bot-
schaften der Klausur der Bundesregierung. Es ist nicht
nur über ein Jahr gesprochen worden, sondern es wurde
ein Fahrplan verabredet, der mittelfristig gilt und uns
Orientierung gibt.
(Johannes Kahrs [SPD]: Leider steht da nichts
drin!)
Nicht alles, was da drinsteht, ist einfach, auch für unsere
Bevölkerung nicht; das wissen wir. Aber es ist notwen-
dig, wenn wir verhindern wollen, dass der Staat in Zu-
kunft nicht mehr handlungsfähig ist.
Die Einsparungen betreffen den gesamten Verwal-
tungsbereich, und zwar massiv; sie werden zu deutlichen
Veränderungen führen. Sie betreffen selbstverständlich
auch die Unternehmen und gerade den Finanzsektor, ent-
gegen allem, was in der Diskussion immer wieder be-
hauptet wird. Im Sozialbereich kommt es zu Einsparun-
gen; das stimmt. Sie machen ungefähr ein Drittel des
Sparvolumens dieses Paketes aus. Bei einem Sozialaus-
gabenanteil am Haushalt in Höhe von 55 Prozent ist das
unterproportional.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Na, na!)
– Das ist so. Zahlen lügen nicht, Frau Kollegin
Hagedorn. 33 Prozent sind weniger als 55 Prozent. Das
möchte ich für das Protokoll festhalten.
(Beifall bei der FDP – Bettina Hagedorn
[SPD]: Ja! Aber da sind über 50 Milliarden
Euro Rente mit dabei! – Gegenruf des Abg.
Otto Fricke [FDP]: Aha! Frau Hagedorn will
also bei der Rente kürzen!)
Ich möchte darauf hinweisen: Dabei wurde noch nicht
berücksichtigt, dass wir es dieses Jahr trotz Sparanstren-
gungen und Schuldenbremse schaffen, 2 Milliarden Euro
extra für die gesetzliche Krankenversicherung bereit-
zustellen, die Sie in einem Zustand hinterlassen haben,
der wahrhaftig empörend ist. Man muss doch sagen: Was
Sie den gesetzlich Versicherten durch die Gesundheits-
politik der letzten Jahre zugemutet haben, das ist empö-
rend, das ist sozial gefährlich, und das werden wir korri-
gieren.
(Widerspruch bei der SPD)
Dafür stellen wir in diesem Haushalt 2 Milliarden Euro
extra zur Verfügung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wenn es um die Frage: „Welche Einsparungen wer-
den letzten Endes im Sozialetat vorgenommen?“ geht,
muss man sagen: Der Großteil der Einsparungen wird
nicht im Leistungsbereich, sondern im administrativen
Bereich vorgenommen, insbesondere bei den Instrumen-
ten, die die Arbeitsverwaltung hat, um Arbeitslose wie-
der in den Arbeitsmarkt einzugliedern.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Aha! Bei welchen
denn?)
Das wird mit einem neuen Konzept, das treffsicherer als
die bisherige Lösung ist, verbunden sein.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie wollen doch Pflicht-
in Ermessensleistungen umwandeln!)
Wenn Sie sich nur den schieren Geldbetrag, um den es
geht, anschauen – das machen Sie ja –, stellen Sie fest:
In Zukunft wird für die Betreuung von Langzeitarbeits-
losen pro Kopf mehr Geld zur Verfügung stehen, als es
2005 der Fall gewesen ist.
(Nicolette Kressl [SPD]: Oh nein! – Bettina
Hagedorn [SPD]: Das glauben Sie doch nicht
ernsthaft! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]:
Ich habe Angst, dass Sie das selbst glauben,
Herr Toncar!)
Die Kritik, die Sie an dieser Stelle äußern, ist unglaub-
würdig, weil Sie selber, als Sie Verantwortung getragen
haben – das gilt auch für die Grünen –, keinen Euro
mehr pro Kopf zur Verfügung gestellt haben, als das in
den nächsten Jahren der Fall sein wird.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wahr!
Aber das wollen die nicht hören!)
Jetzt möchte ich auf einen weiteren Aspekt eingehen
– ich kann nicht alle Punkte ansprechen; aber der Kol-
lege Otto Fricke wird meine Ausführungen nachher viel-
leicht noch ergänzen –:
(Otto Fricke [FDP]: Gerne! – Zuruf von der
LINKEN: Der redet auch noch?)
Im Antrag der Grünen geht es um ökologisch schädli-
che Subventionen. Das ist für Sie eine der ganz großen
Maßnahmen, mit denen Sie die Einnahmen erhöhen
möchten. Ich kann nur sagen: Wenn ich lese, was Sie in
Ihrem Antrag aufgeschrieben haben, dann empfinde ich
das als eine schonungslose Abrechnung mit der Politik,
die Sie unter Rot-Grün gemacht haben.
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Fast schon
radikal!)
Sie haben kein einziges Beispiel dafür nennen können
– vielleicht kann das der Kollege Kindler noch –, dass
Rot-Grün eine der von Ihnen kritisierten ökologisch
schädlichen Subventionen abgebaut hätte. Ich würde
gerne wissen, wo das der Fall war. Vielleicht können Sie
mir noch eine nennen. Einige dieser Subventionen wur-
den von Rot-Grün sogar eingeführt. Ob Stromsteuerge-
setz, Energiesteuergesetz oder Spitzenausgleich, das al-
les sind Gesetze von Rot-Grün, die unter maßgeblicher
Mitwirkung von Jürgen Trittin zustande gekommen sind.
Dass Sie ihm in Ihrem Antrag quasi so einen mitgeben,
finde ich erstaunlich, aber in Teilen sicherlich auch be-
rechtigt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Sie schreiben in Ihrem Antrag, wenn diese Koalition
nun Missbrauchsmöglichkeiten bei der Strom- oder
der Energiesteuer beseitige, dann sei das eine Selbst-
verständlichkeit. Ich hätte es für eine Selbstverständlich-
5282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Florian Toncar
(A) (C)
(D)(B)
keit gehalten, wenn Sie in Ihrer Regierungszeit Gesetze
gemacht hätten, die handwerklich so sauber gewesen
wären, dass es überhaupt keine Missbrauchsmöglichkei-
ten gegeben hätte. Das wäre selbstverständlich gewesen.
Aber wir gehen jetzt das Problem, das Sie uns hinterlas-
sen haben, an und leisten damit einen Beitrag zur Haus-
haltskonsolidierung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir müssen bei allem, was wir tun, die Wettbe-
werbsfähigkeit unserer Wirtschaft und insbesondere
die Zukunftschancen des Mittelstandes im Blick haben;
denn dort entstehen Arbeitsplätze und nicht durch Be-
schlüsse von Parlamenten oder durch Programme von
Parteien. Deswegen genügt es meines Erachtens nicht,
dass Sie in Ihrem Antrag aufzählen und benennen, dass
es große Potenziale im Umweltbereich und beim Ener-
giesparen gibt. Das ist im Grunde eine Erkenntnis, die
weitgehend unumstritten ist. Ich bestreite sie jedenfalls
nicht. Es genügt aber nicht, Zukunftsbranchen aufzuzäh-
len. Hinzu muss die Erkenntnis kommen, dass Arbeits-
plätze dort nur entstehen können, wenn Unternehmen in-
vestieren und wenn Menschen etwas riskieren. Dafür
müssen sie die entsprechenden Bedingungen vorfinden.
Das, was Sie zum Spitzensteuersatz schreiben, der im
Kern bei allen Personengesellschaften und Familienun-
ternehmen erhoben wird, konterkariert das völlig. Es
reicht nicht, zu sagen: Umwelttechnologie ist gut. – Wir
müssen auch die Bedingungen dafür schaffen, dass Men-
schen es wagen, dort mit eigenem Geld einzusteigen.
Dazu gehört vieles, selbstverständlich auch attraktive
steuerliche Rahmenbedingungen. Wir werden uns darum
kümmern.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wenn der vorliegende Antrag einen politischen Wert
hat, dann den, dass er deutlich macht, dass es in diesem
Parlament zu dem Kurs dieser Regierung, der darauf ab-
zielt, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und Haus-
haltskonsolidierung zu verbinden, im Grunde keine ver-
nünftige Alternative gibt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kol-
lege Steffen Bockhahn.
(Beifall bei der LINKEN)
Steffen Bockhahn (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe gerade gelernt, dass die FDP es für ra-
dikal-sozial hält, wenn künftig im Gesundheitswesen ein
Bankdirektor den gleichen Zuschlag zahlt wie eine An-
gestellte an der Kasse bei Lidl oder Schlecker.
(Zuruf von der FDP: Das ist falsch!)
Das ist die Sozialpolitik der FDP. Das finde ich total
schlau. Aber mit sozial hat das ganz sicher nichts zu tun.
(Beifall bei der LINKEN – Florian Toncar
[FDP]: Das hat auch keiner gesagt! Sie müssen
zuhören!)
Wir reden gar nicht so sehr über das Sparpaket der
Bundesregierung, sondern über einen Antrag, bei dem es
um die Frage geht, wie der Haushalt saniert und zu-
kunftsfähig gemacht werden kann. Diese Fragestellung
ist völlig richtig; denn man muss diesen Haushalt sanie-
ren. Es ist auch klar: Dieser Haushalt stellt definitiv
nicht die richtigen Weichen, um etwas Besseres für die
Zukunft zu erreichen. Wir müssen diesen Haushalt also
konsolidieren. Das geht nur dann, wenn man einerseits
streicht und andererseits klug investiert und sich Gedan-
ken über Einnahmeerhöhungen macht. Bei all dem muss
aber der Ausgleich durch einen verantwortlichen Um-
gang mit Steuergeldern und der Erfüllung der Aufgaben
des Staates gewährleistet werden. Das ist gegenwärtig
mit Sicherheit nicht der Fall.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen Investitionen in gesellschaftlich not-
wendige Arbeit, die keine Profite bringt. Warum sage
ich das? Weil wir momentan, wenn wir über Investitio-
nen reden, eher selten an soziale Bereiche denken, und
weil wir eher selten daran denken, wie wir Menschen in
Bereichen in Arbeit bringen können, für die es keinen
Markt gibt. Aber es gibt Bereiche in dieser Gesellschaft,
in denen es zwingend erforderlich ist, dass man sich um
sie kümmert und dass dort Arbeit geleistet wird. Diese
Arbeit muss finanziert werden. Ich glaube, es gibt in die-
sem Hause niemanden, der den Spruch „Arbeit statt Ar-
beitslosigkeit finanzieren“ falsch findet.
Es scheint mir aber tatsächlich so, dass es unter-
schiedliche Ideen dazu gibt, wie man das richtig macht.
Wir schlagen Ihnen an der Stelle nachdrücklich vor, ei-
nen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ein-
zurichten. Da kann man dann vernünftige Dinge tun,
wie zum Beispiel eine Fahrgastbegleitung im öffentli-
chen Personennahverkehr einzurichten. Das hat es zum
Beispiel in einigen Städten in Mecklenburg-Vorpom-
mern gegeben, als Rot-Rot regiert hat und wir mit Mit-
teln aus dem Europäischen Sozialfonds – vom Bund gab
es nichts dafür – einen öffentlich geförderten Beschäfti-
gungssektor eingerichtet haben und dort beispielsweise
im öffentlichen Nahverkehr älteren Damen und Herren
dabei geholfen haben, ihre Station zu finden, Touristin-
nen und Touristen geholfen haben, den richtigen Weg zu
finden, wo wir Menschen mit Behinderung geholfen ha-
ben, die Nahverkehrsmittel ordentlich nutzen zu können.
Das ist Arbeit, die Sinn macht. Da wissen die Leute, wa-
rum sie aufstehen und warum sie zur Arbeit gehen. Sie
bekommen dafür einen existenzsichernden Lohn aus öf-
fentlichen Geldern. Wir haben dadurch große Vorteile:
Zum einen haben wir einen gesellschaftlichen Nutzen,
weil gute und notwendige Arbeit geleistet wird, und zum
anderen haben wir Arbeit statt Arbeitslosigkeit finan-
ziert.
(Beifall bei der LINKEN)
Das hat natürlich weitere Vorteile: Diese Menschen,
die dann nicht mehr arbeitslos sind, sondern vernünf-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5283
Steffen Bockhahn
(A) (C)
(D)(B)
tige und sinnvolle Arbeit tun, zahlen auch wieder in die
Sozialsysteme ein. Sie sind keine Belastung für die So-
zialsysteme, sondern sie stärken sie. Dies sind keine In-
vestitionen, die wir tätigen müssen – quasi als Anspar-
abschreibung –, damit diese Menschen irgendwann auch
Rente bekommen, sondern sie tun selbst etwas dafür,
dass sie Rente bekommen können, und zwar eine ver-
nünftige Rente auf einem vernünftigen Niveau. Das
lohnt sich, und damit sollte man weitermachen.
(Beifall bei der LINKEN)
Es gibt noch viele andere Bereiche. Ich möchte hier
nur Seniorenbetreuung oder Integrationslotsen nennen.
Hier in Berlin, unter einer rot-roten Regierung, gibt es
diese Integrationslotsen im öffentlich geförderten Be-
schäftigungssektor. Das ist eine notwendige und sinn-
volle Arbeit, und da wird deutlich mehr getan und ge-
schaffen, als es mit vielen anderen Programmen des
Bundes momentan der Fall ist. Insofern lohnt sich auch
so etwas. Hören Sie endlich auf damit, Ihre ideologi-
schen Blockaden dagegen aufrechtzuerhalten, und fan-
gen Sie an, mit uns über konkrete Projekte zu diskutie-
ren. Wir haben da gute Vorschläge zu machen.
(Beifall bei der LINKEN)
Es gibt dabei noch einen zweiten ganz wichtigen As-
pekt, den man im Bereich dieser sozial vernünftigen und
auch notwendigen Arbeit nicht außer Acht lassen sollte:
Zurzeit müssen wir noch immer sehr viel Geld in den
Ausgleich von Schäden durch gesellschaftliche Fehl-
entwicklungen investieren. Wie viel müssen wir in Pro-
gramme investieren, um benachteiligte Jugendliche und
benachteiligte Frauen und Männer in den Arbeitsmarkt
zu integrieren, um sie überhaupt erst fähig zu machen,
wieder etwas tun zu können? Wie viel haben wir mit Ge-
waltprävention und Ähnlichem zu tun? Ich sage Ihnen
– Sie wissen es selbst eigentlich ganz genau –: Wenn wir
mehr im Bereich der Prävention, wenn wir mehr im Be-
reich gesellschaftlich notwendiger Arbeit tun, dann wer-
den die Kosten dafür radikal sinken. Das entlastet die
Haushalte und gibt uns Gestaltungsspielraum.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir das Gewäh-
ren von Subventionen überprüfen und teilweise ändern
müssen. Wenn man sich anschaut, was Sie für Ge-
schenke an die Atomkraftlobby machen, kann einem nur
schlecht werden. Sie sagen immer, wir brauchen diese
Technologie, damit der Strom aus der Steckdose auch
rauskommt. Ich sage Ihnen: Die Investition in Atom-
energie behindert erstens eine ökologische Kehrtwende,
und zweitens verhindert sie die Schaffung vieler neuer,
produktiver Arbeitsplätze.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD)
Es ist richtig, dass in jedem Kernkraftwerk Menschen
arbeiten, die dafür gebraucht werden, das Kraftwerk si-
cher und in Betrieb zu halten. Aber schauen Sie sich
bitte einmal die Belegschaften in den Atomkraftwerken
an, und schauen Sie sich an, wie viele Menschen dage-
gen bei Unternehmen der Fotovoltaik-Branche, im Be-
reich der Windenergie usw. beschäftigt sind. Wenn Sie
sich allein diese Beschäftigungszahlen anschauen, müss-
ten Sie begreifen, dass Sie momentan auf dem falschen
Weg sind, dass wir Investitionen und Förderung von er-
neuerbaren Energien brauchen und nicht alte Dinosau-
rier weiter füttern müssen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD – Klaus-Peter Willsch [CDU/
CSU]: Die Kosten pro Arbeitsplatz sind höher
als bei der Kohle!)
Insofern kann ich Ihnen nur empfehlen, Grundlagen-
forschung im Bereich der erneuerbaren Energien zu un-
terstützen und zu fördern. Das schafft einen Technolo-
gievorsprung, den wir brauchen, um uns weiter am
Weltmarkt behaupten zu können.
Ich finde es immer ganz erstaunlich, dass gerade
CDU/CSU und FDP sagen, es dürfe keine Bestandsga-
rantien und Ewigkeitsgarantien im Bereich der Sozial-
leistungen geben. Wenn das so ist, frage ich mich natür-
lich, warum Sie diese Bestandsgarantien gerade bei
Ihren Lobbygruppen immer wieder aufrechterhalten
wollen. Das kann so nicht sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen natürlich genauso einen Abbau von
Subventionen bei energieintensiven Produktionen. Es
ist einfach unsinnig, jemanden zu fördern, der sehr viel
Energie verbraucht. Viel mehr Sinn würde es doch ma-
chen, die Unternehmen dafür zu belohnen – auch wenn
sie energieintensive Produktionen betreiben –, wenn sie
diesen Energieverbrauch runterfahren und so etwas für
die ökologische Wende in Deutschland tun. Da können
Sie etwas ändern. Das können Sie subventionieren: den
Rückgang von Energieverbrauch. Aber einfach zu ak-
zeptieren, dass viel Energie gebraucht wird, hilft nicht.
Das muss man nicht weiter fördern.
Genauso ist es nicht notwendig, Flugbenzin nicht zu
besteuern. Allein die Steuerfreiheit für Flugbenzin hat
den Bund seit 2005 8,7 Milliarden Euro an Einnah-
meausfällen beschert. Ich finde das nicht logisch. Ich
finde das nicht begründbar. Sie können es mir bestimmt
nachher erklären.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich glaube
nicht, dass sie das erklären können!)
Ein ganz wichtiger Punkt ist natürlich, die Investitions-
fähigkeit der öffentlichen Hand sicherzustellen, insbeson-
dere die Investitionsfähigkeit der Kommunen. Da es
so gewollt ist – ich finde das im Grunde auch in Ord-
nung –, dass der Bund über die Struktur der Einnahmen
in Deutschland entscheidet, welche Einnahmen also die
Kommunen, die Länder und der Bund bekommen, muss
man sich natürlich auch Gedanken darüber machen, wie
5284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Steffen Bockhahn
(A) (C)
(D)(B)
man sicherstellen kann, dass die Kommunen und die
Länder überhaupt in der Lage sind, zu investieren.
Ich darf Sie hier an das Grundgesetz der Bundesrepu-
blik Deutschland erinnern, in dem festgelegt ist, dass wir
alle gemeinsam die Verantwortung dafür haben, gleich-
wertige Lebensverhältnisse überall in Deutschland zu
schaffen. Das funktioniert nur, wenn die Kommunen
überall in Deutschland in der Lage sind, zu investieren.
Der Wettbewerbsföderalismus, den Sie momentan be-
treiben, ist hier definitiv der falsche Weg.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich darf Ihnen sagen, dass die Halbierung der Mittel
für die Städtebauförderung, die Sie jetzt vorhaben, zu
einem gigantischen Problemfall für die Kommunen in
ganz Deutschland wird. Schauen Sie sich einfach nur die
Investitionsplanungen der Kommunen an. Egal ob in Ba-
den-Württemberg oder in Mecklenburg-Vorpommern:
Alle Kommunen ächzen darunter, dass aufgrund Ihrer
Halbierung der Mittel für die Städtebauförderung zuver-
lässige Zusagen zurückgenommen wurden. Das ist im
Übrigen städteplanerisch nicht sinnvoll, und das ist auch
ökonomisch nicht sinnvoll, weil Sie dadurch den Hand-
werksbetrieben, die hier zum Zuge kommen würden, die
Grundlage für ihre wirtschaftliche Tätigkeit entziehen.
Daneben wollen Sie im nächsten Jahr die Mittel im
Bereich der energetischen Gebäudesanierung von
700 Millionen Euro auf 450 Millionen Euro kürzen. Ich
bin mir nicht sicher, ob Ihnen das bekannt ist; deswegen
sage ich Ihnen das noch einmal: Jedem einzelnen Euro,
den Sie im Bereich der Gebäudesanierung investieren,
folgen neun Euro an Folgeinvestitionen. – Es ist ökono-
mischer Unfug, so etwas abzuschaffen. Hören Sie auf
damit!
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich muss natürlich auch noch etwas zur Schulden-
bremse sagen; denn es ist ganz klar: So, wie Sie das mo-
mentan planen, werden Investitionen verhindert. – Sie
sagen: Ja, in besonderen ökonomischen Situationen kann
man auch mehr Schulden machen. – In diesem Haus hat
niemand irgendwann einmal bestritten, dass man gerade
im Bereich der Wirtschaftsförderung antizyklisch han-
deln muss. Wir alle wollen Wirtschaftsförderung betrei-
ben, aber wir brauchen ein antizyklisches Handeln. Das
tut ja selbst die Koalition. Sie sagen: Wir haben jetzt eine
Krise und müssen etwas tun, um die Wirtschaft wieder in
Schwung zu bringen. – Wir gehen aber unterschiedliche
Wege. Ich sage Ihnen: Wenn Sie antizyklisch handeln
und investieren wollen, dann können Sie sich eine
Schuldenbremse nicht leisten. So, wie das gegenwärtig
geplant ist, wird das nicht helfen.
(Florian Toncar [FDP]: Doch, sie hat auch eine
Konjunkturkomponente!)
– Herr Toncar, die Konjunkturkomponente habe ich ge-
rade eben angesprochen. Dass Sie das nicht gehört ha-
ben, verzeihe ich Ihnen.
Wir müssen natürlich auch die Einnahmeseite berück-
sichtigen. Ich finde es gut, dass die Grünen sagen, sie
wollen den Spitzensteuersatz wieder erhöhen. Ich kann
es Ihnen aber nicht ersparen, zu fragen: Wer hat ihn denn
reduziert? – Das waren zuletzt doch Sie.
(Otto Fricke [FDP]: Und Sie sagen auch nicht,
auf wie viel!)
Eine wichtige Sache ist auch die Abgeltungsteuer,
bei der wir uns wieder völlig einig sind. Es kann doch
nicht sein, dass jemand, der Millionen und Abermillio-
nen Euro durch Zinsen oder Spekulationsgewinne
verdient bzw. bekommt – verdienen kann man das
schlecht –, darauf nur 25 Prozent Steuern bezahlt, wäh-
rend jemand, der sich in einem Jahr 1 Million Euro hart
erarbeitet hat – damit spreche ich Sie von der Koalition
an –, dafür Steuern gemäß dem Spitzensteuersatz bezah-
len muss. Das kann selbst aus Ihrer Sicht nicht sozial ge-
recht sein.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Wir brauchen natürlich auch eine andere Finanzie-
rung der Sozialsysteme. Mit der Kürzung der Zuschüsse
für die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung betrei-
ben Sie einfach ökonomischen Wahnsinn, weil Sie damit
nichts anderes tun, als eine Last, die heute bekannt ist,
den Generationen aufzubürden, die Sie eigentlich angeb-
lich entlasten wollen. Wer soll denn die Grundsicherung
und die Rente für diejenigen bezahlen, die heute keine
Rentenansprüche mehr erwerben, weil Sie die Zahlung
der Rentenversicherungsbeiträge für diese gestrichen ha-
ben? Das, was Sie hier machen, ist Wahnsinn und ver-
rückt.
Ihre Arbeitsmarktpolitik, bei der es immer wieder um
Mini- und Midijobs geht, ist genau der gleiche Wahn-
sinn. Sie zerstören damit die Sozialsysteme; Sie stärken
sie nicht. Wenn Sie etwas Vernünftiges tun wollen, um
die Sozialsysteme und damit auch den Staatshaushalt
vernünftig in Ordnung zu bringen, dann sorgen Sie da-
für, dass existenzsichernde Beschäftigung geschaffen
wird, die sozialversicherungspflichtig ist. Alles andere
hilft nicht; alles andere ist kompletter Unsinn. Das kön-
nen Sie sich sparen.
Ich bin froh, dass jetzt ein Antrag vorliegt, über den
wir diskutieren können und mit dem uns geholfen wird,
gemeinsam Projekte zu entwickeln. Wir werden ihn jetzt
beraten und vor der Abstimmung vielleicht noch zu ge-
meinsamen Ideen kommen. Dadurch wird im Zweifel
mehr geholfen, als sich vorher irgendetwas vorzuneh-
men und sich hinterher zu wundern, dass es nicht ge-
klappt hat.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Peter Willsch
für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5285
(A) (C)
(D)(B)
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Bockhahn, ehe ich mir von Kommunisten Ratschläge in
Sachen Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Gestal-
tung geben lasse, muss schon viel passieren. 80 Jahre
lang hat diese Ideologie Teile des Kontinents, einige
Teile glücklicherweise etwas kürzer, mit katastrophalen
wirtschaftlichen Auswirkungen in Geiselhaft genom-
men, Landstriche verwüstet und Menschen unterdrückt.
Deshalb brauchen wir Ratschläge von Ihnen wirklich als
Allerletztes.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Der Kalte Krieg ist vorbei!)
Andere in der Debatte haben geschmeidiger gespro-
chen. Herr Kuhn, ich will Sie direkt ansprechen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, darf ich Sie, bevor Sie Herrn Kuhn an-
sprechen, fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Bockhahn zulassen?
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Aber klar.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Bockhahn.
Steffen Bockhahn (DIE LINKE):
Herr Kollege Willsch, ich frage Sie, welche Kennt-
nisse meiner Biografie Sie zu der Aussage veranlassen,
dass ich Menschen unterdrückt oder Landstriche ver-
wüstet hätte?
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Herr Bockhahn, ich nehme Sie in Haftung für die Par-
tei, in deren unmittelbarer Nachfolgerin Sie Mitglied
sind. Sie sind in der Nachfolgepartei der SED. Dafür ste-
hen Sie, und für diese sind Sie in Mithaftung zu nehmen.
Es gab nie eine Trennung und nie einen Schlussstrich.
Die Linke ist die Rechtsnachfolgerin der SED, die un-
weit von hier – dort hinten stand die Mauer – Menschen
brutal unterdrückt und das Land ökonomisch vollständig
ruiniert hat. Das müssen Sie sich zurechnen lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]:
Das hat mit meiner Biografie aber nichts zu
tun!)
– Sie hätten sich eine anständige Partei aussuchen kön-
nen, als Sie angefangen haben, sich zu engagieren.
Herr Kuhn, ich habe extra nachgeschaut, was Sie ge-
lernt haben. Sie sind Sprachwissenschaftler. Ich habe
jetzt gelernt, dass ein Sprachwissenschaftler es versteht,
einigermaßen gefällig für die Zuhörer über Dinge zu
sprechen, die er offenkundig nicht versteht. Das war die
Quintessenz dessen, was von Ihrem Vortrag bei mir hän-
gen geblieben ist.
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was für eine Arroganz!)
Der Antrag, den Sie von den Grünen hier gestellt ha-
ben, enthält viele Ideen – das kommt auch in der Über-
schrift zum Ausdruck –, zum Beispiel den Haushalt zu-
kunftsfest zu machen und ihn sozialverträglich zu
sanieren, die genau das beschreiben, was wir mit dem
Sparpaket tun. Ich verstehe, dass Ihre Haushaltspoliti-
ker, zum Beispiel Alex Bonde, sich mit solchen Positio-
nen nicht identifizieren. Wir führen im Haushaltsaus-
schuss intelligente Diskussionen miteinander, und
unsere Positionen sind häufig nicht weit auseinander. Es
geht Ihnen darum, mit dem alten Muster – hier die Rei-
chen, da die Armen, die ausgepresst und unterdrückt
werden – ein Bild des Klassenkampfes heraufzube-
schwören, das mit der Wirklichkeit dieses Sparpakets
und der Regierungspolitik der christlich-liberalen Koali-
tion überhaupt nichts zu tun hat.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ganz schön peinlich!)
Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir nach
40 Jahren hemmungsloser Schuldenwirtschaft in diesem
Land – ich spreche bewusst von 40 Jahren, weil ich die
Zeiten, in denen wir regiert haben, einschließe – endlich
zu dem Punkt kommen, zu sagen: Das muss ein Ende ha-
ben. Wir können nicht eine Bevölkerung, die schrumpft
und die im Vergleich zum Jahr 1964, als 1,375 Millionen
Geburten zu verzeichnen waren – das war ein Spitzen-
jahrgang –, jetzt nicht einmal mehr die Hälfte, nämlich
nur 765 000 Geburten im Jahr, aufweist, immer mehr be-
lasten. Wir versündigen uns an unseren Kindern.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das Ende einer solchen Wirtschaft konnten wir beobach-
ten, als der IWF und die Europäische Union mit der grie-
chischen Regierung über ein Sparprogramm verhandelt
und Auflagen erteilt haben.
(Otto Fricke [FDP]: Da wollte Rot-Grün ja
nicht helfen!)
Wenn der Karren so in den Dreck gefahren wird, dann
kommt eine Situation wie in Griechenland heraus. Jetzt
wird über eine Lohnsenkung von 8 Prozent und eine Er-
höhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozentpunkte inner-
halb von drei Monaten gesprochen, weil es anders nicht
mehr geht. In eine solche Situation wollen wir mit unse-
rem Land nicht kommen.
Sie von den Grünen reden über die Haushaltspolitik
und die nachhaltige Finanzpolitik im Ausschuss wie
auch im Plenum sehr gefällig. Wenn wir miteinander dis-
kutieren, stellen wir fest, dass wir durchaus gemeinsame
Auffassungen haben. Leider steht in krassem Kontrast
dazu Ihr konkretes Handeln, wenn Sie Regierungsver-
antwortung übernehmen sollen. Schauen Sie sich doch
einmal an, welchen Wahlbetrug Sie mit Ihrer Minder-
heitsregierung verüben, über die Sie jetzt in Nordrhein-
Westfalen verhandeln.
(Zurufe von der SPD: Oh! – Steffen Bockhahn
[DIE LINKE]: Das ist traurig!)
5286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Klaus-Peter Willsch
(A) (C)
(D)(B)
Bei erwarteten Mindereinnahmen von 1,3 Milliarden
Euro wollen Sie mit einem Federstrich 1 Milliarde Euro
mehr ausgeben. Auf diese Idee muss man erst einmal
kommen. Das zeigt, dass bei Ihnen Reden und Handeln
weit auseinanderfallen und dass Sie noch nicht so weit
sind, dass Sie verantwortlich eine Haushaltskonsolidie-
rungspolitik betreiben könnten.
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sagen Sie
etwas zum Thema! – Bettina Hagedorn [SPD]:
Wer hat eigentlich die meisten Schulden auf-
genommen?)
Der Kern des Sparpakets ist die Senkung der Ausga-
ben. Wir haben überprüft, an welchen Punkten Einspa-
rungen möglich sind, ohne das Wachstumspotenzial in
unserem Land zu gefährden. Gleichzeitig stellen wir si-
cher, die Aufgabenwahrnehmung und Aufgabenerfül-
lung gerecht zu verteilen.
Der Vorwurf, um den sich hier alles dreht, dass dieses
Sparpaket sozial ungerecht sei, ist durch nichts zu recht-
fertigen. Die Sozialausgaben in diesem Lande ent-
wickeln sich seit 1952 kontinuierlich nach oben. Inzwi-
schen sind wir bei einem Anteil der Sozialausgaben an
den Gesamtausgaben des Staates von 54,17 Prozent an-
gelangt. Vernünftigerweise können Sie deshalb nicht
über Einsparungen nachdenken und dabei diesen Be-
reich vollständig ausklammern.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Aber ihr spart doch
gar nicht! Das ist doch kein Sparen!)
Es wäre auch ökonomisch völlig falsch, diesen Bereich
auszuklammern, weil eine Ausgabe für einen sozialpoli-
tischen Zweck natürlich nicht per se eine gute Ausgabe
ist und nicht per se eine effiziente Ausgabe ist. Es muss
immer wieder geschaut werden: Erreichen wir mit dieser
Ausgabe überhaupt das, was wir erreichen wollten?
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)
Wird das Steuerzahlergeld, das ein relativ kleiner Anteil
der Bevölkerung erbringt – Norbert Barthle hat es darge-
stellt –, auch wirklich effizient eingesetzt?
Solidarität und Subsidiarität sind zwei Schwestern.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die gehören
zusammen!)
Sie gehören zusammen. Wir müssen immer darauf ach-
ten, es bei einer sozialpolitischen Maßnahme nicht so
weit zu treiben, dass der paternalistische und für alles
sorgende Staat sich um alles kümmert. Es muss immer
auch der Anreiz gegeben werden, sich selbst zu helfen
nach dem Motto: „Hilf dir selbst; wir geben dir Hilfe
dazu, damit du selbst wieder auf die Beine kommst.“ –
Es muss immer das Ziel verfolgt werden, sich als Staat
zurückzuhalten und die Verantwortlichkeiten beim Ein-
zelnen oder einer kleinen Gruppe zu lassen, damit dort
eigenverantwortlich gehandelt werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Jörn Wunderlich [DIE
LINKE]: Indem man Kindern durch die Kür-
zung des Elterngeldes die soziale Teilhabe be-
schneidet! Großartig! Das ist christlich-liberal
aus Ihrer Sicht!)
– Das ist doch völliger Unfug. Ich will Ihnen das noch
einmal kurz erklären. Es geht also um die Frage, warum
jetzt kein Elterngeld mehr an Empfänger von Ar-
beitslosengeld II – vulgo: Hartz-IV-er – bezahlt werden
soll.
Es war von Anfang an ein Strickfehler, dass das über-
haupt gezahlt worden ist.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Einen Strickfehler
nennen Sie das?)
Wie wird denn der Bedarf eines Haushalts, der vollstän-
dig von öffentlichen Mitteln abhängt und bezahlt wird
– wo es sein muss, tun wir das gerne –, ermittelt? Das
Statistische Bundesamt erstellt Einkommens- und Ver-
brauchsstudien. Alle fünf Jahre wird überprüft, wie hoch
die Ausgaben der unteren 20 Prozent der Einkommens-
bezieher – ohne Sozialhilfeempfänger; also nur derjeni-
gen, die für sich selbst aufkommen – sind. Aus diesen
Werten wird dann abgeleitet, wie hoch der Bedarf von
jemandem ist, der Arbeitslosengeld II erhält.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dazu hat das Verfassungsgericht aber
etwas gesagt!)
– Nein, lieber Kollege. Dazu kommen wir auch noch.
Das Verfassungsgericht hat gesagt, dass der Satz, den
Kinder erhalten, nicht als bloßer Prozentsatz des Er-
wachsenensatzes ermittelt werden darf.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Und dass die Bil-
dung ein eigenständiger Bestandteil der Be-
rechnung sein muss!)
Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich bestätigt, dass
der Rechenweg, sich an dem unteren Fünftel der Ein-
kommensbezieher zu orientieren, richtig ist. Das Ganze
muss nur für die Kinder auch diskretionär nach einzel-
nen Ausgabengruppen erarbeitet werden. Das tun wir
derzeit.
Hier wird also demjenigen, der Hilfe braucht, maßge-
schneidert die Hilfe gegeben – nicht üppig, aber ausrei-
chend. So muss es auch sein, damit der Anreiz bestehen
bleibt, wieder aus dieser Situation herauszukommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage – –
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Kleinen Moment; lassen Sie mich den Gedanken ge-
rade zu Ende bringen. – Genau das geschieht auch. Dann
ist es Unsinn, das Elterngeld nicht anzurechnen. Es muss
genauso angerechnet werden, wie das Kindergeld natür-
lich auch angerechnet wird, weil der Grundbedarf
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie haben
den Sinn des Elterngeldes völlig falsch ver-
standen! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]:
Sie haben Ihre eigene Maßnahme nicht ver-
standen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5287
Klaus-Peter Willsch
(A) (C)
(D)(B)
sozusagen anhand des Einkaufszettels diskretionär er-
mittelt worden ist. Daher ist es Unfug, das Geld oben-
drauf zu legen. – Jetzt gebe ich gerne die Zwischenfrage
frei.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kressl, bitte sehr.
Nicolette Kressl (SPD):
Sehr geehrter Herr Kollege Willsch, da Sie jetzt schon
behaupten, die Elterngeldzahlung habe etwas mit Exis-
tenzsicherung zu tun, was vom Grundsatz her nicht
stimmt, würde ich Sie gerne fragen: Was soll das, was
Sie vorhaben – Sie wollen nämlich an die nicht erwerbs-
tätige Ehefrau eines Einkommensmillionärs weiterhin
300 Euro im Monat auszahlen –, mit Existenzsicherung
zu tun haben?
(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Das
war doch Ihr Beschluss! Das haben Sie doch in
der Großen Koalition durchgesetzt!)
– Da Herr Fricke immer dazwischenschreit: Frau Gruß
hat ja genau dies kritisiert, wenn ich mich nicht irre.
(Florian Toncar [FDP]: Sie hat auch recht! –
Otto Fricke [FDP]: Ihr habt es doch in der
Großen Koalition gemacht!)
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Liebe Kollegin – –
(Zurufe – Unruhe)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat der Kollege Willsch zur Beantwortung
der Frage.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Die Diskussion hellt vielleicht auf. Die können wir
gleich noch ein bisschen kreuz und quer laufen lassen,
aber ich will jetzt doch gern die Frage beantworten.
Ich habe ausdrücklich nicht von der Grundsicherung
gesprochen. Ich habe ausdrücklich gesagt: Die Grund-
sicherung ist da. Es wäre unsinnig, das Elterngeld nicht
zu verrechnen, weil ja der Satz hinreichend hoch ist.
(Nicolette Kressl [SPD]: Sie kapieren es nicht! –
Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Er versteht es
einfach nicht!)
– Moment! Lassen Sie mich doch einmal ausreden!
Bei der Frage, ob das Elterngeld, das ja das Erzie-
hungsgeld abgelöst hat, auch an Haushalte gezahlt wird,
in denen nur einer arbeitet – Stichwort „Daheimbleib-
prämie“ –, geht es darum, ein gesellschaftspolitisches
Modell, ein familienpolitisches Modell nicht zu bestra-
fen, das ich zumindest für durchaus positiv halte.
(Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD])
Das betrifft nicht nur den Millionär, sondern genauso
den Facharbeiter, der gemeinsam mit seiner Frau ent-
scheidet: „Pass auf, jetzt haben wir Kinder; ich bringe
das Geld herbei, und du bleibst zu Hause“ oder auch um-
gekehrt, wenn die Frau mehr verdient. Das kann jeder
machen, wie er will. Mit diesem Modell, das nicht nur
den Zahnarzt oder den Millionär betrifft, sondern eben
auch den ganz normalen Mittelstandsfacharbeiter oder
Arbeiter – da sagt man sich: wir müssen nicht zweimal
im Jahr in Urlaub; wir brauchen keine zwei Autos; uns
ist es wichtig, dass das Kind eine feste Bezugsperson,
Mutter oder Vater, zu Hause hat –, wollen wir diese nicht
bestrafen, indem wir sagen: Ihr bekommt nichts vom
Staat. – Ich glaube, das habe ich jetzt hinreichend deut-
lich gemacht.
Wenn jetzt nicht noch eine Zwischenfrage kommt,
fürchte ich, ist meine Redezeit zu Ende. Ich möchte Sie
gern dazu ermuntern. Wenn Sie noch Gelegenheit neh-
men wollen, den einen oder anderen Punkt mit mir zu
vertiefen, können Sie uns dazu in die Lage versetzen, in-
dem Sie mir eine Zwischenfrage stellen. – Leider kommt
sie nicht.
Dann kann ich nur noch eine Abschlussbemerkung
machen – sonst bekomme ich einen Rüffel von der Präsi-
dentin –: Ich fordere Sie auf, seriös zu diskutieren. Wir
werden das riesige Problem der aufgetürmten Schulden
– es sind 1,7 Billionen Euro; das ist für fast jeden in un-
serem Land unvorstellbar – nur lösen, wenn wir Ernst
machen, die staatlichen Ausgaben intensiv infrage stel-
len
(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie müssen nur die
richtigen Fragen stellen!)
und immer wieder schauen: Gehen wir effizient mit dem
Geld um? Gehen wir auch strukturell an die Dinge he-
ran? Wir können uns nicht damit begnügen, in konjunk-
turell guten Zeiten mehr Geld einzunehmen; wir müssen
darangehen, den Staat schlanker zu machen, dem Staat
weniger Ausgaben zuzumuten, dem Einzelnen mehr zu-
zutrauen. Das ist der Weg, den diese christlich-liberale
Koalition geht. Sie sind herzlich eingeladen, ihn mit uns
zu gehen – zum Wohle unseres Vaterlandes.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: „Sechs“, set-
zen!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Johannes Kahrs.
(Beifall bei der SPD)
Johannes Kahrs (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer sich die Debatte angehört hat, fragt sich,
was sie mit dem Antrag zu tun hat. Es wurde aber klar,
warum in den letzten acht, neun Monaten in diesem
Land nicht viel passiert ist. Wir haben eine Regierung,
die gestern, glaube ich, ihren achten oder neunten Neu-
start probiert hat, und auch den hat sie versemmelt.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Aber alles
christlich-liberal!)
5288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Johannes Kahrs
(A) (C)
(D)(B)
Wenn man sich diese Argumentation anschaut, fragt
man sich, wie das überhaupt möglich ist.
Zuvor noch einen kleinen Einschub: Der Kollege
Willsch hat den Kollegen Bockhahn eben als Kommu-
nisten bezeichnet. Kommunisten mag es in der Linkspar-
tei ja geben, aber der Kollege Bockhahn ist nun wirklich
keiner. Er ist einer von den wirklichen Realpolitikern
dort.
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Jetzt nicht
zu doll! – Zurufe von der FDP: Na ja!)
Mit Leuten wie dem Kollegen Bockhahn kann man in
Mecklenburg-Vorpommern vernünftig regieren. Das
mag anderswo nicht gehen.
Wenn Sie sich die Rede vom Kollegen Bockhahn an-
gehört haben, werden Sie festgestellt haben: Er hat als
einer der wenigen heute sachlich inhaltlich Punkt für
Punkt argumentiert.
(Otto Fricke [FDP]: Stimmt! Hat Poß nicht!)
Man muss nicht jeden Punkt teilen, Kollege Fricke,
(Otto Fricke [FDP]: Und Herr Poß war sach-
lich? War er sachlich? – War er nicht!)
aber man muss sich inhaltlich mit ihm auseinanderset-
zen. Ihn einfach als Kommunisten in die Ecke zu stellen,
finde ich – dazu muss ich sagen: ich bin nicht der Lin-
keste in meiner Partei – ein bisschen unanständig. Das
geht eigentlich nicht. Das senkt das Niveau einer De-
batte so weit, dass es unerträglich wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Zurufe)
– „Fundamentalistisch“ wäre ärgerlich gewesen.
(Otto Fricke [FDP]: Aber „radikal“ geht? „Ra-
dikal“ geht nach Ihrer Meinung?)
– Wenn man radikal spart, kann das sogar positiv sein.
(Otto Fricke [FDP]: Aha!)
Wenn man radikal vernünftig spart, ist es noch besser.
„Fundamentalistisch“ hätte ich als Beleidigung empfun-
den.
(Joachim Poß [SPD]: Aber zutreffend! Ich
muss mich korrigieren!)
Ich finde, dass die Reaktion, Herr Fricke, die Sie gezeigt
haben, eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat; sie
zeigt nur, wie dünn das Eis ist, auf dem Sie zurzeit ge-
hen, wie sensibel und angefasst Sie zurzeit sind.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke
[FDP]: Ist Ihnen „unsensibel“ lieber? Ich bin
lieber sensibel!)
Die Frage ist, warum das so ist. Ich muss ganz ehrlich
zugeben: Als wir am 27. September 2009 so gegen
18 Uhr die Hochrechnungen mit dem Ergebnis für die
SPD gesehen haben, war ich ziemlich erschrocken. Ich
habe gedacht: Es wird zu einer schwarz-gelben Regie-
rung mit einer schneidigen Wirtschafts-, Finanz-, Vertei-
digungs- und Innenpolitik kommen, die uns alle an die
Wand haut, und dann läuft das, zwar nicht in meinem
Sinne, aber es wird wohl laufen, denn es ist ja eine
Traumkoalition. Nun stehe ich hier seit acht Monaten
mit offenem Mund und großen Augen und schaue mir
an, was Sie für ein Trauerspiel geben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Da passiert gar nichts. Sie haben zwar von konkreten
Punkten gesprochen. Aber ganz ehrlich: Mit Ausnahme
der Vergünstigungen für Hoteliers habe ich nicht wirk-
lich viel Konkretes erlebt.
(Otto Fricke [FDP]: Kindergelderhöhung! –
Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Was ich gesehen habe, war ein Koalitionsvertrag, der
mehr Fragen aufgeworfen hat, als er beantwortet hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
So viele Arbeitsgruppen, Fragezeichen und ungelöste
Probleme! Wenn ich Sie einmal beraten darf – als Oppo-
sition können wir das machen, weil wir das Interesse un-
seres Landes im Blick haben –: Wenn man einen Koali-
tionsvertrag macht, dann muss dieser am Ende so
durchdekliniert sein, dass die drei Vertragspartner das-
selbe sagen, meinen und wollen. Dann wird er unter-
schrieben und umgesetzt. Das ist ein Koalitionsvertrag.
(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])
Das haben wir hervorragend mit der CDU und der CSU
hinbekommen. Das haben wir auch mit den Grünen er-
folgreich gemacht. Das hat funktioniert. Da kann man in
dem einen oder anderen Punkt nölen, aber das Land ist
damit gut gefahren.
Was Sie zurzeit abliefern, ist ein Haufen von Frage-
zeichen. Da haben Sie den einen oder anderen Neustart
gehabt, Sie haben sich gegenseitig demontiert, Sie sind
zurückgetreten oder weggerannt. Im Ergebnis haben Sie
jetzt mit Ihrem 80-Milliarden-Euro-Sparpaket den
nächsten Neustart gemacht. Da sagt man sich: Das klingt
erst einmal gut. Einsparungen von 80 Milliarden Euro
sind eine echte Nummer. Kollege Willsch hat hier davon
gesprochen, dass man sich 40 Jahre lang radikal ver-
schuldet hat. Er hat auch eingestanden, dass die meiste
Zeit die CDU regiert hat. Aber im Ergebnis hat er ver-
gessen, zu sagen, dass Sie in den nächsten vier Jahren
weitere 150 Milliarden Euro Schulden machen werden.
Was er auch vergessen hat, zu sagen – das finde ich nicht
ganz unwichtig –, ist: Dieses 80-Milliarden-Euro-Paket,
das Sie auflegen, ist genau wie Ihr Koalitionsvertrag. Es
ist nur ein Haufen von Zahlen auf einem Stück Papier.
Dahinter stehen keine Beschlüsse, keine Gesetzesvor-
schläge, nichts, worin sich diese Regierung einig ist, und
zwar durchgängig.
(Joachim Poß [SPD]: Außer im Sozialbereich!
Das ist konkret!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5289
Johannes Kahrs
(A) (C)
(D)(B)
Sie haben sich mit diesem Sparpaket einen Haufen Pro-
bleme geschaffen. Sie haben Probleme aufgebaut, die
Sie nicht bewältigen können.
Als Beispiel nenne ich die Brennelementesteuer.
Diese finden wir alle suboptimal. Wenn sie wenigstens
funktionieren würde; aber damit ist nicht zu rechnen.
Dass man als Opposition dagegen ist, daran ist die breite
Öffentlichkeit gewöhnt. Bei der Brennelementesteuer
aber sagt der eine Partner: Nein, die gibt es nur bei einer
Verlängerung der Laufzeiten. Der andere sagt: Nein, das
kommt unabhängig von einer Verlängerung der Laufzei-
ten. Ob sie überhaupt kommt, ist nicht klar. So geht es
mit jedem einzelnen Ihrer Punkte, weil es immer drei
Parteien gibt. Darüber hinaus gibt es noch den wirt-
schaftspolitischen Flügel der CDU/CSU und auch noch
andere, die immer wieder anderer Meinung sind.
Wenn Sie ein Sparpaket vorgelegt hätten, bei dem Sie
sich selber einig gewesen wären, dann könnten wir et-
was kritisieren. Aber dazu kommen wir gar nicht; denn
wenn wir etwas kritisieren, haben Sie uns darin schon
lange übertroffen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
So wie die Pläne zur Kopfpauschale kritisiert werden
müssen und wir uns als Opposition wirklich anstrengen,
zu sagen, die Kopfpauschale dürfe nicht kommen, so
muss man anerkennen: Das schafft die CSU doppelt so
gut.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]:
Wovon reden Sie eigentlich?)
Das macht sie mit einer Brutalität, mit der sie Herrn
Rösler gegen die Wand fahren lässt, dass man sich fragt,
ob das noch eine Koalition ist.
Schauen wir uns einmal die sogenannte Bundes-
wehrreform an, oder was auch immer das sein soll.
Wenn ich mir als Oberstleutnant der Reserve anschaue,
was Sie aus meiner Bundeswehr machen; das ist nicht
tragbar und unverschämt. Was Sie bei der Wehrpflicht
vorhaben, geht überhaupt nicht. Was bei der Umsetzung
der Pläne in der Realität passiert, ist eine Katastrophe.
(Zuruf des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/
CSU], in den Reihen der FDP sitzend)
– Red doch einmal mit der Truppe. Das geht doch gar
nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Außerdem sitzt du bei der falschen Partei. Setz dich zur
CDU, wo du hingehörst.
(Weiterer Zuruf des Abg. Georg Schirmbeck
[CDU/CSU])
– Ganz ruhig bleiben! Du bist auch im Haushaltsaus-
schuss, wir sehen uns da ja.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn du
mal da bist!)
Wenn man das macht, dann muss das alles Sinn und
Verstand haben. Das ist durchgehend so: Seit den Zeiten
von Theo Waigel – der eine oder andere erinnert sich
vielleicht noch an ihn – ist es so, dass Schuldenabbau
immer aus drei Säulen besteht: Einnahmeverbesserung,
Wachstumsförderung, Einsparung.
Dann habe ich hier eben Worte gehört wie „Wirt-
schaftswachstum fördern“, „Vorrang für Wirtschaft“ und
Ähnliches. Wenn ich mir nun Ihr Papier anschaue, stelle
ich fest, dass da auch etwas von ökologischer Neujustie-
rung steht – das ist ja bei der CDU immer ganz gefähr-
lich.
(Heiterkeit bei der SPD)
In meinem eigenen Wahlkreis – man soll sich ja immer
an praktischen Fragestellungen orientieren – liegen
Europas größtes Kupferwerk Aurubis und eine Alumi-
niumhütte. Die Ausnahmen von der Ökosteuer für
diese Unternehmen, die wir den Grünen abgerungen
haben – das war für die Grünen bitter – und die auch in
der Großen Koalition noch Bestand hatten, sollen jetzt
abgeschafft werden. Das bedeutet, dass Grundstoffin-
dustrie in Deutschland fast nicht mehr möglich ist;
denn es gibt ja einen internationalen Wettbewerb, so et-
was wie ein Level-Playing-Field. Wir waren uns hier
einmal alle einig, dass solche Unternehmen in Deutsch-
land nach den gleichen Spielregeln wie vergleichbare
Unternehmen in Europa bzw. in der Welt behandelt wer-
den sollten.
(Otto Fricke [FDP]: Wir wollen doch keine
amerikanischen Verhältnisse!)
Aber vergleichbare Unternehmen in Kanada, Norwegen,
Australien und im Mittleren Osten haben andere Strom-
preise; unsere können noch so viele Einsparungen vor-
nehmen, sie kämen gegen diese nicht an, wenn man sie
nicht von der Ökosteuer ausnimmt. Jetzt kommt aber auf
einmal diese großartige Wirtschaftskoalition daher und
zerschlägt das. Mit Intelligenz und Sparen, mit dem
Schaffen und Sichern von Arbeitsplätzen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, hat das überhaupt nichts zu tun.
(Alois Karl [CDU/CSU]: Sie machen Klientel-
politik! – Otto Fricke [FDP]: Das ist dasselbe
Argument wie bei der Steinkohle!)
Man sollte die drei von Theo Waigel aufgestellten
Punkte beherzigen: Einnahmeverbesserungen, Wachs-
tumsförderung, Einsparungen. Gehen wir Ihre Vor-
schläge einmal durch.
Einnahmeverbesserungen können Sie nur durch
Einführung einer Finanztransaktionsteuer und Erhöhung
des Spitzensteuersatzes erreichen. Wenn man sich ein-
mal Ihre Pläne anschaut, stellt man fest: alles heiße Luft.
Die FDP will es nämlich nicht, die CDU nur ein biss-
chen, bei der CSU warten wir auf die Erleuchtung.
Zum Spitzensteuersatz ist zu sagen: Die Sozialisten
Kohl und Genscher haben es geschafft, mit einem Spit-
zensteuersatz von 53 Prozent zu regieren, und keiner in
5290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Johannes Kahrs
(A) (C)
(D)(B)
diesem Land hat „Sozialismus!“ geschrien oder irgend-
jemanden der Verantwortlichen beschuldigt, ein Kom-
munist zu sein. Jetzt, wo wir davon reden, dass man den
Satz wieder der 50-Prozent-Marke annähern sollte, wer-
den wir auf einmal in eine ganz linke Ecke geschoben.
Natürlich bin ich gesamtgesellschaftlich ein Linker, aber
dass Kohl und Genscher dann links von mir stehen sol-
len, ist schwer nachvollziehbar. Ich finde, hier sollten
Sie an Ihrer Argumentation noch ein wenig feilen. Viel-
leicht kommt ja dabei etwas Brauchbares zustande.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Auch bei der Bankenabgabe müssen wir genau
schauen, wo die Einnahmen daraus landen. Ich persön-
lich denke, dass die Einnahmen daraus in den Bundes-
haushalt gehören und nicht in irgendwelche Extratöpfe.
Der Steuerzahler zahlt für die Rettung, also muss der
Steuerzahler auch entlastet werden, wenn entsprechende
Einnahmen generiert werden. Das wäre nur vernünftig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Über Wachstumsförderung können wir viel reden.
Wenn aber der Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung – gerade war er noch hier im Plenum;
jetzt ist er weg – eine Halbierung der Ansätze für das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm vornimmt, sollte er
auch bedenken, welche Folgen das hat. Es betrifft näm-
lich insbesondere die mittelständischen Handwerksbe-
triebe, die das alles einbauen.
(Otto Fricke [FDP]: Das sind die, deren Steu-
ersätze ihr erhöhen wollt! Von denen wollt ihr
50 Prozent Einkommensteuer!)
Das kann man durchdeklinieren und sich die Folgen
Stadtteil für Stadtteil anschauen. Sie begründen die Re-
duzierung nun damit, dass das Programm nicht mehr so
stark nachgefragt wird. Natürlich wird das Programm
nicht mehr so stark nachgefragt, wenn die Zinssätze so
stark angehoben werden, dass sie fast das marktübliche
Niveau erreichen. Dann funktioniert das nicht mehr. Es
sollte ja einen Anreiz dafür schaffen, dass Menschen et-
was Sinnvolles tun, indem wir ihnen dabei ein wenig
helfen. Wenn Sie die Hilfe faktisch auf null herunterfah-
ren, indem Sie die Zinsen stark anheben, und dann be-
haupten, es werde nicht mehr so stark nachgefragt, des-
halb könne man hier Einsparungen vornehmen, dann
fragt man sich doch, was das soll.
(Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP])
Für den Mittelstand und für die Wirtschaft, Herr Fricke,
haben Sie schon lange nichts mehr gemacht.
Die Frau Präsidentin gibt mir ein Zeichen, dass meine
Redezeit abgelaufen ist. Ich komme jetzt auch zum
Schluss. Ich wünsche mir nur, dass diese Regierung in-
nerlich zu sich selbst findet und auch entsprechend han-
delt. Dann hätten wir etwas, was wir kritisieren könnten.
Im Moment ist uns das gar nicht möglich; denn Sie
hauen sich ja nur gegenseitig in die Pfanne. Leidtra-
gende sind das Land und die Menschen, die hart und an-
ständig arbeiten und Steuern zahlen. An diese sollten Sie
zur Abwechslung einmal denken.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Alois Karl [CDU/CSU]: Erbärm-
lich!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Otto Fricke (FDP):
Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Warum sparen wir eigentlich? Wa-
rum müssen wir das tun? Weil wir dadurch, dass wir in
der Vergangenheit in diesem Land nicht gespart haben,
eine Verschuldung haben, die es, wenn wir jetzt nicht mit
dem Sparen anfangen, unmöglich macht, dass für zu-
künftige Generationen ein Generationenvertrag mit den-
selben Grundlagen gilt, die auf mich, Geburtsjahrgang
1965, noch zutrafen.
Nun die typisch deutsche Frage: Wer ist daran schuld?
Als Antwort darauf muss man der Bevölkerung doch sa-
gen: Alle. Alle sind daran mehr oder weniger beteiligt
gewesen. Wenn die SPD jetzt behauptet: „Nein, wir wa-
ren das gar nicht, wir machen das alles ganz sozial und
vernünftig“,
(Johannes Kahrs [SPD]: Hat keiner gesagt!)
muss man auf Folgendes hinweisen: Wir haben eine
Gesamtverschuldung des Bundes – das ist nur das, was
in diesem Hause beschlossen worden ist – von
1 000 Milliarden Euro. Das ist die berühmte Billion.
Herr Poß, wissen Sie, wie viele Milliarden SPD-Finanz-
minister in elf Jahren zu verantworten hatten?
(Joachim Poß [SPD]: Wir stehen zu unserer
Verantwortung!)
Sie wissen es nicht mehr. 350 Milliarden Euro haben Sie
von der SPD zu diesem Haufen hinzugetan.
(Joachim Poß [SPD]: Und Schwarz-Gelb?)
Jetzt tun Sie so, als hätten Sie nichts damit zu tun, an-
statt zu erkennen, was wir in den letzten Jahrzehnten ge-
macht haben, um von diesem Schuldenberg herunterzu-
kommen; egal wer an der Macht war. Wir haben
eigentlich immer dasselbe gemacht. Wir haben alle ge-
sagt: Wir wollen sparen. Das Ergebnis waren immer
Steuererhöhungen. Wie war denn das mit der Mehrwert-
steuererhöhung, die die SPD angeblich nicht wollte?
Warum haben Sie das denn gemacht? Weil Sie gemerkt
haben – damit komme ich zum Antrag der Grünen –,
dass es überhaupt nicht nachhaltig ist, wenn man ver-
sucht, Haushalte über die Einnahmeseite zu sanieren.
(Joachim Poß [SPD]: Wir waren 2008 doch
fast beim Haushaltsausgleich!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5291
Otto Fricke
(A) (C)
(D)(B)
Die Bürger draußen, die jetzt vielleicht sagen: „Dem
von der FDP glaube ich nicht“, bitte ich, einmal über
Folgendes nachzudenken: Wenn Sie Schulden hätten, die
dem Vierfachen Ihres Jahresnettoeinkommens entsprä-
chen,
(Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben Schulden!
Wir nicht! Peer Steinbrück war da besser!)
seien Sie Rentner, seien Sie ALG-II-Empfänger, seien
Sie Pensionär, seien Sie Arbeitnehmer, glaubten Sie
dann, dass Sie von der Verschuldung herunterkommen
könnten, indem Sie schauen würden, woher Sie mehr
Geld bekommen? Glauben Sie nicht auch, dass man ir-
gendwann einmal fragen muss: Auf was kann ich, auf
was soll ich, auf was muss ich bei mir und bei anderen
verzichten?
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Auf die Hotel-
subvention! Damit habt ihr doch angefangen! –
Gegenruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/
CSU]: Da sind wir wieder bei den Einnah-
men!)
Darum muss sich eine politische Diskussion drehen.
Diese politische Diskussion nimmt diese Koalition mit
dem großen Sparpaket auf. Wir kommen nur über die
Ausgaben an das Problem heran. Das weiß jeder, der
einmal persönlich erlebt hat, was Verschuldung bedeutet.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Es ist immer wieder bemerkenswert, dass dann gesagt
wird, das alles sei unsozial. Wir wissen, dass das im poli-
tischen Diskurs das Böse ist: Wer unsozial ist, ist ein
schlechter Politiker; wer unsozial ist, ist ein schlechter
Mensch. Das stimmt so aber nicht. Unsozial ist derje-
nige, der sagt: „Wir geben dir mehr“, der aber fünf Jahre
später zurückkommt und sagt: „Tut uns leid, das war al-
les zu viel; jetzt müssen wir davon wieder herunter.“ Un-
sozial ist derjenige, der sagt: „Ich bin sozial und tue in
dem und dem Leistungsbereich etwas“, nach der nächs-
ten Wahl aber sagt: „Jetzt erhöhe ich die Mehrwert-
steuer; tut mir leid.“
Genau darauf will Rot-Grün bzw. Rot-Rot-Grün wie-
der hinaus. Sie sagen: Wir geben, wir geben, wir geben,
weil es sozial ist. In ein paar Jahren werden sie aber sa-
gen: „Es tut uns leid, wir haben uns wieder einmal ver-
rechnet; wir nehmen, wir nehmen, wir nehmen.“
Die Koalition geht diesen Weg dieses Mal nicht.
Wenn diese Koalition unsozial wäre,
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist sie! Den
Konjunktiv können Sie sich sparen!)
wie sähe dann die Antwort auf die folgende Frage aus
– das muss sich auch jeder Bürger draußen fragen –:
Wie viel von dem, was wir einnehmen – der Kollege
Barthle hat gesagt, dass die Einnahmen im Wesentlichen
von denen, die starke Schultern haben, kommen –, geben
wir den Schwächeren? Man muss doch feststellen, wie
das nach den ersten vier Jahren von Rot-Grün war. Da
hatten sie eine Quote von 44 Prozent. Nach weiteren drei
Jahren lag die Quote bei 50 Prozent. Diese Koalition
sagt: Wir bleiben über den 50 Prozent von Rot-Grün.
(Johannes Kahrs [SPD]: Sie machen doch
mehr Schulden als wir!)
Kann man sagen, dass eine Politik unsozial ist, wenn
versucht wird, die Dinge neu zu justieren?
(Johannes Kahrs [SPD]: Sie machen doch
mehr Schulden als wir! Sie sind doch der
größte Schuldenmacher!)
Ich glaube, das ist nur möglich, wenn man Polemik be-
treibt.
(Beifall bei der FDP – Johannes Kahrs [SPD]:
Da klatscht nicht einmal die CDU/CSU!)
Man muss beim Haushalt Folgendes erkennen: Sie
können sich nicht nur etwas wünschen, sondern Sie müs-
sen auch die Zahlen dazu nennen. Je lauter Sie in den
ersten Reihen reden und je weniger Sie zuhören, desto
deutlicher zeigen Sie, dass meine Worte zutreffen. Man
kann nur eines feststellen: Wir müssen die Ausgaben
durchforsten. Wir müssen prüfen, was nicht richtig ist,
auf was wir verzichten können. Wir müssen dringend
prüfen, auf was wir mit Blick auf die Zukunft verzichten
sollten. Als Erstes müssen wir ganz klar definieren, auf
was wir verzichten müssen. Sie können das konkret tun.
Sie könnten als Opposition doch einmal einen Gegen-
haushalt aufstellen.
(Johannes Kahrs [SPD]: Wann habt ihr das
gemacht?)
Die Zuschauer und Zuhörer werden denken, dass Sie
einen Gegenantrag eingereicht haben. In dem Antrag
der Grünen steht ganz viel drin. Aber was nicht drin-
steht, ist das Entscheidende bei der Haushaltspolitik – das
ist auch für jeden Bürger wichtig –: Welche Zahl steht
wo?
(Johannes Kahrs [SPD]: Einigen Sie sich doch
erst einmal auf eine Zahl!)
Steht auf meinem Konto nachher ein Plus, oder steht auf
meinem Konto nachher ein Minus? Zu dem Antrag der
Grünen kann ich nur sagen: Es ist sehr viel hineinge-
schrieben worden. Manche Kritik darin ist vielleicht ge-
rechtfertigt und gehört zum politischen Diskurs in unse-
rer Gesellschaft. Aber immer dann, wenn es konkret
werden sollte, wenn Zahlen angegeben werden sollten,
dann wird Allgemeines gesagt: Wir wollen hier und da
etwas tun; wir wollen bei der Gebäudesanierung und bei
der sozialen und kulturellen Teilhabe etwas machen;
dann wollen Sie 420 Euro Hartz IV haben. Sie machen
aber nicht rechts den Strich, um zu sagen, wie viel das
kostet.
Man kann das nur grob überschätzen. Das, was Sie in
Ihrem Antrag vorschlagen, umfasst weit über 20 Milliar-
den Euro. Dazu kommen dann noch die 20 Milliarden
Euro, die wir aufgrund der Verfassungsregelung einspa-
ren müssen; das wollen wohl auch Sie. Das sind dann
40 Milliarden Euro. Dies wollen Sie im Wesentlichen
über die Einnahmeseite erreichen.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Einsparen!)
5292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Otto Fricke
(A) (C)
(D)(B)
Das wird die SPD nicht anders sehen; die Linken sogar
noch ein bisschen stärker. Doch was bedeutet das, wenn
Ihnen ein Politiker sagt: „Wir wollen so viel mehr“? Das
bedeutet, dass Sie den Spitzensteuersatz um 50 Prozent-
punkte erhöhen müssten; Sie müssten ihn also auf über
90 Prozent erhöhen. Wenn Sie die Mehrwertsteuer erhö-
hen – nur ein Teil davon geht an den Bund –, wären Sie
bei 35 Prozent Mehrwertsteuer.
(Joachim Poß [SPD]: Quatsch! – Johannes
Kahrs [SPD]: Das hat doch keiner gefordert! –
Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wirr!)
Diese Seite Ihrer Forderungen müssen sie der Ehr-
lichkeit halber auch darstellen. Machen Sie konkrete
Vorschläge, nennen Sie konkrete Zahlen und sagen Sie
nicht nur, man wolle ein bisschen wegnehmen. Seien Sie
doch einfach ehrlich, und sagen Sie, wo Sie abkassieren
wollen, sagen Sie, dass Sie nicht sparen und die Ausga-
ben nicht senken wollen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Eini-
gen Sie sich einmal in der Koalition, bevor Sie
einen Vorschlag machen!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Sven-Christian
Kindler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss
zugeben: Mit dem sogenannten Sparpaket spart die
Bundesregierung. Sie spart vor allen Dingen an guten
und sozial gerechten Vorschlägen, und sie spart sich
nachhaltige Vorschläge. Heute wird zwar gekürzt, aber
auf Dauer wird nichts gespart. Denn die soziale und öko-
logische Verschuldung in der Zukunft wird nur vergrö-
ßert. Das ist das große Problem an diesem Sparpaket.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wir haben heute schon einiges dazu gehört. Ich kann
nur sagen: Wir haben im letzten Haushaltsverfahren ein
detailliertes Konzept mit konkreten Zahlen und mit kon-
kreten Forderungen bezüglich der Ausgaben- und der
Einnahmeseite vorgelegt. Wenn wir Ihren Haushaltsent-
wurf in der nächsten Woche vorliegen haben, werden wir
im Haushaltsverfahren wieder ein konkretes Konzept
vorlegen und belegen, wie eine seriöse grüne Haushalts-
politik aussieht.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das war ein
Widerspruch in sich!)
Wichtig ist, glaube ich, auf zwei Punkte einzugehen:
auf die ökologische und die soziale Seite dieses unaus-
geglichenen Pakets. Unsere Gesellschaft driftet immer
weiter auseinander. Mittlerweile besitzen die obersten
10 Prozent 60 Prozent des Vermögens in Deutschland.
Die neueste Studie des DIW hat noch einmal gezeigt,
dass die Reichen in Deutschland reicher werden, die Ar-
men ärmer und die Mittelschicht schrumpft. Deswegen
müssen nicht nur einzelne Maßnahmen im Sparpaket so-
zial gerecht sein, sondern es muss insgesamt einen Bei-
trag dazu leisten, dass die soziale Gerechtigkeit in
Deutschland wieder größer und die Ungleichheit abge-
baut wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Doch mit diesem sogenannten Sparpaket greifen Sie vor
allen Dingen den Ärmsten in die Tasche, statt Wohlha-
bende an der Konsolidierung der Gesellschaft zu beteili-
gen.
Ja, wir brauchen auch Gerechtigkeit auf der Einnah-
meseite. Ich wusste, dass es in der FDP – gerade bei
Minister Brüderle, bei Otto Fricke oder Florian Toncar –
ein ideologisches Dogma ist, dass man keine Steuern er-
höhen will. Ich war sehr erstaunt, dass es auch in der
FDP schon Stimmen gibt – ich teile ausdrücklich die
Meinung der Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger –,
dass Steuerpolitik auch Umverteilung heißt, dass Steuern
dazu da sind, zu steuern und Geld umzuschichten. Starke
sollten stärker belastet werden, und Schwache sollten
entlastet werden.
(Otto Fricke [FDP]: Ist das heute nicht der
Fall?)
Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und höhere Ein-
nahmen aus der Erbschaftsteuer sind ein richtiger Weg.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Erb-
schaftsteuer geht an die Länder!)
Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine
Finanztransaktionsteuer, weil den Menschen nicht zu er-
klären ist, warum die Ärmsten die Folgen der Krise be-
zahlen sollen und nicht die Banken und die Vermögen-
den die Lasten der Wirtschafts- und Finanzkrise tragen.
Das ist ein wichtiger Punkt.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Kindler, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Fricke?
Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ja, gerne.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Otto Fricke (FDP):
Herr Kollege Kindler, ich akzeptiere, dass das die
Vorstellung Ihrer Partei ist. Aber wenn Sie sagen, dass
Sie das konkret berechnet haben, dann können Sie uns
doch jetzt hier sagen: Auf wie viel soll die Erbschaft-
steuer in etwa erhöht werden? Auf wie viel soll die Ver-
mögensteuer erhöht werden? Wie hoch soll eine Rei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5293
Otto Fricke
(A) (C)
(D)(B)
chensteuer angesetzt werden? Können Sie uns sagen,
wie viel das Ihrer Meinung nach ungefähr sein soll?
(Joachim Poß [SPD]: Erbschaftsteuer ist eine
Ländersteuer!)
Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ja, das kann ich Ihnen sagen. Wir wollen vor allen
Dingen eine Vermögensabgabe einführen, um die Belas-
tungen
(Otto Fricke [FDP]: Wie viel?)
– ja, ich komme darauf –, die durch die Krise entstanden
sind, einzudämmen und die Verschuldung abzutragen.
Dadurch würden die großen Vermögen pro Jahr ungefähr
10 Milliarden Euro dazu beitragen. Wir wollen den Spit-
zensteuersatz auf 45 Prozent anheben; das macht 2 bis
3 Milliarden Euro aus. Wir wollen auch die Einnahmen
durch die Erbschaftsteuer von 4 auf 8 Milliarden Euro
verdoppeln. Das ist auch deshalb wichtig, weil die gro-
ßen Vermögen in den letzten Jahren stark gewachsen
sind und auch sie einen Beitrag dazu leisten müssen,
dass wir die Haushalte gerecht konsolidieren. Darum
geht es.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen,
durch den die ökologische Verschuldung vergrößert
wird. In den Wortbeiträgen gibt es einige richtige An-
sätze. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass das nur
Greenwashing ist, um Ihre atomfreundliche und antiöko-
logische Politik zu verkaufen.
Ich komme jetzt zu dem Punkt ökologisch schädliche
Subventionen. Das Umweltbundesamt hat kürzlich die
Zahlen erneuert. Wir haben ökologisch schädliche Sub-
ventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro, durch die wir
Klimazerstörung, Umweltzerstörung und den Verlust der
biologischen Vielfalt finanzieren. Das muss abgeschafft
werden. Unter Rot-Grün, um auf die Frage von Herrn
Toncar zurückzukommen, haben wir eine sehr mutige
ökologische Steuerreform durchgeführt, die dazu beige-
tragen hat, einen ökologisch-ökonomischen Umbau un-
serer Gesellschaft voranzutreiben. Wir haben dabei sehr
große Erfolge erzielt.
Dabei haben wir in Verhandlungen mit der Wirtschaft
auch Ausnahmen vereinbart. Wir haben jetzt erkannt,
dass diese kontraproduktiv sind. Deswegen wollen wir
sie abbauen. Wir wollten aber auch andere Subventionen
abbauen. Das ist am CDU/CSU-FDP-geführten Bundes-
rat gescheitert. Wir wollten unter Rot-Grün die Eigen-
heimzulage abschaffen und die Besteuerung von Kerosin
einführen. Das hat leider nicht funktioniert. Die CDU/
CSU hat dann zum Glück unter der Großen Koalition die
Eigenheimzulage abgeschafft. Ich fordere Sie auf: Kni-
cken Sie bitte auch bei der Nichtbesteuerung von Kero-
sin im Flugverkehr ein und schaffen Sie diese endlich
ab!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs-
fraktionen, mischen Sie sich ein! Nutzen Sie das Recht
des Parlaments im Haushaltsverfahren, um Ihre Arbeit
zu machen und das einseitig unsoziale Sparpaket in ein
gerechtes Sanierungspaket umzuwandeln! Sparen Sie
bei den Subventionen! Kürzen Sie Steuervergünstigun-
gen für Gutverdienende! Erhöhen Sie die Einnahmen
und investieren Sie in die Zukunft! Dann klappt es viel-
leicht auch wieder mit den 5 Prozent, liebe FDP.
Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Alois
Karl das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Alois Karl (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns
heute mit dem Antrag der Fraktion der Grünen „Haus-
halt zukunftsfest machen – Nachhaltig sanieren – Ökolo-
gisch und sozial investieren“ befassen, dann erkennt
man viele alte Hüte, lieber Herr Kindler. Sie wollen Ihr
Heil in der Steuererhöhung suchen. Einseitig sollen die
Einkommen höher besteuert und die Vermögen besteuert
werden. Auch die Erbschaftsteuer soll erhöht werden.
Das Ehegattensplitting soll abgeschafft werden.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Kaum ein Segment wird von der Steuererhöhungsorgie
ausgenommen.
Man könnte fast sagen: Die grünen Steuerwürgeengel
gehen um.
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die staatliche Eingriffspolitik führt zu mehr staatlicher
Bevormundung und weniger Freiheit. Der Staat soll kas-
sieren, und es soll nach sozialistischem Muster umver-
teilt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Beifall bei der SPD und der LINKEN – Wider-
spruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist eine rückwärtsgewandte, altmodische Politik.
Wir stellen ihr unsere eigenen klaren Vorstellungen ge-
genüber. Unsere Politik verzichtet auf direkte Steuerer-
höhungen. Wir legen den Schwerpunkt auf die Konsoli-
dierung und auf den Abbau von Subventionen. Wir
suchen eine gerechte Verteilung der Lasten. Darüber
streiten wir.
Meine Damen und Herren, wenn die Wirtschaft um
etwa 5 Milliarden Euro und der soziale Bereich um
5 Milliarden Euro zusätzlich belastet werden – von letz-
terem müssen wir aber die 2 Milliarden Euro abziehen,
die zusätzlich als Zuschüsse zur GKV vorgesehen sind –
und im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen
5294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Alois Karl
(A) (C)
(D)(B)
3 Milliarden Euro eingespart werden, dann ist in der Tat
eine soziale Ausgewogenheit gegeben.
Die Menschen draußen im Lande wollen Verschiede-
nes: Sie wollen solide Staatsfinanzen. Sie wollen einen
ausgeglichenen Haushalt, und sie wollen, dass die Wäh-
rung stabil ist. Darauf haben wir uns verständigt, und das
sind Grundpfeiler unserer Politik in dieser Koalition.
Wir wissen, dass wir uns auf einen steinigen Weg ge-
macht haben. Aber wir wissen auch – das ist bereits ge-
sagt worden –, dass in diesem Land über 40 Jahre lang
mehr Geld ausgegeben als eingenommen worden ist.
Seit 1969 beschreiten wir einen Weg in den sogenannten
Wohlstandsstaat. Es ist nicht länger zu verantworten,
dass wir etwa 20 Prozent unseres Bundeshaushaltes für
den Schuldendienst ausgeben. Es ist geradezu unglaub-
lich, dass der Bundesfinanzminister jeden Tag 100 Mil-
lionen Euro für Zinszahlungen aufgrund der Schulden-
politik in diesem Lande in den letzten 40 Jahren ausgibt.
Ich kann uns nicht zumuten und ich kann auch nicht
draußen vertreten, dass wir unseren Wohlstand heute
weiterhin dadurch sichern, dass wir Schulden für unsere
Kinder und Kindeskinder machen, die diese dann in Jah-
ren und Jahrzehnten abbauen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was könnten wir heute mit dem Geld, das zur Schulden-
tilgung verwendet wird, an Zukunftsinvestitionen täti-
gen? Wir könnten Steuern problemlos senken. In der Bil-
dungs- und in der Forschungsarbeit könnten wir
geradezu alle Wünsche erfüllen, wenn wir nicht diese
Schuldendienste zu leisten hätten.
(Zuruf der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])
Ich komme aus der Kommunalpolitik, Frau
Hagedorn. Ich hatte dort die Gelegenheit, Haushalte zu
führen, die ausgeglichen waren. Es gibt einem eine un-
glaubliche Freiheit, wenn man 99,7 Prozent der Einnah-
men für anderes als für Schuldendienst verwenden kann.
Ich möchte erleben, dass in diesem Land auch die Fi-
nanzminister und die Parlamente wieder die Freiheit be-
kommen, mit den Einnahmen umzugehen, Investitionen
zu tätigen und nicht die Schulden zu tilgen, die vor Jah-
ren und Jahrzehnten gemacht worden sind, um den
Wohlstand damals und den Wohlstand heute mit Geld zu
finanzieren, das wir nicht haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Unsere Politik ist eine Politik, die auf die Zukunft un-
serer jungen Leute gerichtet ist. Ich bin der Bundesregie-
rung und auch unseren Koalitionsfraktionen dankbar,
dass wir diesen Weg, der nicht einfach sein wird – ich
habe es gesagt –, beschreiten wollen.
Haushaltskonsolidierung schränkt die Menschen
und die Politik nicht ein. Im Gegenteil: Sie gibt uns Per-
spektiven für die nächsten Jahre, und sie gibt uns Frei-
heit zurück. Wir sind auf einem guten Weg. Steinbrück
hat vor einem Jahr einen Haushaltsentwurf mit 86 Mil-
liarden Euro Neuverschuldung vorgelegt. Schäuble hat
im Herbst im zweiten Haushaltsentwurf die Neuver-
schuldung auf 85 Milliarden Euro festgelegt. Tatsächlich
wird dieses Haushaltsjahr mit einer Neuverschuldung
von 65 Milliarden Euro abgeschlossen. Das ist viel, im-
mer noch zu viel; aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Diesen richtigen Weg werden wir fortsetzen, auch wenn
wir dabei von der Opposition keine Unterstützung erhal-
ten werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Herr Kahrs hat vorhin gesagt, acht Monate lang habe
er hier gar nichts erlebt. Ich sage Ihnen eines, lieber Herr
Kahrs: Wir haben in den letzten acht Monaten erlebt,
dass wir hervorragend aus dieser Wirtschaftskrise he-
rausgekommen sind.
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Aber nicht we-
gen euch!)
Wir haben erlebt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze in
einer Weise angewachsen ist, wie wir es eigentlich gar
nicht erwartet hätten.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das glaubt doch
keiner!)
Wir haben erlebt, dass die Arbeitslosenzahlen zurückge-
gangen sind, in einer Weise, wie wir uns das erwünscht
und erträumt hätten, wie wir es aber nicht erwarten
konnten. Wir haben heuer, wahrscheinlich im Herbst,
weniger als 3 Millionen Arbeitslose.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Wegen der guten
Arbeitsmarktpolitik der Großen Koalition! Ihr
schafft das gerade alles ab!)
Unter Schröder und Joschka Fischer, liebe Frau
Hagedorn, gab es mehr als 5 Millionen Arbeitslose.
Das war die Schlussbilanz Ihrer Regierungszeit. Hätten
Sie damals unsere Erfolge gehabt, hätten Sie Dankpro-
zessionen veranstaltet, aber Sie hätten nicht in der Weise
gesprochen, wie Sie es heute tun. Das, was ich angespro-
chen habe, ist – ich möchte das in Erinnerung rufen, Herr
Kahrs – eine Entwicklung der letzten acht Monate.
Meine Damen und Herren, auch der Bundesverkehrs-
minister investiert. Wir werden seine Mittel für Investi-
tionen in dieser kritischen Zeit nicht streichen. Wir
investieren in unsere Kinder. Wir investieren in die Bil-
dung und in die Forschung. Wir werden hierfür 12 Mil-
liarden Euro mehr ausgeben.
Es ist vieles gesagt worden über die Konsolidierungs-
maßnahmen, über die Brennelementesteuer genauso wie
über die Vergünstigung bei der Energiesteuer, die zu-
rückgenommen wird. Der Sozialhaushalt hat am Bun-
deshaushalt einen Anteil von 54 Prozent; auch das ist ge-
sagt worden.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Inklusive Rente!)
Vor 20 Jahren, bei der deutschen Wiedervereinigung, be-
trug der Haushaltsansatz für Soziales 34 Prozent. In
solch einer Situation zu sagen, dass an den Ärmsten ge-
spart wird – so wird es bei den Grünen gemacht –, ist ein
völlig falscher Ansatz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5295
Alois Karl
(A) (C)
(D)(B)
(Bettina Hagedorn [SPD]: An der Arbeits-
marktpolitik! Das ist ein Fakt!)
Ich sage Ihnen eines: Wer eine verkehrte Bestandsauf-
nahme vornimmt, der kann auch nicht die richtigen
Schlussfolgerungen ziehen. Wer so an die Haushaltskon-
solidierung herangeht, hat keine Chance. Wir werden die
Haushaltskonsolidierung in der von uns beschriebenen
Weise fortsetzen. Ich glaube, wir sind auf einem guten
Weg. Wir werden uns davon auch durch den Antrag der
Grünen in gar keiner Weise abbringen lassen.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Am nächsten Mitt-
woch wird das Kabinett den Entwurf des Bundeshaus-
halts verabschieden. Als ich den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen zum Haushalt gesehen habe, habe ich mich
zunächst einmal sehr gefreut; denn es ist eine Alterna-
tive, mit der man sich auseinandersetzen kann. Im Rah-
men der parlamentarischen Beratungen im Herbst wer-
den wir uns damit intensiv im Haushaltsausschuss
beschäftigen.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte – ich meine
nicht nur diesen Tagesordnungspunkt, sondern auch die
Debatte über die wirtschaftliche Entwicklung beim vor-
herigen Tagesordnungspunkt – möchte ich nicht alle Ar-
gumente, die schon ausgetauscht worden sind, wiederho-
len. Ich möchte mich auf drei Punkte konzentrieren:
erstens auf die Generationengerechtigkeit, zweitens auf
die soziale Gerechtigkeit, drittens auf die Position, die
Sie, Herr Poß, und auch andere im Hinblick auf die Be-
deutung der Bundesrepublik Deutschland und die Rolle
von Frau Merkel in Europa und beim Gipfel der G 20 in
Toronto vertreten.
Bei den Sparbemühungen, bei der Aufstellung des
Haushalts und der Benennung der Eckwerte sowie bei
den Debatten über das Verhalten der Bundesregierung
gegenüber Griechenland und auf dem Gipfel in Toronto
bildete das starke Bewusstsein, dass wir in der Bundes-
republik Deutschland eine veränderte demografische
Entwicklung haben, den Ausgangspunkt. Dieser Ge-
danke ist Triebfeder; er steht allem Handeln voran.
Frau Andreae von den Grünen hat vorhin in ihrer
Rede gesagt, dass das Wort „Generationengerechtigkeit“
eines der Worte sei, die sie in den letzten Monaten ver-
misst habe. Für uns, die christlich-liberale Koalition, ist
die Generationengerechtigkeit die entscheidende Frage
in der Haushaltspolitik. Bei uns geht es eben nicht um
Verteilungsgerechtigkeit, sondern um echte Chancenge-
rechtigkeit, damit auch zukünftige Generationen die
Möglichkeiten haben, ihre politischen Schwerpunkte zu
setzen und ihre politischen Entscheidungen zu treffen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wir wollen nicht, dass unseren Kindern und Enkelkin-
dern die Möglichkeit genommen wird, die Herausforde-
rungen ihrer jeweiligen Zeit zu bestehen. Deshalb ist der
Aspekt der Generationengerechtigkeit bei uns der Maß-
stab allen Handelns. Da haben Frau Andreae und viele
andere wohl nicht richtig zugehört.
Zum Zweiten möchte ich auf das Thema soziale Ge-
rechtigkeit kommen. Ich möchte drei Personen anfüh-
ren, bei denen man sich vielleicht erst wundert. Der Vor-
sitzende der SPD, Sigmar Gabriel – Herr Poß ist leider
nicht mehr da; vielleicht trägt es Herr Schneider an ihn
weiter –, hat im April des Jahres 2010 den Gustav-
Heinemann-Preis verliehen. Er hat zusammen mit dem
stellvertretenden Vorsitzenden der SPD sehr lobende
Worte für einen Sozialdemokraten gefunden. Sie haben
gesagt, dass die Berliner SPD und die Bundes-SPD auf
diesen Sozialdemokraten sehr stolz sein können, weil er
auch für die eigenen Leute unbequeme Wahrheiten auf
den Punkt bringe und sie ausspreche. Ich möchte aus ei-
nem Artikel über diesen Preisträger zitieren:
Dennoch stieß das Sparpaket in Berlin nicht nur auf
harsche Kritik. Neuköllns Bezirksbürgermeister,
Heinz Buschkowsky (SPD),
– der Preisträger –
hält die Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IV-
Empfänger für richtig. Damit werde die Grund-
sicherung nicht angetastet. Das Sozialsystem stoße
an seine Grenzen, weil immer weniger Menschen
einzahlten …
Weil immer weniger Menschen einzahlten, müsse es
auch eine Gerechtigkeit für andere geben. Weiter heißt
es in dem Artikel: Wer hier spare, mache sich immer un-
beliebt. Das Sparen sei aber notwendig. – Ich teile die
Aussagen Ihres Preisträgers.
(Beifall bei der CDU/CSU – Petra Merkel
[Berlin] [SPD]: Die SPD teilt das nicht! Es ist
so! Wir haben sehr unterschiedliche Auffas-
sungen!)
Der dritte Punkt umfasst den Gipfel in Toronto und
die Position der Bundesregierung mit Blick auf Grie-
chenland. Wir haben vorhin gehört, dass unsere Bundes-
kanzlerin noch in der letzten Wahlperiode – so Ihre Aus-
sagen – über großes Renommee in Europa verfügt habe.
Wir haben auch gehört, dass sie dieses Renommee in der
Debatte über Hilfen für Griechenland verspielt habe.
(Zurufe von der SPD: Ja!)
Wir haben von Ihnen gehört, dass die Bundeskanzlerin
mit ihrer Position isoliert gewesen sei und die Bundesre-
gierung nicht adäquat vertreten habe.
5296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Stefanie Vogelsang
(A) (C)
(D)(B)
(Elke Ferner [SPD]: Genau! – Carsten Schneider
[Erfurt] [SPD]: So ist es!)
Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir als christlich-
liberale Koalition sind sehr stolz auf die Positionen und
auf das Durchhalten der Bundesregierung.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Carsten
Schneider [Erfurt] [SPD]: Das hat man gestern
gesehen!)
Bei der Griechenlanddebatte haben wir gemerkt, dass
es richtig und wichtig war, das Augenmerk auf Haus-
haltskonsolidierung zu legen. Zu der Aussage, dass wir
mit unserer Position alleine dastanden: Wir konnten fest-
stellen, dass wir für unsere Position nicht nur in ganz Eu-
ropa, sondern auch auf dem G-20-Gipfel in Toronto eine
große Mehrheit bekommen haben und dass auch in Zu-
kunft die Haushaltskonsolidierung bei den G 20 ein we-
sentlicher Maßstab ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat aus
dem Tagesspiegel beenden, der am 28. Juni schrieb: Es
ist
Merkels Verdienst
– also das Verdienst dieser Bundesregierung –,
dass die G 20 bei den Staatsfinanzen erstmals eine
gemeinsame Sprache gefunden haben …
… in Toronto hat sie eine Klarheit gezeigt, die über
den Tag hinausweist.
Ich danke Ihnen für Ihren Antrag. Ich danke Ihnen für
die Arbeit, die Sie hineingesteckt haben. Ich freue mich
auf eine gute Beratung der einzelnen Punkte im Haus-
haltsausschuss und auf einen abschließenden Meinungs-
austausch im November oder im Dezember.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Johannes Kahrs [SPD])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2327 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 j sowie
Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än-
derungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum
Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem König-
reich Belgien zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerungen und zur Regelung verschiedener
anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen ein-
schließlich der Gewerbesteuer und der Grund-
steuern sowie des dazugehörigen Schlusspro-
tokolls in der Fassung des Zusatzabkommens
vom 5. November 2002
– Drucksache 17/2255 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 17. Februar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Arabi-
schen Republik Syrien zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen
– Drucksache 17/2251 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 23. Februar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Malaysia
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und
zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
– Drucksache 17/2252 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ab-
kommen vom 25. Januar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
– Drucksache 17/2253 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 30. März 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem
Vereinigten Königreich Großbritannien und
Nordirland zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und zur Verhinderung der Steuer-
verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
– Drucksache 17/2254 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5297
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) (C)
(D)(B)
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen
– Drucksache 17/2331 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und
Sanitäreinrichtungen: Versorgung weltweit
verbessern
– Drucksache 17/2332 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil
(Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Arbeitsmarktpolitik erfolgreich umsetzen und
ausbauen
– Drucksache 17/2321 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unabhängige Patientenberatung in Regelange-
bot überführen
– Drucksache 17/2322 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haltung von Wildtieren im Zirkus grundsätz-
lich verbieten
– Drucksache 17/2146 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Bundestag bei der Reform der
Umsatzsteuer beteiligen
– Drucksache 17/2333 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden
– Drucksache 17/1580 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Dabei handelt es sich um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 n auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten
und Moratorium für die Privatisierung von
Bundeswäldern erlassen
– Drucksachen 17/796, 17/1823 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Petra Crone
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1823, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/796 abzuleh-
nen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Koali-
tionsfraktionen, dagegen die Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke, enthalten hat sich die Fraktion
der SPD.
5298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) (C)
(D)(B)
Tagesordnungspunkt 24 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug
einer Altersrente für Landwirte abschaffen
– Drucksachen 17/1203, 17/2266 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Heinz Paula
Dr. Edmund Peter Geisen
Alexander Süßmair
Cornelia Behm
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/2266, den Antrag auf Druck-
sache 17/1203 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Dafür
haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die
einbringende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPD und
Linke haben sich enthalten.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 104 zu Petitionen
– Drucksache 17/2151 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 105 zu Petitionen
– Drucksache 17/2152 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 106 zu Petitionen
– Drucksache 17/2153 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge-
stimmt haben CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen hat
die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 107 zu Petitionen
– Drucksache 17/2154 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 108 zu Petitionen
– Drucksache 17/2155 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 108 ist angenommen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und bei Zustimmung
der übrigen Fraktionen des Hauses.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 109 zu Petitionen
– Drucksache 17/2156 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt.
Die übrigen Fraktionen des Hauses haben sich dafür aus-
gesprochen.
Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 110 zu Petitionen
– Drucksache 17/2157 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge-
stimmt haben CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen
und SPD. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 111 zu Petitionen
– Drucksache 17/2158 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und
SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5299
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) (C)
(D)(B)
Tagesordnungspunkt 24 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 112 zu Petitionen
– Drucksache 17/2159 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. CDU/
CSU, FDP und SPD haben dafür gestimmt. Dagegen hat
niemand gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke haben sich enthalten.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nein, wir ha-
ben dagegen gestimmt! – Zuruf vom BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
– Entschuldigung! Beide haben dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 24 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 113 zu Petitionen
– Drucksache 17/2160 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür
haben gestimmt CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Die
Linke und die SPD. Enthalten hat sich niemand.
Tagesordnungspunkt 24 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 114 zu Petitionen
– Drucksache 17/2161 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür
haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen SPD
und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke hat sich enthal-
ten.
Tagesordnungspunkt 24 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 115 zu Petitionen
– Drucksache 17/2162 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür
haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die
Oppositionsfraktionen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der Kabinettssit-
zung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Kranken-
versicherung.
Das Wort für den einleitenden Bericht von fünf Minu-
ten hat der Bundesminister für Gesundheit, Herr
Dr. Philipp Rösler.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Wie schon eben erwähnt, hat das
Bundeskabinett am 29. Juni einen Gesetzentwurf zur
Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen
Krankenversicherung beschlossen. Mit dem Gesetz ver-
folgen wir drei wesentliche Ziele: Das erste Ziel ist die
Versorgung der Patientinnen und Patienten mit den inno-
vativsten, mit den bestmöglichen Medikamenten auch in
Zukunft. Das zweite Ziel ist es, die Arzneimittelkosten
im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung im
Griff zu behalten. Drittes Ziel ist die Sicherung von Ar-
beitsplätzen im Industriebereich in Deutschland.
Das erste Ziel erreichen wir dadurch, dass auch im
ersten Jahr nach Markteinführung nach wie vor die volle
und sofortige Erstattungsfähigkeit von neuen Medika-
menten gewährleistet bleibt. Damit können wir sicher-
stellen, dass Patientinnen und Patienten im Krankheits-
fall sofort den Zugang zu diesen neuen Medikamenten
erhalten können. Dennoch ist uns klar, dass es in Bezug
auf die wachsenden Arzneimittelkosten im deutschen
Gesundheitswesen bisher immer ein Problem gewesen
ist, dass die Industrie vollkommen alleine die Preise fest-
legen konnte und dass durch die alleinige Festlegung der
Preise und durch die Erstattungsfähigkeit im Prinzip je-
des Medikament zu jedem Preis – mit den entsprechen-
den Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung –
erstattet werden musste. Diese Möglichkeit gibt es künf-
tig, wenn überhaupt, nur für das erste Jahr.
Wir erwarten gleichzeitig, dass mit der Markteinfüh-
rung ein sogenanntes Dossier hinsichtlich des Nutzens
und des Zusatznutzens vorgelegt werden muss. Die Da-
ten hierfür können im Rahmen der Zulassungsstudien er-
bracht werden. Sie werden als Dossier von der Industrie
vorgelegt, jedoch nicht bewertet. Die Bewertung soll der
Gemeinsame Bundesausschuss übernehmen, gegebenen-
falls unter Hinzuziehung des Institutes für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Danach wird
festgelegt, welchen Nutzen oder Zusatznutzen dieses
Medikament hat.
Hat es keinen Zusatznutzen im Hinblick auf ver-
gleichbare Medikamente, wird es automatisch in eine
Festbetragsgruppe aufgenommen bzw. ist dann nur zu
entsprechend vergleichbaren Therapiekosten bei glei-
chen Krankheiten erstattungsfähig. Gibt es einen Zusatz-
nutzen, soll dieses Dossier als Grundlage für Vertrags-
verhandlungen dienen – das ist neu und erstmalig so –,
und zwar zwischen der Industrie auf der einen Seite und
dem Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkas-
sen auf der anderen Seite, mit dem Ziel, zu Rabatten für
die gesetzliche Krankenversicherung zu kommen. Der
Listenpreis bleibt also gleich, aber für die gesetzliche
Krankenversicherung soll es künftig Rabatterleichterun-
gen und damit auch Kostensenkungen geben.
Wir haben erreicht, dass der Preis nicht mehr alleine
von der Pharmaindustrie festgelegt werden kann, son-
5300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) (C)
(D)(B)
dern sich marktwirtschaftlich bildet durch Vertragsver-
handlungen auf Grundlage einer wissenschaftlichen Ba-
sis, nämlich des Zusatzdossiers. Damit können wir
sicherstellen, dass die Kosten, die auch im Arzneimittel-
bereich dramatisch angestiegen sind, künftig besser kon-
trolliert werden können, als es bisher der Fall ist. Wir
können gleichzeitig sicherstellen – das habe ich eingangs
gesagt –, dass die Patientinnen und Patienten auch wei-
terhin mit guten und hervorragenden Medikamenten ver-
sorgt werden können.
Das dritte Ziel wird ebenfalls erreicht, nämlich die
Sicherung von Arbeitsplätzen gerade in mittelständi-
schen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie in
Deutschland. Im Rahmen der Rabattverträge sorgen wir
auch dafür, dass künftig das Wettbewerbs- und das Kar-
tellrecht Einfluss haben. Es soll nicht mehr möglich sein,
dass eine einzelne große Kasse oder gar der Spitzen-
verband Bund der gesetzlichen Krankenkassen alleine
verhandelt und ein kleines oder mittelständisches Unter-
nehmen dann keine Möglichkeit hat, auf gleicher
Augenhöhe im Rahmen eines fairen Wettbewerbs mitzu-
halten. Die Anwendung des Wettbewerbs- und des Kar-
tellrechts auch in diesem Bereich ist eine mittelstands-
freundliche Lösung, wie sie sich die Bundesregierung
auf die Fahnen geschrieben hat.
Ebenfalls Teil des Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes
ist die Neuregelung und Festigung der Unabhängigen
Patientenberatung. Hier gibt es bisher einen Modellver-
such, der zum 31. Dezember 2010 ausläuft. Es liegt in
unserer Verantwortung – diese Aussage findet sich auch
im Koalitionsvertrag –, die Unabhängige Patientenbera-
tung auf sichere Beine zu stellen und eine dauerhafte Lö-
sung zu finden. Auch dies ist Teil des Entwurfs eines
Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes.
Darüber hinaus haben wir uns vorgenommen, im Inte-
resse aller Beteiligten Deregulierungen vorzunehmen.
Es gibt kaum einen komplexeren – um nicht zu sagen:
komplizierteren – Bereich als das deutsche Arzneimittel-
recht. Hier wollen wir durch Deregulierung weitere Ver-
besserungen erzielen, sodass die Leistungserbringer auf
der einen Seite und die Patientinnen und Patienten auf
der anderen Seite einen Nutzen von diesem Gesetz ha-
ben. Gleiches gilt auch für die Kostenträger. In Zukunft
ist nämlich eine bessere Kostenkontrolle möglich, als es
bisher der Fall ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vielen Dank. – Herr Lauterbach zur ersten Nachfrage,
bitte.
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Vielen Dank. – Das Problem in Deutschland ist, dass
die Listenpreise für innovative Arzneimittel besonders
hoch sind. Sie sind höher als in den meisten anderen eu-
ropäischen Ländern. Sie haben gerade eloquent darge-
stellt, dass Sie daran nichts ändern wollen, dass die Lis-
tenpreise also unverändert bleiben sollen. Ich verstehe,
ehrlich gesagt, nicht, weshalb der größte Abnehmer die-
ser Arzneimittel in Europa die höchsten Listenpreise
zahlen soll. Das ist so ähnlich, als wenn der größte Ab-
nehmer von Fachbildschirmen – als Beispiel nenne ich
den Media Markt – den höchsten Listenpreis zahlen soll.
Wieso senken Sie nicht die Listenpreise? Das wäre doch
viel einfacher, als einen Rabatt einführen, den Sie mögli-
cherweise gar nicht bekommen.
Es macht keinen Sinn, dass der größte Abnehmer
beim Lieferanten den höchsten Listenpreis zahlt. Der
höchste Listenpreis muss von demjenigen bezahlt wer-
den, der die geringste Menge abnimmt. Der hohe Listen-
preis in Deutschland ist das Problem. Die Listenpreise
könnten in Erwartung des Rabattes sogar steigen, sodass
das Problem, nämlich der zu hohe Listenpreis, durch Ihr
Gesetz noch verschärft würde. Denn in Erwartung des
Rabattes – unabhängig davon, ob er je gewährt wird oder
nicht – könnte es sein, dass der Hersteller den Listen-
preis noch höher ansetzt, sodass wir in Zukunft nicht nur
den höchsten Listenpreis, sondern einen noch höheren
Listenpreis als vorher zahlen müssen. Der überhöhte
Preis könnte also weiter erhöht werden. Ich verstehe,
ehrlich gesagt, den gesamten Ansatz nicht.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das merkt man! Das
ist das Problem! – Stefan Müller [Erlangen]
[CDU/CSU]: Das, was Sie da erzählt haben,
ist auch nicht zu verstehen!)
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Ich beantworte Ihre Frage so, wie ich sie verstanden
habe.
Ich will deutlich machen: In der Tat bleibt der Listen-
preis erhalten. Unser Auftrag ist, etwas für die gesetzlich
Versicherten, also für die gesetzliche Krankenversiche-
rung, zu erreichen. Das tun wir, indem wir dafür sorgen,
dass nicht der volle Listenpreis gezahlt werden muss.
Der größte Abnehmer wird von diesem Listenpreis also
gar nicht in Mitleidenschaft gezogen, sondern er wird
durch die Rabatte finanziell entlastet. Ich sage es einmal
so: Sie bekommen den Rabatt ja nicht als Tablette, sozu-
sagen als Naturalienrabatt, in die Hand gedrückt. Das ist
der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie kritisieren ständig, dass
möglicherweise die Gefahr besteht, dass die böse Indus-
trie im ersten Jahr mit exorbitanten Listenpreisen in den
Markt geht, in der Hoffnung, dass das erste Jahr so er-
tragreich ist, dass die weiteren 19 Jahre des Patentschut-
zes nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen. Die gute
Nachricht ist: Da die Listenpreise auch mit Blick auf an-
dere Staaten gelten – die Listenpreise gelten jeweils für
ein Produkt –, können wir durch die Reimportquote – ich
glaube, diese ist zu Ihrer Zeit mit ausgebaut worden – si-
cherstellen, dass die Listenpreise nicht exorbitant stei-
gen. Sonst gäbe es einen deutlichen Unterschied zwi-
schen den deutschen Listenpreisen – Sie selber haben zu
Recht gesagt, dass die Medikamente nicht allein für den
deutschen Markt produziert werden – und den Listen-
preisen in anderen europäischen Staaten.
Wie Sie wissen, gibt es die Vorgabe, dass 5 Prozent
der abgegebenen Arzneimittel in Deutschland aus Re-
importen stammen müssen, sofern sie 15 Prozent oder
15 Euro Preisdifferenz zu einem ausländischen Produkt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5301
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) (C)
(D)(B)
oder einem im Ausland verkauften Produkt aufweisen.
Wenn die böse Industrie die Listenpreise in Deutschland
exorbitant in die Höhe treiben würde, dann hätte man
sehr schnell den Zustand, dass der Preis in Deutschland
eine deutlich höhere Differenz als 15 Prozent oder
15 Euro aufweisen würde. Das würde dazu führen, dass
sehr viele Medikamente aus dem Ausland importiert
würden. Dann hätte die Industrie mit faulen Eiern gehan-
delt. Deswegen ist das, was Sie befürchten, aus unserer
Sicht nicht zu erwarten.
Im Übrigen würde sich nach dem ersten Jahr, nach-
dem Verhandlungen oder sogar ein Schiedsstellenspruch
zum Tragen gekommen wären, deutlich zeigen, dass der
erste Preis überhöht gewesen wäre. Es dürfen sowieso
nur Medikamente im Rahmen der Wirtschaftlichkeit ver-
schrieben werden. Die von Ihnen geschilderte Gefahr se-
hen wir also nicht. Eine Entlastung der deutschen Ver-
sicherten erreichen wir eben durch Rabatte. Deswegen
haben wir künftig in diesem Bereich Rabattverträge. Das
hat bisher noch keine andere Regierung hinbekommen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Nächste Fragestellerin ist Frau Aschenberg-Dugnus
für die FDP.
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Herr Minister, in den Eckpunkten zur Umsetzung des
Teils des Koalitionsvertrages zur Arzneimittelversor-
gung wurden auch Maßnahmen zur Deregulierung ver-
einbart. Können Sie bitte kurz darlegen, wie das im Ge-
setzentwurf umgesetzt worden ist?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Es gibt zwei konkrete Maßnahmen, die im Gesetzent-
wurf enthalten sind. Die erste Maßnahme ist die Ab-
schaffung der Bonus-Malus-Regelung. Es gibt bisher
bestimmte Zielgrößen, die zwischen den Leistungser-
bringern auf der einen Seite und den Krankenkassen auf
der anderen Seite vereinbart werden. Wenn beispiels-
weise ein Arzt die Zielgrößen bei der Verschreibung
nicht erreicht, muss er eine Strafe zahlen. Man erhält
also einen Malus. Wenn man unter den Vorgaben bleibt,
erhält man einen Bonus. Das halten wir für überflüssig.
Ich glaube, diese Regelung ist auch nicht intensiv ange-
wendet worden. Es macht also Sinn, sie zu streichen.
Die zweite Maßnahme ist die Abschaffung der soge-
nannten Zweitmeinungsregelung. Hier gilt die Regel,
dass hoch innovative Medikamente nicht von jedem Arzt
verschrieben werden können, sondern nur von Ärzten
mit einer bestimmten Ausbildung, die in dem entspre-
chenden Bereich auch zum Tragen gekommen ist. Wenn
ein Allgemeinmediziner solche Medikamente verschrei-
ben will, muss er bislang zuerst die Zweitmeinung eines
Spezialisten einholen. Das halten wir für sehr bürokra-
tisch. Wir glauben, dass sich die Leistungserbringer in
diesen Bereich einbringen können.
Eine weitere sinnvolle Maßnahme betrifft die Verein-
fachung und Verschlankung von Therapiehinweisen und
-richtlinien im Rahmen des Gemeinsamen Bundesaus-
schusses. Wir können so sicherstellen, dass wir nicht nur
neue Instrumente im Rahmen der Vertragsverhandlung
auf den Weg bringen, sondern gleichzeitig auch zu einer
Deregulierung zum Beispiel durch Streichung der eben
genannten Vorschriften kommen.
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielen
Dank!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Bender.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Minister, Sie haben gesagt, dass die Hersteller
zwecks Bewertung des Nutzens bzw. des Zusatznutzens
neuer Medikamente ein Dossier, also Unterlagen, vorle-
gen sollen. Solche Dossiers müssen aber erst beim Inver-
kehrbringen des Arzneimittels vorliegen. Das heißt, zu
dem Zeitpunkt, zu dem ein Arzneimittel verordnungsfä-
hig ist, haben die Ärztinnen und Ärzte erst eine be-
schränkte Informationsbasis und wissen nichts über den
Nutzen oder den Zusatznutzen des betreffenden Medika-
ments. Warum schreiben Sie nicht eine Nutzenbewer-
tung parallel zum Zulassungsprozess vor, sodass sie zum
Zeitpunkt der Zulassung tatsächlich vorliegt? Warum
muss der Hersteller erst auf Verlangen des Gemeinsamen
Bundesausschusses die notwendigen Unterlagen beibrin-
gen?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass es in je-
dem Fall durch dieses Gesetz zu einer Verbesserung ge-
genüber dem heutigen Zustand kommt; denn bisher müs-
sen keinerlei Studien vorgelegt werden, weder nach drei
noch nach sechs Monaten oder nach zehn Jahren. Bisher
gibt es keine Verpflichtung, solche Nutzen- oder Zusatz-
nutzenstudien zu erstellen. Ich möchte zunächst festhal-
ten: Es war das erklärte Ziel dieser Koalition, dafür zu
sorgen, dass die Ärztinnen und Ärzte wissen, welche
Medikamente sie zu verordnen haben, und dass wir wis-
sen, was unsere Patientinnen und Patienten bekommen.
Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Selbstverständlich sollen bereits im
Rahmen der Phase-III-Studien – gerne auch vorher – die
entsprechenden Daten gesammelt werden, um diese
Dossiers – also Dossiers zur Anwendbarkeit, zu Neben-
wirkungen und ähnlichen Dingen – auf den Weg zu brin-
gen. Es soll darüber hinaus auch ein Konsultationsver-
fahren geben, sodass der Gemeinsame Bundesausschuss
schon vorher in Kontakt mit der Industrie treten kann
– und umgekehrt –, um deutlich zu machen, dass man
noch weitere zusätzliche Daten braucht, falls diese Re-
gelvorgaben nicht ausreichen. Dann ist es nur fair, dass
man die Industrie darüber aufklärt und sagt: Bei diesem
speziellen Medikament, bei dieser Indikation brauchen
wir noch mehr Daten als die üblichen Daten, die man im
Rahmen der Phase-III-Studien erbringen müsste.
5302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) (C)
(D)(B)
Auch hier stellen wir sicher, dass die Industrie recht-
zeitig weiß, welche Daten erbracht werden müssen, da-
mit die ersten drei Monate sinnvoll genutzt werden kön-
nen. Wir denken, dass es sinnvoll ist, der Industrie diese
Zeit zuzugestehen. Es ist kein Verlust, weil es in jedem
Fall nach wie vor eine Verbesserung zum heutigen Zu-
stand ist. Aber die Industrie hat dann die Möglichkeit,
zumindest in den ersten drei Monaten die klinischen Er-
fahrungen mit dem Medikament selbst zu sammeln. Das
ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen der sofortigen
Nutzbarkeit für Patientinnen und Patienten auf der einen
Seite und der Sicherheit und Effizienz durch Nutzen-
oder Zusatznutzenstudien auf der anderen Seite.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Vogler.
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, ich
möchte auf ein anderes Thema zu sprechen kommen,
und zwar auf die Unabhängige Patientenberatung, die
Sie an dieses Arzneimittel-Neuordnungsgesetz ange-
hängt haben. Es erschließt sich nicht unmittelbar, was
dieses Thema da eigentlich zu suchen hat.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Man kann es Ihnen
nicht recht machen!)
– Aber Herr Spahn!
Wie glauben Sie, sicherstellen zu können, dass die
Beratungstätigkeit der unabhängigen Patientenbera-
tungsstellen auch nach dem 1. Januar 2011 sichergestellt
werden kann, wo wir doch erst jetzt diesen Vorschlag auf
den Tisch bekommen? Dabei gibt es schon jetzt in den
Beratungsstellen die Situation, dass die Mietverträge
und Arbeitsverhältnisse in absehbarer Zeit auslaufen.
Erst wenn wir gegen Ende des Jahres dieses Arzneimit-
tel-Neuordnungsgesetz mit dem Anhang zur UPD verab-
schiedet haben werden und es in Kraft getreten ist,
können die Krankenkassen die notwendigen Ausschrei-
bungen vornehmen.
Mir ist eines immer noch nicht ganz klar: Herr Bahr
hat uns gesagt, es könne auch ohne gesetzliche Regelung
von den Krankenkassen gehandelt werden. Unsere Infor-
mationen sind, dass verschiedene Juristen das ganz an-
ders bewerten und sagen, es sei höchstkritisch, wenn die
Krankenkassen jetzt schon tätig würden und ohne ge-
setzliche Grundlage die Fortschreibung des jetzigen Mo-
dellversuchs vornähmen. Außerdem möchte ich Sie gern
fragen, welche Idee Sie verfolgen, um die privaten Kran-
kenversicherungen an den Kosten zu beteiligen; denn im
Gesetz haben Sie nur eine freiwillige Beteiligung vorge-
sehen.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Zunächst einmal freue ich mich; denn ich kann Ihren
Ausführungen entnehmen, dass Sie eine gewisse Zu-
stimmung für die Unabhängige Patientenberatung und
unseren Gesetzentwurf signalisieren. Das finde ich
schon einmal gut.
Warum ist dieser Teil mit drin? Weil wir – ich finde,
zu Recht – gesagt haben, dass wir für Patientinnen und
Patienten in Deutschland da sein wollen. Das heißt, wir
wollen diese gute Einrichtung auch weiter verlängern.
Ich finde nichts Schlimmes daran. Wenn Sie fragen, wa-
rum es in einem Gesetz zur Arzneimittel-Neuordnung
steht, kann ich nur darauf zurückkommen, was Sie in der
Folge ausgeführt haben: In der Tat drängt die Zeit. Zum
31. Dezember 2010 läuft die bisherige vorläufige Erpro-
bungsphase aus. Also muss man handeln, damit ab dem
1. Januar 2011 eine Unabhängige Patientenberatung in
Deutschland weiter existieren kann.
Wir bringen deswegen diesen Gesetzentwurf ein, da-
mit wir mit Ihnen gemeinsam darüber diskutieren kön-
nen und damit wir am Ende hoffentlich einen entspre-
chenden Gesetzentwurf beschließen können. Dann
haben die handelnden Akteure die Sicherheit, dass es
nach dem 1. Januar 2011 in der Form, wie im Gesetzent-
wurf beschrieben, weitergehen kann. Der Parlamentari-
sche Staatssekretär Daniel Bahr hat im Ausschuss ausge-
führt, dass es selbstverständlich möglich ist, die Verträge
auch befristet weiterzuführen, bis das Gesetzgebungs-
verfahren abgeschlossen ist, und wir dann – die Aus-
schreibungen sind im Gesetzentwurf enthalten – nach
den Ausschreibungen zu einer dauerhaften Einrichtung
der Unabhängigen Patientenberatung selbst kommen
können.
Im Rahmen der Unabhängigen Patientenberatung soll
es auch noch einen Beirat geben; denn die gesetzlichen
Krankenversicherungen, die diese finanzieren, sollen da-
rauf aus unserer Sicht keinen Einfluss haben. Das wird
dann im Einvernehmen mit dem Patientenbeauftragten
geschehen, bei dem ein zusätzlicher Beirat gebildet wird.
An diesem Beirat sollen gegebenenfalls auch die priva-
ten Krankenversicherungen beteiligt sein, aber nur dann,
wenn sie ebenfalls bereit sind, sich finanziell an der Un-
abhängigen Patientenberatung zu beteiligen. Wir werden
also selbstverständlich mit den Kollegen der privaten
Krankenversicherungen reden, weil ich glaube, dass
auch sie ein Interesse daran haben, dass ihre Versicher-
ten gut informiert sind.
Das ist unser Weg. So können wir sicherstellen, dass
die gute Einrichtung der Unabhängigen Patientenbera-
tung – die haben Sie in Ihrer Frage auch nicht kritisiert –
auch im nächsten Jahr erfolgreich fortbestehen kann.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Volkmer, bitte.
Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Herr Minister, die Bundesregierung plant eine Mehr-
kostenregelung hinsichtlich der Rabattarzneimittel, also
Mehrkosten für die Patienten, die sich für ein nicht ra-
battiertes Arzneimittel entscheiden. Wie wird eine sol-
che Regelung auf schon bestehende Rabattverträge und
auf noch abzuschließende Rabattverträge zwischen den
Krankenkassen und der pharmazeutischen Industrie wir-
ken? Halten Sie eine solche Mehrkostenregelung als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5303
Dr. Marlies Volkmer
(A) (C)
(D)(B)
Modell auch auf andere Leistungsbereiche – Stichwort:
Einstieg in die Kostenerstattung – für übertragbar?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Zunächst einmal soll die Mehrkostenregelung für sol-
che Medikamente gelten, die nicht Gegenstand eines Ra-
battvertrages mit der jeweiligen Krankenversicherung
sind. Das führt uns zu dem Problem, das die Patientin-
nen und Patienten schon heute haben. Nehmen wir an,
Sie sind eine chronisch kranke Patientin und gehen in die
Apotheke. Sie haben bisher immer ein bestimmtes Medi-
kament genutzt. Plötzlich sagt Ihnen der Apotheker: Es
tut mir leid, aber Sie können dieses Medikament nicht
mehr ohne eine entsprechende Zuzahlung bekommen
– momentan können Sie es sogar gar nicht bekommen,
auch wenn Sie eine Zuzahlung leisten wollen –, weil
Ihre Krankenkasse keinen Rabattvertrag mehr mit dem
Hersteller dieses Medikamentes hat. – Es bleibt Ihnen
dann nichts anderes übrig, als zu einem entsprechenden
Ausweichpräparat zu greifen, was medizinisch ohne
Probleme machbar ist.
Trotzdem sagen viele Patientinnen und Patienten zu
Recht, sie möchten bei ihrem Medikament bleiben, das
sie von der Wirkweise, von der Einnahme und vom Ein-
nahmezyklus her kennen. Sie bestehen in der Apotheke
dann häufig darauf, dass sie das Medikament, das sie
bisher genutzt haben und kennen, auch weiter erhalten
können. Bisher gibt es auch bei entsprechender Bereit-
schaft, den Differenzbetrag zuzuzahlen, keine Möglich-
keit, dieses Medikament zu erhalten. Sie müssen viel-
mehr das Rabattmedikament nehmen, für das ihre
Krankenkasse einen entsprechenden Rabattvertrag abge-
schlossen hat.
Wir halten das aus Sicht der Patientinnen und Patien-
ten für wenig akzeptabel. Im Gegenteil: Wir wollen hier
Wahlfreiheit erreichen. Wir wollen also die Möglichkeit
einführen, dass Sie als Patient in dieser Situation sagen
können: Auch wenn meine Krankenkasse keinen Rabatt-
vertrag mit diesem Hersteller hat, möchte ich mein altes
Medikament haben, und ich bin auch bereit, dafür, dass
ich mein altes Medikament weiter bekommen kann, ei-
nen entsprechenden Zuschlag zu bezahlen. – Dies ist die
Mehrkostenregelung. Wir haben sie nur für diesen spe-
ziellen Bereich im Gesetz vorgesehen. Ich glaube, das ist
eine vernünftige Lösung, die es den Patientinnen und Pa-
tienten künftig gestattet, auf ihr Medikament zurückgrei-
fen zu können.
Die Auswirkungen auf die Rabattverträge sehen wir
ganz gelassen, weil wir nicht davon ausgehen, dass jetzt
sehr viele Patientinnen und Patienten sagen: Wir möch-
ten weiter unser altes Medikament einnehmen und sind
bereit, mehr zuzuzahlen. – Manche lassen sich auch auf-
klären und davon überzeugen, dass, medizinisch gese-
hen, auch ein anderes Medikament eingenommen wer-
den kann. Für den Fall, dass sie trotzdem eine andere
Meinung haben – das soll es ja durchaus geben, und ich
finde, sie sollten dann eine entsprechende Wahlmöglich-
keit haben –, haben sie künftig eben mehr Wahlmöglich-
keiten, als das bisher der Fall war. Ich halte das für einen
guten Weg.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Lotter, bitte.
Dr. Erwin Lotter (FDP):
Herr Minister, Wettbewerb und Wahlfreiheit sind ja
wichtige Ziele für Liberale. Können Sie bitte noch ein-
mal erläutern, inwieweit diese Ziele in diesem Gesetz-
entwurf umgesetzt wurden?
(Elke Ferner [SPD]: Manchmal hilft wirklich
Lesen! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist aber eine inhaltsreiche
Frage!)
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Das war eine sehr inhaltsreiche Frage, weil mir da-
durch die Gelegenheit gegeben wird, noch einmal in be-
sonderer Weise auf die Qualitäten gerade dieses Gesetz-
entwurfes hinzuweisen.
An vielen Stellen im Gesetzentwurf finden wir die
Grundideen des fairen Wettbewerbs und der Wahlfreiheit
für Patientinnen und Patienten verwirklicht. Das fängt
beim Wettbewerb mittels der Preisgestaltung an. Dies ist
anders als bisher. Der Preis wird nicht mehr seitens der
Industrie festgelegt, weil sie ein Monopol hat, sondern
der Preis kann sich im Rahmen von Vertragsverhandlun-
gen am Markt bilden. Das ist der wesentliche Kern die-
ses Gesetzentwurfes, was im Ergebnis zu enormen Ein-
sparungen führen wird.
Die zweite Möglichkeit, zu Wettbewerb zu kommen,
sind die Rabattverhandlungen. Wir sorgen durch das
Wettbewerbs- und Kartellrecht für einen fairen Wettbe-
werb zwischen den Kassen auf der einen Seite und der
kleinen und mittelständischen Industrie auf der anderen
Seite, damit nicht eine der beiden Seiten womöglich eine
Marktmacht bekommt, die sie ausnutzen kann.
Der dritte Punkt ist das eben schon angesprochene
Modell der Mehrkostenregelung für Patientinnen und
Patienten. Wenn sie mehr Freiheiten bei der Auswahl ih-
res Medikamentes haben wollen – das ist ein grundle-
gendes Recht der Patientinnen und Patienten –, werden
sie diese künftig in größerem Umfang als bisher haben.
Mindestens an diesen drei großen Stellen spüren Sie
den liberalen Geist in diesem Gesetzeswerk.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Terpe, bitte.
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Minister, ich habe eine Nachfrage zu den Rabatt-
verträgen, die Sie erwarten. Wir haben gerade ein Ge-
setzgebungsverfahren zur Erhöhung der Zwangsrabatte
von 6 Prozent auf 16 Prozent gehabt. Wie schätzen Sie
die Möglichkeit zusätzlicher Rabatte, die Sie jetzt vorge-
sehen haben, bei Verhandlungen ein? Meine zweite
Frage, die ich anschließen möchte, ist: Sie wollen im Ge-
setz die Pflicht zur Rückzahlung von Preisdifferenzen
regeln. Sie erfolgt ab dem 13. Monat im Falle eines
Schiedsspruchs. Warum regeln Sie das nicht schon für
die ersten zwölf Monate?
5304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Die rückwirkende Preisfestsetzung ist, auch juris-
tisch, durchaus heikel. Nun bin ich kein Jurist; aber wir
halten es für sinnvoller, dass man erst nach dem Schieds-
stellenspruch, wenn man das entsprechende Ergebnis
hat, rückwirkend für höchstens drei Monate zu einer
Preisbindung kommt. Die Möglichkeit, zu einer vertrag-
lichen Einigung zu kommen, soll nicht bis zuletzt ausge-
nutzt werden, um dann festzustellen, dass man zu kei-
nem Ergebnis kommt. Wir stellen sicher, dass es gleich
zu Beginn zu entsprechenden Vertragsverhandlungen
kommen kann. Wenn das nicht der Fall ist, soll die
Schiedsstellenlösung greifen. Ich denke, es ist vertretbar,
dass man die Preise rückwirkend für drei Monate festle-
gen kann. Wir haben uns dagegen entschieden, das für
das ganze Jahr zu machen.
Zu Ihrer ersten Frage: Wir haben im Zusammenhang
mit den Rabattverträgen gesehen, dass es bei den Gene-
rika teilweise zu erheblichen Preissenkungen gekommen
ist, und zwar um bis zu 50 bzw. 70 Prozent. Das ist im
hochinnovativen Bereich in dieser Form nicht zu erwar-
ten. Das ist ein anderer Markt. Deswegen kann ich Ihnen
nicht sagen, wie viel wir uns konkret davon versprechen
und ob es über den Herstellerrabatt – wir nennen das
Herstellerrabatt, nicht Zwangsrabatt – von 16 Prozent hi-
naus zu weiteren Rabatten kommen kann. Es handelt
sich um eine Kombination dieser beiden Instrumente.
Der Herstellerrabatt und das Preismoratorium sind be-
reits im GKV-Änderungsgesetz, das vor zwei Wochen
verabschiedet worden ist, beschlossen worden. Das war
eine Maßnahme, die ordnungspolitisch durchaus strittig
diskutiert wurde.
Sie macht aber nur dann Sinn, wenn wir jetzt den
zweiten Weg über das Arzneimittel-Neuordnungsgesetz
wählen, das heute diskutiert wird. Dann hat man die
Möglichkeit, über Vertragsverhandlungen von diesem
Herstellerrabatt wegzukommen. Das ist eine gute Mög-
lichkeit, auf der einen Seite die Einsparmaßnahmen für
die gesetzlichen Krankenversicherungen sicherzustellen
und auf der anderen Seite zu wettbewerblicheren Struk-
turen zu kommen. Das ist unser Ziel, zumal sich die Ra-
batte nicht allein in Euro-Cent bemessen sollen; im Ge-
setz ist vielmehr ausdrücklich festgehalten, dass es zu
weiteren vertraglichen Ausgestaltungen kommen kann,
zu sogenannten Mehrwertverträgen oder Verträgen im
Rahmen der integrierten Versorgung. Man soll also um-
fassende Verträge schließen können.
Das hat vor allem einen Vorteil: Wenn es zu Verträgen
gekommen ist, werden die Leistungserbringer, also die
Ärztinnen und Ärzte, von der Richtgrößenprüfung aus-
genommen. Die Medikamente, die unter den Vertrag fal-
len, sollen dann künftig nicht mehr einbezogen werden.
Das ist ein weiterer Punkt im Rahmen der Deregulie-
rung. Die Zielsetzung der Rabattverträge betrifft auch,
aber nicht nur das rein Finanzielle.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Ferner.
Elke Ferner (SPD):
Herr Minister Rösler, ich möchte zum einen auf das
Thema „Mehrkosten bei rabattierten Arzneimitteln“ zu-
rückkommen. Wenn ein Arzt das bisherige Arzneimittel
eines Patienten, das nicht unter die Rabattverträge der
Kasse des Patienten fällt, für medizinisch notwendig er-
achtet und dies begründet, kann er das Medikament zu-
lasten der Krankenkasse verordnen. Insofern wäre das
eine Regelung für diejenigen, die nicht einsehen – aus
welchen Gründen auch immer, ob angeregt durch den
Arzt oder angeregt durch ein entsprechendes Verkaufs-
gespräch des Apothekers –, dass das rabattierte Medika-
ment die gleiche medizinische Wirkung im Rahmen der
Therapie ihrer Krankheit hat, und dann eben etwas
draufzahlen müssen. Insofern bleibt das aber bei denen
hängen, die sich das auch leisten können. Diejenigen, die
sich das nicht leisten können, haben diese Wahlfreiheit
nicht.
Zum anderen möchte ich nachfragen, inwieweit die
bestehenden Rabattverträge, die ja darauf basieren, dass
sich die Kasse gegenüber dem pharmazeutischen Unter-
nehmen verpflichtet, eine bestimmte Menge abzuneh-
men – dagegen steht dann der Rabatt des Unternehmens,
das sagt, wenn ihr so viel abnehmt, dann gebe ich euch
einen entsprechenden Rabatt –, in Zukunft noch garan-
tiert werden können. Normalerweise ist es so: Je größer
die Abnahmemenge ist, desto mehr Rabatt bekomme
ich. Wenn ich diese Abnahmemenge aber nicht mehr ga-
rantieren kann, dann wird der Rabatt wahrscheinlich ge-
ringer werden. Deshalb ist ja wohl davon auszugehen,
dass die 2,5 Milliarden Euro, die bisher durch die Ra-
battverträge eingespart worden sind, in Zukunft nicht
mehr zu erzielen sein werden.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Die zweite Frage hatte ich bereits in Teilen beantwor-
tet. Wir gehen nicht davon aus, dass die Menschen jetzt
in enormer Zahl – schon gar nicht entsprechend dem ge-
samten Einsparvolumen von 2,5 Milliarden Euro im
Rahmen der bisherigen Rabattverträge – zur Apotheke
laufen und sagen, ich werde künftig bereit sein, mehr für
mein altes Medikament zu bezahlen, und damit – das ist
ja Ihre Befürchtung – die Gesamtrabattverträge unterlau-
fen. Davon gehen wir, wie gesagt, nicht aus. Im Gegen-
teil, es ist ja auch Aufgabe und das explizite Ziel von
Apotheken, über die unterschiedlichen Möglichkeiten
aufzuklären. Also werden sie aufklären und sagen: Sie
können natürlich bei Ihrem Medikament bleiben mit der
Möglichkeit der Zuzahlung, Sie können aber auch ein
Alternativmedikament nehmen. Dann müssen Sie nichts
zuzahlen, dann haben Sie aber ein etwas anderes Medi-
kament. Es heißt anders, und vielleicht ist auch die Ein-
nahmevorgabe etwas anders als bei dem Ihnen bekann-
ten Medikament. – Es spricht ja nichts dagegen, die
Patientin, den Patienten aufzuklären.
Also nochmals: Wir gehen nicht davon aus, dass Ra-
battverträge in großen Mengen unterlaufen werden.
Ihr erster Punkt ist übrigens sehr spannend. Das zeigt
offensichtlich die unterschiedliche Sichtweise von Ihnen
und uns bezüglich der Rechte und der Mitwirkungsmög-
lichkeiten von Patientinnen und Patienten, wenn man
vom Bild eines selbstbestimmten Patienten ausgeht. Sie
haben zwar völlig recht, dass der Arzt natürlich schon
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5305
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) (C)
(D)(B)
heute durch das Ankreuzen bestimmter Felder auf dem
Rezept die Möglichkeit hat, dem Patienten aus medizi-
nisch notwendigen Gründen andere Medikamente zu
verschreiben als die Rabattvertragsmedikamente. Diese
Möglichkeit stellen wir auch nicht infrage. Das ist Punkt
eins.
Aber es ist die Sichtweise des Arztes, wenn er aus
medizinischen Gründen ein anderes Medikament weiter
vorgibt.
(Elke Ferner [SPD]: Wer weiß das denn besser,
der Arzt oder der Patient?)
Aber die Patientin und der Patient haben auch Rechte,
jedenfalls nach unserer Sichtweise. Sie sind aufgeklärt
und können selbstbestimmt entscheiden, ob sie ein ande-
res Medikament haben wollen oder nicht. Selbstver-
ständlich müssen sie dann, wenn sie sich außerhalb der
Rabattverträge bewegen, mehr bezahlen.
(Elke Ferner [SPD]: Die, die es sich leisten
können!)
Aber sie haben die Wahlmöglichkeit.
(Elke Ferner [SPD]: Aber nur, wenn ich das
Geld dafür habe!)
Diese Wahlmöglichkeit haben sie momentan nicht, Frau
Ferner. Sie müssen sie ja nicht nutzen. Ich verstehe
nicht, warum Sie sich hier gegen die Freiheitsrechte von
Patientinnen und Patienten so vehement aussprechen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE
LINKE]: Weil das wieder die Freiheit der
Wohlhabenden ist!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Weinberg, bitte.
Harald Weinberg (DIE LINKE):
Herr Minister, die vorgesehenen Regelungen zu Ein-
sparungen betreffen ja in erster Linie den Erstattungs-
preis im Bereich der ambulanten Versorgung, nicht aber
den Krankenhaussektor. Dort erfolgen Abrechnung, Er-
stattung und Preisgestaltung anders.
Wie steht die Bundesregierung zu der Befürchtung,
dass die Hersteller wegen eventueller Rabatte im ambu-
lanten Versorgungssektor zur Kompensation höhere
Preise im stationären Bereich verlangen werden und
letztlich die Einsparungen unter dem Strich geringer aus-
fallen können? Plant die Bundesregierung auch für den
stationären Bereich Regelungen?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Zunächst einmal ist es, glaube ich, ein guter Weg, be-
vor man sich neue Maßnahmen vornimmt, erst einmal zu
sehen, wie die jetzt geplanten Maßnahmen dann, wenn
sie in Kraft getreten sind, wirken. Aber in der Tat ist es
häufig so, dass Regeln, die geschaffen werden, zu Aus-
weichbewegungen führen. Dann besteht die Gefahr, dass
man gleich wiederum neue Regeln auf den Weg bringt.
Selbstverständlich schauen wir uns an, wie sich die
Preise in allen anderen Bereichen entwickeln, weil es na-
türlich die Möglichkeit gibt, dass man einen Verlust, den
man auf der einen Seite hat – im ambulanten Bereich, im
Bereich der GKV –, durch Kompensation in anderen Be-
reichen versucht „zurückzuholen“. Unser Ziel ist, insge-
samt zu Einsparungen im Bereich der GKV zu kommen.
Sie können sicher sein, dass wir die Situation sehr genau
beobachten werden. Sollte es zu einer Kompensation
kommen, dann müssten Gesetzgeber und Bundesregie-
rung gemeinsam handeln. Das würden wir in jedem Fall
auch tun.
Ich will hier noch auf etwas hinweisen, auch wenn
das nicht explizit Teil Ihrer Frage war. Aufseiten der
Koalitionsfraktionen wird zu Recht darüber diskutiert,
wie man Teile dieses Gesetzentwurfes auch auf den Be-
reich der privaten Krankenversicherung übertragen
kann; denn es kann ja sein, dass solche Kompensations-
möglichkeiten, wie Sie sie im stationären Bereich sehen,
auch im Bereich der privaten Krankenversicherung ge-
sucht werden. Beides gilt es aus meiner Sicht zu verhin-
dern.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Klein-Schmeink, bitte.
Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Minister, Sie unternehmen mit dem Gesetzent-
wurf den Versuch, im Arzneimittelmarkt mehr Regulie-
rungsregelungen, gerade bei der Preisgestaltung, einzu-
ziehen. Im europäischen Umfeld hat man dafür die
Positivliste. Man versucht so, das Ganze zu begrenzen.
Sowohl für die Ärzteschaft als auch für die Patienten legt
man eine Liste vor, die Qualität und Transparenz mitei-
nander verbindet. Haben Sie ein solches Vorgehen nicht
geprüft? Warum haben wir in Deutschland 40 000 zuge-
lassene Medikamente, während es in anderen europäi-
schen Ländern sehr viel weniger gibt? Haben Sie nicht
die Notwendigkeit gesehen, da einzugreifen?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
In der Tat gibt es viele Medikamente. Ich will aus-
drücklich festhalten, dass wir es sehr positiv finden, dass
es viele Medikamente gibt; denn Sinn und Zweck ist ja,
mit Medikamenten Menschen in Krankheit und Not zu
helfen.
(Elke Ferner [SPD]: Dazu muss man wissen,
wie sie wirken!)
Wir würden uns nicht anmaßen, von vornherein zu sa-
gen, was gut ist und was nicht gut ist, was in dieser Liste
erscheinen und was in dieser Liste nicht erscheinen soll.
Wir wollen den Menschen in Deutschland Zugang zu
den bestmöglichen wirksamen Medikamenten und auch
zu Innovationen in diesem Bereich bieten. Solche Posi-
tivlisten sind bekanntermaßen sehr innovationsfeindlich.
Es muss aber zu Innovationen, zu Neuerungen kommen.
5306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) (C)
(D)(B)
Bis die sich auf einer Positivliste wiederfinden, geht
meist sehr viel Zeit ins Land. Das wäre zum Nachteil der
Patientinnen und Patienten. Deswegen haben wir uns für
einen anderen Weg entschieden.
Ich sage es noch einmal: Wir sind davon überzeugt,
dass wir die richtige Balance zwischen Innovationsfä-
higkeit auf der einen Seite und Kostenkontrolle auf der
anderen Seite gefunden haben. Bei der reinen Positiv-
liste hat man nur die Kostenkontrolle im Blick, aber lei-
der nicht die Interessen der Patientinnen und Patienten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die letzte Frage, die in unser Zeitbudget passt, ist die
von Frau Reimann.
Dr. Carola Reimann (SPD):
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Minister, in Ihrem
Gesetzentwurf sehen Sie eine umfassende Geltung des
Kartellrechts für den Gesundheitsbereich vor. Ich
möchte fragen: Welche Konsequenzen erwarten Sie da-
raus auf Vertragsbeziehungen, auf die gemeinsamen Ver-
träge von Leistungserbringern, auf die im Gesetz eigent-
lich vorgeschriebenen Verträge zur Zusammenarbeit
zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, auf
den Gemeinsamen Bundesausschuss und auch auf die
Rabattverträge?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Ziel ist insbesondere, das Wettbewerbs- und Kartell-
recht bei Rabattverträgen zur Anwendung zu bringen.
Wir gehen davon aus, dass wir damit verhindern, dass
eine Seite ihre Marktmacht zu einer Monopolstellung
ausbaut und damit fairen Wettbewerb verhindert. Ein-
zelne Kassen verhandeln schon mit kleinen mittelständi-
schen Unternehmen. Teilweise haben große Kassen re-
gional bereits ein Monopol. Für kleine mittelständische
Unternehmen wird es dann schwierig, in einem solchen
Bereich überhaupt noch Fuß zu fassen, weil es de facto
keinen echten Wettbewerb der Kostenträger untereinan-
der mehr gibt.
Das wollen wir durch diese Maßnahme verhindern.
Wir wollen das gezielt auf die Rabattverträge anwenden.
Von daher gehen wir nicht davon aus, dass zum Beispiel
die Integrierten Versorgungsverträge zwischen Leis-
tungserbringern, Kostenträgern und, wenn das zum Tra-
gen kommt, Industrieherstellern in Mitleidenschaft
gezogen werden. Unser Ziel ist, dass für die Rabattver-
träge, die wir selber ausdrücklich nicht infrage stellen,
faire Wettbewerbsregeln gelten; denn auch hier besteht
die richtige Balance zwischen Kostenkontrolle auf der
einen Seite – die 2,5 Milliarden Euro wurden schon an-
gesprochen – und fairem Wettbewerb auf der anderen
Seite. Daran zeigt sich die Mittelstandsfreundlichkeit
dieser Regierungskoalition.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Damit beende ich die Befragung der Bundesregie-
rung.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 17/2285, 17/2323 –
Ich möchte darauf hinweisen, dass für die Frage-
stunde heute nur eine Stunde angesetzt ist.
Wir beginnen gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für
die Fragestunde mit der dringlichen Frage auf Drucksa-
che 17/2323 zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamen-
tarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage des Kollegen Hans-
Christian Ströbele auf:
Inwieweit treffen aktuelle Medienberichte zu (Der Spiegel
vom 28. Juni 2010), wonach der von deutschen Ermittlern ge-
suchte deutsche Staatsbürger Rami M. sich am 21. Juni 2010
in Pakistan in der deutschen Botschaft Islamabad habe stellen
und nach Deutschland zurückkehren wollen, die Botschaft
ihm dafür einen Passierschein ausstellte mit der Bitte um all-
seitige behördliche Unterstützung, jedoch das Bundeskrimi-
nalamt, BKA – nach einem Disput zwischen Auswärtigem
Amt sowie dem Bundesministerium des Innern –, seine Er-
kenntnisse zu dem Deutschen an die pakistanische Polizei
übermittelte und ihn auf dem Hinweg zu dem Besuch der
deutschen Botschaft durch die berüchtigte pakistanische Poli-
zei festnehmen ließ, wie diese bestätigte, und teilt die Bundes-
regierung die Auffassung, dass eine solche Datenübermittlung
des BKA an die pakistanische Polizei schon mangels hinrei-
chender Rechtsgrundlage (§ 14 Abs. 7 Satz 5 des Bundeskri-
minalamtgesetzes) rechtswidrig wäre und den deutschen
Staatsangehörigen ohne Not und weitgehend schutzlos einer
ungewissen Haft ausliefern würde, wo ihm Folter durch den
pakistanischen Geheimdienst droht?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte.
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern:
Der Bundesregierung liegen keine bestätigten Infor-
mationen zur Festnahme eines deutschen Staatsangehö-
rigen namens Rami M. vor, der in Waziristan verkleidet
und schwer bewaffnet durch das pakistanische Militär
festgenommen worden sein soll. Das Auswärtige Amt
bemüht sich derzeit um Aufklärung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Ströbele, Sie haben eine Nachfrage.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Staatssekretär, liegen denn der Bundesregierung
Informationen darüber vor, dass das Auswärtige Amt mit
dem Fall zu tun hatte, dass dieser Herr – er wurde in
meiner Frage angesprochen – mit der deutschen Bot-
schaft Kontakt aufgenommen hatte und sich am 21. Juni
in der deutschen Botschaft seine Papiere abholen wollte
– das war fest vereinbart –, um nach Deutschland zu-
rückzukehren und sich hier den Behörden zu stellen?
Haben Sie das mit dem Kollegen Stadler, der neben
Ihnen sitzt, insbesondere auch deshalb intensiv bespro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5307
Hans-Christian Ströbele
(A) (C)
(D)(B)
chen, weil sich der Kollege Stadler als Mitkombattant im
Untersuchungsausschuss zur BND-Affäre seinerzeit in
einer Pressekonferenz in dem parallel gelagerten Fall
Zammar sehr drastisch dahin gehend geäußert hat, dass
es unzulässig sei, wenn das Bundeskriminalamt Daten
an ausländische Dienste weitergebe und diese dann zum
Nachteil eines deutschen Staatsbürgers dazu führen
könnten, dass dieser in ein Foltergefängnis kommt?
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Da war er ganz scharf, der Herr Staats-
sekretär!)
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern:
Welche Daten unter welchen Umständen übermittelt
werden dürfen, ist geregelt. Daran müssen sich natürlich
die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere auch
das BKA, halten.
Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
führt gegen mehrere Beschuldigte ein Ermittlungsver-
fahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer
ausländischen terroristischen Vereinigung, der Islami-
schen Bewegung Usbekistan, durch, darunter auch ge-
gen einen deutsch-syrischen Doppelstaatler namens
Rami M., die Person, die Sie in Ihrer Anfrage gemeint
haben.
Die Bundesregierung nimmt zu laufenden Ermitt-
lungsverfahren aus grundsätzlichen Erwägungen keine
Stellung. Eine Stellungnahme könnte weiter gehende Er-
mittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln.
Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich zu diesem
ganz konkreten Fall nichts sagen kann. Er wird aber Ge-
genstand der nächsten Sitzung des Parlamentarischen
Kontrollgremiums sein. Da wird darüber sicherlich aus-
führlich berichtet werden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie haben noch eine weitere Nachfrage? – Bitte
schön.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Staatssekretär, können Sie denn bestätigen, dass
das Bundeskriminalamt in diesem Fall Informationen an
die pakistanischen Behörden, insbesondere an die dor-
tige Polizei oder andere Sicherheitsbehörden, wie zum
Beispiel den berüchtigten pakistanischen Geheimdienst,
über diesen deutschen Staatsbürger gegeben hat und dass
dies, wenn es denn geschehen ist, mit § 14 Abs. 7 letzter
Satz des Bundeskriminalamtgesetzes nicht zu vereinba-
ren ist, weil danach die Übermittlung von Daten dann zu
unterbleiben hat, wenn schutzwürdige Interessen des Be-
troffenen dem entgegenstehen? Das ist hier zweifellos
der Fall.
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern:
Die von Ihnen angesprochene Vorschrift sieht vor,
dass Daten natürlich dann übermittelt werden dürfen,
wenn dies zur Abwehr von Gefahren erforderlich ist.
Wenn beispielsweise schwere Gefahren für Mitglieder
der Botschaft drohten, dann dürften Daten, die zur Ab-
wehr dieser Gefahren notwendig sind, selbstverständlich
auch übermittelt werden. Es muss im Einzelfall genau
abgewogen werden, inwieweit einerseits die berechtig-
ten Interessen desjenigen, dessen Daten übermittelt wer-
den, beeinträchtigt werden bzw. der Datenschutz ge-
währleistet ist und andererseits die schutzwürdigen
Interessen derjenigen, die in Gefahr sind, gewahrt wer-
den können.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Wieland, Sie haben noch eine Nach-
frage dazu.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Staatssekretär, da ich ja nun nicht den Vorteil
habe, im Parlamentarischen Kontrollgremium zu sitzen,
und der Kollege Ströbele mich nach wie vor nicht da-
rüber informieren darf, was dort besprochen wird, nun
noch einmal ganz konkret gefragt: Laut eines Berichts
des Spiegel von dieser Woche werfen Angehörige dieses
offenbar inhaftierten deutsch-syrischen Staatsbürgers der
Bundesregierung, insbesondere dem Bundesinnenminis-
terium, vor, diesen Menschen an den pakistanischen Ge-
heimdienst bzw. an die pakistanischen Innenbehörden
sozusagen verpfiffen zu haben. Die Frage ist: Trifft das
zu? Und vor allen Dingen: Trifft die Meldung zu, dass es
über diesen Umstand, ob man Informationen an die pa-
kistanischen Sicherheitsbehörden geben soll, eine Kon-
troverse zwischen Auswärtigem Amt, Ihrem Ministe-
rium und möglicherweise auch dem Justizministerium
– der Kollege Stadler war ja schon angesprochen – gege-
ben hat? Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an
eine CDU-Abgeordnete, die seinerzeit noch Kristina
Köhler hieß, die derartige Datenweitergaben sehr kri-
tisch kommentiert und begleitet hat.
Kurzum: Wir alle haben seinerzeit gesagt, das, was im
Fall „Zammar“ geschehen ist, ist sehr kritisch zu sehen.
Es steht im Raum, dass es sich bei diesem Fall um einen
zweiten Fall „Zammar“ handeln könnte. Deshalb frage
ich Sie: Glauben Sie wirklich, dass die Auskunft: „Wir
sagen nichts, solange das ein schwebendes Verfahren
ist“, trägt und dass damit die Besorgnis aus der Welt ge-
räumt werden kann?
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern:
Da ich jetzt zum ganz konkreten Fall nichts sagen
kann, kann ich natürlich auch Ihre Besorgnis nicht aus-
räumen. Das ist wohl so. Ich möchte nur, dass Sie zur
Kenntnis nehmen, dass eine Datenübermittlung nicht in
jedem Fall ausgeschlossen ist, dass eine Datenübermitt-
lung vielmehr dann notwendig ist und die Sicherheitsbe-
hörden hierzu sogar verpflichtet sind, wenn es darum
geht, Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Darüber
sind wir uns doch alle einig. Es ist in jedem konkreten
Einzelfall abzuwägen, inwieweit die Datenübermittlung
verhältnismäßig ist, um Gefahr für Leib und Leben
abzuwenden. Wir sind uns ja auch einig, dass in dem
konkreten Fall, dass Gefahr für Leib und Leben durch
5308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(A) (C)
(D)(B)
Übermittlung von Daten abzuwenden ist, eine solche
Datenübermittlung erforderlich und verhältnismäßig ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Damit kommen wir zu den Fragen auf Drucksache
17/2285 in der üblichen Reihenfolge.
Es handelt sich zunächst um Fragen zum Geschäfts-
bereich des Bundesministeriums für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit.
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staats-
sekretärin Katherina Reiche zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Bärbel Kofler auf:
Welche konkreten Projekte im Bereich des internationalen
Klimaschutzes hat das Bundesministerium für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit, BMU, in diesem Jahr durch
die Mittel der Fast-Start-Initiative finanziert, um die Zusagen
der Kopenhagen-Konferenz zu erfüllen, und wie wird zukünf-
tig diese Mittelzusage im Haushaltsentwurf 2011 umgesetzt?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Frau Kollegin Kofler, ich beantworte Ihre Frage zur
Fast-Start-Initiative wie folgt: Das Bundesumweltminis-
terium wird seinen Anteil an der deutschen Fast-Start-
Finanzierung über die Internationale Klimaschutzinitia-
tive, IKI – circa 110 Millionen Euro im Jahr 2010 –, und
über den neuen Haushaltstitel „Klimaschutzmaßnahmen
in Entwicklungsländern“ – das sind 35 Millionen Euro
im Jahr 2010 – bereitstellen.
Zu konkreten Projekten kann derzeit noch keine Aus-
sage gemacht werden, da die Projektideen fachlich
geprüft und mit dem Bundesministerium für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung sowie dem Aus-
wärtigen Amt abgestimmt werden. Dieser Prozess wird
voraussichtlich im August abgeschlossen. Die bereits
laufenden IKI-Projekte können Sie auf der Internetseite
der Internationalen Klimaschutzinitiative abrufen.
Das BMU wird im Zusammenhang mit der Fast-Start-
Finanzierung dieses Jahr zudem 10 Millionen Euro für
den UN-Anpassungsfonds im Rahmen des Kioto-Proto-
kolls bereitstellen. Die genaue Ausgestaltung der deut-
schen Fast-Start-Finanzierung im Haushaltsjahr 2011 ist
Gegenstand der laufenden Haushaltsaufstellung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kofler, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte.
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Danke für die Antwort, Frau Staatssekretärin. Sie be-
antworten meine Frage nach den Fast-Start-Mitteln mit
der Auskunft, dass die Mittel unter anderem über die In-
ternationale Klimaschutzinitiative, IKI, zur Verfügung
gestellt werden. Ich finde das erstaunlich; denn in Ko-
penhagen wurde im Jahr 2009 zugesagt, in den Jahren
2010 bis 2012 jeweils 420 Millionen Euro einzustellen.
IKI gibt es seit 2007 und war 2008 erstmals im Bundes-
haushalt enthalten. Stimmen Sie mit mir darin überein,
dass das eine Umschichtung von bereits vorhandenen
Mitteln ist, also alter Wein in neuen Schläuchen, und
nicht das, was versprochen wurde, nämlich zusätzliche
Mittel für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungslän-
dern? Wie bewerten Sie die mittlerweile im Raum ste-
henden Aussagen, nach denen die Mittel, die eingestellt
wurden unter dem Titel „Klimaschutz in Entwicklungs-
ländern“, der im Haushalt 2010 das erste Mal aufgeführt
wurde – das waren nur 35 Millionen Euro –, im nächsten
Haushalt auf null gesetzt werden sollen und mit Buch-
haltungstricks beim Climate Investment Fund ausgegli-
chen werden sollen?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Frau Kollegin, ich würde Ihnen gerne die Struktur er-
klären, Ihnen sagen, wie wir unsere Fast-Start-Finanzie-
rung ernst nehmen, wahrnehmen und umsetzen wollen.
In der Tat hat sich die Weltgemeinschaft, darin die Euro-
päische Union und selbstverständlich auch Deutschland,
im Rahmen des Kopenhagen-Accords, der ein Ergebnis
der Klimaverhandlungen von Kopenhagen war, zur Fi-
nanzierung verpflichtet. Deutschland hat sich verpflich-
tet, die von Ihnen eben erwähnten 420 Millionen Euro
durchschnittlich pro Jahr zu übernehmen; das ist unser
Beitrag. Wir werden unter anderem im Bereich „Wald-
schutz, Wiederaufforstung, nachhaltiges Waldmanage-
ment“ investieren. IKI ist Teil der deutschen Fast-Start-
Initiative. Jährlich stehen 120 Millionen Euro für die IKI
zur Verfügung.
Ich möchte darauf hinweisen, dass der Mechanismus,
den wir gewählt haben – Versteigerung von Emissions-
zertifikaten –, weltweit einmalig ist. In Kopenhagen ist
mehrfach positiv erwähnt worden, dass Deutschland das
einzige Land ist, das einen direkten Zusammenhang zwi-
schen der Reduktion von CO2-Emissionen und innovati-
ven Finanzierungsmechanismen bzw. Investitionen in
Klimaschutz herstellen kann. Das ist in Kopenhagen und
darüber hinaus sehr gelobt worden.
Dass wir erfolgreich sind, zeigt sich allein daran, dass
uns für das Jahr 2010 500 Projektskizzen vorlagen. Sie
werden zurzeit bewertet. 60 Projekte sind momentan in
der Vorauswahl. Ich finde, das zeigt den Erfolg dieser
Initiative. Das Angebot, das wir über die Fast-Start-Ini-
tiative machen, ist erfolgreich, transparent und wettbe-
werbsorientiert. Außerdem orientiert es sich am interna-
tionalen Klimaschutz.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bevor Frau Kofler ihre zweite Nachfrage stellt, habe
ich zwei weitere Fragende, zunächst Herrn Ott.
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä-
rin, herzlichen Glückwunsch zum knappen Sieg gestern
bei der Bundespräsidentenwahl. Wie komme ich darauf?
Die fast missglückte Wahl ist ja nicht das einzige Gur-
kenspiel Ihrer Mannschaft, das wir in der letzten Zeit ge-
sehen haben. Ein weiteres Feld ist die Klimapolitik, bei
der Zusagen, die die Bundeskanzlerin und die Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5309
Dr. Hermann Ott
(A) (C)
(D)(B)
regierung insgesamt gemacht haben – auch Ihr Ministe-
rium und das Ministerium des Kollegen Niebel –, Schritt
für Schritt zurückgenommen werden: von einmal ver-
sprochenen 420 Millionen Euro pro Jahr für die Jahre
2010 bis 2012 runter auf 70 Millionen Euro. Jetzt soll
das, wenn man den Meldungen des Spiegel glauben darf,
auf null gesetzt werden.
Meine Frage lautet deshalb: Kämpfen Sie, kämpft das
Bundesministerium für Umwelt dafür, dass zumindest
diese geringen Mittel in Höhe von 70 Millionen Euro für
die Jahre 2011 und 2012 zusätzlich in den Haushalt ein-
gestellt werden? Es gab, wie uns zu Ohren gekommen
ist, schon internationale Interventionen aus Ländern des
Südens, die deutlich machen, dass Deutschland dabei ist,
sein Renommee zu verspielen.
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Vielen Dank für die Glückwünsche, die ich Christian
Wulff und nicht mir persönlich zurechne. Aber ich
nehme sie gern entgegen, Herr Kollege.
Zu unseren Verpflichtungen: Wir nehmen sie nicht
nur ernst, sondern wir wollen und werden unseren Ver-
pflichtungen nachkommen. Denn uns ist sehr bewusst,
dass die Glaubwürdigkeit Deutschlands und auch der
Europäischen Union bei Cancún und allen weiteren Ver-
handlungen davon abhängt, Verpflichtungen, die wir ein-
gegangen sind, einzuhalten. Insbesondere die Entwick-
lungs- und Schwellenländer schauen darauf, dass
konkrete Projekte ans Laufen kommen.
Ich glaube, die Zahlen, die ich hier nur kurz skizzie-
ren kann, zeigen, wie attraktiv, glaubwürdig und nachge-
fragt die Projekte sind. Die Haushaltsverhandlungen für
das Jahr 2011 laufen. Ich kann Ihnen hiermit sagen, dass
wir alles unternehmen werden, um die Zusagen zu hal-
ten, die Haushaltsmittel tatsächlich abrufen zu können
und zur Verfügung zu stellen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Miersch.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Staatssekretärin, die Kollegen haben eben schon
darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung arge Pro-
bleme damit hat, die internationalen Verpflichtungen
einzuhalten. Nun konnten wir diese Woche einer Presse-
meldung entnehmen, dass Sie offenbar für den interna-
tionalen Klimaschutz Kredite geben wollen, dass Sie
einen Klimaschutzfonds einrichten wollen, der sich vor
allen Dingen an Privathaushalte in Entwicklungs- und
Schwellenländern richten soll. In der Pressemitteilung
heißt es:
Zugang zu Finanzierungsmitteln und Beratungsleis-
tungen wird über die Hausbanken ermöglicht.
Ich frage Sie – ich denke dabei an die Entwicklungs-
länder –: Wäre es nicht sinnvoller, wirkliche Investitio-
nen zu ermöglichen, statt Kredite zu vergeben? An wel-
che Hausbanken in Entwicklungsländern denkt die
Bundesregierung?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Herr Kollege, diesen Fonds haben wir bereits in Ko-
penhagen vorgestellt. Ich nehme an, die Kollegen, die
mitgefahren sind, werden Ihnen davon und auch von den
Reaktionen darauf berichtet haben. Das Innovative an
diesem Fonds ist, dass es sich um einen revolvierenden
Fonds handelt. Es ist also kein Fonds, bei dem die öf-
fentlichen Mittel aufgezehrt werden, sondern ein Fonds,
bei dem die Mittel immer wieder zurückfließen.
Wir wissen, dass wir den gesamten weltweiten Bedarf
für Klimaanpassung, für den Aufbau von Kapazitäten
zum Klimaschutz, zum Ertüchtigen von Entwicklungs-
und Schwellenländern, in erneuerbare Energien zu in-
vestieren, allein aus staatlichen Geldern nicht decken
können und wir Private dazu brauchen. Private wie-
derum wollen sich absichern, wenn sie sich in Regionen
bewegen, die, vorsichtig gesagt, für sie nicht immer
übersichtlich sind; sie gehen dabei ein hohes Risiko ein,
sowohl hinsichtlich der Technologie als auch des Invest-
ments. Deshalb haben KfW und Bundesumweltministe-
rium diesen Fonds über insgesamt 100 Millionen US-
Dollar zusammen aufgelegt. Das BMU stellt das Eigen-
kapital bereit. Wir übernehmen damit auch einen Teil der
wirtschaftlichen Risiken, weil, wie ich eben erwähnt
habe, private Investoren einen Anreiz brauchen.
Wir haben gehört, dass dieser Fonds nicht nur gut an-
kommt, sondern auch nachgefragt wird. Zumindest ha-
ben wir nach Kopenhagen viele Anfragen dazu bekom-
men. Auch diese Mittel sind innerhalb der IKI, die ich
gerade erläutert habe, angesiedelt.
Wir erwarten, dass wir pro eingesetzten Euro unge-
fähr das Fünf- bis Sechsfache herausbekommen bzw. an
Investitionen auslösen können, wie wir es auch schon
bei Angeboten innerhalb Deutschlands, aber auch bei
anderen internationalen Angeboten umsetzen konnten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kofler.
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Ich möchte noch einmal nachfragen, weil ich die Ant-
wort auf die Frage des Kollegen sehr ausweichend fand.
Eine Analyse der Zusagen der Kopenhagen-Konferenz
zeigt, dass alle Zusagen, die Sie in die Fast-Start-Initia-
tive einrechnen, 2007 und 2008 gemacht bzw. in den
Haushalt eingestellt worden sind, nämlich 2008 auf dem
G-8-Gipfel in Tokio und auf der UN-Biodiversitätskon-
ferenz und 2007 auf dem UN-Klimagipfel auf Bali. Die
einzigen beiden Positionen, die neu in den Haushalt ein-
gestellt worden sind, sind die je 35 Millionen Euro in
den Etat des BMU und des BMZ. Stimmt es, dass diese
Mittel im Haushalt 2011 auf null gesenkt werden sollen?
Wie setzt sich das Umweltministerium dafür ein, dass
dies nicht passiert? Wie schätzen Sie die Auswirkungen
auf die Verhandlungen in Cancún ein, wenn die Mittel
5310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Bärbel Kofler
(A) (C)
(D)(B)
auf null gesenkt werden? Dann stehen nämlich die
Glaubwürdigkeit unserer Politik und die Zuverlässigkeit
unserer Zusagen auf dem Spiel.
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Frau Kollegin, ich habe gerade ausgeführt, dass die
Haushaltsverhandlungen für das Jahr 2011 laufen. Wir
werden Anfang Juli den ersten Haushaltsentwurf im Ka-
binett beraten, und wir setzen alles daran, dass wir un-
sere Zusagen einhalten können. Dass wir insgesamt in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben, dürfte auch der
SPD nicht entgangen sein. Wir haben gerade den Vor-
mittag damit verbracht, über Haushaltsrisiken und die
damit verbundenen Schwierigkeiten zu sprechen.
Dennoch sind wir uns unserer Verantwortung bewusst
und werden die Haushaltstitel, die mit der Fast-Start-Fi-
nanzierung zusammenhängen, mit konkreten Projekten
ausfüllen, um in Cancún glaubwürdig aufzutreten. Ich
glaube, dass es nicht nur um Haushaltstitel geht. Ich
finde, dass Sie damit die Debatte ein wenig verkürzen.
Bitte vergessen Sie nicht, dass wir auf vielen Wegen un-
terwegs sind, vor allem um wieder Vertrauen aufzu-
bauen, das offenbar in Kopenhagen zerstört wurde.
Wir haben mit der Konferenz auf dem Petersberg mit
interessierten und engagierten Entwicklungsländern und
Industrieländern einen guten Aufschlag gehabt, um die
Verhandlungen für Cancún vorzubereiten. Dabei ist
nicht nur das Engagement Deutschlands gewürdigt wor-
den, sondern wir haben auch mitgenommen: Je konkre-
ter Initiativen und die bilaterale und trilaterale Zusam-
menarbeit laufen, desto überzeugender kann ein Land
wie Deutschland oder auch die Europäische Union in
Cancún auftreten und hoffentlich die Verhandlungen be-
fruchten.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen jetzt zu Frage 2 der Kollegin Kofler:
Wie bewertet das Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit die Auswirkungen des Markt-
anreizprogramms auf Investitionen und Steuereinnahmen als
Beitrag für einen wirtschaftlichen Aufschwung, und welche
Anstrengungen unternimmt das BMU, damit das Marktan-
reizprogramm und die Internationale Klimaschutzinitiative im
Jahr 2011 fortgesetzt werden?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Frau Kollegin, ich möchte Ihnen wie folgt antworten:
Das Marktanreizprogramm Erneuerbare Energien setzt
Anreize zur Errichtung von Anlagen zur Nutzung erneu-
erbarer Energien und stützt so die Nachfrage von Privat-
personen und Unternehmen in diesem Bereich. Selbst-
verständlich führt das dann auch zu zusätzlichen
steuerlichen Effekten in diesen Sektoren.
Gesamtwirtschaftlich ist dabei aber zu berücksichti-
gen, dass dann, wenn öffentliche Mittel anderen Verwen-
dungen entzogen werden, dies auch gegenläufige Effekte
auslöst.
Dass die Bundesregierung überzeugt ist, dass das
Marktanreizprogramm ein sinnvolles Programm ist,
zeigt sich darin, dass in dem Regierungsentwurf zum
Bundeshaushalt 2011 die Finanzierung dieses Pro-
gramms und der Internationalen Klimaschutzinitiative
auf hohem Niveau fortgeführt wird.
Zu den Auswirkungen des Marktanreizprogramms
auf Steuereinnahmen liegt dem BMU keine eigene Ana-
lyse vor.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kofler, eine Nachfrage.
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Ihre Formulierung „auf hohem Niveau fortgeführt“
klingt zwar schön, ist aber natürlich zu hinterfragen.
Können Sie mir bestätigen, dass für die beiden Initiati-
ven im Etat 2011 88 Millionen Euro weniger als im
Etat 2010 zur Verfügung stehen? Wenn Ihnen keine
Erkenntnisse über Steuereinnahmen vorliegen, wie be-
werten Sie die Aussage des Ifo-Instituts zum Thema
Marktanreizprogramme, dass allein den Ländern und
Kommunen in diesem Jahr 151 Millionen Euro an Steu-
ereinnahmen entgehen, wenn jeder zweite Auftrag weg-
bricht?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Frau Kollegin, Ihre Sorge wegen des Programm-
stopps, der verhängt werden musste, weil wir nach wie
vor eine Haushaltssperre von 115 Millionen Euro haben,
teile ich. Wir versuchen derzeit in intensiven Verhand-
lungen, diese Sperre aufzuheben. In der Tat stehen dann
in diesem Jahr weniger Mittel zur Verfügung als ur-
sprünglich geplant. Die Nachfrage ist groß; das haben
Sie gerade indirekt bestätigt. In diesem Jahr haben wir
bereits 138,5 Millionen Euro für 90 000 Investitionsvor-
haben ausgezahlt. Wir müssen außerdem die Förderzusa-
gen im KfW-Programm „Erneuerbare Energien“ aus den
Vorjahren abarbeiten. Da Mittel reduziert wurden, wir
aber die Zusagen einhalten wollen, haben wir einen Pro-
grammstopp verhängt.
Noch einmal: Konkrete Zahlen steuerlicher Natur
kann ich Ihnen nicht geben. Was ich allerdings feststelle,
ist eine nach wie vor rege Aktivität bei Handwerksbe-
trieben, nicht nur aufgrund des Marktanreizprogramms.
Diese Aktivität bezieht sich unter anderem auf den So-
larbereich, etwa auf die PV-Installation.
Mir scheint, dass wir durch die Förderung erneuerba-
rer Energien auf verschiedenen Wegen insgesamt dafür
sorgen, dass wir auf der einen Seite einen höheren Anteil
erneuerbarer Energien haben – er steigt erfreulicher-
weise weiterhin – und dass wir auf der anderen Seite
sehr wohl einen Beitrag zur Förderung der Investitionen
von Handwerk und Mittelstand leisten.
(Jens Ackermann [FDP]: So ist es!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5311
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kofler, Sie haben das Wort zu einer weiteren
Nachfrage.
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Sie haben zum Schluss das Handwerk und den Mittel-
stand angesprochen. Sie haben darauf hingewiesen, dass
das Marktanreizprogramm durchaus sehr attraktiv ist.
Können Sie bestätigen, dass trotz dieser Attraktivität
eine Kürzung in diesem Haushaltstitel vorgesehen ist?
Wie bewerten Sie die Aussagen zahlreicher Handwerks-
betriebe, kleiner Unternehmen und Verbände in den ver-
schiedensten Regionen Deutschlands, die schwere wirt-
schaftliche Einbußen befürchten? Ist es richtig, Mittel
für Programme zu kürzen, die ökologisch sinnvoll sind?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Frau Kollegin, wie ich gerade gesagt habe, bemühen
wir uns seit Wochen und Monaten unter tatkräftiger Mit-
hilfe der Fachpolitiker, diese Haushaltssperre aufzuhe-
ben. Ich sage erneut, dass wir nach wie vor über den
Haushaltsentwurf 2011 verhandeln.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Ott, bitte.
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin der Kollegin
Kofler sehr dankbar, dass sie die Frage nach den steuerli-
chen Wirkungen der Streichung des Marktanreizpro-
gramms gestellt hat. Ich bin etwas enttäuscht über die
Antwort. Die Bundesregierung ist sich überhaupt nicht
darüber im Klaren, was für negative, schädliche Folgen
ihre Handlung auf die Konjunktur hat.
Ich möchte den Blick von den Steuereinnahmen ab-
und zu den wirtschaftlichen Aktivitäten hinwenden. Ich
sehe den Kollegen Peter Hintze aus dem Wirtschafts-
ministerium bei Ihnen sitzen. Mein Kollege ist er nicht
nur als MdB, sondern auch als Wuppertaler Abgeordne-
ter. Haben Sie sich mit dem Kollegen vom Wirtschafts-
ministerium einmal zusammengesetzt oder haben Sie
vor, das zu tun, um die Auswirkungen der Streichungen
beim Marktanreizprogramm auf die lokale und regionale
Wirtschaft zu untersuchen?
Schätzungen gehen nämlich davon aus, dass allein der
in Wuppertal ansässigen Wirtschaft, den kleinen und
mittelständischen Unternehmen, mehrere 100 000 Euro
entgehen werden. Meine Frage ist also: Setzen Sie sich
mit dem Kollegen Hintze und anderen zusammen, um
die Auswirkungen einer Streichung des Marktanreizpro-
gramms auf die lokale Wirtschaft zu untersuchen?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Herr Kollege, zu Ihrer Erbauung, vielleicht auch zu
Ihrem Missfallen muss ich Ihnen sagen, dass ich quasi
täglich mit Peter Hintze zusammensitze.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was ein Vergnügen ist, nehme ich an!)
– Sehen Sie! Kein Neid auf den Plätzen der Opposition!
Weil wir uns gerade mit der Historie und den Ent-
wicklungen der Zukunft beschäftigen, möchte ich ein-
mal darauf hinweisen, dass es zur Zeit von Rot-Grün
– da gab es dieses Programm auch schon – ein ständiges
Auf und Ab gab und wir deutlich weniger Geld zur Ver-
fügung hatten, als wir es jetzt haben. Wir haben in der
Großen Koalition gemeinsam dafür gesorgt, dass die
Mittel des MAPs verrechtlicht wurden, und wir haben
den entsprechenden Ansatz mehr als verdoppelt, infolge
guter Zertifikatserlöse sogar fast verdreifacht. Dieser
unmittelbare Zusammenhang zwischen Zertifikatserlö-
sen und MAP war im Haushalt 2009 nicht mehr gege-
ben. Da hat das Umweltministerium noch unter Minister
Gabriel nicht mehr hart genug dafür gekämpft, das Geld
zu bekommen.
Das Geld für das MAP ist aber geblieben. Wir haben
dafür gesorgt, dass über einen langen Zeitraum sehr sta-
bil sehr viel in den Klimaschutz investiert wurde. Noch
einmal: Gerade in diesem Bereich sollen die Haushalts-
verhandlungen dafür sorgen, dass wir die Investitionen
stabil halten; denn wir wissen gerade aus der rot-grünen
Zeit, was ein dauerndes Auf und Ab bei Förderprogram-
men für die Wirtschaft und die Investoren bedeutet.
Sie wissen auch, dass die Zertifikatspreise, die wir in
guten Zeiten ansetzen konnten – etwa 20 Euro –, in der
Rezession auf mittlerweile knapp 15 Euro gerutscht
sind. Auch da fehlt es an Geld. Das müssen und wollen
wir kompensieren; wir wollen an der Stelle Sicherheit
schaffen. Das weiß auch das Wirtschaftsministerium. In-
sofern verhandeln wir beim Haushalt 2011 über Finanz-
sicherheit. Parallel kämpfen wir beim Haushaltsaus-
schuss und beim Finanzminister gemeinsam für die
Entsperrung der Mittel.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt der Kollege Miersch.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben davon gespro-
chen, dass die Bundesregierung in Kopenhagen viel Lob
geerntet habe und dass ich mir darüber von Kollegen
hätte berichten lassen können. Ich will Sie darauf hin-
weisen, dass ich einer der dort anwesenden Kollegen
war. Ich konnte allerdings kein Lob vernehmen, sondern
viel Entsetzen über das Agieren der Bundesrepublik
Deutschland und der Europäischen Union. Die Grund-
sätze des Klimaschutzes und die Glaubwürdigkeit sind
beim Marktanreizprogramm doch an eklatanter Stelle
verletzt worden. Oder würden Sie allen Handwerkern,
Handwerkspräsidenten und Unternehmen, die in den
letzten Wochen das BMU kontaktiert haben, nicht recht
geben, dass der Förderstopp eine entscheidende Investi-
tionsbremse ist und dass alles getan werden muss, damit
sich so etwas im Haushalt 2011 nicht wiederholt?
5312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Zum einen: Ich teile Ihre Einschätzung zu Kopenha-
gen nicht.
Zum zweiten – ich wiederhole mich –: Wir finden ge-
nau wie die SPD und die Grünen, dass das Marktanreiz-
programm wichtig ist. Wir bedauern den jetzigen För-
derstopp und arbeiten gemeinsam an der Aufhebung der
Sperre.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Fell.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Kollegin Staatssekretärin Reiche, ich nehme Ihre
Aussage, dass Ihnen der Haushaltsstopp beim Marktan-
reizprogramm Sorgen macht und Sie negative Auswir-
kungen befürchten, gerne zur Kenntnis. Diese negativen
Auswirkungen sind aber seit langem bekannt: Mit dem
Tag des Förderstopps waren am Markt sofort Stornierun-
gen erfolgt. Firmen haben sich hilfesuchend an uns ge-
wandt. Als ich einige Wochen später die Bundesregie-
rung fragte, haben Sie mir für die Bundesregierung
schriftlich geantwortet, dass der Bundesregierung keine
Auswirkungen des Förderstopps beim Marktanreizpro-
gramm bekannt sind. Ich frage Sie: Inwiefern sind Ihnen
inzwischen Auswirkungen bekannt? Haben Sie Zahlen,
die belegen, wie massiv der Einbruch der Nachfrage
nach Solarwärmeanlagen, Holzpelletsanlagen, Wärme-
pumpen und anderen Heizungsanlagen war, nachdem
diese nicht mehr durch entsprechende Programme geför-
dert wurden? Wie groß ist der Schaden, der durch den
Förderstopp entstanden ist?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Konkrete Zahlen über Absagen oder nicht erfolgte
Aufträge kann ich Ihnen nicht nennen. Ich habe bereits
Frau Kollegin Kofler geantwortet, dass keine konkreten
steuerlichen Daten vorliegen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Gerd
Bollmann zum Zeitplan für die Umsetzung der EU-Ab-
fallrahmenrichtlinie in nationales Recht. Diese Frage
wird schriftlich beantwortet.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Scheer zur regiona-
len Wertschöpfung und Akzeptanz von Windenergiean-
lagen werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Kollegen
Miersch auf:
Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit die Einigung zwischen dem Eu-
ropäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rahmen der
Verhandlungen über die Novelle zur IVU-Richtlinie über eine
Übergangsfrist bis Ende 2023 für veraltete Kraftwerke und
Großfeuerungsanlagen, innerhalb der diese umgerüstet oder
abgeschaltet werden müssen?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Herr Kollege Miersch, Ihre Frage nimmt offensicht-
lich Bezug auf Art. 33 der IVU-Richtlinie über Ausnah-
men von emissionsbegrenzten Anforderungen an Groß-
feuerungsanlagen mit einer begrenzten Restlaufzeit. Es
handelt sich um die sogenannte Opt-out-Regelung. Im
Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 15. Februar
2010 war bereits eine entsprechende Regelung vorgese-
hen. Sie war aus Sicht der Bundesregierung akzeptabel,
weil sie zeitlich bis Ende 2023 und auf insgesamt
20 000 Betriebsstunden begrenzt war. Der gefundene
Kompromiss stellt gegenüber dem Gemeinsamen Stand-
punkt des Rates aus Sicht des BMU eine Verbesserung
dar, weil die Restlaufzeit auf 17 500 Betriebsstunden be-
grenzt wurde.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dazu gibt es keine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Miersch auf:
Welche Erkenntnisse hat das Bundesministerium für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit über die Auswirkun-
gen des seit fast 20 Jahren aus einem explodierten Bohrloch
der Firma Exxon Mobil in der Nordsee ausströmenden Me-
thangases auf die Umwelt und das Klima, und in welcher
Weise wird dazu mit der britischen Regierung zusammengear-
beitet?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Herr Kollege Miersch, ich hätte Ihnen gerne noch et-
was zur EU-Richtlinie und zu den Verhandlungen er-
zählt. Aber ich komme zu Ihrer nächsten Frage.
(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das können Sie
mir dann ja schreiben!)
– Ja, das schreibe ich Ihnen.
Ich möchte Ihnen wie folgt antworten. Vom britischen
Umweltministerium, dem Department for Environment,
Food and Rural Affairs, wurde dem Bundesumwelt-
ministerium im März 2010 auf Anfrage Folgendes mit-
geteilt: Bei einer Explorationsbohrung durch Mobil Oil
wurde im November 1990 eine vergleichsweise nahe an
der Oberfläche liegende, unter hohem Druck stehende
Gasblase – shallow gas deposit – getroffen, wodurch es
zu einem Blow-out mit Bildung eines großen Kraters
kam. Versuche, das Leck zu schließen, verliefen erfolg-
los.
In den 1990er-Jahren hat sich der Gasausstrom so
weit reduziert, dass das Leck weder als Gefahr für die
Umwelt noch für die Schifffahrt angesehen wurde. Die
Stelle wurde aber in Seekarten mit Warnhinweisen mar-
kiert. Es gibt Hinweise, dass sich im Bereich der
Leckage eine spezielle Ökosystemstruktur ausgebildet
hat. Nach den vom Kieler Leibniz-Institut für Meeres-
wissenschaften, dem IFM-GEOMAR, bestätigten Infor-
mationen betrug der Gasaustritt 1994 circa 25 Prozent
des gesamten Methanausstoßes der Nordsee. Neuere
Messungen aus dem Jahr 2006 zeigten, dass vom Me-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5313
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
(A) (C)
(D)(B)
thanstrom aus dem Leck circa ein Drittel an die Was-
seroberfläche gelangt und zwei Drittel im Meerwasser
gelöst oder von Bakterien oxidiert werden. Dabei ist es
im Bereich des Kraters zur Ausbildung eines Ökosys-
tems mit hochspezialisierten Bakterien, Muscheln, Blu-
mentieren und Fischen gekommen. Die Stärke der
Quelle ist lokal erheblich. Die Auswirkungen dieser ein-
zelnen Quelle auf das Weltklima sind eher gering.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort zu einer Nachfrage hat Herr Miersch.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Staatssekretärin, teilen Sie meine Einschätzung,
dass wir somit auch vor der Haustür – in der Nordsee –
eine Situation haben, wo wir es mit einem Leck zu tun
haben – allerdings nicht mit einem Ölleck – und es mit
den technischen Möglichkeiten seit 20 Jahren nicht ge-
lingt, es zu schließen?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Anders als im Golf von Mexiko – ich glaube, nach
dieser Parallele fragen Sie – handelt es sich hier nicht
um ein Bohrloch, sondern um einen Krater, der wohl nur
mit ganz erheblichen Schwierigkeiten zu verschließen
wäre, was in der Vergangenheit auch gescheitert ist. Von
der Leckage geht aber – anders als im Golf von Mexiko –
keine vergleichbare Umweltgefährdung aus. Ich habe Ih-
nen ja gesagt, dass sich verschiedene Institute das ange-
guckt haben. Noch einmal: Etwa ein Drittel des Methans
gelangt an die Oberfläche; zwei Drittel werden im Meer-
wasser gelöst bzw. von spezialisierten Bakterien, die
sich im Bereich der Austrittsstelle angesiedelt haben,
verstoffwechselt. Insofern wird auch ein Teil des austre-
tenden Methans eliminiert. Die Bakterien – so sagen uns
Ökologen – bilden zudem eine lokale Nahrungsgrund-
lage für andere Organismen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Miersch.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Das war – jedenfalls nach meiner Auffassung – nicht
meine Frage, aber ich will jetzt meine zweite Nachfrage
damit nicht verbrauchen. Wir konnten vernehmen, dass
in den letzten Wochen sogar Bundes- bzw. Landesum-
weltminister die Bundesregierung aufgefordert haben,
die Sicherheitsvorkehrungen und die Gesetze in Bezug
auf Tiefsee-, aber auch andere Bohrungen zu prüfen.
Können Sie mir über die Schritte, die das Bundesum-
weltministerium diesbezüglich in den letzten Wochen
unternommen hat, etwas sagen?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Zum einen, Herr Kollege, haben Sie völlig recht,
wenn Sie bemerken oder in Ihrer Frage implizieren, dass
es, wenn man Erdöl oder auch Erdgas ausbeutet, immer
gewisse Risiken gibt. Ich habe aber auch schon im Aus-
schuss erläutert, dass wir sowohl an die Gas- als auch an
die Ölexploration, bei dem, was wir in Deutschland zu
verantworten haben – Stichwort: Doggerbank –, mit sehr
viel höheren Standards, mit sehr viel mehr Überprüfung,
Absicherung von Risiken sowie auch mit anderen Er-
kundungsmethoden herangehen, als das beispielsweise
im Golf von Mexiko der Fall gewesen ist.
Was tun wir? Es gibt in der Tat einen Austausch mit
Fachleuten aus Niedersachsen, die wir hinsichtlich der
Förderung in Schleswig-Holstein fachlich mit in An-
spruch genommen haben. Auch Bundesumweltminister
Röttgen hat kürzlich in einem Interview noch einmal da-
rauf hingewiesen, dass unsere gesamte Politik darauf ge-
richtet sein muss, weniger Explorationen zu haben;
Stichwort: Weg vom Öl, weg vom Verbrauch fossiler
Energieträger. Solange wir diese aber brauchen, müssen
wir, wo es in unserer Verantwortung liegt, alles unter-
nehmen, die Risiken möglichst zu minimieren.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Fell.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Kollegin Reiche, ich will das nur klarstellen,
weil sich ansonsten ein interessanter und eigentlich un-
glaublicher Verdacht entwickeln könnte, nachdem Sie
auf die Frage des Herrn Kollegen Miersch eine Antwort
gegeben haben, nach der er gar nicht gefragt hatte, näm-
lich einem Dimensionsvergleich zwischen dem Krater in
der Nordsee, aus dem Methan ausgestoßen wird, und
dem Leck im Golf von Mexiko. Ich bin mir sicher, dass
Herr Miersch nicht gemeint hat, dass dieser Krater in der
Nordsee die gleiche Dimension hat. Sie haben es aber
auf diese Ebene gehoben und gesagt, solche Auswirkun-
gen gebe es nicht. Sie haben nur entlastende und be-
schwichtigende Argumente gebracht, die diesen Methan-
gasausstoß eigentlich verharmlosen und verniedlichen.
Deswegen will ich noch einmal nachfragen, ob es
wirklich Ihre Meinung ist, dass man solche Leckagen
und Umweltauswirkungen bei den konventionellen
Energieträgern Öl und Gas nur dann als schlimm emp-
findet, wenn sie Auswirkungen haben, wie sie im Golf
von Mexiko durch das dortige Bohrloch entstanden sind.
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Herr Kollege, wenn Sie unterstellen, dass die Bundes-
regierung Havarien oder auch Risiken nicht ernst nehme,
dann weise ich dies wiederum zurück. Ich weise noch
einmal darauf hin, dass Explorationen hierzulande mit
sehr viel höheren Sicherheitsstandards gefahren werden.
Sowohl bei der Exploration als auch beim Betrieb über-
prüfen wir sehr viel mehr. Ferner werden die Mitarbeiter
geschult. Das habe ich im Ausschuss erläutert. Das, was
ich mündlich vorgetragen habe, habe ich Ihnen auch
schriftlich zukommen lassen. Ich bin mir sicher, Sie wer-
den das intensiv gelesen haben.
5314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
(A) (C)
(D)(B)
„Verharmlosung“ ist nicht das Stichwort, sondern
„Minimierung der Risiken“, so gut es technisch geht. Ich
bin überzeugt, dass sowohl das zuständige Landesamt
für Bergbau, Energie und Geologie des Landes Nieder-
sachsen als auch die Unternehmen daran arbeiten, Mög-
lichkeiten zu entwickeln, um noch genauer hinzu-
schauen. In der Vorlage, die Ihnen das BMU hat
zukommen lassen, finden Sie Angaben dazu, welche Si-
cherheitsstandards bei uns gelten, welche Überprüfun-
gen bei uns Standard sind und welche Anforderungen es
gibt. Insofern möchte ich Ihre Aussage, dass wir Risiken
verharmlosen oder erst dann aktiv würden, wenn etwas
passiert, zurückweisen. Das ist definitiv nicht der Fall.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Ott.
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank. – Ich glaube, ich muss meinen Kollegen
Hans-Josef Fell in Schutz nehmen. Er meinte das sicher-
lich nicht so, dass Sie irgendetwas verharmlosen wollen.
Ich muss in Bezug auf die Frage des Kollegen
Miersch eine Nachfrage stellen. Gerade im Hinblick auf
die Befürchtung, dass auch im Golf von Mexiko die ge-
samte Kammer einbricht, dort ein Riesenkrater entsteht
und sich das gesamte Öl auf einmal in den Ozean er-
gießt, frage ich Sie: Gibt es im BMU Überlegungen, ob
nicht alle Bohrungen unterhalb des Meeresspiegels un-
terlassen werden sollten bzw. ob zumindest in deutschen
Gewässern, auf die wir direkt Einfluss haben, keinerlei
Bohrungen mehr erfolgen sollten? Bei einer solchen
Bohrung kann immer ein Unfall passieren. Es kann im-
mer passieren, dass Kavernen einstürzen und plötzlich
eine Situation entsteht, die überhaupt nicht mehr zu be-
herrschen ist. Wir haben nur Glück, dass bei diesem Erd-
gasausstoß anscheinend keine größeren Umwelt- und
Menschenschäden zu beklagen sind. Gibt es solche
Überlegungen im BMU?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Es gibt keine Überlegungen, laufende Vorhaben zu
unterbinden. Außer den 17 Förderbohrungen auf der
Mittelplate und der auf der A6-A – Informationen dazu
habe ich Ihnen zukommen lassen – sind keine Details zu
Explorationsvorhaben oder Planungen bekannt. Weitere
sind unserer Kenntnis nach nicht in Planung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir kommen jetzt zu Frage 8 der Kollegin Ute Vogt,
die schriftlich beantwortet wird, ebenso wie die Fragen 9
und 10 des Kollegen Frank Schwabe und die Frage 11
der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl.
Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Oliver
Kaczmarek auf, die jetzt beantwortet wird:
Wie ist der aktuelle Stand der Erarbeitung der Grundwas-
serverordnung innerhalb der Bundesregierung, und in welcher
Form plant die Bundesregierung die Beteiligung des Deut-
schen Bundestages?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Herr Kollege Kaczmarek, Sie erkundigen sich nach
dem Stand der Erarbeitung der Grundwasserverordnung
und insbesondere nach der Beteiligung des Bundestages,
was mich nicht verwundert.
Der Entwurf einer Verordnung zum Schutz des
Grundwassers – so möchte ich Ihnen antworten – ist zur-
zeit in der Abstimmung zwischen den Ressorts. Es ist
geplant, den Entwurf Mitte Juli 2010 dem Kabinett zur
Billigung vorzulegen. Im September 2010 soll der Ent-
wurf dann im Bundesrat behandelt werden.
Die Konkretisierung des Besorgnisgrundsatzes ent-
sprechend § 48 Wasserhaushaltsgesetz, der der Zustim-
mung des Bundestages bedarf, wurde im Verlauf der
Ressortabstimmungen zunächst aus dem Verordnungs-
entwurf herausgenommen. Damit bedarf der Verord-
nungsentwurf nicht mehr der Zustimmung des Bundesta-
ges. Die Konkretisierung der Anforderungen aus dem
§ 48 des Wasserhaushaltsgesetzes soll zu einem späteren
Zeitpunkt im Rahmen einer Artikelverordnung zusam-
men mit der geplanten Ersatzbaustoffverordnung und
der Novelle der Bundes-Bodenschutzverordnung gere-
gelt werden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kaczmarek, eine Nachfrage? – Bitte schön.
Oliver Kaczmarek (SPD):
Zunächst einmal, Frau Staatssekretärin, vielen Dank
für die Beantwortung meiner Frage. – Ich beziehe mich
auf die Schadstoffeinträge bzw. auf die Vorgaben, die zu
erlassen sind. Nach Prognosen wird es so sein, dass
knapp die Hälfte der Grundwasserkörper bis 2015 kei-
nen chemisch guten Zustand erreichen wird.
Viele Verbände haben darauf hingewiesen, dass die
diffusen Einträge aus der Landwirtschaft in dem vorlie-
genden Entwurf nicht ausreichend berücksichtigt wer-
den, der sich – wie Sie sagen – in der Abstimmung be-
findet. Deswegen die Frage: Wie beurteilen Sie diese
Stellungnahmen? Können Sie sie beurteilen, und können
Sie Auskunft darüber geben, ob es in dieser Hinsicht
noch Änderungsbedarf gibt?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Das Bundesumweltministerium hatte einen Entwurf
geplant, der auf einem Schwellenwertkonzept basiert. Im
Laufe der Ressortverhandlungen ist man allerdings zu
dem Schluss gekommen, dass ein Schwellenwertkon-
zept, das wichtig für die Einträge ist, auf die Ihre Frage
abzielt, erst in einem nächsten Anlauf, nämlich dann,
wenn wir die Ersatzbaustoffverordnung verabschieden,
vorgelegt wird. Es war angemahnt worden, dass die Poli-
tikfolgenabschätzung für die einzelnen Stoffe, die wir im
Blick hatten, noch nicht umfassend genug gewesen ist,
dass Materialwerte weiter bewertet werden müssten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5315
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
(A) (C)
(D)(B)
Uns als Bundesumweltministerium kommt es darauf
an, die Wasserqualität auf höchstem Niveau zu halten.
Wir halten das auch mit Blick auf den Ressourcenschutz
für wichtig. Da wir fachlich so gut wie möglich arbeiten
wollen, haben wir das Schwellenwertkonzept noch
einmal zurückgenommen, um die fachliche Arbeit zu er-
ledigen und wissenschaftlich das zu erbringen, was ge-
fordert wurde, und wollen dann im Herbst an die Erar-
beitung der Ersatzbaustoffverordnung gehen, die das
Schwellenwertkonzept umfassen soll.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Noch eine Nachfrage? – Bitte sehr.
Oliver Kaczmarek (SPD):
Meine Frage geht in die Richtung, die Sie schon ange-
sprochen haben. Ich beziehe mich auf die Schadstoffein-
träge durch Bauprodukte im Grundwasser. Wenn ich
richtig informiert bin, haben Sie in dem ersten Entwurf
geregelt, dass die Erlaubnis nach Wasserhaushaltsgesetz
dann erteilt wird, wenn die Schwellenwerte insgesamt
nicht überschritten werden. Es gibt einen neuen Entwurf,
nach dem es möglich sein soll, dass verunreinigtes
Grundwasser in einem angemessenen Zeitraum toleriert
wird, nämlich im Durchschnitt über einen kurzen Zeit-
raum und in räumlich begrenztem Volumen. Können Sie
sagen, auf welcher Grundlage Sie zu diesen Veränderun-
gen gekommen sind und ob das mit den EU-Vorgaben
vereinbar ist?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Ich fange mit der Frage nach den EU-Vorgaben an. Ja,
es ist damit vereinbar. Allerdings sind wir auch unter
zeitlichem Druck, weil wir die Verordnung schon längst
hätten umsetzen müssen und uns in einem Vertragsver-
letzungsverfahren befinden.
Das Schwellenwertkonzept geht – das haben Sie völ-
lig richtig gesagt – davon aus, dass dann, wenn ein be-
stimmter Wert unterschritten wird, eine Genehmigung
erteilt wird. Die Philosophie dahinter war, einen hohen
Umweltschutz, einen hohen Schutz des Gutes Wasser zu
haben, allerdings gepaart mit Verfahrenserleichterungen.
Dieses Konzept hat noch nicht jeden überzeugt. Deswe-
gen haben wir das Schwellenwertkonzept zunächst he-
rausgenommen. Wir wollen es dann in die Ersatzbau-
stoffverordnung, die in einem unmittelbaren fachlichen
Zusammenhang auch mit den von Ihnen erwähnten Bau-
zusatzstoffen steht, einbringen. Unser Ziel ist es aber zu-
nächst, bei der Europäischen Kommission etwas abzu-
liefern, was die Richtlinie eins zu eins umsetzt und für
einen hohen Wasserschutz sorgt. Wir hoffen, noch in
diesem Jahr mit einem auch ein Schwellenwertkonzept
umfassenden Entwurf aufwarten können.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vielen Dank.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung. Der Kollege
Parlamentarischer Staatssekretär Thomas Rachel steht
für die Beantwortung zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 13 des Kollegen Röspel
zum Beitrag der Grünen Gentechnik:
Ist die Erklärung der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Dr. Annette Schavan, dass die sogenannte Grüne
Gentechnik einen Beitrag zur Welternährung leisten kann
(Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung „Gentechnik kann Beitrag zur Welternährung leis-
ten“ vom 8. Juni 2010), dahin gehend zu verstehen, dass die
Bundesministerin Dr. Annette Schavan davon ausgeht, dass
transgene Pflanzen einen wesentlichen Beitrag zur Lösung
des Problems der Welternährung leisten können, und auf wel-
chen wissenschaftlichen Gutachten basiert diese Argumenta-
tion?
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Lieber Herr Kollege Röspel, Frau Bundesministerin
Annette Schavan geht davon aus, dass die Gentechnik
einen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherheit leis-
ten kann. Die Potenziale der Gentechnik werden in einer
Vielzahl von Publikationen beschrieben, beispielsweise
in der Broschüre Grüne Gentechnik der Deutschen For-
schungsgemeinschaft sowie in der dort angegebenen
Literatur, aber auch in einer Vielzahl von referierten wis-
senschaftlichen Publikationen. In dem Zusammenhang
verweise ich auf Nature Biotechnology von 2010, Jahr-
gang 28, Heft 4, Seite 319 bis 321.
René Röspel (SPD):
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dann kommen wir zu zwei Fragen der Kollegin
Sager. Hier geht es um die Umstrukturierung der medizi-
nischen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein.
Zunächst die Frage 14:
Wie steht die Bundesregierung zu den Plänen, wie sie in
der Presse zu lesen waren, die Medizinerausbildung aus der
Universität Lübeck herauszulösen und in das Forschungszen-
trum Borstel zu integrieren und anschließend das Forschungs-
zentrum Borstel von der Leibniz-Gemeinschaft in die
Helmholtz-Gemeinschaft zu überführen, und ist vorgesehen,
im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der medizini-
schen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein zusätzliche
Bundesmittel nach Schleswig-Holstein zu transferieren?
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Frau Kollegin Sager, die Universität Lübeck ist eine
Hochschule in der Rechtsträgerschaft des Landes
Schleswig-Holstein. Maßnahmen zur strukturellen Um-
gestaltung der Medizinischen Fakultät an der Universität
Lübeck fallen demnach logischerweise nicht in die Ent-
scheidungskompetenz des Bundes, sondern in die origi-
näre Zuständigkeit des jeweiligen Landes, in dem Fall
Schleswig-Holsteins.
Insofern sind auch Aussagen der Bundesregierung zu
Finanzierungs- oder Umsetzungsszenarien, wie einer
möglichen Integration von Teilbereichen der Universität
Lübeck in das Forschungszentrum Borstel oder Überfüh-
rungen von der Leibniz-Gemeinschaft in die Helmholtz-
Gemeinschaft, in Anbetracht des geltenden föderalisti-
5316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
(A) (C)
(D)(B)
schen Kompetenzgefüges und des aktuellen Verfahrens-
standes nicht angezeigt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Eine Nachfrage, Frau Sager.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Staatssekretär, Ihre Ministerin Frau Schavan
wurde am 16. Juni mit der Aussage zitiert: „Ich will
nicht mit ansehen, wie der Studiengang abgewickelt
wird“ und am 17. Juni mit dem Satz: „Wir prüfen Mög-
lichkeiten einer Hilfe“ – alles bezogen auf die Ankündi-
gung, dass im Sparpaket von Schleswig-Holstein die
Abwicklung des Studiengangs Medizin an der Universi-
tät Lübeck vorgesehen ist. Was haben Ihre Prüfungen in
Bezug auf die Möglichkeit einer Hilfe inzwischen erge-
ben, und in welcher Weise will Frau Schavan der Ab-
wicklung dieses Studiengangs entgegentreten?
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Frau Kollegin Sager, bei der genaueren Betrachtung
des Themas wird deutlich, dass die Universität Lübeck
und die Frage der Ausgestaltung oder Veränderung der
Medizinischen Fakultät in die Entscheidungskompetenz
des dafür zuständigen Landes Schleswig-Holstein fallen
und insofern auch Schleswig-Holstein entsprechend der
eigenen politischen Prioritätensetzung und auch den
fachlichen Einsichten in der Frage zu entscheiden hat.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Eine weitere Nachfrage, Frau Sager.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Darf ich das so verstehen, dass die Aussagen von Frau
Schavan: „Ich will nicht mit ansehen, wie der Studien-
gang abgewickelt wird“ und: „Wir prüfen Möglichkeiten
einer Hilfe“ in Wirklichkeit nur heiße Luft gewesen sind
und dass in Wirklichkeit gar nichts geprüft wird? Oder
haben Sie Pläne im Zusammenhang mit der angeblichen
Zusage, dass Schleswig-Holstein bis zu 100 Millionen
Euro als Belohnung dafür bekommen soll, dass es dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz am Ende im Bundes-
rat doch zugestimmt hat?
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Das dürfen Sie so nicht verstehen. Ich verweise da-
rauf, dass selbstverständlich bei allen Aktivitäten sowohl
die Länder als auch der Bund die jeweiligen gesetzlichen
und verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten ha-
ben, und auch die Bundesbildungs- und -forschungsmi-
nisterin wird dies selbstverständlich tun.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr von Notz.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Staatssekretär, am 14. Juni 2010 gab es ein Tref-
fen zwischen der Bildungsministerin, Herrn Carstensen
und Herrn Kubicki, das genau dieses Thema zum Ge-
genstand hatte. Die von meiner Kollegin zitierten Sätze
sind dort so gesagt worden. Insofern verwundern Ihre
Antworten. Vielleicht können Sie mit der folgenden
Frage mehr anfangen: Hält es die Bundesregierung für
möglich, durch die von der Bundesforschungsministerin
angeregte Rücknahme des Mehrwertsteuerprivilegs für
Hotels die Einnahmesituation Schleswig-Holsteins so zu
verbessern, dass die dortige schwarz-gelbe Landesregie-
rung vom Abbau der Medizinstudienplätze in Lübeck
absehen kann?
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Was ihr damit
alles bezahlen wollt!)
– Das hat die Ministerin angeregt.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die Minis-
terin ist eine hervorragende Fachkraft!)
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Herr Kollege, mit Ihrer Frage beziehen Sie sich auf
die Frage 17 des Kollegen Sönke Rix. – Die Mehrwert-
steuerhöhe wird in einer Kommission noch einmal in
Ruhe behandelt werden. Insofern wäre es zu früh, heute
abschließende Aussagen dazu zu machen.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist natürlich schade! Darf ich
noch eine Frage stellen?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Nein, da Sie nicht die Ursprungsfrage, sondern nur
eine Nachfrage gestellt haben.
Ich gebe jetzt noch drei Nachfragenden zu dieser
Frage das Wort. Danach ist die Zeit für unsere Frage-
stunde abgelaufen. – Herr Rossmann, bitte.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Herr Kollege Rachel, ist es richtig, dass der Bund in
der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz vertreten ist?
Wenn das so ist und wenn sich diese Gemeinsame Wis-
senschaftskonferenz aktuell damit befasst, einen Ge-
samtplan hinsichtlich des Bedarfs an und der Versorgung
mit Medizinstudienplätzen für Deutschland mit zu erar-
beiten: Macht es dann nicht doch Sinn, dass sich auch
der Bund dazu stellt?
Meine konkreten Fragen lauten: Wie stellt sich der
Bund dazu, dass in Lübeck real hochqualifizierte Stu-
dienplätze, die zu einer Bestbewertung der Medizini-
schen Fakultät an dieser Hochschule beigetragen haben,
abgebaut werden sollen, was nicht nur für Schleswig-
Holstein, sondern hinsichtlich der gesamten Versorgung
mit Studienplätzen der Medizin in Deutschland einen
gravierenden Einschnitt bedeuten könnte? Können Sie
bestätigen, dass dies von der Ministerin durchaus auch
sehr kritisch wahrgenommen worden ist, weshalb sie
sich ja dafür engagiert hat? Von daher ist es umso unver-
ständlicher, dass Sie davon jetzt weder etwas wissen
noch die Ministerin in ihrem Bemühen stützen wollen,
dieser besonderen Universität Lübeck für den medizini-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5317
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) (C)
(D)(B)
schen Bereich eine Unterstützung zu geben – egal, auf
welchem Weg.
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Herr Kollege Dr. Rossmann, die Studienplätze für
Medizin in der Bundesrepublik Deutschland sind Gegen-
stand in den Gesprächen zwischen den Bundesländern
und der Bundesregierung in den dafür vorgesehenen
Gremien. Eine Einzelbetrachtung eines Hochschulstand-
ortes kann für die dafür zuständige Landesregierung be-
sonders relevant sein, die dort auch in der Verantwortung
ist. Die Länder haben generell die Möglichkeit, eine Un-
terstützung des Bundes im Rahmen des Hochschulpakts
2020 zu erhalten, wenn sie zusätzliche Studienplätze im
Bereich Medizin zur Verfügung stellen.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Darf ich
noch eine zweite Frage stellen?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Hiller-Ohm, bitte.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Herr Staatssekretär, durch die Schließung der Medizi-
nerausbildung an der Universität Lübeck ist auch der Be-
stand der gesamten Universität Lübeck stark gefährdet.
Ich frage Sie, welche Schlussfolgerungen die Bundesre-
gierung aus den Befürchtungen zieht, dass mit der
Schließung der Universität Lübeck auch Forschungsein-
richtungen in der Region Schaden nehmen könnten?
Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft hat zum Bei-
spiel geäußert, dass das Borsteler Leibniz-Zentrum ge-
zwungen sein könnte, sich anders, beispielsweise in
Richtung Hamburg, zu orientieren. Meine Frage dazu:
Wie plant die Bundesregierung zu verhindern, dass
durch die Schließung der Medizinischen Fakultät in Lü-
beck auch vom Bund mitfinanzierte Einrichtungen Scha-
den erleiden?
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Sehr geehrte Frau Kollegin, die Frage, welche weitere
Existenz, welche Veränderungen oder Nichtveränderun-
gen Hochschulstandorte haben, fällt nach unserem
Grundgesetz ausschließlich in die Zuständigkeit des je-
weiligen Bundeslandes. Insofern ist die Frage von der
zuständigen Landesregierung zu beantworten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die letzte Frage stellt der Kollege Röspel. Bitte
René Röspel (SPD):
Herr Staatssekretär, wie bewertet die Bundesregie-
rung die Tatsache, dass Medienberichten zufolge die
Landesregierung von Schleswig-Holstein eine Bewer-
bung der Universität Lübeck im Rahmen der Fortsetzung
der dritten Exzellenzinitiative als nicht erwünscht abge-
lehnt und jegliche Unterstützung seitens des Landes
Schleswig-Holstein abgelehnt hat, um die Bewerbung
der Universität Kiel in gleicher Sache nicht zu gefähr-
den, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregie-
rung daraus für die weitere Ausgestaltung und Bewer-
tung der Exzellenzinitiative?
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Herr Kollege Röspel, die Exzellenzinitiative hat sich
bisher als außerordentlich interessante und erfolgreiche
Stimulierung der Forschung an den deutschen Hoch-
schulen herausgestellt. Wir haben bereits in den ersten
Monaten und Jahren feststellen können, dass sie eine dy-
namische Entwicklung an den Hochschulen und eine en-
gere Kooperation zwischen den Hochschulen und außer-
universitären Forschungspartnern bewirkt hat. Wir als
Bundesregierung sind sehr gespannt, welche Bundeslän-
der und welche Hochschulstandorte sich in der dritten
Runde der Exzellenzinitiative bewerben werden. Die
Bundesregierung wird weder die Initiative ergreifen, da-
mit sich einzelne Regionen bewerben, noch wird sie ein-
zelne Regionen davon abhalten, sich zu bewerben. Es ist
ausschließlich Aufgabe der zuständigen Hochschulinsti-
tutionen, dies gegebenenfalls im Zusammenwirken mit
außeruniversitären Forschungseinrichtungen und gege-
benenfalls in einer Diskussion mit dem zuständigen
Land zu tun. Die Bewertung der anschließend eingehen-
den Vorschläge wird ausschließlich auf wissenschaftli-
cher Grundlage und anhand wissenschaftlicher Expertise
erfolgen.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Darf man
noch eine Frage stellen?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Nein. Wir sind bereits sechs Minuten über die Zeit. –
Deswegen beende ich jetzt die Fragestunde.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des § 33 des Gerichtsverfassungsgeset-
zes
– Drucksache 17/1462 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 17/2350 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Christine Lambrecht
Jörg van Essen
Jens Petermann
Jerzy Montag
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine
Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Bundesministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
1) Die Fragen 15 bis 88 werden schriftlich beantwortet. Die Frage 75
wurde zurückgezogen.
5318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei unterschiedli-
che Probleme gelöst werden, und zwar in der Art und
Weise, dass im Ergebnis der Rechtsstaat gestärkt wird.
Mit der Ergänzung des Schöffenrechts greifen wir einen
Vorstoß der Länder auf. Niemand kann – darüber sind
wir uns einig – an einem Strafprozess als Schöffe sinn-
voll mitwirken, wenn er die deutsche Sprache nicht aus-
reichend beherrscht. Er kann in diesem Fall dem Lauf
der Verhandlung nicht richtig folgen, und er kann bei der
abschließenden Beratung des Gerichts nicht richtig mit-
wirken. Es hat in der Vergangenheit Einzelfälle gegeben,
in denen genau das der Fall gewesen ist. Dieser Miss-
stand wird mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes aufge-
griffen. Es geht um die Gründe für die Nichtberufung in
das Amt des Schöffen.
Es soll festgeschrieben werden, dass künftig niemand
zum Schöffen berufen werden soll, der die deutsche
Sprache nicht ausreichend beherrscht. Das richtet sich
zunächst an die Institutionen, die die Schöffen wählen,
aber es wird auch eine gesetzliche Grundlage geschaf-
fen, damit jemand von der Schöffenliste gestrichen wer-
den kann. Wichtig ist – das betone ich hier ausdrücklich,
weil es in den Beratungen des Rechtsausschusses eine
Rolle gespielt hat –, dass die Anforderungen an die
Sprachkenntnisse nicht überspannt werden dürfen. Es
geht nicht darum, das gesamte juristische Fachvokabular
zu beherrschen, sondern es geht darum, zu verstehen,
was vorgetragen wird, der Verhandlung zu folgen und
die Beratung nicht nur mitverfolgen, sondern auch sich
selbst einbringen zu können. Das ist in den Beratungen
des Rechtsausschusses betont und auch von uns erklärt
und so zu Protokoll gegeben worden. Das gilt natürlich
auch bei der Anwendung. Ich denke, mit dieser Ergän-
zung des Gerichtsverfassungsgesetzes sind wir auf ei-
nem guten Weg.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Schöffen sollen möglichst alle gesellschaftlichen
Gruppen repräsentieren, also auch Zuwanderer. Gerade
Migranten mit deutschem Pass sollen künftig öfter zu
Schöffen berufen werden. Gerade weil wir wollen, dass
es mehr Menschen mit Migrationshintergrund in diesem
Amt gibt, gilt natürlich die Anforderung, dass dieses
Amt nur dann sinnvoll ausgefüllt werden kann, wenn die
deutsche Sprache ausreichend beherrscht wird. Auch un-
ter diesem Aspekt ist die Ergänzung richtig.
Aber es gibt noch einen zweiten Gegenstand, der im
Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingebracht worden
ist und nicht schon Gegenstand des Gesetzentwurfs des
Bundesrats gewesen ist. Hintergrund ist die Entwicklung
in den letzten Monaten, die Sie alle kennen, und zwar
die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte im Hinblick auf die Änderung des Ge-
setzes zur Sicherungsverwahrung im Jahr 1998, mit der
die Befristung auf zehn Jahre rückwirkend aufgehoben
wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte kam hier anders als früher das Bundesverfas-
sungsgericht zu dem Ergebnis, dass es sich in diesen Fäl-
len um eine unzulässige Rückwirkung handele.
Jetzt geht es in einem ersten Schritt – wir haben im
Kabinett mehrere Schritte vereinbart – darum, den Ge-
richten eine Hilfe an die Hand zu geben. Wir wissen,
dass es 75 bis 85, vielleicht auch 90 Menschen in Siche-
rungsverwahrung gibt – ganz genau kann man das nicht
sagen –, für die diese Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte zutreffen kann. Wir
erleben jetzt in der Praxis, dass die Gerichte unterschied-
liche Entscheidungen treffen – es kommt zu Entlassun-
gen; es kommt zur Ablehnung des Antrags auf Entlas-
sung –, weil man sich an die Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die-
sem Punkt nicht gebunden fühlt. Im Moment enden die
Verfahren beim Oberlandesgericht. Wir wollen nun mit
der Divergenzvorlage eine Ergänzung in unser System
aufnehmen. Die Vorlagepflicht an den Bundesgerichts-
hof, wenn die Oberlandesgerichte von der Rechtspre-
chung eines anderen Gerichts abweichen wollen, hat
sich in anderen Fällen bewährt. Das ist also nicht neu.
Wir wollen dieses Instrument jetzt auch für den Fall der
Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus einführen.
Die Umsetzung eilt. Deshalb bedanke ich mich sehr
dafür, dass es möglich gewesen ist, diese Änderung mit
in dieses Gesetzgebungsverfahren aufzunehmen. Es
passt inhaltlich ganz gut zusammen; denn es geht in bei-
den Fällen um das Gerichtsverfassungsgesetz. Das ist
jetzt also nicht ein abwegiger Omnibus, der da gewählt
wird, was von Rechtspolitikern immer zu Recht kritisiert
wird, sondern es passt inhaltlich zusammen. Außerdem
kommt aus allen Bundesländern, noch einmal auf der
Justizministerkonferenz in der letzten Woche ausdrück-
lich bekräftigt, der Wunsch, diese Regelung zu haben.
Wer davon Gebrauch macht, das können wir nicht beur-
teilen; aber hier angesichts einer sich unterschiedlich
entwickelnden Rechtsprechung einen Beitrag zu leisten,
damit es durch eine Vorlage an den Bundesgerichtshof
zu einer Einheitlichkeit in diesen wichtigen Fragen der
Entscheidungsfindung kommt, ist geboten, richtig und
angemessen. Alle verantwortlichen Landesjustizminister
haben sich dafür ausgesprochen.
Das ist nur ein Aspekt im Zusammenhang mit den
schwierigen Fragen der Sicherungsverwahrung. Es gibt
zwei weitere Aspekte, die heute nicht zur Beratung an-
stehen: die Änderung der Führungsaufsicht, die wir Ih-
nen vorschlagen werden, und auch die grundlegende
Ausrichtung der Sicherungsverwahrung. Das hat jetzt
nichts mit dem Fall Mücke vor dem Europäischen Ge-
richtshof für Menschenrechte zu tun. Wir wollen ein in
sich möglichst widerspruchsfreies System und Konzept
schaffen. Dazu sind Eckpunkte Grundlage der Be-
schlussfassung im Bundeskabinett gewesen.
Die Eckpunkte – ich habe sie dem Rechtsausschuss
zugeleitet – sehen eine deutliche Verlagerung vor, näm-
lich weg von der nachträglichen hin zu der vorbehalte-
nen Sicherungsverwahrung, und natürlich den Erhalt der
primären Sicherungsverwahrung. Dazu gibt es viele Fra-
gen, auch wichtige Fragen der Ausgestaltung. Das ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5319
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) (C)
(D)(B)
aber nicht Gegenstand des jetzigen Gesetzgebungsver-
fahrens, sondern wird Gegenstand eines weiteren Ver-
fahrens sein, mit dem wir uns hoffentlich sehr zügig
nach der Sommerpause befassen.
Ganz herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Danckert von der
SPD-Fraktion.
Dr. Peter Danckert (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-
desministerin, das ist in der Tat heute nicht Gegenstand,
aber Sie haben das Stichwort „Sicherungsverwahrung“
und die Eckpunkte angesprochen. Wir von der SPD-
Fraktion sind bereit, dabei konstruktiv mitzuarbeiten.
Die große Linie stimmt. Ich persönlich würde aus heuti-
ger Sicht sagen: Wenn die vorbehaltene Sicherungsver-
wahrung sozusagen eine Art Regelfall würde, nach dem
Motto „Vorsichtshalber behalten wir uns mal die Siche-
rungsverwahrung vor“, dann wäre das nicht der richtige
Weg. Aber wir sind ja noch dabei, das auszuformulieren.
Das Thema Führungsaufsicht wird eine Rolle spielen.
Wir sind also bereit, dabei mitzuarbeiten.
Auf den ursprünglichen Gesetzentwurf ist etwas
draufgesattelt worden. Danach sollen die Oberlandesge-
richte die Möglichkeit haben, zur Vereinheitlichung ihrer
Rechtsprechung eine Sache dem Bundesgerichtshof vor-
zulegen. Diese Möglichkeit zu schaffen, ist völlig rich-
tig. Das ist eine praktische Notwendigkeit, wie wir aus
Hinweisen, die wir zum Bereich der Gesamtrechtspre-
chung der Oberlandesgerichte bekommen haben, erken-
nen können. Hier ist eine Vereinheitlichung erforderlich.
Deshalb tragen wir das Gesetz insgesamt mit.
Unser Kritikpunkt betrifft die Änderung des § 33 Ge-
richtsverfassungsgesetz. Das ist ein Anliegen der Bun-
desländer, das wir schon in der letzten Legislaturperiode
behandeln sollten. Die damalige Koalition aus CDU/
CSU und SPD hat es nicht für erforderlich angesehen,
dem zu folgen. Für mich persönlich und für meine Frak-
tion hat sich daran auch nichts Wesentliches geändert.
Wenn das der einzige Punkt wäre, über den wir heute ab-
stimmen, würden wir nicht zustimmen können. Aber wir
lassen uns wegen der Gesamtbedeutung dazu bringen,
dem Gesetzentwurf doch zuzustimmen.
§ 33 Gerichtsverfassungsgesetz gibt vor, wann eine
Person nicht zum Schöffenamt berufen werden soll.
Wenn die Person etwa ein bestimmtes Lebensalter noch
nicht erreicht hat oder ein bestimmtes Lebensalter schon
vollendet hat oder ihr Wohnsitz nicht in einem bestimm-
ten Bereich liegt, soll sie nicht zum Schöffen berufen
werden. Auch der gesundheitliche Zustand spielt eine
Rolle.
Aus meiner beruflichen Erfahrung sage ich: Der
Grundsatz, dass der Angeklagte im Verfahren den ver-
fassungsrechtlichen Anspruch auf den gesetzlichen
Richter hat, ist nicht hoch genug zu bewerten. Nun kann
man meinen, bei den vielen Schöffen sei es doch egal, ob
es diese oder jene Person ist. Nein, das ist durchaus ein
erheblicher Unterschied. Deshalb müssen wir an dieser
Stelle genau darauf achten, dass die Regeln, die das Ge-
richtsverfassungsgesetz vorschreibt, eingehalten werden.
Ich blicke jetzt ein bisschen zurück, weil die Zeit es
erlaubt. Aus meiner beruflichen Erfahrung als Strafver-
teidiger sage ich: Es gab keine Defizite des Gerichtsver-
fassungsgesetzes, sondern Defizite in der Umsetzung der
gesetzlichen Regelungen. Zunächst einmal war der Ein-
schnitt am 1. Januar 1979, als man den Verteidigern die
Verpflichtung auferlegt hat – den Staatsanwaltschaften
übrigens auch, aber die haben davon nie Gebrauch ge-
macht –, die Gerichtsbesetzung bei Verfahren, die am
Landgericht oder Oberlandesgericht beginnen, wenn
überhaupt, dann zu Beginn der Hauptverhandlung zu rü-
gen.
Die Überlegung war gar nicht so schlecht. Es gab
zwei Gesichtspunkte. Man wollte nicht am Ende des
Verfahrens von irgendeiner Besetzungsrüge überrascht
werden, also der Rüge, dass es nicht der gesetzliche
Richter war, der mitgewirkt hat. Man spekulierte darauf,
dass die Verteidiger am Beginn des Verfahrens noch
nicht so initiativ werden würden. Das genaue Gegenteil
war der Fall. Man hat sich mit dieser neuen Materie sehr
intensiv beschäftigt. Das war auch eine meiner damali-
gen Aufgaben. Dabei ergab sich, dass die Hauptmängel,
die wir im Rahmen der Besetzungsrüge aufgedeckt ha-
ben, Verfahrensverstöße waren, die in den Etappen Vor-
schlagsliste und Schöffenwahl bzw. Schöffenauslosung
passiert waren, weil man, was eigentlich überrascht,
feststellen konnte, dass diese klaren gesetzlichen Rege-
lungen nicht richtig gelesen wurden oder man sich die
Sache sehr einfach gemacht hat.
In dieser Situation sind wir auch heute noch. Der An-
lass für diese vorgeschlagene gesetzliche Änderung ist,
dass sich am Beginn oder während einer Hauptverhand-
lung herausstellt, dass ein Schöffe die deutsche Sprache
nicht ausreichend beherrscht oder keine ausreichenden
Kenntnisse besitzt. Das ist das Kriterium.
Die Gerichtssprache ist nach dem Gerichtsverfas-
sungsgesetz deutsch. Gewählt werden kann als Schöffe
nur jemand, der Deutscher ist. Insofern fragt man: Wo ist
das Problem? Das Problem besteht darin, dass man sich
die Sache bei der Erstellung der Vorschlagsliste – das ist
die erste Etappe – sehr einfach macht. Hier hat die Kom-
mune die Aufgabe, 100, 200, 500, manchmal 1 000 – in
Großstädten noch mehr – Namen von Einwohnern aus
ihrem Bereich auf die Schöffenliste zu setzen. Die Sache
wird oft sehr mechanisch – ich sage nicht: willkürlich –
gemacht, also ohne sich die Personen, deren Namen auf
die Vorschlagsliste sollen, genauer anzusehen und mög-
licherweise auch ohne anhand von persönlichen Daten
zu klären: Ist diese Person geeignet, als Schöffe vorge-
schlagen zu werden, oder nicht? Wenn man das täte,
dann gäbe es gar keine Notwendigkeit, § 33 des Ge-
richtsverfassungsgesetzes um Personen zu erweitern, die
die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen.
Man könnte solche Personen schon vorher aussortieren.
Das Problem aber ist, dass diese Dinge sehr pauschal ge-
handhabt werden und man sich nicht die Zeit nimmt,
5320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Peter Danckert
(A) (C)
(D)(B)
dem Grundsatz des gesetzlichen Richters genügend Be-
deutung beizumessen. Die Erstellung der Liste wird als
eine ärgerliche und überflüssige Verwaltungsarbeit ange-
sehen. Diese Ansicht führt dann zu Verstößen und zu Si-
tuationen, die dazu führen, dass man im Verfahren eine
Entscheidung treffen muss, auf die ich noch kurz einge-
hen werde.
Ein weiterer Punkt, den wir damals aufgedeckt haben,
bezog sich auf die Schöffenwahl. Wenn man sich wie
das Landgericht Frankfurt die Sache sehr leicht macht
und die Schöffen zulost, obwohl im Gesetz steht, dass
die Schöffen aus der Schöffenliste gewählt werden müs-
sen, kann es passieren, dass sich, wenn sich die Verteidi-
ger mit dieser Frage beschäftigen, ein gesetzlicher Ver-
stoß herausstellt, der in Berlin bei der Hilfsschöffenliste
und in Frankfurt bei der Schöffenwahl dazu geführt hat,
dass die Wahl ungültig war. Das hat aber nichts damit zu
tun, dass das System, in dem wir arbeiten, erhebliche
Mängel hat, sondern das hat damit zu tun – ich sage es
einmal mit meinen Worten –, dass eine gewisse Faulheit
oder Nachlässigkeit an den Tag gelegt wurde, die zu die-
sen Mängeln geführt hat.
In Augsburg war es eine andere Situation. Die Par-
teien, die in der Gemeindevertretung saßen, haben ge-
sagt: Wir brauchen 52 Schöffen. Die CSU kann – so sage
ich es einmal – 16 Vorschläge machen. Eine Abspaltung
von der CSU – Herr Stadler, wie hieß sie noch? – kann
14 Schöffen vorschlagen, und die SPD kann 12 oder
13 Schöffen benennen. Dann kamen noch ein paar an-
dere Parteien zum Zuge. – Auch das war ein eklatanter
Verstoß gegen das Gesetz, und auch diese Schöffenliste
ist vom Bundesgerichtshof sozusagen atomisiert wor-
den. Bei einer normalen Prüfung wäre das nicht möglich
gewesen.
Man kann an diesem schön abgestuften Verfahren Er-
stellung der Vorschlagsliste, Schöffenwahl bzw. Schöf-
fenauslosung schon erkennen, was notwendig ist, um zu
sehen: Steht auf dieser Liste der Name eines Schöffen,
der die deutsche Sprache beherrscht? Jetzt soll eine Än-
derung eingeführt werden, weil es Einzelfälle gegeben
hat, in denen der Schöffe die deutsche Sprache nicht be-
herrscht hat. In ganz Deutschland, wo jeden Tag gericht-
liche Verfahren mit Schöffen ablaufen, gibt es gerade
zwei, drei oder vier Verfahren mit einem solchen Man-
gel.
An diesem Vorschlag stört mich am meisten, dass so-
zusagen ein Einfallstor geöffnet wird, mit dem man in
der Hauptverhandlung einen nicht genehmen, weil mög-
licherweise sehr aktiven Schöffen aus dem Verfahren he-
rausnehmen kann. Dieser Missbrauch muss ausgeschlos-
sen werden. Das ist erforderlich. Nach der jetzigen
gesetzlichen Regelung – insofern halte ich sie für unvoll-
kommen – handelt es sich bei der Schöffenbestellung um
eine unanfechtbare Entscheidung eines Vorsitzenden.
Nun werden die allermeisten Vorsitzenden keine will-
kürlichen Entscheidungen treffen; aber ich wünsche mir,
dass auf der Basis des derzeit geltenden Rechts im Ge-
richtsverfassungsgesetz ein Verfahrensweg ermöglicht
wird, mit dem auch dieser Missbrauch ausgeschlossen
wird. Wir hatten hierzu ein erweitertes Berichterstatter-
gespräch geführt – Sie werden sich daran erinnern, oder
es ist Ihnen darüber berichtet worden –, in dem gesagt
wurde, dass es sich, wenn Entsprechendes passiert, um
Willkür handele und ein so gravierender Verstoß sei, den
man dann wieder rügen könne. Wer schon einmal eine
Revisionsrüge auf richterliche Willkür zu stützen ver-
sucht hat, der weiß, dass das ein Unterfangen ist, das ei-
nen wirklich nicht weiterbringt.
Mir wäre sehr viel daran gelegen, wenn wir neben ei-
ner Lösung für diese nun wirklich nicht eilige Frage, die
ja nun seit Jahren im Raum steht – ich glaube, fünf bis
sechs Jahre –, uns auch einmal überlegten, wie wir ei-
gentlich unser System der ehrenamtlichen Richter, das
richtig und notwendig ist, so reformieren können, dass
wirklich etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Hier wird
nur der eine Punkt aufgegriffen, nämlich dass es sich um
einen Schöffen handelt, der die deutsche Sprache nicht
ausreichend beherrscht. Das ist eine sehr vage und pro-
blematische Formulierung: Wird hier vom Niveau des
Lesers der Bild-Zeitung ausgegangen oder von welchem
Niveau? Außerdem sollten wir auch an Wirtschaftsstraf-
verfahren denken. Hier kommt es ja nicht darauf an, dass
jemand gut deutsch sprechen kann, sondern darauf, dass
er versteht, worum es geht. Aber genau in diesem Be-
reich handeln wir nicht, obwohl hier Handlungsbedarf
besteht.
Mir wäre es lieb gewesen, wenn wir eine Gesamtre-
form dieser inzwischen sehr schwierigen Fragen – das
gebe ich zu – gemeinsam auf den Weg gebracht hätten.
Es handelt sich hierbei um kein parteipolitisches Thema
– das sehe ich durchaus –, sondern um ein Thema, bei
dem es auch darum geht, unsere Gesellschaft davon zu
überzeugen, dass die Arbeit als ehrenamtlicher Richter
bei strafrechtlichen Entscheidungen – bei verwaltungs-
rechtlichen ist es so ähnlich – notwendig und richtig ist.
Wenn wir nur an einer Stelle herumdoktern, ist das nicht
überzeugend. Ich habe deshalb erhebliche Bedenken, zu-
mal hier auch die Möglichkeit eröffnet wird, dass es zu
willkürlichen Entscheidungen kommt. Ich hoffe, dass
das nicht eintritt.
Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich
hoffe, dass Sie im Rahmen Ihrer Regierungsarbeit der
nächsten Zeit – man weiß ja nicht, wie lange das noch
geht – sich dieses Themas noch einmal annehmen. Bei
der Sicherungsverwahrung sind wir dabei; bei einer wei-
terführenden Diskussion über dieses Thema wären wir
auch dabei.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Andrea Voßhoff von der
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Herr Kollege Danckert, große Reformen brauchen
manchmal viel Zeit. Dass wir das als christlich-liberale
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5321
Andrea Astrid Voßhoff
(A) (C)
(D)(B)
Koalition noch in dieser Legislaturperiode schaffen,
kann ich Ihnen nicht zusagen. Das sollte uns aber nicht
davon abhalten, mit kleinen Schritten in die richtige
Richtung zu gehen.
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
– Seien Sie sicher, dass die christlich-liberale Koalition
diese Legislaturperiode gut durchstehen wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Christine Lambrecht [SPD]: Da müssen Sie
sich aber völlig wandeln! – Christian Lange
[Backnang] [SPD]: Überraschungen gibt es
immer wieder!)
Mit der heutigen abschließenden Beratung der Bun-
desratsinitiative zur Änderung des Gerichtsverfassungs-
gesetzes nehmen wir die Klarstellung auf, dass Schöffen
– das ist schon gesagt worden –, die die deutsche Spra-
che nicht ausreichend beherrschen, von der Ausübung
des Schöffenamtes ausgeschlossen sind. Auch wir als
Union halten diese rechtliche Klarstellung für notwendig
und geboten. Mein Kollege Heveling wird dazu gleich
noch einiges aus Sicht der Union sagen.
Den Gesetzentwurf des Bundesrates – das ist heute
auch schon erwähnt worden –, den wir heute abschlie-
ßend beraten, haben wir als Trägergesetz für eine weitere
Initiative nutzen können. Dass dies zügig geschehen und
heute zum Abschluss gebracht werden konnte, dafür und
für die zielgerichtete Vorarbeit dürfen auch wir uns, Frau
Ministerin, bei Ihnen und beim BMJ, aber auch bei der
Opposition, die dies ebenfalls konstruktiv begleitet hat,
ganz herzlich bedanken.
Der eigentliche Grund für die Eile dieses Gesetzge-
bungsverfahrens ist – das wissen Sie, und das kann man
auch ganz offen sagen –, dass wir uns wieder einmal mit
Schutzlücken und grundsätzlichen Fragen im Bereich
der Sicherungsverwahrung auseinandersetzen müssen.
Mit diesem Gesetzentwurf eröffnen wir sozusagen er-
neut eine parlamentarische und – davon gehe ich aus –
intensive und nachhaltige Debatte zu den Grundsatzfra-
gen der Sicherungsverwahrung. Dass dies notwendig ge-
worden ist, hat – das ist schon angeklungen – seinen
konkreten Anlass in der aktuellen Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der im
Dezember vergangenen Jahres und mittlerweile auch
rechtskräftig entschieden hat, dass es sich bei der Siche-
rungsverwahrung nicht um eine Maßregel, sondern um
eine Strafe im Sinne der Europäischen Menschenrechts-
konvention handle, die dem Rückwirkungsverbot unter-
liegt. Diese Entscheidung ist rechtskräftig. Sie betrifft,
auch wenn immer eine Einzelfallentscheidung erforder-
lich ist, potenziell alle Straftäter, gegen die vor 1998 eine
Sicherungsverwahrung ausgesprochen wurde, weil der
Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt die bis dahin beste-
hende Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung von
zehn Jahren auf unbefristet verlängert hat.
Man geht davon aus, dass bundesweit bei circa
70 Personen – Frau Ministerin, Sie nannten andere Zah-
len – die Frage zu klären ist, ob sie in Ansehung des Ur-
teils des EGMR zu entlassen sind. Dazu gibt es bereits
erste Entscheidungen mit unterschiedlichen rechtlichen
Ergebnissen. Aller Voraussicht nach stehen demnächst
weitere Entscheidungen an. Deshalb und wegen der
grundsätzlichen Frage, um die es hier geht – einerseits
geht es um den grundrechtlich geschützten Freiheitsan-
spruch des Einzelnen und andererseits um die ebenso
schützenswerten Interessen der Opfer und Bürger vor
nach wie vor gemeingefährlichen Tätern –, ist auch aus
unserer Sicht eine einheitliche Rechtsprechung von
grundsätzlicher Bedeutung.
Wie eben ausgeführt, ist Eile geboten. Deshalb nutzen
wir diesen Gesetzentwurf, um in einer ersten gesetzge-
berischen Reaktion eine Antwort auf das Urteil des
EGMR zu geben. Diese Antwort ist rein verfahrens-
rechtlicher Natur. Durch die Vorlagepflicht zum Großen
Strafsenat des BGH wollen wir vermeiden, dass bei den
Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte in den
Ländern mit Blick auf die potenziell betroffenen Täter
ein rechtlicher Flickenteppich entsteht, also nicht
Gericht A den betroffenen Täter freilässt, während
Gericht B ihn in der Sicherungsverwahrung belässt.
Das Urteil des EGMR hat aber auch neue Fragen im
Bereich der Sicherungsverwahrung aufgeworfen, die es
nicht heute, aber langfristig für den Gesetzgeber zu be-
antworten gilt. Dazu gehört die Frage – auch das ist
heute schon angeklungen –, ob und wie wir in Fällen un-
umgänglicher Entlassungen die Führungsaufsicht für
weiterhin gefährliche Straftäter effizienter gestalten kön-
nen. Die christlich-liberale Koalition ist sich einig, Än-
derungen im Bereich der Führungsaufsicht auf den Weg
zu bringen. Das betriff zum einen die Einführung der
elektronischen Aufenthaltsüberwachung für Gewalt- und
Sexualstraftäter. Um es gleich vorweg zu sagen: Das soll
keine elektronische Fußfessel im eigentlichen Sinn sein,
weil es im vorliegenden Fall nicht darum geht, den be-
treffenden Delinquenten zu Hause festzuhalten. Wir
wollen vielmehr eine Lösung, die es ermöglicht, mithilfe
von GPS-Signalen den jeweiligen Aufenthaltsort von
Sexual- oder Gewaltstraftätern feststellen zu können.
Wenn er sich beispielsweise einem Kindergarten oder ei-
nem Spielplatz nähert, soll das der Führungsaufsichts-
stelle umgehend signalisiert werden, damit dort schnell
reagiert werden kann. Auch über die Erweiterung der
Möglichkeit der unbefristeten Verlängerung der Füh-
rungsaufsicht von Sexualstraftätern auf Gewaltstraftäter
wollen wir in diesem Zusammenhang diskutieren.
Wir müssen auch Antworten auf weitere grundsätzli-
che Fragen geben. Die christlich-liberale Koalition ist
sich der Bedeutung des Themas bewusst. Sie weiß um
die Notwendigkeit gesetzgeberischen Handlungsbedarfs
und wird dieser nachkommen. Die Ministerin hat auf die
Eckpunkte der Bundesregierung verwiesen.
Ich denke, das Recht der Sicherungsverwahrung ist
eines der schwierigsten, wenn nicht gar das schwierigste
Thema in der Rechtspolitik. Dieses Thema hat uns in
den vergangenen Jahren immer wieder vor Herausforde-
rungen gestellt; das zeigen auch die Entscheidungen der
Obergerichte. Seit 1995 ist allein im Bereich des Erwach-
senenstrafrechts die Sicherungsverwahrung fünfmal ge-
ändert worden. Trotzdem ist immer noch kein wider-
5322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Andrea Astrid Voßhoff
(A) (C)
(D)(B)
spruchsfreies System entstanden. Diejenigen, die das
Thema eine Zeit lang begleitet haben – dazu gehöre ich –,
wissen, dass wir als Gesetzgeber oftmals auf Einzelfälle
zu reagieren hatten und deshalb oft zu kurzfristigen Ent-
scheidungen gezwungen waren.
Nichtsdestotrotz haben wir es jetzt mit einer Entschei-
dung des EGMR zu tun. Es liegt mir völlig fern, die Ent-
scheidung des EGMR zu kritisieren. Ich denke, an dieser
Stelle darf ich aber sagen: Ich hätte es als sehr wün-
schenswert empfunden, wenn das EGMR die Entschei-
dung wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser An-
gelegenheit zur Großen Kammer verfügt hätte und die
Entscheidung von dort gekommen wäre.
(Beifall des Abg. Michael Grosse-Brömer
[CDU/CSU])
Den Bürgern ist es nur schwer zu vermitteln, dass Men-
schenrechte es gebieten, dass nach wie vor hochgefährli-
che Straftäter sehenden Auges auf die Menschheit losge-
lassen werden. Das muss man an dieser Stelle erwähnen
dürfen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Gleichwohl haben wir uns der Herausforderung zu
stellen, die die deutsche Rechtslage uns im Lichte der
EGMR-Entscheidung aufzwingt bzw. in der Folge von
uns verlangt. Der Gesetzgeber kann nicht untätig blei-
ben. Wenn man die Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichts der Vergangenheit liest, wird klar, dass es
durchaus möglich ist, tätig zu werden. Das Bundesver-
fassungsgericht hat entschieden, dass ein Verstoß gegen
die EMRK durch eine entscheidende Änderung der
Sach- und Rechtslage entfallen kann. Sogar ein formal
unrechtmäßiger Freiheitsentzug kann für eine Über-
gangszeit gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber die
Zeit nutzt, um eine neue, konventionskonforme Rege-
lung zu schaffen. Aus diesem Grunde, denke ich, führt
kein Weg an der Reform der Sicherungsverwahrung vor-
bei. Das ist von der Justizministerin vorhin erwähnt wor-
den.
Das Eckpunktepapier ist auch aus Sicht der Union
eine gute Ausgangsgrundlage. Es ist ein Maßnahmen-
bündel, durch das in vielfältiger Weise versucht wird,
nicht nur die aktuelle Lage nach dem EGMR-Urteil zu
verbessern und die Führungsaufsicht effizienter zu ge-
stalten, sondern auch die Frage der zukünftigen Gestal-
tung der Sicherungsverwahrung neu auszutarieren. Die
Ministerin hat einige Punkte genannt. Ich kann sie aus
Zeitgründen nicht wiederholen.
Auch wenn die Eckpunkte für uns eine gute Aus-
gangsgrundlage sind, sage ich an dieser Stelle – das ist
dem Koalitionspartner bekannt; darüber ist gesprochen
worden –: Wir als Union haben noch Diskussionsbedarf
bezüglich der nachträglichen Sicherungsverwahrung. In
der derzeitigen Form kann sie nicht bestehen bleiben;
wir wollen aber nicht, dass sie in Gänze zurückgedrängt
wird. Ich denke, angesichts dieses komplexen Themas
muss noch eine Diskussion geführt werden.
Wir Rechtspolitiker haben in einem Positionspapier
zur Diskussion gestellt, ob man die Sicherungsverwah-
rung in ein neues System der nachträglichen Sicherungs-
unterbringung überführen und dabei ganz bewusst die
Kriterien der Strafe – die Entscheidung des EGMR be-
sagt, dass die bestehende Sicherungsverwahrung eine
Strafe sei – von der künftigen Sicherheitsunterbringung
abtrennen sollte. Das bezieht sich nicht auf die Verurtei-
lung. Es wird immer wieder gesagt, wir könnten jeman-
den nicht nur aufgrund seiner Gefährlichkeit im An-
schluss an die Haft in Sicherheitsunterbringung nehmen;
darum geht es nicht. Es muss immer ein Bezug zu der
Straftat, die zur Verurteilung geführt hat, bestehen. Das
ist selbstverständlich. Wenn dann in einem neuen Ver-
fahren entschieden werden muss, ob eine Unterbringung
erforderlich ist oder nicht, muss von der Gefährlichkeit
des Täters zu dem Zeitpunkt ausgegangen werden. Die
Unterbringung muss dann eine Form von Therapie sein.
Ein eigener Spruchkörper, an dem auch Psychiater betei-
ligt sind, sollte dies entscheiden. Auch Therapieansätze
und Resozialisierungsmöglichkeiten dienen dem Schutz
der Bevölkerung.
Wir meinen, dass man über dieses neue Verfahren dis-
kutieren sollte. Ob der Weg gangbar ist, wird die fachli-
che Diskussion zeigen. In jedem Fall wird die christlich-
liberale Koalition dieses Gesetzgebungsverfahren zu ei-
nem der schwierigsten Gebiete der Rechtspolitik mit der
gebotenen Gründlichkeit betreiben.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Jens Petermann (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates soll
ermöglicht werden, Bürgerinnen und Bürger, die die
deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, vom
Schöffenamt auszuschließen. An die Schöffinnen und
Schöffen, die regelmäßig als juristische Laien in das Eh-
renamt berufen werden, sind in der Tat beträchtliche An-
forderungen gestellt. Sie haben während der Hauptver-
handlung richterliche Befugnisse. Ihre Stimme hat bei
der Urteilsfindung das gleiche Gewicht wie die Stimme
eines Berufsrichters. Schöffinnen und Schöffen sind
gleichfalls mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet.
Deshalb müssen sie in gleicher Weise wie Berufsrichter
geeignet sein, die für die Entscheidung erheblichen Tat-
sachen aufzunehmen.
Was erwartet man also von den Personen, die bereit
sind, dieses wichtige Ehrenamt auszuüben? Sie müssen
zwischen 25 und 70 Jahre alt sein, ihren Wohnsitz im
Gerichtsbezirk haben und dürfen nicht in Vermögensver-
fall geraten sein. Sie müssen gesundheitlich für das Amt
geeignet sein. Darüber hinaus kann das Ehrenamt des
Schöffen nur von einem deutschen Staatsbürger ausge-
übt werden. Das Recht auf ein faires Verfahren für den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5323
Jens Petermann
(A) (C)
(D)(B)
Angeklagten gebietet eine sorgfältige Auswahl der
Schöffen.
Das Gerichtsverfassungsgesetz verlangt indes für die
Eignung als Schöffe generell keine besonderen intellek-
tuellen Fähigkeiten. Dennoch bedarf es hinreichender
Kenntnisse der deutschen Sprache, da die Gerichtsspra-
che bekanntermaßen Deutsch ist. Dabei stellt sich die
Frage, ob nicht auf der Grundlage des geltenden Rechts
dem Problem mangelnder Deutschkenntnisse von Schöf-
fen begegnet werden kann. Die Große Koalition – das
wurde bereits angesprochen – sah diesbezüglich in der
letzten Legislaturperiode keinen Handlungsbedarf, wo-
bei insbesondere die SPD vor einem Einfallstor für
Missbrauch warnte.
Die angesprochenen Fälle mangelnder Deutschkennt-
nisse bei Schöffen sind für uns jedenfalls kein Argument
für die dringende Notwendigkeit der geplanten Rege-
lung, die nun im Galopp durch das Parlament gejagt
werden soll.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir vertreten die Auffassung, dass Gründlichkeit vor
Schnelligkeit gehen muss. Bereits aufgrund der beste-
henden Rechtslage ist ein Schöffe, der der deutschen
Sprache nicht ausreichend mächtig ist, unfähig, ein
Schöffenamt auszuüben, und kann von der Schöffenliste
gestrichen werden.
Der Gesetzentwurf lässt völlig offen, auf welcher
Grundlage die Gemeindeverwaltungen die sprachlichen
Fähigkeiten der Kandidaten und Kandidatinnen überprü-
fen sollen, und kann damit dem selbstgestellten An-
spruch nicht gerecht werden. Es ist vielmehr zu befürch-
ten, dass allein ein fremdländisch klingender Name Indiz
für die Nichtbeherrschung der deutschen Sprache ist.
Dies ergab jedenfalls die Anhörung der von der Koali-
tion geladenen Sachverständigen in einem Berichterstat-
tergespräch.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch
überhaupt nicht!)
Wie die betroffenen Personen ihre Kenntnisse nach-
weisen müssten oder wie die Gemeinden, die die Vor-
schlagslisten aufzustellen haben, mit diesen Anforderun-
gen umgehen sollen, wird ausgeblendet. Damit öffnet
der Gesetzentwurf wiederum willkürlichen Entscheidun-
gen Tür und Tor.
Zum Thema Divergenzvorlage: Es ist offensichtlich,
dass die Koalition nunmehr mangels bestehender, durch-
dachter Konzepte zur Sicherungsverwahrung an den ur-
sprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates den Vor-
schlag zur Divergenzvorlage des Bundesgerichtshofs
anhängen will. Dies hat aber mit der Frage der Eignung
zum Schöffenamt, dem ursprünglichen Thema, nichts zu
tun.
Am Umgang mit diesem Thema zeigt sich wieder,
dass sich die Koalition sehr schwertut. Selbst ein Rüffel
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in
Sachen Sicherungsverwahrung führt nicht dazu, dass
sich hier besonders viel bewegt. Die Koalition reagiert
mit einem verfahrensrechtlichen Vorschlag zur Diver-
genzvorlage an den Bundesgerichtshof in der Hoffnung,
dass es die Richter in ihrem Sinne richten werden.
Die Linke kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Allein das fragwürdige Verfahren des Anhängens an ei-
nen inhaltsfremden Gesetzentwurf ist schon Grund ge-
nug für eine Ablehnung. Aber auch inhaltlich überzeugt
uns der Gesetzentwurf nicht. Die absehbare Verzögerung
wegen der Vorlage zum Bundesgerichtshof wird dazu
führen, dass die Sicherungsverwahrten weiter einsitzen,
während die Regierung weiter streitet, wie nun zu ver-
fahren sei. Das halten wir für unwürdig und kann aus un-
serer Sicht auch nicht als Fortschritt gefeiert werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist offensichtlich, dass es darum geht, Zeit zu ge-
winnen, um den inhaltlichen Dissens zwischen CDU/
CSU und der Bundesjustizministerin auszufechten. Statt
sich mit den grundrechtsrelevanten Regelungen der Si-
cherungsverwahrung zu befassen und gesetzgeberisch
tätig zu werden, verlagern Sie die Frage auf die Recht-
sprechung. Dem können wir nicht zustimmen. Wir sagen
aber grundsätzlich zu, dass wir uns in der Frage der Si-
cherungsverwahrung konstruktiv an einer Diskussion
beteiligen werden.
(Beifall bei der LINKEN – Hans-Christian
Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
würden wir gerne hören!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag von
Bündnis 90/Die Grünen.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Gerichtssprache ist Deutsch. Ich halte es für selbsterklä-
rend, dass selbstverständlich alle Verfahrensbeteiligten
deutsch verstehen und sprechen können müssen. Viele
Jahrzehnte war das so unproblematisch, dass der Gesetz-
geber nicht die Notwendigkeit sah, in das Gesetz hinein-
zuschreiben, dass Schöffen deutsch sprechen und verste-
hen müssen.
Die Frage ist, ob es jetzt notwendig ist. Es gibt einige
wenige Fälle, in denen Schöffen sich tatsächlich selbst
meldeten und sagten, dass sie nicht teilnehmen wollen,
weil sie nicht deutsch sprechen können, oder Vorsit-
zende dies festgestellt haben. In diesen Fällen haben Ge-
richte entschieden, interessanterweise die einen, indem
sie dem Schöffen einen Dolmetscher zur Seite gestellt
haben, und die anderen, indem sie einen solchen Schöf-
fen als ungeeignet zurückgewiesen haben.
Wir sind der Meinung, dass eine Regelung notwendig
ist. Deswegen haben wir auch gegenüber der ursprüngli-
chen Formulierung, dass ein Schöffe über hinreichende
Deutschkenntnisse verfügen muss, im Grundsatz keine
Einwände gehabt. Aber die Tatsache, dass die Koalition
in den letzten Tagen die Formulierung geändert hat, und
die Ergebnisse im erweiterten Berichterstattergespräch
haben uns schon nachdenklich gemacht.
5324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Jerzy Montag
(A) (C)
(D)(B)
Diese Regelung richtet sich – der Kollege Danckert
hat das ganz ausführlich und völlig korrekt dargestellt –
an die Kommunen. Es stellt sich die Frage: Was machen
die Kommunen eigentlich mit dieser Regelung bei der
Auswahl der Bürgerinnen und Bürger für die Schöffen-
wahl? Wir haben im erweiterten Berichterstattergespräch
zwei Varianten vernommen.
Die eine Variante war: Die Kommunen werden be-
reits nach dem Namen oder nach dem Geburtsort aussie-
ben. Wenn das geschähe, dann wäre das willkürlich, und
das wäre rechtswidrig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und bei den LINKEN)
Zur zweiten Variante. Der Vertreter aus Hamburg, der
die dortige Behörde leitet, hat gesagt, nach seiner Mei-
nung werde seine Behörde auf diese gesetzliche Rege-
lung überhaupt nicht reagieren, sondern die Vorschlags-
listen weiter so zusammenstellen, wie sie es bisher getan
hat. Damit verlagert sich das Problem, ob ein Schöffe
Deutsch kann, auf die Situation vor Beginn der Haupt-
verhandlung: Was macht der Vorsitzende, wenn er mit
einem Schöffen konfrontiert wird, von dem er denkt,
dass er nicht genügend Deutsch kann? Schon angesichts
dieser Problematik ist die Änderung des Vorschlags von
Bedeutung. Während es bisher auf Vorschlag des Bun-
desrats geheißen hat, es müssten hinreichende Kennt-
nisse der deutschen Sprache vorliegen, und man dazu er-
klärend gelesen hat, ein Schöffe müsse Deutsch
verstehen und Deutsch sprechen können, soll jetzt eine
Veränderung vorgenommen werden. Jetzt heißt es, er
müsse die deutsche Sprache ausreichend beherrschen.
Jetzt stelle ich Ihnen die Frage: Wer entscheidet ei-
gentlich nach welchen Kriterien, wer von uns die Spra-
che ausreichend beherrscht? Einige könnten sagen:
Selbst die, die in diesem Hohen Hause reden, beherr-
schen die deutsche Sprache nicht ausreichend.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Viele!)
Damit wird sozusagen das Feld eröffnet. Ich greife den
Gedanken von Herrn Danckert auf – dieser Gedanke ist
nämlich richtig –: Wenn die Entscheidung des Vorsitzen-
den Richters nicht angreifbar ist und unwiderruflich gilt,
dann gibt es die Möglichkeit zu einem Missbrauch. An-
gesichts dessen sagen wir: Wir wären den Weg, hinrei-
chende Deutschkenntnisse zu verlangen, mitgegangen;
aber die Änderung, eine ausreichende Beherrschung der
deutschen Sprache zur Voraussetzung zu machen, ver-
bunden mit dem Hinweis, dass das eine aktive Sprachbe-
herrschung bedeutet, wollen wir nicht mitgehen. Deswe-
gen lehnen wir diesen Änderungsvorschlag ab.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nun noch ein Wort zur Sicherungsverwahrung, die
hier ebenfalls in Rede steht. Das, was jetzt zu reparieren
ist, hat Schwarz-Gelb vor über zehn Jahren verbockt.
Vor über zehn Jahren wurde die Zehnjahresfrist gestri-
chen. Über die Übergangsregelungen hat man sich keine
Gedanken gemacht. Die Tatsache, dass das nicht gesche-
hen ist, holt Sie jetzt ein. Trotzdem ist die Divergenzvor-
lage notwendig. Das Argument der Linken, das wir hier
gehört haben, hat mit der Sache nicht das Geringste zu
tun. Es kommt nicht auf eine Verzögerung an, sondern
auf einen Fall wie folgenden: Wenn das Oberlandesge-
richt Nürnberg in Kenntnis der Entscheidung des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte Personen aus
einer Sicherungsverwahrung nicht herauslässt, das Ober-
landesgericht Stuttgart dies allerdings tut, dann haben
wir es mit einer unterschiedlichen Behandlung durch die
Oberlandesgerichte zu tun, ohne dass es eine Möglich-
keit der Vereinheitlichung gibt. Diese Möglichkeit muss
es geben. Bisher ist sie nicht vorgesehen. Deswegen
stimmen wir der Divergenzvorlage zu.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aber das entbindet nicht von der Kritik, dass die Ko-
alition – sie geht jetzt in die Sommerferien – zur Frage
der Sicherungsverwahrung bei der Führungsaufsicht
– auch da geht es um 70 bis 80 Personen – nichts vorge-
legt hat, obwohl die Zeit drängt. Das kritisieren wir. Wir
werden an den Debatten im Herbst teilnehmen. Wir wer-
den uns konstruktiv einbringen. Wir finden einige As-
pekte der Eckpunkte der Vorlage der Union sogar posi-
tiv.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Montag!
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Andere finden wir natürlich nicht positiv. Dass Sie zu
der Frage der Führungsaufsicht – sie ist genauso bren-
nend wie die Divergenzvorlage – hier nicht sofort etwas
vorgelegt haben, das kreiden wir Ihnen an.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine der zentralen Forderungen der bürgerlichen Revo-
lutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die
Forderung nach einer Bürgerbeteiligung bei der Justiz.
Entsprechend den Zielen der Vormärzbewegung, die
Freiheit des Einzelnen zu sichern und die staatliche
Macht zu begrenzen, verlangte das Bürgertum Möglich-
keiten zur Mitwirkung an sämtlichen Staatsfunktionen
einschließlich der Justiz.
(Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Man forderte die Einführung von Schwurgerichten nach
französischem Vorbild, und das mit Erfolg: Nach Aus-
bruch der Revolution im Jahr 1848 wurde die Institution
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5325
Ansgar Heveling
(A) (C)
(D)(B)
der Geschworenengerichte in die Paulskirchenverfas-
sung und die Landesverfassungen aufgenommen.
Wenn ein Amt damals so hart von den Bürgern er-
kämpft wurde, dann beweist dies: Unser Schöffenamt
verkörpert die direkte Beteiligung des Volkes an der drit-
ten Gewalt. Es stellt sicher, dass Urteile eben nicht am
grünen Tisch, sondern im Namen des Volkes gesprochen
werden. Die Laienbeteiligung ist nach wie vor eine we-
sentliche und notwendige Ausgestaltung des Demokra-
tieprinzips und Ausdruck unserer vielfältigen demokrati-
schen Verschränkungen der rechtsprechenden Gewalt.
Neben dem notwendigen juristischen Sachverstand,
der durch die Berufsrichter in das Verfahren eingebracht
wird, wird auf diesem Wege das gesellschaftlich aner-
kannte Gerechtigkeitsempfinden in den Prozess inte-
griert. Schöffen wirken dabei nicht nur als gesetzliche
Richter an der Entscheidungsfindung mit; sie sind zu-
gleich Garanten für die gesellschaftliche Befriedungs-
funktion des Rechts. Schöffen sind mithin aus unserem
Gerichtssystem nicht mehr wegzudenken.
Angesichts des zutiefst demokratischen und richtigen
Anspruchs, Schöffen aus möglichst allen Bevölkerungs-
schichten zu rekrutieren, bestehen nur relativ wenige
formale Grenzen. Grundsätzlich soll das Schöffenamt
von jedem deutschen Staatsbürger ausgeübt werden kön-
nen. Das soll und muss so bleiben. Daher gibt es in den
§§ 33 und 34 des Gerichtsverfassungsgesetzes nur einen
eng gefassten Katalog von persönlichen und funktiona-
len Ausschließungsgründen. Korrespondierend dazu
kann nur ein sehr begrenzter Personenkreis, der in § 35
des Gerichtsverfassungsgesetzes benannt ist, die Beru-
fung in das Schöffenamt von sich aus ablehnen.
So wichtig es aber aus grundsätzlichen, den Kern un-
seres Demokratieverständnisses berührenden Erwägun-
gen heraus ist, allen Teilen der Bevölkerung den Zugang
zum Schöffenamt zu eröffnen, so wichtig ist es aus
grundsätzlichen und grundrechtlichen Erwägungen
auch, die Funktionsfähigkeit der Gerichte und die Be-
achtung sämtlicher Verfahrensgrundsätze wie etwa der
Unmittelbarkeit im Strafprozess sicherzustellen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Bei der vorgesehenen Änderung des § 33 des Ge-
richtsverfassungsgesetzes geht es daher um die richtige
und schonende Ausbalancierung dieses Spannungsfel-
des. Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, sicherzustel-
len, dass nach wie vor allen Teilen der Bevölkerung der
Zugang zum Schöffenamt eröffnet wird. Es ist aber
ebenso unsere Aufgabe, zur Sicherstellung der Funk-
tionsfähigkeit des Schöffenamtes dafür Sorge zu tragen,
dass Schöffinnen und Schöffen tatsächlich in der Lage
sind, ihre wichtige Aufgabe angemessen und amtsent-
sprechend auszuüben.
Ein in der Praxis zwar quantitativ nicht zu überschät-
zendes, in den rechtlichen und tatsächlichen Auswirkun-
gen aber nicht zu unterschätzendes Problem führt daher
bei den Bestellungsvoraussetzungen an einer Stelle zu
Anpassungsbedarf. Hintergrund ist, dass es in der Praxis
Verfahren gegeben hat und gibt, bei denen sich heraus-
stellt, dass die beigezogenen Schöffen nicht in ausrei-
chendem Maße der deutschen Sprache mächtig sind. Für
diesen Fall kennt das Gesetz bislang keine rechtlich ein-
wandfreie Lösung. Offensichtlich ist damit alles doch
nicht ganz so selbstverständlich, wie es mein Vorredner
hier dargestellt hat.
Wenn diese Situation eintritt, stellt dies die gerichtli-
che Praxis vor erhebliche Probleme. Die Praxis versucht
derzeit im Wesentlichen auf zwei Wegen, dieses Pro-
blem zu lösen. Beide stehen jedoch auf rechtlich töner-
nen Füßen. Der eine Weg ist, solche Schöffinnen und
Schöffen von der Schöffenliste zu streichen. Dies ist in-
dessen rechtlich problematisch, weil das Gesetz derzeit
das Spracherfordernis gerade nicht als Bestellungsvor-
aussetzung konstituiert. Mit welcher rechtlich tragfähi-
gen Begründung ließe sich dann so vorgehen? Der an-
dere Weg ist nicht minder problematisch. Hierbei wird
dem des Deutschen nicht mächtigen Schöffen ein Dol-
metscher zur Seite gestellt. Inwieweit damit noch die un-
mittelbare Wahrnehmung des Prozessgeschehens als Vo-
raussetzung zur Beurteilung gewährleistet ist, erscheint
fraglich. Ebenso problematisch und strittig ist die Betei-
ligung des Dolmetschers an der Urteilsberatung, an der
nur die zur Entscheidung berufenen Richter teilnehmen
dürfen. Es stellt sich also auch die Frage nach der ord-
nungsgemäßen Besetzung des Gerichts.
Es zeigt sich: Beide derzeit von der Praxis gewählten
Lösungswege sind wackelig und daher rechtlich bis hin
zu revisionsrelevanten Überlegungen angreifbar. Das
lässt es sinnvoll erscheinen, mit einer gesetzgeberischen
Klarstellung zu reagieren. Dies geschieht mit der Ergän-
zung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes, wonach
Personen, die mangels ausreichender Beherrschung der
deutschen Sprache für das Amt nicht geeignet sind, nicht
zu Schöffinnen und Schöffen berufen werden sollen. Die
Koalitionsfraktionen sind der Auffassung, dass durch die
Ergänzung des § 33 GVG dem vorstehend beschriebe-
nen Problem mit einer rechtlich ausreichend klaren Re-
gelung begegnet wird.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Heveling, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Danckert?
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Danckert.
Dr. Peter Danckert (SPD):
Herr Kollege, wenn wir schon diese Vorschrift ein-
führen, mit all den Problemen, die im Laufe dieser
Debatte beschrieben worden sind, wäre es dann nicht an-
gezeigt, dass man im Bereich des § 52 Abs. 3 Gerichts-
verfassungsgesetz – das Gericht macht sich unter Betei-
ligung der Staatsanwaltschaft ein Bild über die Eignung
des Schöffen bezüglich der ausreichenden Beherrschung
der Sprache – den Verteidiger des Angeklagten an der
Entscheidung beteiligen würde?
5326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Es ist nicht ausgeschlossen, dass es noch zu weiteren
Diskussionen kommt. Die heutige Entscheidung über
das GVG ist sicherlich nicht die abschließende Entschei-
dung.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das war eine halbe Zusage! – Gegenruf
des Abg. Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]:
Eine Diskussion ist noch gar nichts!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
War das Ihre Antwort?
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Das war die Antwort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön. Dann fahren Sie fort.
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Auf diese Weise wird ein revisionsfester Weg eröff-
net, um Schöffinnen und Schöffen von der Schöffenliste
zu streichen, wenn sich erweist, dass sie der deutschen
Sprache nicht ausreichend mächtig sind.
Natürlich gibt jede neue Regelung, jedes neue ein-
schränkende Zulassungskriterium Raum für Beurteilun-
gen. Insoweit sind die in der Diskussion vonseiten der
Opposition aufgeworfenen Fragen keineswegs falsch.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aha!)
Wir als Koalition sind indessen der Auffassung, dass der
Gesamtproblematik durch die Ergänzung des § 33 GVG
gut und richtig Rechnung getragen wird. Natürlich könn-
ten die Kommunalverwaltungen – wie vom Kollegen
Montag eben angesprochen – trotzdem versucht sein, bei
der Aufstellung bloß nach den Namen zu gehen. Aber
wir haben ein gestuftes Verfahren. Wir haben zwei Kol-
legialorgane, die darüber entscheiden: den Gemeinderat,
der die Listen beschließt, und das Gremium, das die
Schöffen auswählt.
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Abhaken!)
– Herr Danckert, abhaken mag an manchen Stellen die
Praxis sein, aber ich selbst bin lange genug kommunaler
Fraktionsvorsitzender gewesen, um zu wissen, dass man
die Listen schon sehr genau durchgeht; denn man hat
eine demokratische Entscheidung zu treffen. Insofern ist
das aus theoretischer Sicht kein Angriffspunkt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Heveling, es gibt eine weitere Frage des Kolle-
gen Jerzy Montag.
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Herr Kollege Montag, gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Montag.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke sehr. – Herr Kollege, Sie haben zu Recht da-
rauf hingewiesen, dass es Gremien gibt – den Gemeinde-
rat, aber auch im Wahlverfahren –, in denen Überprü-
fungsinstanzen möglich sind. Würden Sie mir
zustimmen, dass es einen entscheidenden Unterschied
zwischen der Zusammensetzung der Schöffenliste bei-
spielsweise am Landgericht Amberg in der Oberpfalz
mit einem überschaubaren Kreis von Personen, Interes-
sierten und Vorgeschlagenen gibt
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Da kennt jeder jeden!)
und dem, was wir im erweiterten Berichterstatterge-
spräch zum Beispiel über Hamburg gehört haben? Dort
müssen in jeder Wahlperiode 1 700 Schöffen gewählt,
das heißt 3 400 Personen in die Liste eintragen werden.
Der Leiter der Abteilung, der in Hamburg damit be-
schäftigt ist, hat uns gesagt, es ist absolut ausgeschlos-
sen, dass sich die Gemeinde – auf welcher Ebene auch
immer – mit diesen Personen näher beschäftigt und mit
ihnen spricht. Vielmehr nehmen sie die Leute, die vorge-
schlagen werden. Die genügen aber nicht. Dann nehmen
sie welche nach dem Zufallsgenerator aus dem Einwoh-
nermeldeamt. Er hat uns gesagt: Entweder schmeißen
wir die Leute mit ausländischem Namen und Auslands-
geburtsorten raus, oder wir machen nichts. Ich frage Sie,
ob Sie den Unterschied zwischen kleinen Gemeinden, in
denen Sie vielleicht in der Vergangenheit mitgearbeitet
haben, und Großstädten sehen, in denen sich dieses Pro-
blem ergibt.
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Herr Kollege Montag, ich kann natürlich kaum be-
streiten, dass Amberg und Hamburg unterschiedlich
große Städte sind. Da gebe ich Ihnen – das ist Punkt eins –
vollkommen recht. Punkt zwei: Es mag auch sein, dass
vonseiten der Kommunalverwaltung – das habe ich ja
auch entsprechend so angesprochen – diese Praxis so ge-
übt wird. Aber es ist doch ein ganz übliches Verfahren,
dass die Fraktionen bzw. Parteien und sonstige gesell-
schaftliche Organisationen auch noch eigene Vorschläge
in die Ratsgremien einbringen können, die dann in die
Abstimmung eingehen. Das heißt, es wäre jeder Partei
bzw. jeder Institution unbenommen – wenn das eben so
wichtig ist –, selbst darauf zu achten. So praktizieren wir
das in meiner zugegebenermaßen eher kleinstädtisch ge-
prägten Situation; aber das spricht nicht dagegen, dass
man das in Großstädten nicht genauso praktizieren kann.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die sortieren doch gar nicht aus!)
Natürlich kann auch nicht ausgeschlossen werden,
dass das Kriterium der Beherrschung der deutschen
Sprache missbraucht werden kann, um Schöffen von der
Liste zu streichen. Diese Möglichkeit wird aber auch
durch andere Kriterien – wie zum Beispiel die gesund-
heitliche Eignung – theoretisch eröffnet. Hier gilt, was
überall gilt: Willkürentscheidungen werden durch kei-
nerlei gesetzliche Grundlagen abgedeckt und sind dem-
entsprechend auch weiterhin rechtlich angreifbar.
Wir sind der Auffassung, dass es richtig ist, auf die
Beherrschung der deutschen Sprache – im Gegensatz zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5327
Ansgar Heveling
(A) (C)
(D)(B)
bloßen Kenntnissen – abzustellen. Das Schöffenamt ist
ein aktives Amt. Schöffinnen und Schöffen müssen dem
Geschehen nicht nur passiv folgen können, sie haben
eine aktive Rolle. Ein Urteil ist das Ergebnis von Bera-
tungen. Für und Wider sind diskursiv abzuwägen. Auch
das ist ein hohes und zutiefst demokratisches Element in
unseren Gerichtsverfahren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das setzt aber voraus, dass die an der Beratung Beteilig-
ten ihre Standpunkte auch tatsächlich vor- und einbrin-
gen können. Dazu muss man mehr können, als bloß zu
verstehen. Salopp formuliert: Man muss in der Lage
sein, den gesunden Menschenverstand, den Schöffinnen
und Schöffen in die Beratung einbringen sollen, auch
tatsächlich zu artikulieren – nicht weniger, aber auch
nicht mehr. Daher werden wir der vorgesehenen Ergän-
zung des § 33 GVG zustimmen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
stimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichts-
verfassungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2350,
den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1462
in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen verlangt getrennte Abstimmung.
Ich rufe die Ziffer 2 der Beschlussempfehlung auf,
und zwar nur Art. 1 Buchstaben a und b. Ich bitte dieje-
nigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Teil des Ge-
setzentwurfs ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen, der Fraktion der SPD bei Gegenstimmen von den
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Zum anderen rufe ich die Ziffer 1 der Beschlussemp-
fehlung und Ziffer 2 der Beschlussempfehlung, und
zwar nur Art. 1 Buchstabe c sowie Art. 2 des Gesetzent-
wurfs auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Auch dieser Teil des Gesetzentwurfs ist – diesmal
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen, bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke – angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf
insgesamt angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Frak-
tion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Gerd
Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Keine Patente auf Pflanzen und Tiere
– Drucksache 17/2016 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Patentierung von Pflanzen, Tieren und biolo-
gischen Züchtungsverfahren stoppen
– Drucksache 17/2141 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
dagegen Widerspruch? – Das ist wohl nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Matthias Miersch von der SPD-
Fraktion das Wort.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Keine Patente auf Pflanzen und Tiere“, das ruft bei dem
einen oder anderen Zuhörer dieser Debatte sicherlich
erst einmal Erstaunen hervor: Worum geht es? Wenn
man dann noch hört, dass es darum geht, dass den Pa-
tentämtern inzwischen in der Tat Anträge vorliegen, sich
das gute Schnitzel oder den herkömmlichen Brokkoli pa-
tentieren zu lassen, dann merkt man schnell: Auf der ei-
nen Seite ist das Schmunzeln vielleicht nicht aus dem
Gesicht zu bekommen, auf der anderen Seite aber auch
die Verwunderung nicht.
Um das Thema, um das es hier und heute geht, auf
den Punkt zu bringen, will ich zu Beginn meiner Rede
ein Zitat eines Vertreters eines großen, multinationalen
Konzerns anführen, der gesagt hat: Unser Ziel ist es, die
Ernährung der Bevölkerung vom Acker bis zum Teller
zu steuern. – An diesem Zitat wird deutlich, welche Stra-
tegie in bestimmten Zentralen dieser Welt ausgeheckt
wird und wie diese Strategie aussieht. Wir sind gut bera-
ten, diese Entwicklung sehr aufmerksam zu verfolgen.
Es geht um drei zentrale Bereiche, die alle Menschen
weltweit betreffen: Das ist Energie, das ist Wasser, und
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Dr. Matthias Miersch
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das ist die Ernährung. Wenn es gelingt, sich ein Recht
auf die Ernährung zu sichern und dieses Recht als Werk-
zeug zu verwenden, um die Ernährung zu steuern, wenn
nicht sogar zu monopolisieren, dann haben wir nicht nur
ein ökologisches, sondern auch ein ökonomisches und
vor allen Dingen ein soziales Problem. Deswegen haben
wir heute diesen Antrag eingebracht.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Worum geht es? Wir können sehen, dass die Zahl der
Anträge für Patente auf Pflanzen, aber nicht nur auf
Pflanzen, sondern generell auf die ganze Ernährungs-
kette, angefangen bei der Pflanze über Samen bis hin zu
den daraus resultierenden Produkten einer Pflanze – es
geht beispielsweise nicht nur um die Sojapflanze, son-
dern auch um ihr Öl –, zunimmt. Wir sehen auch, dass es
nicht mehr nur darum geht, sich beispielsweise gentech-
nisch verändertes Futter schützen zu lassen, sondern
gleich das Futter, das Schwein, das es gefressen hat, und
auch das Schnitzel, das daraus letztlich erwachsen wird.
Diese Beispiele zeigen, ein bisschen umgangssprach-
lich formuliert, dass es hier tatsächlich um das Elemen-
tarste geht. Wir müssen aufpassen, dass wir unser Recht
auf gewerblichen Schutz, das eigentlich dazu dient, Er-
findungen zu schützen, sehr wohl in Einklang mit den
Interessen der Bevölkerung weltweit bringen.
Wir erleben augenblicklich aber genau das Gegenteil:
dass dieses Recht zu ungenau ist, dass die Begriffe, mit
denen in den Patentämtern hantiert wird, auslegungsfä-
hig sind, sodass sie nach unserer Auffassung miss-
braucht werden. Wir sind gut beraten, uns zu fragen: Wie
können wir hier eine Grenze einziehen, damit es nicht zu
diesen Missbräuchen kommt?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es kann nicht sein, dass wir sagen: Eine Pflanzensorte
darf nicht patentiert werden; aber das Gen, das wir in
eine Pflanze stecken, kann dazu führen, dass sämtliche
Pflanzenarten, ganze Baumgruppen beispielsweise,
plötzlich patentierungsfähig sind. Dies erleben wir zur-
zeit. Wir als Gesetzgeber dürfen nicht als Zuschauer
agieren, sondern wir sind es, die über gesetzliche Grund-
lagen entscheiden. Wir müssen diese Verantwortung
wahrnehmen und dürfen diese Verantwortung nicht Ge-
richten überlassen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wer sich vor Augen hält, worüber das Europäische
Patentamt in München am 20. und 21. Juli dieses Jahres
verhandelt, der sieht, dass wir es mit dem Versuch zu tun
haben, sogar konventionelle Züchtungsverfahren schüt-
zen zu lassen. Damit schafft man nicht nur das Recht an
einer Pflanzensorte, sondern man setzt sehr viel früher
an. Man setzt beim Züchtungsverfahren an und versucht,
sich das Recht, mit diesem Verfahren eine Pflanzensorte
zu züchten, schützen zu lassen.
Wenn jemand dieses Recht hat, dann wird es niemand
anderem möglich sein, auf dieses Züchtungsverfahren
zurückzugreifen. Dies wird zu einem Problem, weil so-
zusagen der Ursprung der Ernährung schon mit einem
Recht behaftet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die
SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass dies
nicht sein darf.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir in diesem Hohen Hause sind gut beraten, uns
diese Rechtsentwicklung aufmerksam anzusehen und im
Übrigen auch das zur Kenntnis zu nehmen, was der Wis-
senschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministe-
rium uns sogar schon vor einigen Jahren auferlegt hat.
Da hat er nämlich geschrieben, dass er die Erteilungspra-
xis des Europäischen Patentamts mit Besorgnis zur
Kenntnis nimmt. Wenn man dann noch sieht, dass eine
unabhängige Kontrollinstanz fehlt und dass dieses Amt
durch die für die Patente gezahlten Gebühren und nicht
durch unabhängige Gelder finanziert wird, sodass die
Neigung, ein Patent zu verwehren, nicht besonders stark
ausgeprägt ist, dann weiß man, dass wir hier über sehr
grundsätzliche Dinge reden müssen. Ich lade Sie alle
recht herzlich ein, das gemeinsam zu tun. Der Deutsche
Bundestag sollte möglichst einmütig zum Ausdruck
bringen, dass diese Rechtsentwicklung von uns allen
nicht gewollt ist. Das ist ein dickes Brett, weil es nicht
nur um nationales, sondern auch um europäisches Recht
geht. Aber wir müssen hier handeln, weil diese Rechts-
entwicklung schädlich für die Menschen ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth von
der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über das Thema der Patentierung von Tieren und Pflan-
zen hat der Deutsche Bundestag bereits im vergangenen
Jahr debattiert. Damals wurde ein Antrag diskutiert, der
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt
wurde. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in den
jetzt eingebrachten Anträgen durchaus erstrebenswerte
Zielsetzungen. Auch in der Koalitionsvereinbarung hat
die christlich-liberale Koalition klar geäußert, dass sie
auf landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen
keine Patente will. Wörtlich heißt es dort:
Unabhängig vom Schutz des geistigen Eigentums
wollen wir auf landwirtschaftliche Nutztiere und
-pflanzen kein Patentrecht.
Das ist an Klarheit nicht zu überbieten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir bekennen uns im Koalitionsvertrag – auch vor
dem Hintergrund internationaler Abkommen – aber auch
ganz klar und ebenso zu Recht zum Schutz des geistigen
Eigentums:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5329
Dr. Stephan Harbarth
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Innovationen und Erfindungen sind für die volks-
wirtschaftliche Entwicklung unseres an Rohstoffen
armen Landes, für die internationale Wettbewerbs-
fähigkeit unseres Landes und für den Schutz von
Arbeitsplätzen in Deutschland von zentraler Bedeu-
tung. Wir wollen deshalb den rechtlichen Rahmen
für einen wirksamen Schutz des geistigen Eigen-
tums durch Patente, Marken und Muster weiter
stärken und den Zugang zu Schutzrechten für den
Mittelstand erleichtern.
Wir werden uns auch auf europäischer und interna-
tionaler Ebene für wirksame Maßnahmen gegen die
weltweite Marken- und Produktpiraterie einsetzen.
So formuliert es der Koalitionsvertrag sehr eindrucks-
voll.
Wir stehen für den Schutz des geistigen Eigentums.
Aber wir stehen nicht für einen Schutz des geistigen Ei-
gentums um jeden Preis. Wir stehen nicht für einen
Schutz des geistigen Eigentums unter Aufgabe ethischer
Grundsätze. Zu diesen ethischen Grundsätzen gehört die
Überzeugung, dass Tiere und Pflanzen zentrale Bestand-
teile unserer Schöpfung sind. Eine Politik, die sich ethi-
schen Grundsätzen verpflichtet weiß, kann aber nicht bei
dieser Überzeugung stehen bleiben. Sie muss zugleich
berücksichtigen, dass auch wissenschaftlicher Fortschritt
zur Lösung von Problemen und zur Linderung von Leid
ethisch begründet sein mag.
Legt man diese Maßstäbe zugrunde, wird klar: Auch
im Biopatentrecht werden Änderungen unumgänglich
sein. Aber ebenso klar ist: Der heutige Zeitpunkt ist für
die Diskussion, an welchen Stellen man das Biopatent-
recht tatsächlich ändern muss, um die Patentierung von
Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungsverfahren
zu verhindern, denkbar ungeeignet.
Warum ist er denkbar ungeeignet? Er ist deshalb
denkbar ungeeignet, weil in wenigen Tagen vor der Gro-
ßen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts
die mündliche Verhandlung zum sogenannten Brokkoli-
Patent stattfinden wird. Dabei geht es entscheidend um
den Begriff eines im Wesentlichen biologischen Verfah-
rens. Dies ist von herausragender Bedeutung für die Ab-
grenzung herkömmlicher, nicht patentierungsfähiger
Züchtungsverfahren einerseits und patentierbarer erfin-
derischer Leistungen andererseits. Diese Entscheidung
sollten wir in Ruhe abwarten und sie dann der weiteren
Debatte zugrunde legen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sollte sich dabei herausstellen, dass solche biologi-
schen Verfahren, bei denen ein geringer und damit unwe-
sentlicher technischer Anteil hinzukommt, keine – wie
das Gesetz es formuliert – „im Wesentlichen biologi-
schen Verfahren“ sind, dann wird gesetzlicher Ände-
rungsbedarf bestehen. Dann wird es darum gehen, die
gesetzlichen Grundlagen zu ändern, weil anderenfalls
Patente möglich wären, für die es inhaltlich keine Recht-
fertigung gibt. Dies darf nicht sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen in Erin-
nerung rufen, dass es vor fünf Jahren CDU und CSU wa-
ren, die im Rahmen der Umsetzung der Biopatentrichtli-
nie die Eingrenzung der Reichweite des Patentschutzes
durch die Einschränkung des Stoffschutzes initiiert ha-
ben.
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie waren gar nicht dabei!)
Damit haben wir in Deutschland ein Schutzniveau
durchgesetzt, das über die europäischen Vorgaben hi-
nausgeht. Der damalige Vorschlag der rot-grünen Bun-
desregierung sah vor, die Bestimmung der Reichweite
des Patentschutzes den Gerichten zu überlassen. Auf-
grund der Initiative von CDU/CSU ist in Deutschland
nun eine Patentierung menschlicher Gensequenzen nur
dann möglich, wenn die Verwendung der Sequenz mit in
den Patentanspruch aufgenommen wird. Damit wurde
der absolute Stoffschutz durch einen zweckgebundenen
Stoffschutz ersetzt, sodass der Stoffschutz in Deutsch-
land nur für die in dem Patent beschriebene Verwendung
gilt. Dass Sie dieses hohe Schutzniveau, das Sie CDU
und CSU verdanken, heute auch auf europäischer Ebene
erreichen wollen, spricht allerdings für Ihre Erkenntnis-
fähigkeit und freut uns deshalb umso mehr.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auch die christlich-liberale Koalition will nicht, dass
Patente auf jahrhundertealte Züchtungs- und Selektions-
verfahren und deren Nutzen zu einer Gewinnmaximie-
rung für wenige und zum gleichzeitigen Ausschluss brei-
ter Bevölkerungsschichten von diesen Errungenschaften
führt. Auch wir sind gegen Patente auf landwirtschaftli-
che Nutztiere und Nutzpflanzen und sprechen uns des-
halb für eine entsprechende Änderung des europäischen
Biopatentrechts aus. Wir sind jedoch der Meinung, dass
es erst nach der Entscheidung des Europäischen Patent-
amts Sinn machen wird, sich im Rahmen des Schnürens
eines Gesamtpakets zu überlegen, inwieweit zur Errei-
chung dieses Ziels und darüber hinaus Handlungsbedarf
auf europäischer Ebene besteht und inwieweit das Bio-
patentrecht tatsächlich geändert werden muss.
Dabei kann es definitiv nicht angehen, unsere Schöp-
fung zu kommerzialisieren. Der Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen und die Bewahrung der Schöpfung
auch vor kommerzieller Reservierung sind Kernanliegen
christlich-demokratischer Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Aber es muss auch klar sein: Wir dürfen berechtigte
Interessen von Forschung und Wissenschaft nicht ein-
fach grundlos vom Tisch wischen. Wir dürfen nicht zu-
lassen, dass die Früchte der herausragenden deutschen
Forschungsleistungen in anderen Ländern geerntet wer-
den. Deshalb brauchen wir auch ein zeitgemäßes Patent-
recht, das internationalen Standards entspricht.
Dabei leben wir in Deutschland mit Sicherheit nicht
von zweifelhaften Patenten, um die man sich so lange
streiten muss, bis sie ohnehin wertlos geworden sind.
Aber wir leben vom Rohstoff Grips. Wir leben von der
Innovationskraft unserer Menschen im Dienste der Men-
schen, und dies dürfen wir nicht grundlos preisgeben.
5330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Stephan Harbarth
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Meine Damen und Herren, seien Sie versichert: Die
christlich-liberale Koalition hat ein großes Interesse da-
ran, gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren eine gute,
eine tragfähige Lösung zu finden. Ich appelliere daher an
Sie und an uns alle, ohne überkommene Klischees und
ohne selbstauferlegte Denkverbote und ohne pawlow-
sche Reflexe in eine sachliche, lösungsorientierte Dis-
kussion einzutreten, sobald die Entscheidung des Euro-
päischen Patentamts vorliegt.
Und es geht hier wie immer auch um Ehrlichkeit. Und
zur Ehrlichkeit gehört es, an dieser Stelle anzumerken,
dass Rot-Grün die europäische Biopatentrichtlinie erst
mit fünf Jahren Verspätung in deutsches Recht umge-
setzt hat. Die Richtlinie ist von 1998, sie war bis 2000
umzusetzen. Sie haben unter Bruch geltenden Rechts
diese Richtlinie erst 2005 umgesetzt.
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Gott sei Dank!)
Schon damals haben Sie offensichtlich keine Dringlich-
keit der Materie gesehen.
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Waren Sie eigentlich dabei?)
Heute pressiert es Ihnen so sehr, dass Sie nicht einmal
die Entscheidung des Europäischen Patentamts abwarten
wollen. Dass Sie jetzt eine solche Eile zur Schau stellen,
macht Sie gewiss nicht glaubwürdiger.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist doch Blödsinn! Wer hat Ihnen
das aufgeschrieben?)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege, Entschuldigung, ich darf Sie einen Mo-
ment unterbrechen. Lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Röspel zu?
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Sehr gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Röspel.
René Röspel (SPD):
Vielen Dank. – Herr Kollege, Sie haben jetzt mehr-
fach behauptet, es sei der Union zu verdanken, dass ge-
wisse Ausnahmen gegenüber der europäischen Biopa-
tentrichtlinie bei der Umsetzung zum Tragen gekommen
sind. Ich habe das ganz anders in Erinnerung, nämlich
so, dass die Kollegen aus der FDP und aus der Union auf
eine Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie von 1998
ohne Veränderung, nämlich eins zu eins, gedrängt haben.
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Eins zu eins!)
Ich bitte Sie, mir jetzt Ihre Quellen und Belege dafür zu
nennen bzw. zu geben, dass Sie die Genpatentierung und
auch die Reichweite einschränken wollten.
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Wir haben in den Verfahren damals zum Ausdruck
gebracht, dass wir keinen absoluten Stoffschutz, sondern
einen konkreten Stoffschutz wollten. Ich reiche Ihnen
die entsprechenden Unterlagen gerne nach.
(René Röspel [SPD]: Darauf bin ich sehr ge-
spannt!)
Ihre Erfolgsbilanz ist, dass Sie die EU-Biopatentricht-
linie von 1998 nicht mit einem Jahr, nicht mit zwei Jah-
ren und auch nicht mit drei Jahren, sondern mit sage und
schreibe fünf Jahren Verspätung umgesetzt haben.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Herr
Röspel! Unglaublich! Da hätten Sie mal lieber
keine Zwischenfrage gestellt!)
Sie haben das im Stile eines Bummelzugs betrieben, und
nachdem Sie von Bord gegangen waren, beschweren Sie
sich jetzt, dass er nicht die Geschwindigkeit eines ICEs
aufgenommen hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – René Röspel [SPD]: Ich bin
gespannt auf die Unterlagen! – Ulrike Höfken
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Sie
haben nicht einmal verstanden, was in den Un-
terlagen steht!)
Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion macht die von Ih-
nen demonstrierte Eile keinen Sinn. Lassen Sie uns zu-
nächst die Entscheidung des Europäischen Patentamts
abwarten. Deshalb sind Ihre Anträge zum jetzigen Zeit-
punkt abzulehnen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von
der Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Warum werden Biopatente über-
haupt beantragt, und warum sind es gerade Brokkoli,
Schweine und Sonnenblumen, die ins Visier der Patent-
jäger geraten sind? Aus Sicht der Linken ist das kein Zu-
fall. Das Ziel, das mit Patenten verfolgt wird, ist nämlich
die Kontrolle über Wissen, und in allen drei Fällen geht
es um Lebensmittel.
Wer über Biopatente Nahrungsmittel kontrolliert, hat
Macht bis hin zur Erpressbarkeit. Deshalb ist die Kon-
trolle über Nahrungsmittelquellen eine der effektivsten
Gelddruckmaschinen, die es gibt, weshalb wir dort ge-
nau hinschauen müssen.
Beim Patentrecht geht es um eine sehr grundsätzliche
Frage: Was hat Vorrang? Ist es der Schutz des Rechts auf
Zugang zu Wissen oder die Sicherung des Rechts auf
seine wirtschaftliche Verwertung? Bei Biopatenten spitzt
sich dieser Interessenkonflikt noch weiter zu, weil es um
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5331
Dr. Kirsten Tackmann
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(D)(B)
Wissen über Nahrungsquellen geht. Aus Sicht der Lin-
ken ist der Zugang zu diesem Wissen durch Biopatente
aber nicht zu blockieren. Der Grundsatz „Keine Patente
auf Leben“ ist für uns nicht verhandelbar.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Dies ist auch breiter Konsens inner- und außerhalb
der Parlamente. Auch der Bundestag hätte diese Position
längst beschließen können. Linke, SPD und Grüne wa-
ren sich schon vor einem Jahr einig – zumindest bei die-
sem Thema –, aber die SPD hatte in der Großen Koali-
tion leider nicht die Kraft, das dann auch durchzusetzen.
Dabei besteht dringender Handlungsbedarf; denn die
Kritik an der europäischen Patentgesetzgebung und dem
Europäischen Patentamt wächst; das ist schon genannt
worden.
Die Spielräume in der schwammigen EU-Biopatent-
richtlinie werden skrupellos ausgenutzt. Sie existieren
nicht versehentlich, sondern absichtsvoll. Ein Beispiel:
Patente auf im Wesentlichen biologische Verfahren zur
Züchtung von Pflanzen und Tieren dürfen nicht erteilt
werden. Doch wer definiert „im Wesentlichen“? Dem
Missbrauch durch findige Juristen im Auftrag von Saat-
gutkonzernen, der Chemieindustrie und Gentechnikun-
ternehmen wird hier Tür und Tor geöffnet.
Die Linke will verhindern, dass die Grundlagen des
Lebens zur Beute privatwirtschaftlicher Interessenten
werden. Die Natur ist keine schützenswerte Erfindung,
sondern das Ergebnis der Evolution. Gene können ent-
deckt und ihre Funktion kann aufgeklärt und genutzt
werden, aber sie sind kein privater Besitz, und sie dürfen
es auch nicht werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist doch geradewegs absurd, dass immer öfter
wichtige Forschungsergebnisse nur deshalb nicht mehr
wissenschaftlich veröffentlicht und damit allgemein zu-
gänglich gemacht werden, um ihre wirtschaftliche Ver-
wertung nicht zu gefährden.
Wenn Forschung in diesem Maße finanziellen Ver-
wertungsinteressen unterworfen wird, behindert das den
Wissensfortschritt, den die gesamte Gesellschaft drin-
gend braucht. Dieser Fesselung auch der Agrarwissen-
schaften dürfen wir nicht tatenlos zusehen.
Ein weiterer Aspekt ist mir wichtig, der im Grünen-
Antrag steht. Die Agrogentechnik ist eine Risikotechno-
logie. Eine unabhängige Begleitforschung zu ökologi-
schen und gesundheitlichen Gefahren wird deshalb drin-
gend gebraucht. Wir müssen genau wissen, ob zum
Beispiel Gentechnikmais das Bodenleben beeinflusst, ob
die Gentechkartoffel Amflora von Wildschweinen ge-
fressen wird und was gegebenenfalls die Folgen sind.
Doch es mehren sich Berichte, dass kritischen Forsche-
rinnen und Forschern das für diese Arbeiten dringend
nötige gentechnisch veränderte Saatgut nicht zur Verfü-
gung gestellt wird. Damit sabotieren Konzerne die kriti-
sche Forschung, selbst dann, wenn sie öffentlich finan-
ziert wird. Das ist absolut inakzeptabel und muss
unverzüglich korrigiert werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Das Fazit der Linken: Das aktuelle Biopatentrecht
verstärkt die Macht von Agrokonzernen gegen die Inte-
ressen der Gesellschaft. Dagegen müssen wir Wider-
stand leisten – in Deutschland, in der EU und bei der
WTO. Das Biopatentrecht darf das Recht auf Teilhabe an
Wissen nicht einschränken.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae von der
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Stephan Thomae (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von
den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen eingebrachten Anträge auf ein vollständiges Ver-
bot der Patentierung von Tieren und Pflanzen greifen
zwar durchaus diskussionswürdige Themen und Frage-
stellungen auf, aber sie gehen eindeutig viel zu weit.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter
Bleser [CDU/CSU])
Patente haben eine wichtige Doppelfunktion: zugunsten
des Erfinders und der Allgemeinheit. Einerseits schützen
sie nämlich die Investitionen des Patentinhabers, ande-
rerseits aber gewährleisten sie der Öffentlichkeit Ein-
blick in die Erfindung. Durch die Veröffentlichung fließt
die Erfindung in den allgemein zugänglichen wissen-
schaftlichen Wissensstand ein. Die Alternative wäre,
dass ein Unternehmen seine Neuentwicklungen nicht
zum Patent anmeldet, sondern geheim hält. Dann aber
kann die Wissenschaft nicht auf der Grundlage des Pa-
tentes aufbauen und weiterforschen, und sie kann die Er-
findung nicht substanziell und substanziiert kritisieren.
Es muss deshalb gerade im Interesse einer kritischen
Wissenschaftsbeobachtung sein, dass biotechnologische
Erfindungen im Patentverfahren veröffentlicht werden.
Das ist aber mit dem geforderten Pauschalverbot jegli-
cher Patente auf Tiere und Pflanzen nicht möglich.
Es geht, Frau Kollegin Dr. Tackmann, nicht darum,
die Kontrolle über Natur und Lebensmittel zu erhalten,
sondern es geht darum, dass Patente das geistige Eigen-
tum eines Erfinders schützen und die Erfindung zugleich
auch der Öffentlichkeit zugänglich machen sollen. Sie
stellen damit eine Alternative zur Geheimhaltung von
Forschungsergebnissen dar.
Auch die FDP ist der Meinung, dass eine Überprü-
fung der Patenterteilungspraxis des Europäischen Pa-
tentamtes im biotechnologischen Bereich – übrigens
5332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Stephan Thomae
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auch in anderen Bereichen – durchaus Sinn macht. Die
FDP teilt auch die Auffassung, dass Patente konsequent
ausschließlich auf biotechnologische Erfindungen erteilt
werden sollten und nicht auf biologische Entdeckungen.
Auch die Patentierung biologischer Züchtungsverfahren
und ihrer Produkte lehnt die FDP ab. Diese Abgrenzung
muss möglicherweise verbessert oder auch gesetzlich
konkretisiert werden, falls das die Rechtsprechung nicht
aus eigener Kraft leisten kann. Allerdings gibt es mo-
mentan dafür nicht genügend Anhaltspunkte. Die FDP
ist ebenfalls der Ansicht, dass die bestehenden Rechts-
unsicherheiten beseitigt werden müssen. Das aber kann
nicht jetzt im Zusammenhang mit den von Ihnen vorge-
legten Anträgen geschehen, sondern das muss nach der
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Euro-
päischen Patentamtes in den aktuellen Fällen – Brokkoli
und Tomaten – geprüft werden. Momentan ist es dafür
noch zu früh.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken von
Bündnis 90/Die Grünen.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum Kollegen Harbarth nur so viel: Neue Ab-
geordnete genießen ja immer einen gewissen Welpen-
schutz, aber die Debatte völlig von den Füßen auf den
Kopf zu stellen, das geht nicht. Ich glaube, Sie haben die
Unterlagen der rot-grünen Koalition mit denen der CDU/
CSU oder der jetzigen Koalition verwechselt.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Steht so im Proto-
koll des Bundestags!)
Es war nun so, dass die Umsetzung der Biopatent-
richtlinie genau die Probleme geschaffen hat, die wir ge-
rade haben. Wir haben damals sehr zu Recht – übrigens
auch mit vielen von Ihnen und dem Deutschen Bauern-
verband – gegen das ganze Heer der Juristen dafür ge-
kämpft, in der deutschen Rechtsprechung ein Züchter-
privileg oder eine Percy-Schmeiser-Klausel und
Ähnliches zu verankern, um das Schlimmste zu verhin-
dern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Nichtsdestotrotz, Kollege Miersch, ich wäre auch
glücklich gewesen, Sie hätten diese Rede schon vor ge-
nau einem Jahr halten können. Damals war die Situation
genau umgekehrt. Zu dem damaligen Antrag der Grünen
zur Veränderung der Biopatentrichtlinie haben Sie ge-
sagt: Lassen Sie uns doch abwarten, überprüfen. – In-
zwischen haben wir erteilte Patente.
Ich will jetzt auf das zu sprechen kommen, was im
Mai passiert ist, nämlich auf die Erteilung des „Sonnen-
blumen-Patents“. Das ist übrigens ein klarer Vorgriff auf
die „Brokkoli-Entscheidung“ oder die „Tomaten-Ent-
scheidung“, die jetzt kommt. Beim „Sonnenblumen-Pa-
tent“ ist es genau zu dem gekommen, was die Kollegen
von der FDP auch nicht wollen: Der ursprüngliche Pa-
tentantrag umfasste neben dem konventionellen Züch-
tungsverfahren einer speziellen Sonnenblumensorte
auch das Saatgut, die Pflanze, sogar die Verwendung des
Öls zum Braten und Backen und einen unglaublich wei-
ten Claim. Dieses Patent ist dann im Verfahren auch tat-
sächlich erteilt worden. Man hat im Einspruchsverfahren
nur das Züchtungsverfahren als „nicht patentierbar“ be-
urteilt, aber die anderen Ansprüche bestehen lassen.
Damit ist genau die Situation eingetreten, die wir
schon Dutzende Male erlebt haben, nämlich dass etwas
patentiert wird, was mit Erfindung nichts mehr zu tun
hat. Das heißt, wir müssen zu einer rechtlichen Konse-
quenz kommen, zu einer Veränderung dieser Gesetze.
Ich finde, das muss im Sinne einer Eigentumswahrung,
im Sinne von Innovationsermöglichung möglichst
schnell geschehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Im Moment werden jeden Monat 10 bis 20 neue Pa-
tente erteilt. Übrigens war vor einem Jahr ein Argument
von Ihnen, die Widerspruchsverfahren seien doch alle so
klasse und erfolgreich. 70 Prozent sind tatsächlich er-
folgreich. Aber Sie müssen sich auch mal vor Augen
halten, was das für die mittelständischen Firmen oder
Länder oder auch die Umweltgruppen, Kirchen, und wer
alles dabei ist, bedeutet. Im Fall einer solchen Ein-
spruchseinlegung fallen oft Kosten von bis zu
100 000 Euro an, und auf den Kosten bleibt man auch
bei Erfolg sitzen. Das heißt, im Fall des Patentrechts gilt
de facto das Recht des finanziell Stärkeren. Das kann ja
nun nicht Grundlage einer Gesetzgebung sein. Das ist
eine grobe Wettbewerbsverletzung und fördert eine bis-
her undenkbare Monopolisierung in der Land- und Le-
bensmittelwirtschaft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Patente sind die Lizenz zum Gelddrucken. Das
sehe ich auch so wie die Kollegin Tackmann. Man sieht
übrigens, dass die Patente echte Preistreiber sind. Wenn
man mal auf die Daten in den USA schaut, die dort über
die Kosten des Saatguts veröffentlicht worden sind, dann
sieht man beim Mais eine 30-prozentige Preissteigerung
im Jahr 2009 gegenüber 2008. Bei Soja sind es
25 Prozent, womit nicht im Mindesten entsprechende
Ertragssteigerungen verbunden sind.
Inzwischen beherrschen zehn große Konzerne zwei
Drittel des globalen Saatgutmarktes, und die dominie-
renden von denen, Monsanto, Syngenta, DuPont und
Bayer, beherrschen auch den Düngemittel- und Pestizid-
markt. Hier sind die Patente tatsächlich eine Lizenz zum
Gelddrucken.
Wir wollen die Forschungsfreiheit sicherstellen und
damit auch die Praxis wieder so gestalten, dass For-
schungsfreiheit und Zugang zu Daten im Sinne des Ge-
setzes wieder möglich sind.
(Zuruf von der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5333
Ulrike Höfken
(A) (C)
(D)(B)
Wir wollen kein Patent auf Leben, kein Patent auf
Pflanzen und Tiere – so wie es in Ihrem Koalitionsver-
trag steht; daran darf ich erinnern –, wir wollen eine
Überarbeitung der Konstruktion des Europäischen Pa-
tentamts und die Beseitigung aller Interpretationsspiel-
räume. Ich hoffe, dass wir gemeinsam dazu kommen,
hier eine bessere Gesetzesgrundlage zu erstreiten.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Matthias Miersch.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Kollegin Höfken, Sie haben mich persönlich an-
gesprochen und gesagt, Sie hätten sich gewünscht, dass
ich bereits vor einem Jahr diese Rede gehalten hätte. Ich
möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass ich, seitdem ich diesem Hohen Hause ange-
höre, nämlich seit 2005, in vielen Reden diesen Stand-
punkt für die SPD-Bundestagsfraktion immer sehr
deutlich vertreten habe, dass man aber, wenn man in ei-
ner Koalition ist – das wissen Sie sicherlich auch aus ei-
gener Erfahrung –, seine Position nicht immer eins zu
eins in Gesetzentwürfe und Entschließungsanträge um-
setzen kann?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zur Erwiderung, Frau Höfken.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das erkenne ich sehr gern an. Das war auch kein An-
griff auf Sie. Ich hoffe nur, dass wir aus der Debatte von
vor einem Jahr lernen können. Alle Argumente, die da-
mals gegen eine Gesetzesänderung und entsprechende
Initiativen vorgebracht worden sind, wurden inzwischen
einer Prüfung unterzogen. Jetzt muss man endlich zum
Handeln kommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Vielen Dank. – Dann hat als nächster Redner das
Wort der Kollege Dr. Max Lehmer von der CDU/CSU-
Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Werte Gäste! Die politische Diskus-
sion um die Patentierung von Nutztieren und Nutzpflan-
zen wird in der Öffentlichkeit, sicher auch heute, mit
großer Aufmerksamkeit verfolgt. Mit der rasant fort-
schreitenden Entwicklung der Biotechnologie im In- und
Ausland gewinnt dieses Thema selbstverständlich immer
mehr an Bedeutung und – Herr Miersch, Sie haben auf
Entwicklungen hingewiesen, die zu Recht Sorge bereiten –
gibt den Menschen Anlass zu Ängsten und Befürchtun-
gen. Gerade deshalb, denke ich, muss die Debatte mit
großer Sorgfalt geführt werden.
Die Frage der Patentierbarkeit führt automatisch zu
Interessenkonflikten zwischen dem Schutz des geistigen
Eigentums auf der einen Seite und dem Grundsatz der
allgemeinen Verfügbarkeit natürlicher genetischer Res-
sourcen auf der anderen Seite. Ich glaube, das ist der
Kernpunkt. Der Schutz geistigen Eigentums über Pa-
tente ist in einem Hochtechnologieland wie Deutschland
generell unverzichtbar; denn der Schutz einer Erfindung
und die Wertschöpfung, die aus deren Vermarktung ge-
zogen werden kann, sind ein großer Ansporn, erfinde-
risch tätig zu werden und besser zu sein als andere.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Des Weiteren macht dieser Schutz Innovationen der
Öffentlichkeit zugänglich. Frau Höfken, Sie sollten nicht
nur negativ über Patente und Verteuerungen in der Praxis
reden; Sie sollten auch sagen, dass Patentschutz zumin-
dest in Deutschland etwas ermöglicht, nämlich dass die
gefundenen neuen Erkenntnisse für alle verfügbar ge-
macht werden. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt.
Darauf gründet sich ein großer Teil unserer Wirt-
schaftskraft und unseres Wohlstands. Das Patent ist folg-
lich ein elementarer Baustein unserer Wettbewerbswirt-
schaft und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.
Wir sehen aber auch die nicht unberechtigte Sorge
von Züchtern und Landwirten, dass Biopatente zu einer
zunehmenden Konzentration der Pflanzenzüchtung auf
wenige große Unternehmen sowie zu einer Verengung
der biologischen Vielfalt in der Produktion auf wenige
Hochleistungssorten und Rassen führen können. Der un-
gehinderte Zugriff auf genetische Ressourcen muss aber
allgemein möglich sein und bleiben. Ich glaube, das ist
eine Forderung, die wir alle unterschreiben können.
Biopatente stellen allerdings eine Besonderheit im
Patentrechtssystem dar. Wir haben es hier nicht mit tech-
nischer – toter – Materie zu tun, sondern mit Lebewesen,
die sich fortpflanzen und vermehren können. Dabei sind
die Belange der Naturwissenschaften, rechtliche Rah-
menbedingungen, ökonomische Nutzerinteressen und
nicht zuletzt auch ethische Grundsatzfragen zu berück-
sichtigen und miteinander in Einklang zu bringen – ein
sehr komplexes System also.
Die Erteilung von Patenten ist an das Europäische Pa-
tentübereinkommen sowie die EU-Biopatentrichtlinie
gebunden. Ich will mich jetzt nicht mit der Vergangen-
heit aufhalten. Ich nehme den Status, wie er ist, und kon-
zentriere mich darauf, wie man die weitere Entwicklung
in den Griff bekommen kann. Für eine Biopatentierung
muss die Frage gestellt werden, ob insbesondere die EU-
Biopatentrichtlinie, die konkrete Aussagen zur Reich-
weite von Biopatenten auf lebende Organismen enthält,
noch die Anforderungen an eine verantwortbare Politik
erfüllt oder ob Anpassungen in Erwägung gezogen wer-
den sollten.
Die derzeit geltenden europarechtlichen Grundlagen
– das ist wichtig – schließen nur Patente auf Pflanzensor-
5334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Max Lehmer
(A) (C)
(D)(B)
ten und Tierrassen aus. Aber wie ist mit patentierten Ver-
fahren umzugehen, die nicht auf den Schutz einer Sorte
oder Rasse gerichtet sind, sondern bewusst oberhalb
oder unterhalb dieser taxonomischen Ebene ganz legal
zu einem Patentschutz für Nutzpflanzen oder Nutztiere,
dem sogenannten abgeleiteten Stoffschutz, führen kön-
nen?
Als prominentestes Beispiel ist das mehrfach ange-
sprochene Brokkoli-Patent zu erwähnen, das im Juli vor
der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Pa-
tentamtes in München verhandelt wird. Die Patentierung
von Pflanzen und deren Nachkommen ist hier mittels ei-
nes Verfahrenspatents – sozusagen durch die Hintertür –
möglich, da der Patentantrag sich nicht auf eine spezielle
Sorte bezieht.
Das sieht meine Fraktion sehr kritisch. Hier wird eine
klare – auch ethische – Grenze überschritten; das möchte
ich ganz deutlich postulieren.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir müssen die Vielfalt unserer genetischen Ressourcen
an landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen er-
halten. Unseren Landwirten und Züchtern müssen sie
auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns
der Bedeutung dieses Themas voll bewusst. Ministerin
Aigner hat bereits Mitte vergangenen Jahres zu einem
runden Tisch zum Thema Biopatentierung mit Vertretern
von Landwirtschaft, Industrie und Verbraucherschutzor-
ganisationen eingeladen. Ich halte es für wichtig, alle
Beteiligten an einen Tisch zu bringen.
Der Beirat für Biodiversität und genetische Ressour-
cen beim BMELV wurde gebeten, eine Analyse der zu
erwartenden Auswirkungen der Biopatentierung auf
Landwirtschaft und Züchtung durchzuführen. Das ange-
forderte Gutachten wird bereits in den nächsten Tagen
vorliegen. Wie ich gehört habe, wird es am kommenden
Mittwoch der Ministerin übergeben und der Öffentlich-
keit vorgestellt. Ich bin gespannt.
Mitte Juli wird vor der Großen Beschwerdekammer
des Europäischen Patentamtes eine Anhörung zum be-
reits erwähnten Brokkoli-Patent stattfinden. Dort soll ge-
klärt werden, welche technischen Schritte ausreichend
bzw. notwendig sind, um aus einem nicht patentierbaren
– ich zitiere – „im Wesentlichen biologischen Verfahren“
ein patentierbares „technisches Herstellungsverfahren“
zu machen.
Ich schlage vor, das Gutachten des Beirats für Biodi-
versität und die Anhörung zum Brokkoli-Patent zunächst
abzuwarten und aus den Ergebnissen dann die nächsten
Schritte abzuleiten.
Zwei Fragestellungen werden dabei in den kommen-
den Wochen und Monaten im Mittelpunkt stehen.
Erstens. Ab wann ist ein Verfahren überhaupt paten-
tierbar?
Zweitens. Die Reichweite eines Patents ist ebenfalls
eine elementare Frage. Wie weit also darf sich der abge-
leitete Stoffschutz eines Verfahrenspatents überhaupt er-
strecken? Müssen die Nachkommen eines mittels des pa-
tentierten Verfahrens erzeugten Tieres oder einer
entsprechenden Pflanze vom Schutz des Patents erfasst
sein?
Die Kernbotschaften der heute zur Debatte stehenden
Anträge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, sich gegen eine Patentierung von Pflanzen und
Tieren starkzumachen, stehen in weiten Teilen im Ein-
klang mit der Position der Regierungskoalition – und
auch meiner persönlichen Position.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Daher plädiere ich – trotz der unterschiedlichen Vor-
stellungen zu Nutzung und Einsatzmöglichkeiten der
Biotechnologie; hier gab es ja oft genug Dissens – aus-
drücklich für einen breiten Konsens innerhalb des ge-
samten Hauses, der eine klare Grenze – ich sage es noch
einmal – zwischen Erfindungen als geistigen Leistungen
und Entdeckungen von natürlichen Ressourcen in Form
von Genen zieht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN)
Wir sollten die Positionen zu einem fraktionsüber-
greifenden Antrag bündeln. Das ist heute mein Vor-
schlag. Herr Miersch, ich nehme gern die Einladung an,
das gemeinsam zu tun. Wir liegen in der Zielprojektion
sehr nahe beieinander. Dies wäre nicht nur ein wichtiges
Signal gegenüber der Öffentlichkeit. Ein gemeinsamer
Antrag würde auch die Position Deutschlands in dieser
Frage auf EU-Ebene stärken und könnte eine Signalwir-
kung haben, um dann erforderliche Änderungen des eu-
ropäischen Rechts anzustoßen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lehmer, ich
danke Ihnen für Ihre Positionierung und auch für Ihre
Rede. Sie haben im Verhältnis zum Kollegen Harbarth
etwas abgerüstet. Ich glaube, das ist auch im Hinblick
auf die notwendige gemeinsame Zielfindung in diesem
Bereich vernünftig gewesen.
Meine Damen und Herren, wer die Schöpfungsge-
schichte im 1. Buch Mose gelesen hat, der weiß, dass
Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Er hat uns
auch beauftragt:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5335
Dr. Wilhelm Priesmeier
(A) (C)
(D)(B)
… füllet die Erde und machet sie euch untertan und
herrschet über die Fische im Meer und über die Vö-
gel unter dem Himmel und über das Vieh und über
alles Getier, das auf Erden kriecht.
Da steht nichts vom Europäischen Patentamt. Gott sei
Dank!
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
Aber aus diesen Worten wird vielleicht deutlich, dass wir
eine ethische Verantwortung für all unser Tun und all un-
ser Handeln tragen, für den verantwortungsvollen Um-
gang miteinander, aber auch für den verantwortungsvol-
len Umgang mit unserer Umwelt und mit unseren
Mitgeschöpfen. Das sollten wir in dieser Debatte und ge-
rade auch in der Auseinandersetzung über die Frage der
Biopatente immer im Blick behalten.
Die Debatte hier wird von einem großen Grundkon-
sens getragen. Ich sehe durchaus die Möglichkeit, etwas
Gemeinsames zu formulieren und einen gemeinsamen
Beschluss zu fassen. Es wäre sicherlich auch für unsere
deutsche Position im Hinblick auf die europäische
Rechtsetzung hilfreich, wenn wir mit einer Stimme spre-
chen würden.
Ich gebe zu: Die Rechtsmaterie ist recht kompliziert.
Ich bin Tierarzt und kein Jurist. Aber nehmen wir einmal
ein Beispiel aus der Praxis: In den 60er- und 70er-Jahren
haben wir große Fortschritte bei der Verbesserung der
Mastleistung von Schweinen erreicht. Insbesondere
wurde ein hoher Magerfleischanteil erreicht. Kollege
Holzenkamp könnte uns, wenn er da wäre, sagen, wie
wichtig das ist. Wir hatten aber auch Probleme: Wässri-
ges Fleisch schrumpfte beim Erhitzen in der Pfanne um
die Hälfte; das kennen Sie alle noch. Schweine sind zwar
nicht serienweise, aber häufig aufgrund von Kreislauf-
problemen umgefallen und verendet.
Ein typisches Symptom für mich in der Behandlung
war das Bananenschwein; es war aufgrund einer Mus-
keldegeneration immer ein wenig gekrümmt. Ursache
dafür war ein Gen, das man nicht genau bestimmen
konnte. Es gab aber ein einfaches Verfahren: Die Tiere
wurden mit Halothan narkotisiert, und dann wurde ge-
schaut, wie sie reagieren. Daran konnte man feststellen,
ob das Tier eine positive oder eine negative Entwicklung
nehmen würde. Hätte jemand dieses Verfahren patentie-
ren lassen, hätte er ein Durchgriffsrecht bekommen, das
ihn am Umsatz eines jeden Schnitzels und Bockwürst-
chens beteiligt hätte. Der Verbraucher hätte dafür an der
Ladentheke unter Umständen die nächsten 20 Jahre ei-
nen höheren Preis bezahlen müssen, während der Erfin-
der zugleich in ganz entscheidender Weise die
Zuchtrichtung in Europa hätte mitbestimmen können.
An diesem einfachen Beispiel wird deutlich, welche
Tragweite Biopatente für unsere Ernährung und unsere
Lebensmittel entfalten können. Lebensmittel sind ja ein
Mittel zum Leben und aus diesem Grunde nicht allein
ökonomischen Interessen preiszugeben. Dass das nicht
geschieht, dafür tragen auch wir die Verantwortung.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Im Kern muss es darum gehen, dass auch zukünftig
alle Züchter das tun können, was sie bereits seit Jahrhun-
derten tun, nämlich die Eigenschaften von Pflanzen und
Tieren so zu verbessern, dass ihr Nutzen zum Wohle al-
ler zunimmt. Das setzt einen Wettbewerb aller Züchter
untereinander voraus, und nicht nur zwischen einzelnen
Züchtern, die sich Patente gesichert haben. Die Zucht
war und ist immer eine große kulturelle Leistung. Diese
sollte man nicht kleinreden, auch wenn es natürlich sinn-
volle Regelungen für die Wahrung des geistigen Eigen-
tums geben muss.
Wir stehen nun vor großen Herausforderungen. Wir
müssen die Produktivität der Tiere und der Nutzpflanzen
bis 2050 um mindestens 70 Prozent verbessern. Im Hin-
blick auf den Klimawandel haben wir Sorge dafür zu tra-
gen, dass standortangepasste Sorten entwickelt werden.
Hierzu muss auch die Gelegenheit gegeben werden; das
darf nicht mit globalen Patenten verhindert werden.
Vielmehr muss jeder einzelne Züchter die Gelegenheit
haben, das Zuchtprodukt, das gerade jemand vor ihm er-
reicht hat, weiter zu verbessern. In diesem Bereich darf
es keinen Ausschließlichkeitsanspruch geben. Dafür be-
nötigen wir einen verlässlichen und eindeutigen Rechts-
rahmen.
Bei der Umsetzung der Biopatentrichtlinie ist sicher-
lich nicht alles optimal gelaufen. Wir sollten aber dafür
Sorge tragen, dass weiterhin gerade das Züchterprivileg
und das Landwirteprivileg – für diesen Bereich können
und wollen wir ja Politik gestalten – erhalten bleiben.
Patente an sich bedeuten ein Monopol auf Zeit für eine
befristete oder ausschließliche Nutzung. Das kann natür-
lich von Dritten genutzt werden, aber nicht jeder ist dazu
in der Lage.
Man muss das Augenmerk beim Patentrecht nicht nur
auf die europäische Ebene und die europäische Land-
wirtschaft richten, sondern auch darüber hinaus. Unter
Umständen sind Züchter nicht in der Lage, die Patentge-
bühren zu bezahlen. Wer heute erfahren hat, wie teuer es
sein kann, ein Patent anzumelden, der weiß nun, dass
man dafür viel Kompetenz und viel Geld braucht. Davon
kann man die Entscheidung im Patentrecht letztendlich
aber nicht ausschließlich abhängig machen. Da heute
70 Prozent der Biopatente von den zehn größten Unter-
nehmen angemeldet werden, muss man darüber nach-
denken, inwieweit das zur Monopolisierung der Pflan-
zen- und Tierzucht beiträgt.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es
uns nach der Entscheidung am 20. Juli 2010 gelingen
wird, gemeinsam eine Position zu finden, die wir weiter-
entwickeln können und die allen nutzen wird.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
5336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan von
der FDP-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir bei dieser die Menschen im Lande be-
wegenden Frage, bei dieser Frage, die einen bedeuten-
den ethischen Hintergrund hat, zu einer vergleichsweise
großen Gemeinsamkeit gefunden haben. Ich denke, dass
damit die Voraussetzung dafür gegeben ist, dass wir ei-
nen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringen. Ich be-
danke mich dafür.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
Ich bedanke mich auch für das Beispiel, das Kollege
Priesmeier genannt hat. Es hat uns verdeutlicht, worum
es geht. Ich bedanke mich auch für den Beitrag des Kol-
legen Lehmer, der die ganze Palette beschrieben hat.
Was uns im Zusammenhang mit der Biopatentrichtli-
nie und deren Umsetzung stört, ist die Tatsache, dass im-
mer mehr Anstrengungen unternommen werden, mit ju-
ristischen Methoden Minierfindungen rechtlich abzu-
sichern, statt mit naturwissenschaftlichen Methoden
neue Erfindungen zu erdenken. Genau das wollen wir
anders haben. Ich glaube, darüber sind wir uns einig.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir sind uns aber auch darüber einig – das ist in den
Beiträgen deutlich geworden –, dass wir auch in Zukunft
Patente brauchen. Wir brauchen den Schutz geistigen Ei-
gentums bei biotechnologischen Erfindungen. Vor die-
sem Hintergrund möchte ich noch einmal deutlich ma-
chen: Es geht nicht um „Kein Patent auf Leben!“. Mit
diesem Schlachtruf vermitteln wir genau die falsche Bot-
schaft. Es gibt kein Patent auf Leben. Niemandem ist es
gelungen, eine chemische Verbindung zum Leben zu er-
wecken. Es gilt: Omne vivum ex vivo. Alles Leben ent-
steht aus Leben,
(Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier
[SPD])
und deswegen kann Leben nicht patentiert werden. Da-
rüber sind wir uns alle, glaube ich, einig.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wilhelm
Priesmeier [SPD])
Gleichzeitig sollte man einmal sagen: Es ist nicht
sinnvoll, dass wir als eine erfindungsreiche Nation Pa-
tente stigmatisieren. Wir haben seit circa 130 Jahren
Patente auf Lebewesen. 1873 erhielt Louis Pasteur das
Patent auf Bäckerhefe. Wir haben inzwischen mehrere
Tausend Patente auf Mikroorganismen, und zwar nicht
nur auf Bakterien, sondern auch auf Pilze, beispielsweise
auf Hefen. Mit Hefen kann man verschiedene Sachen
machen: Abends trinken Sie das Bier oder den Wein – da
sind die Hefen mit dabei –, und morgens haben Sie ein
Brötchen gegessen; da ist die Hefe auch dabei. Sie spielt
eine Rolle beim Thema CO2, man kann Bioethanol da-
raus herstellen usw. Es gibt also viele verschiedene He-
fen. Eine ganze Reihe von ihnen ist patentiert, damit die
Erfindung bewahrt wird. Wir müssen sagen: Das wollen
wir weiterhin so haben.
Wir wollen auch, dass die Krebsmaus als Instrument
zur Erforschung von Krebs und für die Ermittlung von
Heilmitteln genutzt wird. Das ist aber etwas ganz ande-
res als das, was beispielsweise mit einem Schnitzelpa-
tent versucht wird. Das wollen wir alle miteinander
nicht.
Die Studie „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäfti-
gungspotenziale der Biotechnologie in Deutschland“,
die von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
Energie zusammen mit dem Fraunhofer-Institut, der
Hans-Böckler-Stiftung und der Industrievereingung Bio-
technologie vorgelegt wurde, sagt uns ganz deutlich,
dass wir erhebliche Potenziale haben. Es gilt, was im Fa-
zit steht: Die Biotechnologie ist eine ausgesprochene
Spitzen- und Wachstumstechnologie. Sie schafft Ar-
beitsplätze. Dafür muss die Rote, Weiße und Grüne Bio-
technologie in ihrer gesamten Bandbreite forciert ange-
wendet werden.
Um die Erfindungshöhe zu halten, brauchen wir Pa-
tente. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Poli-
tiker, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der unseren
Anforderungen genügt. Wir wollen nur Erfindungen mit
einer bestimmten Erfindungshöhe und keine Kleinigkei-
ten patentieren. Herkömmliche Verfahren und Produkte
aus herkömmlichen Verfahren wollen wir nicht patentie-
ren; das ist zurzeit der Fall. Wir wollen sicherstellen,
dass wir weiterhin ein Land sind, in dem es Innovationen
gibt, die zum Wohle der Menschen angewendet werden,
und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in an-
deren Ländern.
Zur Bewältigung der Herausforderungen im Bereich
des Klimawandels und der Welternährung brauchen wir
entsprechende Erfindungen. Ich glaube, dass wir auf ei-
nem guten Weg sind, wenn wir uns über unsere Positio-
nen in dieser rechtlich ausgesprochen schwierigen Frage
austauschen und zu einem gemeinsamen Beschluss kom-
men.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2016 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/2141 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
werden, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5337
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (C)
(D)(B)
beim Rechtsausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung
beim Agrarausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Federführung beim
Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit gleichen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
(2. Ausschuss)
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2009
– Drucksache 17/2100 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Kersten
Steinke von der Fraktion Die Linke, das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Kersten Steinke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver-
ehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss-
dienstes! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit
nunmehr 61 Jahren ist der Petitionsausschuss die zentrale
Einrichtung unseres Parlaments für die Behandlung aller
an den Deutschen Bundestag gerichteten Bitten und Be-
schwerden aus der Bevölkerung. Trotz aller Klagen über
eine in Deutschland grassierende Politikverdrossenheit
wurden 2009 18 861 Petitionen von den Bürgerinnen und
Bürgern eingereicht. Diese Zahl macht deutlich, welch
enormes Vertrauen unserem Parlament und somit uns
Abgeordneten entgegengebracht wird. Verstärkt wird
diese Tatsache dadurch, dass sich hinter dieser Zahl von
18 861 Einzelpetitionen fast 900 000 Unterstützerinnen
und Unterstützer von Massen- und Sammelpetitionen
verbergen.
Noch beeindruckender sieht das Bild aus, wenn man die
Nutzung unseres Internetportals betrachtet. 525 000 Nut-
zer haben sich allein im Berichtsjahr registrieren lassen.
Es gab über 1 Million Mitzeichnungen von öffentlichen
Petitionen, und circa 60 000 Diskussionsbeiträge wur-
den abgegeben. Am Montag, also vor drei Tagen, haben
wir in einer öffentlichen Sitzung über die wirtschaftli-
che Lage der Hebammen beraten, die sich mit der Re-
kordzahl von 180 000 Unterstützerinnen und Unterstüt-
zern an das Parlament gewandt haben. Bereits im
Februar hatten wir es mit einer ähnlich hohen Zahl von
Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern zu tun, als wir die
im Berichtsjahr 2009 eingegangene Petition zum Thema
Internetsperren behandelten. So erfreulich die Entwick-
lung dieses Portals auch ist und so sehr wir es begrüßen,
dass auf diese Weise die Petitionsmöglichkeiten in der
Bevölkerung besser bekannt werden, dürfen wir nie ver-
gessen: Unser Kerngeschäft bleibt die herkömmliche Pe-
tition, die persönliche Bitte und Beschwerde.
Der Einzelpetent, der keine Unterstützer an seiner
Seite hat, wird von uns genauso ernst genommen und
seine Eingabe wird genauso sorgfältig geprüft und bear-
beitet wie die Masseneingabe mit 100 000 oder mehr
Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern.
(Beifall im ganzen Hause)
Erwähnen möchte ich an dieser Stelle den Polizisten, der
seiner erkrankten Ehefrau eine Niere spenden wollte und
der zunächst die Auskunft erhielt, danach den Polizei-
dienst nicht mehr ausüben zu dürfen. Der Petitionsaus-
schuss konnte hier wie auch in den folgenden Beispielen
helfen.
In weiteren Petitionen ging es um die bessere Aus-
wahl einer passenden Rehabilitationsklinik für ein be-
hindertes Kind, die nachträgliche Zuerkennung einer Er-
werbsminderungsrente oder die Anerkennung von
Kindererziehungszeiten für 13 Pflegekinder, die die Pe-
tentin neben ihren eigenen vier Kindern im Laufe der
Jahre in ihrer Familie aufgenommen hatte.
Meine Damen und Herren, zu Beginn habe ich von
Vertrauen gesprochen, das Petentinnen und Petenten uns
entgegenbringen. Dieses Vertrauen müssen wir aber auch
durch sorgfältige Arbeit rechtfertigen. Doch angesichts
der großen Zahl von Petitionen ist es nicht einfach, das
große Arbeitspensum immer in angemessener Zeit zu er-
ledigen. Dies geht nur mit einer ausreichenden organisa-
torischen und materiellen Ausstattung sowie mit qualifi-
ziertem und hochmotiviertem Personal. Auf dieses
Personal des Petitionausschussdienstes und der Fraktio-
nen können wir Abgeordneten uns jederzeit verlassen.
Gerade unsere öffentlichen Petitionen bedürfen eines
höheren Betreuungs- und Arbeitsaufwandes, welcher
den Ausschussdienst oft an die Grenzen der Kapazität
bringt. Ich möchte mich deshalb besonders bei den Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschuss-
dienstes unter Leitung Herrn Haases recht herzlich be-
danken und den Wunsch und die Hoffnung äußern, dass
die Zusammenarbeit weiterhin so gut bleibt, wie sie jetzt
ist.
(Beifall im ganzen Hause)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ausgesprochen är-
gerlich sind bei der hohen Arbeitsbelastung und den
knappen Ressourcen Posteingänge von einigen wenigen
Petenten, die sich mit großer Regelmäßigkeit an den
5338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Kersten Steinke
(A) (C)
(D)(B)
Ausschuss wenden, und zwar nicht mit persönlichen An-
liegen, sondern mit Bitten höchst allgemeiner Art.
Selbstverständlich gilt auch für diesen Personenkreis
das Recht aus Art. 17 des Grundgesetzes. Art. 17 besagt,
dass jedermann das Recht hat, sich mit Bitten und Be-
schwerden an die zuständigen Stellen und an die Volks-
vertretung zu wenden. Wenn aber eine einzelne Person
monatlich bis zu 100 Petitionen an uns sendet, stellt sich
schon die Frage nach einer Missbrauchsgrenze für die
Ausübung des Petitionsrechtes.
Lassen Sie mich ganz klar sagen: Der Petitionsaus-
schuss wurde geschaffen, um bedrängten Menschen mit
zum Teil existenziellen Problemen beizustehen. Selbst
hierfür ist die uns zur Verfügung stehende Arbeitszeit
eher knapp bemessen. Schriftverkehr als Beschäfti-
gungstherapie gehört nicht dazu. Wenn also ein Petent
gerne seinen Geburtstag im Bundeskanzleramt feiern
möchte oder ein anderer Blondinenwitze verbieten las-
sen will, so gehört das für uns ausdrücklich nicht in die
Kategorie wirkliche Sorgen und Nöte der Menschen.
(Beifall im ganzen Hause)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in 17 Sitzungen im
Jahr 2009 wurden vom Petitionsausschuss rund 7 000 Pe-
titionen abschließend behandelt. In 13 Berichterstatter-
gesprächen haben wir uns mit Petitionen zu Themen wie
die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts,
die Rechtsstellung der Beamten oder dem Dauerbrenner
Lärmschutz beschäftigt.
Gerade diese aufwendigen Beratungen mit Vertretern
der Bundesregierung sind für uns in besonderer Weise
geeignet, Hilfen im Einzelfall auszuloten. Es ist eben
nicht damit getan, an die jeweils zuständigen Institutio-
nen eine Anfrage zum Sachverhalt zu senden und deren
Stellungnahme dann als unabänderliche Tatsache hinzu-
nehmen. Die Mitglieder des Ausschusses sehen ihre
Aufgabe darin, alles nur Machbare im Interesse der Pe-
tentinnen und Petenten zu erreichen. Dabei nutzen wir
alle Möglichkeiten, die dem Petitionsausschuss zur Ver-
fügung stehen. Diese reichen von der unmittelbaren Ein-
bindung von Vertretern der Bundesregierung im Rahmen
der Berichterstattergespräche über die Durchführung öf-
fentlicher Anhörungen bis hin zu einem Ortstermin. All
dies hilft den Mitgliedern des Petitionsausschusses,
sachkundige Entscheidungen zu fällen.
Meine Damen und Herren, 6 552 Bitten und Be-
schwerden konnten 2009 durch Rat, Auskunft oder Über-
sendung von Materialien erledigt werden. 1 316 Anliegen
wurden vom Petitionsausschuss positiv beschieden.
Etwa 600 Petitionen überwies der Deutsche Bundestag
auf Vorschlag des Ausschusses an die Bundesregierung
mit der Bitte, für Abhilfe zu sorgen.
Kritisch anmerken möchte ich in diesem Zusammen-
hang, dass wir nicht über alle Berichte der Bundes-
regierung glücklich sind, mit denen sie auf unsere Abhil-
feersuchen antwortet, und dass wir uns in vielen Fällen
eine zügigere Beantwortung von Anfragen wünschen.
Manchmal hat man das Gefühl, dass die Regierung viel-
leicht zu sehr verdrängt, dass es sich bei diesen Abhil-
feersuchen um Beschlüsse des gesamten Bundestages
handelt und dass es nicht nur die Wünsche einzelner Op-
positionsfraktionen sind.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jahresbericht
des Petitionsausschusses belegt eindrucksvoll, welche
Probleme und Sorgen die Menschen in unserem Land
haben. Mit gut 20 Prozent der Eingaben ist das Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales das am stärksten
betroffene Ressort. Dabei waren die dominierenden
Themen die Grundsicherung für Arbeitsuchende in all
ihren Facetten und Eingaben zur Rente. Den zweiten
Platz – mit der größten Steigerungsrate im Vergleich
zum Vorjahr – belegen Eingaben aus dem Geschäftsbe-
reich des Bundesministeriums der Justiz. Die Hauptpro-
blemfelder sind hier Eingaben zum Unterhalts- und
Scheidungsrecht sowie zu Privatinsolvenzverfahren. Es
folgen mit je 10 Prozent der Eingaben die Geschäftsbe-
reiche des Bundesministeriums des Innern und des Bun-
desministeriums der Finanzen und schließlich mit fast
10 Prozent der Bereich des Bundesministeriums für Ge-
sundheit.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es gibt viel Ar-
beit. Ich möchte deshalb besonders das Engagement her-
vorheben, mit dem die Mitglieder unseres Ausschusses
um die bestmögliche Lösung für die Petentin oder den
Petenten ringen. Eine Antwort aus den Ministerien oder
deren untergeordneten Behörden wird nicht einfach hin-
genommen, sondern hinterfragt.
(Beifall bei der LINKEN)
So haben sich in vielen Fällen, obwohl sie beim ersten
Ansehen als aussichtslos eingestuft worden waren, Lö-
sungen gefunden, die den Petenten wieder Hoffnung ga-
ben, sodass diese Fälle in deren Sinn doch noch positiv
abgeschlossen werden konnten. Es gab auch immer wie-
der Fälle, bei denen bereits bestehende Gesetze aufgrund
von Petitionen überarbeitet werden mussten, da mögli-
che Härtefälle im Vorfeld nicht bedacht worden waren.
Das sind die Erfahrungen, bei denen wir stolz auf das Er-
reichte sind.
Leider kann ich nicht verschweigen, dass es schon
traurig stimmt, wenn wir in manchen Situationen fest-
stellen müssen, dass uns bedauerlicherweise die Hände
gebunden sind und wir kein positives Votum abgeben
können.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
nochmals betonen: Art. 17 und Art. 45 c des Grundge-
setzes sind nicht irgendwelche Artikel von vielen, son-
dern die Rechtsgrundlage für unsere Tätigkeit. Das ist
unser Auftrag, und um diesen zu erfüllen, erwarten wir
die uneingeschränkte Kooperation der von uns angerufe-
nen Stellen. Wir werden nicht lockerlassen und immer
wieder nachhaken, wenn es um die Petentinnen und Pe-
tenten geht, die sich voller Vertrauen an uns, an den
Bundestag, und an die Bundesregierung gewandt haben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die kommen-
den Jahre erhoffe ich mir von den Mitgliedern unseres
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5339
Kersten Steinke
(A) (C)
(D)(B)
Parlaments weiterhin eine über alle Fraktionsgrenzen hi-
nausgehende konstruktive Zusammenarbeit, so wie wir
es im Petitionsausschuss in den meisten Fällen praktizie-
ren. Meinen schon nicht mehr ganz neuen Kolleginnen
und Kollegen im Ausschuss möchte ich sagen, dass ich
mich auf die gut begonnene Zusammenarbeit in dieser
Legislaturperiode auch in den kommenden Jahren freue.
Herzlichen Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter
Baumann von der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Günter Baumann (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gerade in den letzten Tagen haben sich Peten-
ten bei uns bedankt. Da Dank bei uns Abgeordneten
nicht allzu oft vorkommt – Dank tut gut –, möchte ich
mit der Schilderung folgenden Beispiels beginnen: An-
wohner einer schönen Wohngegend in Zossen-Wüns-
dorf, Brandenburg, beschwerten sich im April 2008
beim Petitionsausschuss des Bundestages über Lärmbe-
lästigungen durch Diesellokomotiven, die in der Nähe
ihrer Wohngebäude abgestellt worden waren. Seit einer
Fahrplanumstellung der Bahn im Jahre 2006 werden
diese Lokomotiven verändert abgestellt, und deren Ag-
gregate laufen am Tag und nachts, sodass die Anwohner
nicht schlafen können. Die Petenten wandten sich zu-
nächst an die Bahn. Es gab eine Reihe von Gesprächen –
ohne jede positive Reaktion.
Der Petitionsausschuss hat 2009 fraktionsübergrei-
fend beschlossen, die Petition dem Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Erwägung zu
überweisen – ein sehr hohes Votum. Wer dachte, dass
sich nun etwas bewegt, hat sich natürlich geirrt. Wir ver-
mochten zu erkennen, dass es Alternativen gibt. Das
Ministerium hat uns die Antwort der Bahn mitgeteilt,
man sehe keine Alternativen. Diese Antwort akzeptier-
ten wir nicht. Am 3. Mai dieses Jahres führten wir in
Wünsdorf einen Ortstermin durch. Trotz Regens und
schlechten Wetters haben wir dort alles besichtigt und
gesagt: Es gibt garantiert Möglichkeiten, die Lokomoti-
ven anders abzustellen. Uns war klar: Die Petenten ha-
ben keinen rechtlichen Anspruch auf Lärmschutz, da es
sich um keine Neubaustrecke handelt. Trotzdem waren
wir, speziell nach dem Ortstermin, der Meinung: Es gibt
Möglichkeiten.
In dem Gespräch vor Ort mit Petenten und der Bahn
haben wir festgestellt: Die Bahn bewegt sich keinen
Zentimeter und rückt von ihrer Meinung nicht ab. Wir
haben deutlich gemacht, dass wir dies nicht akzeptieren,
und haben die Angelegenheit nicht für erledigt erklärt.
Diese Woche teilten die Petenten dem Petitionsaus-
schuss mit, der Ortstermin habe offensichtlich Wirkung
gezeigt, die Züge würden anders abgestellt. Es gibt für
die betroffenen Bürger im Prinzip keine Lärmbelästi-
gung mehr.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und der LINKEN)
Ich denke, ein solches Beispiel zeigt deutlich: Es geht
nicht nur um Gesetzesänderungen; wir müssen nicht im-
mer hier im Plenum irgendetwas ändern. Es geht darum,
Wege zu suchen, mit den Petenten und den zuständigen
Ministerien Lösungen oder zumindest Kompromisse zu
finden.
Ein zweites Beispiel verdeutlicht das noch eindrucks-
voller. Einem dienstunfähigen Oberstleutnant der Bun-
deswehr war die Fortführung seines Studiums an einer
staatlichen Landesuniversität versagt worden. Mit einem
hohen Votum konnten wir erreichen, dass er das Studium
fortsetzen konnte. Darüber hinaus hat das Verteidigungs-
ministerium die Petition zum Anlass genommen, für die
Universitäten der Bundeswehr eine generelle Festlegung
zu treffen, dass dienstunfähige Soldaten und Offiziere
ihr Studium fortsetzen können.
Die beiden beliebig herausgegriffenen Beispiele aus
dem letzten Jahr zeigen, dass wir im Ausschuss mit
Hartnäckigkeit eine Menge für die Bürgerinnen und Bür-
ger erreichen können. Immerhin sind im letzten Jahr
rund 50 Prozent der Petitionen positiv ausgegangen: In
7 Prozent der Fälle haben wir dem Anliegen direkt ent-
sprochen. In 4 Prozent der Fälle haben wir ein hohes Vo-
tum an die Adresse der Bundesregierung erzielt. In den
meisten Fällen konnten wir damit etwas bewegen. In
39 Prozent der Fälle haben wir den Petenten mit Rat,
Auskunft oder Materialübersendung geholfen.
Die Bearbeitung von Petitionen ist ein wichtiges
Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland,
das gut angenommen wird. Wir stellen uns dieser Auf-
gabe. Die Vorsitzende sprach davon: Im letzten Jahr gin-
gen fast 19 000 Petitionen ein. Man muss sich eine wei-
tere Zahl auf der Zunge zergehen lassen: Täglich gehen
75 neue Petitionen im Bundestag ein. Die Zahl der Peti-
tionen, die bearbeitet werden müssen, ist schon gewaltig.
Die Vorsitzende hat bereits auch diese Zahl genannt: Im
vergangenen Jahr haben sich 2 Millionen Bürgerinnen
und Bürger durch Einreichung von Petitionen und Mas-
senpetitionen sowie Mitunterzeichnung, auch im Inter-
net, in irgendeiner Art am Petitionswesen beteiligt.
Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu der Frage, wie
die Petitionen in Deutschland verteilt sind. Trotz eines
Rückgangs stellen wir nach wie vor fest, dass die meis-
ten Petitionen aus den neuen Bundesländern kommen.
Spitzenreiter ist Brandenburg mit 1 504 Petitionen im
Jahr; das sind 598 Petitionen auf eine Million Einwoh-
ner. Auf den folgenden Plätzen liegen Berlin, Thüringen,
Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpom-
mern. Nun kann man natürlich wieder sagen: Die Ossis
meckern am meisten. Aber ganz so einfach ist es eben
doch nicht. Es gibt in den neuen Bundesländern eine
Reihe von Problemen, die im Einigungsvertrag nicht
komplett geregelt werden konnten und die heute nach
wie vor bestehen. Zum Beispiel haben wir uns mit einer
ganzen Reihe von Rentenfällen oder offenen Vermö-
5340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Günter Baumann
(A) (C)
(D)(B)
gensfragen – Probleme mit der Treuhand, die noch heute
bestehen – in den neuen Bundesländern beschäftigt, die
es in den alten Bundesländern nicht gibt.
Zwei weitere Zahlen: Der Ausschuss hat im letzten
Jahr insgesamt über 17 000 Petitionen bearbeitet – auch
das ist eine beachtliche Zahl –; in Ausschusssitzungen
waren es durchschnittlich 30 Petitionen.
An dieser Stelle sage ich einen herzlichen Dank an
alle Abgeordneten im Ausschuss, die wöchentlich in ih-
ren Büros mindestens zehn, manchmal bis zu 30 Petitio-
nen – bei Klaus Hagemann und mir sind es meist noch
ein paar mehr – bearbeiten müssen, und dies neben ihrer
Arbeit in mindestens einem zweiten oder gar einem drit-
ten Ausschuss. Das muss an dieser Stelle einmal gewür-
digt werden.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen
aller Fraktionen im Ausschuss auch für das überwiegend
gute und kollegiale Miteinander herzlich bedanken. Man
merkt ständig: Im Mittelpunkt steht das Problem, um das
wir uns kümmern wollen, und nicht der Parteienstreit.
(Beifall im ganzen Hause)
An dieser Stelle richte ich im Namen der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion einen besonderen Dank an die Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes.
Die Vorsitzende sprach bereits davon: Ohne die Arbeit
des Ausschussdienstes könnten wir unsere Arbeit nicht
durchführen. Wir brauchen eine kompetente und sachli-
che Vorarbeit, sonst würde vieles nicht funktionieren.
(Beifall im ganzen Hause)
Natürlich muss es der Ausschussdienst auch aushalten
können, wenn wir Abgeordnete manchmal eine ganz be-
sondere Meinung haben, die nicht der des Ausschuss-
dienstes entspricht. Aber so sind halt die Abgeordneten.
Mit der Einführung des Systems der öffentlichen Peti-
tionen im Herbst 2008 haben wir eine neue Form der Pe-
tition gefunden, die sich bewährt hat. Eine Reihe von
Abgeordneten – auch ich gehörte damals dazu – hatte
Angst vor starkem Missbrauch. Die Befürchtungen sind
bisher nicht eingetreten. Die Bürger sind klug genug, das
Angebot ordentlich zu nutzen. Wir haben damit einen
wichtigen Beitrag zum Abbau von Politikverdrossenheit
geleistet.
Es tut jedem Abgeordneten gut, wenn er nach einer
öffentlichen Sitzung mit einem Petenten ins Gespräch
kommt und der Petent sich dafür bedankt, dass er nach
Berlin kommen durfte und sein Anliegen vortragen
konnte. In vielen Fällen können wir nicht helfen; aber
dass sie in Berlin waren und mit uns gesprochen haben,
ist für sie ein besonderes Ereignis. Dafür sind sie dank-
bar.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Günter Baumann (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss. – Wir haben eine Reihe be-
sonderer Befugnisse, was uns ermöglicht, uns ein inten-
sives Wissen anzueignen. Es gibt Ortstermine und
Berichterstattergespräche, die wir stark nutzen. Im Ex-
tremfall erhalten wir Akteneinsicht. Das ist für unsere
Arbeit wichtig. Wir stehen mit unserer Tätigkeit nicht
immer im Mittelpunkt des Parlaments, aber mit unserer
geräuschlosen Arbeit erreichen wir die Bürger und erzie-
len dadurch eine Reihe von Erfolgen. Wir können viele
Probleme lösen, aber nicht alle.
Ich habe mit einem Beispiel begonnen, ich möchte
mit einem Beispiel enden.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Aber bitte sehr kurz, Herr Kollege, Sie haben schon
deutlich überzogen.
Günter Baumann (CDU/CSU):
Wenn sich zum Beispiel ein Petent an uns wendet und
uns auffordert, man möge in Deutschland alle Autos
gelb spritzen,
(Stephan Thomae [FDP]: Sympathische
Farbe!)
weil damit die Wirtschaft angekurbelt und die Verkehrs-
sicherheit erhöht würde, können wir dem natürlich nicht
stattgeben.
Vielen Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Der nächste Redner ist der Kollege Stefan Schwartze
für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan
Thomae [FDP])
Stefan Schwartze (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiter des
Ausschussdienstes! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zahlen des Petitionsberichtes 2009 sind beeindru-
ckend. Wieder sind fast 19 000 Petitionen an den Deut-
schen Bundestag gerichtet worden. Um einen Vergleich
zu nennen: Das entspricht der Einwohnerzahl meiner
Heimatstadt Vlotho. Es ist also wirklich beeindruckend.
Dass so viele Menschen dem Petitionsausschuss des
Bundestages ihr Vertrauen entgegenbringen, ist ein gro-
ßer Erfolg.
Als neues Mitglied habe ich schnell gemerkt, was die
Mitgliedschaft im Petitionsausschuss vor allem bedeutet:
tiefe Einblicke und Erfahrungen in die ganz persönlichen
Lebensbereiche und Schicksale von Menschen in unse-
rem Land, Erfahrungen, die man sonst nicht gewinnen
kann und die einen oft persönlich berühren. Diese Viel-
zahl von persönlichen Schicksalen und Problemen, aber
auch die Vielzahl von Ideen und Anregungen der Bürge-
rinnen und Bürger sorgen dafür, dass man sich als Abge-
ordneter immer wieder mit neuen Themen befasst. Als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5341
Stefan Schwartze
(A) (C)
(D)(B)
Mitglied des Petitionsausschusses kann man sich über
Arbeitsmangel nicht beklagen.
Der Ausschuss ist mehr als der Kummerkasten der
Nation. Er gewährt einen Blick darauf, welche Sorgen
die Menschen haben und an welchen Stellen Probleme in
unserer Gesellschaft entstehen.
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist die ureigene Aufgabe der Politik, diese Sorgen zu
erkennen und den Menschen zu helfen. Die Mütter und
Väter des Grundgesetzes haben das Petitionsrecht daher
nicht nur fest im Grundgesetz verankert, sondern sie ha-
ben auch dafür gesorgt, dass der Petitionsausschuss als
Verfassungsausschuss einen hervorgehobenen Rang im
Bundestag genießt.
Es ist unsere Aufgabe als Mitglieder dieses Ausschus-
ses, die hohen Ansprüche zu erfüllen. Dazu gehört auch,
dass wir das Petitionsverfahren ständig weiterentwi-
ckeln, wie dies zuletzt bei der Einführung der E-Petition
im Jahr 2008 erfolgt ist. Die Zahlen des Onlineportals
zeigen deutlich, dass der Petitionsausschuss den Sprung
in die neuen Medien geschafft hat. Dies ist deswegen so
wichtig, weil dadurch der jungen Generation das Peti-
tionsrecht nahegebracht wird.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dieser Erfolg sollte uns darin bestärken, das Petitions-
recht auch zukünftig populärer und leichter zugänglich
zu machen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben daher die An-
regung des Deutschen Kinderhilfswerks aufgenommen,
Kindern und Jugendlichen den Zugang zum Petitions-
ausschuss im Internet zu erleichtern. Gemeinsam arbei-
ten wir an Vorschlägen, wie ein solches Internetportal
aussehen könnte. Ein kinder- und jugendgerechtes Peti-
tionsportal im Internet ist der richtige Weg, auch die
ganz Jungen über ihr Petitionsrecht aufzuklären und sie
zu ermutigen, ihre eigenen Probleme oder Vorschläge an
den Petitionsausschuss zu richten. Damit können wir
frühzeitig für Vertrauen in die Demokratie und ihre ge-
wählten Vertreter werben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Wie wichtig es ist, das Petitionsverfahren modern zu
präsentieren und neue Verfahren zu ermöglichen, hat
eine Petition gezeigt, die für große Aufmerksamkeit und
eine breite Debatte gesorgt hat. Es handelt sich dabei um
die Petition gegen die Einrichtung von Internetsperren.
Nachdem das sogenannte Sperrgesetz vom Deutschen
Bundestag verabschiedet worden war, bildete sich eine
breite Protestbewegung derjenigen, die das Internet aus-
giebig und regelmäßig nutzen. Besonders junge Bürge-
rinnen und Bürger organisierten sich aus Angst vor Zen-
sur.
Eine Onlinepetition wurde in wenigen Wochen von
mehr als 130 000 Mitzeichnern unterstützt, und es kam
zur öffentlichen Ausschusssitzung. Dabei wurde deut-
lich, dass keine Fraktion dieses Hauses mehr an diesem
Sperrgesetz festhält. Das ist ein Musterbeispiel für die
positive Entwicklung des Petitionswesens in den vergan-
genen Jahren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Durch die Möglichkeit der Mitzeichnung und die öffent-
liche Beratung ist es gelungen, die Aufmerksamkeit auf
den Petitionsausschuss und seine Arbeit zu lenken. Es ist
außerdem gelungen, die Schwächen eines untauglichen
Gesetzes zu erkennen.
Es ist gewiss kein Zufall, dass unter den am häufigs-
ten mitgezeichneten Onlinepetitionen zwei Petitionen
sind, die sich mit dem Thema Internet und PC-Spiele be-
fassen. Die jungen Menschen, die mit dem Internet auf-
gewachsen sind und die neuen Medien ganz selbstver-
ständlich nutzen, haben mit der Onlinepetition ein
Medium entdeckt, welches ihrer Lebenswelt entspricht.
Dass sich die Onlinepetition nicht nur auf diese Gene-
ration beschränkt, hat die Petition der Hebammen, die
wir in dieser Woche in einer öffentlichen Anhörung be-
handelt haben, gezeigt. Dabei ist deutlich geworden,
dass durch die Arbeitsbedingungen, die schlechte Be-
zahlung und die dramatisch ansteigenden Kosten der
Berufshaftpflicht eine ganze Berufsgruppe um ihre Exis-
tenz bangt. Es ging um Arbeitsbedingungen, wie sie auf
viele Freiberufler zutreffen. Es ist deutlich: Hier muss
gehandelt werden. Wir werden hierzu auch eine Initia-
tive einbringen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Diese öffentliche Petition hat bewiesen, dass durch
die Modernisierung des Petitionswesens die Menschen
wichtige gesellschaftliche Themen besser auf die politi-
sche Bühne bringen können. Die Petition der Hebammen
ist ein Musterbeispiel dafür. Der Sprung in die neuen
Medien war erfolgreich.
Durch die Onlinepetition haben wir viele junge Men-
schen erreichen können. Mit Kindern und Jugendlichen
wollen wir SPD-Abgeordnete nun eine Zielgruppe errei-
chen, die von ihrem Petitionsrecht bisher leider sehr we-
nig Gebrauch macht. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass
wir auch in diesem Punkt erfolgreich sein werden. Das
Petitionsrecht als Grundrecht ist in diesem Ausschuss in
guten Händen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit der letzten
Monate bedanken. Ich freue mich auch auf die weitere
Arbeit im Ausschuss. Mein ganz besonderer Dank gilt
den Mitarbeitern des Ausschussdienstes.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
5342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Stefan Schwartze
(A) (C)
(D)(B)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege
Stephan Thomae.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Stephan Thomae (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren des Aus-
schussdienstes! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das
Grundgesetz sieht in seinem Art. 17 vor, dass jedermann
sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schrift-
lich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen
Stellen und an die Volksvertretung wenden kann. In
Art. 45 c regelt das Grundgesetz, dass für die Behand-
lung dieser Bitten und Beschwerden ein Petitionsaus-
schuss eingesetzt wird. Der Petitionsausschuss ist damit
neben dem Auswärtigen Ausschuss, dem Verteidigungs-
ausschuss und dem Europaausschuss einer der vier Ver-
fassungsausschüsse; Kollege Schwartze hat gerade da-
rauf hingewiesen.
Diesem Ausschuss kommt in der Architektur der ge-
setzgebenden Gewalt eine doppelte Sonderstellung zu:
Zum einen ist er neben dem Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung der einzige Aus-
schuss, dem aufseiten der Bundesregierung kein Minis-
terium gegenübersteht; wir sind also sozusagen eine rein
parlamentarische Veranstaltung. Zum anderen ist der Pe-
titionsausschuss diejenige Einrichtung des Bundestages,
über die auch der einzelne Bürger direkt und unmittelbar
ein Handeln der Volksvertretung auslösen kann.
Die Verfassung hatte ursprünglich Einzelbitten und -be-
schwerden aus dem persönlichen Lebens- und Erfah-
rungsbereich der Menschen im Sinn. Aber es bleibt nicht
aus, dass in Petitionen auch Themen aufgegriffen wer-
den, die allgemeine oder öffentliche Anliegen zum In-
halt haben. Das kommt manchmal in sogenannten Ein-
zelpetitionen einzelner Bürger zum Ausdruck, noch viel
mehr aber in Mehrfach- oder Sammelpetitionen.
Mehrfachpetitionen sind Petitionen mehr oder weni-
ger gleichen Inhalts, die mehr oder weniger zufällig und
unabhängig voneinander den Bundestag erreichen und
dann gemeinsam beraten und behandelt werden. Bei
Sammelpetitionen werden für eine bestimmte Petition
systematisch Unterschriften gesammelt. Das geschieht
seit 2005 – es ist schon darauf hingewiesen worden – im
Wesentlichen im Wege der öffentlichen Petitionen, bei
denen die Bürger über das Petitionsportal des Internet-
auftritts des Deutschen Bundestages die aktuellen öffent-
lichen Petitionen einsehen, mitzeichnen und Diskus-
sionsbeiträge dazu verfassen können.
Dies hat den Charakter des Petitionswesens verändert.
Einzelpetitionen oder Mehrfach- und Sammelpetitionen
weniger Petenten werden allerdings sowohl vom Aus-
schussdienst als auch von uns Abgeordneten genauso
ernst genommen und genauso gründlich studiert und be-
arbeitet wie Massenpetitionen. Dem Petitionsausschuss
ist sehr wohl bewusst, dass die Zahl der Petenten allein
noch kein Kriterium für die Relevanz und Signifikanz
eines Anliegens darstellt. Der Vorschlag eines einzelnen
Petenten kann genauso gut wie ein Vorschlag sein
– manchmal auch viel besser –, für den vielleicht durch
eine geschickte Kampagne Tausende von Unterschriften
gesammelt worden sind.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Das Petitionsportal des Bundestages ist ein ausdrück-
licher Aufruf an die Bürger, an der politischen
Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken und sich
konstruktiv politisch-gestalterisch einzumischen. Diese
Möglichkeit ist also ein Erfolgsprodukt des Bundesta-
ges.
Aus dem Ihnen vorliegenden Bericht des Petitions-
ausschusses ergibt sich: Im Jahr 2009 – es ist schon da-
rauf hingewiesen worden – haben 51 öffentliche Petitio-
nen mehr als 2 000 Unterstützer gefunden.
Interessant ist, dass die Zahl der Zugriffe auf das Peti-
tionsportal des Bundestages höher ist als die Zahl der
Aufrufe jeder anderen Webseite des Bundestages, sogar
der Hauptseite. Allein in den ersten sechs Monaten des
Jahres 2010 wurde über 31-Millionen-mal auf die Peti-
tionsseiten des Bundestages zugegriffen. Das zeigt das
große Interesse der Menschen an diesem Instrument.
Wenn eine Petition innerhalb von drei Wochen seit
Einreichung mehr als 50 000 Unterstützer findet, dann
erhält der Petent die Möglichkeit, sein Anliegen den Ab-
geordneten in einer öffentlichen Sitzung des Ausschus-
ses noch einmal mündlich zu erläutern; der Kollege
Baumann hat schon ausgeführt, dass es für die Petenten
auch ein besonderes Erlebnis ist, hier in Berlin im Bun-
destag aufzutreten. Damit werden Petitionen mehr und
mehr zu einem Instrument politischer Teilhabe.
Die Erfolgsgeschichte öffentlicher Petitionen ermu-
tigt die Regierungsfraktionen, das Petitionswesen wei-
terzudenken und weiterzuentwickeln. CDU, CSU und
FDP haben deshalb in ihrem Koalitionsvertrag verein-
bart, dass Massenpetitionen unter Beteiligung der Fach-
ausschüsse im Plenum des Bundestages beraten werden.
Damit öffnet sich sozusagen die Kronkammer unserer
parlamentarischen Demokratie erstmals direkt und un-
mittelbar für Anträge aus der Mitte der Bevölkerung. In
Zeiten, in denen sich viele Menschen von der Demokra-
tie abwenden, ist es ein gutes Zeichen, dass wir uns ganz
ostentativ den Menschen stärker zuwenden und sie in
den Deutschen Bundestag hineinnehmen, in dem wir uns
wiederum unmittelbar und direkt an die Öffentlichkeit
wenden.
Trotzdem muss herausgestellt werden: Die eigentli-
che Bestimmung des Petitionsrechts ist es natürlich
nicht, dass im Wege der Petitionen noch einmal alle poli-
tischen Diskussionen wiederholt werden, die ohnehin
das Tagesgeschehen bestimmen. Es mag zwar ein Unter-
schied sein, ob nur eine Fraktion des Bundestages oder
aber 100 000 Bürger eine politische Frage zum Gegen-
stand einer parlamentarischen Beratung machen. Aber
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5343
Stephan Thomae
(A) (C)
(D)(B)
das Petitionswesen kann und soll die Tagesordnung des
Bundestages nicht bestimmen. Wir wollen bestimmten
Petitionen den Weg in die Plenardebatten öffnen. Aber
die Voraussetzungen dafür sollen doch so ambitioniert
sein, dass der Beratung einer Petition im Plenum ein be-
sonderer Ausnahmecharakter anhaftet.
Regelfall und Hauptaufgabe des Ausschusses sollten
bleiben, sich mit konkreten Bitten und Beschwerden zu
beschäftigen, mit denen sich Menschen hilfesuchend an
die Volksvertretung wenden. Über alle Fraktionsgrenzen
hinweg prüfen die Mitglieder des Petitionsausschusses
und des Ausschussdienstes sehr gewissenhaft die Sub-
stanz einer jeden Petition. In vielen Fällen holen wir
Stellungnahmen der Ministerien ein oder führen zusam-
men mit Ministerialbeamten oder gar Staatssekretären
mündliche Anhörungen durch. Wir lassen uns Bericht
erstatten mit dem Ziel, dass eine Behörde ihre Entschei-
dung unter neuen Gesichtspunkten vielleicht noch ein-
mal prüft.
Aber natürlich haben wir als Ausschuss die Teilung
der Staatsgewalten zu respektieren. Der Petitionsaus-
schuss ist weder eine Superrevisionsinstanz der Ge-
richtsbarkeit noch eine oberste Bundesbehörde. Wir kön-
nen der Staatsverwaltung keine Weisungen erteilen.
Aber wir können versuchen, Anstöße zu geben. Wir kön-
nen Signale aufnehmen. Der Petitionsausschuss ist ein
Seismograf des Gesetzgebers. Wir spüren oft als Erste
die kleinen und die großen Beben, die eine gesetzgeberi-
sche Entscheidung hervorrufen kann, aber auch Pro-
bleme, die vielleicht gar nicht auf die Gesetzgebung zu-
rückzuführen sind.
Ich möchte abschließend auf zwei – für meine Be-
griffe sehr spektakuläre – Massenpetitionen hinweisen,
nämlich einmal auf die GEMA-Petition, die von einer
Petentin aus meinem Wahlkreis Oberallgäu initiiert und
eingereicht worden ist, und auf die schon erwähnte Peti-
tion der Hebammen. In beiden Fällen ist es nicht so, dass
wir als Gesetzgeber diese Probleme ohne Weiteres lösen
können. Dafür mangelt es uns an direkter Gesetzge-
bungskompetenz. Deswegen können wir das nicht legis-
lativ lösen. Aber das Parlament kann seinen informellen
Einfluss geltend machen. Das Parlament kann sein Ge-
wicht in die Waagschale werfen.
So zeigt sich in der hohen Zahl von 18 861 Petitionen
im Jahre 2009 und von fast 900 000 Unterstützern von
Massenpetitionen, dass trotz aller – oft auch berechtigten –
Kritik an den Riten der parlamentarischen Demokratie
die Volksvertretung weiterhin als Gravitationszentrum
unseres Staatsaufbaus verstanden wird. Somit sollte die
Rolle des Petitionsausschusses in unserer Verfassungs-
architektur nicht zu gering geachtet werden.
Vielen Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Remmers
für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Ingrid Remmers (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Liebe Mitarbeiter des Ausschuss-
dienstes! Die Wählerinnen und Wähler sind der Souve-
rän eines jeden demokratischen Staates. Sie stimmen für
eine Kandidatin oder einen Kandidaten und eine Partei
und übertragen ihr damit die Wahrnehmung ihrer Inte-
ressen. Allerdings wächst in Deutschland die Zahl der
Menschen, die sich durch die derzeitigen Mehrheitsver-
hältnisse und vor allem die Mehrheitsentscheidungen
nicht mehr repräsentiert fühlen und tatsächlich allzu oft
auch nicht mehr repräsentiert werden. Bis zu einem ge-
wissen Grad ist das sicher ein Stück weit normal. Aber
Demokratie verliert ihre Legitimation, wenn zu viele
einzelne Menschen und ganze gesellschaftliche Gruppen
den Eindruck haben, dass ihre Stimme und ihre Interes-
sen überhaupt nicht mehr zählen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet
Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das verfassungsrechtlich verankerte Recht, sich mit
seinen Bitten und Beschwerden direkt an den Bundestag
zu wenden, kann ein Mittel sein, dem zumindest teil-
weise entgegenzuwirken. Deswegen ist es umso wichti-
ger, dass der Bundestag – also wir alle – die Arbeit des
Petitionsausschusses ernst nimmt. Es handelt sich bei
den Petentinnen und Petenten eben nicht um lästige Bitt-
steller. Die Eingaben der Menschen – einzeln oder in
Gruppen – müssen auch und gerade von der Bundes-
regierung als notwendiges Korrektiv ihrer politischen
Entscheidungen anerkannt werden. Die Petitionsstatis-
tik weist als Seismograf und Indikator der aktuellen poli-
tischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu viele
Missstände und Ungerechtigkeiten aus. Es ist schließlich
unsere Aufgabe, diese Missstände und Ungerechtigkei-
ten als Fehlfolgen der hier beschlossenen Gesetze wieder
zu beseitigen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des Abg. Memet Kilic
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Arbeit des Petitionsausschusses erlaubt sowohl
die qualitative als auch die quantitative Evaluation der
Gesetzgebung. Sie nimmt vorweg, was oft später in der
öffentlichen und politischen Diskussion erscheint. Damit
zeigen sowohl der Einzelfall als auch die Massenpetition
anschaulich die Tauglichkeit von einzelnen Gesetzen.
Vor allem in der Hartz-IV-Gesetzgebung zeigt sich
immer wieder an erschütternden Beispielen, welche of-
fensichtlichen Härtefälle vor dem Gesetz vollkommen
korrekt sind. So bringen beispielsweise die Anrechen-
barkeit von fast allen anderen Einkünften oder auch die
Falschberechnungen der zuständigen Behörden Arbeit-
suchende viel zu oft in existenzielle Notlagen. Solche
Ergebnisse in der Umsetzung von Gesetzen sind völlig
inakzeptabel, und die Architekten der Hartz-IV-Gesetz-
gebung wären gut beraten, die auch durch das Petitions-
wesen festgestellten Auswirkungen ihrer Reform
schnellstens abzustellen.
(Beifall bei der LINKEN)
5344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Ingrid Remmers
(A) (C)
(D)(B)
Ich möchte neben der Hartz-IV-Gesetzgebung auf ei-
nen weiteren Schwerpunkt im Jahresbericht 2009 näher
eingehen. Die Arbeit der bundeseigenen Bodenverwer-
tungs- und -verwaltungs GmbH als Nachfolgerin der
Treuhand war und ist Gegenstand zahlreicher Beschwer-
den – und das nicht nur in Bezug auf die Privatisierung
von Seen. Die oft undurchsichtigen Richtlinien für den
Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen und die in-
transparenten Entscheidungen waren häufig Grundlage
von Beschwerden. Hier setzt sich die vor allem von Ost-
deutschen erlebte unrühmliche Vergangenheit der Treu-
hand fort und gipfelt in dem eben schon erwähnten flä-
chendeckenden Verkauf von Seen in Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern. Kurzzeitig hatte die Vorgän-
gerregierung – bei diesem Thema strategisch clever –
den Verkauf vor der Bundestagswahl im September letz-
ten Jahres gestoppt, um ihn nach der Wahl gleich wieder
zu erlauben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bürgerin-
nen und Bürger ernst nehmen sieht anders aus.
(Beifall bei der LINKEN)
Um das Beispiel zu Ende zu führen: Laut einem Be-
richt des RBB vom 19. Juni dieses Jahres plant die
BVVG den Verkauf von weiteren 300 Seen in Ost-
deutschland in den nächsten Jahren. Demnach sollen die
Seen zwar vorrangig den Kommunen zum Kauf angebo-
ten werden, die Frage ist aber, ob sich die klammen
Städte und Landkreise ihre eigenen Seen überhaupt leis-
ten können. Obwohl die Seen sowieso der öffentlichen
Hand in Form der BVVG gehören, sollen die Kommu-
nen dafür bezahlen, einen wichtigen Faktor für den Tou-
rismus auch weiterhin nutzen zu dürfen. Das ist schon
eine seltsame Logik, wenn es um die wirtschaftliche Zu-
kunft der neuen Länder geht.
Vergleichbar mit der Seenprivatisierung im vergange-
nen Jahr haben im ersten Halbjahr 2010 auch die Heb-
ammen mithilfe breiter öffentlicher Unterstützung in
kürzester Zeit eine öffentliche Ausschusssitzung durch-
gesetzt. Dazu musste sich die Bundesregierung am ver-
gangenen Montag erklären.
(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich denke,
wir reden über 2009!)
– Dies ist nur ein kleines weiteres Beispiel, Frau Kolle-
gin. Die zehn Sekunden haben wir, glaube ich, übrig.
(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Es geht nicht um
die zehn Sekunden, Frau Kollegin!)
Die Hebammen haben in absoluter Rekordzeit mit ei-
ner öffentlichen Petition auf ihr Anliegen aufmerksam
gemacht. In der Folge musste und muss sich der Aus-
schuss wie auch das Gesundheitsministerium mit den
massiv steigenden Haftpflichtprämien im Vergleich zu
der kaum steigenden Vergütung der Hebammen beschäf-
tigen.
Diese und andere Beispiele, speziell Beispiele von öf-
fentlichen Petitionen, zeigen die direkte Einflussmög-
lichkeit der Bürgerinnen und Bürger, die durch die Ver-
öffentlichung der Themen diese viel stärker in das
öffentliche Bewusstsein bringen. Sie zeigen aber auch,
dass sich die öffentliche Petition zunehmend zum Instru-
ment zivilgesellschaftlicher Lobbyarbeit entwickelt. Ich
halte diese Entwicklung vor allem deshalb für sehr
erfreulich, weil sie die bislang benachteiligte zivilgesell-
schaftliche Interessenvertretung – also bürgerschaftli-
ches Engagement oder die sogenannten Graswurzelbe-
wegungen – gegenüber anderen, finanziell meist recht
gut ausgestatteten Verbänden, zum Beispiel der Wirt-
schaft, erheblich stärkt. Damit verhilft das Instrument
der öffentlichen Petition den zivilgesellschaftlichen
Gruppen zu mehr Gerechtigkeit bei der Vertretung ihrer
Interessen, und das ist gut so.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Abschließend noch kurz einige Punkte. Meine Frak-
tion und ich wünschen uns von Herzen, dass noch sehr
viel mehr Menschen die Möglichkeiten nutzen mögen,
sich mit ihren Anliegen direkt an den Bundestag zu wen-
den – in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der
Demokratie.
Auch ich möchte mich in diesem Zusammenhang für
die gute Zusammenarbeit im Ausschuss und die Arbeit
des Ausschussdienstes herzlich bedanken.
Zuletzt möchte ich betonen, wie wichtig es ist, dass
der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit die von
den Bürgerinnen und Bürgern mittels Petitionen aufge-
zeigten Probleme und Missstände wirklich ernst nimmt.
Das gilt für jedes Einzelanliegen genauso wie für die
Massenpetitionen.
Passiert das nicht, bleibt es beim öffentlichen Debat-
tierklub, und das Petitionsrecht verkommt womöglich
zur plebiszitären Krücke. Als Folge würden sich die
Bürgerinnen und Bürger zu Recht weniger denn je ernst
genommen fühlen. Dies würde die Politikverdrossenheit
verstärken und an der Legitimation des Parlaments na-
gen. Das Vertrauen in die Demokratie würde weiter ge-
schwächt werden. Das dürfen wir nicht zulassen.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Wähler ist der Souverän des Staates und nicht sein
Bittsteller.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Klaus Hagemann [SPD])
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort
der Kollege Memet Kilic.
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte der Frau Vorsitzenden und den
Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen sowie deren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die bisher gute
und faire Zusammenarbeit im Ausschuss danken.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich bin neu in diesem Ausschuss. Darum gilt mein
Dank insbesondere auch den Mitarbeiterinnen und Mit-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5345
Memet Kilic
(A) (C)
(D)(B)
arbeitern des Ausschussdienstes. Ihnen ist es gelungen,
mir und den vielen anderen neuen Abgeordneten mit
größter Geduld, Engagement und Kompetenz den Ein-
stieg in die Arbeit des Ausschusses zu erleichtern. Dafür
mein Dank auch im Namen meiner Fraktion!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der FDP)
Im vorliegenden Jahresbericht finden sich einige ein-
drucksvolle Beispiele dafür, dass der Petitionsausschuss
nicht nur bei den laut vorgetragenen Anliegen aufmerk-
sam wird. Gerade bei den leise, verzweifelt und einsam
vorgetragenen Petitionen hört der Petitionsausschuss ge-
nau hin; denn das Anliegen der Einzelnen ist sein Kern-
geschäft. Der Petitionsausschuss kümmert sich um die,
die sonst nicht gehört werden. Ganz gleich, ob sie von
einer Person eingereicht oder von Hunderttausenden un-
terstützt wird: Jede Petition ist dem Petitionsausschuss
gleich viel wert.
Durch die Instrumente E-Petition, öffentliche Petition
und öffentliche Ausschusssitzung ist der Zugang zum
Petitionsausschuss einfacher und das Verfahren durch-
sichtiger geworden. Die Bürgerinnen und Bürger ma-
chen rege davon Gebrauch. Über das Internetportal des
Petitionsausschusses können sich die Bürgerinnen und
Bürger direkt in das parlamentarische Geschehen einmi-
schen. Das ist einzigartig im Bundestag. Mit über 56 000
Beiträgen ist es zudem eines der größten Politikforen in
Deutschland überhaupt.
Die Petitionen haben einen Namen und ein Gesicht
bekommen. Die Menschen hinter den Anliegen werden
sichtbar. Somit erkennt jeder, dass Politik nicht nur die
Angelegenheit von einigen wenigen, sondern von jedem
Mann und jeder Frau sein muss, die in unserem Land et-
was ändern und verbessern wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Sie heißen beispielsweise Susanne Wiest, eine Tages-
mutter aus Greifswald, die für ein bedingungsloses
Grundeinkommen streitet und binnen kurzer Zeit 53 000
Unterzeichnerinnen und Unterzeichner für ihre Petition
gewonnen hat. Da ist Franziska Heine, eine Webdesigne-
rin, die für ihre Petition zur geplanten Netzsperre nicht
nur 130 000 Unterstützerinnen und Unterstützer fand,
sondern auch ein Umdenken in der Bundesregierung be-
wirkt hat. Da ist der Schüler Isaak Schwarzkopf. Der
13-jährige Junge aus Thüringen fordert in seiner öffentli-
chen Petition, den Worten zur Begrenzung der Klima-
erwärmung auf 2 Grad endlich Taten folgen zu lassen,
und macht konkrete Vorschläge an die Politiker. Der
kleine Isaak gegen den Rest der Welt? Nein. Auch der
Schüler Isaak hat für seine Onlinepetition bereits viele
Unterstützer und Mitstreiter gefunden.
Die Menschen waren mit der Arbeits-, Sozial- und
Gesundheitspolitik der Bundesregierung nicht zufrie-
den – Tendenz steigend. Im Jahresbericht 2009 findet
der unzulängliche und ungerechte Umgang der Bundes-
regierung mit der Bankenkrise, der Abwrackprämie und
dem Konjunkturpaket sein unmittelbares Echo. Das Be-
wusstsein dafür, dass Politik nicht nur alle vier Jahre bei
Wahlen gemacht wird, wächst. Es passiert sehr viel zwi-
schendurch. Darauf können wir aufbauen, aber es bleibt
natürlich noch viel zu tun. Wir müssen nachlegen.
Die besondere Bedeutung des Petitionsrechts zeigt
sich auch darin, dass es nicht nur als Bürgerrecht, son-
dern auch als Menschenrecht im Grundgesetz verankert
ist. Es steht allen Menschen offen, Erwachsenen wie
Kindern, Inhaftierten und Geschäftsunfähigen, deut-
schen Staatsbürgern und Menschen ohne deutsche
Staatsbürgerschaft, gleichgültig wo auf dieser Welt sie
leben. Mehrere Hundert Menschen aus dem Ausland ha-
ben dieses Recht im vergangenen Jahr wahrgenommen.
Viele von ihnen beklagen sich über die restriktive Visa-
vergabepraxis der deutschen Auslandsvertretungen.
Viele Familien werden zerrissen, weil Ehegatten und
Angehörige nicht zu ihren in Deutschland lebenden Ver-
wandten ziehen dürfen. Sie können keine hinreichenden
Deutschkenntnisse nachweisen, haben oft aber auch
keine Möglichkeit, die Sprache im Ausland zu erlernen.
Wir verzeichnen allerdings auch einen besonders star-
ken Anstieg bei den Petitionen zum Aufenthalts- und
Asylrecht. Die Zahl der Petitionen zum Asylrecht ver-
doppelte sich im vergangenen Jahr. Fast ausschließlich
ging es hier um die Angst der Menschen vor einer Über-
stellung in die griechischen Auffanglager. Obwohl das
Bundesverfassungsgericht in mindestens sieben Fällen
im Eilverfahren untersagt hat, dass Menschen an Grie-
chenland überstellt werden, ist die Bundesregierung in
der Regel nicht bereit, hier Abhilfe zu schaffen. Sie ver-
weist auf die aus ihrer Sicht noch unklare Rechtslage.
Unglücklicherweise konnten wir daher weniger Men-
schen helfen, als ich mir gewünscht hätte. Es liegt an
uns, uns in diesem Punkt anzustrengen.
Die Menschen wollen mitreden und mitgestalten. Sie
wollen als mündige Bürgerinnen und Bürger ernst ge-
nommen werden. Mitbestimmung ist das wichtigste Mit-
tel gegen die angebliche Politikverdrossenheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge-
ordneten der FDP)
Daher müssen wir das Petitionsrecht noch bekannter ma-
chen und den Zugang vereinfachen. Wir müssen auch
die Menschen gewinnen, die bisher zu wenig von den
Möglichkeiten Gebrauch machen, sich einzumischen,
zum Beispiel Erwerbslose, Frauen, Ältere und Immi-
granten. Ändern muss sich auch die hohe Quote der Ein-
gaben, die nicht als öffentliche Petition zugelassen wer-
den. Gerade bei den öffentlichen Petitionen könnte die
Mitzeichnungsfrist verlängert und das Quorum gesenkt
werden. Rund 60 Prozent der eingereichten öffentlichen
Petitionen wurden nicht als solche zugelassen. Ich würde
mich freuen, wenn diese hohe Quote sinken würde.
Ich freue mich auf weitere spannende und erfolgrei-
che Jahre im Dienst der Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der SPD, der FDP und der LINKEN)
5346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann für
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gero Storjohann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Jahr 2009 – um dieses Jahr geht es im vor-
liegenden Bericht – war in zweierlei Hinsicht ein beson-
deres Jahr für den Petitionsausschuss: Erstens konnten
wir unser 60-jähriges Bestehen feiern, und zweitens war
es über das ganze Jahr möglich, öffentliche Petitionen
im Internet einzureichen, zu diskutieren und mitzuzeich-
nen. Es war ein schönes Jahr, das wir heute würdigen.
Das 60-jährige Jubiläum zeigt, dass wir Kontinuität
haben. Es zeigt aber auch, dass wir uns der Zeit anpassen
müssen und dies auch tun wollen.
Das Petitionswesen hat sich stetig weiterentwickelt.
Es ist ein Vorzeigemodell geworden. Es wird sowohl im
Inland als auch im Ausland anerkannt, und es wird nach-
gefragt, wie wir das Petitionsrecht handhaben.
Es stößt auf viel Interesse. Ich erinnere daran, dass in
England, der Urdemokratie, gar kein Petitionswesen
existiert. Wir sind schon wesentlich weiter. Wir haben in
Berlin viele ausländische Delegationen empfangen kön-
nen, die sich danach erkundigten, wie hier die Zusam-
menarbeit funktioniert und wie das Petitionswesen orga-
nisiert ist. Besonders Delegationen aus frankophonen
Ländern Westafrikas – ich freue mich, dass Herr
„Afrika-Fischer“ anwesend ist –,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
aus Algerien, Marokko und Tunesien sowie aus Vietnam
haben sich generell über unser Ausschusswesen infor-
miert.
Die Petitionsausschüsse und Ombudsleute aus dem
Inland, die nach Berlin reisten, interessierten sich natür-
lich vor allen Dingen für das System der öffentlichen
Eingaben. Allgemein erfährt die Praxis eine sehr posi-
tive Resonanz – nicht nur vonseiten der Vertreter anderer
Parlamente, auch seitens der Bürgerinnen und Bürger.
Sie wissen, dass wir uns als Petitionsausschuss auch
um die Zusammenarbeit mit den Petitionsausschüssen
der Landesparlamente kümmern. Deswegen laden wir
regelmäßig die Vorsitzenden der Petitionsausschüsse der
Landesparlamente ein. Wir freuen uns schon außeror-
dentlich auf die Laudatio der Vizepräsidentin Frau
Hasselfeldt zum 60-jährigen Bestehen Ende September
in Schwerin.
Wir Mitglieder des Petitionsausschusses gehen auch
vor Ort, wenn wir es für angebracht halten. Zeitbedingt
geht das nicht in jedem Fall. Aber wir machen das doch
sehr häufig. Wir waren an der A14, um uns den Lärm
höchstpersönlich anzuhören. Die Gefahr ist bloß immer,
dass der Wind in dem Augenblick aus der falschen Rich-
tung kommt und wir uns dann die Lärmbelastung vor-
stellen müssen. Hier war das an der Sülzetalbrücke, und
wir haben rechtlich nicht unbedingt helfen können. Aber
wir haben die Petition dann dem Petitionsausschuss des
Landesparlaments zugewiesen mit dem Hinweis, dem
Anliegen des Petenten, wenn man eine Möglichkeit
sehe, nachkommen zu wollen und für Lärmschutz zu
sorgen. Das ist also ein positives Beispiel dafür gewesen,
dass wir im Gespräch die schwierige Situation haben
verbessern können.
Der Petitionsausschuss selbst ist sehr offen für Kritik,
und er nimmt auch gern Probleme auf, um daraus dann
Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wir möchten kon-
krete Verbesserungen erreichen.
Ein Problem in der letzten Zeit waren fehlende Ab-
stellplätze an den Autobahnen für Lkws. Es gab eine
Petition, es gab eine öffentliche Beratung im Petitions-
ausschuss, und es gab auch eine Begleitung durch Ra-
diosender, die dieses Thema speziell für Trucker aufbe-
reitet haben. Es ist kein Hauptpunkt gewesen, aber wir
haben dieses Anliegen begleitet. Jetzt sind viele Initia-
tiven gestartet worden, um Stellplätze für Trucks aus-
zubauen. Bis zum Jahre 2012 sollen insgesamt etwa
15 000 Plätze zur Verfügung stehen. Das ist ein gutes
Programm, das wir mit begleiten konnten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Zum Schluss, meine Damen und Herren, möchte ich
deutlich machen, dass wir Individualinteressen sehr
wohl unterstützen und dass wir uns als Korrektiv bei Ge-
setzen sehen, die die gesamte Bevölkerung betreffen.
Ohne die Mitarbeiter in unseren Büros und ohne die Mit-
arbeiter des Petitionsausschusses wäre diese wichtige
Aufgabe nicht vollumfänglich zu leisten. Deshalb
möchte auch ich mich im Namen der CDU/CSU-Frak-
tion für diese tolle Mitarbeit und Unterstützung herzlich
bedanken.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der SPD und der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus
Hagemann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
FDP und der LINKEN)
Klaus Hagemann (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste!
Gestern haben wir um diese Zeit den neuen Bundespräsi-
denten gewählt.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Noch nicht!
Versucht!)
– Doch, er ist es schon.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber nicht
gestern um diese Zeit!)
– Der dritte Wahlgang zeichnete sich ab.
(Zuruf von der SPD: Der zweite!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5347
Klaus Hagemann
(A) (C)
(D)(B)
Meine Damen und Herren, wir haben ihn gewählt, ob Sie
wollen oder nicht,
(Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN)
und es ist Herr Wulff geworden. Ich gratuliere ihm sehr
herzlich zu dieser Wahl. Er ist unser Staatsoberhaupt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Eines, liebe
Sibylle Pfeiffer, muss ich dazu allerdings doch sagen:
Gestern waren ein paar Leute mehr hier im Plenarsaal als
jetzt.
(Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen]
[CDU/CSU])
Ich meine nicht Sie, liebe Gäste, sondern meine Kolle-
ginnen und Kollegen Abgeordnete. Wir Petitionsaus-
schussleute sind hier quasi unter uns und können unsere
Diskussionen weiterführen.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Es ist wie in der
Kirche: Du beschimpfst die Falschen!)
– Es ist immer so: Man trifft die Falschen. – Aber ich
möchte für dieses Thema jetzt nicht zu viel Zeit ver-
plempern.
Es wurde immer wieder herausgestellt, der Bundes-
präsident sei ein Kümmerer, er sei ein Brückenbauer, er
müsse Gräben zuschütten, er sei ein Ermutiger – alles
richtig. Das sind Wendungen, die gestern zu hören und
zu lesen waren. Das gilt aber genauso für uns vom Peti-
tionsausschuss, vom Parlament, die wir für die Mitbür-
gerinnen und Mitbürger tätig sind, die sich an uns wen-
den. Auch das ist von Ihnen allen schon gesagt worden.
Wir haben diese Aufgabe wahrzunehmen.
Wir sind gezwungen, immer wieder neue Formen zu
entwickeln; denn nichts ist beständiger als der Wandel.
Ich möchte eine Petition herausgreifen, die von uns ver-
langt hat, solche neuen Formen zu entwickeln, und zwar
die Beschwerden von ehemaligen Heimkindern, die in
den 40er-, 50er-, 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahr-
hunderts im Heim waren, uns ihr Schicksal geschildert
und aufgezeigt haben, wie dramatisch es gewesen ist.
Ich möchte hier die Vorgängerin in meinem Amt,
Gabriele Lösekrug-Möller, erwähnen und ihr herzlich
dafür danken, dass sie unser Petitionswesen immer wie-
der mit Ideen sehr bereichert hat. Ein Dankeschön an
dieser Stelle!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie hat auch erkannt, dass es notwendig ist, einen runden
Tisch einzurichten, weil wir mit dieser Thematik über-
fordert waren, weil Sachverständige dazukommen muss-
ten. Nur so konnten wir uns intensiver mit der Thematik
beschäftigen. Liebe Gabriele, noch einmal herzlichen
Dank!
Wir haben noch einen Wandel vollzogen; auf die öf-
fentlichen Petitionen ist schon hingewiesen worden. Lie-
ber Günter Baumann, Sie haben eben deutlich gemacht,
dass bei der Union und der FDP erst große Bedenken be-
standen haben. Ich würde es ein bisschen flapsiger sa-
gen: Wir haben euch zum Jagen getragen.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein, nein! –
Günter Baumann [CDU/CSU]: Absolut
falsch!)
– Sie waren noch gar nicht dabei, Herr Lehrieder. – Ihr
habt dann mitgemacht, und wir haben es zusammen hin-
bekommen.
(Günter Baumann [CDU/CSU]: Die Rede war
bis jetzt gut!)
Das hat sich so positiv entwickelt, dass jetzt alle Väter
dieses Gedankens sind. Es ist richtig, öffentliche Petitio-
nen zu ermöglichen, um die Zivilgesellschaft zu stärken,
um die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubinden.
Ich möchte, Herr Kollege Thomae, Ihre Anregung
aufgreifen, wieder eine Weiterentwicklung vorzuneh-
men. Das ist eine gute Anregung. Wir bieten auch hier-
für die Zusammenarbeit an, so wie es üblich ist.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir die öffentli-
chen Petitionen noch stärker ausweiten müssen. Was
nützt dem Petenten die Debatte hier im Plenarsaal, wenn
er sich nicht beteiligen kann? Zumindest im Rahmen der
öffentlichen Petition und der Anhörung kann er sich ein-
bringen. Das ist sicher ein guter Weg, den wir hier gehen
können.
Ein anderes Beispiel ist die Diskussion um das Gesetz
über Internetsperren. Durch die Petition dazu ist erreicht
worden, dass das Gesetz jetzt nicht angewendet wird
bzw. hinfällig ist.
Ein weiteres Beispiel ist die große Petition zur
Finanzmarkttransaktionsteuer. Diese Petition hat ausge-
löst, dass sogar die Bundesregierung sich mit dieser Idee
auseinandersetzt, und hat sie in der Diskussion unter-
stützt. Der Petent hat also einiges bewegt. Ich hoffe, dass
die Anhörung dazu bald erfolgen kann; denn die Forde-
rung ist berechtigt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Diejenigen, die die Finanz- und Wirtschaftskrise durch
ihre Geldgier ausgelöst haben, müssen an der Finanzie-
rung der Banken- und Wirtschaftsrettungsschirme betei-
ligt werden. Das steht in der Petition, und das kann nur
so erreicht werden, wie es darin dargelegt worden ist. Es
darf nicht der Eindruck entstehen: Wer Geld hat, der darf
sich alles erlauben.
Es gibt bei uns auch Petitionen, die ruhen. Sie ruhen
sanft, und es geht nicht voran. Dies betrifft das Thema
„Generation Praktikum“. Auf der Tribüne sitzen viele
junge Leute. Man hört es immer wieder in Gesprächen:
Es besteht die Furcht, dass man nach einer qualifizierten
Ausbildung nicht die Chance hat, aktiv in das Berufsle-
ben einzusteigen. In diesem Zusammenhang ist die Zeit-
arbeit sowie die Tatsache zu nennen, dass es nicht genü-
5348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Klaus Hagemann
(A) (C)
(D)(B)
gend Arbeitsplätze gibt. Diese Sorgen müssen wir ernst
nehmen.
Es werden Praktika über Praktika angeboten; man soll
noch ein schlecht oder gar nicht bezahltes Praktikum
hintendran absolvieren. Wir haben diese Petitionen schon
vor Jahren in Zeiten der Großen Koalition aufgegriffen
und sind als Tiger gesprungen. Bisher sind wir noch nicht
gelandet – noch nicht einmal als Bettvorleger –, weil man
sich in der Bundesregierung – damit meine ich nicht nur
die jetzige Bundesregierung, es ist noch ein Staatssekre-
tär anwesend,
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ein guter!)
sondern auch ihre Vorgängerin während der Großen Ko-
alition – zwischen zwei Ministerien nicht einigen
konnte, welche Stellungnahme gegenüber dem Petitions-
ausschuss dazu abgegeben wird. Das darf nicht sein. Die
Bundesregierung muss hier schneller handeln. Wir müs-
sen zu einem Ergebnis kommen; denn die jungen Men-
schen haben sich als Petenten in dem vollen Vertrauen,
dass wir handeln, an uns gewandt. An dieser Stelle be-
steht Handlungsbedarf. Lassen Sie uns das vorantreiben
und nach vorne bringen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nach Ausbildung und Studium müssen die jungen Men-
schen eine Perspektive haben. Wir sprechen immer vom
Fachkräftemangel. Wir sagen ihnen, dass sie eine Fami-
lie gründen und Kinder bekommen sollen. Gleichzeitig
stehen derart schlechte Voraussetzungen am Anfang des
Berufslebens. Dort besteht in der Tat Handlungsbedarf.
Lassen Sie uns das endlich nach vorne bringen. Lassen
Sie uns hier die Bundesregierung treiben.
Ich möchte noch die Diskussion um das Quorum, das
erforderlich ist, um eine öffentliche Anhörung durchzu-
führen, in Erinnerung rufen. Zwar gehen wir jetzt in der
Entwicklung voran, wie ich schon gesagt habe. Dennoch
sollten wir nachdenken; da stimme ich dem Kollegen
Kilic zu. Vielleicht ist es doch zu viel verlangt,
50 000 Unterschriften in drei Wochen zu erreichen. Au-
ßerdem stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen,
wenn nach der Zeit des Quorums noch Zigtausende Un-
terschriften eingehen. Diese Unterschriften können wir
nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Hier gibt es
also genügend Ansatzpunkte, die wir uns anschauen und
die wir aufgreifen sollten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-
schluss noch kurz die von uns verwendete Sprache an-
sprechen. Leider habe ich keine Zeit mehr, Ihnen sehr
delikate Formulierungen vorzulesen, die von Juristen
vorgelegt worden sind und die kein Mensch versteht.
– Frau Präsidentin, ich sehe das Leuchten. – Übrigens
müssen auch wir zwei Formen des Petitionsberichtes
vorlegen: einen Bericht, der formaljuristisch in Ordnung
ist und alle Facetten betrachtet, und zusätzlich eine ver-
ständliche Form, damit die Bürgerinnen und Bürger das
Ganze verstehen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, das Sehen des Leuchtens reicht nicht.
Klaus Hagemann (SPD):
Ich sehe es, Frau Präsidentin. Der Kollege Baumann
hat aber auch zwei Minuten überzogen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Zurufe
von der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bei Ihnen geht es auch in diese Richtung.
Klaus Hagemann (SPD):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen
besser, einfacher und verständlicher formulieren. Das
gilt sowohl für die Bundesregierung, an die ich diese
Bitte richte, Herr Staatssekretär Dr. Schröder, als auch
für uns selbst.
Zum Schluss sage ich ein Dankeschön an Sie alle für
die gute, kollegiale, zum Teil freundschaftliche Zusam-
menarbeit. Ein herzliches Dankeschön geht auch an die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich will mich nicht der Unsitte der Vor-
redner anschließen und gnadenlos überziehen, weil die
nach mir folgende Rednerin meiner Fraktion das auszu-
baden hätte, liebe Sibylle Pfeiffer.
Seit nunmehr viereinhalb Jahren darf ich im Petitions-
ausschuss mitwirken. Am Anfang bin ich nolens volens
in diesen Ausschuss geraten und dann freiwillig dort ge-
blieben, weil hier, wie die Vorredner bereits ausgeführt
haben, ein sehr kollegiales Verhältnis sowie ein partei-
übergreifendes Verständnis der Probleme der Mitbürge-
rinnen und Mitbürger festzustellen sind.
Mit jeder Eingabe, die ich als Berichterstatter im Peti-
tionsausschuss bearbeiten darf, bestätigt sich: In kaum
einem Gremium des Deutschen Bundestages hat man als
Volksvertreter eine so unmittelbare Berührung mit den
Anliegen der Wählerinnen und Wähler. Wer sich an den
Petitionsausschuss wendet, bekommt für ein konkretes
Anliegen Unterstützung. Behörden und Gesetzgeber er-
halten ein Feedback aus dem täglichen Leben und Ant-
worten auf die Frage, wo noch Korrekturbedarf besteht.
Sie dürfen versichert sein – das gilt auch für die Zu-
schauer auf den Tribünen –: Auch wenn Otto Normal-
verbraucher vielleicht nicht so schnell eine befriedi-
gende Antwort bekommt – wenn wir als Abgeordnete
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5349
Paul Lehrieder
(A) (C)
(D)(B)
bzw. als Petitionsausschuss eine Behörde anschreiben,
bekommen wir eine Antwort. Wir können ein Vorhaben,
ein Anliegen oder ein Problem also transparent, öffent-
lich und bei der Behörde mit entsprechendem Gewicht
vortragen.
Als Abgeordnete bekommen wir Rückkopplung über
das Wirken der Gesetzgebung in Fällen, wie sie jedem
von uns auch in unserer Wahlkreisarbeit begegnen. Wer
sich an den Petitionsausschuss wendet, sollte allerdings
wissen: Der Ausschuss kann weder einen Verwaltungs-
akt noch einen Gerichtsbeschluss verändern oder aufhe-
ben. Er ist vor allem ein Untersuchungsorgan, das das
Handeln von Verwaltungen und die Wirkung von Geset-
zen überprüft. Sobald ein Petent an den Petitionsaus-
schuss herantritt, wird seine Beschwerde oder Bitte von
einer privaten Angelegenheit zu einem öffentlichen An-
liegen.
Sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie sich sicher-
lich denken können, ist dies besonders auf den Feldern
Arbeit und Soziales der Fall, für die ich im Petitionsaus-
schuss in erster Linie Bericht erstatten darf. Viele Bürger
nutzen das Petitionsrecht, um sich über die Gesetze des
Bereichs Arbeitsmarkt oder deren Umsetzung zu be-
schweren oder Verbesserungen vorzuschlagen. Einige
Vorredner sind bereits darauf eingegangen. Mit 21 Pro-
zent der Eingaben ist das Ressort Arbeit und Soziales
wie auch in den Vorjahren das Ressort im Petitionsaus-
schuss, zu dem die meisten Zuschriften eingingen. Von
den Themen her bildeten auch in diesem Jahr die Grund-
sicherung für Arbeitsuchende – Stichwort Arbeitslosen-
geld II – mit 1 120 Petitionen und das klassische Ar-
beitslosengeld mit 144 Petitionen den Schwerpunkt.
Stark vertreten waren auch Problematiken rund um den
Arbeitslohn, die Förderung der beruflichen Weiterbil-
dung sowie die Arbeitsmarktpolitik an sich und die Bun-
desagentur für Arbeit als Institution.
Im Übergang zur Rente war das Thema des Nachwei-
ses von Zeiten der Arbeitslosigkeit für die Rentenversi-
cherung von großer Bedeutung.
Das Schwergewicht der Petitionen zur Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende betraf Fälle, in denen sich
Petenten über die Bearbeitung ihres persönlichen Leis-
tungsfalles durch die örtlichen Träger der Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende beschwerten. Dabei ging es oft
um die Anrechnung einmaliger Einnahmen, zum Bei-
spiel um die von Geldgeschenken oder Rückerstattungen
im Rahmen der Lohnsteuer oder der Betriebskosten der
Wohnung, oder auch um Sanktionen, die den Petenten
auferlegt worden waren, Stichwort: Fordern und För-
dern.
Gerade auch die Höhe der Regelsätze der Grund-
sicherung nach dem SGB II war immer wieder Thema.
Im Vorfeld der in diesem Jahr erfolgten Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar, insbe-
sondere bezogen auf die Regelsätze für Kinder und Ju-
gendliche, beanstandeten zahlreiche Bürgerinnen und
Bürger deren Höhe und machten Verbesserungsvor-
schläge. Viele dieser Petitionen stammen noch aus der
vergangenen Wahlperiode. Da sie nicht der Diskontinui-
tät unterliegen und somit auch in dieser Legislatur-
periode weiterbehandelt werden, ist es nun notwendig,
sie mit Wissen um das Bundesverfassungsgerichtsurteil
vom 9. Februar noch einmal neu bewerten zu lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie in folgendem
aktuellen Beispiel münden die Anliegen von Bürgern in
Gestalt von Eingaben an den Deutschen Bundestag im-
mer wieder in konkrete Entscheidungen und Korrektu-
ren. Für die Petenten ist wichtig, zu sehen: Die Politik
nimmt die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernst.
So wurde in einem konkreten, von mir behandelten Fall
ein Antrag auf ALG-II-Leistungen abgelehnt. Grund: die
Verwertbarkeit eines Vermögens aus der privaten Ren-
tenversicherung. Der Petent gab an, der vorzeitige Ver-
kauf wäre für ihn mit finanziellen Verlusten von etwa
15 000 Euro verbunden gewesen und bringe ihn in die
Gefahr von Altersarmut. Bei Abschluss des Rentenversi-
cherungsvertrages habe er keine Möglichkeit gehabt, im
Rahmen eines Modells für das Alter zu sparen, welches
rechtlich anrechnungsfrei sei.
Die Problematik, die diesem und ähnlichen Anliegen
zugrunde liegt, war der unionsgeführten Bundesregie-
rung bewusst. Wir haben bereits in unserem Koalitions-
vertrag, lieber Kollege Thomae, aufgenommen, dass die
Höhe des Schonvermögens verdreifacht werden soll, um
für das Alter entsprechend Vorsorge leisten zu können.
Anstelle von bisher 250 Euro sollen zukünftig 750 Euro
pro Lebensjahr aus einer selbst erwirtschafteten Renten-
zusatzleistung anrechnungsfrei bleiben. Der Bericht des
Petitionsausschusses sieht auf Seite 28 insofern aus-
drücklich vor – mit Ihrem Einverständnis, Frau Präsi-
dentin, würde ich gerne die genaue Formulierung zitie-
ren –:
Der Petitionsausschuss empfahl daher, die Eingabe
der Bundesregierung als Material zuzuleiten, damit
sie im Rahmen der zukünftigen Gesetzgebung in
die Überlegungen einbezogen werden kann, und
leitete sie auch den Fraktionen des Deutschen Bun-
destages zu.
Sie sehen an diesem Beispiel – damit möchte ich be-
reits vorzeitig zum Ende kommen –, dass die Politik rea-
giert. Politik und Gesetze sind ein lernendes System. Die
Rückkopplung in Form der Anliegen der Bürgerinnen
und Bürger im Petitionsausschuss ist hierfür eine wert-
volle Unterstützung. In diesem Ausschuss werden die
Anliegen der Bürger nicht als Arbeitsbelastung, sondern
als positive Anregung und als wohlmeinende Begleitung
unserer Initiativen hier in Berlin gesehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist für mich die dritte Legislaturperiode als Mitglied
5350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Sibylle Pfeiffer
(A) (C)
(D)(B)
des Petitionsausschusses. Ich mache das leidenschaftlich
gerne, freiwillig, zusätzlich und, wie ich glaube, mit sehr
viel Liebe und sehr viel Einsatz. Deshalb kann ich all das
Gute und Schöne, was meine neun Vorredner zur Ar-
beitsweise des Petitionsausschusses gesagt haben, unter-
streichen. An dieser Stelle erlaube ich mir aber auch
zwei, drei kritische Bemerkungen. Ich denke, auch die
dürfen wir einmal äußern.
Ich glaube, dass der Petitionsausschuss nach völlig
anderen Regeln funktionieren sollte als unsere übrigen
Ausschüsse. Unsere Arbeit ist nämlich eine andere. Wir
sollen objektiv, anonym und unvoreingenommen den
Einzelfall betrachten und schauen, ob wir den Bürger in
irgendeiner Art und Weise unterstützen können, ob wir
hilfreich sein können, ob wir etwas ändern können. Lei-
der stelle ich aber fest, dass ideologische und parteipoli-
tische Debatten zunehmend gerade und vor allen Dingen
im Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksamen Mas-
senpetitionen vorkommen. Das finde ich schade.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So schaut es
aus!)
Ein Schelm, der Böses dabei denkt, aber es besteht
die Gefahr, dass der Petitionsausschuss manipuliert und
für Partikularinteressen instrumentalisiert wird.
(Klaus Hagemann [SPD]: Das ist bei allen
Fraktionen so!)
Inhaltliche Debatten dieser Art gehören in die zuständi-
gen Fachausschüsse und nicht in den Petitionsausschuss.
Wir können nicht so etwas wie Ersatzgesetzgeber sein.
Das fällt in die Zuständigkeit der anderen Ausschüsse.
Massenpetitionen werfen meiner Ansicht nach ein
weiteres Problem auf. Oft genug geht es dabei nicht um
Ausnahmefälle oder ein konkretes Problem, sondern es
geht häufig um politische Fragen im engeren Sinne. Die
politische Willensbildung sollte aber in und vor allen
Dingen über die Parteien stattfinden. So ist es im Grund-
gesetz, bei der Parteienprivilegierung, verankert. Hier
überschreiten wir manchmal die Grenze dessen, was der
Petitionsausschuss leisten kann, und betreten die Arena
der parteipolitischen Auseinandersetzung. Aber gerade
dafür sind wir nicht da.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich wünsche mir, dass wir die parteipolitischen Grund-
satzdebatten zukünftig aus der Arbeit des Petitionsaus-
schusses heraushalten.
Nach wie vor halte ich die Beschäftigung des Peti-
tionsausschusses mit Einzelpetitionen für unheimlich
wichtig und für unheimlich wertvoll. Aber auch bei den
Einzelpetitionen habe ich manchmal ein ambivalentes
Gefühl; denn wir können es nicht allen Petenten recht
machen. Wir können nicht alle Wünsche erfüllen, und
wir können nicht alle Anliegen umsetzen. Als Bundes-
tagsabgeordnete müssen wir uns auch einmal etwas
trauen. Wir müssen mutig sein und den Bürgern die
Wahrheit sagen: Der Staat kann und darf nicht alles leis-
ten, und er kann es nicht jedem recht machen.
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die im
Petitionsausschuss anfallende Arbeit und die hohe Zahl
der Petitionen ein Spiegelbild der Gesellschaft sind: Der
eine Bürger verlangt, dass der Staat alles regelt, der
zweite Bürger meint, dass der Staat gar nichts regelt,
während der dritte Bürger meint, dass der Staat zu viel
regelt und seine persönliche Freiheit zu sehr einschränkt.
Dieses Spannungsverhältnis müssen wir aushalten, und
wir müssen objektiv beurteilen, ob die Entscheidung im
vorgebrachten Einzelfall angemessen ist oder nicht.
In all den Jahren im Ausschuss, die ich nun hinter mir
habe, habe ich gelernt: Egal wie die Mehrheitsverhält-
nisse im Parlament gerade sind, macht die Arbeit im Pe-
titionsausschuss den Angehörigen der Opposition beson-
ders viel Spaß. Man kann alles versprechen, ohne in der
Verantwortung zu stehen. Das ist einfach. Die jetzige
Opposition ist in dieser Hinsicht – das habe ich festge-
stellt – äußerst fleißig.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Im
Versprechen!)
Rechnerisch ist es aber wahrscheinlich die teuerste Op-
position, die wir, soweit ich das überblicken kann, je hat-
ten.
(Klaus Hagemann [SPD]: Warum?)
Dass wir im Petitionsausschuss trotz aller parteipoliti-
schen Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen zweifel-
los ein kollegiales Verhältnis haben, verleiht der Arbeit
die Würde und Substanz, die wir brauchen. Der Bürger
weiß: Sein persönliches Anliegen ist bei uns in besten
Händen. Ich glaube, auf diese Art und Weise sind wir für
die Demokratie sehr hilfreich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte von die-
ser Stelle aus den Mitgliedern des Petitionsausschusses
für deren Engagement und die zusätzliche Arbeit, die sie
zu ihrer fachlichen Arbeit in diesem Haus erbringen, ei-
nen herzlichen Dank aussprechen und wünsche ihnen al-
les Gute.
(Beifall)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Roland Claus, Jörn Wunderlich, Dr. Dietmar
Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Schuld-
rechtsanpassungsgesetzes
– Drucksache 17/2150 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5351
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) (C)
(D)(B)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Roland Claus (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden hier über Lauben, Datschen und Ga-
ragen im Osten Deutschlands, also in den neuen Bundes-
ländern. Genauer gesagt: Es geht im Kern um die Rechte
von Grundeigentümern einerseits und Besitzern und
Nutzern von Baulichkeiten, Anpflanzungen etc. anderer-
seits. Die juristischen Feinheiten sind hinlänglich in der
Begründung unseres Gesetzentwurfes nachzulesen. Zu
DDR-Zeiten geschaffene private Werte auf volkseige-
nem Grund und Boden sind der Gegenstand. Zur Erinne-
rung: Es gab in der DDR mehr als 3 Millionen Kleingär-
ten. Diese waren Orte der Erholung und zum Teil auch
der Selbstversorgung. Ich sage es gleich: Es wäre für
ganz Deutschland klug und modern gewesen, das Klein-
gartenrecht der DDR für die ganze Bundesrepublik zu
übernehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Nach der Wende kam es zum Einigungsvertrag. Es
wurde der unsägliche Grundsatz „Rückgabe vor Ent-
schädigung“ angewandt. Die neue Rechtslage bedeutete,
dass die Vertragsbeziehungen zwischen Verpächtern und
Nutzern völlig neu geregelt werden mussten. Dafür steht
das Schuldrechtsanpassungsgesetz. Zu diesem Gesetz
hat meine Fraktion hier, auch als sie noch anders hieß,
bereits seit 1994 – ich habe etwas recherchiert – kontinu-
ierlich Vorschläge eingebracht. Wir schlagen Ihnen
heute eine kleine Änderung dieses Gesetzes vor, um
mehr Rechtssicherheit zu schaffen, und zwar für beide
Seiten: mehr Rechtssicherheit für die Verpächter und für
die Nutzer.
Ich weiß, dass seit fast 20 Jahren zwischen den neuen
Grundeigentümern und den Nutzern solcher Erholungs-
grundstücke sehr viele vernünftige Regelungen getroffen
wurden. Auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit,
wenn man einen solchen Gesetzentwurf einbringt. Denn
das verdient Anerkennung. Es ist aber auch viel mehr als
nötig vor den Gerichten gelandet. Deshalb streben wir
eine Verbesserung der Rechtssicherheit bzw. Abschaf-
fung der Rechtsunsicherheit an, die bei Vertragsbeendi-
gung eintritt. Dabei geht es um die Fragen: Was muss an
Werthaltigem entschädigt werden? Wie hoch sind die
Abrisskosten, und wie verteilen sie sich?
Wir haben jetzt zum Teil eine so kuriose Rechtslage,
dass Vertragsbrüchige zum Teil besser gestellt werden
als Vertragstreue. Der Bundesgerichtshof hat das bereits
mit einem Urteil im Jahre 2008 deutlich bestätigt. Wir
wollen mit unserem Gesetzentwurf eine Praxis beenden,
wonach der Eigentümer eines Wochenendhauses oder ei-
ner Garage, in die er jahre- oder jahrzehntelang Mühen
und Geld gesteckt hat, den Abriss voll bezahlen muss,
wenn der Vertrag ausläuft.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir bitten Sie um Zustimmung zum Gesetzentwurf,
davor natürlich um sachgerechte Behandlung in den
Ausschüssen. Wir wissen sehr wohl, dass es Einwände
gegen unseren Vorschlag gibt. Es gibt Verbände, die sa-
gen, das Urteil des BGH von 2008 gebe hinreichend Si-
cherheit, man brauche den Schritt gar nicht. Wir haben
mit diesen Verbänden erst jüngst ausführlich diskutiert.
Ich sage Ihnen: Das mag auf jene Nutzer zutreffen, die
ausreichend selbstverteidigungsfähig sind. Es trifft auf
sehr viele nicht zu. Wir alle im Hause wissen, dass zwi-
schen recht haben und recht bekommen zuweilen ein
großer Unterschied besteht. Deshalb ist die Initiative
notwendig.
Wir werden darüber hinaus weitere Vorschläge unter-
breiten, wie im Osten gewonnene Erkenntnisse und ge-
machte Erfahrungen mehr als bisher bundesweit genutzt
werden können.
(Beifall bei der LINKEN)
Im 20. Jahr der deutschen Einheit ist es an der Zeit, den
Erfahrungsvorsprung, den Menschen im Osten im Um-
gang mit Umbrüchen, schwierigsten Situationen und
Neuanfängen gewonnen haben, für ganz Deutschland
nutzbar zu machen. Vergessen wir eines nicht: Aus der
Krise führen nur neue Wege.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Jan-
Marco Luczak das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Wir diskutieren hier und heute über das Schuld-
rechtsanpassungsgesetz, ein Instrument, das in der Tat
zwei völlig gegenläufige und vor allen Dingen hochemo-
tionale Interessenlagen ausgleichen will: Auf der einen
Seite stehen die vielen Nutzer von Freizeit- und Erho-
lungsgrundstücken, für die ihre Datsche zu DDR-Zeiten
in der Tat ein Stück gelebter Freiheit war. Auf der ande-
ren Seite stehen die Grundstückseigentümer. Auf ihrem
Grund und Boden sind diese Datschen errichtet worden.
Die Nutzungsverträge wurden seinerzeit auf Grundlage
des Zivilgesetzbuches der DDR geschlossen. Damit
gründeten sie auf einer sozialistischen Rechts- und Wirt-
schaftsordnung, die staatlich gelenkt war und kaum pri-
vate Freiheit für die Ausgestaltung dieser Rechtsverhält-
nisse ließ.
So waren die Nutzungsverträge für diese Erholungs-
grundstücke und die darauf errichteten Datschen faktisch
unkündbar. Darauf haben die Nutzer vertraut und Inves-
titionen getätigt. Dieses Vertrauen ist in der Tat schutz-
würdig.
5352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Jan-Marco Luczak
(A) (C)
(D)(B)
Für die Union ist es aber genauso wichtig, an dieser
Stelle herauszustellen, dass auch die Eigentümer ein be-
rechtigtes Interesse daran haben, ihre Eigentumsrechte
unter den heutigen freiheitlichen Vorzeichen der sozialen
Marktwirtschaft zur Geltung zu bringen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wir wollen, dass die Eigentümer die Möglichkeit haben,
zu entscheiden, ob sie über kurz oder lang ihr Grund-
stück wieder selbst nutzen wollen oder ein kostende-
ckendes Nutzungsentgelt hierfür erhalten.
Um die Dimension deutlich zu machen – der Kol-
lege Claus hat schon einige Zahlen genannt –: In der
DDR hatte mehr als jeder Zweite ein solches Erho-
lungsgrundstück. Wenn man die vielen Kleingartenan-
lagen herausnimmt – sie unterliegen nämlich anderen
gesetzlichen Voraussetzungen –, so verblieben immer
noch rund 1 Million Verträge, die in bundesdeutsches
Recht zu überführen waren.
Das Schuldrechtsanpassungsgesetz regelt die Frage,
wie diese DDR-Grundstücksnutzungsverträge in bun-
desdeutsches Recht überführt werden können. Das Ziel
war und ist, das möglichst sozialverträglich zu machen
und die Interessen beider Seiten zum Ausgleich zu brin-
gen. Ich finde, das ist seinerzeit sehr gut gelungen. Das
Schuldrechtsanpassungsgesetz hat diesen wirklich
schwierigen Interessenkonflikt mithilfe eines sehr weit
gehenden Kündigungsschutzes, einer Begrenzung der
Nutzungsentgelte und einer differenzierten Regelung
über die Entschädigung bei einer Vertragsbeendigung
aufgelöst.
Was macht nun die Linke aus dieser gelungenen und
auch von den Betroffenen allseits akzeptierten Rege-
lung? Sie schreibt in ihrem Gesetzentwurf, dass es sich
um „ein durch Zeit- und Handlungsdruck geprägtes spe-
kulatives Termingeschäft sui generis“ handelt. Meine
Damen und Herren, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht.
Für mich klingt das eigentlich nur nach blankem Popu-
lismus.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Linke versucht mit dieser Wortwahl, wieder auf
der allgemeinen Welle der Empörung gegen die Exzesse
auf den Finanzmärkten zu reiten. Das mag Ihnen zu Zei-
ten der Wirtschafts- und Finanzkrise opportun erschei-
nen, aber es ersetzt keine sachliche Auseinandersetzung.
Daran lassen Sie es an dieser Stelle wieder einmal feh-
len.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Tatsächlich wird hier nämlich versucht, die Schlach-
ten von gestern erneut zu schlagen. Wir haben schon im
Jahr 2006 sehr ausführlich über das Schuldrechtsanpas-
sungsgesetz diskutiert. Damals ging es um recht ähnlich
gelagerte Problemstellungen. Seinerzeit haben Sie, um
im Bild zu bleiben, die Schlacht verloren, und Ihr Vor-
schlag wurde abgelehnt. Ich wage, vorherzusagen: Das
wird Ihnen auch heute passieren. Ich will Ihnen auch
gerne erklären, warum wir Ihrem Gesetzentwurf nicht
zustimmen werden. Im Kern wollen Sie mit Ihrem rück-
wärtsgewandten Gesetzentwurf nichts anderes erreichen
– das schreiben Sie auch selbst –, als die Rechtsposition
der Nutzerinnen und Nutzer zu stärken, also letztlich die
Nutzer im Verhältnis zu den Eigentümern besserzustel-
len. Dazu wollen Sie zwei Dinge ändern:
Erstens. Die zu zahlende Entschädigung für errichtete
Bauwerke soll unabhängig davon sein, aus welchem
Grund und von wem ein Nutzungsverhältnis gekündigt
wird.
Zweitens. Die zu zahlende Entschädigung soll immer
mindestens nach dem Zeitwert des Bauwerkes und
höchstens bis zur Höhe der Verkehrswerterhöhung des
Grundstücks durch das Bauwerk bemessen sein.
Mit dem ersten Punkt wollen Sie letztlich eine wohl-
durchdachte Differenzierung des Gesetzgebers aushe-
beln. Im Gesetz wird nämlich danach unterschieden, ob
das Nutzungsverhältnis durch den Eigentümer oder
durch den Nutzer bzw. durch eine von ihm verschuldete
Kündigung beendet wird. Kündigt der Vermieter bzw.
der Eigentümer, so verliert der Nutzer das von ihm er-
richtete Gebäude gegen seinen Willen. Damit gehen die
Investitionen, die er im Vertrauen auf den langfristigen
Fortbestand des Nutzungsverhältnisses getätigt hat, ver-
loren. Es ist dann nur recht und billig, dass er dafür eine
Entschädigung bekommen soll. Das sieht das Gesetz so
vor. Der Nutzer soll eine Entschädigung bekommen, die
das Gesetz nach dem Zeitwert des Bauwerks zum Zeit-
punkt der Rückgabe als Entschädigung bemisst.
Kündigt hingegen der Nutzer selbst oder gibt er durch
sein eigenes vertragswidriges Verhalten den Anlass zur
Kündigung, dann ist er in Bezug auf seine Investitionen
gerade nicht schutzbedürftig bzw. beendet er das Nut-
zungsverhältnis aus freien Stücken. Dennoch soll er für
die Erhöhung des Verkehrswertes des Grundstücks eine
Entschädigung erhalten; denn immerhin handelt es sich
um einen Vermögenswert, der dem Eigentümer zufließt,
ohne dass er einen Beitrag dazu geleistet hat. Deswegen
ist es richtig, dass auch an dieser Stelle eine Entschädi-
gung fließen soll. Allerdings ist diese nach den Vorstel-
lungen des Gesetzgebers in der Regel niedriger zu hal-
ten, als es der Zeitwert des Gebäudes wäre. Das ist auch
sachlich begründbar: Wegen der fehlenden Schutzbe-
dürftigkeit des Nutzers erhält dieser nicht eine Entschä-
digung in Höhe seiner Aufwendungen, sondern weniger.
Dass der Gesetzgeber diese unterschiedlichen Sach-
verhalte aufgrund der unterschiedlichen Schutzbedürf-
tigkeit auf der Ebene der Entschädigungen auch unter-
schiedlich behandelt, ist konsequent und in der Sache
absolut berechtigt. Deswegen liegt die Linke in der Sa-
che völlig daneben, wenn sie die genannten Unter-
schiede beseitigen will, wie immer am liebsten dadurch,
dass alles über einen Kamm geschoren und gleichge-
macht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie wenden hier dagegen ein, der BGH habe diese
Differenzierung mit einem Urteil aus dem Jahre 2008
letztlich ad absurdum geführt. Ich kann mich des Ein-
drucks nicht erwehren, dass Sie dieses Urteil gar nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5353
Dr. Jan-Marco Luczak
(A) (C)
(D)(B)
gelesen haben. Aber das wäre vielleicht ein bisschen zu
einfach, und deswegen will ich das an dieser Stelle nicht
unterstellen. Als Alternative bleibt dann freilich nur,
dass Sie dieses Urteil nicht verstanden haben. Das würde
diese Sache auch nicht wirklich besser machen.
In der Sache hat der BGH nämlich gesagt, dass es im
Einzelfall tatsächlich sein kann, dass ein Nutzer mehr
Entschädigung erhält, obwohl er selbst kündigt oder ob-
wohl ihm aufgrund vertragswidrigen Verhaltens gekün-
digt wurde. Daraus ziehen Sie dann aber den Schluss,
dass hier eine völlig willkürliche Rechtslage entstanden
sei, nach der im Ergebnis die Höhe der Entschädigungs-
leistung überwiegend zufällig davon abhänge, welche
der Parteien die Kündigung zuerst ausspreche. Damit
versuchen Sie wiederum, zu insinuieren, dass es einen
Wettlauf geben könnte, wer das Nutzungsverhältnis zu-
erst kündigt, um sich eine möglichst hohe Entschädi-
gung zu sichern. Das wiederum soll letztlich den gerade
angesprochenen spekulativen Charakter des Nutzungs-
verhältnisses bzw. der gesetzlichen Regelung begründen.
Tatsächlich hat der BGH sehr deutlich gemacht, dass
es – anders als Sie in Ihrem Gesetzentwurf behaupten –
gerade keine Besorgnis gibt, dass das Nutzungsverhält-
nis einen solchen spekulativen Charakter erhält. Richtig
ist nämlich, dass es dem Nutzer darauf ankommt, das
Gebäude auf dem Erholungsgrundstück möglichst lange
zu nutzen und nicht irgendwelche Spekulationsgewinne
zu erzielen. Er hat also gerade kein Interesse daran, die
Nutzung vorzeitig aufzugeben.
Auch bei dem Eigentümer kann es zu dem behaupte-
ten Wettlauf überhaupt nicht kommen. Das Gesetz sieht
hier eine sehr weitgehende Beschränkung der Kündi-
gungsmöglichkeiten vor. Der BGH hat sehr deutlich ge-
sagt, dass die im Gesetz verankerte Wertung entspre-
chend hinzunehmen ist.
Alles in allem geht ihre Argumentation also an der
Sache vorbei. Das wurde Ihnen auch höchstrichterlich
vom BGH bestätigt. Dass Sie hier trotzdem einen sol-
chen Gesetzentwurf vorlegen, lässt mich wieder zu dem
Schluss kommen, dass Sie das Urteil des BGH entweder
nicht gelesen oder nicht verstanden haben.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, den
Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen, ist die
Entschädigung mit mindestens dem Zeitwert des Bau-
werkes, ganz unabhängig davon, wer aus welchem
Grund gekündigt hat. Das ist schlicht verfassungswidrig;
das muss man hier ganz klar und deutlich sagen. Wenn
Sie sich das Urteil des BGH anschauen, dann wird Ihnen
das klar. In der Tat wundert mich ein solcher Gesetzent-
wurf nicht. Wir alle wissen, dass Ihre Partei und Ihre
Fraktion immer noch ein recht gespaltenes Verhältnis zu
den Grundrechten und den rechtsstaatlichen Prinzipien
unseres Grundgesetzes haben. Das haben Sie jüngst wie-
der sehr deutlich unter Beweis gestellt, als sich Ihre Prä-
sidentschaftskandidatin weigerte, die DDR als das zu be-
zeichnen, was sie war, nämlich als einen Unrechtsstaat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vor diesem Hintergrund müsste man Sie eigentlich
sehr deutlich darauf hinweisen, wie der Schutzumfang
des Eigentums nach unserem Grundgesetz ausgestattet
ist. Ich will es mir jetzt aber nicht anmaßen, Ihnen hier
Nachhilfeunterricht zu geben. Ich könnte hier das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zitieren, auf das Sie Be-
zug nehmen. Darin steht sehr deutlich, dass der eigen-
tumsrechtliche Gehalt vor allen Dingen durch Privatnüt-
zigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des
Eigentümers gekennzeichnet ist. Nun kontern Sie gleich
wieder mit Art. 14 Abs. 2 GG, mit der Sozialbindung des
Eigentums. Es ist völlig richtig, dass diese besteht; aber
auch dazu hat das Bundesverfassungsgericht in dem zi-
tierten Urteil sehr deutlich gesagt, dass eine einseitige
Bevorzugung oder Benachteiligung mit den verfassungs-
rechtlichen Vorstellungen eines sozialgebundenen Pri-
vateigentums nicht im Einklang steht.
Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht das Schuld-
rechtsanpassungsgesetz, als es dies 1999 genau unter die
Lupe genommen hat, im Wesentlichen bestätigt. Das Ge-
richt hat nur eines gemacht: Es hat einzelne Regelungen
in der Tat für nicht in vollem Umfang mit der Eigentums-
garantie vereinbar erklärt. Das lag aber nicht etwa daran,
dass das Gesetz hier zu eigentumsfreundlich ausgestaltet
gewesen wäre. Im Gegenteil: Das Gericht hat das Gesetz
als zu nutzerfreundlich ausgestaltet betrachtet.
Wenn Sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf behaupten,
dass die Regelungen des Schuldrechtsanpassungsgeset-
zes der gescheiterte Versuch seien, einseitig die „Rechte
der Grundstückseigentümer zu erweitern“, dann wird
dies weder dem Willen des Gesetzgebers noch der Reali-
tät gerecht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Der Gesetzgeber hat letztendlich die Konsequenzen
aus diesem Urteil gezogen und das Schuldrechtsanpas-
sungsgesetz geändert. Sie wollen hier mit Ihrem Gesetz-
entwurf eigentlich nichts anderes erreichen als eine
Rolle rückwärts: Sie wollen wieder zu dem Zustand zu-
rück, bei dem man Nutzer gegenüber den Eigentümern
einseitig bevorteilt. Daran merkt man erneut, dass Sie of-
fensichtlich immer noch in Ihren sozialistischen Denk-
strukturen verhaftet sind und sich davon nicht lösen kön-
nen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Reiner Populis-
mus!)
Das Schlimme dabei ist aber, dass Sie sich damit in of-
fenen Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts begeben. Ich habe es gerade ausge-
führt: Die Grundrechte der Eigentümer müssen auch im
Rahmen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes gewahrt
werden. Hierzu ist sehr deutlich ausgeführt worden, dass
es das Bundesverfassungsgericht als Verletzung der
Grundrechte der Eigentümer ansieht, wenn der Eigentü-
mer den Nutzer auch dann für den Verlust des Nutzungs-
rechts entschädigen muss, wenn es keinen korrespondie-
renden Vorteil des Grundstückseigentümers gibt. Genau
das könnte aber der Fall sein, wenn man ausnahmslos und
ohne Differenzierung immer auf den Zeitwert eines Bau-
werkes abstellte; denn es ist überhaupt nicht gesichert – es
kommt auf den Einzelfall an –, ob ein solcher Mehrwert
überhaupt besteht und ob er realisierbar ist. Deswegen
5354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Jan-Marco Luczak
(A) (C)
(D)(B)
stehen Sie da in völligem Widerspruch zur Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts.
Ihr Gesetzentwurf ist letztendlich – damit komme ich
zum Schluss – ein Unterfangen, das offensichtlich da-
rauf abzielt, eine verfassungsrechtlich anerkannte Aus-
gleichsleistung, eine akzeptierte Ausgleichsregelung, au-
ßer Kraft zu setzen und erneut Zwist und Zwietracht
zwischen den Alteigentümern und den Datschenbesit-
zern zu säen. Damit spielt die Linke mit den Ängsten der
Menschen und versucht hier, populistisch, einseitig und
unredlich ihre Interessen durchzusetzen. Sie werden ver-
stehen, dass wir von der Union einem solchen Antrag
nicht zustimmen können.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Steffen für
die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Sonja Steffen (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Je länger das Spiel dauert, desto weniger Zeit
bleibt; das gilt im Sport und in vielen anderen Lebensbe-
reichen. Dies wissen auch die Eigentümer der Datschen
in den neuen Bundesländern. Die Häuschen zur Erho-
lung, um die es in der heutigen Debatte im Wesentlichen
geht, stehen nämlich meist auf fremdem Grund und Bo-
den. Für diese Fälle gilt das Schuldrechtsanpassungsge-
setz. Es besagt, dass der gesetzliche Kündigungsschutz
im Jahr 2015 endet.
Bis dahin ist nicht mehr viel Zeit. Was passiert dann
mit den Datschen? Müssen die Nutzer Angst haben, dass
das Nutzungsverhältnis 2015 automatisch endet und die
Baulichkeiten dann dem Grundstückseigentümer zufal-
len? Nein, kein Vertrag endet automatisch. Richtig ist:
Mit dem 3. Oktober 2015 endet der gesetzliche Kündi-
gungsschutz des Schuldrechtsanpassungsgesetzes. Grund-
stückseigentümer können dann die Verträge nach Maßgabe
des Bürgerlichen Gesetzbuches kündigen. Entscheidend
ist: Die Grundstückseigentümer können, sie müssen aber
nicht kündigen. Die alten Verträge behalten weiterhin
ihre Gültigkeit, wenn sie nicht gekündigt werden.
Was passiert aber, wenn ein Grundstückseigentümer
dennoch von seinem Kündigungsrecht Gebrauch macht?
Dann fällt ihm auch das Eigentum an der Baulichkeit zu.
In diesem Fall hat der Nutzer einen Entschädigungsan-
spruch auf den aktuellen Zeitwert des von ihm errichte-
ten Bauwerks. Herr Kollege, Sie haben bereits darauf
hingewiesen. Dabei ist nicht entscheidend, ob der
Grundstückseigentümer für das Bauwerk Verwendung
hat. Zudem muss der Eigentümer eine Entschädigung für
die Anpflanzungen zahlen.
Wenn der bisherige Nutzer kündigt, so bedarf es kei-
nes Schutzes bezüglich seiner Investitionen. Da er das
Nutzungsverhältnis aus freien Stücken beendet, ist er
nicht schutzbedürftig. Selbst wenn das Gebäude noch ei-
nen Wert hat, erhält er keine Entschädigung. Nur wenn
die Errichtung des Gebäudes zu einer Werterhöhung des
Grundstücks insgesamt führt, soll der Eigentümer den
bisherigen Nutzer nach dem durch das Bauwerk erhöh-
ten Verkehrswert des Grundstücks entschädigen. Das
heißt: Der Nutzer kann bei eigener Kündigung zwar laut
Schuldrechtsanpassungsgesetz keine Entschädigung nach
dem Zeitwert des Bauwerks beanspruchen, wohl aber
bereits jetzt die oftmals bessere Entschädigung wegen
der Verkehrswerterhöhung des Grundstücks.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, über den
wir diskutieren, fordert, dass der Grundstückseigentümer
zukünftig immer einen Wertausgleich bei der Vertrags-
beendigung zahlen soll, und zwar unabhängig davon,
welcher Vertragsteil die Kündigung vornimmt.
Bei der Anpassung der Rechts- und Eigentumsord-
nung der DDR an das Rechtssystem der Bundesrepublik
Deutschland stand der Deutsche Bundestag vor der
schwierigen Aufgabe, die Interessen von Nutzern und Ei-
gentümern in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
Die Datsche bedeutete – darauf ist heute schon hingewie-
sen worden – für zahlreiche Bürger der DDR ein wertvol-
les Stück Freiheit. Hinzu kam, dass die Nutzer von Erho-
lungsgrundstücken in der DDR – das waren eine ganze
Menge – eine erheblich stärkere Rechtsposition gegen-
über den Eigentümern hatten, als dies nach dem heutigen
Recht der Fall ist. Schließlich war zu berücksichtigen,
dass viele Nutzer das Grundstück zum Teil mit viel Zeit
und großer Mühe nutzbar gemacht haben.
Der Gesetzgeber hat andererseits auch den Interessen
der Eigentümer Rechnung zu tragen und die Entschädi-
gungsregelungen in einem ausgewogenen Verhältnis zu
gestalten. Das Schuldrechtsanpassungsgesetz hat einen
gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden In-
teressen von Nutzern und Eigentümern hergestellt. Das
Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz im Jahr
1999 im Wesentlichen bestätigt. Die Entschädigungsre-
gelungen wurden vom Bundesverfassungsgericht nicht
beanstandet.
Die Forderung der Fraktion Die Linke, dem Nutzer
stets eine Entschädigung mindestens nach dem Zeitwert
des Bauwerks zukommen zu lassen, ist mit den Grund-
sätzen des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht ver-
einbar und stellt auch nicht, wie Sie, Herr Kollege Claus,
meinten, eine kleine Änderung dar. Für die Eigentümer
ist sie erheblich. In vielen Fällen hat das Bauwerk für
den Grundstückseigentümer keinerlei wirtschaftlichen
Wert. Es ist gerecht, dass der Nutzer im Falle einer Ei-
genkündigung nur dann eine Entschädigung erhält, wenn
der Verkehrswert des Grundstücks durch das Bauwerk
erhöht wird. Wenn keine Werterhöhung vorliegt, wäre es
unbillig, dem Eigentümer den vollen Wertausgleich für
das Bauwerk aufzubürden. Die Gesetzesinitiative ist
meiner Meinung nach einseitig, populistisch und daher
abzulehnen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5355
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Marco
Buschmann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Marco Buschmann (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den ausgezeichneten Ausführungen des
Kollegen Luczak und auch der Kollegin Steffen will ich
die eben vorgetragenen Punkte nicht wiederholen. Mir
scheint es aber angebracht – insbesondere nach den Aus-
führungen von Herrn Claus, der gewissermaßen obiter
dictum vorgetragen hat, dass er das DDR-Recht gegen-
über dem deutschen, bundesrepublikanischen Recht für
vorzugswürdig hält –, die Materie systematisch zu be-
leuchten.
Unserem geltenden Zivilrecht liegen kluge, volks-
wirtschaftlich sinnvolle und auch gerechte Entscheidun-
gen und Erwägungen zugrunde. So finden wir im BGB
etwa den Grundsatz, dass die Verbindung von verschie-
denen Gegenständen unterschiedlicher Eigentümer zu
einem einheitlichen Gegenstand auch zu einer einheitli-
chen Zuordnung bei einem einzigen Eigentümer führt.
Wir finden das beispielsweise in § 947 BGB für die Ver-
bindung beweglicher Sachen. Dort ist geregelt: Entsteht
durch die Verbindung zweier beweglicher Sachen eine
neue einheitliche Sache, so steht das Eigentum daran
demjenigen zu, der Eigentümer der Hauptsache ist. –
Diesen Grundsatz finden wir auch bei den Grundstücken
und den Gebäuden – nämlich in § 946 BGB – konkreti-
siert. Dort geht es um die Verbindung von beweglichen
Sachen mit einem Grundstück. Dabei ist klar, dass das
Grundstück genau diese Hauptsache ist. Daher steht das
Eigentum auch dem Grundstückseigentümer zu.
Wer nach diesen Vorschriften – das ist auch das Ge-
rechte an dem System – sein Eigentum verliert, der steht
nicht ohne Ersatz da, sondern dem steht nach § 951 BGB
ein entsprechender Ersatz zu. Dieses Regelungssystem
ist klug und auch gerecht. Man sollte es hier nicht dis-
kreditieren. Es ist nämlich klug, weil es volkswirtschaft-
lich zweckmäßig ist. Bleiben wir bei den beweglichen
Sachen: Wenn wir ein mechanisches Uhrwerk wieder
auseinandernehmen müssten, nur weil die Zahnräder un-
terschiedlichen Eigentümern gehören, dann würde ein
Wirtschaftsgut, dessen Wert größer ist als die Summe
seiner Teile, zerstört werden, und der darin verkörperte
Mehrwert würde auch zerstört werden. Das ist nicht
sinnvoll. Es ist klug, weil es Streit vermeidet, und auch
gerecht, weil die Interessen aller Beteiligten – siehe den
Ersatzanspruch – berücksichtigt werden.
Das Zivilrecht der DDR folgte diesem klugen und ge-
rechten Regelungssystem nicht, wenn es um Bauwerke
auf Grundstücken ging. Da hatte man eine unterschiedli-
che Zuordnung vorgenommen. Es ist ein Problem der
Transformation in ein anderes Rechtssystem, das man
lösen muss.
Für die notwendige Überführung in die heutige gül-
tige Rechtslage hat man Übergangsregelungen gefunden,
die sinnvoll sind. Das ist zum Teil schon ausgeführt wor-
den. Man kann es eben nicht anders machen, als dass das
Eigentum an einem Bauwerk dem Grundstückseigentü-
mer zugeordnet wird. Natürlich muss es dafür einen Er-
satzanspruch geben. Dass man dabei das wesentliche In-
teresse des Bauwerkseigentümers berücksichtigt, ist
doch völlig klar; aber das wesentliche Interesse lag eben
in der Nutzung. Wenn jemand freiwillig auf die Nutzung
verzichtet, dann ist ebenso völlig klar, dass man den an-
ders behandelt, weil sein Interesse anders ist, als denjeni-
gen, bei dem die Nutzung unfreiwillig beendet wird.
Deshalb ist die Unterscheidung, die wir im Schuld-
rechtsanpassungsgesetz vorfinden, sachgemäß. Die bei-
den Fallkategorien haben Herr Kollege Luczak und Frau
Kollegin Steffen hier schon differenziert dargestellt.
Die Kritik der Linken an diesem System ist deshalb
nicht nachvollziehbar. Sie fordern, dass man diese Un-
terscheidung aufheben soll. Es sind auch einzelne tech-
nische Punkte – ich will auf die Details kommen – nicht
nachvollziehbar. So soll etwa klargestellt werden, dass
der Ersatzanspruch zum Zeitpunkt der Vertragsbeendi-
gung über das Nutzungsrecht geschehen soll. Das gibt
die geltende Rechtslage bereits her. Der Blick in § 12
Abs. 1 Satz 1 des Schuldrechtsanpassungsgesetzes er-
leichtert die Findung der Rechtslage. Danach muss die
Entschädigung durch den Grundstückseigentümer „nach
Beendigung des Vertragsverhältnisses“ geleistet werden.
Auch Ihre grundsätzliche Kritik an dieser Differenzie-
rung ist abzulehnen. Wenn der ehemalige Bauwerks-
eigentümer freiwillig auf die Nutzung verzichtet, ist er
eben weniger schutzwürdig. Das ist hier schon ausge-
führt worden. Diese Unterscheidung ist, wie gesagt, inte-
ressengerecht.
Über die eine Ausnahmekonstellation, die Sie hervor-
heben, quasi zum Grundsatz erheben und als Begrün-
dung nehmen, das ganze System über den Haufen zu
werfen, können wir gerne nachdenken. Diese Konstella-
tion kennen wir tatsächlich: Es kommt wirklich in Aus-
nahmefällen vor, dass der Zeitwert des Grundstücks
durch die Existenz eines Gebäudes stärker steigt, als das
Gebäude selber wert ist. Diese Fälle treten in attraktiven
Lagen im Außenbereich durch den erweiterten Bestands-
schutz, den auch das Bundesverfassungsgericht gewährt,
ein. Aber das sind Ausnahmefälle, bei denen Sie über-
haupt nicht klarmachen, um welche Größenordnungen
es geht. Das gesamte System, dem volkswirtschaftlich
sinnvolle Erwägungen und auch Gerechtigkeitserwägun-
gen, die absolut überzeugend sind, zugrunde liegen, we-
gen dieser einen Ausnahme bzw. Fallgruppe, die Sie
nicht einmal quantifizieren, über den Haufen zu werfen,
ist nicht sinnvoll. Wir können gerne über diese spezielle
Fallkonstellation nachdenken; dann müssten wir einmal
empirisch untersuchen, um wie viele Fälle es überhaupt
geht. Aber das ist kein Grund für einen Systemwechsel.
Deshalb werden Sie verstehen, dass wir Ihrem Anliegen
nicht folgen werden.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
5356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ingrid Hönlinger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir befassen uns bei dem Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgeset-
zes mit einem Thema, das seinen Ursprung in der Wie-
dervereinigung von Ost- und Westdeutschland hat. Es
lohnt sich, diese Geschichte der Vereinigung auf eine
faire und ausgewogene Grundlage zu stellen. Aus die-
sem Grunde war die Frage, wie wir mit den Nutzungs-
verhältnissen an Grundstücken im Osten Deutschlands
umgehen, schon mehrfach Gegenstand der Beratungen
in diesem Haus. Die Kernfrage besteht darin, wie wir die
Rechtsverhältnisse von Eigentümern und Nutzern von
Grundstücken in der ehemaligen DDR regeln, auf denen
Wochenendhäuser, Datschen oder Garagen errichtet
worden sind. Konkret geht es um die Folgen der Beendi-
gung des Nutzungsverhältnisses.
Ziel des Gesetzentwurfes der Linken ist es, in vier
Punkten Änderungen an der Gesetzeslage herbeizufüh-
ren: beim Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf
eine Entschädigung, bei der Bemessung der Höhe der
Entschädigung, bei der Tragung der Kosten für den Ab-
bruch von Bauwerken und bei der Erhöhung des Nut-
zungsentgelts.
Anfangen möchte ich mit der Frage der Bemessung
der Entschädigung im Falle der Beendigung des Nut-
zungsverhältnisses. Bisher wird im Gesetz eine Unter-
scheidung danach getroffen, wer das Ende des Nut-
zungsverhältnisses veranlasst hat. Die erste Regelung
betrifft die Fälle, in denen der Nutzer selbst kündigt oder
durch sein vertragswidriges Verhalten Anlass zur Kündi-
gung gegeben hat. In diesen Fällen bemisst sich die
Höhe der Entschädigung danach, wie der Verkehrswert
des Grundstücks durch das Bauwerk erhöht wird.
Die zweite Regelung betrifft die Fälle, in denen der
Eigentümer dem Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält,
kündigt. Hier ersetzt die Entschädigung den Zeitwert des
Bauwerks. Bei dieser Regelung ist der Gesetzgeber da-
von ausgegangen, dass der Zeitwert des Bauwerks höher
ist als die Verkehrswertsteigerung durch das Bauwerk.
Das heißt, der Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält,
sollte im Falle einer Kündigung des Eigentümers besser-
gestellt werden.
Die Linke problematisiert jetzt den Fall, dass die Ver-
kehrswertsteigerung des Grundstücks höher sein könnte
als der Zeitwert des Bauwerks. Werde in diesen Fällen
nur der Zeitwert des Bauwerks ersetzt, könne das den
vertragstreuen Nutzer gegenüber dem Nutzer, der selbst
kündigt oder sich vertragswidrig verhält, schlechterstel-
len. Diesen Vorschlag kann man noch einmal überprü-
fen. Allerdings führt das aus unserer Sicht zu einer Ver-
komplizierung des Verfahrens. Denn es hat zur Folge,
dass gleich zwei Werte ermittelt werden müssen, näm-
lich die Verkehrswertsteigerung des Grundstücks und
der Zeitwert des Bauwerks.
Ich stelle mir auch die Frage, weshalb wir diesen Weg
dann nicht auch in umgekehrter Richtung gehen sollten,
wenn nämlich der Grund für die Vertragsbeendigung in
der Sphäre des Nutzers liegt, weil dieser selbst kündigt
oder sich vertragswidrig verhält. Wenn in diesen Fällen
der Zeitwert des Bauwerks unter der Verkehrswertsteige-
rung des Grundstücks liegt, dann müsste man dies, wenn
man Ihren Gedanken zu Ende denkt, auch dem Eigentü-
mer zugute kommen lassen. Eine einseitige Lösung zu-
gunsten des Nutzers erscheint mir hier nicht klar und
auch nicht ausgewogen.
Ähnliches gilt, wenn wir den Zeitpunkt für die Entste-
hung des Anspruchs auf Entschädigung so abändern, wie
es die Linke vorschlägt.
Bei der jetzigen gesetzlichen Regelung ist der Zeit-
punkt der Rückgabe des Grundstücks an den Eigentümer
maßgeblich. Dieser Zeitpunkt soll nach Vorstellung der
Linken auf die Vertragsbeendigung vorverlagert werden.
Sie begründen dies mit möglichen zivilrechtlichen An-
sprüchen des Nutzers.
Was passiert aber, wenn Vertragsbeendigung und
Rückgabe des Grundstücks zeitlich auseinanderfallen,
wenn sich der Zustand des Bauwerks in dieser Zeit ver-
schlechtert? Dann ist das Bauwerk immer noch in der
Verfügungsgewalt des Nutzers. Der Eigentümer kann
nicht darauf einwirken. Warum sollte der Eigentümer
dann das Risiko der Verschlechterung tragen?
Zu einer ausgewogenen Regelung gehört auch, dass
Risiken nicht einseitig auf den Nutzer oder einseitig auf
den Eigentümer verteilt werden. Liebe Kolleginnen und
Kollegen auch von der Linken, wir wollen doch auf eine
Balance der Rechte und Pflichten aller Beteiligten ach-
ten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD)
Auch bei den Abbruchkosten schlagen Sie eine neue
Regelung vor. Sie ist aus unserer Sicht zu unbestimmt.
Deswegen können wir ihr nicht folgen.
Aus den genannten Gründen können wir Ihrem An-
trag insgesamt nicht zustimmen. Er ist in wichtigen De-
tails nicht ausgewogen. Er begünstigt unverhältnismäßig
eine Seite. Er verkompliziert das Verfahren. Er erhöht
das Risiko von Rechtsstreitigkeiten und fördert die Bü-
rokratie, insbesondere wenn ich an Ihren Vorschlag zur
Erhöhung der Nutzungsentgelte denke. Insgesamt stellt
der Gesetzentwurf aus unserer Sicht keine Verbesserung
der Rechtslage dar. Deswegen lehnt meine Fraktion ihn
ab.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/2150 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5357
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) (C)
(D)(B)
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung
Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats
für nachhaltige Entwicklung – Peer Review
der deutschen Nachhaltigkeitspolitik
– Drucksachen 17/1657, 17/2061 Nr. 1.1, 17/2314 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Dr. Valerie Wilms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist die erste Debatte, die wir als Mitglieder des Par-
lamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in
dieser Legislaturperiode im Plenum führen können. Des-
halb gestatten sie mir zunächst eine grundsätzliche Be-
merkung.
Aus unserer Sicht ist Nachhaltigkeit nicht irgendein
Politikbereich neben anderen, sondern es handelt sich
um eine zentrale Querschnittsaufgabe, die in allen Poli-
tikbereichen zur Geltung kommen wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP)
Das gilt selbstverständlich für den klassischen Be-
reich von Umwelt- und Naturschutz. Es gilt aber ganz
genauso für den Bereich Haushalt und Finanzen; es gilt
für Wirtschaft und Soziales. Die Liste ließe sich fortfüh-
ren. Wir haben in all diesen Bereichen die besondere
Verantwortung, nicht an den kurzfristigen Erfolg, an
kurzfristigen Gewinn zu denken, sondern an das lang-
fristige Erfordernis, heute so zu handeln, dass es auch
künftigen Generationen gerecht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Um es auf einen Nenner zu bringen: Wir dürfen nicht
heute auf Kosten von morgen leben. Das ist unsere ge-
meinsame Verantwortung als Abgeordnete im Deutschen
Bundestag, und es ist die besondere Aufgabe des Parla-
mentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Des-
halb freuen wir uns, dass der Parlamentarische Beirat
zum dritten Mal in Folge vom Deutschen Bundestag ein-
gesetzt wurde, dass sich mit diesem Gremium auch die
Bedeutung, die man diesem Thema beimisst, verstetigt
hat. Wir freuen uns, dass wir in dieser Legislaturperiode
– es ist Schritt für Schritt ein Ringen um mehr Kompe-
tenzen gewesen – wiederum mit neuen Rechten ausge-
stattet worden sind, dass wir jetzt die Befugnis erhalten
haben, jeden einzelnen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung daraufhin zu überprüfen, ob dem Erfordernis, eine
Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen, konsequent und
ausführlich Rechnung getragen wurde. Kurz: Wir freuen
uns, dass wir mit handfesten Rechten im parlamentari-
schen Alltag ausgestattet sind.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man kann sagen: Wir sind fast so gestellt wie ein rich-
tiger Ausschuss. Ich sage „fast“. Das zeigt, dass wir Er-
folge haben. Es zeigt aber auch, dass es neben den Berei-
chen, in denen wir eine stärkere Stellung als normale
Ausschüsse haben, die sich immer nur mit ihren spezifi-
schen Themenbereichen befassen dürfen, während wir
eine globale Zuständigkeit für Nachhaltigkeit haben,
noch bestimmte Dinge gibt, die wir fordern.
Wir freuen uns, dass der Peer Review, über den wir
heute diskutieren, ganz dezidiert diese Forderung unter-
stützt und sagt, man muss die Stellung des Parlaments
bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie stärken,
und dass die Peers fordern, dass ein ständiger Ausschuss
für Nachhaltigkeit eingesetzt wird. Wir begreifen das als
Rückenwind, unsere Forderung weiter zu vertreten und
darauf zu dringen, dass wir in der Geschäftsordnung des
Bundestags ausdrücklich erwähnt werden und die Feder-
führung für die Begleitung der nationalen Nachhaltig-
keitsstrategie, aber auch für die Begleitung der Nachhal-
tigkeitsstrategie der Europäischen Union erhalten. Ich
finde, das ist die logische Konsequenz aus der hohen Be-
deutung, die wir dem Thema Nachhaltigkeit politisch
beimessen. Deshalb kämpfen wir als Beirat über alle
Fraktionen hinweg gemeinsam dafür.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben Anlass, noch weitere Punkte aus dem Be-
richt der Peers aufzugreifen und zu unterstützen, wie wir
es in unserem gemeinsamen Antrag tun. Ich will an die-
ser Stelle sagen: Es ist bemerkenswert, dass wir eine ge-
meinsame Stellungnahme aller Fraktionen im Deutschen
Bundestag abgeben – bei einem Sondervotum der Links-
Partei in einer Frage. Das zeigt, dass es hier bei allem ta-
gespolitischen Streit einen Konsens gibt, diese wichtigen
Zukunftsfragen gemeinsam zu lösen. Einer dieser
Punkte ist unsere Forderung, die nationale Nachhaltig-
keitsstrategie, die bisher einen Zeithorizont bis 2020 hat,
langfristiger zu formulieren. Auch das fordern die Peers.
Sie fordern, man muss mindestens bis zum Jahr 2030
denken, planen und skizzieren, am besten aber in den
Bereichen, in denen es angezeigt ist, bis zum Jahr 2050.
Diese Forderung machen wir uns zu eigen – gerade an-
5358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Andreas Jung (Konstanz)
(A) (C)
(D)(B)
gesichts der wachsenden globalen Herausforderungen
wie Umwelt, Klimaschutz, Ressourcenschutz und Arten-
vielfalt.
Aber auch in den wirtschaftlichen Fragen ist es rich-
tig, zu sagen: Wenn wir nachhaltig handeln wollen, dann
muss es sich tatsächlich auf einen solchen langen Zeit-
raum beziehen. Es ist gut, dass auch die Bundesregie-
rung in ihrer Stellungnahme nach der letzten Sitzung des
Staatssekretärsausschusses erklärt hat, auch sie sehe
diese Notwendigkeit. Wir werden uns dafür einsetzen,
dass bei der Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie
im Jahr 2012 diese Konsequenzen tatsächlich gezogen
werden.
Ich will abschließend noch darauf hinweisen, dass ich
zwei weitere Punkte aus diesem Bericht für besonders
wichtig halte. Es wird darauf hingewiesen, Nachhaltig-
keit noch besser mit den Ländern und in der Zusammen-
arbeit zwischen Bund und Ländern abzustimmen, und es
wird auf das Erfordernis hingewiesen, bürgerschaftliches
Engagement und die gesellschaftlichen Akteure einzube-
ziehen und eine gesellschaftliche Debatte zu führen. Ich
finde allgemein, dass das wichtig ist. Es wird besonders
wichtig bei der Vorbereitung der Nachfolgekonferenz
Rio-plus-20 sein – 20 Jahre nach Rio. Da wird es not-
wendig sein, dass gesellschaftliche Akteure, Parlament
und Regierung an einem Strang ziehen, um gemeinsam
den Durchbruch zu schaffen, den wir für Nachhaltigkeit
national und international bis zum Letzten brauchen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Lösekrug-
Möller für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dieser Peer Review, über
den wir heute reden, richtet den Fokus stark auf Wirt-
schaft und Energie und betrachtet Anstrengungen der
Politik, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu imple-
mentieren. Dieser Blick internationaler Experten auf un-
sere nationalen Anstrengungen ist der SPD-Bundestags-
fraktion willkommen, und wir begrüßen das ausdrück-
lich.
(Beifall bei der SPD)
Wir als Parlamentarischer Beirat sind auch Gegenstand
der Betrachtung. Der Kollege Jung hat schon darauf hin-
gewiesen: Wir wurden sehr wohlwollend betrachtet, und
eigentlich wünscht man, dass man uns verstetigt. Das ist
ein großes Lob. Allerdings haben wir uns auch selbst mit
den zahlreichen Empfehlungen befasst, die die Peers
gegeben haben. Sie beschreiben Stärken und Schwä-
chen, Chancen und Risiken, und sie geben Empfehlun-
gen, was wir besser machen könnten. Das Ergebnis un-
serer Betrachtung haben wir in eine gemeinsame
Stellungnahme gefasst und gemeinsam einen Entschlie-
ßungsantrag vorgelegt. Diese fraktionsübergreifenden
Beratungen und die aus ihnen hervorgehenden Papiere
sind stark konsensorientiert. Ich will an dieser Stelle sa-
gen: Das ist auch gut so.
Erinnern wir uns: Seit 2002 haben wir die Fragen der
Nachhaltigkeitspolitik am Ende immer mit einer sehr
breiten Mehrheit beantworten können. Das ist gut für
dieses Thema. Ich sage: Würden wir das nicht hinbe-
kommen, dann würden wir kein gutes Zeichen setzen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU)
Ich muss allerdings sagen: Der Parlamentarische Bei-
rat für nachhaltige Entwicklung ist deshalb keine parla-
mentarische Kuschelecke, und einen Schmusekurs gibt
es da auch nicht. Wir wissen ja: In vielen Bereichen der
Politik des Alltags haben wir durchaus unterschiedliche
Positionen. Deshalb will ich nicht den Eindruck erwe-
cken, dass wir in allem immer übereinstimmen. Mitnich-
ten!
Als Mitglieder des Parlamentarischen Beirates für
nachhaltige Entwicklung müssen wir uns in den Dienst
der besonderen Aufgabe stellen, und die heißt „nachhal-
tige Politik“. Wir gucken über Legislaturperioden hin-
weg, wir schauen über lebende Generationen hinaus, und
wir arbeiten quer zu den Ressorts.
Das ist eine große Herausforderung. In der Regel wird
hier eher darüber diskutiert: Was machen wir heute, und
was betrifft uns jetzt? Es geht also nicht um die lange
Perspektive. Ich behaupte: Wenn sich die Nachhaltig-
keitspolitik auf das Tagesgeschäft beschränken würde,
dann würde sie dieses Etikett nicht verdienen. Deshalb
will ich nur sagen: In der Tagespolitik sind wir in vielen
Fällen anderer Meinung als die jetzige Mehrheit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Das gilt für das Marktanreizprogramm, für das EEG, für
die Atomkraft und für die Steuerpolitik. Ja, das sehen
wir anders als Sie. Trotzdem sagen wir: Wir sind bei-
sammen, wenn es darum geht, gemeinsam etwas Gutes
für die Zukunft zu gestalten.
Was wird uns durch den Peer Review dazu beschei-
nigt? Rückblickend wird festgestellt: Wir sind klug und
kraftvoll gestartet. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist der
richtige Ansatz. Nach starkem Start sind nun die Institu-
tionen etabliert, und es stellen sich weitere Aufgaben.
Herr Jung, Sie haben schon die Nachhaltigkeitsprü-
fung in der Gesetzesfolgenabschätzung angesprochen.
Damit haben wir uns einen dicken Brocken vorgenom-
men, den wir aber gut bewältigen müssen. Wir müssen
Wert darauf legen, dass das im Gesetzgebungsverfahren
verbindlich eingefügt wird. Unser Augenmerk muss na-
türlich auch darauf liegen, dass wir die Länder ermun-
tern, uns zu folgen, wenn wir das auf Bundesebene er-
folgreich gemacht haben. Wir müssen die Zusammen-
arbeit von Bund und Ländern in der Nachhaltigkeitspoli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5359
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) (C)
(D)(B)
tik grundsätzlich voranbringen. Hier gibt es noch jede
Menge zu tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Schauen wir auf das gesamte Verfahren, dann stellen
wir aber auch fest: Wir beschäftigen uns im Augenblick
sehr mit den grundsätzlichen Regeln und mit der Frage,
wie wir das institutionalisieren. Das ist gut so, aber wir
dürfen hier nicht stecken bleiben. Wenn wir bei den Ver-
fahrensfragen stecken bleiben, dann haben wir einen Ef-
fekt wie beim Mehltau. Viele werden das von ihren Ro-
sen her kennen. Dabei kann auf Dauer nichts Rechtes
herauskommen. Deshalb sage ich: Das eine ist es, diese
Arbeit zu erledigen, das andere ist aber, die beschriebene
Sorge der Peers ernst zu nehmen.
Was für eine Sorge haben sie beschrieben? Ich will
das mit den Worten von Volker Hauff sagen, der bis vor
kurzem ja der Vorsitzende des Rates für Nachhaltige
Entwicklung war. Er sagte als Erstes: Es ist gut, dass
diese Peers, namhafte internationale Experten, bestellt
wurden. Sie kommen zu dem Ergebnis: Früher war
Deutschland spitze in der Umweltindustrie, heute – und
das ist die Warnung – verliert Deutschland aber an Bo-
den, jedenfalls dann, wenn Deutschland die neuen Spiel-
regeln des internationalen Green Race nicht beherzigt.
Was ist der Green Race? – Dabei geht es um die Glo-
balisierung mit Nachhaltigkeitskriterien. Der Wettlauf
um die Entwicklung und Produktion der effizientesten
Systemlösungen für die nachhaltige Wirtschaft ist in vol-
lem Gang. Es geht um den Umbau von Produktion und
Konsum zu klimagerechten, ressourceneffizienten und
nachhaltigen Formen, also um keine Kleinigkeiten.
Deshalb finde ich den Bericht anregend; mit ihm soll
nicht kritisiert werden. Ich verstehe ihn als mutmachend,
als Herausforderung und als ein Impuls, zu sagen: Lasst
nicht nach! Ihr habt so stark angefangen, macht stark
weiter! – Ich glaube, der Parlamentarische Beirat unter-
stützt das umfassend.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der LINKEN)
Ich will allerdings auch einen Aspekt der Nachhaltig-
keit ansprechen, den ich persönlich in dem Bericht etwas
unterbelichtet dargestellt finde, nämlich die Bevölke-
rungsentwicklung. Wir alle wissen: Weltweit wächst die
Bevölkerung, und die Lebensbedingungen der Menschen
sind noch immer vom Mangel geprägt. In Deutschland
wächst die Bevölkerung jedoch nicht; sie schrumpft.
Das heißt, wir stehen hier vor anderen Aufgaben, aber
nicht vor leichteren. Bevölkerungsentwicklung von der
Zukunft her zu denken, ist deshalb eine sehr große und
anspruchsvolle Aufgabe. Welche Fragen stellen sich
dann, und welche möglichen Antworten gibt es? Was be-
deutet das für Gerechtigkeit heute, öffentliche Haushalte
und Steuerpolitik? Dazu darf ich den Kolleginnen und
Kollegen von den Linken sagen: Ihr Minderheitenvotum
ist ein bisschen zu schlank. Ich glaube, dass nicht funk-
tioniert, was Sie postulieren. Sie sagen, eine gerechte
Verteilung heute sei eine gute Basis für das Recht kom-
mender Generationen. Als wäre es damit gesichert!
Nein, wir wissen, dass das nicht der Fall ist. Wir sind
ambitionierter. Wir wollen Gerechtigkeit heute mit der
Option auf Gerechtigkeit und gutes Leben kommender
Generationen in Einklang bringen. Das ist der Anspruch,
und der ist nicht gering.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der FDP)
In konkrete Politik übersetzt heißt das: Wir wollen die
im Bereich der Nachhaltigkeit interagierenden Felder
von Ökologie, Ökonomie und Sozialem miteinander ver-
bunden diskutieren und entwickeln, weil wir glauben,
dass nur ein solcher zusammenführender Ansatz die
richtigen Vorschläge für die Politik der Zukunft und für
die Politik von heute bringt. Willy Brandt hat dazu schon
vor 30 Jahren festgestellt: Es gilt, von der ständigen Ver-
wechslung von Wachstum und Entwicklung wegzukom-
men. – Recht hat er gehabt. Noch heute ist die Gefahr
groß, dass wir das eine mit dem anderen verwechseln. Es
ist schon der Mühe wert, darüber zu diskutieren, was wir
unter Wachstum verstehen. Auf diese Debatte im Beirat
und hier im Parlament freue ich mich. Ich halte es für
geboten, sie jetzt zu führen. Deshalb sagt die SPD: Aus
gutem Grund werden wir grundsätzlich. Die Regierung
hat eine große Selbstverpflichtung seit 2002. Wir wollen
das Regierungshandeln konstruktiv begleiten. Wir wer-
den dabei aufmerksam sein. Wir werden konstruktiv sein
und eigene Vorschläge einbringen, wie es für die SPD
üblich ist, und das ist immer gut gewesen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Michael Kauch (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Vorrednerin, Frau Lösekrug-Möller, hat gesagt: Die Nach-
haltigkeitspolitik muss heraus aus der Kuschelecke. – Ich
glaube, das ist richtig und wichtig. Ich will versuchen,
das kuschelige Thema mit ein paar harten Fakten anzu-
reichern. Die FDP setzt sich seit vielen Jahren dafür ein,
dass es eine Politik der Generationengerechtigkeit gibt.
Frau Lösekrug-Möller hat schon angedeutet, dass wir
hier schon einmal eine Rednerin der Linken erlebt ha-
ben, die gesagt hat: Es gibt kein Gerechtigkeitsproblem
zwischen den Generationen, nicht einmal zwischen Arm
und Reich, sondern nur zwischen denen, die die Produk-
tionsmittel besitzen, und denen, die sie nicht besitzen. –
Das war keine Sternstunde des Parlamentarismus. Ich
hoffe, dass Herr Lenkert diese Tradition heute nicht fort-
setzen wird.
5360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Michael Kauch
(A) (C)
(D)
Wir sollten uns anschauen, was Generationengerech-
tigkeit bedeutet und was wir in den vergangenen Jahren
vielleicht falsch gemacht haben. Ich denke, die Finanz-
krise hat gezeigt: Wir haben mit unseren Staatsausgaben
über unsere Verhältnisse gelebt. Jetzt präsentieren wir
mit den Rettungspaketen, die wir schnüren müssen, den
kommenden Generationen die Rechnung.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Finanzmärkte
dereguliert – das haben Sie gemacht!)
Das sollte uns nicht noch einmal passieren. Wir müs-
sen jetzt die Haushalte in Ordnung bringen, sonst ist al-
les Gerede von Nachhaltigkeit nur Sonntagsrede.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Mit von Ihnen
unterstützten Steuersenkungen!)
Deshalb müssen wir auch unsere Sozialsysteme für
die Veränderungen wetterfest machen, die angesichts ei-
ner schrumpfenden und alternden Bevölkerung auf uns
zukommen. Man kann sich nicht wie die Linken hinstel-
len und sagen: Wir wollen immer mehr, und alles soll so
bleiben, wie es ist. – Wir müssen uns vielmehr Gedan-
ken darüber machen, wie wir soziale Sicherheit auch
noch für die Generationen schaffen, die mit mir oder
nach mir in Rente gehen oder Pflege in Anspruch neh-
men müssen. Auch dann müssen diese Systeme noch
funktionieren.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir müssen uns auch bei Infrastrukturprojekten, für die
wir viel Geld ausgeben, überlegen: Ist auch in
100 Jahren noch Nachfrage für das da, was wir hier in
Stein meißeln, oder sind vielleicht flexiblere, neue Tech-
nologien beispielsweise bei der Abwasserentsorgung ein
sinnvollerer Weg in der Investitionspolitik dieses Staa-
tes?
Es ist eine Binsenweisheit, aber ich sage es hier noch
einmal deutlich als Mitglied des Umweltausschusses:
Auch bei den natürlichen Ressourcen haben wir vom
Kapital statt von den Zinsen gelebt, und deshalb ist es
richtig, dass sich der Umweltausschuss federführend mit
dem Bericht des Nachhaltigkeitsbeirats beschäftigt hat.
Das zeigt aber, dass sich die Nachhaltigkeitspolitik auf-
grund der Verantwortung gegenüber kommenden Gene-
rationen wie ein roter Faden durch alle Politikbereiche
ziehen muss. Die FDP hat dies im Koalitionsvertrag ver-
ankert und erreicht, dass zur Nachhaltigkeitsprüfung, die
wir seit letztem Jahr im Bereich der Gesetzgebung ha-
ben, im Laufe dieser Legislaturperiode eine Generatio-
nenbilanzierung hinzukommen muss; denn Transparenz
ist der erste Schritt zur Umkehr. Wir müssen zunächst er-
kennen, welches die langfristigen Wirkungen unserer
Gesetze sind, um sie dann verbessern zu können.
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/
CSU])
Politik braucht Perspektive für Jahrzehnte und nicht
für Legislaturperioden. Deshalb finde ich es richtig, dass
der Nachhaltigkeitsbeirat sehr klar gesagt hat, die Nach-
haltigkeitsstrategie sei in die Jahre gekommen. Sie ist
jetzt acht Jahre alt und hat immer noch den gleichen
Zeithorizont. Wir sollten bei der nächsten Überprüfung
der Nachhaltigkeitsstrategie, die in dieser Wahlperiode
ansteht, nicht nur wieder um zehn Jahre nach vorn bli-
cken, sondern bis 2030. Ich begrüße, dass der Staats-
sekretärsausschuss im letzten Monat die Aussage getrof-
fen hat, dass der Zeithorizont verlängert werden soll. Ich
hätte mir aber eine klarere Aussage gewünscht. Ich sage
deshalb sehr deutlich – ich denke, auch im Namen der
Koalitionsfraktionen –, dass wir hier ein klares Vorgehen
erwarten, so wie es der Deutsche Bundestag heute be-
schließen wird, nämlich die Perspektive auf 2030 zu er-
weitern und in den Feldern, wo es sinnvoll ist – beim
Klimaschutz und auch beim Energiekonzept –, auf 2050.
Die Bundesländer sind angesprochen worden. Wir
haben ein völlig zersplittertes System von Nachhaltig-
keitsstrategien. Manche Länder haben eine Nachhaltig-
keitsstrategie, andere haben keine; die einen machen es
ernsthaft mit Indikatoren, bei den anderen hat man den
Eindruck, das ist Greenwashing für die PR. Deshalb
müssen wir die Bundesländer endlich klarer in die natio-
nale Nachhaltigkeitsstrategie – es ist nicht die bundes-
politische Nachhaltigkeitsstrategie, es ist die nationale
Nachhaltigkeitsstrategie – integrieren, als das heute der
Fall ist.
Die internationalen Experten haben an einigen Stellen
gute Anregungen gegeben; an anderen Stellen wollen
wir ihnen nicht folgen. Das finde ich richtig. Ich finde es
richtig, dass wir ihnen nicht folgen, wenn es um die For-
derung geht, das Amt eines Nachhaltigkeitsbeauftragten
der Bundesregierung einzuführen. Auf Beauftragte
schiebt man häufig Dinge ab. Man kann einen Beauf-
tragten einsetzen, wenn es sich um ein enges Gebiet han-
delt, aber nicht, wenn es sich um eine Querschnittsauf-
gabe handelt. Es ist richtig, dass an dieser Stelle das
Kanzleramt das federführende Ministerium ist. Das soll-
ten wir auch nicht ändern.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die guten
Anregungen des Peer Reviews aufgreifen, wie wir es in
unserem Antrag getan haben, und erkennen wir Nach-
haltigkeitspolitik als das, was es ist: eine Chance für die
deutsche Wirtschaft, eine Verantwortung gegenüber
kommenden Generationen und eine Politik, die wir ge-
meinsam mit den Menschen machen müssen. Denn nicht
nur durch Gesetze, sondern erst durch das Engagement
der Bürgergesellschaft wird Politik tatsächlich nachhal-
tig.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Heute sprechen wir endlich über Nachhaltigkeit.
(B)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5361
Ralph Lenkert
(A) (C)
(D)(B)
Wir von der Linken tragen die Stellungnahme des Bei-
rats für nachhaltige Entwicklung zum Bericht zur Nach-
haltigkeitsstrategie teilweise mit, aber wir stellen fest,
dass die starke Ungleichheit von Arm und Reich zu
Spannungen in der Gesellschaft führt. Das ist eine Ge-
fahr für die Demokratie.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist der Boden, auf dem religiöser und politischer Fa-
natismus entstehen. Extreme Armut, aber auch Chancen-
losigkeit, fehlende Bildung und Ungerechtigkeiten füh-
ren über die Stationen „Resignation“ und „Frustration“
zu Wut und Hass. Nachhaltige Politik muss dies stoppen.
(Beifall bei der LINKEN)
Einige Beispiele: Erstens zu den Universitäten. Bis
zum Jahr 2000 stellten neben Professoren festangestellte
Dozenten die Mehrzahl der Lehrkräfte an den Hochschu-
len. Der Beruf war für die besten Studienabsolventen at-
traktiv. Die Erfahrungen sagen: Mehr als vier bis fünf
hochwertige Lehrveranstaltungen je Woche inklusive
der notwendigen Vor- und Nachbereitungszeiten und der
ausreichenden Betreuung der Studenten sind für Dozen-
ten nicht machbar.
Wegen der Regierungspolitik, auch Ihrer Regierungs-
politik, müssen Hochschulen sparen. Deshalb beschäfti-
gen sie jetzt statt Dozenten Lehrbeauftragte. Die Arbeit
ist die gleiche wie vorher, aber die Lehrbeauftragten
erhalten je wöchentlicher Lehrveranstaltung nur circa
500 Euro pro Semester. Das macht bei vier bis fünf
Lehrveranstaltungen fette 2 000 bis 2 500 Euro in sechs
Monaten. Das ist untragbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Mit etwa 400 Euro im Monat müssen diese Ausbilder un-
serer akademischen Zukunft entweder mittels Hartz IV
aufstocken, oder sie liegen ihren Verwandten und Part-
nern auf der Tasche, und das ist beschämend für unser
Land.
(Beifall bei der LINKEN)
Die meisten Lehrbeauftragten übernehmen diese Ar-
beit als Pausenfüller in ihrer beruflichen Entwicklung.
Die Leidtragenden davon sind unsere Studenten als
unsere Zukunft. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, er-
reichen wir garantiert keine nachhaltigen Studienbedin-
gungen an den Hochschulen. Was wir brauchen, sind
Mindeststandards in der Arbeitsgesetzgebung, geänderte
Arbeitszeitgesetze und ein gesetzlicher Mindestlohn
auch an den Hochschulen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schipanski?
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
Gern.
Tankred Schipanski (CDU/CSU):
Kollege Lenkert, ich wollte nur fragen, von welcher
Studie Sie im Zusammenhang mit den Lehrbeauftragten
sprechen. Im zuständigen Bildungsausschuss ist eine
derartige Studie nicht bekannt. Auch in unser beider
Heimatland, Thüringen, ist das nicht so. Ich komme von
einer Universität. Was Sie da sagen, ist einfach nicht
richtig.
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
Wenn Sie einmal rein zufällig die Statistiken gelesen
hätten
(Michael Kauch [FDP]: Welche? – Daniela Raab
[CDU/CSU]: Welche? Die Quelle!)
– die Statistiken der Arbeitsämter –, dann hätten Sie fest-
gestellt, dass wir in der Bundesrepublik mehrere Tau-
send gut bezahlte Dozenten hatten. Jetzt sind es noch 94.
Wenn Sie einen Lehrbeauftragten suchen, dann gehen
Sie in die Universitäten! Dort können Sie mit Leuten
sprechen, die für 500 Euro diese Arbeit machen und auf-
stocken gehen oder mehrere Jobs nebenbei machen. Im
Wahlkampf sind manche zu mir gekommen und haben
gesagt, sie arbeiteten für 800 Euro 40 Stunden die Wo-
che und wüssten nicht, wie sie ihre Familie über die
Runden bringen sollen.
Herr Schipanski, Sie verschließen die Augen davor.
Sie haben sicherlich die richtigen Fragen zum Bericht
gestellt, aber mit Sicherheit haben Sie niemals nachge-
fragt, wie die Situation dort wirklich ist. Mit Sicherheit
haben Sie beim Bildungsstreik nicht die Schilderungen
der Situation aufgenommen. Wenn Sie auf die Internet-
seite bildungsstreik.net gehen, werden Sie diese Be-
schreibung finden. Wenn Sie sich erkundigen, werden
Sie feststellen, dass Ihre Politik an dieser Stelle versagt
hat. Wenn Sie studiert haben, ist das schön, aber gelernt
haben Sie nicht genug.
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring
[FDP]: Man darf zu allem reden, auch nicht
zur Sache! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Das
ist ja unverschämt! Herr Kollege, reden Sie
mal zum Thema! Sie haben die falsche Rede
gegriffen!)
Zweitens zum Bahnverkehr. Für den Prestigebahnhof
„Stuttgart 21“ plant die Regierung in den Haushalten
mindestens 4,9 Milliarden Euro ein. Ich komme aus
Jena, dem gern gepriesenen technologischen Leuchtturm
Thüringens, der wohl 2017 vom Fernverkehr abgehängt
wird, weil die ICEs dann über die Neubaustrecke über
Erfurt fahren.
(Zuruf von der CDU/CSU: Was hat das mit
dem Peer Review zu tun?)
Die Bahn verspricht eine super Zugverbindung nach Er-
furt, aber Schwarz-Gelb streicht die Mittel für den not-
wendigen Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung.
(Patrick Döring [FDP]: Das stimmt nicht!)
Die Stadt Gera, die auch zu meinem Wahlkreis ge-
hört, kämpft mit wirtschaftlichen Problemen. Eine gute
5362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Ralph Lenkert
(A) (C)
(D)(B)
Verkehrsanbindung würde nachhaltig helfen. Leider ist
Gera seit Jahren vom Fernverkehr abgehängt. Chemnitz,
Zwickau, Weimar, Eisenach – alle diese Städte liegen
ebenfalls an der Mitte-Deutschland-Verbindung und
könnten sich nachhaltig entwickeln. Weil die Regierung
aber Milliarden für „Stuttgart 21“ verschleudert, ist für
andere Bahnnetzinvestitionen kein Geld mehr da. Das ist
eine für uns nicht nachvollziehbare nachhaltige Deindus-
trialisierungspolitik.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
FDP: Das ist schlicht falsch! – Zuruf von der
CDU/CSU: Thema verfehlt!)
Ändern Sie die Haushaltsplanung zugunsten der Bahn-
strecken in der Fläche. Das wäre nachhaltig.
Drittens ganz kurz zur Steuerpolitik. Hätten FDP und
CSU eine Nachhaltigkeitsprüfung gemacht, wäre ihnen
mit Sicherheit der Hotel-Mehrwertsteuer-Schwachsinn
nicht passiert.
(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber
[SPD]: Ihre Rede wäre beim Nachhaltigkeits-
test auch nicht zugelassen worden!)
Sie können sicher sein, dass wir die Arbeit des Beira-
tes engagiert und nachhaltig unterstützen.
(Daniela Raab [CDU/CSU]: Aber bitte nicht so!
Darauf können wir gerne verzichten!)
Aus unserer Sicht sind in der Stellungnahme zum Be-
richt die entscheidenden Schwerpunkte bislang nicht
ausreichend berücksichtigt. Deshalb werden wir uns ent-
halten.
(Beifall bei der LINKEN – Winfried Hermann
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben
Afghanistan vergessen! – Manfred Grund
[CDU/CSU]: Die Treuhand hätte man auch
noch anführen können!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will versuchen, wieder auf das Thema „Peer Re-
view“ zurückzukommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Lassen Sie mich in den mir zur Verfügung stehenden
vier Minuten aus der Sicht der Grünen darstellen, wo wir
noch einige Schwächen sehen.
Herr Kollege Jung hat schon geschildert, wie der Parla-
mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung funktio-
niert. Ich bin sehr froh, in diesem Gremium mitzuwirken.
Wir arbeiten dort interfraktionell und konsensorientiert,
um wirklich etwas zu bewegen; denn das Thema Nach-
haltigkeit betrifft uns alle und orientiert sich nicht an
kurzzeitigem Legislaturperiodendenken, sondern muss
auf die Zukunft ausgerichtet sein. Insofern freue ich
mich, dass wir, nachdem wir den Parlamentarischen Bei-
rat sehr schnell eingesetzt haben – ich bedanke mich
noch einmal für die Unterstützung dabei –, heute auch
einmal eine Debatte zu diesem Thema führen können.
Lassen Sie mich zum Thema kommen. Was bedeutet
Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit heißt: Wir müssen im
Bundestag unsere Entscheidungen so treffen, dass wir
den künftigen Generationen nicht mehr Lasten aufbür-
den als den heute lebenden. Wenn ich mir die Gesetzent-
würfe anschaue, die wir in dieser bislang erst kurzen
Legislaturperiode schon vorgelegt bekommen haben,
insbesondere die bedeutenden und umfangreichen, dann
muss ich leider feststellen, dass sie durch die Bank weg
alles andere als nachhaltig sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie des Abg. Ralph
Lenkert [DIE LINKE])
Dabei sind die Bundesministerien bereits seit Sommer
2009 verpflichtet, Gesetzentwürfe auf ihre nachhaltige
Entwicklung hin zu prüfen. Ich dachte, wir wären hier
schon einen deutlichen Schritt in Richtung nachhaltiges
Deutschland vorangekommen.
Die Nachhaltigkeitsziele wurden seinerzeit von Rot-
Grün eingeführt. Auch die jetzige Bundesregierung stellt
sie nicht infrage. Diese Ziele sind in Anbetracht der
enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wie
Klimawandel und Zunahme der Weltbevölkerung abso-
lut unabdingbar. Daran kommen wir nicht vorbei.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Auch die bislang Benachteiligten müssen endlich in
die Lage versetzt werden, sich etwas vom Wohlstands-
kuchen zu nehmen. Doch dieser Kuchen kann nicht stän-
dig wachsen; schauen wir nach Indien und China. Viel-
mehr müssen die Anteile am Kuchen stets kleiner
werden. Wir in den Industriestaaten und gerade in
Deutschland sind hingegen immer noch dabei, aus dem
Kuchen die letzten Reste herauszupressen, also unsere
Schöpfung und damit unsere Lebensgrundlage langfris-
tig zu zerstören.
Schauen wir uns in diesem Peer Review einmal an,
wie die Experten, die von außen auf Deutschland ge-
schaut haben, unsere Nachhaltigkeitsstrategie bewerten.
Auf jeden Fall stellen sie fest – diese Kritik ist schon ge-
kommen –, dass der Zeithorizont der Nachhaltigkeits-
strategie zu kurz ist. Das sehen wir von den Grünen
genauso. Wir müssen bis 2030 und perspektivisch si-
cherlich bis 2050 blicken; Herr Kauch hat es eben ge-
sagt. Darüber besteht wohl im gesamten Beirat Konsens.
Vor allen Dingen muss – die gegenwärtige Situation
halte ich für eine absolute Katastrophe – die Zusammen-
arbeit der Akteure, insbesondere zwischen Bund und
Ländern, deutlich besser werden.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich wende mich zunächst einmal an die Länder. So-
weit ich informiert bin, haben die Länder die Erarbei-
tung einer gemeinsamen deutschen Nachhaltigkeitsstra-
tegie für nicht notwendig erachtet. Man muss sich das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5363
Dr. Valerie Wilms
(A) (C)
(D)(B)
einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das führt zu dem
Ergebnis, dass wir mit unterschiedlichen Zielvorgaben
arbeiten. Wir hier im Bund haben 21 Indikatoren,
Schleswig-Holstein hat 35 Indikatoren. Das passt nicht
überein. So schaffen wir es wirklich nicht, die Strategie
auch noch bis auf die kommunale Ebene herunterzubre-
chen. Hier klaffen also große Lücken.
Ein Beispiel ist die Flächenreduzierung. Hier müssen
nun wirklich die Länder ran; aber es passiert nichts. Wir
entziehen der Natur jeden Tag immer noch 104 Hektar;
das Nachhaltigkeitsziel sind 30 Hektar pro Tag. Perspek-
tivisch müssen wir bis auf 0 Hektar herunter, wenn wir
wirklich etwas erreichen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Punkte, die wir
den nachfolgenden Generationen als Hypotheken auf-
bürden. Ich denke nur an das Thema Staatsschulden. Ge-
rade die Gesetzentwürfe zur Griechenland-Hilfe und für
den Euro-Rettungsschirm hätten es verdient, einer Nach-
haltigkeitsprüfung unterzogen zu werden; diese konnten
wir jedoch aus formalen Gründen bislang noch nicht
durchführen.
Ich habe nun in aller Kürze ein paar Problempunkte
aufgezeigt. Ich möchte mich aber auf jeden Fall auch für
die sehr intensive und gute Zusammenarbeit über die
Fraktionsgrenzen hinweg bedanken. Im Parlamentari-
schen Beirat schaffen wir es wirklich, für eine nachhal-
tige Entwicklung zu agieren. Wir haben aber nur eine ge-
wisse Stärke, wenn wir zusammenarbeiten; wir sind
nämlich kein Ausschuss, sondern nur ein Beirat. Wir
können nur dann etwas erreichen, wenn wir gemeinsam
etwas in Gang setzen. Ich hoffe, Herr Lenkert, dass die
Linken auch zukünftig immer mit dabei sein werden.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP und des Abg. Ralph
Lenkert [DIE LINKE])
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Daniela Raab für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Daniela Raab (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren auf den Besuchertribünen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Jawohl, der Peer Review ist eine gute Sa-
che. Wir haben ihn nicht nur mit großer Freude zur
Kenntnis genommen, sondern gerade in unserem Beirat
auch durchaus verinnerlicht. Allerdings ist auch ein we-
nig Kritik zu üben. Diese ist an der einen oder anderen
Stelle schon einmal angeklungen.
Die Hauptkritik, die ich für meine Fraktion und auch
für meine Arbeitsgruppe äußern möchte, betrifft einen
Punkt, der heute schon den einen oder anderen Redner
beschäftigt hat. Der Peer Review, gleichsam ein Gutach-
ten über die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, setzt ei-
nen, wie ich und auch meine Kolleginnen und Kollegen
finden, sehr einseitigen Schwerpunkt auf die Fragen, wie
wir mit dem Klimawandel umgehen und was für uns
Umweltschutz im täglichen Politikverständnis bedeutet.
Dabei verkennt dieses Gutachten, um es auf Deutsch zu
formulieren, leider – ich bedaure das sehr und erhoffe
mir, dass sich das in der zukünftigen Entwicklung anders
darstellen wird –, dass nachhaltige Politik nicht nur
Klima- und Umweltschutz bedeutet, sondern sehr, sehr
viel mehr.
Nachhaltige Politik muss sich zum Beispiel auch, wie
Kollege Kauch richtigerweise angesprochen hat, mit der
Frage beschäftigen: Wie können wir uns umweltgerecht
verhalten und generationengerecht in unserem politi-
schen Tagesgeschäft denken? Diesbezüglich kann ich
mich der Kritik vollumfänglich anschließen. Es muss
uns gelingen, neben den vielen Umweltverbänden, die
natürlich eine wichtige Rolle bei der Nachhaltigkeits-
strategie spielen, auch die Gewerkschaften, die Wirt-
schaftsunternehmen, Familienunternehmen sowie die
Kirchen und die Sozialverbände auf unserem Weg hin zu
einer nachhaltigen Entwicklung mitzunehmen und von
diesem zu überzeugen, sofern sie diesen nicht sowieso
schon eingeschlagen haben. Unsere Familienunterneh-
men, liebe Marie-Luise Dött, handeln und denken ei-
gentlich schon ziemlich nachhaltig.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Sie bilden aus, übernehmen im Optimalfall die Auszu-
bildenden und sorgen damit dafür, dass auch diese für
ihre Familien da sein können und sich im Unternehmen
so lange wie möglich fortbilden und weiterentwickeln
können. Auch das ist nachhaltig. Hier besteht aber
durchaus noch Entwicklungspotenzial.
Auch die Frage der Infrastruktur – das ist völlig rich-
tig, Frau Kollegin Wilms; auch das Verkehrsministerium
ist hier vertreten – berührt Nachhaltigkeitsgesichts-
punkte und sollte nicht nur unter kurzfristigen Gesichts-
punkten betrachtet werden. In diesem Bereich haben wir,
wie ich glaube, auch noch einiges aufzuholen.
Ich meine deswegen: Lassen Sie uns dieses Thema so
breit wie möglich angehen und manchmal unser politi-
sches Tagesgeschäft wirklich hintanstellen, um visionär
zukünftige politische Forderungen gemeinsam zu entwi-
ckeln. Ich glaube, wir müssen uns unter diesem Dach zu-
sammenfinden. An der einen oder anderen Stelle werden
wir zwar nach wie vor auseinanderdriften, weil wir un-
terschiedliche Vorstellungen haben, was gut ist, weil das
Ausdruck des politischen Wettbewerbs ist; aber das ge-
meinsame Ziel muss in der Tat die Schaffung von Gene-
rationengerechtigkeit auf allen Politikfeldern sein. Wir
müssen uns den Problemen in den sozialen Sicherungs-
systemen ehrlich stellen, und wir müssen uns ehrlich der
Frage stellen, wie viel Schulden wir noch machen wol-
len.
Damit wir uns richtig verstehen: Das bereitet keinem
in diesem Raum Freude, weder der Regierung noch der
5364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Daniela Raab
(A) (C)
(D)(B)
Opposition. Das, was wir insbesondere in den letzten
zwei Jahren getan haben, mussten wir tun, und die Ent-
wicklung auf dem Arbeitsmarkt gibt uns diesbezüglich
– das haben wir heute wieder gehört – recht. Auch das
möchte ich an dieser Stelle unbedingt festhalten.
Die Empfehlungen des Peer Review, die wir teilen,
sind schon genannt worden. Die Stärkung des Kanzler-
amtes möchte ich hier doppelt und dreifach unterstrei-
chen. Auch wir Mitglieder der Unionsfraktion wünschen
uns, dass wir im Organisationsplan des Kanzleramtes
nicht nur irgendwo das Wort „Nachhaltigkeit“ finden,
sondern dies auch mit personellen Ressourcen unterlegt
wird.
(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das wäre sehr schön. Dafür werden wir natürlich weiter-
hin arbeiten.
Liebe Frau Wilms, Sie haben mir aus der Seele ge-
sprochen. Es wäre wirklich schön, wenn die Nachhaltig-
keitsprüfung in den Ministerien auch einmal stattfinden
würde.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es wäre schön, wenn nicht nur die gerne verwendeten
Textbausteine „Wir haben die Nachhaltigkeit geprüft; es
ist alles in Ordnung“ oder „Keine Auswirkungen auf die
Nachhaltigkeitspolitik“ genutzt würden, sondern man
sich wirklich einmal die Mühe machen würde, sich zu
überlegen – das macht man bei anderen Punkten ja auch –,
ob der Gesetzentwurf vielleicht doch nicht so ganz nach-
haltig ist. Vielleicht ist er zu Recht nicht nachhaltig, weil
es sich um ein drängendes Problem handelt; das kann ja
sein. Aber wenn er nachhaltig ist, meine lieben Freunde,
dann sagt es uns. Es ist doch ein Qualitätsbeweis, wenn
ich unter einen Gesetzentwurf schreiben kann: Er ist aus
folgenden Gründen nachhaltig: erstens, zweitens, drit-
tens. – Es geht also nicht nur um die formelle Kabinetts-
reife, die ich mit einer solchen Prüfung erreichen
möchte, sondern es geht auch um die materielle Ausfül-
lung des Begriffs „Nachhaltigkeit“ in der täglichen Ge-
setzgebung. Auch das wünschen wir uns aus vollem
Herzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn wir allein die Möglichkeiten nutzen, die uns
zum Teil schon gegeben sind, dann können wir – da bin
ich ganz beim Kollegen Kauch – sehr gut auf einen Ak-
tionsplan Nachhaltigkeit und einen Beauftragten für
Nachhaltigkeit verzichten. Mir ist es schon wichtig, dass
wir das Thema nicht auslagern, sondern wir uns als Par-
lament selber ernst nehmen und sagen: Hierher gehört
die Debatte. Das Thema gehört nicht zu einer Einzelper-
son, die von der jeweiligen Regierung benannt wird,
sondern wir wollen das selber machen, weil das unserem
parlamentarischen Selbstverständnis entspricht. Wir
können das. – Ich glaube, dieser Beirat beweist das. Des-
halb ist mein letzter Wunsch an die Damen und Herren,
die die Geschäftsordnung derzeit umgestalten: Nehmt
den Beirat nicht nur ernst, sondern wertet ihn weiter auf.
In dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP wur-
den ganz eindeutige Sätze dazu gefunden. Es wird Zeit,
dass wir sie in der Praxis umsetzen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zu dem Peer Review der deut-
schen Nachhaltigkeitspolitik. Das betrifft die Drucksa-
chen 17/1657 und 17/2314. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
ist dagegen? – Enthaltung? – Die Beschlussempfehlung
ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine soziale Revision der Entsenderichtli-
nie
– Drucksache 17/1770 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache. Wenn die Kolleginnen
und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre
Gespräche vor dem Saal führen, können wir uns auf den
Redner konzentrieren. – Als erster Redner hat das Wort
der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Josip Juratovic (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die Wirtschaftskrise hat gezeigt: Wir
müssen der sozialen Dimension Europas endlich eine
Gestalt geben. Darüber sind wir uns einig, zumindest in
Sonntagsreden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5365
Josip Juratovic
(A) (C)
(D)(B)
Ein soziales Europa ist nur mit einer Revision der
Entsenderichtlinie möglich. Mit der Entsenderichtlinie
sollte ursprünglich Lohndumping verhindert werden. Je-
doch wurde die Richtlinie in den vergangenen Jahren
vom EuGH anders interpretiert. Was einst Fairness zum
Ziel hatte, verhindert heute Fairness auf dem Arbeits-
markt. Wir fordern eine Revision der Richtlinie, um das
ursprüngliche Ziel, den fairen Wettbewerb ohne Lohn-
dumping, klarzustellen.
(Beifall bei der SPD)
Mit dieser Forderung stehen wir in einer langen Tra-
dition. Schon 1919, als die Internationale Arbeitsorgani-
sation ins Leben gerufen wurde, war den Gründungs-
staaten klar: Wir müssen Sozialdumping verhindern,
indem wir Mindestarbeitsbedingungen festlegen. Keine
Volkswirtschaft soll einen Vorteil durch Unterbietung er-
langen. Daran arbeitet die ILO bis heute, und daran müs-
sen auch wir arbeiten: weg vom Lohndumping, hin zum
fairen Wettbewerb.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Fairer Wettbewerb war auch der Grundgedanke, als
die Entsenderichtlinie geschaffen wurde. In einem Mit-
gliedstaat sollen keine Arbeitnehmer über einen längeren
Zeitraum tätig sein, für die ein anderes Recht gilt. Die
Arbeitnehmer, die in ein anderes Land gehen, sollen die
gleichen Rechte haben wie die dortigen Arbeitnehmer.
Dazu gehören unter anderem Regelungen zu Höchstar-
beitszeiten, Mindesturlaub, Mindestlöhnen, Sicherheit
und Gesundheit am Arbeitsplatz.
Die Entsenderichtlinie wurde aber nicht immer so ge-
handhabt, wie sie geplant war. In mehreren Entschei-
dungen meinte der Europäische Gerichtshof, dass von
ausländischen Unternehmen nur bestimmte Mindest-
standards gefordert werden dürfen. Höhere Standards,
zum Beispiel Tarifverträge, müssen laut dem EuGH von
ausländischen Arbeitnehmern nicht eingehalten werden –
so die Rechtsprechung im Rüffert-Urteil; Gegner war
das Land Niedersachsen. Demnach dürfen in Deutsch-
land keine öffentlichen Aufträge mehr vergeben werden,
die eine Tariftreueklausel beinhalten. Die Bindung an
Tarifverträge darf laut EuGH kein Kriterium für die Auf-
tragsvergabe sein.
Die Entsenderichtlinie wurde damit ins Gegenteil ver-
kehrt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Politisch war gewollt, dass wir Lohndumping verhin-
dern. Wenn ausländische Unternehmer nicht an unsere
Tarifverträge gebunden sind, wird aber mit genau dieser
Richtlinie Lohndumping legitimiert. Zudem werden die
Arbeitsbedingungen mit Arbeit am Wochenende und
Nachtarbeit schlechter, und das häufig ohne wirksame
Kontrolle des Arbeitsschutzes. Dies macht mehr als
deutlich: Wir müssen die Entsenderichtlinie revidieren
und zurück zu den ursprünglichen Zielen kommen.
Von der Uminterpretation der Richtlinie sind alle Län-
der betroffen. Die reicheren Länder werden durch die är-
meren Länder zu Niedriglöhnen gedrängt. Die Men-
schen aus ärmeren Ländern werden zu unanständigen
Arbeitsbedingungen eingesetzt, was zu Wettbewerbsver-
zerrungen führt. Damit werden die Arbeitnehmer aus
verschiedenen Ländern gegeneinander ausgespielt. Sie
stehen in einem Unterbietungswettbewerb. Diesen unso-
zialen Wettbewerb müssen wir verhindern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Alle reden immer von einem fairen Wettbewerb; doch
wir haben keinen fairen Wettbewerb, sondern pures
Lohndumping.
Wie Sie wissen, gilt ab 2011 die Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit für mindestens acht weitere EU-Mitgliedstaaten.
Wir müssen vorher klären, welche Arbeitsbedingungen
und Tariflöhne von den ausländischen Unternehmen hier
in Deutschland beachtet werden müssen. Denn Lohn-
dumping schadet uns allen. Vor allem schwächen wir un-
sere Unternehmer, die ihren Mitarbeitern faire Arbeitsbe-
dingungen bieten. Sie können bei diesem Lohndumping
nicht mithalten und sind dadurch gefährdet.
Mit Niedriglöhnen schwächen wir auch unsere Ar-
beitnehmer. Die Arbeitnehmer in Deutschland verlieren
entweder ihren Job, weil es billigere Arbeitskräfte aus
anderen Staaten gibt, oder sie verdienen Hungerlöhne,
um mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu kön-
nen.
Kolleginnen und Kollegen, wir müssen gegen diese
Klassengesellschaft unter den Arbeitnehmern vorgehen.
Eine Klasse kommt in den Genuss von fairen Arbeitsbedin-
gungen, steht aber vor der Gefahr, ihre Jobs zu verlieren.
Die andere Klasse arbeitet unter niedrigeren Standards und
lebt deswegen am Rande des Existenzminimums. Eine
solche Klassengesellschaft ist zutiefst unsozial und unge-
recht,
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Unser Grundprinzip muss lauten: Gleicher Lohn und
gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am glei-
chen Ort. Das ist keine Gleichmacherei, sondern ein
Grundprinzip von Fairness auf dem Arbeitsmarkt. Wir
wollen nicht, dass Arbeitnehmer in ein anderes EU-Land
entsandt werden und dort zu schlechteren Bedingungen
arbeiten müssen als die Arbeitnehmer im Gastland. Für
entsandte Arbeitnehmer müssen die gleichen Bedingun-
gen gelten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Öffentliche Auftraggeber müssen das Recht haben,
ihre Aufträge so zu vergeben, dass die Unternehmen Ta-
rifverträge einhalten müssen. Es kann nicht sein, dass
wir in Deutschland Tarifverträge abschließen, die dann
5366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Josip Juratovic
(A) (C)
(D)(B)
ein Unternehmen aus dem Ausland einfach aushebeln
kann.
Im Übrigen wollen öffentliche Auftraggeber, darunter
viele Bundesländer, ihre Aufträge zu fairen Bedingun-
gen vergeben. Das zeigt das Beispiel Niedersachsen, und
das zeigt sich dadurch, dass viele Länder unseren hier
eingebrachten Antrag unterstützen.
Mit der geforderten sozialen Revision der Entsende-
richtlinie arbeiten wir auch an unserem Ziel eines sozia-
len Europas. Wir haben vier Dimensionen in Europa:
den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen, die ge-
meinsame Währung und die soziale Dimension Europas.
Die ersten drei Dimensionen haben wir bereits erfolg-
reich umgesetzt. Nun geht es darum, aus der wirtschaftli-
chen Einheit auch ein soziales Europa zu entwickeln.
Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den Euro
oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet auch,
dass faire Arbeitsbedingungen für alle Menschen in un-
serer Union geschaffen werden. Dahin muss unser Weg
führen. Dafür tragen wir Verantwortung.
(Beifall bei der SPD)
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, setzen
Sie sich nicht nur in Sonntagsreden für einen fairen
Wettbewerb ein! Lassen Sie uns gemeinsam die Bundes-
regierung dazu bewegen, mit unseren EU-Partnern eine
Revision der Entsenderichtlinie in Angriff zu nehmen
und damit einen weiteren Schritt in Richtung eines sozial
gerechten Europas zu gehen.
Ich freue mich auf die weitere Beratung und danke für
Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Im Jahr 2004 setzte der lettische Bauun-
ternehmer Laval Arbeitskräfte aus seinem Heimatland
auf einer Baustelle in Schweden ein. Die Entlohnung er-
folgte gemäß den lettischen Tarifverträgen. Schwedische
Baugewerkschaften fassten dies als Lohndumping auf
und versuchten, den Bauunternehmer dazu zu bewegen,
die eingesetzten Beschäftigten gemäß den schwedischen
Tarifvereinbarungen zu entlohnen. Zur Durchsetzung ih-
rer Forderungen blockierten sie die Baustelle in Schwe-
den.
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Klasse, die
Schweden! Bravo!)
– Ja, das hätten auch die Linken machen können.
Der Europäische Gerichtshof erkannte in seinem Ur-
teil vom 18. Dezember 2007 das Grundrecht auf Streik
zwar ausdrücklich an, er vertrat aber die Auffassung, dass
ein Streik keine der vier Grundfreiheiten der EU – Waren-
verkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrs-
freiheit sowie Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs
– einschränken darf.
Es wird oft behauptet, der EuGH habe mit seinen Ent-
scheidungen im Fall Viking und in den ähnlich gelagerten
Fällen Laval und Rüffert den wirtschaftlichen Freiheits-
rechten des EG-Vertrags, besonders der Niederlassungs-
freiheit und der Dienstleistungsfreiheit, Priorität gegen-
über der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit eingeräumt.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt!)
Hier reihen sich mit ihrer Antragsbegründung die Kolle-
gen der SPD ein. Sie nehmen dabei besonders auf das
gewerkschaftliche Streikrecht und auf die Tarifautono-
mie Bezug.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lieber
Kollege Juratovic, mit Ihrem Antrag setzen Sie sich un-
ter anderem dafür ein, dass in allen Rechtsvorschriften
auf europäischer Ebene, die Fragen der Entsendung be-
rühren, das Grundrecht auf Tarifverhandlungen und kol-
lektive Maßnahmen verankert wird. Ihre Forderungen
betreffen größtenteils übergreifende europäische Sach-
verhalte, auf die die Bundesregierung nur geringen Ein-
fluss hat.
(Widerspruch der Abg. Brigitte Pothmer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
– Sie können nachher noch reden, Frau Pothmer. Stellen
Sie eine Frage, dann schauen wir mal.
Zur Frage, ob die Entsenderichtlinie als Konsequenz
der Urteile des EuGH revidiert werden muss, gab es am
2. Juni dieses Jahres eine Anhörung des Ausschusses für
Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Euro-
päischen Parlaments. Die Europäische Kommission hat
in diesem Zusammenhang angekündigt, zu prüfen, ob
überhaupt ein Bedarf für eine Revision der Entsende-
richtlinie besteht, und frühestens 2011 einen entspre-
chenden Vorschlag vorzulegen. Mit Ihrem Antrag, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, greifen Sie die-
sen Prüfungsergebnissen vor.
Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs drücken
die Spannung zwischen ökonomischen Sachzwängen ei-
nerseits und dem notwendigen Arbeitnehmerschutz an-
dererseits aus. Hier muss sine ira et studio eine Lösung
gefunden werden. Anders als die SPD bin ich aber der
Auffassung, dass diese Urteile eine Revision der Entsen-
derichtlinie nicht notwendigerweise erzwingen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der EuGH hat in seinen Entscheidungen betont, dass
die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach
dem EG-Vertrag als fundamentale wirtschaftliche Frei-
heitsrechte garantiert werden. Ihnen kommt aber nicht
nur eine Wirkung als Abwehrrecht bei staatlichen Ein-
griffen zu, sondern auch eine direkte Wirkung gegenüber
den Behinderungen der Freiheitsrechte durch private
Dritte. Zu diesen zählen auch die Gewerkschaften. Der
EuGH hat damit zum ersten Mal anerkannt, dass das
Streikrecht als soziales Grundrecht im Sinne des Ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5367
Paul Lehrieder
(A) (C)
(D)(B)
meinschaftsrechts anzusehen sei. Im Urteil Laval greift
er den Begriff des Sozialdumpings auf und sieht im
Streikrecht zum Schutz der Arbeitnehmer gegen So-
zialdumping ein zwingendes Allgemeininteresse.
Abschließend möchte ich noch auf ein interessantes
Detail aufmerksam machen, das die SPD im letzten Ab-
satz ihrer Antragsbegründung versteckt hat. Sie hält
demnach nicht mehr kompromisslos an ihrer ursprüngli-
chen Forderung nach einem flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohn fest, sondern scheint endlich dem stets
von der Union bevorzugten Weg der tarifvertraglichen
Mindestlöhne Positives abgewinnen zu können. Danke
schön! Aber das nur am Rande.
Unsere ehemaligen sozialdemokratischen Mitkoalitio-
näre werden sich noch daran erinnern können, dass die
Große Koalition in der letzten Wahlperiode gerade die
Entsenderichtlinie zum Anlass genommen hat, das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz auszuweiten. Insgesamt
wurden mit Gebäudereinigern, Briefdienstleistern, der
Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistern, der Abfallwirt-
schaft, Aus- und Weiterbildungsdienstleistern nach dem
SGB II oder SGB III, Wäschereidienstleistern und auch
Bergbauspezialarbeitern acht Branchen neu in den Gel-
tungsbereich des Gesetzes aufgenommen. Die Zahl der
Arbeitnehmer, die durch Mindestlöhne nach dem Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz geschützt werden können, war
damit von 700 000 auf 3 Millionen gestiegen.
Daneben sind durch die Modernisierung des Mindest-
arbeitsbedingungengesetzes, des MiArbG, Mindest-
löhne auch in solchen Bereichen ermöglicht worden, in
denen die Tarifbindung gering ist und das Arbeitnehmer-
Entsendegesetz nicht angewandt werden kann. Wir ha-
ben damit eine gute Voraussetzung für die Einführung
der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit ge-
schaffen, die ab dem Jahr 2011 gelten wird. Aus diesem
Grund ist eine Revision der Entsenderichtlinie zum jetzi-
gen Zeitpunkt nicht notwendig. Ich denke deshalb, wir
sollten hier zunächst abwarten, zu welchem Ergebnis die
EU-Kommission bei der Überprüfung der Richtlinie
kommt. Aufgrund des ausdrücklichen Wunsches meines
Nachredners, des Kollegen Wadephul, möchte ich ihm
die verbleibende Minute hiermit schenken.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Jutta Krellmann (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Mai 2011
kommt die absolute Arbeitnehmerfreizügigkeit in Eu-
ropa: Die Übergangsregelungen für die Entsendung von
Arbeitnehmern aus den neuen Beitrittsländern, die bis-
her keinen freien Zugang hatten, laufen dann aus. Die
europäische Entsenderichtlinie muss daher sozial gestal-
tet werden. Das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz
muss auf alle Branchen erweitert werden. Die Erklärung
der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen muss
erleichtert werden. Ein flächendeckender Mindestlohn
muss eingeführt werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Damit wären die größten Löcher gestopft.
Wir wollen aber noch mehr als nur Löcher stopfen.
Bereits im Februar 2006 fanden in Berlin und Straßburg
zwei große Demonstrationen statt, und zwar unter Eis
und Schnee; das war eine schweinekalte Angelegenheit.
Das Ergebnis war: Die Dienstleistungsrichtlinie wurde
anschließend mit Änderungen eingeführt.
Die Dienstleistungsrichtlinie regelt, dass Unterneh-
men in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union
Dienstleistungen anbieten können. Viele Menschen sor-
gen sich seitdem, dass Beschäftigte, die nun europaweit
arbeiten können, europaweit um die billigsten Löhne
konkurrieren müssen. Um das zu verhindern, gibt es die
europäische Entsenderichtlinie. Sie regelt, dass Beschäf-
tigte, die mit ihren Unternehmen innerhalb der EU arbei-
ten, nicht schutzlos sind. Sie enthält Mindestarbeitsbe-
dingungen; dabei geht immer mehr als das Minimum.
Vor Ort gelten dann für inländische und entsendete Ar-
beitnehmer die gleichen Bedingungen. Ziel der Entsen-
derichtlinie ist es also, Lohndumping und Lohnkonkur-
renz zu vermeiden sowie einheitliche Rechtsstandards an
einem Arbeitsort zu sichern. Das ist an sich eine gute
Idee.
Dieser Plan wurde jedoch ohne den Europäischen Ge-
richtshof gemacht. Er hat mit seinem Urteil die Minimal-
standards in Maximalstandards verwandelt. Mehr als
das, was in der Richtlinie steht, geht demnach nicht.
Plötzlich wurde das Streikrecht vor Ort eingeschränkt.
Geltende Tarifverträge wurden als Wettbewerbshemmnis
erachtet und für ungültig erklärt. Wirtschaftliche Frei-
heitsrechte – Herr Lehrieder hat sie erwähnt – gehen da-
mit auch in diesem Land vor Freiheitsrechte der Men-
schen. Das ist skandalös und verkehrt das Anliegen der
Richtlinie in das Gegenteil.
Schon einmal wurde versucht, die Arbeitnehmer-
rechte in Europa auszuhebeln. Nach dem ersten Entwurf
der Dienstleistungsrichtlinie sollte der Firmensitz da-
rüber entscheiden, welche Arbeits- und Tarifstandards
gelten. Ein Chaos von 27 parallel geltenden Arbeitsrech-
ten drohte. Die Firmen hätten sich durch eine Verlage-
rung ihres Firmensitzes die für sie günstigsten Bedin-
gungen heraussuchen können. Das wurde zum Glück
verhindert.
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes kom-
men diese Zustände nun durch die Hintertür zurück.
Deswegen muss ein absoluter Riegel vorgeschoben wer-
den. Es muss dafür gesorgt werden, dass auf soziale
Standards geachtet wird, auch auf europäischer Ebene.
Ich wiederhole: Wir brauchen in diesem Bereich
Nachbesserungen; an dieser Stelle muss sich etwas än-
dern. Es muss einen Mindestlohn geben. Tarifstandards
müssen eingehalten und ihre Durchsetzung erleichtert
werden. Im Grunde muss die Richtlinie über die Entsen-
5368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Jutta Krellmann
(A) (C)
(D)
dung von Arbeitnehmern auf alle Bereiche ausgeweitet
werden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der europäische Binnenmarkt ist für den Wohlstand und
den wirtschaftlichen Erfolg der Mitgliedstaaten der EU
von wesentlicher Bedeutung. Gerade weil wir uns viel-
leicht schon daran gewöhnt haben, ist der Hinweis wich-
tig, dass offene, europaweit freie Märkte für Waren und
Dienstleistungen die besten Voraussetzungen für Wachs-
tum und Beschäftigung in jedem der Mitgliedsländer der
Europäischen Union sind.
Die Europäische Union hat einen erheblichen Beitrag
zum europaweiten Wohlstand, zur Schaffung von Ar-
beitsplätzen und zum sozialen Fortschritt geleistet. Ich
will hier einmal einige Daten nennen: Nach Berechnun-
gen der EU-Kommission wäre der Wohlstand der EU, ge-
messen am Bruttoinlandsprodukt, im Jahr 2006 um
2,2 Prozent niedriger gewesen, wenn es den europäischen
Binnenmarkt nicht gegeben hätte. Die Beschäftigung
wäre im Jahr 2006 um 1,4 Prozent – das sind über die ge-
samte EU gerechnet 2,75 Millionen Arbeitsplätze – nied-
riger ausgefallen.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hat nichts
mit der Entsenderichtlinie zu tun!)
– Ja, das ist das Problem, Herr Kollege. Sie sagen: Das
hat nichts damit zu tun. Aus meiner Sicht hat das schon
etwas damit zu tun. Gerade in den neuen mittel- und ost-
europäischen Mitgliedstaaten ist das Pro-Kopf-Einkom-
men in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen, um
fast ein Drittel auf 52 Prozent des Durchschnitts der al-
ten Mitgliedstaaten. Die Löhne in den neuen Mitglied-
staaten sind zwischen 2000 und 2008 erheblich gestie-
gen. In mehreren neuen Mitgliedstaaten legten die realen
Bruttolöhne um mehr als 100 Prozent zu.
Warum sage ich das? Ich sage das, weil wir bei allem,
was wir tun und bei den durchaus nachvollziehbaren
Schutzinteressen, die hier vorgetragen werden, am Ende
nicht gefährden dürfen, dass der von uns gewollte, sinn-
volle Austausch von Gütern und Dienstleistungen über
Gebühr behindert wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen hat der Europäische Gerichtshof die in der
EU garantierten Grundfreiheiten gestärkt. Er hat deutlich
gemacht, dass in einem Katalog von rund 70 Richtlinien
und zahlreichen Verordnungen ein Mindeststandard in
Europa festgelegt ist, der ohnehin in jedem einzelnen
Mitgliedsland gewährleistet wird. Er hat zusätzlich klar-
gestellt, dass die Entsenderichtlinie zusätzlich zu den
EU-weit geltenden sozialen Mindeststandards einen har-
ten Kern an Sozialschutzbestimmungen des Ziellandes
für entsandte Arbeitnehmer vorschreibt und diesen zu-
sätzlichen Schutz auch gewährleistet. Es ist also eine
Richtlinie im Interesse der entsandten Arbeitnehmer und
nicht im Interesse der Arbeitnehmer im Zielland. Man
muss sich deutlich vor Augen führen: Das ist der Hinter-
grund der Entsenderichtlinie, Herr Juratovic, Sie schüt-
teln so sinnend den Kopf. Vor diesem Hintergrund ist es
schlicht falsch, zu behaupten, dass das soziale Europa
unter die Räder der wirtschaftlichen Grundfreiheiten ge-
raten sei. Das ist ausdrücklich nicht der Fall.
Die Entsenderichtlinie darf nicht dazu missbraucht
werden, unter dem Deckmantel des Schutzes sozialer
Rechte protektionistische Maßnahmen zu treffen,
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Schützen Sie
die Menschen und nicht die Waren, die Unter-
nehmen!)
um die Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit ein-
zuschränken – das will ich für meine Fraktion sehr deut-
lich sagen –,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
weil dadurch die genannten enormen Vorteile des euro-
päischen Binnenmarktes gefährdet wären. Ein europäi-
scher Binnenmarkt ist aber erforderlich, um auf den
Weltmärkten gegenüber Wettbewerbern mit großen Hei-
matmärkten erfolgreich konkurrieren zu können.
Sozialer Fortschritt realisiert sich nur durch wirt-
schaftlichen Fortschritt. Das verkennt der Antrag der
SPD, Herr Juratovic. Ihr Antrag ist von Protektionismus
geprägt. Er stellt die soziale Freiheit – deswegen habe
ich den Gedanken bewusst entwickelt – schlichtweg auf
den Kopf. Er schränkt in gewisser Weise auch die Chan-
cengerechtigkeit ein.
Zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes hat
der Kollege Lehrieder schon einiges gesagt. Ich finde,
Viking, Laval, Rüffert und Luxembourg machen eines
klar: Die Richtlinie soll das Arbeitsrecht in den Mit-
gliedstaaten nicht harmonisieren, sondern koordinieren.
Das ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Unterschied.
Ich möchte deutlich sagen, dass die Urteile viel Freiraum
für die Lohnfindung in den Mitgliedstaaten zulassen.
Die Urteile sind, wie ich finde, ein effektives Instrument,
um Sozialdumping zu verhindern. Sie bauen auf dem
Prinzip auf, dass die Rahmengestaltung der Arbeitsbe-
dingungen für entsandte Arbeitnehmer vorrangig durch
Gesetze und Tarifabschlüsse des Gastlandes bestimmt
wird und dass die Arbeitnehmer von diesen Rahmenbe-
dingungen profitieren können, ohne sie selbst aushan-
deln zu müssen.
Zu den einzelnen Punkten in Ihrem Antrag will ich
Folgendes sagen: Eine europäische Regelung zur Tarif-
autonomie ist unserer Auffassung nach vor dem Hinter-
grund des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht notwen-
dig. Es ist auch nicht die Aufgabe europäischer
Rechtsetzung, über Mindeststandards hinaus Sozialpoli-
tik zu betreiben. Der Grund für Beschränkungen auf ge-
(B)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5369
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) (C)
(D)(B)
wisse Faktoren in den Richtlinien ist – darauf haben Sie
eben selbst hingewiesen –, dass das Entsendeverhältnis
temporärer Natur ist. Die Arbeitnehmer, die zu uns kom-
men, sind nicht Teil des hiesigen Arbeitsmarktes. Sie ha-
ben sich unserem Arbeitsmarkt auch nicht verpflichtet.
Eine zeitliche Begrenzung sehe ich nicht als hilfreich an.
Sie würde zu einem ständigen Wechsel der Arbeitneh-
merschaft führen. Und eine Änderung der Ausschrei-
bungskriterien – das ist ja auch ein Punkt Ihres Antrags –
widerspricht ausdrücklich der Idee des offenen Binnen-
marktes. Das ist, wenn ich es richtig sehe, bei den Urtei-
len des Europäischen Gerichtshofes in Bezug auf Rüffert
und Luxembourg genauso gesehen worden.
Die Idee, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle
Branchen auszuweiten, wird von uns abgelehnt. Da rate
ich wirklich zur Vorsicht. Schon in der Vergangenheit
wurde das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch in Bran-
chen, in denen es keine klassische Entsendeproblematik
gab, ich will es mal so sagen, „missbraucht“. Wie das im
Mai 2011 werden wird, das sollten wir uns einmal in
Ruhe ansehen. Ich glaube, dass da im Moment – mit
Hinweis auf die Freizügigkeit, die sich dann ergibt –
sehr viel Panik gemacht wird. Ich bin zurückhaltend und
rate auch allen anderen zur Vorsicht. Gerade die Anhö-
rung vier verschiedener Verbände und auch der Bundes-
agentur am Montag – das will ich auf die Frage des Kol-
legen Vogel noch einmal sehr deutlich sagen – hat
gezeigt, dass man nichts Genaues weiß. Es gibt auch viel
Überlieferung von einem zum anderen, und am Ende
machen die sich gegenseitig verrückt.
Also gehen wir das ruhig, sachlich und mit der gebo-
tenen Vorsicht an. Dann wird es auch eine vernünftige
Regelung geben. Eine Überarbeitung der Entsendericht-
linie ist aus unserer Sicht jedenfalls nicht erforderlich.
Deswegen stehen wir dem Antrag des Kollegen
Juratovic, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
kritisch und ablehnend gegenüber.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist sehr
schade!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
grüne Position ist ganz klar und ganz eindeutig: Das
Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Ort“ muss innerhalb der gesamten EU durchgesetzt wer-
den. Dieses Prinzip muss einen höheren Stellenwert ha-
ben als die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlas-
sungsfreiheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Deswegen muss die Entsenderichtlinie überarbeitet wer-
den, und zwar so, dass sie zugunsten von Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern nicht durch die Dienstleis-
tungsfreiheit eingeschränkt werden kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kolb?
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage des Kollegen
Kolb.
(Zurufe bei der CDU/CSU: Oh!)
Ich möchte mit meiner Rede fortfahren. – Das betrifft
sowohl die Löhne, die Arbeitszeiten, die Urlaubsansprü-
che und auch andere soziale Standards. Zukünftig müs-
sen die Standards gelten, die in dem Land, in dem die
Dienstleistung angeboten wird, gesetzlich oder tariflich
vereinbart worden sind.
Genau das gilt jetzt nach dem Urteil des Europäischen
Gerichtshofs in Sachen Laval und Rüffert eben nicht
mehr. Nach diesem Urteil werden entsandte Beschäftigte
tatsächlich zu so etwas wie Sendboten des Lohndum-
pings. Das ist für die Betroffenen, aber auch für die Be-
schäftigten hier ein Zustand, den wir nicht hinnehmen
können. Es ist aber auch ein Rückschlag für das soziale
Europa.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Herr Kolb, wir werden eine Akzeptanz der europäi-
schen Verständigung in viel stärkerem Umfang brau-
chen, als das bisher der Fall ist. Und wenn wir keine Ak-
zeptanz für Europa schaffen, dann wird es uns auch nicht
gelingen, in der Wirtschafts- und der Finanzpolitik – da,
wo wir es dringend brauchen – Regelungen zu treffen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Abg. Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
– Herr Kolb, versuchen Sie es nicht noch einmal. Ich
finde, dass Sie Ihre Redezeit hatten. Ich muss Ihnen ein-
mal sagen: Ich finde, es reicht auch einfach.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn mit
Ihnen passiert?)
Es ist die Aufgabe der Politik, genau hier auf soziale
Rahmen zu setzen. Es muss vollkommen und unmissver-
ständlich geklärt werden, dass Mindestanforderungen
eben keine maximalen Normen darstellen, wie es derzeit
nach diesem Gerichtsurteil der Fall ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat doch nun wirk-
lich – das müsste eigentlich auch bei Ihnen angekommen
sein – endgültig geklärt, dass die Freiheit des Marktes
nicht über alles gestellt werden darf. Daraus müssen wir
Lehren ziehen. Der europäische Wettbewerb muss ein
Wettbewerb um die Qualität der Dienstleistung sein und
nicht ein Wettbewerb um Schmutzlöhne. Genau dafür
5370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Brigitte Pothmer
(A) (C)
(D)(B)
braucht man für diesen Wettbewerb einen Rahmen. Der
Rahmen muss so gesetzt sein, dass die Mitgliedstaaten
auch die Möglichkeit haben, über die Mindeststandards
hinauszugehen. Diese Standards müssen sowohl für ein-
heimische als auch für entsandte Beschäftigte einheitlich
gelten.
Seit dem Urteil des EuGH ist in der Sache allerdings
ganz wenig passiert; auch das muss man an dieser Stelle
einmal sagen. Das Europäische Parlament hat die Kom-
mission bereits 2008 aufgefordert, tätig zu werden. Aber
handfeste Ergebnisse haben wir nicht vorzuweisen.
Sie, Herr Lehrieder, haben vorhin gesagt: Was kann
denn die arme Bundesregierung dafür? Deutschland ist
das größte europäische Land. Wenn sich Deutschland in
dieser Frage engagieren würde, dann wäre da auch Be-
wegung drin; das muss man eindeutig sagen. Aber, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, das ist
auch zu Zeiten der Großen Koalition, als Sie mitregiert
haben, nicht geschehen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Pothmer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Es folgt gleich eine
Kurzintervention. Sie haben also noch viele Möglichkei-
ten. Bitte sagen Sie Ihren letzten Satz.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich würde mir wünschen, dass die Union und die FDP
endlich ihre Blockade aufgeben. Es liegt auf nationaler
und auf europäischer Ebene einiges im Argen. Es ist
jetzt wirklich allerhöchste Zeit, zu handeln. Wenn Sie Ih-
ren Ruf als Beschützer der Lohn- und Standarddrücker
nicht weiter zementieren wollen, dann sollten Sie sich in
Bewegung setzen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heinrich
Kolb das Wort.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Der hatte doch schon sechs Minuten!)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin
Pothmer, es ist eigentlich schade: Ich lasse Ihre Fragen
immer zu. Da wäre es doch nur angemessen, wenn auch
ich Sie fragen dürfte.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie hatten doch gerade schon sechs Mi-
nuten!)
Das ist auch eine Chance auf eine Verlängerung der Re-
dezeit. Sie waren heute nämlich ein bisschen knapp.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aber ich kann mich auch kurzfassen,
Herr Kolb!)
Meine Zwischenfrage hätte Ihnen also die Chance gebo-
ten, noch etwas mehr zu diesem Thema zu sagen.
Was ich Sie gefragt hätte und worauf ich Sie jetzt hin-
weisen möchte, ist Folgendes: Es muss in den letzten
Jahren irgendein entscheidendes Ereignis gegeben ha-
ben. Denn wenn ich es richtig sehe, hat Rot-Grün in der
eigenen Regierungszeit mit den Hartz-Gesetzen im Be-
reich der Zeitarbeit genau das Prinzip, von dem Sie ge-
rade gesprochen haben – gleicher Lohn für gleiche Ar-
beit am gleichen Ort –, außer Kraft gesetzt. Der
Grundsatz des Equal Pay kann nämlich überschrieben
werden. Genau das befürchten Sie auch jetzt: dass Ar-
beitnehmer bzw. Zeitarbeitnehmer aus anderen Ländern
zu uns kommen könnten und auf der Basis eines Tarif-
vertrages hier billiger wären. Wann in den letzten Jahren
ist da Entscheidendes passiert, was dazu geführt hat,
dass Sie heute sagen: „Jetzt sehen wir die Welt vollkom-
men anders; jetzt glauben wir, die Dinge sind nicht mehr
so, wie sie vorher waren“?
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Aus Fehlern
muss man auch lernen können!)
Ich will Sie auf einen letzten Punkt hinweisen, weil
Sie der FDP immer einen Lobbyismusvorwurf machen
– ich will Ihre Beschimpfungen gar nicht wiederholen,
sondern ich weise all das, was Sie über uns gesagt ha-
ben, mit Nachdruck, Abscheu und Empörung zurück –:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich habe meinen Kindern früher immer aus einem Kin-
derbuch vorgelesen. Es heißt: Der große Platsch. In die-
sem Buch passiert Folgendes: Drei Hasen schlafen am
Ufer eines Sees im Urwald.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Kurzintervention!)
Dann fällt eine Papaya ins Wasser, und die drei Hasen
erschrecken sich so sehr, dass sie fluchtartig losrennen.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Frau Präsiden-
tin, müssen wir uns ein Märchen erzählen las-
sen? – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Der
Letzte macht das Licht aus!)
Dann kommen ihnen andere Tiere entgegen, und alle fra-
gen sie: Was ist denn los? Am Ende heißt es: „Der
Platsch kommt.“ Alle Tiere im ganzen Urwald waren
fluchtartig in Bewegung, bis sie dem erfahrenen, alten
Löwen begegnet sind. Er hat dann zu ihnen gesagt: Im-
mer mit der Ruhe!
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Und die FDP ist
der Platsch?)
Damit komme ich zum Ende meiner Kurzinterven-
tion, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das rate ich auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5371
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) (C)
(D)(B)
uns: Wir sollten überprüfen, was genau passiert ist, ob
ein Platsch unterwegs ist,
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Morgen er-
zählen wir das nächste Märchen!)
von dem sich alle gegenseitig verrückt machen lassen,
oder ob da wirklich etwas dran ist. Das wird uns die Er-
fahrung wohl am besten lehren können.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das zeigen uns doch schon die
Zahlen!)
Deswegen sollten wir hier, wie ich es gesagt habe, ganz
langsam und vorsichtig ans Werk gehen.
Das hätte ich Sie gerne gefragt, das hätte ich Ihnen
gerne gesagt. Jetzt machen wir es auf diesem Wege. Ich
hoffe, dass Sie meine Zwischenfragen beim nächsten
Mal wieder zulassen.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]:
Platsch nimmt Platz!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Kollege Kolb, ich lasse Ihre Zwischenfragen
zukünftig nur dann zu, wenn Sie sie mir vorher vorlegen.
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LIN-
KEN)
Ich glaube, Ihre Geschichte über Platsch und der Auf-
ruf, Ruhe zu bewahren, ist eine Aufforderung an Ihre ei-
gene Fraktion. Denn seitdem Ihre Umfragewerte um
4 Prozent herumdümpeln, kann man von Ruhe in Ihrer
Truppe überhaupt nicht mehr reden.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der SPD)
Das ist ein Hühnerhaufen, ein Hühnerhof. Daher wäre es
wahrscheinlich besser, Sie würden eine solche Kurz-
intervention an Ihre eigenen Leute richten.
Jetzt zum Kern Ihrer Kurzintervention. Herr Kolb, ich
finde es bedauerlich, dass Sie, wenn Sie eine bestimmte
Information aufgenommen haben, stehen bleiben. Sie
haben nicht zur Kenntnis genommen, dass wir nach der
von Rot-Grün getroffenen Entscheidung, die Leiharbeit
zu öffnen, schon zwei Anträge gestellt haben, das zu
korrigieren; denn wenn wir bemerken, dass wir einen
Fehler gemacht haben, sind wir – anders als Sie – in der
Lage, das selbstkritisch zu hinterfragen und diesen Feh-
ler zu korrigieren. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auf
Ihrer sonntäglichen Klausursitzung genau nach diesem
Prinzip gehandelt hätten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dann hätten Sie vielleicht wieder eine Chance. Wenn Sie
mit kaltem Herzen und kalter Hand so weitermachen,
wird die FDP-Fraktion jedenfalls in diesem Parlament
nur eine geringe Zukunft haben.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Dr. Axel Troost [DIE
LINKE]: Dann macht es platsch!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem die Kollegin Krellmann vorhin einen
Tiervergleich angestellt hat, hatte ich die Befürchtung,
dass uns auch das weggenommen wird. Aber nach der
Kurzintervention vonseiten der FDP haben wir gemerkt:
Tierwelt kann die Koalition besser. Vergleiche aus die-
sem Bereich sind unser Privileg.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bringe das
Buch mal mit! Schönes Buch!)
Ich komme auf den Kern der Debatte zurück. Nach-
dem der Kollege Lehrieder in einer zeitlich etwas knapp
geratenen, aber inhaltlich sehr fundierten Rede die we-
sentlichen Punkte erwähnt hat, will ich die Sachlage
schildern, wie sie sich auf europäischer Ebene darstellt.
Wir dürfen uns im Deutschen Bundestag schließlich
keine Scheinwelt aufbauen. Die Kommission hat eindeu-
tig erklärt, dass sie nach der entsprechenden Diskussion
im Fachausschuss des Europäischen Parlaments evaluie-
ren und die Richtlinie überprüfen wird. Der gerade im
Amt befindliche EU-Kommissar Herr Andor hat ange-
kündigt, im nächsten Jahr gegebenenfalls eine revidierte
Richtlinie vorzulegen. In dieser Situation soll man die
europäischen Institutionen das machen lassen, wofür sie
da sind. Wenn sie angekündigt haben, zu evaluieren,
dann kann sich jeder daran beteiligen und Einzelergeb-
nisse dazu liefern. Aber man soll die europäischen Insti-
tutionen erst einmal arbeiten lassen und nicht mit einer
vorgefassten Meinung an die Sache herangehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ein weiterer Punkt, der darauf hinweist, dass es sich
Ihrerseits um einen Schnellschuss handelt, ist – wir se-
hen das mit Freude –, dass die SPD jetzt von einem ge-
setzlichen Mindestlohn Abstand genommen hat; das hat
der Kollege Lehrieder gesagt. Sie wollen auf das zurück-
kommen, was sinnvoll und vernünftig ist. Der tarifliche
Mindestlohn soll in den einzelnen Branchen durch die
Tarifvertragsparteien festgelegt werden. Das haben Sie
klugerweise in Ihren Antrag hineingeschrieben. Das
begrüße ich und zeigt die von Frau Pothmer angemahnte
Lernfähigkeit bei den Sozialdemokraten. Diese gibt es
übrigens auch bei der FDP.
5372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Johann Wadephul
(A) (C)
(D)(B)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja?)
Auf der angesprochenen Klausursitzung hat der General-
sekretär der Freien Demokratischen Partei etwas zur
Mehrwertsteuersenkung zugunsten der Hoteliers gesagt.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Müssen Sie jetzt schon die FDP vertei-
digen?)
Seitens der Union kann man das nur begrüßen. Vielleicht
kommen wir im Herbst nach ausführlichen Beratungen
gemeinsam zu neuen Ergebnissen. Auch die Grünen ha-
ben noch Nachholbedarf.
Was auch dafür spricht, dass es sich um einen
Schnellschuss handelt, ist, dass Sie die europäische
Rechtsprechung nicht ausgewertet haben. Ich will gar
nicht meine Meinung dazu sagen; ich bin zwar Jurist,
aber kein Europarechtler. Nur so viel: Lesen Sie in der
tageszeitung vom 12. September 2008 nach, was der
deutsche EuGH-Richter Thomas von Danwitz zu den in-
frage kommenden Urteilen gesagt hat. Dann würden Sie
von der linken Seite des Hauses wesentliche Teile des-
sen, was Sie vorgetragen haben, nicht wiederholen. Der
Richter hat gesagt – ich darf zitieren –:
Wenn man die Urteile genau ansieht, erkennt man,
dass es keine derart einseitige Linie gibt. Nehmen
wir das Viking-Urteil …, das in meinen Augen die
grundsätzlichste Bedeutung hat. Hier wurde klar
das Streikrecht der Gewerkschaften als Grundrecht
anerkannt. Zwar werden Streiks als potenzieller
Eingriff in die Binnenmarkt-Grundfreiheiten der
Unternehmen eingestuft, laut EuGH sind Streiks
aber grundsätzlich gerechtfertigt, wenn sie für die
Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen notwen-
dig sind.
An anderer Stelle sagt er, als er gefragt wird, ob die
Richtlinie denn dem wichtigen Zweck der Erhaltung des
sozialen Friedens dient:
Entscheidend ist aber, dass die Entsenderichtlinie
ein Kompromiss ist, der hinterher nicht einfach un-
ter Berufung auf bestimmte Interessen wieder in-
frage gestellt werden kann. Wenn ich mit Kollegen
aus Ungarn oder Polen spreche, dann ist aus ihrer
Sicht der Marktzugang jedenfalls sehr wichtig.
Auf den Aspekt möchte ich hinweisen. Wir können
uns als Exportnation Deutschland nicht hinstellen und
sagen: „Die sollen alle unsere Produkte kaufen“, aber
uns dann, wenn diese eine Chance auf dem Arbeitsmarkt
nutzen wollen, auf den sie möglicherweise mit günstige-
ren Personalkosten kommen könnten, abschotten. Wir
schaffen kein Zweiklassen-Arbeitnehmerrecht, Herr
Juratovic, sondern wir schaffen zwei Klassen von Staa-
ten in der Europäischen Union. Das wird außerordent-
lich kritisch gesehen, das sollten wir nicht machen.
Wenn Sie guter Europäer sind,
(Josip Juratovic [SPD]: Ein sehr guter Euro-
päer!)
dann überdenken Sie das an dieser Stelle noch einmal
und ziehen Ihren Antrag zurück.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1770 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
2010 (JStG 2010)
– Drucksache 17/2249 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.
– Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Olav Gutting für die Unionsfraktion, Lothar Binding für
die SPD-Fraktion, Dr. Daniel Volk für die FDP-Fraktion,
Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke, Lisa Paus
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des Parla-
mentarischen Staatssekretärs Hartmut Koschyk für die
Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/2249 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Carsten Sieling, Manfred Zöllmer, Elvira
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gesamtkonzept zur Stärkung des Verbrau-
cherschutzes bei Finanzdienstleistungen vorle-
gen
– Drucksache 17/2136 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
1) Anlage 65
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5373
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) (C)
(D)(B)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Dr. Carsten Sieling.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Carsten Sieling (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kurz nach der Bundestags-
wahl kam in eine meiner ersten Bürgersprechstunden,
die ich als neu gewählter Abgeordneter durchgeführt
habe, ein älteres Ehepaar und trug mir vor, was ihnen
zwei Jahre zuvor, schon im Jahr 2007, geschehen ist. Sie
waren immer noch empört. Sie hatten einen Anruf eines
ihnen vertrauten Bankberaters bekommen, und dieser
hatte gesagt, er habe ein Angebot nur für ganz spezielle
Kunden: Zertifikate der Lehman-Bank: gute Zinsen, si-
cher, kein Risiko. Das Ehepaar schlug zu, wie es so viele
gemacht haben. Den Ausgang kennen wir alle. Sie haben
sich verspekuliert, die Altersvorsorge ist dahin. So geht
es Tausenden Menschen. Das ist das Problem und der
Grund, warum wir sagen, dass es dringend notwendig
ist, dass wir im Bereich des Anlegerschutzes und des
Verbraucherschutzes erweiterte Maßnahmen treffen, da-
mit so etwas vermieden wird. Der Schaden in Deutsch-
land wird auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Das ist deut-
lich zu viel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir
müssen hier handeln. Darum haben wir unseren Antrag
vorgelegt.
(Beifall bei der SPD)
Es gibt viele Gründe dafür, dass das so passiert ist.
Die Berater sind nicht ausreichend qualifiziert. Die Be-
raterinnen und Berater stehen unter Erfolgsdruck, weil
sie mehr Provision erbringen müssen. All dies ist in den
letzten Wochen auch durch die Medien gegangen. Auf
tariflicher Ebene hat es Vereinbarungen dazu gegeben.
Die Informationen über die Finanzprodukte – hier
wird es noch ernster – sind unverständlich und nicht
durchschaubar. Niemand beaufsichtigt das, was auf den
Märkten passiert und angeboten wird.
Diese Dinge müssen geändert werden. Die Große Ko-
alition hat schon in der letzten Legislaturperiode durch-
aus einige Verbesserungen erzielt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich nenne nur das Stichwort „Verlängerung der Verjäh-
rung bei Falschberatung durch die Banken“. Das war ein
richtiger und wichtiger Schritt. Wir haben damals ge-
meinsam mit der CDU/CSU einen Antrag auf den Weg
gebracht, der viele gute Vorschläge beinhaltet hat. Pas-
siert ist seitdem aber leider gar nichts.
(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg
[CDU/CSU]: Sie haben eine komische Wahr-
nehmung, Herr Kollege!)
Man muss sagen: Gar nichts ist passiert.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Komische Wahr-
nehmung!)
– Ich sage gleich noch etwas dazu.
Das größte Problem ist aber, dass ein Gesamtkonzept
fehlt, Kollege Dautzenberg. Da kommen Sie auch nicht
drum herum und nicht heraus. Wir brauchen ein Gesamt-
konzept für den Anlegerschutz, das alle Aspekte um-
fasst.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die werden
Sie nie erfassen, weil es immer neue Produkte
gibt!)
Das ist ein Grund, warum wir heute hier diesen Antrag
vorlegen, in dessen Zentrum die Überlegung steht, dass
wir einen Finanz-TÜV, ein Bündel von Maßnahmen,
brauchen, mit dem dafür gesorgt wird, dass die einzelnen
Dinge beobachtet und kontrolliert werden.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das sind alles
nur Sprechblasen, Herr Kollege!)
Die Finanzprodukte müssen vom Anfang bis zum
Schluss, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie verkauft
werden, durchleuchtet werden. Wir müssen die Situation
erreichen, dass Produkte, Beratung und Verkauf unter
ständiger Beobachtung stehen.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!)
Was dafür nötig ist, haben wir in unserem Antrag darge-
legt.
Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen:
Erstens. Wir wollen gesetzlich verbindliche – und
nicht nur mehr oder weniger freiwillige – und verständli-
che Produktinformationsblätter mit standardisierten An-
gaben, damit die Dinge verglichen werden können. Wer
falsche Informationen hineinschreibt, der muss dafür
auch haften.
(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg
[CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Zweitens. Wir wollen die Aufsichtsbefugnisse der
BaFin weiterentwickeln. Dafür gibt es bereits Vorbilder
im Investmentbereich. Das muss ausgeweitet werden,
ohne dass für die BaFin oder die öffentliche Hand ein
Haftungsverhältnis begründet wird. Das muss vermieden
werden, aber die Aufsicht kann weiterentwickelt wer-
den.
Drittens. Wir müssen die Verbraucherverbände stär-
ken. Bellen und Beißen: Das ist das Prinzip, nach dem
wir dort handeln.
Viele weitere Dinge stehen in unserem Antrag, zum
Beispiel die Regulierung des Grauen Kapitalmarkts und
Weiteres.
Die Zwischenrufe haben schon gezeigt: Gleich wer-
den die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition hier
sprechen und sich mit ihren Taten rühmen.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!)
Sie werden sich Ihrer vermeintlichen Taten mit lauen
warmen Worten rühmen. Da ist nicht viel gewesen. Frau
5374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Carsten Sieling
(A) (C)
(D)(B)
Aigner, die Verbraucherschutzministerin, hat eine „Qua-
litätsoffensive Verbraucherfinanzen“ vorgelegt, passiert
ist aber nichts.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Interessant wurde es, als der Bundesfinanzminister ei-
nen Gesetzentwurf mit einigen durchaus beachtenswer-
ten Aspekten im Hinblick auf die Qualifikation von Fi-
nanzberatern und vielen anderen Verbesserungen ins
Spiel gebracht hat. Was aber ist passiert?
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was denn?)
Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf schon im Juni im
Kabinett beschlossen werden, damit wir hier etwas Or-
dentliches zu beraten haben. Er ist aber wieder von der
Tagesordnung genommen worden. So verlautete es je-
denfalls.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Auf welcher Tages-
ordnung war er denn, Herr Kollege?)
– Ob er auf der Tagesordnung war? – Es wurde jeden-
falls vorbereitet, und Sie wissen auch, dass es eine Vor-
abstimmung darüber gab.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha! –
Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Das ist aber ein großer Unterschied!)
Was ist der Hintergrund? – Der Wirtschaftsminister
Brüderle hat Gesprächsbedarf. Es ist das übliche Spiel:
CDU/CSU und FDP laufen in unterschiedliche Richtun-
gen. Dahinter steckt wahrscheinlich, dass die einen oder
anderen Lobbyverbände wieder interveniert haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU:
Oh!)
– Sie können ja das Gegenteil belegen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Sieling, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Carsten Sieling (SPD):
Ich komme zum Schluss. – Allein durch diesen Vor-
gang wird deutlich, wie richtig und wichtig es war, dass
wir als SPD unseren Antrag hier vorlegt haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Klaus-
Peter Flosbach das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Christian Freiherr von Stetten
[CDU/CSU]: Jetzt kommt Qualität in die De-
batte!)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Sieling, Sie fordern ein schlüssiges Ge-
samtkonzept zur Stärkung des Verbraucherschutzes.
Warten Sie doch noch ein paar Tage. In wenigen Tagen
wird dieses Konzept vorgelegt, Herr Sieling. Sie haben
elf Jahre den Bundesfinanzminister gestellt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bei uns dauert es nur acht Monate, bis ein schlüssiges
Gesamtkonzept vorgelegt wird. Das wird mit Sicherheit
noch in diesem Monat vom Kabinett verabschiedet. Wir
werden schon im September, also nur ein Jahr nach der
Bundestagswahl, dieses Konzept sehr intensiv beraten
können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dr. Volker Wissing [FDP] – Kerstin Tack
[SPD]: Die Sicherheit kennen wir!)
Wir haben deutlich gesagt, dass wir jedes Produkt, je-
den Produzenten und jeden Vermittler einer Regulierung
unterwerfen wollen. Sie haben als Beispiel die Lehman-
Zertifikate genannt und auf den vertrauensvollen Bank-
berater hingewiesen. In der Tat hat es riesige Schäden
gegeben. Aber Sie haben den geregelten Markt ange-
sprochen. Das war der Bankenmarkt – da gibt es das
Wertpapierhandelsgesetz und das Kreditwesengesetz –,
der sehr stark reguliert ist.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber er kann
das nicht auseinanderhalten!)
Trotzdem gab es 50 000 Lehman-Geschädigte. Wir ken-
nen den Fall von Phönix Kapitaldienst. Da gab es
30 000 geschädigte Anleger. Auch da hat die Aufsicht
geprüft, konnte den Schaden aber nicht verhindern. Ich
erinnere an die Göttinger Gruppe – atypische Beteiligun-
gen –, die auch ständig geprüft wurde. Alle Kapital-
dienste haben geschrieben, was das für ein schlimmer
Verein sei, aber trotzdem hat die bestehende Aufsicht
nicht eingegriffen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Flosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schick?
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Na klar.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn es der
Sache dient!)
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Flosbach, Sie haben gerade ein einheitliches An-
legerschutzkonzept angekündigt, das in wenigen Wo-
chen vorliegen werde. Meine Frage ist, ob der Gesetz-
entwurf zum Anlegerschutz, der angekündigt ist, schon
dieses Konzept ist oder ob Sie noch etwas Weiteres vor-
legen wollen, mit dem die Ziele des Koalitionsvertrages
erreicht werden sollen. Das war mir bei Ihren Ausfüh-
rungen nicht ganz klar.
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Es gibt einen Entwurf der Bundesregierung – das wis-
sen Sie wahrscheinlich –, der bereits mit Verbänden dis-
kutiert wird. Er wird uns in Kürze vorliegen. Er wird
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5375
Klaus-Peter Flosbach
(A) (C)
(D)(B)
wesentliche Teile der im Bereich Verbraucherschutz dis-
kutierten Themen enthalten. Darüber und über die An-
träge, die Sie vorgelegt haben, werden wir mit Ihnen ge-
meinsam gerne im September und Oktober diskutieren.
(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
CSU])
Sie haben es in elf Jahren nicht hinbekommen. Warten
Sie die paar Tage ab, bis wir unser Konzept vorlegen.
Das ist doch der einfachste Weg.
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich bin nicht in der SPD!)
– Sie waren viele Jahre mit dabei.
Es gibt Schäden auf dem Finanzmarkt. Sie kennen die
Schrottimmobilien. Auch in diesem Zusammenhang
sind Tausende von Leuten über den Tisch gezogen wor-
den. Auch hier haben wieder die Banken gehandelt, die
Kredite gegeben und die Immobilien zu 100 Prozent in
einer Höhe beliehen haben, die diese nicht wert waren.
Sie fordern in Ihrem Antrag, es müsse vom Beginn
der Anlage bis zum Ende alles geprüft werden. Wir kön-
nen das versuchen. Wir haben derzeit eine Prospektprü-
fung. Das ist aber nur eine formelle Prüfung, keine in-
haltliche Prüfung. Wir müssen aufpassen, dass wir keine
Scheinsicherheit erzeugen. Entscheidend ist, was in dem
Produkt steckt.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)
Das muss natürlich geprüft werden. Wir bekommen jetzt
eine neue europäische Richtlinie zu den alternativen In-
vestments. Auch hier, meine ich, muss zunächst einmal
der Anbieter geprüft werden. Die Schäden sind bei den
Anbietern entstanden. Diese sind die Verursacher des
Schadens. Deswegen ist es wichtig – das sage ich in
Richtung von Herrn Schick –, dass die Prospekthaftung
über die sechs Monate hinausgeht. Es ist also wichtig,
dass der Anbieter stärker geprüft wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Denken Sie doch bitte an unsere Diskussion im ver-
gangenen Sommer. Ich spreche von der großen Anhö-
rung zum grauen Kapitalmarkt. Auch da ging es um die
Frage, was inhaltlich geprüft werden kann. Die Aufsicht
hat uns Abgeordneten gesagt: Wir sind in der Lage, for-
mell zu prüfen, aber den wirtschaftlichen Gehalt einer
Anlage können wir nicht prüfen, weil wir nicht die Fach-
leute dafür haben. Um das einzelne Produkt bewerten zu
können, müssten wir riesige Abteilungen von Experten
beschäftigen, die auch entsprechende Prognosen auswer-
ten. – Denken Sie an den klassischen Fall des geschlos-
senen Immobilienfonds. In den neuen Bundesländern
gab es in der Startphase teilweise hohe Mieten. Wenn ein
Mieter ausfällt, ist das ganze Konzept im Eimer. Es ist
eine Risikoinvestition. Beim Verbraucherschutz geht es
darum, dass der Verbraucher weiß, dass auf einem Pro-
dukt deutlich steht, wenn in ihm ein Risiko steckt. Es
muss dem Einzelnen klargemacht werden, dass das Ri-
siko hoch ist und es sich nicht um eine Anlage handelt,
die 1, 2 oder 3 Prozent abwirft. Das Risiko muss deutlich
beschrieben werden. Darin sind wir uns wahrscheinlich
einig.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das
steht schon im Wertpapierhandelsgesetz!)
Das Wichtigste dabei ist, dass wir Möglichkeiten eröff-
nen, wie die Anlegersicherheit gestaltet werden kann.
Ich sehe das auch so wie Sie, dass wir ein breites Spek-
trum standardisierter Produkte für den Anleger haben
müssen,
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)
bei denen er weiß, ob es eine Einlagensicherung gibt und
sein Geld nicht verlorengehen kann. Das ist meines Er-
achtens wichtig. Aber für den Anleger, der bereit ist,
auch ein größeres Risiko einzugehen, müssen wir andere
Schutzvorschriften schaffen. Zum Beispiel bei geschlos-
senen Fonds ist meines Erachtens das Gutachten der
Wirtschaftsprüfer, das sogenannte IDW-S4-Gutachten,
der richtige Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Be-
reich, der eine hohe Bedeutung hat, ist natürlich die Re-
gulierung der Vermittler. Hier gibt es derzeit zwei Kon-
zepte, aber in beiden Konzepten sind mehrere Positionen
völlig identisch. Wir wollen, dass es ein einheitliches
und öffentliches Register gibt. Jeder Anleger soll öffent-
lich sehen können, wer ihm da gegenübersteht, von mir
aus, welche Vita er hat, welche Qualifikation er hat, ob
er eine Haftpflichtversicherung hat, ob er abgesichert ist
für mögliche Risiken. Ich bin außerdem der Meinung,
dass ein Gespräch dokumentiert und protokolliert wer-
den muss, damit man weiß, was da gelaufen ist. Wir
brauchen natürlich – das ist wichtig – den Prospekt. Da-
rin steht normalerweise – gucken Sie sich die Prospekte
an –, der Vermittler darf nicht vom Prospekt abweichen.
Dennoch bin ich der Meinung, das Gespräch sollte pro-
tokolliert werden. Das ist meines Erachtens auch für den
Verbraucher der beste Schutz. Es muss einfach deutlich
sein, dass der Verbraucher erkennt, ob es eine Risiko-
anlage oder eine Nichtrisikoanlage ist.
Es gibt zwei Konzepte: Soll das alles über die Gewer-
beordnung reguliert werden, oder soll es über die BaFin,
also die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, als
Aufsicht reguliert werden? – Ich meine, wir müssen hier
an den Verbraucher denken. Was dient dem Verbraucher
am meisten?
Die Situation ist doch, dass wir im Markt viele ver-
schiedene Wettbewerber haben, die sich um den Ver-
braucher bewerben, und jedes Gespräch wird protokol-
liert. Wenn der Anbieter ein faires Angebot gemacht hat,
wird er nichts dagegen haben, und dann wird er auch da-
für haften können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Wichtig ist, dass wir den Verbrauchern fair und
offen aufzeigen, wo sie Schutz haben können, aber auch
deutlich machen, wo es keinen Schutz gibt. Wer ein Ri-
siko bewusst eingeht, der muss auch das Risiko tragen
können. Das ist dann nicht die Sache des Verbraucher-
schutzes. Wir wollen nicht jeden reglementieren, ihm
5376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Klaus-Peter Flosbach
(A) (C)
(D)(B)
vorschreiben, dass er sein Geld nur im Sparbuch anlegen
kann, sondern wir wollen schon einen Wettbewerb im
Finanzmarkt haben. Ich freue mich auf die weitere Bera-
tung zu diesem Thema.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Frak-
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Harald Koch (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, werden in den vergangenen Monaten etli-
che Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern eingegan-
gen sein, die Sorge um ihr mühsam Erspartes haben. Das
klang hier ja auch schon bei Herrn Dr. Sieling durch.
Viele haben in der Finanzkrise durch hoch riskante, in-
transparente Finanzprodukte, die ihnen als sicher und
renditeträchtig verkauft wurden, eine Menge Geld verlo-
ren.
Auch die Verschuldung durch verantwortungslose
Kreditvergaben ist ein großes Problem. Von mehr als
6 Millionen überschuldeten Menschen sind gut 85 Pro-
zent nicht selbst für ihre Lage verantwortlich.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, na!)
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie
dürfen nicht länger zulassen, dass Tausende Menschen
ihre Rücklagen für das Alter, für die Pflege oder für Not-
fälle verlieren
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wo verlieren
die das denn, Herr Kollege?)
bzw. finanziell gar keine Zukunft mehr sehen.
Viel zu spät wurde in Deutschland, aber ebenso welt-
weit bemerkt, dass eine Regulierung der Finanz- und
Kreditmärkte auch aus Verbraucher- und Anlegersicht
dringend geboten ist. Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen, es wäre schön, wenn nicht immer so lange gewar-
tet würde, bis das Kind schon in den Brunnen gefallen
ist.
Die SPD spricht im Titel ihres Antrags aus meiner
Sicht etwas großspurig von einem „Gesamtkonzept“.
(Zuruf von der SPD: Warten Sie ab!)
Doch über die Kreditvergabe als wichtigste Finanz-
dienstleistung und die damit verbundenen Probleme ver-
liert der Antrag kein Wort. Die Linke fordert beispiels-
weise eine Stärkung der Schuldnerberatungsstellen.
(Beifall bei der LINKEN und des Abg.
Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Die SPD hätte, wenn sie es ernst meinte, ihre Forde-
rungen bereits im letzten Jahr umsetzen können, weil sie
meist von Linken und Grünen übernommen worden
sind. Stattdessen verfolgte die SPD während ihrer Regie-
rungsbeteiligung andere Interessen. Mit dem Zahlungs-
diensteaufsichtsgesetz, kurz „ZAG“ genannt, hat sie für
eine Verbreitung von Wildwestmethoden im Bereich der
Kreditkartenkredite beigetragen.
(Beifall bei der LINKEN)
Trotz dieser großen Lücke enthält der SPD-Antrag
– das möchte ich nach den kritischen Anmerkungen be-
tonen – viele unterstützenswerte Forderungen, mit denen
linke Positionen aufgegriffen werden. Auch die Linke
will die unabhängige Finanzberatung ausbauen und sagt
Nein zum Provisions- und Profitstreben in der Finanz-
und Versicherungsbranche. Honorarberatung bedeutet
nicht zwangsläufig mehr Qualität; doch ohne die Über-
windung provisionsgetriebener Beratung und produktbe-
zogener Verkaufsvorgaben gibt es keine wirklich unab-
hängige Beratung. Warum sorgen wir hier zum Beispiel
nicht dafür, dass das Berufsbild eines zertifizierten
Finanzberaters etabliert wird?
(Kerstin Tack [SPD]: Das steht im Antrag! –
Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja, in unserem An-
trag!)
Auch die gesetzlichen Regelungen zu Beratungspro-
tokollen weisen viele Lücken auf. Sie schützen eher die
Berater vor Haftungsrisiken als die Beratenen vor Nach-
teilen. Produktinformationsblätter sollten einheitlich die
Risikoklasse, den maximal möglichen Verlust sowie die
tatsächlichen Gesamtkosten ausweisen. Die Linke for-
dert für beides standardisierte und insbesondere verbind-
liche Verfahren.
Ein Finanz-TÜV muss ferner wichtiger Bestandteil
der Finanzaufsicht sein. Finanzprodukte sind vor ihrer
Zulassung auf Verbraucherfreundlichkeit, wirtschaftli-
che Nachhaltigkeit, Sozial- und Umweltverträglichkeit
sowie Risikopotenzial zu prüfen und zu klassifizieren.
Gefährliche und schlichtweg überflüssige Produkte, die
nur der Spekulation im globalen Finanzkasino dienen,
müssen endlich vom Markt genommen werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Der finanzielle Verbraucherschutz muss gesetzlich
verbindlicher geregelt und gestärkt werden, erstens
durch Regulierung und Entschleunigung der Finanz-
märkte, unter anderem durch eine Finanztransaktion-
steuer, sowie durch Maßnahmen für eine verantwor-
tungsvolle Kreditvergabe, –
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Koch, achten Sie bitte auf das Signal.
Harald Koch (DIE LINKE):
– ja –, zweitens durch die Entschlackung der für die
Privatanleger schier undurchschaubaren Masse an Fi-
nanzprodukten und drittens vor allem durch bessere Re-
gulierung, Transparenz und Verständlichkeit der verblei-
benden Produkte.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5377
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor
Dr. Erik Schweickert das Wort.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Leo
Dautzenberg [CDU/CSU]: Es geht aber nicht
um Wein, Herr Kollege!)
Dr. Erik Schweickert (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht
nur deshalb, weil vielleicht der eine oder andere, der
noch reden muss, zu spät gekommen ist, möchte ich das
aufgreifen, was Sie, Herr Kollege Sieling, zu Anfang aus
Ihrem Wahlkreisbüro berichtet haben. Wenn ich richtig
zugehört habe, hat die Dame
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ehepaar!)
Ihnen erzählt, was sie 2007 erlebt hat. Ich hoffe, Sie ha-
ben der Dame dann auch gesagt, wer denn 2007 die Ver-
antwortung getragen hat und was 2007 von denen unter-
nommen worden ist, sehr geehrter Herr Kollege.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wo? In den USA?
In den USA war es Bush! – Kerstin Tack
[SPD]: Nicht richtig zugehört, Herr Kollege!)
– Ich glaube schon, dass ich zugehört habe. Sonst hätte
ich zum Beispiel das „Bellen und Beißen“ nicht auf-
schreiben können; da bin ich mir sicher. Im Bellen sind
Sie großartig; das gestehe ich Ihnen zu.
(Zuruf)
– Ihr Kollege hat das gesagt. Ich zitiere nur den Antrag-
steller. Ich glaube, es ist gut, wenn man da mal ein biss-
chen Substanz hineinbringt.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Jetzt geht’s aber mal los!)
Wir bellen und beißen nicht, sondern wir arbeiten or-
dentlich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, wir sind uns im Ziel doch
einig. Wir wollen mehr Transparenz. Wir wollen eine
bessere Regulierung bei den Finanzdienstleistungen und
somit ein Mehr an Verbraucherschutz. Die Euro-Krise
hat uns gezeigt, dass es am Finanzmarkt noch Rege-
lungsbedarf gibt.
Der Antrag, den die Sozialdemokraten eingebracht
haben, zeigt aber auch die gute und zügige Arbeit der
christlich-liberalen Koalition. In dem Antrag beschrei-
ben Sie viele Problembereiche und sagen: Da müsste
man etwas tun. – Sie haben elf Jahre lang nichts getan.
Ich möchte Ihnen sagen, wo wir etwas getan haben. Sie
haben das ja schon als Erwartung geäußert. Ich möchte
Sie nicht enttäuschen, sehr geehrter Herr Kollege, und
Ihnen das noch einmal vor Augen führen. Mit dem Ge-
setz zur Stärkung des Anlegerschutzes und der Verbesse-
rung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes wird
dieser sogenannte graue Kapitalmarkt nämlich einer
durchgreifenden Regulierung unterzogen.
(Beifall bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]:
Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?)
– Wir lesen Zeitungen sehr wohl. – Die Pflicht zur Füh-
rung eines Beratungsprotokolls, zur Einhaltung des Ge-
bots einer anlegergerechten Beratung und zur Offenle-
gung von Provisionen wird mehr Transparenz in die
Anlageformen bringen und somit den Anlegerschutz
deutlich erhöhen.
(Kerstin Tack [SPD]: Das ist nicht Ihr Ver-
dienst! Das war die Große Koalition! –
Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und was hat die
FDP damit zu tun?)
Seien Sie zuversichtlich, dass es, wenn die BaFin als
Aufsicht über Finanzdienstleistungen das Recht be-
kommt, Bußgelder für Falschberatungen zu erheben, bei
50 000 Euro doch schon wehtut. Das ist wieder ein klei-
ner Baustein in die richtige Richtung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Auch bei den Qualifikationsvoraussetzungen von Fi-
nanzberatern gehen wir voran. Anders als vielleicht der
eine oder andere hier möchte ich nicht den mehr oder
minder staatlichen Bankberater haben. Die Berater und
auch die Vertriebsverantwortlichen – das wird oftmals
vergessen – müssen sich registrieren. Wir wollen, dass
bei falscher Anlageberatung auch die Möglichkeit be-
steht, Kundenbeschwerden nachzugehen, sodass die
BaFin dem dann entgegenwirken kann. Die BaFin wird
damit auch die Kompetenz bekommen, Wertpapier-
dienstleistungsunternehmen den Einsatz des einen oder
anderen Mitarbeiters zu untersagen.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)
Sie sehen also: Wir gehen nach vorne.
Die Informationsblätter werden künftig stärker regle-
mentiert sein. Der Diskussionsentwurf aus dem Bundes-
finanzministerium sieht ein – das finde ich übrigens sehr
gut – nicht mehr als zwei DIN-A4-Seiten umfassendes
Produktinformationsblatt vor. Wir sind doch alle genervt
– seien wir einmal ehrlich –, wenn wir 30 Seiten bekom-
men, die letztendlich keiner liest.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Lieber sollten es weniger sein, die dafür die wichtigen
Punkte enthalten. Dann haben wir alle gewonnen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]:
Warum hat Herr Brüderle nicht auf Sie ge-
hört? – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg
[CDU/CSU]: Das hat mit Herrn Brüderle
nichts zu tun!)
– Seit wann ist Herr Brüderle denn Bundesfinanzminis-
ter?
Gehen wir einmal weiter. Es war die christlich-libe-
rale Koalition – auch wenn es wehtut, Herr Kollege –,
die mit dem Gesetz zur Vorbeugung gegen missbräuch-
liche Wertpapier- und Derivategeschäfte eine Regelung
zum Verbot ungedeckter Leerverkäufe auf den Weg ge-
5378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Erik Schweickert
(A) (C)
(D)(B)
bracht hat. Wir wirken damit den Risiken für die Funk-
tionsfähigkeit der Finanzmärkte entgegen.
Damit habe ich Ihnen nur einige Beispiele genannt,
mit denen wir das Anlegerschutzniveau deutlich erhö-
hen.
Für mich als Verbraucherschützer gibt es weitere
Baustellen, an denen wir arbeiten müssen. Wir müssen
darüber diskutieren, wie wir sie angehen.
Im Rahmen der Zusammenführung der deutschen Fi-
nanzaufsicht bei der Bundesbank wäre für uns eine Eta-
blierung des Verbraucherschutzes ein wichtiger Punkt;
denn wir brauchen eine bessere Aufsicht und keine Ver-
staatlichung der Verbraucherzentralen, wie das in Ihrem
Antrag mit den Marktwächtern gefordert wird. Der
Marktwächter darf kein Nachtwächter sein. Aus diesem
Grunde möchte ich eine gute, schlagkräftige Verbrau-
cherzentrale haben, die schaut, was am Markt möglich
ist und welche Entwicklungen es am Markt gibt. Wir
wollen aber keine Verstaatlichung der Verbraucherzen-
tralen. Wir brauchen keine Hilfssheriffs, die der Mei-
nung sind, sie müssten jetzt losgehen. Das muss die Auf-
sicht machen. Jeder muss dort tätig werden, wo er hinge-
hört, und seine Kernkompetenz in diesem Bereich auch
ausfüllen.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Oh! Die FDP
fordert mehr Staat!)
Auch beim Thema Honorarberater ist nach unserer
Meinung ein Ausbau erforderlich. Wir brauchen ein kla-
res Profil. Jeder muss wissen, ob er einem Honorarbera-
ter oder einem Verkäufer gegenübersitzt. Das muss
transparent ausgewiesen werden.
Diese Punkte sind für den Verbraucherschutz notwen-
dig. Dann bekommen wir auch das Vertrauen wieder zu-
rück, das sehr viele Banken tatsächlich verspielt haben.
Ich bin mir auch sicher, dass sehr viele Banken noch
nicht verstanden haben, was sie den Anlegerinnen und
Anlegern angetan haben. Hier müssen wir ein bisschen
für ein Umdenken in der Branche Sorge tragen. Sehr ge-
ehrter Herr Kollege, das muss aber mit den Vorschlägen
geschehen, die wir auf den Weg gebracht haben.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Auf welchen
Weg?)
– Sehr geehrter Herr Kollege, wenn Sie es in elf Jahren
nicht schaffen, ein Gesetz vorzulegen, während wir uns
in der kurzen Zeit, die wir jetzt hier die Verantwortung
tragen, schon auf Gesetzentwürfe geeinigt haben,
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber noch ist es
nicht passiert!)
dann müssen Sie auch einmal akzeptieren, dass wir den
Schritt in die richtige Richtung gehen, den Sie elf Jahre
lang verpasst haben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]:
Können Sie mir das Papier überreichen?)
Bevor Frau Präsidentin jetzt anfängt, es blinken zu
lassen, will ich Ihnen nur noch Folgendes sagen: Wir
werden auch weiterhin im Sinne eines guten Anleger-
schutzes vorangehen. Ich freue mich auf die gute Zu-
sammenarbeit und auf die Aussprache mit Ihnen. Ich
hoffe, dass Sie Ihren Leuten dann, wenn Sie erläutern,
was 2007 falsch gelaufen ist, auch sagen, wer es jetzt re-
gelt.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Drei Jahre nach Beginn der Finanzkrise ist die verbrau-
cherpolitische Bilanz der Regierung immer noch relativ
schlecht. Banken und andere Anbieter von Finanzpro-
dukten machen mehr oder weniger weiter wie bisher.
Die Regierung hat es versäumt, die notwendigen Refor-
men zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher
auf den Finanzmärkten umzusetzen. Ich will Ihnen drei
Beispiele aus Verbrauchersicht nennen. Da geht es weni-
ger um Regulierung im Großen als um kleine Ärger-
nisse, die enormen volkswirtschaftlichen Schaden an-
richten.
Nehmen wir als erstes Beispiel die Überziehungszin-
sen. Die Verbraucherzentrale in Bremen schätzt, dass die
Deutschen allein von Dezember 2008 bis April 2010
über 700 Millionen Euro aufgrund überhöhter Dispo-
und Überziehungszinsen gezahlt haben.
(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)
Das mag man vielleicht als Kleinigkeit abtun, aber 0,7 Mil-
liarden Euro sind eine ganze Menge Geld.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer hat das
denn festgestellt, Frau Kollegin?)
Die in der Studie untersuchten Banken kassierten Über-
ziehungszinsen zwischen 17 und 20 Prozent. Wenn wir
uns den Leitzins anschauen, den die Europäische Zen-
tralbank im Moment festgelegt hat, stellen wir fest, dass
das Geld derzeit eigentlich relativ billig ist.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist wahr!)
Wer aber den Dispo überzieht, den kommt das sehr teuer
zu stehen. Besonders dreist ist die Commerzbank; denn
sie nimmt den höchsten Überziehungszins. Dabei ist das
die Bank, die wir nicht mit Millionen, sondern mit Mil-
liarden an Steuergeldern päppeln. Da frage ich mich: Ist
das nicht ein Anlass, um auf den Finanzmärkten einzu-
greifen? Man muss sich doch die Frage stellen: Wenn so
weit von dem abgewichen wird, was die Geldpolitik vor-
gibt, nämlich einen niedrigen Leitzins, müsste man dann
nicht im volkswirtschaftlichen Sinne regulierend ein-
greifen?
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist wirklich
ökonomischer Unsinn!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5379
Nicole Maisch
(A) (C)
(D)(B)
Beispiel Nummer zwei: Abzocke bei EC-Kartenge-
bühren. Die FDP hat dieses Thema erfreulicherweise im
Verbraucherausschuss auf die Tagesordnung gesetzt. Wir
haben ein Fachgespräch durchgeführt, zu dem leider
kein Vertreter der Union erschienen ist; trotzdem war es
sehr gut. Da haben wir herausgefunden, dass die EC-Kar-
tengebühren immer mehr steigen. Aber auch hier bleibt
es bei der Thematisierung in der Presse. Das ist zwar
schön, aber das reicht noch nicht. Eine Pressemitteilung
hat noch keinem Verbraucher, keiner Verbraucherin ge-
nutzt. Der Grund, warum Sie an diese ganzen Themen
nicht herangehen, ist, dass Sie, wie ich glaube, eine Beiß-
hemmung gegenüber der Finanzbranche haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Sie scheuen den Konflikt: Sie schreiben zwar Pressemit-
teilungen, aber Sie trauen sich nicht, gesetzliche Rege-
lungen zu treffen.
Ähnliches gilt für das dritte Beispiel, die Provisionen.
Herr Professor Schweickert hat über die Honorarbera-
tungen gesprochen. Wir wissen, dass Provisionen häufig
Fehlanreize für Beratung setzen. Man berät unter dem
Aspekt: „Wie kann ich die höchste Provision erzielen?“,
aber nicht nach dem Grundsatz: „Was ist das Beste für
den Kunden?“ Jetzt müssen sich Frau Aigner und Herr
Schäuble aber fragen lassen: Wo sind Ihre Vorschläge
zur Deckelung von Provisionen? Trauen Sie sich an die
Kick-backs heran? Wie wollen Sie Transparenz bei den
Provisionen schaffen? Wie wollen Sie die verbraucher-
freundliche Honorarberatung fördern? Nur in Über-
schriften zu reden, reicht nicht. Man muss auch konkrete
Konzepte vorlegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ein kleines Beispiel: Ministerin Aigner verspricht uns
seit vielen Monaten, dass sie den Begriff „Honorarbera-
ter“ gesetzlich schützen lassen wird. Das macht Sinn.
Das löst zwar nicht das ganze Problem, würde zumindest
aber dafür sorgen, dass jemand, der „Honorarberater“
auf seinem Türschild stehen hat, nicht noch zusätzlich
Provision kassiert. Das ist eigentlich keine so schwierige
Sache. Trotzdem haben wir hierzu bislang noch keinen
Gesetzentwurf gesehen.
(Kerstin Tack [SPD]: Im Herbst!)
– Wahrscheinlich im Herbst; alles kommt im Herbst.
(Nicolette Kressl [SPD]: Welches Jahr?)
Wir Grünen fordern seit langem eine Reform der Fi-
nanzaufsicht. Dazu werden Sie in der morgigen Debatte
vom Kollegen Schick noch genauere Ausführungen hö-
ren.
Wir möchten auch, dass der Verbraucherschutz zu ei-
ner Kernaufgabe der Finanzaufsicht wird. Wir wünschen
uns, dass sich am Wettbewerb der Ideen um die beste Fi-
nanzaufsicht, den Brüderle und Schäuble ausgerufen ha-
ben, auch Frau Ministerin Aigner beteiligt. Wenn die
Ideen nur so sprudeln, wäre es ganz gut, wenn auch der
Verbraucherschutz Gehör finden würde.
Zum Schluss: Funktionierende Märkte brauchen gut
informierte Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn
Sie das Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellie-
ren, dann wäre es doch schön, wenn Sie auch die Finanz-
dienstleistungen aufnähmen. Wir wissen, dass auch die
FDP das möchte. Wir werden Sie daran messen, ob Sie
sich in diesem Punkt gegen die CDU durchsetzen.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Steht im Koali-
tionsvertrag drin!)
– Es steht ja so viel im Koalitionsvertrag. Man weiß gar
nicht, wo man anfangen soll.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wir setzen ihn
um, Schritt für Schritt!)
– Schritt für Schritt, ja; aber man hat ja normalerweise
nur vier Jahre Zeit. Deshalb denke ich, jetzt wäre es an
der Zeit, konkret ans Arbeiten zu gehen, statt nur Presse-
mitteilungen zu schreiben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Frank Steffel für die
Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu später Stunde habe ich den Eindruck: Mancher Streit
ist etwas künstlich und die Aufregung auch. Ich vermute,
dass wir uns einig sind, dass die internationale Finanz-
krise leider auch Spuren bei Verbrauchern und Bankkun-
den hinterlassen hat. Ich teile auch ausdrücklich das, was
Sie, Frau Maisch, gesagt haben, nämlich dass die Sen-
kung der Zinsen, beispielsweise durch die Europäische
Zentralbank, im Wesentlichen natürlich dazu dienen
sollte, den Mittelstand zu unterstützen, die eigenen Zins-
sätze zu senken, Anreize für Investitionen zu geben und
den Verbrauchern und Konsumenten durch günstige
Zinssätze ein Stück weit das Investieren zu erleichtern,
statt die Vorteile aus dieser Maßnahme für die Sanierung
der Banken zu verwenden, wie es momentan offenkun-
dig die meisten Institute tun.
Ich glaube, wir sind uns auch darüber einig, dass die
Banken selbst ein sehr großes Interesse daran haben
müssen, dass das verloren gegangene Vertrauen in ihre
Institutionen, aber auch in ihre Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter möglichst schnell zurückgewonnen wird;
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
denn wenige Branchen leben stärker von ihrer gesell-
schaftlichen Akzeptanz als die sensible Geldanlagebran-
che. Wenn wir einmal bei den Kleinanlegern bleiben:
Die berühmte Omi mit ihrem Sparbuch überlegt sich
schon sehr genau, ob sie der Person und dem Institut ver-
5380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Frank Steffel
(A) (C)
(D)(B)
traut. Im Übrigen hat die schwierige Entwicklung für
mich auch etwas Positives, nämlich, dass das Vertrauen
in Sparkassen sowie in Volks- und Raiffeisenbanken in
Deutschland nachhaltig gestärkt wurde.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
wie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] –
Beifall bei Besuchern auf der Tribüne)
– Ich bedanke mich für den Beifall von den Tribünen,
obwohl das, wenn ich recht informiert bin, nach der Ge-
schäftsordnung nicht gestattet ist. – Ich glaube, dass es
für die Struktur des Finanzplatzes Deutschland erfreu-
lich ist, dass wir weiterhin Privatbanken, öffentlich-
rechtliche Banken und genossenschaftliche Banken wie
die Volks- und Raiffeisenbanken haben.
Mein Kollege Flosbach ist, wie ich finde, auf sehr
viele Details auf fundierte und qualifizierte Weise einge-
gangen. Deswegen möchte ich den Grundsatz, der auch
in einigen anderen Reden thematisiert wurde und un-
streitig ist, unterstreichen: Das Anreizsystem in den
Banken ist bei den sensiblen Produkten, die dort gehan-
delt werden, nach meiner Überzeugung inakzeptabel. Es
kann nicht sein, dass ein Mitarbeiter primär entspre-
chend dem Zinsertrag seines Instituts entlohnt wird,
wenn es darum geht, einer älteren Dame, einer Rentne-
rin, für ihre Alterssicherung mehr oder weniger mündel-
sichere Anleihen oder Anlageformen zu empfehlen. Das
ist eine Fehlsteuerung. Ich hoffe, dass die Institute das
begriffen haben. Ich weiß übrigens nicht, ob man das in
letzter Konsequenz gesetzlich regeln kann.
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das haben Sie ja abgelehnt!)
– Ich komme gleich zu den Gesetzen. Lassen Sie mich
das kurz sagen.
Ich finde zwei Dinge wichtig:
Der erste Punkt: Wir dürfen es den Banken nicht zu
leicht machen und sagen: Wir von der Politik nehmen
euch die Verantwortung ab; wir erlassen Gesetze, ihr
richtet euch nach den Gesetzen, und das war es.
(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/
CSU])
Nein, ich erwarte, dass die Banken ihrer volkswirtschaft-
lichen und – das sage ich ausdrücklich – ihrer morali-
schen Verpflichtung gegenüber Konsumenten nachkom-
men, die das System und das Produkt im Einzelnen gar
nicht überblicken können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dr. Erik Schweickert [FDP])
Der zweite Punkt: Ich appelliere sehr bewusst an uns
– da kann jeder in seinem persönlichen Umfeld anfan-
gen –, dass wir die Gier von Anlegern und Konsumenten
thematisieren. Es ist eben nicht besonders geschickt, für
einen halben Prozentpunkt mehr Zinsen irgendeine mehr
oder weniger unübersichtliche Anlageform zu wählen.
Die gute alte Bundesanleihe, das gute alte Festgeld und
der gute alte Sparkredit haben auch ihre Vorteile. Des-
wegen sollten wir der deutschen Bevölkerung sagen:
Manchmal bringt ein halber Prozentpunkt weniger am
Ende wesentlich mehr Erträge und auch ruhigere
Nächte, als wenn man gierig versucht, sich mit einem
halben Prozentpunkt mehr selbst zu übertreffen. Auch
diese Mentalität müssen wir, glaube ich, in Deutschland
ändern.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dr. Erik Schweickert [FDP])
Ich will noch etwas anderes thematisieren. Vor zwei
Wochen habe ich an dieser Stelle in einer Rede zu einem
anderen Thema – Kollege Sieling wird sich vielleicht er-
innern – darauf hingewiesen, dass es für mich als Mittel-
ständler, der ich neben meinem Mandat sein darf, ganz
entscheidend ist, dass bei diesen Bankgeschäften der
verheerende Eindruck entsteht, dass man mit Geldanla-
gen mehr Geld verdienen kann als mit ordentlicher Ar-
beit. Das demoralisiert Arbeitnehmer, das demoralisiert
kleine und mittlere Unternehmen. Das zerstört mehr als
den Finanzplatz Deutschland. Das zerstört die Leis-
tungsbereitschaft von 82 Millionen Menschen, die wir in
diesem Land dringend brauchen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
Viele Dinge wurden angesprochen,
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wann kommt das
Gesetz?)
und viele Dinge wurden durchgesetzt. Wir haben die
Prospektrichtlinie verändert. Wir haben die Durchsetz-
barkeit von Ansprüchen aus Falschberatung bereits vor
einem Jahr verändert; der Kollege Flosbach hat darauf
hingewiesen. Ein wesentliches Gesetz, das den grauen
Kapitalmarkt optimieren soll und über das in diesem
Hause intensiv diskutiert wird, steht vor der Schlussab-
stimmung. Insofern bin ich zuversichtlich, dass die Bun-
desrepublik Deutschland sowohl in der Großen Koali-
tion als auch jetzt in der bürgerlich-liberalen Koalition in
diesem Punkt einmal mehr nicht nur Motor in Europa ist,
sondern im Anlegerschutz, im Konsumentenschutz auch
wieder einmal federführend in der Welt ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt kein Land, das es in den letzten drei Jahren bes-
ser gemacht hat als wir. Auch deswegen sinkt die Ar-
beitslosigkeit und geht es den deutschen Unternehmen
nach der Krise besser als vielen Unternehmen in anderen
Ländern.
Ich möchte abschließend auf eines hinweisen, das mir
wichtig ist. Ich glaube, wir sollten versuchen, die Debat-
ten der letzten Monate, die uns hier sehr intensiv be-
schäftigt haben, so zu nutzen, dass wir jetzt für Vertrauen
werben – das hat nichts mit Parteipolitik zu tun –: Ver-
trauen in unseren Finanzplatz, Vertrauen in unsere Ban-
ken, Vertrauen übrigens auch in unsere Politik, in alle
Parteien und Fraktionen. Wir müssen zeigen, dass wir
die Lehren aus der Krise gezogen haben, dass es sich
lohnt, in Deutschland zu investieren, dass es sich lohnt,
sein Geld in Deutschland anzulegen. Am Ende der Krise
gehen wir mit allen Konsequenzen gestärkt daraus her-
vor, haben weniger Arbeitslose und mehr Wohlstand als
vor der Krise.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5381
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Steffel, ich danke für den Hinweis auf unsere
Geschäftsordnung. Für diejenigen, die im Rahmen der
politischen Bildung unserer Debatte weiter folgen, ver-
weise ich auf § 41 unserer Geschäftsordnung:
Wer auf den Tribünen Beifall oder Mißbilligung äu-
ßert oder Ordnung und Anstand verletzt, kann auf
Anordnung des Präsidenten sofort entfernt werden.
Das hatte ich natürlich nicht vor, aber ich bitte darum,
dies auch denjenigen zu übermitteln, die inzwischen tur-
nusgemäß die Tribüne verlassen haben. Beifallsbekun-
dungen und Ähnliches sind nur hier im Plenum erlaubt.
Diese Geschäftsordnung haben wir uns gemeinsam ge-
geben. Wir sollten versuchen, das entsprechend durchzu-
halten.
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD-
Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Kerstin Tack (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Warum diskutieren wir heute
Abend und morgen früh über Anträge zu einem Thema,
bei dem wir merken, dass es Brisanz hat? Sie sagen, das
sei alles im Fluss, im Herbst komme Ihr Konzept. Sie
haben sich sogar selber Mut zugesprochen und haben ge-
sagt: mit Sicherheit. Wir warten auf genau dieses Kon-
zept. Wir legen alle unsere Konzepte vor, weil wir die
Hoffnung haben, dass Sie die Ansprüche, die unserer
Meinung nach zu einem richtigen und sinnvollen Anle-
ger- und Verbraucherschutz gehören, in Ihr Konzept auf-
nehmen. Das, was wir bisher gehört haben, zeigt, dass es
Lücken gibt, über die wir reden müssen.
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Die haben Sie
hinterlassen!)
– Nun legen Sie Ihr Konzept erst einmal vor; dann
schauen wir es uns an.
An vielen Stellen brauchen wir eine Stärkung derjeni-
gen, die schwächer sind und sich nicht so vieles leisten
können. Deswegen, Herr Schweickert, geht es mitnich-
ten darum, Verbraucherzentralen zu verstaatlichen, son-
dern es geht darum, Zugänge zu einer unabhängigen
Finanzberatung zu ermöglichen, vor allem für die Men-
schen, die sich eine Beratung organisieren und leisten
können müssen, die ihnen nützt, die frei zugänglich ist
und ein hohes Vertrauensgehalt hat. Deshalb muss man
insbesondere beim Anleger- und Verbraucherschutz
auch die Organisationen, nämlich die Verbraucherzentra-
len, deutlich stärken; dies wird nicht durch Verstaatli-
chung erreicht.
(Beifall bei der SPD – Dr. Erik Schweickert
[FDP]: Verbraucherpolitik ist keine Sozialpoli-
tik!)
Zur Frage der Protokollierung. Die Protokollierung ist
bereits Gesetz. Die BaFin hat ausgeführt, dass zwei Drit-
tel der Protokolle nicht ausreichend, miserabel, unver-
ständlich und den Verlauf nicht nachvollziehend sind.
Das heißt, wir brauchen eine bessere Regelung für kla-
rere Standardisierung. Genauso ist es beim Informations-
freiheitsgesetz. Es geht nicht darum, dass das zwei
Seiten hat; das ist ja schön. Viel wichtiger sind Verständ-
lichkeit, Transparenz und Klarheit. Deshalb brauchen
wir Standardisierungen, die klarmachen, dass man mitei-
nander vergleichbare Strukturen erwirbt.
(Beifall bei der SPD)
Das ist das Anliegen, das uns umtreibt. Wir reden über
Verbraucherschutz.
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das hätten Sie
besser gemacht, als Sie in der Regierungsver-
antwortung waren!)
Auch dem BMELV ist die Debatte heute Abend nicht
wichtig genug, um die Regierung zu vertreten. Die De-
batte, die wir heute Abend und morgen früh führen,
muss einer Regierung mehr wert sein, als sie lediglich
hinterher im Protokoll nachzulesen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Frau Ministerin Aigner als Verbraucherschützerin der
Nation kündigt nicht nur eine stärkere Regulierung im
Bereich der Vermittler an. Sie hat durch die Presse auch
verlauten lassen, wie wichtig ihr die Informationsblätter
sind. Es ist aber nichts gekommen.
Was hat sie zum Datenschutz gesagt? Sie hat nichts
dazu gesagt. Was hat sie zum Thema Protokollierung
vorlegen wollen?
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir haben doch
die Protokollierung, Frau Kollegin!)
Es ist nichts gekommen. Sie ist nicht einmal in die Ge-
spräche zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium
eingebunden. Wenn wir schon über Verbraucherschutz
reden, dann ist er mindestens zu beteiligen. Das machen
wir heute Abend und morgen früh. Herzlichen Dank da-
für! Ich hoffe, dass die eine oder andere hilfreiche Idee
in Ihr Konzept aufgenommen wird.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2136 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Axel
Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael
5382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) (C)
(D)(B)
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne-
ten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter
Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Brücken bauen – Grundlagenforschung
durch Validierungsförderung der Wirtschaft
nahebringen
– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Innovationslücke schließen – Zügig ein trag-
fähiges Konzept zur Stärkung der Innova-
tions- und Validierungsforschung vorlegen
– Drucksachen 17/1757, 17/1958, 17/2368 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel Knoerig
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Axel Knoerig für die Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Axel Knoerig (CDU/CSU):
Wertes Präsidium! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Union und FDP wollen in dieser Legislatur-
periode den Brückenschlag zwischen Wirtschaft und
Wissenschaft voranbringen. Das wollen wir zum einen,
um die Ergebnisse der Forschung für die Wirtschaft bes-
ser nutzbar zu machen, zum anderen aber auch, um die
Wirtschaft besser an der Bildungs- und Forschungspoli-
tik zu beteiligen.
Der zur Debatte stehende Antrag „Brücken bauen –
Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der
Wirtschaft nahebringen“ trägt genau diese Handschrift.
Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb festgehalten:
Wir werden neue Impulse für den Wissens- und
Technologietransfer und die Validierung von For-
schungsergebnissen geben.
Damit wollen wir die Gleichmacherei in Bildung und
Forschung sowie in der Wirtschaftsferne der For-
schungspolitik von SPD, Grünen und der Linken über-
winden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft,
zwischen Erfindung und Innovation, ist nur individuell
zu schlagen, indem Forschungsleistungen projektbezo-
gen geprüft werden. Die zukunftsfähige Hightech-Strate-
gie der Bundesregierung will neue Akzente setzen und
richtet sich an den fünf Bedarfsfeldern Klima und Ener-
gie, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit sowie Kommuni-
kation aus.
Mit innovativen Produkten, Technologien und Dienst-
leistungen entstehen dort neue Leitmärkte mit hohem
Wachstumspotenzial. Ein aktuelles Beispiel ist die Na-
notechnologie. Sie gilt als Schlüsseltechnologie für viele
Branchen wie Chemie, Pharmaindustrie oder die Auto-
mobilindustrie. Erfolge aus diesem Nanokosmos sind
unter anderem Nanopartikel, die Tumore bekämpfen
können. Winzige Datenspeicher ganzer DVDs passen
auf Flächen eines Centstücks.
Nanotechnologien setzen früh in der Wertschöpfungs-
kette an. Marktprognosen sprechen von einer Hebelwir-
kung von bis zu 100 Milliarden Euro für den gesamten
Weltmarkt. Ohne Validierungsförderung wären diese
Produkterfolge nicht zustande gekommen.
Damit soll erreicht werden, dass die Ergebnisse der
Forschung von Hochschulen und außeruniversitären
Einrichtungen als Quelle für neue Ideen, Verfahren, Pro-
dukte und Dienstleistungen sehr viel stärker genutzt
werden. Am 26. Mai 2010 hat das BMBF die Fördermaß-
nahme „Validierung des Innovationspotenzials wissen-
schaftlicher Forschung“ gestartet. Hier sind nun 32 Mil-
lionen Euro freigesetzt, um die Innovationslücke in der
Forschungspolitik zu schließen. Man greift auf das Wis-
sen markterfahrener Investitionsmentoren zurück. Sie
stellen sicher, dass Neuentwicklungen marktgerecht
positioniert werden können.
Einen neuen Gründergeist kann man nicht – das wis-
sen wir – über Nacht schaffen. Er erfordert ein kulturel-
les Umdenken. Die Forscher müssen aus ihrer traditio-
nellen Rolle, in ihrer Disziplin zu denken, herausgelöst
werden. Sie müssen pragmatisch zu Entwicklern, zu un-
ternehmensbezogenen Persönlichkeiten werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das duale System bei uns hat sich bewährt. Berufs-
schulbesuch und Ausbildung in einem Betrieb, das ist
eine gute Mischung. Dieses Jahr drängen über
150 000 Menschen weniger auf den Arbeitsmarkt. Des-
wegen ist es gut, auf der einen Seite die Ausbildung zu
stärken und auf der anderen Seite die bewährte For-
schungspolitik fortzuführen. Nach der schweren Finanz-
und Wirtschaftskrise ist dies wichtig, damit wir wieder
zu Wachstum kommen.
Wir haben gute Zahlen in Aussicht. Deutschland er-
wartet ein Wachstum von 2,1 Prozent. 24 Prozent der
Betriebe wollen jetzt neue Arbeitsplätze schaffen. Ende
2010 kann die Arbeitslosenzahl unter 3 Millionen fallen.
Das sind gute Zahlen für unser Land. Das ist Wirt-
schafts-, Innovations- und Forschungspolitik aus einem
Guss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch einige grundsätzliche Betrachtungen ausführen.
Wesentliche Indikatoren weisen darauf hin, dass
Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten relativ zu-
rückgefallen ist. Das heißt, wir sind zwar immer noch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5383
Axel Knoerig
(A) (C)
(D)(B)
stark, aber andere sind dabei, uns zu überholen. Wir wol-
len an die technologische Führungsposition, die wir vor
dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, an-
knüpfen; da müssen wir hin. Eines wissen wir: Sozialis-
tische Funktionäre haben noch nie Wohlstand erarbeitet,
sondern ihn bestenfalls schlecht verwaltet.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die konservativ-liberale Regierung strebt die Verbes-
serung von Rahmenbedingungen für die Erarbeitung von
mehr Wohlstand an, während der rot-rot-grüne Links-
block für immer mehr Umverteilung von immer weniger
Wohlstand steht.
(Lachen des Abg. Harald Koch [DIE LINKE] –
Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist ein
Gruselkabinett!)
Einen Hoffnungsschimmer hat es gestern gegeben, als
die rot-rot-grüne Zusammenarbeit nicht so richtig klap-
pen wollte; das lässt für Nordrhein-Westfalen hoffen.
Sollte dieses Trio infernale doch eines Tages Deutsch-
land regieren,
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Gott
bewahre!)
wird ein weiterer, zumindest relativer Niedergang die si-
chere Konsequenz sein.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
– Ja, Sie lachen. – Wer wie die 68er-Bewegung gute
Werte verneint und mit den Erben des totalitären DDR-
Staatssozialismus zusammenarbeitet, der demontiert die
strukturellen Grundvoraussetzungen für Frieden, Frei-
heit und Wohlstand noch stärker.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Selbst das
müssen Sie ablesen!)
– Ja, lieber Kollege. Ein gutes Studium hört bekanntlich
nie auf. Sie würden nicht so kräftig dazwischenrufen,
wenn Sie nicht ordentlich zugehört hätten.
Damit komme ich zum Schluss. Die heute zur Diskus-
sion stehende Validierungsförderung ist ein kleiner, aber
wichtiger Baustein für unser Land. Wir können als roh-
stoffarmes Land den noch vorhandenen Wohlstand nur
halten, wenn wir um das, was wir teurer sind, auch bes-
ser sind. Wohlstand entsteht nicht durch sozialistische
Umverteilung, sondern durch Innovation und Fleiß. Wir
können vermelden, dass die Innovationspolitik der
CDU/CSU-FDP-Regierung gegriffen hat, auch dank ei-
ner vorausschauenden und bewährten Bildungs- und
Forschungspolitik von Frau Bundesministerin Professor
Annette Schavan und ihren beiden Parlamentarischen
Staatssekretären, Thomas Rachel und Helge Braun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion.
René Röspel (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Knoerig, Sie sind ja noch relativ
neu im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung. Auch im Rückblick auf die letzten
Jahre muss ich feststellen, dass wir da eigentlich immer
einen recht sachlichen Umgang gepflegt und uns an den
Inhalten orientiert haben. Ich bin ein bisschen erstaunt,
dass Sie Ihren Beitrag hier – wir wollen eigentlich über
Validierungsforschung reden; das habe ich so verstan-
den; das steht jedenfalls so in der Tagesordnung – gleich
mit Begriffen wie „Gleichmacherei“ und „sozialistische
Umverteilung“ begonnen haben. Vielleicht sollten wir so
etwas zumindest zu so später Stunde einfach einmal bei-
seitelegen – es sind ja nicht mehr so viele Zuschauer
da – und tatsächlich über das reden, worüber wir hier
wirklich sprechen sollen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Wenn man sich die Bilanz, was Technologiezuwachs
in Deutschland anbelangt, der letzten elf Jahre – bei Rot-
Grün beginnend, in die Große Koalition mündend – an-
schaut, ist sehr leicht von der Hand zu weisen, dass das
Schreckgespenst, das Sie hier gerade aufgezeigt haben,
überhaupt aufgetreten ist und jemals auftreten wird.
Wir haben damals in der rot-grünen Regierung begon-
nen – übrigens in Fortsetzung der Politik der schwarz-
gelben Regierung –, die Nanotechnologie weiterzuent-
wickeln. Wir haben einen gewaltigen Schub an neuer
Technologie in den Bereichen der Energieeffizienz, der
erneuerbaren Energien und anderer Energien auf den
Weg gebracht. Wir brauchen uns also überhaupt nicht zu
schämen. Mit Blick auf den Vorwurf der Technikfeind-
lichkeit, den Sie immer wieder zu konstruieren versu-
chen, kann ich nur an den Bundespräsidenten erinnern,
der in meinem Wahlkreis geboren wurde und einmal
ganz klug gesagt hat:
Wer mit dem Zeigefinger auf andere Leute zeigt,
sollte nie vergessen, dass drei Finger seiner Hand
auf ihn selbst zeigen.
Das war ein kluges Wort von Gustav Heinemann.
Wir reden über Validierungsforschung. Was ist das?
Wir haben in Deutschland in den letzten Jahren alle
gemeinsam eine exzellente Forschungsinfrastruktur ge-
schaffen. Wir haben eine sehr gute angewandte
Forschung. Wir sind im Automobilbereich, im Chemie-
bereich und im pharmazeutischen Bereich sehr gut. Wir
haben eine hervorragende Grundlagenforschung; daran
sind die Max-Planck-Gesellschaft und andere beteiligt.
Sicherlich gibt es im universitären Bereich Defizite.
So gut wir aber in der Theorie häufig sind, so groß ist
unser Problem – das haben wir auch von der Experten-
kommission Forschung und Innovation immer wieder
und zu Recht zu hören bekommen – bei der Umsetzung
der Theorie in die Praxis. Wie also gelingt es uns besser,
Forschungsergebnisse tatsächlich in Produkte umzuset-
zen, die kommerziell anwendbar, also kommerzialisierbar
sind? Das ist genau der Punkt, an dem die Validierungs-
forschung ansetzt: Wie schaffen wir es, Forschungser-
gebnisse zu bewerten und daraus Produkte zu machen?
5384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
René Röspel
(A) (C)
(D)(B)
Wir befinden uns auch da in einer guten Tradition.
Noch zur Zeit der Großen Koalition haben wir uns zu-
sammengesetzt, dieses Thema aufgenommen und nicht
nur mit Fraktionskollegen von Ihnen, sondern auch mit
dem Ministerium sehr intensive Diskussionen geführt,
wie wir im Bereich der Validierungsforschung weiter-
kommen.
Seien Sie mir nicht böse – es ist nicht abwertend ge-
meint –; aber ich glaube, Sie haben tatsächlich noch
nicht den Kern des Problems verstanden, über das wir
reden und um das wir uns kümmern sollten. Validie-
rungsforschung heißt nämlich, recht schnell, gut und zu-
verlässig, möglicherweise auch sehr hart zu beurteilen:
Ist das Forschungsergebnis eines Forschers wirklich ge-
eignet, kommerzialisiert zu werden oder nicht? Dafür ist
die Maßnahme „VIP“ des BMBF – Sie haben sie ange-
führt – einschließlich Ihres begleitenden Antrags, der im
Prinzip nichts anderes als den Inhalt der BMBF-Maß-
nahme wiedergibt, wirklich nicht geeignet. Um das zu
belegen, will ich Ihnen zwei Beispiele nennen:
Erstens. Der Forscher soll sich selbst einen Innova-
tionsmentor suchen, also jemanden, der das Projekt be-
gleitet. Das hört sich zunächst einmal gut an, führt aber
möglicherweise zu zwei unterschiedlichen Problemen.
Sie zwingen einen Forscher oder eine Forscherin, der
oder die sich jahrelang exzellent mit Grundlagenfor-
schung oder anderem befasst hat, jetzt gute Ergebnisse
hat und sich eigentlich nur mit Forschung befassen will,
sich einen Innovationsmentor zu suchen, jemanden, der
dazu geeignet ist, wirtschaftlich zu beurteilen, ob ein
Forschungsergebnis vernünftig zu nutzen ist oder nicht.
Das heißt, Sie verlangen von einem Forscher, der mögli-
cherweise nichts anderes will als forschen, dass er sich
erst einmal einen Experten sucht, der in der Lage ist, zu
beurteilen, ob sein Projekt, seine Forschungsergebnisse
kommerzialisierbar sind. Ich sage Ihnen: Daran wird der
Forscher im Regelfall gar nicht viel Interesse haben; er
will sich nicht auf diese Suche machen.
Es kann aber auch ein zweites Problem auftreten. Es
kann sein, dass der Forscher im Rahmen von Ausgrün-
dungen bereits Kontakte zu jemandem in der Wirtschaft
hat, der sagt: Ich kann mir vorstellen, vielleicht einmal
dein Projekt zu fördern, aber ich werde es nicht finanzie-
ren. – Dann hat der Forscher jemanden, der das Projekt
kennt; er kann ihn auch als Innovationsmentor benen-
nen. In diesem Moment bricht aber eine der zentralen
Voraussetzungen für eine vernünftige Validierung, für
eine Bewertung, ob das Forschungsergebnis kommerzia-
lisierbar ist oder nicht, in sich zusammen. Die Neutralität
und Objektivität des Innovationsmentors ist nämlich
nicht mehr gegeben, weil er ein Interesse hat, dass es mit
diesem Forschungsprojekt irgendwie weitergeht, mögli-
cherweise mithilfe einer öffentlichen Förderung. Das
sind zwei Probleme, die wir den Forschern nicht zumu-
ten wollen.
Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel im Zusammen-
hang mit den Leitlinien der VIP-Fördermaßnahme. Sie
verlangen von den Forschern zunächst einmal, die euro-
päische Forschungsförderung sowie die Förderung durch
den Bund und durch die Länder daraufhin zu untersu-
chen, ob es nicht irgendein Programm gibt, das geeignet
ist, eine finanzielle Förderung für dieses Projekt auf den
Weg zu bringen. Herzlichen Glückwunsch! Wenn Sie
von einem Forscher verlangen, erst einmal alle Möglich-
keiten der Förderung zu überprüfen, dann wird er sicher-
lich in 50 Prozent der Fälle das Handtuch werfen. Er
wird dann von Ihnen – das wird in den Richtlinien des
BMBF erwartet – auch noch gezwungen bzw. es wird
vorausgesetzt, dass er den Nachweis führt, dass er keine
andere Möglichkeit der Förderung bekommen konnte.
Erst dann kann er sich auf die Suche nach einem Innova-
tionsmentor begeben und möglicherweise eine Validie-
rungsförderung erhalten. Wenn das keine Bürokratie ist,
wenn das nicht Behinderung von Validierung ist, dann
weiß ich es auch nicht.
(Beifall bei der SPD)
Der Antrag der SPD stellt eine Alternative dar. Mit
ihm schlagen wir den richtigen Weg ein. Ich will noch
einmal sagen, worum es im Kern geht. Es geht nicht da-
rum, zu beurteilen, ob es sich um exzellente Grundlagen-
forschung handelt oder nicht. Das ist nicht die Frage.
Vielmehr geht es darum, ob sie kommerzialisierbar ist.
Das heißt, es kann sein, dass jemand hervorragende, no-
belpreisverdächtige Forschung betreibt, der Validierer
aber sagen muss: Das ist super, aber nicht kommerziali-
sierbar. Umgekehrt kann es genauso sein: Bei jeman-
dem, der eher durchschnittliche, nicht aufregende For-
schung betreibt, sagt ein Validierer: Mit dem richtigen
Anstoß und einer vernünftigen Begleitung werden wir
daraus ein innovationsfähiges und vermarktbares Pro-
dukt machen.
Darum geht es: Wir brauchen jemanden aus einer un-
abhängigen Validierungsagentur – das ist der Vorschlag,
den die SPD macht –, einen Profi, der dafür bezahlt wird
und der nicht ehrenamtlich tätig ist wie ein Pate. Dieser
kann klar entscheiden: Das ist ein Projekt, das umgesetzt
werden kann, das ist ein Forschungsprojekt, das wir
kommerzialisieren können. Wenn das nicht der Fall ist,
dann muss er eine harte Entscheidung treffen. Dann wird
die Forschung zwar fortgesetzt, aber es bleibt bei der
Forschung. Das ist der Ansatz von Validierungsfor-
schung. Das bestätigen Ihnen viele Wissenschaftsorgani-
sationen, wenn Sie mit ihnen Gespräche führen. Sie soll-
ten auf sie hören.
Wir glauben, dass das von Ihnen vorgeschlagene In-
strument versanden wird, da es keinen großen Unter-
schied zur üblichen Projektförderung darstellt, die ver-
nünftigerweise seit Jahren durchgeführt wird. Es wird
nicht dazu führen, dass mehr Forschungsprojekte in
kommerzialisierbare Produkte umgesetzt werden. Fol-
gen Sie unserem Weg. Er enthält weniger Bürokratie,
und er zeigt den Forschern eine vernünftige Perspektive
auf.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Martin Neumann für die
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5385
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Röspel, ich
habe Ihnen intensiv zugehört
(René Röspel [SPD]: Das ist gut!)
– was aus dem einen oder anderen Vorschlag wird, wird
man sehen –, aber ich bin anderer Auffassung. Ich bin
nämlich der Meinung, dass man unseren Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern vieles zutrauen kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Florian Pronold [SPD]: Das stimmt!)
Ich selbst habe viele Jahre auf dem Gebiet der For-
schung gearbeitet. Das zentrale Kriterium war immer:
Die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler muss
über den Inhalt der Forschungsarbeit hinaus in der Lage
sein, das eine oder andere auch auf dem Weg, den wir
beschließen werden, selbst zu machen.
Innovationen sind der Schritt in die Zukunft. Ideenge-
ber für diesen Prozess sind viele fleißige Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler. Sie sind es, die für uns
Durchbrüche in Forschung und Entwicklung erzielen.
Für diese große Aufgabe brauchen sie unsere Unterstüt-
zung;
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
denn wir wissen – das haben Sie richtig gesagt –, dass in
Deutschland zwischen den wissenschaftlichen Ergebnis-
sen und der Möglichkeit, diese wirtschaftlich zu verwer-
ten, leider eine große Lücke klafft – international gibt es
andere Wege –, die wir endlich schließen müssen.
In den vergangenen Jahren gab es viele Gutachten
und Expertisen, die auf den erheblichen Bedarf an öf-
fentlicher Validierungsförderung aufmerksam gemacht
haben. Es wurde deutlich, dass es vielen Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern an nötigen finanziellen
Ressourcen fehlt – darum geht es vor allen Dingen, das
Know-how ist das andere Problem, das Sie angespro-
chen haben –, das wirtschaftliche Potenzial ihrer Ideen
zu überprüfen und damit zu validieren, das heißt, zu
überführen. Wir wollen endlich eine Brücke zwischen
Wissenschaft und Wirtschaft schlagen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir wollen die wichtigen Akteure auf diesen Gebieten
zusammenführen und die klaffende Lücke endlich
schließen.
Mit unserem Antrag „Brücken bauen – Grundlagen-
forschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft
nahebringen“ fordern wir die Bundesregierung auf, ein
Konzept zur Validierungsförderung vorzulegen. Ein sol-
ches Förderprogramm liegt nun vor und wird im Jahr
2011 umgesetzt. Dieses Programm soll Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler motivieren, die Ergebnisse
und Erkenntnisse auf ihre Markttauglichkeit hin zu über-
prüfen und dann endlich in die Wirtschaft zu überführen.
Die Fördermaßnahme wird – davon bin ich überzeugt –
der Wissenschaft konkrete Unterstützung, Hilfestellung
und Nachweise für die wirtschaftliche Verwertbarkeit
von Forschungsergebnissen geben. Viele ähnliche – auch
internationale – Aktivitäten zeigen, dass dies möglich
sein wird.
Wir fördern – es ist wichtig, das an der Stelle hervor-
zuheben – Projekte aller Forschungsbereiche, die tech-
nisch machbar sind und die ihr wirtschaftliches Potenzial
unter Beweis stellen. Entscheidend dafür – das ist der
Punkt, den Sie angesprochen haben – sind eine Mach-
barkeitsstudie bzw. eine Machbarkeitsuntersuchung,
technische Weiterentwicklung, Erschließung neuer An-
wendungen und natürlich am Ende dann auch eine ge-
wisse Demonstrationsentwicklung.
Bedeutsam und außerordentlich wichtig bei diesen
Förderprogrammen ist die Technologieoffenheit. Darauf
legen wir ganz großen Wert.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
René Röspel [SPD]: Wir auch!)
Denn nur durch die Öffnung wird es möglich werden
– das muss man noch einmal ganz klar hervorheben –,
alle Potenziale der Grundlagenforschung zu nutzen. Na-
türlich können auch noch nicht etablierte Forschungsfel-
der, von denen es eine ganze Menge gibt, von dieser För-
derung profitieren.
Eines ist doch völlig klar an dieser Stelle: Wir können
heute noch nicht genau wissen, in welchen Bereichen in
den nächsten Jahren Innovationen entstehen werden. Die
Ausgrenzung von Forschungsbereichen ist daher nicht
zukunftsweisend und kann uns später, glaube ich, teuer
zu stehen kommen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, ich spreche jetzt alle Frak-
tionen an. Ich freue mich, dass die Idee der Validierungs-
förderung auch bei Ihnen auf fruchtbaren Boden fällt
und Sie dieses Vorhaben unterstützen. Dass in Bezug auf
Detailfragen Meinungen auseinandergehen – darüber
können wir in Zukunft auch reden –, ist bei solchen Pro-
zessen nichts Neues. Sie stimmen mir aber sicherlich zu,
Herr Röspel, dass die Kernbotschaft klar ist: Wir wollen
eine Innovationsbewegung aus der Wissenschaft heraus
entstehen lassen – mit flachen Strukturen, kurzen An-
tragswegen, schnellen Entscheidungswegen und ohne
den Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Devise lautet dabei: einfach, schnell und gut.
Ich bedanke mich.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Die beiden folgenden Rednerinnen – Petra Sitte und
Krista Sager – haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Damit kann ich dem Kollegen Philipp Murmann von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
1) Anlage 66
5386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir haben heute Morgen über die aktuelle wirt-
schaftliche Situation in Deutschland gesprochen und
sind, glaube ich, übereingekommen, dass wir uns auf
dem Weg aus der sogenannten realwirtschaftlichen Krise
befinden. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Investitionen
ziehen an, Unternehmen machen wieder mehr Umsatz
und stellen sogar neue Leute ein. Dazu haben verschie-
dene Faktoren beigetragen: Investitionen wurden ver-
schoben, die jetzt natürlich nachgeholt werden. Der ak-
tuelle Euro-Kurs spielt dabei sicherlich auch eine Rolle.
Der Euro ist wieder – im Gegensatz zu den Höhenflügen
zuvor – auf einem Niveau angekommen, das man als
Unternehmer eher als normal empfindet. Aber es gibt
eben auch viele Unternehmen – man sieht das –, die ins-
besondere in Entwicklung investiert haben. Diese kön-
nen jetzt den Aufschwung nutzen und zusätzliche Um-
sätze generieren.
Ich denke, das muss man auch dazu sagen: Auch un-
ser Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat einen Stein in
diese Mauer gelegt.
(René Röspel [SPD]: Reine Hypothese!)
Wir haben nämlich nicht nur die Arbeitnehmerfamilien
entlastet, sondern auch im Unternehmensbereich einige
Weichen gestellt, was dazu beiträgt, dass die Unterneh-
men wieder investieren. Diesen Erfolg sollte man aner-
kennen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
René Röspel [SPD]: Diesen Glauben lassen
wir Ihnen!)
Die Frage ist nun: Wie können wir diese Entwicklung
nachhaltig gestalten? Die Stichworte dazu sind gefallen:
Forschung und Entwicklung, Innovation, Technologie.
Wir wollen diese Dinge voranbringen und Wirtschaft
und Wissenschaft vernetzen. Genau da setzt der Antrag
zur Validierungsforschung an. Wir wollen damit auch
das schon genannte Programm, welches das Ministerium
erfreulicherweise so schnell auf den Weg gebracht hat,
flankieren und noch weiter unterstützen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was bedeutet Validierung? Kennen Sie den Lotus-
effekt für selbstreinigende Fassaden? Oder die Erkennt-
nisse über die Papillomviren, denen wir die Impfung ge-
gen Gebärmutterhalskrebs verdanken? Oder den GMR-
Effekt, der die Basis für die Datenspeicherung auf Fest-
platten war? Das alles sind Ergebnisse von Grundlagen-
forschung. Sie alle haben das Potenzial für sehr gute An-
wendungen. Um diese Anwendungen früh zu erkennen,
bedarf es besonderer Anstrengungen. Hier wollen wir
ansetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1996, Sir
Harold Kroto – nicht jeder von uns wird ihn kennen –,
entdeckte die C60-Fullerene, ein Material, das 100-mal
stärker als Stahl und nur ein Sechstel so schwer wie
Stahl ist.
(René Röspel [SPD]: Er hat sie erfunden!)
Das Projekt war in England als praktisch irrelevant ein-
gestuft und nicht gefördert worden. Kroto führte dann et-
was verbittert aus – ich zitiere –:
Alle angewandten Forschungsstrategien sind zweit-
rangig. Wenn man genau weiß, was man erforschen
will, kann man mit Sicherheit nichts grundlegend
Neues entdecken.
(René Röspel [SPD]: Er hat sie erfunden! Ent-
deckt hat sie der Architekt Fuller!)
Damit hat er ein Problem angesprochen, das wir auch
in der Validierungsforschung lösen wollen. Es gibt zwei
unterschiedliche Kulturen – Herr Röspel, auch Sie haben
das beschrieben –: Der Forscher ist an seiner Forschung
interessiert. Das soll er auch sein. Er soll Experimente
durchführen und Hypothesen aufstellen. Erfolgreich ist
er dann, wenn er eine gute Veröffentlichung in einer an-
gesehenen Zeitschrift vorzuweisen hat und von seinen
Kollegen dafür Anerkennung erfährt. Aber wir brauchen
auch denjenigen, der die Frage stellt: Welche neuen Pro-
dukte und Anwendungen kann man daraus generieren?
Das ist ein anderer Blickwinkel auf das gleiche Projekt,
den wir ebenfalls einnehmen müssen. Dafür ist das Vali-
dierungsprojekt genau richtig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diese Anwendungspotenziale zu erkennen, ist für un-
sere Volkswirtschaft von sehr großer Bedeutung. Denn
wozu forschen wir, wenn wir die Anwendungen, die sich
generieren lassen, nicht auch in volkswirtschaftlichen
Nutzen umsetzen? Wir brauchen beides: Forschergeist,
aber auch Unternehmergeist. Beides müssen wir weiter
fördern. Die Validierungsforschung soll die Schnittstelle
zwischen diesen beiden Sichtweisen sein.
Die Konkurrenz wächst. Viele neue Entwicklungen
stammen nicht mehr aus den klassischen Industrielän-
dern, also aus Amerika oder den europäischen Staaten,
sondern Asien spielt im Wettbewerb um Talente, um
Technologien und natürlich auch um neue Märkte eine
immer größere Rolle.
In Deutschland sind wir weiterhin gut. Der Erfinder-
geist ist ungebrochen. 2009 wurden 47 859 Patente aus
Deutschland beim Deutschen Patentamt angemeldet.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
– Ich denke, das ist einen Applaus von allen wert. –
(René Röspel [SPD]: Aber wir alle können
nichts dafür!)
Aber viel zu wenige Patente erreichen die Inkubations-
phase; hier liegt das Problem. Auch im dritten EFI-Gut-
achten wurde festgestellt, dass viele erfolgversprechende
Forschungsergebnisse gerade aus dem öffentlichen Be-
reich nicht effektiv vermarktet werden. Auch hierfür ist
die Validierungsförderung wichtig.
Ich möchte noch ganz kurz auf den SPD-Antrag zu
sprechen kommen. Erst einmal stelle ich fest – auch Sie
haben das beschrieben, Herr Röspel –: Wir sind uns im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5387
Dr. Philipp Murmann
(A) (C)
(D)(B)
Grunde einig, dass dieses Thema wichtig ist und wir es
fördern müssen.
(René Röspel [SPD]: Das ist ja schon mal
gut!)
– Ja, das ist schon einmal gut. – Jetzt kommt es darauf
an: Wie macht man das am besten? Sie schlagen einen
Fonds vor. Ich denke, auch darüber kann man reden.
Aber eine Zentralstelle, die darüber wacht, wie validiert
wird, halte ich für nicht sinnvoll. Ich bin eher der Mei-
nung, dass dadurch Bürokratie geschaffen wird. Sie
behaupten das von unseren Vorschlägen. Ich glaube al-
lerdings, das Modell, das Sie vorschlagen, ist bürokratie-
lastiger als unseres.
(René Röspel [SPD]: Lieber Bürokratie für
den Mentor als für den Forscher!)
Wenn man Ihren Antrag liest, stellt man außerdem fest,
dass Sie sich an der einen oder anderen Stelle widerspre-
chen.
(Florian Pronold [SPD]: Was? Das kann nicht
sein!)
Insofern bin ich der Meinung, dass man darüber noch
einmal reden muss.
Ich komme zum Schluss auf den GMR-Effekt zurück,
(René Röspel [SPD]: Wofür steht denn die
Abkürzung?)
der übrigens vom deutschen Professor Grünberg am For-
schungszentrum Jülich entdeckt wurde, wofür er 2007
den Nobelpreis für Physik erhielt. Welche Anwendungen
sich daraus ergeben könnten, haben die Amerikaner zu-
erst festgestellt. So wurde IBM in diesem Bereich zum
Marktführer. Meine Damen und Herren, so etwas sollte
uns nicht allzu häufig passieren. Deswegen betreiben wir
Validierungsförderung. Ich hoffe, wir haben damit gro-
ßen Erfolg. Auch dieses Projekt wird natürlich ständig
überprüft. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit an diesem wunder-
baren Sommerabend und wünsche uns allen noch eine
gute Diskussion.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/2368.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1757
mit dem Titel „Brücken bauen – Grundlagenforschung
durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahebrin-
gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1958 mit dem Titel „Innovationslücke
schließen – Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung
der Innovations- und Validierungsforschung vorlegen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
UN-geführte Untersuchung des israelischen
Angriffs auf den Gaza-Hilfstransport – Sofor-
tige Aufhebung der Blockade
– Drucksache 17/2259 –
b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären –
Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nah-
ost-Friedensprozess unterstützen
– Drucksache 17/2328 –
Nach einer interfraktionelle Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass wir alle Veranlassung haben, den Menschen
zu danken, die sich für die Aufhebung der Blockade ein-
gesetzt und sich an der Aktion „Free Gaza“ beteiligt ha-
ben. Sie haben etwas hinbekommen, das wir nicht ge-
schafft haben. Sie haben eine Situation herbeigeführt, in
der die Blockade möglicherweise aufgehoben wird und
ein Stück weit Hoffnung in Gaza einzieht. Ich finde, das
ist ein bedeutender Fortschritt. Deswegen bin ich dank-
bar. Das gilt auch für meine Kolleginnen Annette Groth
und Inge Höger, die sich an dieser Aktion beteiligt ha-
ben. Ich finde, da kann man durchaus großmütig sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Uns allen ist klar, dass diese Blockade völkerrechts-
widrig ist, dass sie in den Beschlüssen der UNO kritisiert
wird, dass sie eine Entmündigung und Entwürdigung der
Menschen in Gaza herbeigeführt hat und dass sie ihnen
die Luft zum Atmen genommen hat. Ich sage ausdrück-
lich: Diese Blockade hat auch eine Schattenwirtschaft
und einen Schwarzmarkt in Gaza hervorgerufen und hat
den Terrorismus gestärkt und nicht geschwächt. Das sind
5388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Wolfgang Gehrcke
(A) (C)
(D)(B)
einfach die nüchternen Ergebnisse. Zu diesen kommt
man, wenn man Bilanz zieht.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Blockade ist so etwas wie die Fortsetzung des Krie-
ges. Das kann man einfach nicht akzeptieren.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt ist etwas Besonderes passiert, das ich hier gewür-
digt wissen will. Der Antrag der vier Fraktionen kann
nun zu einem wirklich interfraktionellen Antrag gemacht
werden. Wir werden diesem Antrag zustimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das heißt, dass zum ersten Mal in der Nahostfrage alle
Fraktionen des Hauses einen gemeinsamen Antrag ha-
ben.
(Beifall bei der LINKEN)
Dieses Signal wird mit Sicherheit auch im Nahen Osten,
insbesondere in Israel und Palästina, wahrgenommen
werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Diese Gewichtung muss man verstehen. Ich will gar
nicht über Details reden. Der Antrag enthält jedenfalls
zwei klare Forderungen, denen ich nur zustimmen kann.
Erstens wird gefordert, eine internationale Untersuchung
einzuleiten. Zweitens wird die Forderung erhoben, einen
Weg zur Aufhebung der Blockade zu finden.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das steht da
alles drin!)
– Warten Sie doch ein bisschen ab! – Wenn das die ge-
meinsame Position des Hauses ist, dann kann man rela-
tiv viel erreichen.
Für mich ist es ein Rätsel, wie die israelische Regie-
rung so dauerhaft und nachhaltig gegen die Interessen
des eigenen Landes handeln kann.
(Beifall bei der LINKEN)
Dieses Signal ist wichtig, um zu einer politischen Um-
kehr zu kommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Mit Sicherheit – das wird keiner bestreiten – werden die
Sicherheitsinteressen Israels zu beachten sein. Ich
möchte, dass meine Freunde in Israel wieder ins Café
gehen können, ohne Angst vor Selbstmordanschlägen
haben zu müssen. Ich möchte, dass sich meine Freunde
in Palästina, im Westjordanland und in Gaza endlich im
eigenen Land frei bewegen können. Das ist doch nicht
zu viel verlangt.
(Beifall bei der LINKEN)
Eine Politik in diese Richtung zu öffnen, kann doch nur
im Interesse des ganzen Hauses sein.
Wir müssen klarmachen und uns wünschen, dass in
diesem Friedensprozess möglichst alle politischen
Kräfte einbezogen werden, damit er stabil ist.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Reden Sie mit
Ihren Freunden von der Hamas!)
Wir haben heute – Kollege Stinner und andere waren da-
bei – sehr viele Ratschläge von den Kollegen der Verein-
ten Nationen erhalten, wie man einen solchen Friedens-
prozess fördern und durchsetzen kann.
Ich will zum Schluss noch eine Bitte äußern, die sich
mehr an die Politiker in Israel und Palästina richtet. Ich
bitte, dass die gemeinsame, nicht einmütige, sondern
einstimmige Entscheidung dieses Hauses nicht als anti-
israelisch und nicht als antipalästinensisch interpretiert
wird, sondern so genommen wird, wie sie von den ver-
schiedenen Fraktionen hier gemeint ist: als ein Versuch,
endlich einen unwürdigen und den Frieden gefährdenden
Zustand zu beenden. Das ist der Gestus dieser Resolu-
tion, und ich bin froh, dass wir den gemeinsam so tragen
können.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Hilfsaktionen für Gaza, die heute Gegen-
stand der Debatte sind, waren ersichtlich nur der äußere
Rahmen für das eigentliche Ziel dieser Aktion, nämlich
die israelische Blockade zu durchbrechen. Es ist auch
unstrittig, dass deswegen das Angebot abgelehnt worden
ist, die Ladung auf dem Landweg nach Gaza zu bringen.
Insoweit reden wir nicht von einer humanitären, sondern
von einer in erster Linie zu propagandistischen Zwecken
veranstalteten Aktion. Es ging Ihnen nicht in erster Linie
um die Menschen in Gaza, sondern es ging um die Kon-
frontation mit Israel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es! Sehr
richtig!)
Auch wenn vonseiten der Linken Zustimmung zu
dem fraktionsübergreifenden Antrag signalisiert wird,
muss schon erwähnt werden, dass die Linke aktiv die
Provokation durch sogenannte Friedensaktivisten unter-
stützt hat, die mit Waffen ausgestattet waren und islamis-
tischen Terrorgruppen zuzurechnen sind.
(Zurufe von der Linken)
Das passt ins Bild, nachdem Vertreter der Linken immer
wieder die Solidarität mit der radikal-islamistischen His-
bollah und der Hamas bekundet haben.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!)
Das gehört zur ganzen Wahrheit dazu.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Lesen Sie
mal Ihren Antrag!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5389
Thomas Silberhorn
(A) (C)
(D)(B)
Deswegen sage ich ganz deutlich: Bevor Sie vonsei-
ten der Linken sich auf das Völkerrecht berufen, müssen
Sie sich schon die Frage stellen, welchen Aktionen Sie
hier den Mantel des Gutmenschentums umhängen wol-
len. Die Linke steht in einer bis heute ungebrochenen
Tradition zur SED – zur Partei des Mauerbaus, des
Schießbefehls, des Missbrauchs und der Missachtung
des Völkerrechts.
(Widerspruch bei der LINKEN – Mechthild
Rawert [SPD]: Langsam wird es aber langwei-
lig! – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Darum geht es heute nicht!)
Und dass die ach so friedliebende DDR ein Unrechts-
staat war, wird bis heute von Ihnen ausdrücklich geleug-
net. Deswegen sage ich ganz deutlich: Ihnen fehlt in die-
ser Debatte jegliche Legitimation.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Mechthild Rawert [SPD]: Langweilig!)
Ich darf Sie erinnern, was Gregor Gysi zum 60. Jah-
restag der Gründung Israels im April 2008 erklärt hat. Er
hat Kritik an der einseitigen Parteinahme der Linken im
Nahost-Konflikt geübt, und er hat erklärt, dass Solidari-
tät mit Israel zur deutschen Staatsräson gehöre.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja, und?)
Davon ist bis heute bei Ihnen wenig übriggeblieben.
Denn wenn man dieser Auffassung ist, dann muss das
Konsequenzen haben. Wenn die Sicherheit und das Exis-
tenzrecht Israels Teil der deutschen Staatsräson sind,
dann hat das die Konsequenz, dass weder die Öffnung
des Gazastreifens noch eine weitergehende Friedenslö-
sung mit den Palästinensern zulasten der Sicherheit Is-
raels gehen darf.
Allerdings müssen wir durchaus die Frage stellen, wie
das israelische Sicherheitsinteresse zu definieren ist, was
genau der Sicherheit Israels dient. Mit Blick auf einige
der Handlungen der israelischen Regierung in den letz-
ten Monaten kann man sich des Eindrucks nur schwer
erwehren, dass manche in dieser Regierung israelische
Sicherheitsinteressen fundamental anders definieren, als
das etwa die Mitgliedstaaten der Europäischen Union,
weite Teile der internationalen Gemeinschaft und sogar
ein nicht unerheblicher Teil der israelischen Gesellschaft
selbst tun.
Das birgt durchaus zwei nicht zu unterschätzende Ge-
fahren: Zum einen kann es eine Eskalation dieses Kon-
flikts geben. Zum anderen liegt darin eine mögliche Be-
lastung auch für die Koalition gegen das iranische Atom-
programm und die iranischen Vormachtbestrebungen in
dieser Region, die auch Israel als die größte Gefährdung
für die regionale Stabilität betrachtet.
Ich meine, dass die israelische Regierung gespürt hat,
dass sie zuletzt bei mehreren Gelegenheiten selbst engste
Freunde geradezu vor den Kopf gestoßen und zum Teil
sehr schwerwiegende Fragen aufgeworfen hat. Das be-
gann bei der Ankündigung während des Besuchs des
US-Vizepräsidenten Biden, in Ostjerusalem neue Sied-
lungen zu bauen, reichte über die Behandlung des türki-
schen Botschafters entgegen allen diplomatischen Geflo-
genheiten und ging hin bis zu dem Vorgehen gegen die
Gaza-Solidaritätsflotte.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Vergessen
Sie Kollege Niebel nicht!)
Immerhin sind Anzeichen für ein Umdenken erkenn-
bar. Die israelische Regierung hat beschlossen, eine unab-
hängige Untersuchungskommission zum Einsatz gegen
diese Flotte einzurichten. Der Bundestag unterstützt die
Forderung des UN-Generalsekretärs nach einer internatio-
nalen Untersuchung des Einsatzes in seiner fraktionsüber-
greifenden Resolution ausdrücklich. Wir brauchen in der
Tat eine rückhaltlose und objektive Aufklärung dieser
Vorgänge.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Präsident, da sich meine Redezeit dem Ende zu-
neigt, darf ich darauf hinweisen, dass noch weitere sie-
ben Minuten für unsere Fraktion ausstehen, die ich gerne
für mich in Anspruch nehmen würde, weil mein Kollege
nicht anwesend ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie müssen sie nicht unbedingt in Anspruch nehmen;
denn der andere Redner Ihrer Fraktion, der Kollege
Mißfelder, ist erschienen.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Ach, er ist hier; wunderbar.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie müssen also nicht filibustern.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich würde gerne noch Herrn
Mißfelder hören!)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Das ist mir leider entgangen.
Ich darf dann abschließend nur noch ausführen, dass
in einem weiteren Punkt ein Umdenken Israels erkenn-
bar ist, nämlich durch das Angebot Israels, die Positiv-
liste durch eine sogenannte Negativliste zu ersetzen, also
dadurch, nicht mehr zu bestimmen, welche Güter im
Einzelnen in den Gazastreifen hineindürfen, sondern
umgekehrt festzulegen, was ausdrücklich nicht hinein-
darf. Das ist ein wichtiger und konstruktiver erster
Schritt, um hier weiterzukommen.
Ich meine, dass wir sehr deutlich sehen müssen, dass
eine dauerhafte Friedenslösung auch im Interesse Israels
liegt. Alle Komponenten für eine Verhandlungslösung
liegen seit Jahren auf dem Tisch. Jetzt tut der politische
Wille not, tatsächlich zu Ergebnissen zu kommen. Wenn
man die Lage auf der palästinensischen Seite betrachtet,
wird deutlich, dass die Situation dafür im Moment güns-
tig ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie sollten Ihrem Kollegen nicht die
Redezeit wegnehmen.
5390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Ich komme zu meinem letzten Satz. – Ich denke, dass
dieses Zeitfenster, das sich durch die Konstellation vor
Ort bietet, jetzt genutzt werden sollte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das wird aber angerechnet!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hätte mir schon gewünscht, dass man ein bisschen von
den vorbereiteten Redemanuskripten abgewichen wäre
und zu der aktuellen Situation,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
dass nämlich auch die Fraktion der Linken einem ge-
meinsamen Antrag zustimmen will – ich begrüße das –,
zumindest das eine oder andere gesagt worden wäre.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kollege Gehrcke, ich weiß um Ihre Arbeit innerhalb
Ihrer Partei. Sie bemühen sich, für die Interessen Israels
im Allgemeinen und auch für die Sicherheitsinteressen
zu werben. Sie haben das gerade in Ihrer Rede noch ein-
mal getan. Ich halte es für einen wesentlichen Fortschritt
im Vergleich zu anderen Legislaturperioden zuvor, wenn
man bei einer so schwerwiegenden Frage hier im Deut-
schen Bundestag zu einem gemeinsamen Konsens
kommt.
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist
gut, dass es gelungen ist, die vier Fraktionen zusammen-
zuhalten. Das war nicht so einfach. Kollege Mißfelder,
wir haben den einen oder anderen Anruf in dieser Hin-
sicht erhalten. Ein Teil des Problems ist – das wird da-
durch ersichtlich –, dass die unterschiedlichen Gruppen
so stark in ihrer Vorstellung verhaftet sind, dass sie glau-
ben, diesen Konflikt nur aus ihrer Sichtweise heraus lö-
sen zu können, was dazu führt, dass Empathie fehlt.
Umso mehr bin ich froh, dass zwischen diesen vier Frak-
tionen ein Konsens erreicht worden ist.
Es ist richtig, dass die Situation in den letzten Wochen
zu Bewegung geführt hat. Herr Kollege Gehrcke, ich
glaube aber, das ist nicht allein wegen der Gaza-Flottille
erfolgt, sondern wegen dieses schrecklichen Anlasses
und auch wegen des unverhältnismäßigen Einsatzes von
Gewalt in diesem Konflikt, durch den die Gewaltspirale
im Nahen Osten verstärkt wird.
Die israelische Regierung versucht – auch das müssen
wir anerkennen –, in der fragilen Situation, in der sich
ihre Koalition befindet, Schlussfolgerungen zu ziehen.
Es ist richtig, dass jetzt eine Negativliste für den Gaza-
streifen beschlossen worden ist, von der ich hoffe, dass
sie Anwendung finden wird, damit die humanitäre Situa-
tion im Gazastreifen verbessert wird. Wir sollten hier
auch vermerken, dass die ägyptische Regierung versucht
hat, in der schwierigen Situation eine konstruktive Rolle
zu übernehmen.
Ich glaube, wir müssen Israel deutlich machen, dass
durch die Abriegelung des Gazastreifens genau das Ge-
genteil von dem erreicht wird, was Israel eigentlich er-
reichen will.
(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ging damals um die Befreiung des entführten Solda-
ten Schalit und darum, den Waffenhandel einzuschrän-
ken und die Hamas zu schwächen. All diese Ziele, die
mit der Gaza-Abriegelung erreicht werden sollten, sind
nicht erreicht worden. Herr Staatsminister, es ist die Auf-
gabe der Bundesregierung, dazu beizutragen – das kön-
nen wir aufgrund unserer besonderen Beziehungen zu Is-
rael –, dass dieses Problemfeld endlich von den
politischen Akteuren in Israel erkannt wird. Ich würde
mir wünschen, dass sowohl die Bundeskanzlerin als
auch der Außenminister gegenüber der israelischen Re-
gierung noch aktiver werden würden, als sie das bisher
gewesen sind.
Es ist richtig, dass wir die Rolle der Vereinten Natio-
nen, der Europäischen Union und auch des Quartetts be-
tont haben. Diese haben sich sehr stark aus der Verant-
wortung lösen müssen, weil es nicht genügend
Fortschritte gegeben hat. Wenn das Quartett gerade auf-
grund der Situation im Gazastreifen wieder eine Rolle
spielt, dann stellt sich auch eine neue Herausforderung
für die Europäische Union. Mit den neuen Strukturen in
der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik muss es
gelingen, zwischen Israel und Palästina zu vermitteln
und in Bezug auf den Gazastreifen zu politischen Fort-
schritten zu kommen. Wir können die humanitären Pro-
bleme zum jetzigen Zeitpunkt nicht lösen; wir sollten
aber alles tun, damit die Situation der Menschen, die in
diesem Konflikt von allen in Geiselhaft genommen wer-
den, zumindest verbessert wird. Langfristig wird aber
Hilfe nicht ausreichen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Langfristig wird eine Lösung nur gelingen, wenn die
Menschen im Gazastreifen wieder ein wirtschaftliches
Fundament finden. Dazu muss die Privatwirtschaft wie-
der funktionsfähig werden.
(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich bin froh, dass es gelungen ist, in dem gemeinsa-
men Antrag zu betonen, dass es nicht reicht, was die is-
raelische Regierung jetzt unternommen hat, wenn auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5391
Dr. Rolf Mützenich
(A) (C)
(D)(B)
der eine oder andere internationale Beobachter eingela-
den werden soll. Die Forderung der Vereinten Nationen
und der Europäischen Union nach einer internationalen
und transparenten Aufklärung, aus der auch Konsequen-
zen gezogen werden müssen, muss erfüllt werden. Das
gilt insbesondere dann, wenn internationales Recht
verletzt worden ist; denn internationales Recht ist die
Richtschnur für das Handeln Deutschlands und der
Europäischen Union, aber auch für das Handeln des de-
mokratischen Staates Israel. Auch er muss sich interna-
tionalem Recht unterwerfen.
(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Herr Staatsminister, der deutsche Außenminister hat
die Einladung des israelischen Kabinetts angenommen,
in den Gazastreifen zu reisen. Es darf nicht bei einer
Showveranstaltung bleiben. – Sie schütteln den Kopf.
Ich kenne die neuesten Informationen nicht. Vielleicht
sollte ich zurückhaltender formulieren. – Der Besuch
darf keine Showveranstaltung werden. Ich hätte mir ge-
wünscht, dass die israelische Regierung auch andere
europäische Regierungen eingeladen hätte, und zwar so-
wohl solche, die innerhalb der Europäischen Union
große Verantwortung tragen, als auch solche, die eine
kritischere Haltung gegenüber Israel einnehmen, als wir
– ich habe eben über unsere historische Verantwortung
gesprochen – das tun. Auch das wird zu der geforderten
Transparenz gehören. Das müssen wir im europäischen
Rahmen deutlich machen.
(Beifall bei der SPD)
Der Gazastreifen ist das vorherrschende Problem,
über das wir reden. Wir müssen aber auch daran erin-
nern, dass die US-amerikanische Regierung vielleicht
nicht das letzte Mittel, aber eines der letzten Mittel ein-
setzt, um die Gespräche zwischen der Regierung Fajjad
und Präsident Abbas auf der einen Seite und der israeli-
schen Regierung auf der anderen Seite voranzubringen.
Das ist gut. Ich sage aber auch ganz klar: Die Zeit läuft
weg. Es stehen letztlich nur noch ganz wenige Wochen
zur Verfügung. Wir müssen aufpassen, dass wir durch
unsere Politik die Spaltung der palästinensischen Gesell-
schaft nicht noch verstärken.
Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch
einmal appellieren: Ich glaube, dass das Abkommen von
Mekka, das ein wichtiger Punkt für die nationale Ein-
heitsregierung in Palästina gewesen ist, durchaus wieder
auf die Tagesordnung gehört. Wir müssen auch gegen-
über den palästinensischen Fraktionen dafür werben,
dass eine Regierung der nationalen Einheit die einzige
Chance
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
für eine anhaltende und gerechte Friedenslösung in Pa-
lästina ist – und dann auch zum Nutzen Israels.
Zum Schluss will ich noch Folgendes sagen. Wir ha-
ben während der Aktuellen Stunde über die Situation im
Gazastreifen gesprochen, aber auch über die Rolle des
politischen Islam. Ich glaube, wir müssen unsere Rolle
gegenüber der Hamas überdenken und die Frage klären,
wie wir damit umgehen. Wir führen im Grunde genom-
men auf Bitten der israelischen Regierung schon Gesprä-
che mit der Hamas wegen des entführten Soldaten Scha-
lit. Aber wir müssen versuchen, uns aus diesen
Widersprüchen zu befreien. Denn hinter der Hamas
droht, so glaube ich, vielleicht noch eine viel größere
Herausforderung, die wir im Gazastreifen immer wieder
gesehen haben. Deswegen würde ich mir wünschen, dass
wir darüber im Auswärtigen Ausschuss sprechen.
Insbesondere bin ich froh, dass es gestern zu einem
Treffen von Vertretern der türkischen und der israeli-
schen Regierung gekommen ist; denn wir werden die
türkische Regierung weiterhin für eine Vermittlung in
diesem Konflikt brauchen. Ich würde mich freuen, wenn
die Bundesregierung das unterstützen würde.
Ganz herzlichen Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
fraktionsübergreifende Antrag, den wir heute beraten,
hat ja schon im Vorfeld durchaus Öffentlichkeitswirkung
erreicht; darüber ist völlig zu Recht berichtet worden.
Denn das, was wir hier erleben, ist tatsächlich eine neue
Qualität gemeinsamer deutscher Außen- und Sicher-
heitspolitik. Ich würdige das ausdrücklich. Ich möchte
insbesondere unserer Kollegin Frau Müller ganz herzlich
für ihren Beitrag dazu danken. Er war hervorragend.
(Beifall im ganzen Hause)
Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Das begrüße
ich außerordentlich.
Auch Ihnen ist es vielleicht so gegangen wie mir: Ich
habe in den letzten Tagen eine ganze Reihe von Briefen
und Mails von besorgten Menschen überwiegend aus is-
raelorientierten Organisationen bekommen. Die müssen
wir natürlich ernst nehmen. Deswegen lassen Sie mich
einleitend sehr deutlich sagen, was dieser Antrag nicht
beinhaltet.
Er beinhaltet erstens keine endgültige, abschließende
Bewertung der Ereignisse vom 31. Mai,
(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Ja, klar!)
sondern die eindeutige Forderung nach einer internatio-
nalen Untersuchung.
Zweitens. Er beinhaltet nichts, was die berechtigten
Sicherheitsinteressen Israels in irgendeiner Weise ver-
nachlässigt. Ganz im Gegenteil: Wir weisen in diesem
Antrag gemeinsam bestimmt fünfmal auf die wirklich
berechtigten israelischen Interessen hin. Das haben wir
immer wieder dort, wo wir es tun konnten und sollten,
sehr deutlich formuliert.
5392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Dr. Rainer Stinner
(A) (C)
(D)(B)
Drittens ist ganz bedeutsam für uns alle: Dieser An-
trag bedeutet natürlich in keinster Weise – in keinster
Weise! – irgendein Abrücken von dem gemeinsamen
Konsens im Deutschen Bundestag über unsere historisch
bedingte besondere Beziehung zum Staat Israel. Die ist
von diesem Antrag in keinster Weise grundsätzlich be-
rührt. Das möchte ich sehr deutlich sagen.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In diesem Antrag geht es nicht mehr und nicht weni-
ger um die dringend gebotene Verbesserung der Lebens-
bedingungen im Gaza. Wir hatten heute Morgen wieder
mit John Ging beim Frühstück ein interessantes Ge-
spräch, in dem er uns eindrücklich geschildert hat, wel-
che miserablen Bedingungen humanitärer Art im Ga-
zastreifen herrschen. Das Wichtige daran ist erstens die
humanitäre Frage, die gelöst werden muss. Die ist aber
in vielen Teilen der Welt ähnlich schlimm. Hinzu kommt
aber zweitens: Wir sind der festen Überzeugung, dass
die Negativsituation im Gazastreifen gegen die Interes-
sen Israels gerichtet ist und dass sie insbesondere die In-
teressen der Hamas fördert. Denn der Hamas ist es durch
die Blockade, die wir erleben, gelungen, eine Tunnel-
und Schattenwirtschaft aufzubauen, bei der sehr viel
Geld fließt und sehr viele Leute reich werden. Der für
die Entwicklung des Gazastreifens dringend notwendige
Aufbau einer tragenden Wirtschaft im Gazastreifen wird
dadurch aber nicht erreicht.
Ich sage sehr deutlich: Nach unserem Dafürhalten er-
höht die Verbesserung der Lebenssituation im Gazastrei-
fen gerade auch die Sicherheit Israels. Auch deshalb ist
es so wichtig, dass wir hier entsprechend vorankommen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deshalb sagen wir im Antrag gemeinsam ganz deut-
lich: Es reicht nicht aus, die Zahl der Lkws von 140 auf
etwa 160 zu erhöhen. Es geht darum, grundsätzlich an
der Blockade zu arbeiten und sie zu beseitigen, um bes-
sere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Das ist ganz
wichtig, und daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
„Gemeinsam arbeiten“ heißt für mich natürlich, dass
dies nicht nur Deutschland tut. Es ist schön, dass wir die-
sen gemeinsamen Antrag haben – das ist völlig klar –,
aber wir sollten unsere Rolle im Rahmen der Europäi-
schen Union sehen. Herr Staatsminister, falls Sie noch
eine Unterstützung des Parlaments brauchen, um die eu-
ropäischen Institutionen, insbesondere Frau Ashton, an-
zustoßen, ein bisschen mehr zu tun, kann ich Ihnen ver-
sichern: Die Unterstützung durch unsere Fraktion hätten
Sie dafür. Wir würden die notwendige Hilfestellung ge-
ben. Ich sage das so deutlich, weil ich den Energy Level
– um es auf Neudeutsch zu sagen – der Europäischen
Union für überschaubar halte. Hier kann und muss noch
mehr geschehen.
Ich bin dankbar, Herr Staatsminister, dass die Bundes-
regierung seit Monaten betont, dass sie die Rolle des
Quartetts stärken will. Das ist völlig richtig. Aber ich
muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kann bisher noch nicht so
richtig erkennen, dass das auch geschieht. Wir alle wün-
schen uns, dass das Quartett und damit auch die Europäi-
sche Union in diesem wichtigen Konflikt eine stärkere
Rolle spielen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
Ich bitte Sie, Herr Staatsminister, das mit Ihren Mitteln
zu unterstützen und in Europa entsprechend voranzutrei-
ben.
(Beifall bei der FDP)
Die Ereignisse vom 31. Mai, so tragisch sie waren
– ich erinnere an die Toten –, haben etwas in Gang ge-
bracht. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen:
Die Diskussion heute Abend führen wir eigentlich nur
infolge der Diskussion, die vor drei Wochen dazu statt-
gefunden hat; gar keine Frage. Sie hat einen Prozess des
Überlegens in Gang gebracht. Ich bin sehr froh darüber,
mit welcher Konsequenz unser Minister Niebel seine
Position vertreten hat. Er hält es für völlig inakzeptabel,
dass es, nachdem Deutschland im Gazastreifen mit Zu-
stimmung Israels, zum Teil sogar auf Wunsch Israels hu-
manitäre Projekte durchführt, einem deutschen Minister
nicht erlaubt sein soll, diese Projekte zu besuchen. Es
war richtig, dass Minister Niebel darauf deutlich reagiert
hat. Das muss möglich sein. Es ist notwendig, dass wir
hier so klar Position beziehen. Ich bedanke mich bei
Minister Niebel ausdrücklich für diese klare und deutli-
che Haltung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir alle wissen, dass speziell Minister Niebel völlig
unverdächtig ist, was Israel angeht. Er gehört – ich darf
das einmal so sagen – zu den Hardlinern unter den Is-
rael-Unterstützern. Wenn ihm hier der Kamm schwillt,
dann ist, glaube ich, wirklich etwas geschehen. Es ist
ganz wichtig, dass wir diese Botschaft senden.
Wir stehen für den gemeinsamen Antrag. Ich bin froh
darüber, dass wir das geschafft haben. Damit ist ein Be-
ginn gemacht; dies ist kein Ende. Wir stehen als Deut-
scher Bundestag, als FDP-Fraktion weiterhin dafür: Wir
wollen europäische Initiativen und deutsche Initiativen
in diesen wichtigen Friedensprozess einbringen. Wir ste-
hen dafür, dass wir dabei sehr wohl die berechtigten In-
teressen der beteiligten Parteien berücksichtigen. Aber
wir wollen Fortschritt, wir brauchen Fortschritt, und wir
werden unseren Beitrag dazu leisten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich bin sehr froh, Herr Stinner, Herr Mützenich,
Herr Mißfelder
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5393
Kerstin Müller (Köln)
(A) (C)
(D)(B)
(Zuruf von der LINKEN: Herr Gehrcke!)
– er hat daran nicht mitgearbeitet, aber ich sage gleich
noch etwas dazu –, dass es uns gelungen ist, einen An-
trag der vier Fraktionen zustande zu bringen. Ich möchte
mich bei Ihnen ganz herzlich bedanken.
Ich glaube, dass es ein ausgewogener Antrag ist – Sie
haben es gerade erwähnt –, bei dem wir einerseits wirk-
lich die Sicherheitsinteressen Israels im Blick haben und
in dem wir andererseits ganz konkret Vorschläge dazu
machen, wie, mit welchen Schritten man die humanitäre
Lage der Menschen in Gaza verbessern kann.
Ich begrüße es, dass dieser Antrag schon von der
Bundesregierung aufgegriffen wurde; denn Herr Niebel
hat sich auf seiner Reise, an der Parlamentarier aus allen
Fraktionen teilgenommen haben, bereits auf den Antrag
bezogen, obwohl er erst heute beschlossen wird. So
wünschen wir uns das.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist
auch mal etwas!)
Ich habe das schon öffentlich erklärt und will es auch
hier im Deutschen Bundestag noch einmal sagen: Auch
ich war nicht damit einverstanden, dass man dem Ent-
wicklungshilfeminister den Zugang nach Gaza verwei-
gert hat. Wir führen dort Entwicklungsprojekte durch.
Wir haben vor, ein Klärwerk zu bauen, das sehr wichtig
und entscheidend für die dortigen Lebensbedingungen
ist. In diesem Fall muss es ihm möglich sein, sich anzu-
schauen, was dort gebaut wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Meine Damen und Herren von der Linken, ich bin
froh, dass Sie sich entschlossen haben, diesem Antrag
zuzustimmen. Ich hatte heute ein Gespräch mit John
Ging, dem Leiter von UNRWA. Ich weiß nicht, ob einige
von Ihnen ebenfalls die Gelegenheit dazu hatten; er ist
auch morgen noch einmal hier. Er ist begeistert davon,
dass gerade von Deutschland ein solches Signal ausgeht.
Er hat noch einmal betont, dass er auf eine interfraktio-
nelle Initiative hofft – die natürlich stärker wird, wenn
alle dabei sind; ich sage das für meine Fraktion sehr klar.
Da können alle mal über ihren Schatten springen. Dann
hat dies nämlich eine andere Bedeutung in Europa. Auch
die Chance, in Europa gehört zu werden, wird größer,
weil gerade die Deutschen mit ihrem besonderen Ver-
hältnis zu Israel hier natürlich immer eine besondere
Rolle spielen müssen. Diese Rolle nehmen wir wahr, in-
dem wir diesen Antrag gemeinsam auf den Weg bringen.
Dafür möchte ich mich bei allen bedanken.
(Beifall im ganzen Hause)
Wir sind uns einig, dass die Gaza-Blockade beendet
werden muss. Sie ist inhuman. Sie ist aber auch politisch
kontraproduktiv, weil sie nicht im Interesse Israels ist.
Wenn sie es denn wäre, würde man vielleicht noch einen
anderen Blick darauf haben. Sie hat die Ziele aber nicht
erreicht. Leider ist Gilad Schalit immer noch nicht be-
freit. Auch der Raketenbeschuss konnte nicht gestoppt
werden.
Die Blockade hat bisher die Hamas sowie andere Ex-
tremisten gestärkt und eben nicht geschwächt. Das kann
die UNO sehr deutlich daran darstellen, dass eine ille-
gale Schattenwirtschaft durch die Tunnel errichtet
wurde, die nun die Hamas stärkt und diejenigen
schwächt, die nicht mit der Hamas kooperieren wollen
und die die illegalen Güter, die über diese Tunnel in den
Gazastreifen kommen, nicht kaufen wollen, um zum
Beispiel Schulen zu bauen. Es ist wirklich absurd, zu
sehen, dass diese Blockade de facto eine Blockade der
UNO ist, die sagt: „Wir kaufen dieses illegale Material
nicht, auch wenn wir damit Schulen errichten könnten“,
aber gleichzeitig – heute habe ich von John Ging diese
Zahl noch einmal gehört – 40 000 Flüchtlingskinder ab-
lehnen muss, weil die UNO-Schulen überlaufen sind.
Diese Kinder gehen dann in die Koranschulen der Ha-
mas.
Was macht das für einen Sinn? Es macht keinen Sinn.
Man schwächt diejenigen, die aktiv gegen das Islamisie-
rungsprojekt der Hamas und anderer im Gazastreifen
vorgehen wollen. Das darf nicht sein. Deshalb brauchen
wir eine schrittweise Öffnung, und zwar sowohl eine
Öffnung über den Landweg als auch parallel dazu Ver-
handlungen über einen Transport von UN-Gütern über
den Seeweg. Das hat John Ging noch einmal deutlich
gemacht.
Ich will hier noch kurz darauf eingehen, dass es die
Sorge gibt, damit würden die Sicherheitsinteressen Is-
raels nicht gewahrt. Wir sagen hier sehr klar: Das soll
mit Israel vereinbart werden. Die Idee ist, dass entweder
in Aschdod oder in Zypern eine Kontrolle stattfindet und
erst dann die Schiffe nach Gaza gelassen werden. Damit
würde man erstens einen unbürokratischen Zugang
schaffen und zweitens denjenigen den Wind aus den Se-
geln nehmen, die vielleicht unter ganz anderer politi-
scher Flagge demnächst wieder auf Gaza zusteuern wol-
len. Das ist der Charme der Idee, zusätzlich einen
Seeweg zu eröffnen. Ich würde mich freuen, wenn auch
das möglich wäre und wenn sich die Europäische Union,
auch ausgehend von unserem Antrag, hierfür einsetzen
würde.
Letzter Punkt. Wir sehen in Europa zunehmend eine
antiisraelische Stimmung. Ich halte es auch deshalb für
wichtig, dass wir mit konkreten Initiativen – das hat
John Ging heute noch einmal deutlich gesagt – nach
vorne blicken und sehen, wie man die Lage verbessern
kann.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
In diesem Sinne freue ich mich, wenn wir heute eine
breite Zustimmung zu unserem Antrag bekommen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge-
ordneten der CDU/CSU)
5394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Müller, zunächst möchte ich Ihnen für Ihre
Initiative danken. Es handelt sich um einen fraktions-
übergreifenden Antrag. Nach den Vorfällen um die
Gaza-Flottille haben wir im Auswärtigen Ausschuss
frühzeitig miteinander gesprochen. Um es nicht zu ver-
schweigen: Sie haben den Anstoß für diese Debatte ge-
geben und die Idee zu einem fraktionsübergreifenden
Antrag gehabt.
Dem haben wir nach Diskussionen in unserer Frak-
tion gerne zugestimmt, weil wir bei der Diskussion im
Auswärtigen Ausschuss und vielen anderen Gelegenhei-
ten festgestellt haben, wie groß und wie breit der Kon-
sens bei diesem Thema eigentlich ist.
Selbst wenn in der Außendarstellung häufig der Ein-
druck entsteht, dass die Linkspartei grundsätzlich ande-
rer Meinung sei, so glaube ich doch, Herr Gehrcke, dass
gerade auch die Wortbeiträge, die Sie schon an verschie-
denen Stellen abgegeben haben, keinen Zweifel daran
lassen, dass Sie sich auf einem ähnlichen, gemeinsamen
Boden befinden, wie wir das tun. Das gilt für Ihre Frak-
tion allerdings nur eingeschränkt. Diesen Eindruck habe
ich leider häufig. Ich wünschte mir, dass Sie sich viel-
leicht hätten überwinden können, unseren Antrag zu un-
terstützen und auf Ihren eigenen Antrag heute zu ver-
zichten.
Nichtsdestotrotz wollen wir dafür werben, dass die
Debatte in Zukunft mit großer Ernsthaftigkeit weiterge-
führt wird. Auch der bisherige Verlauf dieser Debatte hat
ja gezeigt, dass wir den sachlichen Blick auf die Tatsa-
chen behalten wollen und unseren Grundsätzen treu blei-
ben wollen, was die Ausrichtung der Politik gegenüber
unseren Freunden in Israel angeht.
Vor diesem Hintergrund möchte ich, ähnlich wie
Rainer Stinner es schon gemacht hat, auf die Reaktionen
im Vorfeld verweisen: Bevor die Drucksache vorlag,
wurde der eine oder andere von uns schon von Personen
aus Israel nahestehenden Bewegungen gefragt: Was
steckt eigentlich hinter diesem Antrag, von dem wir in
der Zeitung gelesen haben? Welche Zielrichtung verfolgt
er? Ist denn gesichert, dass die Sicherheitsinteressen Is-
raels im Mittelpunkt der Beratungen stehen? – Zu kei-
nem Zeitpunkt der Beratungen des Antrags hat dies ein
geringe Rolle gespielt, sondern dies stand immer – das
war fraktionsübergreifend der Fall – im Mittelpunkt un-
serer Überlegungen.
Ich möchte in dieser Debatte auch klar sagen, dass es
wahrscheinlich, zumindest nach unserem heutigen Dis-
kussionsstand, technisch nur möglich sein wird, eine
Seeverbindung nach Gaza einzurichten, wenn man so
verfährt, dass die Güter der Schiffe in Aschdod gelöscht
werden und nach entsprechenden Kontrollen nach Gaza
eingeführt werden.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schiffe dort
kontrollieren und weiterfahren lassen!)
Allein schon diese technische Frage darf man nicht au-
ßer Acht lassen. Das zeigt erneut, dass die Aktionen, die
im Zusammenhang mit der Flottille geschehen sind,
nicht in erster Linie dazu dienten, Hilfsgüter nach Gaza
zu bringen, sondern vielmehr mediale Aufmerksamkeit
und propagandistische Effekte im Blick hatten. Auch das
ist zumindest nach heutigem Stand bei dieser Debatte zu
beachten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Für uns – das hat unsere Bundeskanzlerin in ihrer
Rede am 18. März 2008 vor der Knesset zum 60. Jahres-
tag der Gründung des Staates Israel deutlich gemacht –
stehen die Sicherheitsinteressen Israels an erster Stelle.
Wortwörtlich hat die Bundeskanzlerin gesagt:
… das Bewusstsein für die historische Verantwor-
tung und das Eintreten für unsere gemeinsamen
Werte – das bildet das Fundament der deutsch-is-
raelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis
heute.
Deshalb ist es auch richtig, dass es zu unserer Staats-
räson gehört, die besonderen Beziehungen zu Israel
nicht nur in Worthülsen zu kleiden, sondern auch mit Le-
ben zu füllen. Das bedeutet, dass wir zu jedem Zeit-
punkt, auch bei der Betrachtung der Situation in Gaza,
die legitimen Sicherheitsinteressen von Israel im Blick
haben.
Trotzdem darf natürlich die Frage der politischen Im-
plikationen nicht außer Acht gelassen werden. Man darf
wohl sagen – Herr Mützenich, Frau Müller, Rainer
Stinner, wir haben uns in dieser Legislaturperiode mit
vielen Freunden aus Israel bei vielen Gelegenheiten da-
rüber unterhalten und das Ganze auch mit viel Empathie
begleitet –, dass wir als Freunde Israels selbstverständ-
lich auch die politische Dimension des israelischen Han-
delns im Blick haben und uns deshalb als Freunde auch
ein klares, offenes Wort erlauben. Insofern möchte ich
der Bundesregierung danken, dass sie in ihrer unmittel-
baren Reaktion auf die Vorfälle rund um die Gaza-Flot-
tille diese Grundhaltung zum Ausdruck gebracht hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es geht in unserem Antrag nicht um die simple Forde-
rung nach Aufhebung der Blockade. Vielmehr muss
auch die Sicherheit der Menschen in Israel garantiert
werden, und zwar durch ein Grenzkontrollregime, durch
die Waffenlieferungen nach Gaza strikt unterbunden
werden können. Deshalb fordern wir in unserem Antrag
die Bundesregierung auf, den UN-Generalsekretär zu
bitten, unter Berücksichtigung dieser Interessen im Ein-
vernehmen mit Israel gemeinsam den Prozess einzulei-
ten, dass Güter dorthin auf dem Seeweg eingeführt wer-
den können.
Wie wichtig die heutige Debatte ist, sieht man auch
daran, dass ein großer Teil des Hauses diesen Antrag un-
terstützt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5395
Philipp Mißfelder
(A) (C)
(D)(B)
Ich begrüße ausdrücklich die Ankündigung der israe-
lischen Regierung, dass die Blockade gelockert werden
soll. Auch glaube ich, dass Ägypten an dieser Stelle eine
besondere Würdigung erfahren muss: Dass Ägypten eine
gute und konstruktive Rolle in diesem Prozess spielt, da-
für danke ich vielen engagierten Vertretern in Ägypten.
All unsere Bemühungen reichen allerdings noch nicht
aus, um das große Ziel von Frieden und gemeinsamem
Miteinander zu erreichen. Darum müssen sich alle noch
mehr bemühen, als sie es ohnehin schon tun. Deshalb ist
der Dank immer mit der Aufforderung verbunden, mehr
zu tun und nichts zu unterlassen, was zu einer weiteren
Annäherung führen kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD] und
Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Eines ist klar: Mit der heutigen Debatte und dem ge-
meinsamen Antrag setzen wir ein Zeichen. Wir zeigen,
dass es uns wichtig ist, die Konflikte gemeinsam an der
Seite Israels zu lösen. Gerade vor dem Hintergrund unse-
rer historischen Verantwortung und unserer Geschichte,
die in der heutigen Zeit nicht von Schuld, sondern von
großer Verantwortung geprägt ist, geht es darum, gemein-
sam die Ziele des Friedens zu erreichen. Ich finde, unser
Antrag ist dabei sehr hilfreich.
(Zuruf von der LINKEN: Unserer aber auch!)
Ich bedanke mich noch einmal bei den Fraktionen, die
daran mitgewirkt haben.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/2259 mit dem
Titel „UN-geführte Untersuchung des israelischen An-
griffs auf den Gaza-Hilfstransport – Sofortige Aufhe-
bung der Blockade“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2328 mit
dem Titel „Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären –
Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nahost-Frie-
densprozess unterstützen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-
trag ist einstimmig angenommen.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartner-
schaftsgesetzes und anderer Gesetze im Be-
reich des Adoptionsrechts
– Drucksache 17/1429 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Katja Dörner, Ekin Deligöz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Die revidierte Fassung des Europäischen Über-
einkommens über die Adoption von Kindern
unterzeichnen
– Drucksache 17/2329 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ute
Granold, Johannes Kahrs, Stephan Thomae, Michael
Kauch, Dr. Barbara Höll, Volker Beck.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/1429 und 17/2329 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,
wobei die Vorlage auf Drucksache 17/2329 federführend
im Rechtsausschuss beraten werden soll. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Dirk
Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Illegalen Holzeinschlag und Holzhandel durch
eine durchgreifende EU-Verordnung wirksam
verhindern
– Drucksachen 17/1962, 17/2315 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Petra Crone
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Alois
Gerig, Petra Crone, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Behm.
1) Anlage 67
(A) (C)
(D)(B)
Alois Gerig (CDU/CSU):
Die Europäische Union beabsichtigt, im Rahmen des
Aktionsplans „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung
und Handel im Forstsektor“, Forest Law Enforcement,
Governance and Trade – FLEGT, durch eine neue Ver-
ordnung Regelungen für den Handel mit Holz zu treffen.
Ziel der neuen Verordnung ist es, den illegalen Holzein-
schlag zu bekämpfen. Illegaler Holzeinschlag ist inner-
halb der EU kein ausgeprägtes Problem. In den Mit-
gliedstaaten ist in der Regel gewährleistet, dass kein
Raubbau am Wald betrieben wird. In anderen Teilen der
Welt hingegen stellt der illegale Holzeinschlag ein gra-
vierendes Problem dar – er trägt erheblich zur weltwei-
ten Waldzerstörung bei. Die Nachfrage nach Holz in Eu-
ropa ist dafür mitverantwortlich. Die CDU/CSU
unterstützt deshalb das Vorhaben, den Handel mit Holz
durch eine EU-Verordnung zu regeln und so gegen den
illegalen Holzeinschlag vorzugehen.
Die Einigung über einen Verordnungsentwurf erwies
sich als sehr schwierig. Die Kommission hatte im Okto-
ber 2008 einen ersten Entwurf vorgelegt. Erst am
10. Juni dieses Jahres konnten Parlament, Rat und
Kommission im Rahmen eines Trilogs die letzten Streit-
punkte ausräumen und sich auf einen Verordnungsent-
wurf verständigen. Die Einigung steht am 7. Juli im Eu-
ropäischen Parlament zur Abstimmung. Im Herbst will
sich der Rat abschließend mit der Verordnung befassen.
Es ist damit zu rechnen, dass Parlament und Rat der
Verordnung zustimmen.
Der Antrag der SPD-Fraktion enthält zahlreiche For-
derungen, die die Bundesregierung auf EU-Ebene
durchsetzen soll. Da sich die Bundesregierung engagiert
in die Verhandlungen eingebracht hat, macht es keinen
Sinn, sie mit diesem Antrag zum Handeln aufzufordern.
Außerdem sind die Verhandlungen sowohl innerhalb des
Rates als auch zwischen Rat und Parlament abgeschlos-
sen. Somit besteht für die Bundesregierung derzeit keine
Möglichkeit, sich für die gestellten Forderungen einzu-
setzen. Aus diesen Gründen kann die CDU/CSU den An-
trag nicht unterstützen. Der Antrag würde höchstens
Sinn machen, wenn das Europäische Parlament die Ver-
ordnung ablehnt und die Verordnung neu verhandelt
werden müsste. Dies ist nach meiner Auffassung nicht
nur unwahrscheinlich. Es ist auch nicht wünschenswert.
Der Verordnungsentwurf, auf den sich Kommission, Rat
und Parlament geeinigt haben, ist ein tragfähiger und
guter Kompromiss, der nicht mehr verändert werden
sollte. Um in der Bekämpfung des illegalen Holzein-
schlags voranzukommen, wäre es sicher nicht hilfreich,
wenn der Bundestag den Kompromiss infrage stellte.
Auch dies spricht dafür, den vorliegenden Antrag abzu-
lehnen.
Zu den gelungenen Regelungen in der geplanten
Verordnung gehört die Rückverfolgbarkeit in der Han-
delskette. Natürlich sollten alle Marktteilnehmer dafür
sensibilisiert sein, dass ihre Handelsware Holz nicht aus
illegalem Einschlag stammt. In der geplanten Verordnung
werden besondere Sorgfaltspflichten sinnvollerweise dem
Erstinverkehrbringer auferlegt. Für die übrigen Markt-
teilnehmer werden einfache Informationspflichten vorge-
schrieben. Sie müssen bei Kontrollen der zuständigen
Zu Protokoll
Behörden Zulieferer bzw. Abnehmer nennen können. Da-
mit wird sichergestellt, dass die Rückverfolgbarkeit in der
Handelskette gewährleistet ist, gleichzeitig aber nicht alle
Marktteilnehmer übermäßigen Dokumentationsaufwand
betreiben müssen.
Auch Waldbesitzer in Deutschland, die aus ihrem
nachhaltig bewirtschafteten Wald Holz gewinnen und
vermarkten, sind Erstinverkehrbringer. Das Bundes-
waldgesetz, die Waldgesetze der Länder, die Forstver-
waltungen und nicht zuletzt die ganz überwiegende
Anzahl von verantwortungsbewussten Waldbesitzern
sorgen dafür, dass in Deutschland der Wald nachhaltig
bewirtschaftet wird und illegaler Holzeinschlag so gut
wie keine Rolle spielt. Besondere Nachweispflichten für
Waldbesitzer erscheinen mir deshalb nicht angezeigt. Es
ist der Bundesregierung zu verdanken, dass in der Ver-
ordnung illegaler Holzeinschlag in Deutschland wie in
anderen EU-Mitgliedstaaten als ein vernachlässigbares
Risiko eingestuft wird und dadurch erheblicher bürokra-
tischer Aufwand für die Waldbesitzer abgewendet wer-
den konnte.
Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff.
Es ist zu erwarten, dass die stoffliche und energetische
Holznutzung in den kommenden Jahren zunehmen wird.
Dies ist auch erforderlich, wenn wir unsere ehrgeizigen
Klimaschutzziele erreichen wollen. Gleichzeitig wollen
wir, dass Waldbesitzer die biologische Vielfalt im Wald
schützen, den Wald auf den Klimawandel vorbereiten
und den Wald als Erholungsraum für Menschen erhal-
ten. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, die circa
2 Millionen privaten Waldbesitzer nicht mit neuer Büro-
kratie zu belasten.
Ein weiterer Punkt, der mir am Herzen liegt, ist das
Handelsverbot für illegal geschlagenes Holz. Man kann
darüber streiten, wie wirkungsvoll ein solches Verbot ist.
Ein Vermarktungsverbot wäre nur schwer umzusetzen,
da im Einzelfall der illegale Einschlag, also der Rechts-
bruch im Drittland, nachgewiesen werden müsste. Dies
ist derzeit in aller Regel nicht gerichtsfest möglich. Aus
meiner Sicht ist ein Handelsverbot dennoch wichtig. Eu-
ropa muss ein klares Zeichen setzen, dass wir illegalen
Holzeinschlag nicht akzeptieren und unseren Teil dazu
beitragen, die globale Waldzerstörung aufzuhalten.
Weltweit schreitet die Zerstörung der Wälder sehr
schnell voran. Jährlich gehen 13 Millionen Hektar Na-
turwälder verloren – insbesondere in den Tropen. Wald-
zerstörungen gefährden nicht nur die Biodiversität –
auch die für den Klimaschutz notwendige Kohlenstoff-
speicherung der Wälder wird erheblich abgesenkt. Es
wird also höchste Zeit, dass die EU Regelungen gegen
den Handel mit illegal geschlagenem Holz trifft. Zwei-
fellos ist es ein Schwachpunkt des Kompromisses, dass
die Verordnung erst in 27 Monaten wirksam werden soll.
Leider konnte sich die Bundesregierung mit ihrer Forde-
rung nach einer früheren Inkraftsetzung nicht durchset-
zen.
In der Gesamtbewertung bleibt aber festzuhalten,
dass die geplante Verordnung wirkungsvolle Regelungen
gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz vor-
sieht, ohne die legale und nachhaltige Waldbewirtschaf-
5396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Alois Gerig
(A) (C)
(D)(B)
tung in Deutschland unverhältnismäßig zu belasten. So-
wohl die Umweltverbände als auch die Waldbesitzer
können mit dem erzielten Kompromiss leben. Ich danke
der Bundesregierung, dass sie die Einigung engagiert
vorangetrieben hat und die Verabschiedung dieser wich-
tigen Verordnung nun in greifbare Nähe rückt.
Petra Crone (SPD):
Das Verbot für den Handel mit Holz aus illegaler
Herkunft wird kommen. Dies ist das erfreuliche Ergeb-
nis aus den Trilogverhandlungen auf europäischer
Ebene. Mit der erreichten Einigung wird endlich eine
Grundlage gegen die weltweite Zerstörung von Wäldern
geschaffen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt, dass
das zuständige Ministerium unter der Leitung von Ilse
Aigner sich doch noch bewegt hat, um auch den eigenen
Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP zu erfüllen.
Lange Zeit sah es nicht so aus, als würde das Ministe-
rium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz die Maßnahmen gegen illegal geschlagenes Tro-
penholz verschärfen. Mit unserem Antrag wollten wir
der Regierungskoalition die Gelegenheit geben, sich am
eigenen Anspruch zu messen. Schließlich besitzt
Deutschland auf EU-Ebene gewichtiges Stimmenpoten-
zial, um auch andere europäische Partner zu bewegen.
Die Zustimmung zu den Zielen des Antrags war im Aus-
schuss erfreulicherweise in allen Parteien vorhanden.
Aber um ein Ziel zu erreichen, kann eine Instrumenten-
auswahl nicht ausbleiben. In unserem Antrag haben wir
die Maßnahmen vorgestellt, die eine Verordnung auf
europäischer Ebene benötigt, um nicht als Makulatur zu
enden.
Schlussendlich müssen die Verbraucher und Verbrau-
cherinnen durch die Verordnung in die Lage versetzt
werden, eine bewusste Kaufentscheidung für legal ge-
schlagenes Holz zu treffen. Tropenholzmöbel sind aus
meiner Sicht bis heute nur dann akzeptabel, wenn sie mit
dem Gütesiegel des FSC ausgezeichnet sind.
Zur EU-Verordnung selbst. An erster Stelle stand für
uns das Verbot des Handels mit illegalem Holz und ille-
galen Holzprodukten. Bisher blieb der Import von ille-
galem Holz in die Europäische Union und damit auch
nach Deutschland ungeahndet. Dies wird sich zumindest
für den Erstinverkehrbringer des Holzes ändern. Durch
das Verbot, mit illegalem Holz zu handeln, wird der
Nachweis von Legalität zur Pflicht. Wir hätten diese
Nachweispflicht gern für alle Marktteilnehmer die ge-
samte Lieferkette entlang gesehen, aber das Verbot für
den Erstinverkehrbringer ist alles in allem erfreulich.
Die FDP hatte ein Verbot noch in den Beratungen unse-
res Antrags abgelehnt. Ich finde, dass von dieser Rege-
lung eine hohe Symbolkraft von einer Region wie
Europa ausgeht. Wir senden damit ein Zeichen, dass wir
es nicht dulden, wenn illegales Holz vorsätzlich oder be-
wusst oder grob fahrlässig auf den Markt gebracht wird.
Damit flankieren wir die Bemühungen auch in den Län-
dern selbst und zeigen, dass uns das Thema wirklich
ernste Anstrengungen wert ist.
Zu Protokoll
Die Sorgfaltspflichtregeln für den Erstinverkehr-
bringer des Holzes sind um das Kriterium des ver-
nachlässigbaren Risikos ergänzt. Dieses wurde auf aus-
drücklichen Wunsch des BMELV aufgenommen, um die
deutschen Kleinstbetriebe bzw. mittelständischen Be-
triebe rechtlich abzusichern. Wir stimmen mit dem Euro-
päischen Parlament überein, dass es eines „negligible
risk“ nicht bedürft hätte. Das vernachlässigbare Risiko
wird in der Verordnung selbst nicht definiert, was bei
mir die Sorge hervorruft, dass damit rechtliche Unsi-
cherheiten eher verstärkt als minimiert werden. Den
bürokratischen Aufwand, den unsere deutschen Klein-
waldbesitzer sowie die kleinen und mittelständischen
Holzfirmen durch die Sorgfaltspflichtregelung leisten
müssten, sehe ich eher in geringen und überschaubaren
Maßen. Genügen würde in den meisten Fällen doch die
Handelsrechnung, der Lieferschein oder der Grund-
buchauszug, der meinen Wald ganz legal als mein Ei-
gentum ausweist.
Erfreulich an der EU-Verordnung ist, dass die Rück-
verfolgbarkeit für Holz und Holzprodukte über die
gesamte Lieferkette in Form von einfacher Informa-
tionspflicht gewährleistet ist. Wir hätten uns für die Da-
tenerhebung jedoch eine stärkere Berücksichtigung der
Art der Waren gewünscht. Eine Produktspezifikation,
wie sie bei der Sorgfaltspflicht erforderlich ist, fehlt. Aus
Sicht der SPD-Bundestagsfraktion wäre es aus Gründen
eben der Rückverfolgbarkeit sehr naheliegend, wenn
Art. 4 a eine Ergänzung um einen Punkt c erfahren
würde, aus dem hervorgeht, was genau gekauft bzw.
gehandelt wurde. Bestand die Ware aus Rund- oder
Schnittholz? Die Antwort auf diese Frage könnte in der
Rückverfolgbarkeit und Identifikation entlang der Han-
dels- und Verarbeitungskette von eklatanter Bedeutung
sein. Es ist sehr bedauerlich und unverständlich, dass
die EU-Verordnung die indigenen Völker nur noch als
„dritte Interessengruppe“ definiert, obwohl zuneh-
mende Abholzung des Regenwalds deren Lebensweise
massiv bedroht. Der Durchsetzung und Einhaltung der
Menschen- und Landrechte indigener Völker ist nicht
gedient, wenn wir verklausulieren, statt zu benennen.
Alles in allem ist die EU-Verordnung gegen den Han-
del mit illegalem Holz auf dem europäischen Markt trotz
Mängel ein guter Startpunkt, doch der Weg bis zum Ziel
ist noch weit. Schwachstellen sind die Ausnahmerege-
lungen, zum Beispiel für Papier. Hier wird hoffentlich in
den nächsten Jahren noch nachgebessert. Der gesamte
Waldflächenverlust der Erde beläuft sich laut Berech-
nungen der Welternährungsorganisation, FAO, auf jähr-
lich etwa 13 Millionen Hektar. Dies entspricht ungefähr
der Größe Griechenlands. Deutschlands Wälder mit ins-
gesamt 110 000 Quadratkilometern wären innerhalb
eines Jahres gerodet. An dieser Stelle möchte ich den
zahlreichen Umweltorganisationen danken. Es ist deren
großer Verdienst, dass sie die Problematik des illegal ge-
schlagenen Holzes in das Bewusstsein der Entschei-
dungsträger und in die öffentliche Diskussion gebracht
haben. Vielen Dank dafür. Es bedarf nun eines coura-
gierten Arbeitsprogramms, um den Raubbau an den
Wäldern zu stoppen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5397
gegebene Reden
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Die Erhaltung von Primärwäldern weltweit ist ein
wichtiges Ziel. Für die Menschen vor Ort stellen intakte
Urwälder die Lebensgrundlage dar. Sie schützen den
Boden und das Wasser, liefern Nahrung und wertvolle
nachwachsende Rohstoffe. Sie sorgen für eine bessere
Luftqualität und produzieren Sauerstoff. Aber vor allem
sind naturnahe Wälder die wichtigsten und größten Re-
servoire der Artenvielfalt weltweit. Diese Schatzkam-
mern der biologischen Information sind zudem entschei-
dend an der Speicherung von atmosphärischem CO2
beteiligt. Insbesondere die Rodung von Flächen für den
Anbau von Soja, die Weidehaltung und die Anlage von
Palmölplantagen, aber auch der illegale Holzeinschlag
bedrohen die wertvollen Waldflächen. Der Waldverlust
ist in den Staaten der Tropen Afrikas, Südostasiens und
Südamerikas erheblich, Satellitenbilder verdeutlichen
die gravierenden Verluste. Zudem verfolgen nur wenige
Staaten außerhalb der EU eine nachhaltige Forstpolitik.
Wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass bei der
Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags und des Holz-
handels Handlungsbedarf besteht. Etwa ein Drittel ihres
Rohholzbedarfs importiert die EU aus Drittstaaten. Wir
müssen ein gemeinsames Interesse daran haben, dass es
sich hierbei um legales Holz, gewonnen aus nachhalti-
ger Bewirtschaftung, handelt. Wir als FDP haben uns
immer ausdrücklich gegen den illegalen Holzeinschlag
und -handel ausgesprochen. Zur Ergänzung der 2005 im
Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT, Forest Law
Enforcement, Government and Trade, vorgesehenen
Maßnahmen, speziell der angestrebten freiwilligen Part-
nerschaftsabkommen, Voluntary Partnership Agree-
ments – VPA, und der Einfuhrbeschränkungen ist eine
Verordnung zum Stopp des Imports von illegal geschla-
genem Holz in die EU eine denkbare Option. Daher un-
terstützen wir die Bemühungen von EU-Parlament,
Kommission und Ministerrat, im Trilog über die Ausge-
staltung einer Verordnung über den Holzhandel zu einer
vernünftigen, wirkungsvollen und umsetzbaren Lösung
zu kommen.
Die FDP begrüßt den im Botschafterausschuss von
EU-Parlament, Kommission und Ministerrat beschlos-
senen ausgewogenen Kompromiss. Dieser Durchbruch
bei den Verhandlungen über das europaweite Verbot
illegalen Holzhandels ist eine gute Nachricht für den
Klima- und Urwaldschutz.
Wir haben uns immer für sinnvolle und praktikable
Lösungen starkgemacht: Die jetzt erzielte Lösung be-
inhaltet wirksame Kontrollmaßnahmen mit vertretbaren
bürokratischen Belastungen für die betroffenen Akteure.
Deswegen freuen wir uns, dass die Verordnung nun unser
Vertrauen in nachhaltig wirtschaftende Kleinwaldbesit-
zer ausdrückt. Die Einführung des Begriffs des „ver-
nachlässigbaren Risikos“ führt zu einer vereinfachten
Nachweispflicht. Die Kleinwaldbesitzer müssen nicht
mehr gesondert nachweisen, dass sie ihr Holz tatsächlich
legal geschlagen haben. Hier musste die Verhältnismä-
ßigkeit gewahrt bleiben. Angesichts von 1 Million Klein-
waldbesitzern in Deutschland ist dies eine wichtige Ent-
scheidung, die Bürokratielasten mindert.
Zu Protokoll
Der Schwerpunkt der Nachweispflichten liegt auf dem
Erstinverkehrbringer. Sie gewährleisten die vom Parla-
ment geforderte Rückverfolgbarkeit von illegalen Holz-
produkten. Die Kennzeichnung jedes einzelnen Holzblei-
stifts, jedes einzelnen Holzspielzeugs konnte abgewehrt
werden. Gleichzeitig werden mit der Einführung eines
Verbots des Handels mit illegalen Holzprodukten berech-
tigte Forderungen der Umweltschutzverbände, bezogen
auf die Erstinverkehrbringer, berücksichtigt. Die verein-
fachten Informationspflichten für die Handelskette ver-
hindern einen bürokratischen Papierkrieg. Diesem Ziel
dient auch das Streichen der Pflicht des Nachweises von
Recyclingprodukten. Die Einbeziehung dieses umfang-
reichen Feldes hätte eine kaum zu überblickende Auswei-
tung der Kontrollen und des bürokratischen Aufwandes
bedeutet.
Die EU hat im Jahr 2006 zwar ungefähr ein Drittel ih-
res Rohholzes aus Drittstaaten importiert, ist aber welt-
weit gesehen nicht der größte Importeur von Holz und
Holzprodukten. Für uns ist daher die Frage berechtigt,
wie effektiv der Einfluss europäischer Regelungen auf
den weltweiten Holzhandel ist. Wir mussten in der Ver-
gangenheit feststellen, dass beispielsweise die Zertifizie-
rung der Waldbewirtschaftung in Ländern ohne gute Re-
gierungspraxis, ohne starke Regierungen nicht den
erhofften Erfolg gebracht hat. Eine Reihe von Ländern,
beispielsweise China, ist nach wie vor bereit, nichtzerti-
fiziertes Holz oder solches mit fragwürdigen Dokumen-
ten in riesigen Mengen zu importieren und zu verarbei-
ten. Vor diesem globalen Hintergrund unterstützt die
FDP vor allem die Strategie, parallel zu den Handelsver-
boten über freiwillige Partnerschaftsabkommen mit
Drittstaaten eine nachhaltige und sozial gerechte Wald-
bewirtschaftung im Sinne einer fairen Entwicklungshilfe
voranzutreiben. Der Raubbau an wertvollen Urwaldflä-
chen kann nur durch eine Verbesserung der Lebenssitua-
tion der Menschen vor Ort gestoppt werden. Ohne die
Teilnahme der betroffenen Menschen in diesen Staaten
kann eine nachhaltige Waldbewirtschaftung nicht er-
reicht werden.
Wir freuen uns, dass es den europäischen Institutionen
unter Beteiligung der Bundesregierung gelungen ist, zu
einem zielführenden Ergebnis zu kommen. Der Kompro-
miss wird voraussichtlich Anfang Juli im EU-Parlament
verabschiedet werden. Ich bin überzeugt, dass damit ein
Instrument geschaffen wird, das helfen kann, den Raub-
bau der wertvollen Urwälder einzudämmen, insbeson-
dere wenn es der EU gelingt, über Partnerschaftsabkom-
men mit möglichst vielen Staaten nachhaltige und
effektive bilaterale Vereinbarungen zu treffen. Aus den
genannten Gründen sind wir der Meinung, dass sich die
Grundlage des Antrags der SPD-Fraktion durch die
Kompromissvorschläge im Komitologieverfahren aufge-
löst hat. Wir lehnen den Antrag der SPD somit ab.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Seit drei Wochen rollt der Ball. Endlich einmal eine
Fußballweltmeisterschaft in Afrika. Wir haben das eine
oder andere wirklich schöne Spiel gesehen. Fanfeste
wurden gefeiert, Tore bejubelt, Bier getrunken, Würste
gegrillt. Gute Stimmung und Gartenpartys standen die
5398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Dr. Kirsten Tackmann
(A) (C)
(D)(B)
letzten Wochen auf dem Programm. Bei aller Freude-
trunkenheit wird der Blick auf die Herkunft der Produkte
um uns herum jedoch gerne vernebelt. Ich finde es nicht
nur wichtig, zu wissen, wer die Grillwürstchen herge-
stellt hat und wie die Nutztiere vorher gelebt haben. Ich
finde es nicht nur wichtig, zu wissen, wo das Bier ge-
braut wurde und ob die Landwirtinnen und Landwirte
für ihre Braugerste einen fairen Preis erhalten haben.
Ich finde es genauso wichtig, zu wissen, ob die Holz-
kohle aus einer legalen und nachhaltigen Waldbewirt-
schaftung stammt und ob die Gartenmöbel vielleicht aus
illegalem Raubbau stammen. Gerade Gartenmöbel wer-
den oft aus tropischen Hölzern hergestellt. Diese ver-
sprechen durch ihr langsames Wachstum und damit här-
teres Holz eine längere Lebensdauer für Stühle, Tische
und Liegen.
Doch so einfach ist das nicht. Man kann sich leider
nicht sicher sein, dass alles mit rechten, also ökologisch
und sozial verantwortungsvollen Dingen zugegangen
ist. Illegaler Raubbau in den Wäldern des Südens und
teilweise auch Ostens ist immer noch auf der Tagesord-
nung, leider. Illegaler Raubbau muss geächtet werden.
Ihm ist durch wirksame Handelseinschränkung die
Grundlage zu entziehen. Genau vor dieser Aufgabe steht
die Europäische Union. Darüber wurde in den vergan-
genen Monaten trefflich gestritten. Im Rahmen der EU-
Gesetzgebung könnte mittels einer wirklich wirksamen
EU-Verordnung ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung
des illegalen Raubbaus geleistet werden. Wirklich wirk-
same Maßnahmen – beispielsweise die Kontrolle der ge-
samten Wertschöpfungskette in Kombination mit einem
Verbot des Handels mit illegalem Holz – wurden lange
von der Bundesregierung und anderen Mitgliedstaaten
im Agrarministerrat blockiert. Doch das beständige
Lobbying von WWF, Greenpeace, Robin Wood und an-
deren Umwelt- und Naturschutzverbänden hat Wirkung
gezeigt. Auch die Oppositionsfraktionen von SPD, Grü-
nen und Linken haben die Bundesregierung immer wie-
der aufgefordert, sich einer wirksamen Verordnung nicht
länger in den Weg zu stellen. Die nun zu erwartende EU-
Verordnung auf EU-Ebene darf gerne als Erfolg dieses
gemeinsamen Engagements gewertet werden. Denn
Deutschland ist in der EU immer ein wichtiger Taktge-
ber, sowohl beim Befördern von Ideen als auch beim
Blockieren von Vorschlägen.
Nun ist der Weg für ein europäisches Holzhandelsge-
setz frei. Kommission, Parlament und Ministerrat der
Europäischen Union haben sich auf einen gemeinsamen
Entwurf für ein solches Gesetz verständigt. Ich hoffe,
dass der euphorischen Meldung des WWF: „EU nimmt
Kampf gegen illegalen Holzhandel auf“ eine wirksame
EU-Verordnung folgen wird. Der Kompromissentwurf
soll im Juli vom Parlament und im Herbst vom Minister-
rat verabschiedet werden. Danach muss ernsthaft und
wirksam an der Umsetzung in den einzelnen Mitglied-
staaten gearbeitet werden. Darauf wird die Linke die
kommenden Jahre achten.
Bei aller Freude über den bevorstehenden Abschluss
der EU-Verordnung, möchte ich trotzdem schon mal
Nachbesserungsbedarf anmelden. Mittelfristig wird
diese Verordnung auf ihre Wirksamkeit überprüft und
Zu Protokoll
überarbeitet werden müssen. Dabei sollten einige
Punkte, die jetzt unter den Tisch gefallen sind, einbezo-
gen werden. Beispielsweise: Bücher, Zeitungen und an-
dere Druckerzeugnisse müssen in die Regelungen einge-
schlossen sein. Doch natürlich bietet sich auch hier die
– meiner Meinung nach sinnfreie – Möglichkeit, illega-
les tropisches Holz auf den europäischen Markt zu brin-
gen. Das muss kritisch im Auge behalten werden.
Die Linke unterstützt den Antrag der SPD. Er fasst
die auch aus unserer Sicht nötigen Kriterien einer wirk-
samen EU-Verordnung zusammen. Dass nur Teile davon
wirklich umgesetzt werden, anstatt alle Forderungen zu
erfüllen, ist zu kritisieren. Aber es ist wichtig, dass nun
das Gesetzgebungsverfahren zum Holzhandelsgesetz ab-
geschlossen wird. Diesen Antrag hätten wir problemlos
gemeinsam einreichen können, wahrscheinlich sogar zu
dritt. Das ist leider – noch nicht – gewollt. Dem Antrag
stimmen wir trotzdem zu.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Einigung von Kommission, Rat und EU-Parla-
ment über eine europäische Holzhandelsverordnung
Mitte dieses Monats kam – um ehrlich zu sein – überra-
schend schnell. Ich hatte mit einem längeren Gezerre ge-
rechnet, und ich nehme an, meinen Parlamentskollegen
ging es nicht viel anders. Vor diesem Hintergrund kann
man sagen: Dieser Antrag, mit dem die SPD die vorge-
legte Holzhandelsverordnung im Rahmen des FLEGT-
Plans verschärfen wollte, kam gerade noch rechtzeitig.
Diesen SPD-Antrag haben wir von Anfang an unter-
stützt, weil die von der Kommission vorgeschlagenen
Sorgfaltspflichten für Holzhändler ohne ein Importver-
bot für illegales Holz unvollständig und unzureichend
gewesen wären. Nach dieser Einigung ist der vorlie-
gende Antrag nahezu gegenstandslos geworden, aber
nur nahezu; denn die abschließende Bestätigung der Ei-
nigung durch das EP und den Ministerrat stehen noch
aus. Theoretisch könnte diese Einigung also noch schei-
tern. An dieser Stelle möchte ich jedoch an alle Beteilig-
ten appellieren, die Einigung zu bestätigen. Aus meiner
Sicht lohnt es sich, diesen im Trialogverfahren erzielten
Kompromiss zu beschließen. Denn gegenüber der Kom-
missionsvorlage und dem Ministerratsvotum konnten
entscheidende Verbesserungen durchgesetzt werden. So
wird die Verordnung zukünftig im Kern ein Importverbot
für illegales Holz beinhalten. Außerdem muss Holz auf
dem EU-Markt zukünftig eine nachweisbare Herkunft
haben. Bei Verstößen sollen Strafen verhängt werden.
Die seit Jahren geführte Diskussion um ein nationa-
les oder ein EU-weites Verbot von illegalem Holz hat da-
mit hoffentlich ein vorläufiges Ende gefunden. Mit die-
ser Forderung sind wir in der letzten Legislaturperiode
regelmäßig an einer schwarz-gelben Mehrheit geschei-
tert, die alle Vorstöße in diese Richtung hat an sich ab-
tropfen lassen, ohne sich auch nur je einmal zur Forde-
rung nach einem EU-weiten Importverbot für illegal
geschlagenes Holz zu bekennen. Von daher bin ich froh,
dass wir nun hoffentlich einige Schritte weiter sind.
Nun müssen die neuen Regelungen zunächst erst ein-
mal in Kraft treten und ein paar Jahre lang wirken, da-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5399
gegebene Reden
5400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Cornelia Behm
(A) (C)
(D)(B)
mit man beurteilen kann, ob sie ausreichend sind oder
ob eine Nachbesserung notwendig ist. Der sechs Jahre
nach Inkrafttreten von der Kommission vorzulegende
Bericht sollte dafür genutzt werden, diese Zwischenbi-
lanz zu ziehen und gegebenenfalls einen neuen legislati-
ven Prozess in Gang zu setzen.
An dieser Stelle kann ich natürlich nicht verhehlen,
dass wir Grüne mit dieser Einigung keineswegs voll-
ständig zufrieden sind, sondern noch weitergehende
Forderungen und Vorstellungen hatten. Das fängt schon
mit der viel zu langen Frist von 27 Monaten bis zum In-
krafttreten der Regelungen an. In der Sache sind wir
nicht wirklich überzeugt davon, dass die Maßnahmen
auf die Erstinverkehrbringer konzentriert werden und
dass für die nachgelagerte Handelskette nur einfache
Informationspflichten gelten sollen. Problematisch ist
es, dass Betriebe mit vernachlässigbarem Risiko von
Nachweisverfahren entbunden werden sollen, weil diese
Ausnahme ein Schlupfloch für die Einschleusung von il-
legalem Holz sein kann. Spätestens wenn ein Betrieb
mehr Holz vermarktet, als er nachhaltig ernten kann,
wäre mein Misstrauen geweckt. Da dieser Betrieb je-
doch von jeglicher Nachweisverpflichtung befreit ist, er-
fahre ich das nicht. Und besonders kritisch sehen wir,
dass Druckerzeugnisse von den Regelungen ausgenom-
men sein sollen. Denn das heißt, dass in diesem Markt-
segment keine Vorkehrungen gegen den Einsatz illega-
len Holzes getroffen werden müssen.
Aus diesem Grund werden wir Grüne die neue Verord-
nung sehr genau daran messen, ob sie den hohen Erwar-
tungen tatsächlich gerecht wird und den Import illegalen
Holzes in die EU stoppen kann oder ob Änderungen not-
wendig sind. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der
Frage, ob die Sanktionen bei Verstößen für eine Wirk-
samkeit der Verordnung ausreichend sein werden. Aber
auch die Frage, ob es richtig war, bestimmte Holzpro-
dukte von den Regelungen auszunehmen, muss mit Ein-
schränkungen im Rahmen einer Zwischenbewertung
noch einmal überdacht werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/2315, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1962 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Priska Hinz (Herborn), Dr. Petra Sitte,
Kerstin Andreae und weiterer Abgeordneter
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats
zu Fragen der Ethik (Ethikbeirat)
– Drucksache 17/1806 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Re-
den der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Dr. Thomas
Feist, Rudolf Henke, René Röspel, Dr. Martin Neumann,
Dr. Petra Sitte, Priska Hinz.
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU):
Am 26. November des letzten Jahres hat der Deutsche
Ethikrat seine erste Stellungnahme zur anonymen Kin-
desabgabe veröffentlichtet. Am 15. Juni dieses Jahres
folgte die zweite Stellungnahme zu Humanbiobanken in
der Forschung. Diese beiden Beispiele zeigen, dass sich
nicht nur beim wissenschaftlichen Fortschritt neue ethi-
sche Fragestellungen, sondern dass sich in allen gesell-
schaftlichen Bereichen ethische Fragen ergeben, welche
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Ge-
setzgeber vor zahlreiche Herausforderungen stellen.
Ich habe die jüngst veröffentlichten Stellungnahmen
intensiv gelesen und bin den Mitgliedern des Deutschen
Ethikrates dankbar, dass sie mit diesen Ausarbeitungen
anerkannten Sachverstand in die gesellschaftliche und
politische Debatte einbringen. Es war richtig, dass der
Deutsche Bundestag mit dem Gesetz zur Einrichtung des
Deutschen Ethikrates im Jahr 2007 ein unabhängiges
Expertengremium geschaffen hat, welches das Parla-
ment und die Bundesregierung berät. Zur parlamentari-
schen Begleitung und Unterstützung der Debatten des
Deutschen Ethikrates wurde vom Deutschen Bundestag
in der letzten Wahlperiode zusätzlich der Parlamentari-
sche Beirat zu Fragen der Ethik insbesondere der Le-
benswissenschaften, Ethikbeirat, eingesetzt.
Im Tätigkeitsbericht des Ethikbeirates der letzten
Wahlperiode wurde die Erforderlichkeit einer parlamen-
tarischen Begleitung der Beratungen über ethische
Grundsatzfragen und der Arbeit des Deutschen Ethikra-
tes durch alle Fraktionen anerkannt. Auch aus den Dis-
kussionen in der letzten Wahlperiode zur Einrichtung
des Deutschen Ethikrates ist deutlich geworden, dass Ei-
nigkeit in diesem Hohen Hause über die Notwendigkeit
besteht, ethische Fragestellungen in den politischen
Entscheidungsprozess verantwortlich mit einzubeziehen.
Ich teile somit die Einschätzung, dass die Berücksichti-
gung ethischer Fragen eine wesentliche Aufgabe der
Politik darstellt und dass der Kontakt zum Deutschen
Ethikrat daher unerlässlich ist. Ich komme allerdings
nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Tä-
tigkeitsbericht über die Arbeit des Ethikbeirates zu der
Überzeugung, dass dies auf anderen Wegen besser ge-
lingen wird als durch die Wiedereinsetzung dieses Gre-
miums. Aus diesem Grund kann sich die Fraktion der
CDU/CSU dem vorliegenden Gruppenantrag nicht an-
schließen.
Persönlich bin ich der Meinung, dass sich alle Abge-
ordneten mit den Fragen der Ethik im politischen Ent-
scheidungsprozess befassen müssen. Hierfür sind
Dr. Thomas Feist
(A) (C)
(D)(B)
direkte Kommunikationswege zwischen dem Ethikrat
und dem Deutschen Bundestag – und zwar ohne Ein-
schaltung eines weiteren Gremiums – wichtig. Bei der
Einrichtung des Deutschen Ethikrates war es das er-
klärte Ziel, den Deutschen Ethikrat als Beratungsinstanz
für alle Abgeordneten zu profilieren. Wir dürfen daher
als Abgeordnete nicht die Verantwortung für die Ent-
scheidung von ethischen Fragestellungen auf wenige
Parlamentarier delegieren. Die Befürchtung, dass der
Ethikbeirat nicht als Scharnier, sondern eher als Fla-
schenhals für ethische Fragen auf dem Weg in den Deut-
schen Bundestag fungiert, ist nicht von der Hand zu wei-
sen. Diese Befürchtung wurde auch nicht durch die
Tätigkeit dieses Gremiums in der letzten Legislatur-
periode entkräftet. Eher bestätigt sich der Eindruck,
dass der Ethikbeirat die breite Auseinandersetzung der
Abgeordneten mit der Thematik erschwert hat. Ein wei-
terer Kritikpunkt: Ich halte ich es nicht für zielführend,
dass der Ethikbeirat sich auf dem Wege der Selbstbefas-
sung selbst Themenschwerpunkte suchen, Anhörungen
durchführen und inhaltliche Empfehlungen abgeben
kann. Es ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll, hiermit
quasi ein parlamentarisches Gegengremium zum Deut-
schen Ethikrat zu institutionalisieren, welches sich mög-
licherweise parallel mit ähnlichen Themen beschäftigt
und zu unterschiedlichen Empfehlungen kommen kann.
Dies ist weder zweckmäßig noch effizient, vor allem
wenn man bedenkt, dass der Deutsche Bundestag dem
Deutschen Ethikrat im Jahr 2009 knapp 1,7 Millionen
Euro für seine Arbeit zur Verfügung gestellt hat.
Im parlamentarischen Diskussions- und Entschei-
dungsprozess muss deutlich werden, dass alle Abgeord-
neten gleichermaßen gefordert sind, sich über ethische
Problemstellungen zu informieren und eigenverantwort-
lich Entscheidungen zu treffen. Es muss dabei aber der
Verantwortlichkeit jedes Parlamentariers überlassen
sein, wie und in welchem Umfang die Empfehlungen des
Ethikrates in der eigenen Arbeit zum Tragen kommen.
Die Wiedereinsetzung des Ethikbeirates würde dagegen
den Eindruck erwecken, dass der Deutsche Bundestag
die wichtigen Fragen der Ethik an ein Gremium wegde-
legiert, welches stellvertretend für die Abgeordneten tä-
tig wird. Ich möchte an dieser Stelle aus der Rede des
Bundestagspräsidenten, Dr. Nobert Lammert, vom
9. November 2006 zur Einsetzung des Deutschen Ethik-
rates zitieren:
Wir können alle miteinander kein Interesse daran
haben, dass der Eindruck entsteht, es gebe im Deut-
schen Bundestag eine kleine Anzahl von Ethik-
experten, aber der große Rest sei bei ethischen Fra-
gen entweder nicht interessiert oder indifferent. Im
Übrigen wäre dies nicht nur ein verheerender, son-
dern auch ein falscher Eindruck, der insbesondere
in dieser Kombination kaum akzeptabel wäre.
Diesen prinzipiellen Punkt möchte ich vor dem Hin-
tergrund des Gruppenantrages noch einmal unterstrei-
chen. Ethische Fragestellungen müssen von den Abge-
ordneten in den Ausschüssen, im Plenum des Deutschen
Bundestages und im Dialog mit den Experten des Deut-
schen Ethikrates diskutiert werden.
Zu Protokoll
Ich halte die direkten Möglichkeiten der Kommunika-
tion zum Deutschen Ethikrat für die bessere Variante als
die verengte Kommunikation über ein zusätzliches Gre-
mium wie den Ethikbeirat. Daher begrüße ich es aus-
drücklich, dass der Deutsche Ethikrat angekündigt hat,
in regelmäßigen Abständen parlamentarische Abende
und andere thematische Veranstaltungen zu organisie-
ren, um mit den Abgeordneten ins Gespräch zu kommen.
Der erste parlamentarische Abend im März dieses
Jahres war bereits ein voller Erfolg. Die Vielzahl der an-
wesenden Mitglieder des Deutschen Bundestages hat
deutlich gezeigt, wie groß das Interesse der Politiker am
direkten Kontakt mit den Sachverständigen ist. Die Mit-
glieder des Deutschen Ethikrates diskutierten mit den
Abgeordneten über die von ihm abgegebenen Stellung-
nahmen und informierten über weitere Vorhaben. Da-
rüber hinaus boten sie an, die Abgeordneten auch durch
persönliche Stellungnahmen in den jeweiligen Aus-
schüssen zu unterstützen.
Die Diskussion mit den Mitgliedern des Ethikrates in
den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und auf
parlamentarischen Abenden oder auf anderen Veran-
staltungen des Deutschen Ethikrates halte ich für den
zweckmäßigeren Weg, um die Arbeit des Deutschen
Ethikrates parlamentarisch zu begleiten und ethische
Fragestellungen im politischen Prozess zu berücksichti-
gen. Ich stelle fest, dass sich der Ethikbeirat nicht be-
währt hat. Es ist legitim, Gremien, die ihre Aufgabe
nicht erfüllen konnten, nicht wieder einzusetzen. Gerade
in diesem Fall gibt es bessere Wege, um die parlamenta-
rische Begleitung ethischer Fragestellungen sicher zu
stellen. Die Nichtwiedereinsetzung des Ethikbeirates
verbindet aus meiner Sicht höchstmögliche Durchlässig-
keit der beiderseitigen Kommunikation mit der Entbüro-
kratisierung des parlamentarischen Betriebes und spart
finanzielle Mittel in Zeiten knapper Haushaltskassen
ein, die zum Betrieb des Ethikbeirates notwendig wären.
Die CDU/CSU-Fraktion wird sich daher dem Antrag auf
eine Wiedereinsetzung des Ethikbeirates aus guten
Gründen nicht anschließen.
Rudolf Henke (CDU/CSU):
Im Zuge des raschen Fortschritts und wachsender
Möglichkeiten in der medizinischen Forschung gibt es
ständig neue Therapieansätze und Diagnoseverfahren,
die Heilung von bisher nicht oder nur begrenzt heilbaren
Erkrankungen ermöglichen oder zumindest in Aussicht
stellen. Manche dieser Entwicklungen werfen ethische,
gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische
und rechtliche Fragen nach den voraussichtlichen Fol-
gen für den Einzelnen und die Gesellschaft auf, die sich
im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwick-
lungen im Bereich der Lebenswissenschaften und ihrer
Anwendung auf den Menschen ergeben. Uns allen ist die
Spannung zwischen Stammzellforschung und Embryo-
nenschutz präsent. Solche Fragen berühren unser Ver-
ständnis von Gesundheit, Krankheit, Behinderung sowie
unsere verfassungsrechtliche Verantwortung für den
Schutz der Würde des Menschen.
Hier handelt es sich um einen vielfältigen Themen-
kreis, der zum Beispiel die Möglichkeiten und Grenzen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5401
gegebene Reden
Rudolf Henke
(A) (C)
(D)(B)
der Medizin an der Schwelle zwischen Leben und Tod,
der Organspende, die Frage des Verhältnisses von Auf-
wand und Erfolg einzelner Behandlungen auch im Blick
auf die Kosten und damit einhergehend die Verteilung
von Gesundheitsgütern oder auch Rechte und Pflichten
beim Impfen berührt. Das jüngste Urteil des Bundesge-
richtshofs zum Abbruch künstlicher Ernährung während
eines Wachkomas erinnert uns aktuell an die Tragweite
und Schwierigkeit derartiger Fragen.
Es ist notwendig, dass diese Themen, die unsere ethi-
sche Haltung zu Gesundheit, Krankheit und Behinde-
rung berühren, von Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages wahrgenommen und thematisiert werden.
Begleitet und beraten werden wir seit 2007 bei der
Bearbeitung und Erörterung solcher Fragen vom Deut-
schen Ethikrat. Dieses Gremium, das bewusst ohne Mit-
glieder aus dem Kreis der Abgeordneten eingerichtet
wurde, hat die Aufgabe, dem gesamten Parlament in ak-
tuellen Fragen der Lebenswissenschaften zur Verfügung
zu stehen.
Unsere Fraktion ist zu dem Ergebnis gekommen, dass
es dafür keiner weiteren parlamentarischen Institution
bedarf, die eine Art „Scharnierfunktion“ innehätte, in-
dem sie etwa aktuelle bio- und medizinethische Themen
sammelt, um sie dann an den Deutschen Ethikrat weiter-
zuleiten.
Ich denke, dass die Möglichkeiten eines solchen Bei-
rats von manchen seiner Befürworter überschätzt wer-
den.
Im Unterschied dazu brauchen wir einen direkten
Dialog zwischen den Mitgliedern des Deutschen Ethik-
rats und dem Parlament. Hierfür ist aber keine „Vor-
instanz“ nötig.
Unser Bundestagspräsident Norbert Lammert hat
einmal gesagt, dass wir – alle Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages – kein Interesse daran haben kön-
nen, dass der Eindruck entsteht, es gäbe im Parlament
nur eine kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der
große Rest sei bei ethischen Fragen entweder nicht inte-
ressiert oder indifferent. Ein Parlamentarischer Beirat
erweckt jedoch genau diesen Eindruck, da nur eine be-
grenzte Anzahl von Abgeordneten aller Fraktionen in
diesem Gremium zusammenarbeiten würden.
Es gibt, wie schon erwähnt, eine Vielzahl von ethi-
schen Themen, die wir in diesem Hause aufgreifen und
bearbeiten müssen. In der Vergangenheit wurde deut-
lich, dass die Mehrzahl der Themen aufgrund ihrer ho-
hen Komplexität in die Zuständigkeit mehrerer Fachaus-
schüsse fallen. Daher ist eine fachliche Befassung und
eine intensive ressortübergreifende Bearbeitung im ge-
samten Deutschen Bundestag statt in geschlossenen Zir-
keln erforderlich. Somit ist es sinnvoll, den Kontakt und
die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Ethikrat zu in-
tensivieren, sozusagen den Ethikrat auf direktem Wege
anzusprechen. Mit dem Gesetz zur Einrichtung des
Deutschen Ethikrates hat der Deutsche Bundestag fest-
gelegt, dass das Parlament aus sich heraus den Ethikrat
um Stellungnahmen bitten kann.
Zu Protokoll
In ethischen Fragen sind wir alle in diesem Parla-
ment dazu verpflichtet und dafür verantwortlich, sich
gewissenhaft und sehr genau abwägend mit jedem ein-
zelnen Thema zu befassen. Zur Gewissensbildung kön-
nen wir die Stellungnahmen und Empfehlungen des
Deutschen Ethikrates heranziehen. Unser Urteil müssen
wir jedoch auf Grundlage unserer eigenen ethischen und
moralischen Vorstellungen und Wertungen bilden.
René Röspel (SPD):
Synthetische Biologie, Nanobiotechnologie, die
Grenzen der Sterbehilfe oder die Nutzung knapper Res-
sourcen im Gesundheits- und Pflegewesen – durch Fort-
schritte insbesondere im Bereich der modernen Lebens-
wissenschaften werden wir als Gesellschaft und als
Politik seit Jahren vor alte wie neue ethische Herausfor-
derungen gestellt. Das wohl bekannteste Beispiel für
diese Entwicklung ist die jahrelange Debatte über die
Chancen und Grenzen der Forschung an und mit
menschlichen embryonalen Stammzellen. Diese Pro-
bleme und Herausforderungen muss ein technikbeglei-
tendes und -gestaltendes Parlament in gesetzgeberi-
sches Handeln übersetzen.
Wir legen heute in erster Lesung dem Deutschen Bun-
destag den unterschriftenstärksten Gruppenantrag in
der Geschichte unseres Parlaments zur Beratung vor.
241 Abgeordnete haben mit ihrer Unterschrift diesen
Antrag unterzeichnet. Dies ist ein starkes Signal für eine
aktive Rolle des Parlaments in den kommenden Beratun-
gen über ethische Herausforderungen insbesondere in
den Lebenswissenschaften.
Mit der Ersetzung des vom Bundeskabinett von Kanz-
ler Gerhard Schröder eingesetzten Nationalen Ethikra-
tes durch einen Deutschen Ethikrat hat die damalige Ko-
alition von SPD und CDU/CSU im Jahr 2007 einen
guten Schritt getan, um die Legitimation des Ethikrates
auszuweiten und gesetzlich festzuschreiben. Dies war
ein richtiger Schritt, um die Beratungstätigkeit des
Ethikrates zu verstetigen. Heute ist der Deutsche Ethik-
rat das auch international sichtbarste biomedizinische
und bioethische Beratungsgremium in Deutschland.
Wir als SPD haben uns damals immer dafür einge-
setzt, dass der Ethikrat als Beratungsgremium parla-
mentarisch angebunden sein muss, wenn seine Empfeh-
lungen in politische Beratungen und – gegebenenfalls –
politisches Handeln einfließen sollen. Daher haben wir
uns als Mitglieder der SPD-Fraktion – gegen Wider-
stände vonseiten der CDU und CSU – für einen Ethik-
beirat eingesetzt und tun dies auch heute.
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des
Gruppenantrages setzen sich für einen Ethikbeirat ein,
der stärker als in der vergangenen Legislaturperiode
auch eigene inhaltliche Akzente setzen kann. In der ver-
gangenen Wahlperiode hat der Ethikbeirat leider auf
Wunsch der Fraktion von CDU und CSU nur ein be-
grenztes – und in Teilen unklares – Mandat erhalten.
Wir korrigieren mit dem vorliegenden Gruppenantrag
die – damals von Unionsseite gewollten – Defizite des
„alten“ Ethikbeirates.
5402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
René Röspel
(A) (C)
(D)(B)
Hierbei knüpfen wir ausdrücklich auch an den Antrag
der Fraktion der FDP an, die im November 2006 einen
Antrag zur „Einrichtung eines Parlamentarischen Bei-
rates für Bio- und Medizinethik“ in die Beratungen ein-
gebracht hatte. Warum sich trotzdem bisher aus der
Fraktion der FDP fast keine Abgeordnete bzw. kein Ab-
geordneter unserer Gruppeninitiative angeschlossen
hat, ist mir nicht verständlich. Ich kann mir dies nur da-
mit erklären, dass CDU und CSU unter Verweis auf die
Koalitionsvereinbarung viele der Mitglieder der FDP-
Fraktion von einer Unterstützung abgehalten haben.
Dabei hatte der FDP-Abgeordnete Michael Kauch am
9. November 2006 im Bundestag noch richtigerweise
festgestellt: „Ohne parlamentarische Begleitung bleibt
der Ethikrat aber ein Torso.“ Genau dies wollen wir mit
unserem Antrag verhindern.
Der Ethikbeirat soll sich – wie schon in der vergange-
nen Legislaturperiode erfolgreich praktiziert – regelmä-
ßig mit dem Ethikrat und seinen Mitgliedern austau-
schen. So können wir sicherstellen, dass das Parlament
über den Fortgang der Beratungen im Ethikrat regelmä-
ßig informiert wird und nicht erst nach der Veröffentli-
chung von Stellungnahmen über kommende Fragestel-
lungen in Kenntnis gesetzt wird. Gleichzeitig können der
Ethikbeirat und seine Mitglieder dem Deutschen Ethikrat
signalisieren, welche Themen aus Sicht des Parlaments
eine besondere Relevanz hätten. Auch eine Tendenz, wie
bestimmte Regelungsvorschläge im parlamentarischen
Umfeld aufgenommen werden würden, ließe sich durch
einen regelmäßigen Austausch zwischen Deutschem
Ethikrat und Beirat zumindest andeuten. Der Ethikrat
hätte dann die Möglichkeit, in seinen Stellungnahmen
bestimmte Fragen oder Punkte, die von besonderem In-
teresse für die interessierten Mitglieder des Bundestages
sind, noch ausführlicher darzustellen, was sich positiv
auf die politische Anschlussfähigkeit der Stellungnah-
men auswirken dürfte.
Zur Verbreiterung der Ethikdebatte im Parlament
sieht unser Antrag auch vor, die Zahl der Mitglieder des
Ethikbeirates auf 18 zu erhöhen. So ist möglich, dass
sich mehr Mitglieder des Bundestages über ihre Mitar-
beit im Ethikbeirat über ethische Problemfragen austau-
schen und informieren und Themen in die parlamentari-
sche Beratung tragen. An Themen wird es weder
Ethikbeirat noch dem Deutschen Ethikrat mangeln.
Trotz der offenkundigen positiven Rückwirkungen für
die Ethikdebatte in Deutschland haben Vertreter der
CDU/CSU den Gruppenantrag bereits öffentlich abge-
lehnt. Das finde ich bedauerlich. Die hierbei verwende-
ten Argumente sind jedoch nicht stichhaltig.
Nachgerade absurd ist insbesondere das Argument,
dass in Zeiten der Kostensenkung ein Ethikbeirat eine
vermeidbare finanzielle Belastung darstelle. Als ob die
Informationsmöglichkeiten des Parlaments der erste
Punkt sind, bei dem man finanzpolitisch – nach Steuer-
geschenken für Hoteliers – das Sparen beginnen sollte.
Auch die Möglichkeit, dass die Berichterstatterinnen
und Berichterstatter im Forschungsausschuss den Ge-
sprächsfaden zum Ethikrat aufrechterhalten sollen, ist
ein nicht tragfähiger Vorschlag, wie schon der Blick auf
Zu Protokoll
die aktuellen Themen des Ethikrates zeigt. So fallen die
Grenzen der Chimären- und Hybridbildung sicher
(auch) in die Kompetenz des Forschungsausschusses.
Bei Fragen der Sterbehilfe, der Selbstbestimmung und
Demenz oder der Intersexualität sieht dies jedoch schon
ganz anders aus. Genau deswegen braucht der Bundes-
tag ein Gremium, welches sich gezielt mit ethischen
Streitfeldern und Problemen auseinandersetzt. Ansons-
ten besteht die Gefahr, dass die vom Ethikrat diskutier-
ten Themen zwischen die Schnittstellen der Bundestags-
ausschüsse fallen.
Dieser Ethikbeirat kann und soll nicht nur als Ge-
sprächspartner für den Deutschen Ethikrat fungieren,
sondern auch Kontaktmöglichkeiten für Verbände, Inte-
ressengruppen und interessierte Bürgerinnen und Bürger
bieten. Er ist – dies muss man immer wieder betonen –
kein Gegengremium zum Deutschen Ethikrat, sondern er
ergänzt die Institution Ethikrat wirksam und sinnvoll.
Wie die Erfahrung der letzten Legislaturperiode zeigt,
sehen dies auch die Mitglieder des Ethikrates so. Bei ei-
ner Ablehnung des nun vorliegenden Einsetzungsantra-
ges besteht eine Gefahr, die auch von Mitgliedern des
Deutschen Ethikrates gesehen wird: dass die Arbeit des
Ethikrates im politischen „Nirwana“ endet und die
meist mühevoll erarbeiteten Stellungnahmen ad acta ge-
legt werden, sobald sie gedruckt wurden. Dies wäre
dann eine echte Verschwendung von Steuergeldern, die
doch offenkundig von Mitgliedern der Fraktion von
CDU und CSU vermieden werden soll.
Dass die enge Verbindung von ethischer Expertenin-
stitution und Parlament zu einer fruchtbaren Zusam-
menarbeit führen kann, zeigt das Beispiel Dänemark.
Als ein seit 1987 bestehendes Beratungsgremium hat der
Dänische Ethikrat über die Jahre viel Lob für seine Ar-
beit erhalten. Ein wichtiger struktureller Bestandteil der
Arbeit des Dänischen Ethikrates war und ist das parla-
mentarische Begleitgremium, welches die Tätigkeit des
Rates begleitet. Dieser dänische „Ethikbeirat“ – wenn
man ihn so nennen darf – beeinflusst sogar die Beset-
zung des Dänischen Ethikrates. Man kann daher sagen,
dass ein Baustein der erfolgreichen Arbeit des Däni-
schen Ethikrates die enge Verbindung zum Parlament
ist. Von diesem erfolgreichen Beispiel wollen wir lernen.
Für die „alternativen Vorschläge“ zur Vernetzung
von Parlament und Ethikrat – wie sie etwa der Unions-
abgeordnete Dr. Thomas Feist in der „Frankfurter All-
gemeinen Zeitung“ vom 18. Mai 2010 präsentiert hat –
gibt es hingegen keine erfolgreichen internationalen
Vorbilder oder Beispiele. Solche Vorschläge lassen de-
mokratische Legitimation und gewohnte Transparenz
vermissen.
Der Bundestag benötigt „ein parlamentarisches Ge-
genüber, wenn der Gesetzgeber seine eigene bioethi-
sche Kompetenz nicht weiter auslagern und relativieren
will“ – diese Feststellung stammt nicht von einer Abge-
ordneten oder einem Abgeordneten, der den Gruppenan-
trag unterzeichnet hat; diese Feststellung stammt von
Mechthild Löhr, der Bundesvorsitzenden der Christde-
mokraten für das Leben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5403
gegebene Reden
René Röspel
(A) (C)
(D)(B)
Es ist mir vollkommen unverständlich, warum offen-
kundig gerade die Fraktion von CDU und CSU ihren
Mitgliedern untersagt hat, den Gruppenantrag mit zu
unterzeichnen. Stattdessen scheint die Unionsfraktions-
führung darauf zu drängen, dass in der Schlussabstim-
mung die Koalitionsfraktionen den Gruppenantrag ge-
schlossen ablehnen.
Wir fordern Sie auf: Beenden Sie diese koalitionstak-
tischen Spielchen und geben Sie die Abstimmung über
den vorliegenden Gruppenantrag frei! Spätestens wenn
im Bundestag die nächste Stammzell- oder Sterbehilfe-
debatte ansteht, werden Sie sehen, dass der Ethikbeirat
ein wichtiges und sinnvolles Gremium ist.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Der Parlamentarische Ethikbeirat der 16. Legislatur
konstituierte sich am 23. April 2008. Die grundlegende
Aufgabe sollte sein, das Parlament in ethischen Fragen
zu unterstützen und die Arbeit an solchen Fragestellun-
gen zu begleiten. Der Beirat sollte somit ein parlamen-
tarisches Begleitgremium, eine „Scharnierstelle“ zwi-
schen dem Deutschen Ethikrat und dem Parlament sein.
Heute debattieren wir über einen Antrag zur erneuten
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates zu Fra-
gen der Ethik in der 17. Wahlperiode. Doch bevor ein
solches Gremium erneut wieder aufersteht, lohnt es sich,
kritisch auf die Ergebnisse und Arbeitsweisen des Beira-
tes der letzten Legislatur zu schauen. Die Unterrichtung
vom Juli 2009 durch den Parlamentarischen Beirat zu
Fragen der Ethik insbesondere in den Lebenswissen-
schaften, Bundestagsdrucksache 16/13780, lässt einige
interessante Rückschlüsse zu.
So heißt es im dritten Abschnitt zum Selbstverständnis
und zur Arbeitsweise des Ethikbeirats: „Selbstverständ-
nis und die Arbeitsweise des Ethikbeirates sind jedoch
noch nicht abschließend geklärt.“ Das Gleiche gilt für
das Selbstbefassungsrecht. Dies blieb ebenfalls unge-
klärt. Inhaltliche Beschlüsse und Empfehlungen zu Be-
richten des Ethikrats zu fassen, fällt auch nicht in das
Aufgabengebiet des Ethikbeirates. Anhörungen fanden
mangels Selbstbefassungsrecht auch nicht statt. Das al-
les ist außerordentlich bedenklich. Wozu soll dieser Bei-
rat nun eigentlich dienen? In einer bunten Runde The-
men zu besprechen, die als relevant identifiziert worden
waren, ist sicher nicht verkehrt. Aber wo bleibt das Ziel?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie
doch mal ganz ehrlich: Für das, was in den letzten Jah-
ren im Ethikbeirat besprochen worden ist, braucht es da
die gesamte Maschinerie eines parlamentarischen Bei-
rates? Eine weitere Bühne für bereits geführte Fachdis-
kussionen brauchen wir nicht.
In den Ausschüssen wird demnächst eine Verständi-
gung darüber erfolgen, inwieweit es einer Moderation
zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Deutschen
Ethikrat bedarf oder ob nicht andere Formen der Zu-
sammenarbeit effektiver und in der Sache zielführender
sind.
Wir dürfen nicht vergessen: Der Deutsche Ethikrat in
seiner heutigen Form hat eine demokratische Legitima-
Zu Protokoll
tion! Das Parlament hat mit der Verabschiedung des Ge-
setzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats, Ethik-
ratgesetz – EthRG; Bundestagsdrucksache 16/2856 –
klar erkennen lassen, dass es kein Parallelgremium
braucht, denn der Ethikrat besetzt den Platz eines Bera-
tungsgremiums für das Parlament.
Es hat sich seither gezeigt, dass der Deutsche Ethik-
rat kein Expertengremium ist, das hinter verschlossenen
Türen tagt. Vielmehr hat er sich in seiner Arbeit durch
Transparenz und öffentliche Berichterstattung ausge-
zeichnet. Das wollen wir auch weiter unterstützen.
Grundsätzlich muss klar sein: Es geht nicht um die
Verdrängung von ethischen Fragestellungen aus dem
politischen Bewusstsein. Vielmehr müssen wir darüber
nachdenken, wie wir die Arbeit in diesem Bereich neu
strukturieren und moderieren und die Arbeit des Parla-
ments stärken. Das kann auch in der Form des direkten
Dialogs miteinander innerhalb politischer Prozesse
stattfinden, ohne ein neues festes Gremium einzurichten.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Der vorliegende Antrag zur erneuten Einsetzung ei-
nes Ethikbeirates findet meine Unterstützung. Dafür
sprechen eine ganze Reihe von Gründen. Das Hauptar-
gument ergibt sich aus konkreter parlamentarischer Er-
fahrung meiner Mitarbeit im letzten Ethikbeirat. Nach-
dem sich in der vergangenen Legislaturperiode keine
Mehrheit für die Einrichtung eines Ethikkomitees des
Bundestages fand, wurde die Einsetzung eines Ethikbei-
rates beschlossen. Dieser hat nun entgegen mancher Er-
wartung erfolgreich die Arbeit des Deutschen Ethikrates
begleiten können.
Der Deutsche Ethikrat, eingesetzt von Bundestag und
Bundesregierung, greift als reines Sachverständigengre-
mium lebenswissenschaftliche Themen auf. Der Ethik-
beirat des Bundestages, besetzt mit Abgeordneten, die
allerdings auch nicht ohne Sachverstand arbeiten,
wurde mit keinen eigenen inhaltlichen Kompetenzen
ausgestattet. Er fungierte als Schnittstelle zwischen
Deutschem Ethikrat und gesellschaftlicher Öffentlich-
keit. Er hat daher zum einen die parlamentarische Rele-
vanz von in Politik und Gesellschaft diskutierten Ethik-
themen ausgelotet. Zum anderen hat er Themen
aufgegriffen, die im Deutschen Ethikrat bearbeitet wur-
den. So hat er die ethischen, sozialen und rechtlichen
Auswirkungen der Chimärenbildung, der synthetischen
Biologie, der Nanomedizin, der Angebote anonymer
Kindesabgabe oder auch den gesetzlichen Regelungsbe-
darf für Biobanken erörtert, auch dies mit dem Ziel, zu
klären, ob parlamentarischer Handlungsbedarf er-
wächst.
Meiner Erfahrung nach ist es sinnvoll, den Ethikbei-
rat wieder einzusetzen, weil es dann auf parlamentari-
scher Ebene einen konkreten Ansprechpartner für eine
Vielzahl von Interessengruppen und für den Deutschen
Ethikrat gibt. Viele Themenstellungen erweisen sich
nämlich in ihrer ethischen Relevanz als klassische Quer-
schnittsthemen. Es ist zumeist erst nach näherer Be-
trachtung auszumachen, ob und welche Ausschüsse des
Deutschen Bundestages in die Diskussion einzubinden
5404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Dr. Petra Sitte
(A) (C)
(D)(B)
sind, erst recht wenn sich Verknüpfungen zu aktuellen
Gesetzgebungsverfahren ableiten. Nicht jeder bzw. je-
dem Interessierten, jeder bzw. jedem Wissenschaftler
oder jeder Institution sind die parlamentarischen Gre-
mien in ihrer inhaltlichen Zuständigkeit, Arbeitsteilung
und institutionellen Platzierung bekannt. Auch in diesen
Zusammenhängen kann der Ethikbeirat hilfreiche Mitt-
lerfunktion hinein in den Bundestag übernehmen. Er soll
auch in Zukunft als Begleitgremium ausgestaltet, aber
kein eigenständiger Ausschuss werden. Er soll den Aus-
schüssen weder in deren inhaltlichen Arbeit vor- noch in
deren Kompetenzen eingreifen. In Auswertung der Er-
fahrungen aus seiner Tätigkeit in der letzten Legislatur-
periode enthält der Antrag dennoch Vorschläge, die Ar-
beit des Beirates zu qualifizieren und verbindlicher zu
gestalten. Ich halte das für sinnvoll.
Ethische Fragen der Lebenswissenschaften stellen
sich mit wissenschaftlichem Fortschritt, vor dem Hinter-
grund der Globalisierung, der Erweiterung des Kanons
von Wertekonzepten und erfolgter oder sich anbahnen-
der Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen
nicht immer gänzlich neu, aber sehr wohl mit neuen, zu-
sätzlichen Problemstellungen. Einmal getroffene Ent-
scheidungen sind also durchaus nicht für die Ewigkeit,
sondern bedürfen wiederholter Prüfungen, ob sie als Re-
aktionen, ob sie als Antworten noch akzeptabel sind
oder ob die aktualisierte Datenbasis nicht längst Ände-
rungen bzw. Anpassungen erfordert. Der Ethikbeirat
sollte beispielsweise als Vorbereitungsgremium mit den
Ausschüssen gemeinsam prüfen, ob dem Deutschen
Ethikrat Themen zur Befassung anheimgestellt werden
sollten.
Dass sich sowohl der Präsident des Deutschen Bun-
destages, Herr Dr. Lammert, als auch Mitglieder des
Deutschen Ethikrates und Vertreter der Kirchen positiv
eingestellt auf eine Neueinsetzung des Ethikbeirates ge-
zeigt haben, betrachte ich als weitere Gründe, sich im
Bundestag ernsthaft und interfraktionell mit diesem Ein-
setzungsantrag auseinanderzusetzen. Auf der konstituie-
renden Sitzung des Ethikbeirates am 23. April 2008
führte der Präsident des Bundestages aus, dass man sich
vom Deutschen Ethikrat notwendige Informationen für
die parlamentarische Arbeit verspreche und dass dessen
sachverständige Mitglieder am gesellschaftlichen Dis-
kurs mitwirkten. Dieser Diskurs solle dann auch in die
parlamentarische Arbeit einbezogen werden. Die wich-
tigste Aufgabe, so der Bundestagspräsident weiter, sei
es, den Deutschen Ethikrat parlamentarisch zu begleiten
sowie ethische Sachkompetenz und parlamentarische
Arbeit miteinander zu verbinden.
In diesem Sinne hoffe ich auf vielfältige Unterstüt-
zung und spätere Zustimmung zum Antrag auf Einset-
zung eines Ethikbeirates des Deutschen Bundestages.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
241 Unterzeichner dieses Antrags aus vier Fraktio-
nen machen es überdeutlich: Die Wiedereinsetzung des
parlamentarischen Ethikbeirats ist längst überfällig und
findet zahlreiche Unterstützung, nicht nur bei Parlamen-
Zu Protokoll
tariern, sondern auch unter anderen beim Präsident der
Bundesärztekammer, bei Mitgliedern des Deutschen
Ethikrates und Vertretern der Kirchen. Fragestellungen
der Bioethik brauchen einen umfassenden gesellschaftli-
chen und politischen Diskurs. Die Themenfelder sind
komplex und berühren in besonderem Maße die ethi-
schen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft; gerade
deshalb ist ein intensiver Austausch zwischen Wissen-
schaft, Öffentlichkeit und Politik nötig. Das bedeutet
auch, dass es nicht ausreicht, ein externes Beratungs-
gremium wie den Deutschen Ethikbeirat einzusetzen,
ohne gleichzeitig einen Ansprechpartner im Parlament
zu verankern. Wir brauchen für die Gewährleistung von
parlamentarischer Kompetenz und Sensibilität ein eige-
nes fachkompetentes Dialogforum und dürfen Aufga-
benbereiche nicht vollständig an ein außerparlamenta-
risches Gremium delegieren.
Mit der Einsetzung des Deutschen Ethikrates in der
16. Wahlperiode als Nachfolger des Nationalen Ethikra-
tes wurde das Gremium durch den Parlamentarischen
Beirat zu Fragen der Ethik ergänzt. Doch seit Beginn
der neuen Legislaturperiode im September 2009 blo-
ckiert Schwarz-Gelb die erneute Einsetzung des parla-
mentarischen Gremiums, das eine wichtige Scharnier-
funktion übernommen hat und durch die Ausweitung der
Kompetenzen, wie es dieser Antrag vorsieht, weiter
gestärkt würde.
Lassen Sie mich eines zunächst erwähnen, um keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich schätze die
Arbeit des Deutschen Ethikrates sehr und sehe die Ein-
setzung eines parlamentarischen Beirats in keiner Weise
als Konkurrenz. Es geht und ging nie darum, ein Gegen-
gremium oder Parallelstrukturen aufzubauen. Nein, der
parlamentarische Ethikbeirat hat seine eigene Bedeu-
tung und Legitimation. Der Deutsche Ethikrat braucht
einen Ansprechpartner im Bundestag; dafür ist der par-
lamentarische Beirat das adäquate Gremium. Um Poli-
tikberatung erfolgreich zu machen, muss es Abgeordnete
geben, die – auch aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Bei-
rat – Themen und Empfehlungen aufarbeiten und in die
Fraktionsdebatten einbringen. Dies hat auch der Be-
richt über die Tätigkeit des Beirats deutlich gemacht:
Wir brauchen die Scharnierfunktion zwischen externem
Ethikrat und Parlament, um zu verhindern, dass wich-
tige ethische Fragestellungen nicht im Alltagsgeschäft
untergehen.
Die Arbeit des parlamentarischen Beirats hat in den
zwei Jahren seiner Existenz Positives geleistet und die
Debatte bereichert. Um Themen zu identifizieren, hat
sich der Beirat auch mit inhaltlichen Fragestellungen
befasst und Expertengespräche beispielsweise zu Nano-
technologie, Chimären- bzw. Hybridbildung und synthe-
tischer Biologie durchgeführt. Letztgenannter For-
schungsbereich, synthetische Biologie, wurde durch den
Beirat neu aufgegriffen und damit in seiner Bedeutung
gestärkt. Im Anschluss daran wurde im Juli 2009 das
Büro für Technikfolgenabschätzung beauftragt, eine
Stellungnahme zu den Entwicklungen in der syntheti-
schen Biologie unter Einbeziehung der Aktivitäten auf
europäischer und internationaler Ebene vorzubereiten.
Dennoch haben wir Grünen von Anfang an kritisiert,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5405
gegebene Reden
5406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Priska Hinz (Herborn)
(A) (C)
(D)(B)
dass der Beirat nicht über ausreichende Kompetenzen
verfügt und sich die Arbeitsweise nur teilweise bewährt
hat. Die Zusammenarbeit zwischen Ethikbeirat und
Deutschem Ethikrat kann sich nicht weiterhin darauf
beschränken, Stellungnahmen und Berichte entgegenzu-
nehmen, sich aber selbst nicht inhaltlich äußern zu dür-
fen und Empfehlungen zu erarbeiten.
Aus diesem Grund fordern wir in diesem Antrag zu-
sätzliche Kompetenzen, damit der Deutsche Bundestag
selbstbewusst und in eigenständiger Rolle Positionen
aufbereiten kann. Der Beirat soll sich in Zukunft auf dem
Wege der Selbstbefassung Schwerpunkte geben können,
Empfehlungen vorlegen und Anhörungen durchführen
sowie inhaltliche Beschlüsse fassen können. Ethische
Fragestellungen gehören in die Mitte des Parlaments
und dürfen nicht komplett ausgelagert werden. Durch
Abstimmung und Kooperation mit dem Deutschen Ethik-
rat würden auch weiterhin keine Doppelstrukturen ent-
stehen. Die Einsetzung eines parlamentarischen Ethik-
beirates ist dringend geboten. Warum sich die Damen
und Herren der CDU/CSU-Fraktion dagegen so zur
Wehr setzen, ist mir nicht verständlich.
Herr Kollege Feist hat in der FAZ kritisiert, es käme
zu einem „Flaschenhals“, wenn ethische Themen auf
den Beirat beschränkt blieben. Ich möchten Ihnen ent-
gegnen, dass die Einladung des Ethikrates in den For-
schungsausschuss und zu parlamentarischen Abenden
keine kontinuierliche Behandlung von bioethischen The-
men in einem dafür zuständigen Gremium ersetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
FDP, geben Sie sich einen Ruck; stimmen Sie diesem An-
trag zu und lassen Sie uns dann im Ethikbeirat konstruk-
tiv zusammenarbeiten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1806 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Monika Lazar, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Unterstützung für Alleinerziehende verbes-
sern
– Drucksache 17/2330 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dorothee
Bär, Nadine Müller, Christel Humme, Miriam Gruß,
Jörn Wunderlich und Katja Dörner.
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Wir debattieren heute über einen Antrag, von dem die
Antragsteller selbst zugestehen, dass er in der Mehrzahl
Forderungen an die Bundesregierung enthält, an deren
Umsetzung ohnehin bereits seit längerem gearbeitet
wird. Die Bundesregierung ist nicht tatenlos geblieben.
Alleinerziehende sind in unserer Gesellschaft längst
keine Randgruppe mehr. Fast jede fünfte Familie in
Deutschland ist alleinerziehend; über 2 Millionen min-
derjährige Kinder leben bei ihren alleinerziehenden
Müttern oder Vätern. Obwohl der Wunsch alleinerzie-
hender Eltern nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit
groß ist und die meisten gerne erwerbstätig wären, rei-
chen die vorhandenen Rahmenbedingungen häufig nicht
aus, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
41 Prozent der Alleinerziehenden – das sind über
600 000 Eltern mit 1 Million Kindern – erhalten Leis-
tungen nach dem SGB II. Es mangelt an Plätzen in Kin-
dertagesstätten und Ganztagsschulen sowie an familien-
freundlichen Arbeitszeiten. Daher war und ist es richtig,
dass Alleinerziehende die besondere Unterstützung der
Gesellschaft benötigen und auch bekommen müssen.
Bereits in der letzten Legislaturperiode hat die von
CDU/CSU geführte Bundesregierung neue Handlungs-
konzepte zur Unterstützung Alleinerziehender entwi-
ckelt, die jetzt auch im Antrag der Grünen eingefordert
werden:
Alleinerziehende benötigen finanzielle Unterstützung
zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit der Einführung
des Elterngeldes, der Weiterentwicklung des Kinderzu-
schlags, der Anhebung des Kindergeldes und der Ein-
führung des Schulbedarfspakets wurde Erhebliches zur
Armutsvermeidung von Alleinerziehenden geleistet. Im
Koalitionsvertrag haben Union und FDP zudem verein-
bart, den Unterhaltsvorschuss künftig bis zum 14. Le-
bensjahr des Kindes zu zahlen.
Alleinerziehende benötigen Unterstützung bei der
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben. Um sie in
die Lage zu versetzen, selbst für ihren Unterhalt zu sor-
gen, hat das Familienministerium vor gut einem Jahr
das Modellprojekt „Vereinbarkeit für Alleinerziehende“
aufgelegt. Bis März 2010 sind an 12 Pilotstandorten die
Angebote der Arbeitsagenturen und Grundsicherungs-
stellen mit der bestehenden Infrastruktur vor Ort ver-
zahnt worden. Es entstanden wirksame Netzwerke aus
Beratung und praktischer Hilfe vor Ort – von einem
abgestimmten Angebot an Kinderbetreuung bis zur
zielgenauen Qualifizierung und Beschäftigung, die Al-
leinerziehende in die Lage versetzten, sich aus dem
Transferbezug zu befreien. Die Pilotprojekte wurden un-
terstützt von den Lokalen Bündnissen für Familie und
sollen jetzt in die Breite getragen werden.
Darüber hinaus hat Bundesarbeitsministerin Ursula
von der Leyen angekündigt, dass sie dafür Sorge tragen
wird, dass in den Jobcentern der Blickwinkel auf Allein-
erziehende verändert wird. Jobcenter sollen Alleinerzie-
hende nicht länger als schwer vermittelbar ansehen,
sondern aktiv mithelfen, ihnen konsequent alle Hürden
aus dem Weg zu räumen, die einer Erwerbstätigkeit im
Wege stehen. Eine gute Kinderbetreuung zu organisieren
und mit den Arbeitgebern flexible und damit familienge-
rechte Arbeitsbedingungen aushandeln, ist keine fami-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) (C)
(D)(B)
lienpolitische Schwärmerei, sondern handfeste zukunfts-
weisende Arbeitsmarktpolitik.
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit bleibt
für Alleinerziehende eine Leerformel ohne ausreichende
und qualitativ hochwertige Angebote der Kinderbetreu-
ung. Durch bevorzugte Berücksichtigung von Alleiner-
ziehenden bei der Platzvergabe wird diesem Anliegen
Rechnung getragen. Der geplante Rechtsanspruch ab
2013 beschränkt sich nicht auf halbtägige Betreuung.
Der Umfang der täglichen Unterstützung richtet sich
nach dem individuellen Bedarf – und der liegt bei Allein-
erziehenden natürlich höher als bei anderen Familien.
Auch mit der Forderung nach Qualitätsverbesserung
der Kinderbetreuung tragen die Grünen mit ihrem An-
trag Eulen nach Athen: Die Bundesregierung unterstützt
die für die Aus- und Fortbildung verantwortlichen Bun-
desländer in ihrem Bemühen, die Qualität in der Kinder-
betreuung kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu ver-
bessern. Der Bund beteiligt sich daher nicht nur an den
Ausbaukosten für die Betreuungsplätze, sondern auch
an den Betriebskosten. Hierzu zählen auch Kosten für
zusätzlich erforderlich werdendes Personal. Bund und
Länder haben bereits 2008 einen Qualifizierungspakt
für Fachkräfte in der Betreuung von Kindern unter drei
Jahren beschlossen.
Seither wurde einiges erreicht: Seit 2009 ist die Auf-
stiegsfortbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher bun-
desweit staatlich förderfähig. Für pädagogische Fach-
kräfte in Kindertageseinrichtungen wurden Programme
für die Fort- und Weiterbildung entwickelt. Über das
Bundesbildungsministerium wird die Medienqualifizie-
rung der Erzieher gefördert; das BMFSFJ plant ein Pro-
gramm zur Erhöhung der Anzahl männlicher Fachkräfte
in Kitas. Es gibt das Aktionsprogramm Kindertages-
pflege, mit dem Tagespflegepersonen gewonnen werden
sollen.
Diesen Forderungen der Grünen können wir also
nicht nur zustimmen. Wir setzen sie bereits mit unseren
eigenen familienpolitischen Konzepten um. Ablehnen
werden wir dagegen die weiteren Vorschläge, die keines-
wegs primär den Alleinerziehenden nützen. Wir lehnen
es ab, das Ehegattensplitting abzuschaffen, da es – an-
ders als es im Antrag behauptet wird – sehr wohl zu ei-
ner Förderung von Familien führt. Das Zerrbild der kin-
derlosen Millionärsgattin, die es sich auf Steuerzahlers
Kosten gut gehen lässt, spiegelt ja nun wirklich nicht
den Regelfall wider. Ebenfalls ablehnen werden wir die
Forderung, die Ankündigung des Betreuungsgeldes aus
dem SGB VIII zu streichen, das BAföG durch eine Kin-
derkomponente zu ergänzen und eine Kindergrundsiche-
rung einzuführen.
Auch bleibt es bei der im Sparpaket vorgesehenen
künftigen Anrechnung des Elterngeldes auf SGB-II-Leis-
tungen. Diese Verrechnung des Elterngeldes bei Lang-
zeitarbeitslosen ist uns nicht leicht gefallen. Aber dieser
Schritt ist vertretbar, weil der Lebensunterhalt von
Langzeitarbeitslosen und ihren Kindern vollständig vom
Staat finanziert wird. Zudem werden wir an anderer
Stelle das Geld gezielter in bessere Bildungschancen für
diese Kinder investieren.
Zu Protokoll
Weil Alleinerziehende den Alltag mit ihren Kindern
alleine meistern müssen und sie bei Haushaltsführung,
Kindererziehung und Sicherung des finanziellen Ein-
kommens viel stärker gefordert sind als Elternpaare, ha-
ben CSU und CDU sie mit einem umfangreichen Maß-
nahmenpaket unterstützt und bereits konkrete Hilfen
angestoßen. Ich freue mich, dass wir als Familienpoliti-
ker der Regierungskoalition dafür auch Unterstützung
aus der Opposition zu erfahren scheinen.
Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU):
Wir diskutieren heute den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel: „Unterstützung für Al-
leinerziehende verbessern“. Das Thema ist ein wichti-
ges. Sie wissen, dass es der CDU/CSU-Fraktion und
insbesondere den Familienpolitikerinnen und Familien-
politikern ein besonderes Anliegen ist, diejenigen zu un-
terstützen, die Kinder erziehen und somit für die Zukunft
unserer Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten.
Das gilt für Familien, das gilt aber selbstverständlich
auch für diejenigen, die diese Verantwortung – ob ge-
wollt oder ungewollt – alleine übernehmen. Das sind die
Alleinerziehenden. Die Unterstützung für diejenigen zu
verbessern, das halte ich für ein wichtiges Anliegen, das
Sie in Ihrem Antrag formulieren.
Und auch das formuliert der Antrag völlig richtig:
Alleinerziehende haben einen besonders schweren Stand
in unserer Gesellschaft – und das aus einer ganzen
Reihe von Gründen. Signifikante Zahlen dazu findet man
im jüngst erschienenen Familienbericht des Familien-
ministeriums. Demnach sind von den 8,4 Millionen Fa-
milien mit Kindern unter 18 Jahren 1,6 Millionen allein-
erziehend – Tendenz steigend. Das bedeutet konkret,
dass ungefähr jedes sechste Kind unter 18 Jahren bei ei-
nem alleinerziehenden Elternteil aufwächst. In 90 Pro-
zent der Fälle sind es die Mütter, die sich alleine um ih-
ren Nachwuchs kümmern.
Alleinerziehende Frauen und Männer stehen vor
zahlreichen und vielfältigen Herausforderungen und
Problemen, die sie im Alltag zu bewältigen haben. Zwar
haben zwei von drei Elternteilen jemanden, der ihnen
bei der Betreuung des Kindes oder mehrerer Kinder
hilft. Zumeist sind es enge Verwandte und Freunde, die
hier einspringen. Trotzdem haben viele das Gefühl, Fa-
milie und Beruf nicht unter einen Hut zu bekommen und
auch in anderen Bereichen des privaten und öffentlichen
Lebens das Nachsehen zu haben. Dieses Spannungsver-
hältnis wird besonders deutlich, wenn man sich vor Au-
gen hält, dass zwei Drittel der alleinerziehenden Frauen
mit Kindern unter 18 Jahren erwerbstätig sind. Sie kön-
nen sich leicht ausmalen, wie wertvoll und vor allem
selten freie Zeit wird, wenn sich eine alleinerziehende
Mutter oder ein alleinerziehender Vater neben dem Voll-
zeitjob noch um das heranwachsende Kind kümmert.
Neben erwerbstätigen Alleinerziehenden mit ihren
besonderen Problemen gibt es allerdings auch die weit
größere Gruppe von Alleinerziehenden, die sich ihren
Lebensunterhalt nicht selbstständig finanzieren können.
Insbesondere viele alleinerziehende Mütter sind auf Leis-
tungen der Arbeitslosenversicherung und des SGB II an-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5407
gegebene Reden
Nadine Müller (St. Wendel)
(A) (C)
(D)(B)
gewiesen. Fast drei Viertel der Alleinerziehenden mit
drei oder mehr Kindern beziehen Leistungen des SGB II.
Diese sehr hohe Hilfsquote hat zur Folge, dass Alleiner-
ziehende die gesellschaftliche Gruppe sind, die mit am
stärksten unter finanziellen Problemen leidet – während
der Erziehungszeit, aber auch im Alter. Vor allem für die
Kinder und ihre zukünftige Entwicklung ist dieser Zu-
stand sehr problematisch. Mit insgesamt einer Million
armutsgefährderter Kinder, die in Alleinerziehenden-
haushalten leben, ist diese Gruppe einfach viel zu groß.
Diese Zahlen beschreiben die schwierige Lage, in der
sich sehr viele Alleinerziehende befinden. Von daher ist
ein Antrag zu diesem Thema grundsätzlich berechtigt.
Bei der Lektüre der Forderungen von Bündnis 90/Die
Grünen war ich doch etwas verwundert, und ich will Ih-
nen sagen, weshalb. Erstens könnte man bei der Lektüre
Ihrer Zeilen den Eindruck bekommen, die jetzige Bun-
desregierung und auch die Vorgängerregierung hätten
sich nicht oder kaum um die Alleinerziehenden und ihre
Kinder gekümmert, sie sogar vernachlässigt. Jeder, der
Zeitung liest oder sich einmal in seinem Kreis von Ver-
wandten und Bekannten umhört, weiß, dass das nicht
der Fall ist.
Zweitens ist in keiner Weise erkennbar, in welche
Richtung Sie mit Ihren Forderungen eigentlich wollen
und welches gesellschaftliche Konzept dahinter steht.
Da soll mal an dieser Maßnahme etwas rumgedreht
werden, mal an jener, und am Ende soll es zusätzliches
Geld richten. Allem Anschein nach herrscht in Ihren
Reihen eine gewisse Orientierungslosigkeit darüber, wo
die familienpolitische Reise denn nun hingehen soll.
Und drittens frage ich mich, weshalb Sie die jüngsten
Programme und Aktivitäten des Familienministeriums
auf dem Gebiet der Alleinerziehenden bewusst ignorie-
ren. Ich möchte Sie deshalb recht herzlich einladen, den
Blick für das zu öffnen, was die Bundesregierung für Al-
leinerziehende und ihre Kinder tut. Ich bin Ihnen dabei
auch gerne mit einigen Beispielen behilflich.
Schon bei den Fragen, wie alleinerziehende Mütter
und Väter Familie und Beruf möglichst widerspruchsfrei
vereinbaren können, war und ist das Familienministe-
rium sehr aktiv. Vor etwa einem Jahr genau wurde bei-
spielsweise ein Projekt ins Leben gerufen, welches auf
intelligente Vernetzung unterschiedlicher Akteure setzt
und nicht bloß auf die Erhöhung von Leistungen, wie es
so häufig von vermeintlichen und selbsternannten Gut-
menschen aus dem linken politischen Spektrum gefor-
dert wird. Das Programm mit dem Namen „Vereinbar-
keit für Alleinerziehende“ knüpft Verbindungen
zwischen Trägern der Grundsicherung, Kammern, Ver-
bänden, Kommunen sowie Jugendhilfe- und Bildungs-
trägern. Auf kurzem Wege wird der Informationsaus-
tausch wesentlich verbessert. Alleinerziehende können
nun viel einfacher eine auf ihre Bedürfnisse zurechtge-
schneiderte Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten
erhalten. Die Tür auf den Weg zurück in den Arbeits-
markt wird ein Stück weiter aufgestoßen.
Gerade am Montag dieser Woche hat das Familien-
ministerium eine Impulsveranstaltung zu diesem Pro-
gramm durchgeführt. Im Sommer kommt der Abschluss-
Zu Protokoll
bericht über die Pilotprojekte, und bereits jetzt wird an
der Struktur der nächsten Förderperspektiven gearbei-
tet.
Dieses Programm geht Hand in Hand mit einer Viel-
zahl weiterer Maßnahmen und Initiativen, die auf den
Weg gebracht wurden. Ich denke dabei an das Pro-
gramm „Perspektive Wiedereinstieg“ oder an die zahl-
reichen Initiativen des BMAS und der Bundesagentur für
Arbeit sowie des BMFSFJ, die den Wiedereinstieg ins
Berufsleben und die Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf ermöglichen und erleichtern sollen. Dabei ist es ge-
rade für Alleinerziehende wichtig, ein flexibles und
niedrigschwelliges Netzwerk mit verlässlichen Struktu-
ren auf die Beine zu stellen und individuell zugeschnit-
tene Angebote zu machen. Dabei gilt es, neue Wege zu
gehen und neue Maßnahmen zu erproben sowie erfolg-
reiche Modellprojekte in die Fläche zu tragen. Meine
verehrten Kollegen und Kolleginnen von den Grünen,
der in Ihrem Antrag mal mehr, mal weniger deutlich er-
hobene Vorwurf der Untätigkeit läuft für jedermann er-
sichtlich voll ins Leere.
Übrigens, wenn ich das hier erwähnen darf: Selbst
DGB-Chef Michael Sommer, der ja nicht gerade in dem
Verdacht steht, ein Lobbyist schwarz-gelber Gesell-
schaftspolitik zu sein, lobt die Anstrengungen des Fami-
lienministeriums, die Chancen für Alleinerziehende mit
Hartz-IV-Bezug auf eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt
zu erhöhen. Ich finde das bemerkenswert.
Kaum anders verhält es sich mit dem in Ihrem Antrag
erkennbaren Vorwurf, die Regierungskoalition würde zu
wenig für die Kinder von Alleinerziehenden tun. Dem
lässt sich einfach entgegenhalten, dass gerade der Aus-
bau der Kinderbetreuungsplätze den Bedürfnissen der
Familien und Alleinerziehenden entgegenkommt. Die
Rahmenbedingungen zur Aufnahme einer vollen Er-
werbstätigkeit werden wesentlich verbessert.
Und um dann doch mal auf die monetären Leistungen
zu sprechen zu kommen, möchte ich natürlich auch nicht
die Erhöhung des Kindergeldes im Rahmen des Wachs-
tumsbeschleunigungsgesetzes unerwähnt lassen. In die-
sem Sinne wurde auch der Kinderfreibetrag von 6 024
auf 7 008 Euro erhöht. Sie sehen, dass auch in finanziell
schwierigen Zeiten Schwarz-Gelb Alleinerziehende nicht
im Stich lässt, sondern vielmehr auch die materielle Un-
terstützung ausbaut.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich natürlich auch
das Elterngeld, das einem alleinerziehenden Elternteil
mit alleinigem Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht
für eine Dauer von 14 statt 12 Monaten zusteht. Zusätz-
liche finanzielle Unterstützung gibt es durch das Wohn-
geld. Denn für Berechtigte, die allein mit ihren Kindern
zusammenwohnen und wegen ihrer Erwerbstätigkeit
oder einer Fortbildung länger außer Haus sind, gibt es
einen Einkommensfreibetrag von 600 Euro jährlich für
jedes Kind unter zwölf Jahren. Darüber hinaus schießt
der Staat Unterhalt vor, wenn dieser für das Kind aus-
bleibt. Unserer Koalitionsvertrag sieht dessen Auswei-
tung bis zum 14. Lebensjahr der Kinder bei gleichblei-
bender Leistungsdauer von maximal sechs Jahren vor.
5408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Nadine Müller (St. Wendel)
(A) (C)
(D)(B)
Ich könnte so noch eine ganze Weile fortfahren, will
dies aber mit Blick auf die Zeit nicht tun. Lassen Sie
mich aber bitte Folgendes abschließend anmerken: Ihr
Antrag bildet keine ernst zu nehmende Alternative zur
unserer Familienpolitik und unserer Politik gegenüber
alleinerziehenden Müttern und Vätern und ihren Kin-
dern. Sie verheddern sich vielmehr im Klein-Klein und
im Dickicht von Einzelforderungen, die einen anderslau-
tenden Gesamtentwurf vermissen lassen. Es stellt sich
ein wenig die Frage: wozu dieser Antrag und weshalb
gerade jetzt?
Weiter möchte ich noch auf einen anderen, weitestge-
hend unerwähnten, aber für mich zentralen Zusammen-
hang hinweisen: Meiner persönlichen Einschätzung
nach hat die sozialpolitische Debatte um die Lebenswelt
von Alleinerziehenden eine gewisse Schieflage. Viele
scheinen zu glauben, in der Erhöhung der Bezugsleis-
tungen und Vergünstigungen und dem Ausbau der Be-
treuungsangebote läge die Lösung. Internationale Stu-
dien wie eine der OECD und ein Vergleich zwischen den
Bundesländern sprechen da eine andere Sprache. Die
OECD sagt deutlich, dass es in Deutschland im Ver-
gleich zu anderen Ländern für Alleinerziehende zu we-
nige Anreize gibt, einer Berufstätigkeit nachzugehen.
Ich finde, unser Augenmerk sollte verstärkt auf der
Frage liegen, wie wir Anreize und Chancen vor allem
für Bezieher von Leistungen der Arbeitslosenversiche-
rung und des SGB II schaffen können, wieder ihren Weg
zurück auf den Arbeitsmarkt zu finden. In diese Richtung
zielt unsere Politik für Alleinerziehende, ohne dabei die
Unterstützungsleistungen zu vernachlässigen. Wir
möchten, dass mehr Menschen ihr Leben und somit auch
das ihrer Kinder wieder selbst in die Hand nehmen. Ich
möchte dafür werben, uns auf diesem Weg zu unterstüt-
zen.
Christel Humme (SPD):
„Alleinerziehende – von der Gesellschaft im Stich ge-
lassen!“ So überschrieb 2007 eine große deutsche Frau-
enzeitschrift einen Artikel, der die Lebenssituation, die
Sorgen und Nöte von Alleinerziehenden näher unter die
Lupe nahm.
Wie berechtigt ist diese Beschreibung? Wie ist die
Lage von Alleinerziehenden heute? Wie ist ihre Lebens-
situation und die ihrer Kinder? – Ich begrüße es, dass
sich der Deutsche Bundestag heute erneut mit der Situa-
tion von Alleinerziehenden beschäftigt und wir gemein-
sam eine Bestandsaufnahme vornehmen können.
Sicher ist: den oder die typische Alleinerziehende gibt
es nicht. Trotz der unterschiedlichen Lebenslagen haben
viele der rund 1,6 Millionen Alleinerziehenden sehr
ähnliche Bedürfnisse. 2,2 Millionen Kinder und Jugend-
liche unter 18 Jahren leben in Alleinerziehendenhaus-
halten – überwiegend bei ihren Müttern, denn 90 Pro-
zent aller Alleinerziehenden in Deutschland sind
Frauen.
Alleinerziehende sind vor besondere Herausforde-
rungen gestellt. Die immer noch problematische Verein-
barkeit von Familie und Beruf, die ungleiche Bezahlung
Zu Protokoll
von Frauen und Männern wirken sich bei dieser Gruppe
besonders nachteilig aus. Außerdem sind vor allem al-
leinerziehende Frauen überproportional stark in Teilzeit
oder Minijobs tätig.
Staat und Gesellschaft sind hier in vielerlei Hinsicht
gefordert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten haben in Regierungsverantwortung den Wunsch
nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie nach
besten Chancen für alle Kinder aufgegriffen.
Beim Ausbau der Kinderbetreuung müssen wir weiter
vorangehen und mehr Tempo machen. Denn ein flexi-
bles, bedarfsgerechtes und qualitativ gutes Betreuungs-
und Bildungsangebot für Kinder aller Altersstufen ist
der Schlüssel gerade für Alleinerziehende, Familie und
Beruf miteinander verbinden zu können.
Um den Bedarf an Betreuungsplätzen vor Ort besser
einschätzen zu können, brauchen wir aktuelle Zahlen.
Erst auf Grundlage dieser Daten können wir wirklich
beurteilen, ob der tatsächliche Bedarf nicht zu niedrig
angesetzt sein könnte.
Unser gemeinsames Ziel muss sein, von Rostock bis
Konstanz ein flexibles und bedarfsgerechtes Betreuungs-
angebot für alle Kinder bereitstellen zu können. Denn
nur so schaffen wir tatsächliche Wahlfreiheit und er-
möglichen es Frauen und Männern, Familie und Beruf
so zu vereinbaren, wie sie es möchten.
Frau Ministerin, werden Sie aktiv und berufen Sie so
schnell wie möglich einen Krippengipfel ein. Auf der
Grundlage aktueller Daten muss geklärt werden, wie
der Bund die Länder und Kommunen bei dieser wichti-
gen gesellschaftspolitischen Aufgabe zusätzlich unter-
stützen kann. Ein schneller Ausbau unserer Bildungs-
und Betreuungsinfrastruktur hat höchste Priorität. Nur
die Hände in den Schoß zu legen und Zweckoptimismus
zu verbreiten, hilft niemandem.
Es ist immerhin erfreulich, dass Sie Ihrem Mentor
Roland Koch öffentlich widersprochen haben, als dieser
den vereinbarten Rechtsanspruch auf einen Betreuungs-
platz ab 2013 infrage gestellt hat. Das allein reicht aber
nicht aus.
Gute und verlässliche Betreuung ist ein zentraler
Baustein in der wirksamen Unterstützung von Alleiner-
ziehenden.
Erwerbstätige Alleinerziehende stehen häufig alleine
in der Verantwortung, ein existenzsicherndes Einkom-
men für sich und ihre Kinder zu erzielen. Gute Löhne
sorgen außerdem für eine existenzsichernde Alterssiche-
rung. Da 90 Prozent der Alleinerziehenden Frauen sind,
erfahren sie besonders stark die immer noch bestehen-
den Diskriminierungen im Erwerbsleben – insbesondere
bei der Entlohnung. Denn noch immer verdienen Frauen
im Durchschnitt 23 Prozent weniger als ihre männlichen
Kollegen.
Daher brauchen wir endlich gesetzliche Regelungen
für gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit
sowie einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ist der rich-
tige Weg, um Alleinerziehende wirksam vor Armut und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5409
gegebene Reden
Christel Humme
(A) (C)
(D)(B)
einer dauernden Abhängigkeit von staatlichen Transfer-
leistungen zu schützen.
Neben guter Kinderbetreuung, existenzsichernden
Löhnen und gezielten finanziellen Hilfen brauchen ar-
beitsuchende Alleinerziehende eine individuelle Bera-
tung und passgenaue Arbeitsvermittlung in den Arbeits-
agenturen sowie speziell auf ihre Lebenssituation
zugeschnittene Bildungs- und (Weiter-)Qualifizierungs-
angebote.
Bildung und Weiterqualifizierung kommt bei Alleiner-
ziehenden eine besondere Rolle zu. Mehr als ein Viertel
aller Alleinerziehenden und über die Hälfte der allein
erziehenden Arbeitslosen haben keinen beruflichen Ab-
schluss. Bei jungen Müttern unter 25 Jahren liegt der
Anteil sogar bei 70 Prozent. Hier müssen wir mit pass-
genauen Bildungs- und Qualifizierungsangeboten anset-
zen.
Wir haben daher in der großen Koalition den Rechts-
anspruch auf das geförderte Nachholen eines Schul-
abschlusses durchgesetzt. Jetzt geht es darum, dies
während der Kindererziehung auch in Teilzeit zu ermög-
lichen.
Was hilft nun Alleinerziehenden und ihren Kindern
am besten? Sie brauchen einen Mix aus Infrastruktur,
zielgerichteter finanzieller Hilfe und Zeit.
Stattdessen müssen sie unter der unsozialen Familien-
förderung von Schwarz-Gelb ächzen. Neben der unso-
zialen Kürzung bzw. gar der Streichung des Elterngeldes
für Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II-Leis-
tungen ist der aktuelle Familienausgleich ein weiteres
Beispiel für eine verfehlte und unsoziale Steuerpolitik.
Jedes Kind sollte dem Staat selbstverständlich gleich
viel wert sein, unabhängig vom Einkommen der Eltern.
Der aktuelle Familienleistungsausgleich erfüllt dieses
Ziel eindeutig nicht. Denn reiche Familien werden über
höhere Steuerabzugsmöglichkeiten viel stärker entlastet
als Familien mit geringem Einkommen durch ein erhöh-
tes Kindergeld.
Daher wollen wir einen Kindergrundfreibetrag, denn
damit wird jedes Kind wirklich gleich stark gefördert.
Durch diesen Abzug von der Steuerschuld würden wir
auch Familien mit niedrigem Einkommen und damit
auch Alleinerziehende stärker fördern können. Jetzt pro-
fitieren hauptsächlich Gut- und Spitzenverdiener von
der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs-
kosten.
Außerdem wollen wir Alleinerziehenden mit dem Kin-
derzuschlag zielgenau helfen. Damit wir Alleinerzie-
hende mit ihren Kindern mit diesem Instrument besser
erreichen können, wollen wir den Kinderzuschlag wei-
terentwickeln.
Unabhängig davon bleibt unser sozialdemokratisches
Ziel: kostenlose Betreuung und Bildung – von der Kita
bis zur Universität!
Die heutige Debatte mit vielen richtigen Vorschlägen
auch aus dem Antrag der Grünen hat es noch einmal
deutlich gemacht. Alleinerziehende brauchen ein abge-
Zu Protokoll
stimmtes Konzept und individuelle Hilfen um in ihrer be-
sonderen Situation Berufstätigkeit und Kindererziehung
vereinbaren zu können, nicht in Armut abzurutschen und
ihren Kindern die Chancen bieten zu können, die sie ver-
dient haben.
Die SPD hat im April mit dem Beschluss „Alleiner-
ziehende – LeistungsträgerInnen unserer Gesellschaft“
ein umfassendes Gesamtkonzept mit konkreten Schritten
zur gezielten Förderung dieser Familienform vorgelegt.
Und was tut die zuständige Ministerin?
Sicherlich nicht nur ich hätte mir gewünscht, dass
Frau Schröder auch bei der Verteidigung anderer Posi-
tionen ihres Haushaltes als Interessensvertreterin von
Millionen Familien und Kindern in diesem Land Wider-
stand bei den massiven Haushaltseinschnitten geleistet
hätte. Stattdessen hat sie die unsozialen Kürzungen beim
Elterngeld und gar die Streichung des Elterngeldes für
Empfängerinnen und Empfänger von Hartz IV klaglos
hingenommen. Dies, Frau Ministerin, zeigt leider, dass
Ihnen offenbar der Zugang und die dramatischen Aus-
wirkungen dieser unsozialen Streichungen nicht bewusst
sind – oder Sie diese billigend in Kauf nehmen. Stattdes-
sen nicken Sie völlig überflüssige Steuerprivilegien für
Luxushotels ab.
Ich fasse zusammen: Ein überzeugendes Konzept ge-
gen Familien- und Kinderarmut und eine zielgerichtete
Förderung von Alleinerziehenden ist seitens der zustän-
digen Ministerin und der schwarz-gelben Bundesregie-
rung leider weit und breit nicht in Sicht.
Alleinerziehende und ihre Kinder haben Besseres ver-
dient als eine Regierung des sozialen Kahlschlags und
eine Fachministerin auf Tauchstation.
Miriam Gruß (FDP):
Die FDP steht für ein neues, modernes Familienbild,
das dem Wandel unserer Gesellschaft gerecht wird. Die-
ser Wandel äußert sich unter anderem in der steigenden
Zahl von Alleinerzieherhaushalten in Deutschland. Hier
sind neue Lösungsansätze von der Politik gefordert. Die
allgemeine Prämisse einer modernen liberalen Fami-
lienpolitik muss deshalb sein, Konzepte zu entwickeln,
die sowohl dem klassischen Familienbild als auch den
neuen Realitäten gerecht werden.
Die Zahl der Alleinerziehenden in Deutschland steigt,
und damit auch die Zahl der Kinder, die in Alleinerzie-
herhaushalten aufwachsen. Für diese Entwicklung gibt
es viele Gründe – die meisten Alleinerziehenden sind ge-
schieden oder leben in Trennung, andere sind verwitwet.
Wieder andere entscheiden sich aber auch ganz bewusst
gegen eine traditionelle Form der Familie. So unter-
schiedlich die Gründe für die Entscheidung auch sein
mögen, so sehen sich doch Alleinerziehende grundsätz-
lich ähnlichen Problemlagen gegenüber: Sie können
sich im Alltag nicht auf einen Partner verlassen, befin-
den sich oftmals in einer ständigen Auseinandersetzung
um Unterhalt und Sozialleistungen und müssen sich ge-
gebenenfalls eine neue Wohnung oder einen neuen Ar-
beitsplatz suchen. Angesichts der Vielzahl von tatsächli-
chen Problemen und rechtlichen Fragen unterstützen
5410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Miriam Gruß
(A) (C)
(D)(B)
wir Liberalen die Forderung nach einer Erweiterung
von Kindertagesstätten zu Familienzentren.
Die finanzielle Situation von Alleinerziehenden ver-
schlechtert sich nach einer Trennung oder Scheidung
deutlich. Sie haben im Normalfall rund die Hälfte weni-
ger Einkommen zur Verfügung als ein vergleichbarer
Paarhaushalt mit zwei Kindern. Ehepaare, die getrennt
leben, benötigen aber sogar mehr Geld, um den gleichen
Lebensstandard zu erreichen wie eine in einem Haushalt
zusammenlebende Familie. Das zusätzlich benötigte
jährliche Haushaltsnettoeinkommen beträgt im Durch-
schnitt fast 10 000 Euro.
Die finanzielle Situation ist für das Leben und die Ge-
sundheit von Alleinerziehenden und ihren Kindern aber
von entscheidender Bedeutung; viel zu viele Kinder aus
Alleinerziehendenfamilien leben mit einem Armutsri-
siko. Der Anteil der Alleinerziehendenhaushalte, die
ALG-II-Leistungen oder Sozialgeld beziehen, ist über-
durchschnittlich hoch. Hier werden wir Lösungen und
Wege finden, wie diesem Trend entgegengewirkt werden
kann. Das Merkmal „alleinerziehend“ darf nicht in di-
rekter Verbindung mit prekären finanziellen Verhältnis-
sen stehen.
Zwei Drittel der nicht erwerbstätigen Alleinerziehen-
den würden aber gerne arbeiten. Wir werden daher neue
Wege finden müssen, um alleinerziehenden Elternteilen
den Weg in den Beruf zu ermöglichen. So ist zu prüfen,
wie durch Anreizsysteme die Teilzeitbeschäftigung at-
traktiver ausgestaltet werden kann, um die Vereinbarkeit
von Familie und Erwerbsleben zu erleichtern und Al-
leinerziehenden so die schrittweise Rückkehr in das Er-
werbsleben zu ermöglichen.
Was junge Alleinerziehende ohne Abschluss einer
Ausbildung oder mit dem Wunsch nach Weiterbildung
betrifft, werden wir innerhalb des jetzigen Finanzie-
rungssystems bessere Unterstützungsmaßnahmen schaf-
fen. Überlegungen wie etwa besondere Darlehen und
Stipendien oder Zuschüsse für die Kinderbetreuung für
Alleinerziehende während einer (Teilzeit-)Ausbildung
oder eines Fernstudiums sind hier mögliche Optionen.
Die Regierungsfraktionen setzen sich außerdem dafür
ein, als Sofortmaßnahme im Rahmen der bestehenden
Ausbildungsförderung für junge Menschen ein Baby-
BAföG einzuführen. Danach wird jeder Mutter, die
BAföG bezieht, die Möglichkeit eingeräumt, anstelle des
jetzt vorgesehenen Darlehensteilerlasses nach Ab-
schluss des Studiums für die Dauer ihres BAföG-Bezugs
eine Zulage – Baby-BAföG – zu beziehen. Gleichzeitig
wollen wir uns bei den Hochschulen, Ländern und Ge-
meinden für einen qualitativen und quantitativen Aus-
bau der Kinderbetreuung an Hochschulen bzw. an
Hochschulstandorten einsetzen.
Flexible Arbeitszeitmodelle oder auch Sabbaticals
für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
werden wir gerade auch mit Blick auf die steigende Zahl
von Alleinerziehenden ausbauen. Möglichkeiten zur Ver-
einbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sind auch
im Interesse der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber.
Großbetriebe gehen zu 66 Prozent davon aus, dass fami-
Zu Protokoll
lienfreundliche Maßnahmen zukünftig an Bedeutung bei
der Suche nach qualifiziertem Personal gewinnen wer-
den; denn trotz Krise hätten derzeit fast 29 Prozent der
Unternehmen Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu
finden.
Die Bundesregierung hält klar am ab 2013 geltenden
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz fest. Im Be-
richt 2008 über den Stand des Ausbaus für ein bedarfs-
gerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder
unter drei Jahren wird festgestellt, dass das aktuelle An-
gebot an Tageseinrichtungen und der Tagespflege für
Kinder im Alter von unter drei Jahren noch gesteigert
werden muss, um bis 2013 eine durchschnittliche Be-
treuungsquote von 35 Prozent zu erreichen. Hier sind
deutliche Anstrengungen in Ländern und Kommunen ge-
fragt. Wir befinden uns hierbei aber auf einem sehr gu-
ten Weg – in Ostdeutschland liegt die Betreuungsquote
schon jetzt bei teilweise 60 Prozent.
Im Koalitionsvertrag haben wir weitere Maßnahmen
für einen verbesserten qualitativen und quantitativen
flexiblen Ausbau bei Trägervielfalt auch unter Einbezie-
hung der Tagespflege vereinbart. Hierzu gehört nach
Auffassung der Liberalen ein Mix von Elterninitiativen,
Kinderbetreuungseinrichtungen, Tagesmüttern und -vä-
tern, privaten und privat-gewerblichen Initiativen und
betriebsnahen Einrichtungen, die sich durch Flexibilität
der Betreuungszeiten, ein qualitativ hochwertiges Ange-
bot oder durch Hol- und Bringdienste der veränderten
Nachfragesituation anpassen.
In einer Allianz von Bildungs- und Familienpolitik
gehören Kindertageseinrichtungen und Tagespflege zum
Fundament des Bildungssystems. Kinderbetreuungsein-
richtungen und Schulen müssen personell und struktu-
rell verlässlich ausgestaltet sein, um ihrem Bildungs-
und Betreuungsauftrag umfassend gerecht werden zu
können. Ganztagsangebote mit Mittagessen müssen ver-
stärkt angeboten werden.
Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest: Die Ver-
besserung der Situation von Alleinerziehenden stellt
klare Forderungen an den Staat, bis zu deren Erfüllung
es noch viel zu tun gibt. In diesem Zusammenhang sind
jedoch Maßnahmen wie ein flächendeckender Mindest-
lohn, wie er im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gefordert wird, nicht der richtige Ansatz. Anstatt
Arbeitsplätze zu riskieren, geht es vielmehr darum, bes-
sere Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf besonders auch für Alleinerziehende zu
schaffen. Dafür setzen wir uns ein.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Wir befassen uns heute in erster Lesung mit dem An-
trag der Fraktion der Grünen, die Unterstützung für Al-
leinerziehende zu verbessern. Im September 2008 habe
ich zu einem fast gleichlautenden Antrag Ihrer Fraktion
festgestellt, dass Ihr Antrag in vielen Dingen die Unter-
stützung der Linken findet und richtig gedacht ist. Aber
kritisch habe ich auch darauf hingewiesen, dass Ihr An-
trag in einigen Positionen nur halbherzig und unkonkret
ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5411
gegebene Reden
Jörn Wunderlich
(A) (C)
(D)(B)
Mit Interesse habe ich nun den vorliegenden Antrag ge-
lesen. Es bleibt die Frage: Was wollen Sie wirklich – ich
betone: wirklich – mit dem Antrag erreichen? Wie kon-
kret wollen Sie den Alleinerziehenden wirklich helfen?
Ich kann nur feststellen: Den Alleinerziehenden wird mit
Ihrem Forderungspaket nicht wirklich geholfen. Die Al-
leinerziehenden werden wieder alleine gelassen, weil
Sie in Ihren Forderungen unkonkret und an der Oberflä-
che bleiben.
Das Interessante jedoch ist: Mir kommen einige For-
mulierungen in Ihrem Antrag bekannt vor. Ich nenne ein
Beispiel: In Ihrem Antrag fordern Sie auf Seite 2 unter
Punkt II.1, um die spezifischen Benachteiligungen Al-
leinerziehender auszugleichen, den Rechtsanspruch auf
ganztägige Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen.
Eine langjährige Forderung der Linken! Bei Ihnen gibt
es nur eine kleine Einschränkung: Sie haben sich nicht
getraut, unsere Forderung nach Gebührenfreiheit mit zu
übernehmen.
Weiterhin wollen Sie spezifische Benachteiligungen
in der Steuerpolitik für die Alleinerziehenden ausglei-
chen. – Wie schön. Welche spezifischen Benachteiligun-
gen meinen Sie? Was wollen Sie ändern? Und – falls es
Ihnen nicht aufgefallen sein sollte – Sie haben den gan-
zen Abschnitt zu den Steuererleichterungen für die Al-
leinerziehenden, wie er im alten Antrag noch enthalten
war, im vorliegenden Antrag gestrichen.
Was soll das also? Weiter wollen Sie – Spiegelstrich 10 –
„… gemeinsam mit den Ländern im BAföG eine Kinder-
komponente … ergänzen, die eine bessere Vereinbarkeit
von Elternschaft und Studium während der Ausbildungs-
phase ermöglicht …“. Diese Kinderkomponente gibt es
bereits. Es wäre doch im Interesse der Alleinerziehenden
besser, über eine Anhebung der Kinderkomponente
nachzudenken.
Ich komme zu Punkt II.2 Ihres Antrages: Mit den For-
derungen zu den Regelsätzen gehen wir konform. Wo
bleiben Ihre Forderungen zum Kinderzuschlag? 67 Pro-
zent der Alleinerziehenden nehmen den Kinderzuschlag
in Anspruch; ein Großteil, obwohl er dadurch geringere
Leistungen erhält als beim ALG II, und dies nur, um
Hartz IV zu entkommen. Im Wissen darum, dass die Kin-
der derjenigen damit zwar aus der Hartz-IV-Statistik,
nicht aber aus der Armut verschwinden, verzichten Sie
auf konkrete Forderungen. Wir fordern die Ministerin
auf, die Einkommensgrenzen zu streichen, den Kinderzu-
schlag auf wenigstens 200 Euro anzuheben und den
Mehrbedarf für Alleinerziehende als Erhöhungsbetrag
auszuzahlen. Damit wäre den Alleinerziehenden spür-
bar geholfen.
Ich komme zu Punkt II.3: Ihre Forderungen klingen
genauso unverbindlich, wie die Formulierungen im Ko-
alitionsvertrag der Bundesregierung. Ich zitiere aus dem
Koalitionsvertrag:
Wir wollen die Rahmenbedingungen für Alleiner-
ziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern.
Dieses soll insbesondere in verlässlichen Netzwerk-
strukturen für Alleinerziehende lückenlos, flexibel
und niedrigschwellig bereitgestellt werden.
Zu Protokoll
In Ihrem Antrag klingt es sinngemäß: gemeinsam mit
den Ländern Unterstützungsangebote für Alleinerzie-
hende im sozialen Nahraum etablieren, um bei der Be-
wältigung von multiplen Problemlagen zu helfen. – Was
soll das? Sie bleiben auch hier Ihren unverbindlichen
Forderungen treu.
Zum Schluss noch zum Punkt II.4 Ihres Antrages: Ich
zitiere:
Die Benachteiligung von Transferempfängern beim
Elterngeld, die insbesondere Alleinerziehende be-
trifft (wieder) zu beseitigen.
Sie wollen hier etwas abschaffen, was noch gar nicht
geltendes Recht ist? Was soll diese Forderung?
Fazit: Wenn Sie den Alleinerziehenden wirklich hel-
fen wollen, dann lassen Sie uns konkrete Vorschläge er-
arbeiten. Es müssen sofort spürbare Veränderungen auf
den Tisch, wenn die Politik nicht weiter an Glaubwür-
digkeit verlieren soll. Mit Ihrem Antrag wollen Sie of-
fene Türen einlaufen? Nein! Sie bleiben wieder vor den
offenen Türen stehen und suchen verzweifelt nach der
Klinke. Eine materielle Sicherstellung der Alleinerzie-
henden lässt Ihr Antrag vermissen. Lassen Sie uns bes-
ser gemeinsam eine Lösung finden – im Interesse aller
Kinder.
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wer Kinder erzieht, verdient Respekt. Doch Respekt
und warme Worte allein reichen nicht! Familien brau-
chen gute Rahmenbedingungen und tatkräftige Unter-
stützung. Das gilt umso mehr für Alleinerziehende. Sie
sind im Alltag stärker belastet, müssen viele schwierige
Entscheidungen oft alleine treffen und sind in kritischen
Situationen oft auf sich gestellt. Alleinerziehende sind
öfter von Armut betroffen als Paare mit Kindern. Auf-
grund dieser Belastungen haben Alleinerziehende sogar
einen schlechteren Gesundheitszustand. Alleinerzie-
hende sind keine Randgruppe in unserer Gesellschaft.
Nahezu jedes siebte Kind in den alten Bundesländern
wird von einem Elternteil allein großgezogen. In den
neuen Bundesländern ist es sogar jedes fünfte Kind. Fa-
milie in Deutschland ist bunt und vielfältig. Dem müssen
die Unterstützungsstrukturen in der Familienpolitik
Rechnung tragen.
Ein Blick in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag
macht einen fast glauben, Union und FDP hätten das
verstanden. Denn dort heißt es: „Wir wollen die Rah-
menbedingungen für Alleinerziehende durch ein Maß-
nahmenpaket verbessern. Dieses soll insbesondere in
verlässlichen Netzwerkstrukturen für Alleinerziehende
lückenlos, flexibel und niedrigschwellig bereitgestellt
werden.“ Der Blick auf das Regierungshandeln ist umso
ernüchternder. Was unternimmt die Bundesregierung
denn tatsächlich für Alleinerziehende? Den Anspruch
auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren zu ver-
teidigen, reicht nicht. Die Herausforderungen in diesem
Bereich sind riesig: Nicht nur quantitativ, auch qualita-
tiv brauchen wir deutliche Verbesserungen. Wo sind die
Ganztagsplätze, auf die berufstätige Mütter so dringend
angewiesen sind? Was unternimmt die Bundesregierung,
5412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5413
Katja Dörner
(A) (C)
(D)(B)
um die Einkommenssituation von Alleinerziehenden zu
verbessern? Passiert etwas in Richtung sozialer und ge-
sundheitlicher Unterstützung? Nein, passiert ist nichts.
Im Gegenteil: Die Koalition hat sich gerade von der Re-
form des Kinderzuschlags verabschiedet, von der vor al-
lem Alleinerziehende profitieren sollten. Auch in der
Versenkung verschwunden sind Pläne zur Verbesserung
des Unterhaltsvorschusses, der gezahlt wird, wenn un-
terhaltspflichtige Väter keinen Unterhalt leisten.
Die Koalition macht Politik mit sozialer Schieflage,
von der Alleinerziehende entweder gar nicht profitieren
oder die sie stärker als andere Familien belasten. Dazu
ein Beispiel: Die Kindergelderhöhung auf 184 Euro
bringt 38 Prozent der Alleinerziehenden keine Verbesse-
rung; denn sie bekommen ALG-II-Leistungen und das
Kindergeld wird komplett angerechnet. Für diese Kinder
und ihre Eltern bedeutet es nicht nur leer auszugehen,
sondern noch weitere 20 Euro weniger zu haben als an-
dere. Ebenso sind Alleinerziehende durch die Streichung
des Sockelbetrages beim Elterngeld überproportional
betroffen. Und Arbeitsministerin von der Leyen setzt
dem allen die Krone auf. Sie garniert die geltende Geset-
zeslage zur Arbeitsförderung und Arbeitsvermittlung mit
Allgemeinplätzen und Propaganda und nennt das Ver-
mittlungsoffensive für Alleinerziehende. Die Koalition
befindet sich seit acht Monaten in permanenten Start-
schwierigkeiten. Zu Taten wird sie sich wohl schwerlich
durchringen. Zu leiden haben darunter gerade die Fa-
milien und Kinder, die sowieso schon mehr schultern
müssen als andere.
Alleinerziehende brauchen gezielte Unterstützung.
Sie brauchen wirksamen Schutz vor Armut und Arbeits-
losigkeit, und daher eine funktionierende adäquate Ar-
beitsvermittlung und eine gerechte Kindergrundsiche-
rung. Sie brauchen qualitativ hochwertige ganztägige
Kinderbetreuung, und damit es mit dem Rechtsanspruch
schnell klappt und überhaupt klappt, muss sich die Bun-
desregierung noch mal mit Ländern und Kommunen zu-
sammensetzen, realitätstaugliche Zahlen auf den Tisch
legen und ein faires, solides Finanzierungssystem verab-
reden. Alleinerziehende brauchen aber auch niedrig-
schwellige Unterstützungsangebote, die ihnen den All-
tag erleichtern und ihre Gesundheit stärken statt
Sparmaßnahmen bei Gesundheit und Jugendhilfe.
Bislang verweigern Sie diesen Familien die notwen-
dige Unterstützung. Angesichts der Aussage im Koali-
tionsvertrag will ich aber die Hoffnung noch nicht auf-
geben, dass wir auf der Grundlage der Vorschläge in
unserem Antrag gemeinsam Maßnahmen in die Wege
leiten, um Alleinerziehende und ihre Kinder besser zu
unterstützen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2330 an den Ausschuss für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Steinkohlesubventionen jetzt überprüfen
– Drucksache 17/2142 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar die Reden
der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Rolf
Hempelmann, Paul K. Friedhoff, Ulla Lötzer und Oliver
Krischer.
Thomas Bareiß (CDU/CSU):
Das Thema Steinkohlesubventionen ist ein schwieri-
ges und emotionales Thema. Dies hat vielerlei Gründe.
Zum einen entsteht diese Emotionalisierung durch die
große Bedeutung der Steinkohle in unserem derzeitigen
Energiemix und die langjährige Tradition in Deutsch-
land, zum anderen aufgrund ihrer Bedeutung als lang-
jährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrgebiet.
Erstens. Bedeutung von Steinkohle: Stein- und Braun-
kohle sind die einzigen heimischen fossilen Energieroh-
stoffe und haben daher eine besondere Bedeutung für
Deutschland. Weltweit ist Deutschland mit circa 24 Millio-
nen Tonnen geförderter Steinkohle im Jahr hinter bei-
spielsweise China, den USA, Indien, Australien und Russ-
land weltweit auf Platz zehn bei der Förderung von
Steinkohle. Innerhalb der EU liegt Deutschland nach
Polen auf Platz zwei. Bei der aktuellen Förderquote liegt
die Reichweite der deutschen Kohle bei etwa 400 Jahren.
Insbesondere die Menschen in der Region haben eine
besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem
historische Gründe. Das Ruhrgebiet gilt als eine der be-
deutendsten deutschen und europäischen Industrie-
regionen. Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie mög-
lich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über
Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes
und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen.
Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war der Stein-
kohlebergbau ein Fundament für den Wiederaufbau. In
den 50er-Jahren erreichte der Steinkohlebergbau einen
Anteil von über 10 Prozent am Bruttosozialprodukt.
Heute hat die Steinkohle einen Anteil von 14 Prozent
am Endenergieverbrauch und 18 Prozent am Brutto-
stromverbrauch. Kurz- und mittelfristig wird sie nicht
ohne Weiteres substituiert werden können. Dies ist be-
sonders daran erkennbar, dass die Absicherung der Mit-
tellast fast ausschließlich von Steinkohlekraftwerken be-
reitgestellt wird. Mögliche Alternativen sind zwar Erd-
und Biogas. Verglichen mit den Herstellungskosten von
rund 3 Cent – ohne Subventionen – für die Herstellung
einer Kilowattstunde Strom aus Steinkohle, sind trotz der
Erhöhung des Herstellungspreises aufgrund des Weg-
falls der Subventionierung Erdgas oder Biogas eine sehr
Thomas Bareiß
(A) (C)
(D)(B)
unwirtschaftliche Alternative zur Bereitstellung der Mit-
tellast. Demnach wird mittelfristig die Steinkohle auch
weiterhin eine wichtige Rolle in unserem Energiemix
spielen.
Der starke Ausbau der erneuerbaren Energien in
Deutschland ermöglicht höhere Minderungsziele für den
CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber auch – und das
sage ich in aller Deutlichkeit – den Neubau von Kohle-
kraftwerken notwendig. Diese werden zur Ergänzung
des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwankenden
Angebots an erneuerbaren Energien dringend ge-
braucht.
Zudem ermöglicht der Bau von neuen, hoch effizien-
ten Kraftwerken das Abschalten alter und ineffizienter
Anlagen aus Klimaschutzgründen. Exemplarisch ist das
zurzeit im Bau befindliche Kohlekraftwerk Datteln, das
zu den modernsten seiner Art gehört. Mit einem Wir-
kungsgrad von 45 Prozent ist Datteln eines der effizien-
testen Steinkohlekraftwerke weltweit und spart gegen-
über Altkraftwerken 20 Prozent CO2 pro erzeugter
Kilowattstunde Strom. Mithilfe von Kraftwärmekopp-
lung – KWK – kann dabei ein Nutzungsgrad von über
50 Prozent erreicht werden.
Andere Länder setzen zunehmend auf Steinkohle. In
China gehen jede Woche mehrere Kohlekraftwerke ans
Netz. Obwohl die Chinesen bereits der größte Steinkoh-
leförderer weltweit sind, importieren sie sogar Stein-
kohle aus anderen Ländern. Auch die massiven Investi-
tionen der USA in CCS und die Entscheidung der EU für
CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Steinkohle durch-
aus Zukunft hat.
Zweitens. Steinkohleförderung in Deutschland: Was
die Zukunft der Steinkohleförderung in Deutschland an-
geht, ist Folgendes zu sagen: Mit dem Steinkohlefinan-
zierungsgesetz aus 2007 ist eine wichtige ordnungspoli-
tische Grundsatzentscheidung getroffen und der größte
Subventionsabbau seit Bestehen der Bundesrepublik be-
schlossen worden. Der deutsche Steinkohlebergbau ist
seit vielen Jahren aufgrund seiner ungünstigen geologi-
schen Bedingungen international nicht wettbewerbsfä-
hig. Milliardenschwere Subventionen, fast zwei Milliar-
den Euro pro Jahr in den letzten Jahren waren bisher
notwendig, damit der deutsche Steinkohlebergbau wett-
bewerbsfähig bleibt.
Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt be-
reits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle
in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht er-
reichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirt-
schaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit
aus sicheren Lieferländern bezogen werden.
Dies soll nicht heißen, dass die Förderung von Stein-
kohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist,
sondern dass die Förderung unter der Prämisse der
Wirtschaftlichkeit stehen muss, was übrigens für alle
Energieträger gilt.
Folglich teile ich die Meinung der Antragsteller, dass
die Beendigung der Steinkohlesubventionierung drin-
gend notwendig war. Der Ausstiegsbeschluss von 2007
war somit richtig und wichtig und stellt meines Erach-
Zu Protokoll
tens einen gelungenen Kompromiss zwischen der Not-
wendigkeit des Subventionsabbaus und dem Schutz der
Arbeitnehmer in dieser Branche dar.
Drittens. Revisionsklausel: Im Steinkohlefinanzie-
rungsgesetz wurde festgelegt, dass dem Deutschen Bun-
destag bis spätestens 30. Juni 2012 ein Bericht zugelei-
tet wird, auf dessen Grundlage nochmals geprüft werden
soll, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung der Ge-
sichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Ener-
gieversorgung und der übrigen politischen Ziele weiter
gefördert werden soll.
In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieser Bericht und
somit die Revision der Steinkohleförderung vorgezogen
werden soll. Ein Vorziehen der Revision erachte ich
nicht nur für unnötig, sondern auch für falsch.
Die wichtigste Komponente der Wirtschaftspolitik ist
es, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich
die Unternehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen
können. Es wurde seinerzeit eine gute Regelung getrof-
fen, auf die sich die Region und die Menschen dort ver-
lassen. Diesen Vertrauensschutz und die Planungssi-
cherheit dürfen wir keinesfalls gefährden. Im Sinne
einer verlässlichen Wirtschaftspolitik halte ich ein Fest-
halten an der derzeitigen Regelung für notwendig.
Zudem halte ich es für sinnvoll, den Abschluss der
Szenarienberechnungen für das Energiekonzept am
27. August und das vollständige Energiekonzept, das
Ende November dieses Jahres fertiggestellt sein wird,
abzuwarten. Darin werden die Strategien und Ziele für
die Energiepolitik der nächsten Jahre festgelegt;
ebenso, wie der künftige Energiemix aussehen wird.
Auch die Bedeutung von Steinkohle wird hierin klarge-
stellt werden. Demnach bin ich der Meinung, dass das
Energiekonzept zunächst abgewartet werden sollte.
Ferner machen eine erneute Überprüfung und ein Be-
richt zu dieser Frage durch die Bundesregierung erst auf
Grundlage des Energiekonzepts Sinn, da darin energie-
politische Ziele und Aspekte der Energieversorgung zu-
grunde gelegt werden müssen, was erst abschließend mit
Verabschiedung des Energiekonzepts erfolgen wird.
In dem Bericht muss ergebnisoffen und sachlich fest-
gestellt werden, ob der Steinkohleabbau in Deutschland
wirtschaftlich und wettbewerbsfähig ist und welche
Rolle Steinkohle im Energiemix der nächsten Jahre und
Jahrzehnte in Deutschland spielen wird. In dem Bericht
der Bundesregierung müssen alle Belange abgewogen
und Veränderungen, die seit Verabschiedung des Be-
schlusses eingetreten sind, mit einbezogen werden.
Viertens. Sofortiger Ausstieg: Ferner fordern Sie eine
frühere Beendigung des Steinkohlebergbaus, als sie im
Steinkohlefinanzierungsgesetz festgelegt wurde – 2018 –,
da dies den Haushalt belasten würde. Angesichts der
derzeitigen Haushaltslage und der empfindlichen Spar-
anstrengungen, die jedes Ressort zu tragen hat, sind alle
Subventionierungen genauestens auf den Prüfstand zu
stellen. Ich bin grundsätzlich gegen Subventionierun-
gen, jedoch muss in jedem Einzelfall genau abgewogen
werden, welche sonstigen Auswirkungen das hat.
5414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Thomas Bareiß
(A) (C)
(D)(B)
Richtig ist, dass mit dem Steinkohlefinanzierungsge-
setz von 2007 ein historischer Schritt in Richtung Sub-
ventionsabbau getan wurde. Was den endgültigen Zeit-
punkt des Auslaufens der Subventionen angeht, ist zu
sagen: Ein früherer Ausstieg als 2018 ist grundsätzlich
möglich, jedoch zu dem Preis, dass viele Tausend Be-
schäftigte in dieser Branche kurzfristig in die Arbeitslo-
sigkeit entlassen werden – und das in einer ohnehin von
hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Region.
Ich denke, zur Zeit des Ausstiegbeschlusses wurde ein
vernünftiger Konsens mit allen Beteiligten – Beschäftig-
ten, Unternehmen und Politik – geschlossen, der seine
Berechtigung hat. Diese Regelung beendet die Subven-
tionierung im deutschen Steinkohlebergbau auf sozial-
verträgliche Weise. Der vereinbarte Ablaufzeitraum bis
2018 stellt sicher, dass betriebsbedingte Kündigungen
im Steinkohlebergbau vermieden werden können.
Ferner dürfen wir die durch langwierige politische
Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und
die damit entstandene Planungssicherheit und das Ver-
trauen in die getroffene Regelung nicht zerstören. Ange-
sichts der Größe der Branche, über die wir reden, brau-
chen wir einen sozialverträglichen Ausstieg aus der
Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen Men-
schen eine vernünftige Perspektive bieten will.
Fünftens. Fazit: Die Revision der Vereinbarung zur
Beendigung der subventionierten Förderung der Stein-
kohle im Jahr 2012 durch den Bundestag wie auch den
Zeitpunkt des endgültigen Ausstiegs 2018 beizubehalten,
halte ich aus den eben genannten Gründen für sinnvoll
und richtig. Ich sehe daher keine Veranlassung, an dem
Auslaufen der Steinkohlesubventionen und der angemes-
senen Übergangs- und Revisionsfrist zu rütteln. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird Ihren Antrag aus
diesem Grund ablehnen.
In Ihrem Antrag zeigt sich ferner die unsachliche und
ideologisch geprägte Einstellung der Grünen im Bereich
der Energiepolitik. Weder ist der Einsatz moderner Koh-
lekraftwerke gewünscht noch der Betrieb von Kernkraft-
werken als Brücke in das regenerative Zeitalter. Aber
auch Sie müssen einsehen, dass wir bei der Energiever-
sorgung nicht von heute auf morgen auf Wind und Sonne
umschalten können. Sie fordern einen Strukturwandel in
der Energiepolitik, doch wird von Ihnen kein schlüssiges
Konzept vorgelegt, wie ohne fossile Brennstoffe kurz-
und mittelfristig die Grund- und Mittellast im Besonde-
ren, die Energieversorgung im Allgemeinen sicher und
bezahlbar abgesichert werden soll.
Rolf Hempelmann (SPD):
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erinnert im vor-
liegenden Antrag an die Revisionsklausel des Stein-
kohlefinanzierungsgesetzes von 2007. Hintergrund ist
der 2007 nach intensiven Verhandlungen getroffene
Kompromiss zwischen Bund, Nordrhein-Westfalen, dem
Saarland, der RAG AG und der IGBCE zur weiteren Zu-
kunft des deutschen Steinkohlebergbaus. Der damals
vereinbarte Fahrplan sieht einen sozialverträglichen
Auslaufpfad für die subventionierte heimische Stein-
kohleförderung bis zum Jahr 2018 vor. Eine darin ent-
Zu Protokoll
haltene Revisionsklausel eröffnet die Möglichkeit, dass
der Steinkohlekompromiss spätestens im Jahr 2012 noch
einmal im Lichte aktueller energiepolitischer Rahmen-
bedingungen überdacht wird. Auf diese Weise hat sich
Deutschland die Möglichkeit zur Fortführung der heimi-
schen Steinkohleförderung in Form eines Sockelberg-
baus erhalten.
Die SPD hat immer deutlich gemacht, dass die Op-
tion der Revision spätestens 2012 – möglichst schon
früher – gezogen werden muss. Insofern kann meine
Fraktion den Antrag der Grünen allein dem Titel nach
unterstützen. Inakzeptabel ist jedoch, dass mit dem An-
tragstext der Versuch unternommen wird, der geforder-
ten Überprüfung ein Ergebnis vorwegzunehmen. Denn
mit dem Wunsch nach einem frühzeitigeren Auslaufen
des Steinkohlebergbaus fordern die Grünen nichts ande-
res als die Aufkündigung des Steinkohlekompromisses.
Als SPD-Fraktion sind wir ganz klar der Auffassung,
dass die Revisionsklausel eine ergebnisoffene Prüfung
vorsieht. Beide Pfade – sowohl der Auslaufpfad bis
2018 als auch die Fortführungsperspektive als Sockel-
bergbau – müssen gleichberechtigt geprüft und im
Lichte aktueller Entwicklungen bewertet werden.
Bei der Ausarbeitung des Steinkohlekompromisses
wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass der notwen-
dige Anpassungsprozess und Strukturwandel sozialver-
träglich ausgestaltet wird und ohne betriebsbedingte
Kündigungen ablaufen soll. Das Jahr 2018 steht für die
Maßgabe der Sozialverträglichkeit. Der im Jahr 2007
vereinbarte Fahrplan schaffte lang erwartete Klarheit
für die Betroffenen und stellte die Weichen für einen be-
rechenbaren Strukturwandel. Wenn die Grünen jetzt ei-
nen frühzeitigeren Ausstieg aus dem heimischen Stein-
kohlebergbau einfordern, so tun sie das auf Kosten der
hierzulande beschäftigten Bergleute und der mittelbar
vom Bergbau abhängigen Arbeitnehmer.
Neben dem Strukturwandel ist das Thema der heimi-
schen Steinkohleförderung aber auch eine Frage der
Energieversorgungssicherheit. Die Wirtschaftlichkeit
des deutschen Steinkohlebergbaus wird in dem Antrag
der Grünen kategorisch verneint. Die Schlussfolgerung
ist der frühzeitige Ausstieg. Ganz so einfach darf man
sich es nicht machen. Es ist keine Frage, dass der
Steinkohlebergbau in Deutschland wegen der schwieri-
gen Förderbedingungen heute nicht wettbewerbsfähig
ist. Die Versorgung mit Importkohle gilt als zuverlässig
und sicher. In der Zukunft droht das Marktgleichgewicht
jedoch durcheinander zu geraten, weil die stark wach-
sende Nachfrage in Asien nicht gleichgewichtig durch
die Erschließung neuer Quellen ausgeglichen wird. Wir
wissen, dass wir in hohem Maße von Energieimporten
abhängig und damit Preisentwicklungen an den interna-
tionalen Rohstoffmärkten weitgehend ausgeliefert sind.
Der Weltenergierat warnte kürzlich in einer Studie, dass
Deutschlands Energieversorgungsrisiko wesentlich
höher sei als das in anderen Industriestaaten. Daher
muss im Rahmen einer Prüfung zumindest in Erwägung
gezogen werden, uns den Zugang zu hiesigen Förder-
stätten zu erhalten. Denn einmal aufgegebene Förder-
quellen können nicht wieder reaktiviert werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5415
gegebene Reden
Rolf Hempelmann
(A) (C)
(D)(B)
Auch die Preisentwicklung zeigt in der Tendenz, dass
eine zunehmende Annäherung der hiesigen Förderkos-
ten an den Weltmarktpreis nicht ganz unwahrscheinlich
ist. Im Jahr 2008 schraubten sich die Energiepreise in-
folge steigender Ölpreise drastisch nach oben. Die
Kraftwerkskohle stieg im Preis von 62 Euro pro Tonne
im Jahr 2006 um 64 Prozent auf 112 Euro im Jahr 2008.
Im Zuge der Rezession brachen die Kohlepreise wieder
ein. Aber das dürfte nicht von Dauer sein – der Trend
zeigt inzwischen wieder nach oben. Daher muss die
Überprüfung des Steinkohlekompromisses ergebnisoffen
und im Lichte dieser neuen Entwicklungen durchgeführt
werden. Das bedeutet auch, dass vorab keine Fakten ge-
schaffen werden dürfen, die den sozialverträglichen Au-
slaufpfad bis 2018 gefährden bzw. eine Fortführung-
sperspektive als Sockelbergbau über 2018 hinaus von
vornherein ausschließen.
Die SPD-Fraktion plädiert dafür, den allzu einseiti-
gen Antrag abzulehnen. Wir sehen die Bundesregierung
vielmehr in der Bringschuld, endlich ihr lang angekün-
digtes Energiekonzept vorzulegen und konkrete
Maßnahmen aufzuzeigen, die den erfolgreichen Ausbau
der erneuerbaren Energien fortführen und darüber
hinaus erlauben, die enormen Potenziale im Bereich der
Energieeffizienz und der Energieeinsparung zu heben.
Denn neben den existierenden Optionen wie der heimi-
schen Steinkohle sind diese beiden Themen zentrale
Baustellen auf dem Weg zu mehr Unabhängigkeit von in-
ternationalen Rohstoffmärkten..
Paul K. Friedhoff (FDP):
Die FDP im Deutschen Bundestag setzt sich bereits
seit über 20 Jahren für ein geordnetes Auslaufen des
subventionierten Steinkohlebergbaus in Deutschland
ein. Zusammen mit der erfolgreichen Koalition von
CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen wurde eine Eini-
gung über das Ende des Steinkohlebergbaus auf den
Weg gebracht. An dieser Stelle möchte ich noch einmal
betonen, dass die FDP grundsätzlich nichts gegen den
Abbau von Steinkohle in Deutschland hat, zumindest so
lange nicht, wie dieser ohne Subventionen auskommt
und keine Gefahren für die Menschen und die Umwelt
schafft. Wenn beim Abbau Schäden verursacht werden,
so müssen die aus der abgebauten Steinkohle gewon-
nenen Erträge ausreichen, um für die entstehenden
Schäden dauerhaft aufzukommen. Diese Voraussetzun-
gen aber sind in Deutschland seit mehr als drei Jahr-
zehnten nicht mehr erfüllt. So hat sich beispielsweise der
Preis für eine Tonne Importkohle nach einem kurzen
Hoch im Herbst 2008 schon im Jahr 2009 wieder bei ei-
nem Wert eingependelt, der etwa einem Drittel dessen
entspricht, was für eine Tonne deutsche Steinkohle aus-
gegeben werden muss. Deshalb hat sich die FDP als ein-
zige politische Partei bereits in den 80er-Jahren für eine
konsequente Beendigung der Steinkohlesubventionen
eingesetzt. Zu jener Zeit haben die Vorgänger derjeni-
gen, die heute hier mit ihrem Antrag einen schnelleren
Ausstieg fordern, gegen uns massiv demonstriert.
Wie nötig aber unser langfristiger Einsatz für den
Ausstieg war und weiter ist, zeigt sich daran, dass der
deutsche Steuerzahler seit 1990 bereits über 137 Mil-
Zu Protokoll
liarden Euro für die unrentable Steinkohleförderung in
Deutschland ausgeben musste. Fast 10 Prozent aller di-
rekten Subventionen gehen in Deutschland noch immer
in dunkle Schächte statt in helle Köpfe. Der Rohstoff Bil-
dung ist unsere Zukunft und nicht die unrentable Stein-
kohleförderung.
Der Ende 2007 errungene Kompromiss im Steinkoh-
lefinanzierungsgesetz hat zu Recht die Weichen Rich-
tung Auslaufbergbau gestellt und einen realitätsfernen
Sockelbergbau abgelehnt. Das Ziel bleibt klar: In enger
Abstimmung mit den Landesregierungen muss weiterhin
geprüft werden, ob und wie der Ausstieg aus der subven-
tionierten deutschen Steinkohle beschleunigt werden
kann, ohne dass geschlossene Verträge und Zusagen ge-
brochen werden. Angesichts des hohen Qualifikations-
niveaus der deutschen Bergleute habe ich jedoch auch
keine Bedenken, dass die Beschäftigten sozialverträg-
lich unsubventioniert in anderen Bereichen eingesetzt
werden können. Sozialverträglichkeit muss in diesem
Zusammenhang auch heißen: verträglich für alle Steu-
erzahler. Denn sie müssen die Gelder erarbeiten, mit
denen der Staat die unrentablen Kohlearbeitsplätze auf-
rechterhält.
An höchster Stelle muss bei allem die Sicherheit derer
stehen, unter deren Wohnstätten noch abgebaut wird.
Erdbeben wie im Saarland 2008 oder eine Gefährdung
durch Hochwasser können nicht hingenommen werden.
Wenn solche Gefahren drohen, ist der Abbau unter den
gefährdeten Regionen sofort einzustellen.
Die FDP-Bundestagsfraktion steht mit der Bundesre-
gierung für den eingeleiteten Strukturwandel. Auch die
weiteren politischen Akteure sind aufgefordert, diese
Aufgabe tatkräftig zu unterstützen.
Ulla Lötzer (DIE LINKE):
Die Grünen wollen sich offensichtlich in Berlin
Schützenhilfe für die Koalitionsverhandlungen in NRW
organisieren. Tatsächlich ist die Frage der Kohlepolitik
umstritten zwischen SPD und Grünen. Der hier vorlie-
gende Antrag macht das sehr deutlich. Die Grünen wol-
len offensichtlich den Steinkohlekompromiss aufkündi-
gen. Bereits jetzt und nicht erst 2012 soll über die Frage
des Sockelbergbaus entschieden werden mit der Absicht,
den Sockel jetzt zu den Akten zu legen und ein vorgezo-
genes Ende des Steinkohlebergbaus einzuleiten. Das
lehnen wir ab. Natürlich ist die Verstromung von Kohle
eine der Hauptursachen für Treibhausemissionen bei
der Energieerzeugung. Wir teilen auch das Nein zum
Bau neuer Kohlekraftwerke in NRW. Zusammen mit ei-
ner Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken blockie-
ren Kohlekraftwerke den auch in NRW dringend benö-
tigten Umstieg auf erneuerbare Energien.
Die Grünen berücksichtigen aber eines nicht: Die
Technologiesparte der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr
als 15 000 Menschen in NRW. Mit dem Erhalt eines
Steinkohlesockels können ein moderner Maschinen- und
Anlagenbau und hoch qualifizierte Stellen erhalten wer-
den. Die hierfür benötigten Mittel des Bundes sollten an
Bedingungen geknüpft und degressiv gestaltet werden.
Deshalb halten wir nach wie vor an einem Steinkohle-
5416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
gegebene Reden
Ulla Lötzer
(A) (C)
(D)(B)
sockel, verbunden mit einem Ausstieg aus der Kohlver-
stromung, fest. Das gilt in besonderem Maße auch für
die Ausbildungsplätze. Statt einer Diskussion über die
Aufkündigung der Revisionsklausel sollten die Grünen
in den Koalitionsverhandlungen in NRW endlich einen
Dialog mit Gewerkschaften und Handwerkskammern
über die Zukunft von Jugendlichen in den betroffenen
Bergbauregionen aufnehmen. Das wäre ein Stück not-
wendiger Politikwechsel für NRW. Mit den Forderungen
in ihrem Antrag stellen die Grünen natürlich die Sozial-
verträglichkeit des Abbaus infrage. Das betrifft die früh-
zeitigere Beendigung und vor allem die Prüfung der
Kürzung von Subventionen. Sozialverträglichkeit und
Politikwechsel gehen anders.
Wir treten dafür ein, die freiwerdenden Mittel so
lange für die Bewältigung des Strukturwandels einzuset-
zen, bis ausreichend Ersatzarbeitsplätze geschaffen
sind. Für die betroffenen Regionen im Ruhrgebiet und
im Saarland ist eine Strukturpolitik zu entwickeln.
Schwerpunkt soll eine gezielte Ansiedlungsstrategie für
Unternehmen im Maschinen- und Anlagebau und im Be-
reich der erneuerbaren Energien werden.
Sie fordern Transparenz in der Verwendung der Sub-
ventionen und der Mittel der RAG-Stiftung. Das reicht
nicht. Wir haben schon 2007 davor gewarnt, dass durch
die privatrechtliche Steinkohle-Stiftung unter dem Dach
der RAG auf jegliche Einflussnahme der öffentlichen
Hand beim Ausstieg verzichtet wurde. Das Konzept der
Bundesregierung, über die private RAG-Stiftung den
Steinkohlebergbau abzuwickeln, ohne die Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler noch mehr zu belasten, ist ge-
scheitert, bevor es losging. Die öffentliche Stiftung hätte
die strukturpolitischen Aufgaben im Ausbildungsbe-
reich, im öffentlichen Beschäftigungssektor und bei den
Wohnungsbauunternehmen übernehmen können. Man
hätte so einen Strukturwandel organisieren können, hin
zu einer verstärkten Energieeffizienz und zu einer ver-
stärkten Nutzung erneuerbarer Energien.
Der DGB und der Naturschutzbund in Nordrhein-
Westfalen sind sich der Verantwortung im größten In-
dustrie- und Energieerzeugerland bewusst. Sie fordern:
Der sozial-ökologische Umbau dieses Bundeslandes
braucht gesellschaftlichen Dialog statt Konfrontation.
Sie gehen mit dem Antrag den Weg der Konfrontation.
Das lehnen wir ab. Wir werden dies auch im Landtag
zum Thema machen.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2007 das Gesetz
zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten
Steinkohlebergbaus zum Jahr 2018 verabschiedet. Die
Entscheidung, den subventionierten Steinkohlebergbau
zu beenden war richtig und überfällig, auch wenn der
Ausstieg sozialverträglich, das heißt ohne betriebsbe-
dingte Kündigungen, unserer Meinung nach auch schon
deutlich früher möglich gewesen wäre. Der deutsche
Steinkohlebergbau hat mit seinen Revieren im Ruhrge-
biet, im Saarland und in der Aachener Region eine
große Geschichte. Ohne ihn wäre die Industrialisierung
unseres Landes und auch der Wiederaufbau nach dem
Zu Protokoll
Zweiten Weltkrieg kaum vorstellbar gewesen. Doch
schon in den 1960er-Jahren zeichnete sich ab, dass die
Steinkohle aufgrund der geologischen Gegebenheiten
hierzulande auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich ge-
winnbar sein würde. Importkohle war billiger und au-
ßerdem sank die Bedeutung der Steinkohle im deutschen
Energiemix. Um den Steinkohlebergbau dennoch zu er-
halten, wurden mehr und mehr staatliche Subventionen
eingesetzt. Doch den Niedergang des Bergbaus konnten
die staatlichen Mittel nicht aufhalten. Heute sind es ge-
rade noch einmal 5 Bergwerke, die übrig geblieben sind.
Die Zahl der Beschäftigten liegt bei unter 5 Prozent, im
Vergleich zu den Hochzeiten in den 1950er-Jahren.
Was immer auch die Motive für die Steinkohlesubven-
tionen waren, den notwendigen Strukturwandel in den
Revieren haben sie eher behindert als gefördert. Die
künstliche und dauerhafte Erhaltung nichtwirtschaftli-
cher Strukturen ist für betroffene Regionen und die
ganze Volkswirtschaft schädlich statt nützlich. Während
die Förderkosten der deutschen Bergwerke in den letz-
ten Jahren zwischen 122 und 181 Euro je geförderter
Tonne je nach Bergwerk lagen – im Falle des Bergwerks
Ost sogar deutlich über 200 Euro je Tonne –, sind die
Erlöse für die Steinkohle nicht über 70 Euro hinausge-
kommen. Und selbst 2008, als die Preise für Energieroh-
stoffe weltweit explodiert waren, betrug der Erlös deut-
scher Bergwerke 116 Euro je Tonne und erreichte damit
trotzdem nicht die Förderkosten. Dabei muss man be-
denken, dass diese Angaben zu den Förderkosten nicht
einmal alle Kosten beinhalten, die der Bergbau verur-
sacht. Altlasten und Ewigkosten – wie zum Beispiel die
auf ewig zu zahlenden Kosten der Wasserhaltung und
Polderung im Ruhrgebiet und am Niederrhein, die erfor-
derlich sind, damit die durch den Bergbau um bis zu
25 Meter abgesenkten Gebiete nicht absaufen – sind bei
den Förderkosten gar nicht eingerechnet.
Jeder weitere Bergbau in Zukunft führt zu neuen
Bergschäden, Altlasten und Ewigkosten, die angesichts
der fehlenden wirtschaftlichen Perspektive und der öf-
fentlichen Milliardensubventionen unverantwortlich
sind. Deshalb ist es richtig, den Bergbau so schnell wie
möglich auch schon vor dem im Gesetz verankerten Ter-
min 2018 sozialverträglich zu beenden. Dazu schlagen
wir vor, die im Steinkohlefinanzierungsgesetz verankerte
Revisionsklausel von 2012 auf dieses Jahr vorzuziehen
und schnell zu prüfen, welche Perspektiven der Bergbau
tatsächlich noch hat. Wir wollen für die Belegschaften,
für die Kommunen und für die Bergbaubetroffenen
schnellstmögliche Klarheit, wann die verbliebenen
Bergwerke geschlossen werden. Dann können sich alle
auf die Zeit nach dem Bergbau schon heute einstellen.
Und vielleicht gelingt es uns bei diesem Prozess, Mög-
lichkeiten aufzuzeigen, wie die Mittel des Bundes für den
Steinkohlebergbau reduziert werden können. Jedenfalls
ist das ein seriöser Weg, den Bundeshaushalt zu entlas-
ten.
Nicht seriös ist, wenn wie in den letzten Wochen von
einer Reihe von Koalitionspolitikern – so auch von
Herrn Wirtschaftsminister Brüderle – die Senkung der
Steinkohlesubventionen gefordert wird, und danach
kommt dann nichts mehr, kein konkreter Vorschlag, wie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5417
gegebene Reden
5418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Oliver Krischer
(A) (C)
(D)(B)
man in der Sache angesichts der von der Großen Koali-
tion geschaffenen Rechtslage und bis 2013 bereits erteil-
ter Bewilligungsbescheide, die Subventionen reduzieren
will. Solche substanzlosen Forderungen sind nicht an-
ders als Populismus, Effekthascherei für die schnelle
Schlagzeile.
Dass die RAG heute schon angesichts gestiegener
Weltmarktpreise für Steinkohle einen Teil der Subventio-
nen zurückzahlen muss, ist ein Mechanismus, den die
Grünen in der rot-grünen Koalition in Berlin und Düs-
seldorf 2004 durchgesetzt haben. Davon profitieren die
Haushalte des Bundes und des Landes NRW heute. Vor-
her war es nämlich so, dass die RAG Subventionen
bekam, unabhängig von den Weltmarktpreisen und den
Erlösen für die deutsche Kohle. So hat die öffentliche
Hand der RAG viele Hundert Millionen Euro, wenn
nicht Milliarden geschenkt, die gar nicht für den Betrieb
der Bergwerke benötigt wurden.
Wir machen heute den konkreten und umsetzbaren
Vorschlag, die Revisionsklausel vorzuziehen. So kann
man vielleicht tatsächlich die Subventionen für den
Bergbau reduzieren und es nicht nur populistisch for-
dern. Ein schnellerer, sozialverträglicher Ausstieg ist
möglich und sinnvoll, wenn man diese Option im Rah-
men der Revisionsklausel ernsthaft prüft. Allen Beteilig-
ten muss aber auch klar se
bergbau noch Milliarden kosten wird, auch wenn das
letzte Bergwerk längst stillgelegt ist. Es gibt erhebliche
Zweifel, ob die Mittel der RAG-Stiftung für die Altlasten
und Ewigkosten reichen werden. Deshalb sollten wir
handeln, damit neue Bergschäden und damit verbun-
dene Altlasten und Ewigkosten erst gar nicht mehr ent-
stehen. Dazu haben wir einen konkreten Vorschlag
unterbreitet, den wir gerne mit Ihnen in der Sache disku-
tieren würden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2142 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind, wie ich
sehe, damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 2. Juli 2010, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
eine heitere Sommernacht.
.05 Uhr)
49. Sitzung, Seite 4992 (C), dritter Absatz, der zweite
Gesetzentwurf zustimmen wo
llen, um das Handzeichen.“
Satz ist wie folgt zu lesen: „Ich bitte diejenigen, die dem
in, dass uns der Steinkohle- (Schluss: 22
Berichtigung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5419
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen)
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/
UN-Hybrid-Operation in Darfur (UNAMID) auf
Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen vom
31. Juli 2007 und Folgeresolutionen (Drucksa-
chen 17/1901, 17/2173) (49. Sitzung, Tagesord-
nungspunkt 9 b)
Mein Name ist in der Liste der Antragsteller nicht
aufgeführt. Ich erkläre, dass mein Votum „Ja“ lautet.
Anlage 3
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
des Abgeordneten Gerd Bollmann (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 3):
Wie sieht der weitere Zeitplan für die Umsetzung der Ab-
fallrahmenrichtlinie vor dem Hintergrund aus, dass zum
12. Dezember 2010 die Abfallrahmenrichtlinie der EU in na-
tionales Recht umgesetzt werden muss, da bis jetzt nur ein
nicht abgestimmter Arbeitsentwurf vorliegt und bei Nichtein-
haltung der Umsetzungsfrist ein Strafverfahren droht?
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit stimmt derzeit den Referentenentwurf
zur Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes innerhalb
der Bundesregierung ab und beabsichtigt, diesen mög-
lichst noch vor der Sommerpause in die offizielle Anhö-
rung der Beteiligten Kreise zu geben. Nach Auswertung
der Anhörung und endgültiger Abstimmung innerhalb
der Bundesregierung ist der Entwurf bei der Europäi-
schen Kommission zu notifizieren und soll dann noch in
diesem Jahr vom Bundeskabinett beschlossen werden.
Die Befassung des Bundesrates und Bundestages wird
2011 erfolgen.
Die Bundesregierung weist darauf hin, dass der Kom-
mission der Arbeitsentwurf zur Novelle des Kreislauf-
wirtschaftsgesetzes bereits vorliegt. Das Bundesministe-
rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
steht im Übrigen mit der Kommission in einem Dialog
über die Umsetzung. Wesentliche für die Notifizierung
relevante Fragen, die vor allem mit der Neuregelung der
kommunalen Überlassungspflichten zusammenhängen,
werden von der Kommission im Übrigen im Zusammen-
hang mit der Beantwortung des Auskunftsersuchen,
COMP/B-1/39734 – Deutsche Haushaltsabfälle, vom
9. April 2010 bereits vorab geprüft.
Anlage 4
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
des Abgeordneten Dr. Herrmann Scheer (SPD)
(Drucksache 17/2285, Frage 4):
Welche Erfahrungen hinsichtlich der regionalen Wert-
schöpfung und der Akzeptanz von Windenergieanlagen bei
Kommunen liegen der Bundesregierung nach der Einführung
des besonderen Gewerbesteuersplittings für Windkraftanlagen
nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergesetzes vor, und
wie bewertet sie diese Regelung hinsichtlich des weiteren
Ausbaus der Onshore-Windenergie?
Für Gemeinden, in denen Windenergieprojekte ge-
plant sind bzw. betrieben werden, hat die Regelung zur
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Aigner, Ilse CDU/CSU 01.07.2010
Beckmeyer, Uwe SPD 01.07.2010
Buchholz, Christine DIE LINKE 01.07.2010
Dyckmans, Mechthild FDP 01.07.2010
Freitag, Dagmar SPD 01.07.2010
Friedhoff, Paul K. FDP 01.07.2010
Groth, Annette DIE LINKE 01.07.2010
Gruß, Miriam FDP 01.07.2010
Haibach, Holger CDU/CSU 01.07.2010
Heil (Peine), Hubertus SPD 01.07.2010
Höger, Inge DIE LINKE 01.07.2010
Lange, Ulrich CDU/CSU 01.07.2010
Möller, Kornelia DIE LINKE 01.07.2010
Nietan, Dietmar SPD 01.07.2010
Özoğuz, Aydan SPD 01.07.2010
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01.07.2010
Wolff (Wolmirstedt),
Waltraud
SPD 01.07.2010
Zapf, Uta SPD 01.07.2010
5420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Verteilung des Gewerbesteueraufkommens Rechtssi-
cherheit geschaffen. Gleichzeitig stellt die Regelung ei-
nen erheblichen wirtschaftlichen Anreiz für die Neuaus-
weisung von Windeignungsgebieten dar. Damit trägt die
Regelung zu einem erheblichen Teil mit dazu bei, die
vorhandenen Windpotenziale im Konsens zwischen Ge-
meinden und Investoren zu erschließen. Dies zeigt sich
in einer neuen erkennbaren Dynamik bei der Auswei-
sung neuer Windeignungsgebiete seit 2009, was auf eine
deutlich verbesserte Akzeptanz zurückzuführen ist.
Anlage 5
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
des Abgeordneten Dr. Herrmann Scheer (SPD)
(Drucksache 17/2285, Frage 5):
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die An-
reize für Gemeinden zur Ausweisung von Flächen zur Wind-
energienutzung in § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Gewerbesteuergeset-
zes auch nach einer möglichen Abschaffung der Gewerbe-
steuer erhalten bleiben, und wie werden die Interessen der Er-
neuerbaren-Energien-Branche im Rahmen der Arbeit der Ge-
meindefinanzkommission angemessen berücksichtigt?
Die unter Leitung des Bundesministers der Finanzen
stehende Gemeindefinanzkommission prüft unter ande-
rem Vorschläge zum Ersatz der Gewerbesteuer durch ei-
nen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und
Körperschaftsteuer mit Hebesatzrecht für die Kommu-
nen. Diese Vorschläge befinden sich derzeit in der Dis-
kussion. Aussagen zu Detailfragen sind derzeit noch
nicht möglich. Die Bundesregierung ist von der Notwen-
digkeit überzeugt, dass die Grundsätze und Ziele des
§ 29 Abs. 1 Nr. 2 Gewerbesteuergesetz bei einer Neu-
ordnung der Gemeindefinanzierung entsprechend zu be-
rücksichtigen sind.
Der Kommission gehören auch Vertreter der kommu-
nalen Spitzenverbände an. Für den Arbeitsschwerpunkt
Kommunalsteuern wurde eine Arbeitsgruppe gebildet.
Vertreter von Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerk-
schaften werden in geeigneter Weise in die Arbeit der
Kommission eingebunden.
Anlage 6
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
der Abgeordneten Ute Vogt (SPD) (Drucksache 17/2285,
Frage 8):
Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit Forschungsergebnisse, dass die
Stickstoffoxidemissionen von Euro-5-Lkw im Realbetrieb
deutlich höher sind als bei der Festlegung der Abgasgrenz-
werte für diese Fahrzeuge erwartet, und besteht die Absicht,
ein Beschwerdeverfahren gegen die Hersteller einzuleiten?
Dem BMU sind Ergebnisse eines Forschungsvorha-
bens des niederländischen Forschungsinstituts TNO be-
kannt. Den Ergebnissen dieses Vorhabens zufolge zeig-
ten die untersuchten Euro-5-Lkw im außerstädtischen
Betrieb und auf Autobahnen hohe NOx-Minderungsra-
ten. Im innerstädtischen Betrieb seien die NOx-Minde-
rungsraten geringer als in früheren Abschätzungen er-
wartet; trotzdem werde mit Euro 5 eine Verbesserung
des NOx-Emissionsverhaltens erreicht.
Die Prüfung der Belastbarkeit der Ergebnisse des
Vorhabens ist noch nicht abgeschlossen. Die Ergebnisse
des Vorhabens wurden jedoch bereits in Brüssel im zu-
ständigen Kommissionsfachgremium, der Motor Vehicle
Emission Group, unter Leitung der Europäischen Kom-
mission, erörtert. Die Bundesregierung hat die Europäi-
sche Kommission in dieser Sitzung eindringlich gebeten,
sich des Sachverhaltes anzunehmen und eine Überprü-
fung und Erörterung durchzuführen. Die Europäische
Kommission hat dies zugesagt.
Anlage 7
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 9):
Ist der Bundesregierung die Studie „Distant origins of
Arctic black carbon: A Goddard Institute for Space Studies
ModelE experiment“ von Dorothy Koch und James Hanson
aus dem Jahr 2005 bekannt, die die Klimarelevanz von Die-
selruß nachweist und die Auswirkungen auf das regionale
Klima in der Arktis thematisiert?
Die angesprochene Studie ist der Bundesregierung
bekannt. Die Studie thematisiert die Herkunftsquellen
von Ruß, der eine nachgewiesene Wirkung auf das re-
gionale Klima der Arktis hat. Die Klimarelevanz von
Ruß als solche wird in dieser Studie nicht thematisiert.
Gemäß der Studie könnte ein großer Teil der Rußparti-
kel, die in der Arktis gemessen werden, aus Verbrennung
von Kohle und Diesel und von Biomasse in Südasien
stammen. Europa trägt gemäß dieser Studie zu etwa 10
bis 15 Prozent zu diesen Emissionen bei.
Anlage 8
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) (Drucksa-
che 17/2285, Frage 10):
Wenn die Klimarelevanz von Dieselruß und die Auswir-
kungen auf das regionale Klima in der Arktis der Bundesre-
gierung bekannt sind, wann gedenkt die Bundesregierung ein
konkretes Minderungsziel für Dieselruß in ihre nationale Kli-
maschutzpolitik zu integrieren?
Der Beitrag von Ruß zur globalen Erwärmung ist
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, seine
Quantifizierung, etwa durch den IPCC in seinem
4. Sachstandsbericht, ist mit großen Unsicherheiten be-
haftet. Wegen der sehr kurzen Lebensdauer von Ruß im
Vergleich zu den langlebigen Treibhausgasen hat eine
Minderung von Rußemissionen praktisch keine Auswir-
kung auf die langfristige globale Temperaturentwick-
lung. Insofern sind die Aktivitäten der Bundesregierung
zur Vermindung der Rußpartikel Gegenstand der Luft-
reinhaltepolitik und nicht der Klimapolitik.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5421
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 9
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 11):
Wäre es aus Sicht des Bundesministeriums für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit rein technisch möglich,
die restlichen auf dem Gelände des GKSS-Forschungszen-
trum Geesthacht befindlichen abgebrannten Brennstäbe des
Forschungsschiffes „Otto Hahn“ in Deutschland, insbeson-
dere auf dem Gelände des dem GKSS-Gelände sehr nahe ge-
legenen Atomkraftwerks Krümmel zu verpacken – unabhän-
gig von der aktuellen genehmigungsrechtlichen Situation –,
und ist es aus Sicht des BMU sinnvoll, für radioaktive Stoffe
möglichst kurze Transportwege – bitte mit Begründung – zu
wählen?
Die Grundlagen für den Umgang mit Kernbrennstof-
fen sind die Anforderungen des Atomgesetzes und der
zugehörigen Verordnungen. Daher sieht die Bundesre-
gierung keine Möglichkeit für eine rein technische Be-
trachtungsweise.
Die Planungen zur Entsorgung der bestrahlen Kern-
brennstoffe des ehemaligen Forschungsschiffes „Otto
Hahn“ sind durch das Bundesministerium für Forschung
und Bildung sorgfältig geprüft und vorbereitet worden,
die Möglichkeit einer Einbeziehung des benachbarten
Kernkraftwerkes Krümmel hat sich nicht ergeben.
Die bereits zahlreichen erfolgten Stilllegungen von
kerntechnischen Einrichtungen in Deutschland erfordern
in Einzelfällen längere Transportwege. Darüber hinaus
ist die Streckenlänge für die Transportsicherheit nicht
entscheidend.
Anlage 10
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
der Abgeordneten Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 15):
Mit welchem Ergebnis hat es zum laut Presseinformatio-
nen geplanten Wechsel des Forschungszentrums Borstel von
der Leibniz-Gemeinschaft in die Helmholtz-Gemeinschaft be-
reits eine Befassung des Wissenschaftsrates gegeben, bzw. in
welcher Form ist eine Befassung des Wissenschaftsrates vor-
gesehen?
Eine Befassung des Wissenschaftsrates ist nicht er-
folgt und bisher nicht vorgesehen.
Anlage 11
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
des Abgeordneten Sönke Rix (SPD) (Drucksache 17/2285,
Frage 16):
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
– nicht zuletzt vor dem Hintergrund der beim letzten Bil-
dungsgipfel zwischen Bund und Ländern bekräftigten bil-
dungspolitischen Ziele gerade im Bereich der Hochschulpoli-
tik, angesichts der jüngst verlängerten Exzellenzinitiative und
des Hochschulpaktes und angesichts der von der Bundeskanz-
lerin Dr. Angela Merkel angekündigten „Bildungsrepublik“ –
aus der Absicht der schleswig-holsteinischen Landesregie-
rung, die Wirtschaftsstudiengänge in Flensburg und die Medi-
zinische Fakultät in Lübeck – was zugleich wohl das Aus für
die Universität Lübeck insgesamt wäre – zu schließen, und
welche Maßnahmen sind vonseiten der Bundesregierung zur
Sicherung der Hochschulstandorte Lübeck und Flensburg ge-
plant?
Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären
Strukturen fallen nach dem geltenden föderalistischen
Kompetenzgefüge in die originäre Zuständigkeit des
Landes Schleswig-Holstein. Die Initiierung konkreter
Maßnahmen ist vonseiten der Bundesregierung daher
nicht geplant.
Anlage 12
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage des
Abgeordneten Sönke Rix (SPD) (Drucksache 17/2285,
Frage 17):
Welcher finanzielle Beitrag käme dem Land Schleswig-
Holstein durch die von der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Dr. Annette Schavan, angeregte Rücknahme der
mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeführten Sub-
vention für Hoteliers zugute, und könnte damit eine Schlie-
ßung der Hochschulstandorte in Flensburg und Lübeck ver-
hindert werden?
Die Umsatzsteuermindereinnahmen durch die im
Wachstumsbeschleunigungsgesetz erfolgte Ausdehnung
des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf Beherber-
gungsdienstleistungen betragen jährlich rund 945 Mil-
lionen Euro. Davon entfallen auf die Länder rund
422 Millionen Euro. Diese verteilen sich auf die einzel-
nen Bundesländer entsprechend § 2 Finanzausgleichsge-
setz nach der Einwohnerzahl.
Anlage 13
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen
der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 18):
Gab es Gespräche zwischen der Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung, Dr. Annette Schavan, und dem schles-
wig-holsteinischen Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen
mit dem Ziel, einen Weg zur Rücknahme der im Wachstums-
beschleunigungsgesetz eingeführten Mehrwertsteuersubven-
tion für Hoteliers auszuarbeiten oder abzustimmen?
Nein.
Anlage 14
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 19):
Welche Maßnahmen wurden zwischen dem Bund und dem
Land Schleswig-Holstein besprochen bzw. vereinbart, um der
drohenden Schließung von Spitzenuniversitäten wie der Uni-
versität Lübeck entgegenzuwirken, und zu welchem Ergebnis
sind die Verhandlungen zwischen dem schleswig-holsteini-
5422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
schen Ministerpräsidenten und dem Bundesministerium für
Bildung und Forschung bzw. dem Bundeskanzleramt gelangt?
Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären
Strukturen fallen nach dem geltenden föderalistischen
Kompetenzgefüge in die originäre Zuständigkeit des
Landes Schleswig-Holstein. Die Initiierung konkreter
Maßnahmen ist vonseiten der Bundesregierung daher
nicht geplant.
Anlage 15
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
des Abgeordneten Florian Pronold (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 20):
Wie will die Bundesregierung der zu beobachtenden Ten-
denz, dass sich die Länder zunehmend aus den Programmen
wie beispielsweise dem Hochschulpakt, der Exzellenzinitia-
tive oder dem Pakt für Forschung und Innovation, die sie mit
dem Bund vereinbart haben, zurückziehen, entgegenwirken,
und wie will sie den daraus resultierenden Defiziten begeg-
nen?
Die Bundesregierung teilt Ihre Beobachtung nicht,
dass sich die Länder zunehmend aus mit dem Bund ver-
einbarten Programmen wie beispielsweise dem Hoch-
schulpakt, der Exzellenzinitiative oder dem Pakt für For-
schung und Innovation zurückziehen. Vielmehr gibt es
neue gemeinsame Vereinbarungen, wie zum Beispiel das
am 10. Juni 2010 beschlossene Programm zur Verbesse-
rung der Studienbedingungen und der Qualität der
Lehre. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefin
und die Regierungschefs der Länder haben im Juni 2009
die Fortführung von Hochschulpakt 2020, Exzellenzini-
tiative und Pakt für Forschung und Innovation mit erheb-
lichen zusätzlichen Mitteln für Wissenschaft und For-
schung beschlossen. In Umsetzung dieses Beschlusses
haben Bund und Länder in der Gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz am 21. Juni 2010 den Haushalt der
Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen For-
schungsgemeinschaft für das Jahr 2011 mit einer 5-Pro-
zent-Steigerung gegenüber 2010 beschlossen und damit
ihre gemeinsamen Verpflichtungen aus dem Pakt für
Forschung und Innovation erfüllt.
Anlage 16
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
des Abgeordneten Florian Pronold (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 21):
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der Einschätzung der Hochschulrektorenkonferenz, dass die
Schließung des Medizinstudiengangs an der Universität Lü-
beck eine Provokation sei (Der Tagesspiegel, „Lübeck als
Modell?“, 9. Juni 2010) und dass diese Entscheidung einen
falschen Schritt mit weitreichenden Konsequenzen, und zwar
nicht nur für die Universität Lübeck und das Land Schleswig-
Holstein, sondern für die Bundesrepublik Deutschland insge-
samt, darstelle, und wie gedenkt die Bundesregierung im ak-
tuellen Fall sowie in denkbaren kommenden Fällen auf die
Schließung von exzellenten Studiengängen und Universitäten
zu reagieren?
Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus-
haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit
den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig
und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent-
scheidungen zur Grundfinanzierung einzelner Hoch-
schulen. Die Initiierung konkreter Maßnahmen ist von-
seiten der Bundesregierung daher nicht geplant.
Insgesamt weist die Bundesregierung darauf hin, dass
das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008 ver-
einbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, ge-
samtstaatlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für
Bildung und Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt.
Anlage 17
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen
der Abgeordneten Marianne Schieder (Schwandorf)
(SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 22 und 23):
Welche Auswirkungen hat die Schließung der Hochschul-
standorte in Flensburg und Lübeck auf die Erreichung des
Ziels, bis zum Jahr 2015 mit Mitteln des Bundes 275 000 Stu-
dienplätze schaffen zu wollen, und inwieweit sieht die Bun-
desregierung hier Handlungsbedarf, insbesondere in Bezug
auf die Umsetzung und Weiterentwicklung des Hochschul-
paktes?
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen,
um – angesichts der Finanzsituation und der Sparzwänge der
Länder – in entsprechenden Situationen die Kürzung im Bil-
dungs- und Wissenschaftsbereich oder gar die Schließung von
kompletten Hochschulen zu verhindern, und welche rechtli-
chen Voraussetzungen sind hierfür notwendig, etwa hinsicht-
lich der von der Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Dr. Annette Schavan, angeregten Abschaffung des Koopera-
tionsverbotes?
Zu Frage 22:
Die Systematik des Hochschulpakts 2020 und die ent-
sprechenden Mittel des Bundes sind an die tatsächliche
bundesweite Aufnahme zusätzlicher Studienanfängerin-
nen und Studienanfänger und nicht an die Existenz ein-
zelner Hochschulstandorte geknüpft. Die Bundesregie-
rung geht davon aus, dass die Länder, wie im
Hochschulpakt 2020 vereinbart, ein bedarfsgerechtes
Studienangebot zur Verfügung stellen. Dies sind verein-
barungsgemäß rund 275 000 zusätzliche Studienanfän-
gerinnen und Studienanfänger in den Jahren 2011 bis
2015. Insofern besteht aus Sicht der Bundesregierung
kein Bedarf für eine Anpassung des Hochschulpakts.
Zu Frage 23:
Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus-
haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte
selbstständig und unabhängig vom Bund.
Unbeschadet davon gilt weiterhin das zwischen Bund
und Ländern im Oktober 2008 in Dresden vereinbarte
und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaat-
lich 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung auf-
zuwenden. Zum Erreichen dieses Ziels sind keine Ände-
rungen der rechtlichen Voraussetzungen notwendig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5423
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 18
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 24):
Hat sich die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel mit der
hochschulpolitischen Situation in Schleswig-Holstein be-
fasst, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundeskanzle-
rin aus den aktuellen Debatten für die Weiterführung der
Pläne zur Schaffung einer „Bildungsrepublik Deutschland“?
Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus-
haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte
selbstständig und unabhängig vom Bund.
Unbeschadet davon gilt weiterhin das zwischen Bund
und Ländern im Oktober 2008 in Dresden vereinbarte
und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaat-
lich 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung auf-
zuwenden. Zum Erreichen dieses Ziels sind keine Ände-
rungen der rechtlichen Voraussetzungen notwendig.
Anlage 19
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 25):
Hat die Bundesregierung eine Lösung zum Erhalt der Uni-
versität Lübeck nach dem Modell des Karlsruher Instituts für
Technologie, KIT, also des Zusammenschlusses einer Univer-
sität in Landeshoheit mit Aufgaben in Lehre und Forschung
und einer Großforschungseinrichtung der Helmholtz-Gemein-
schaft mit programmorientierter Vorsorgeforschung im Auf-
trag des Staates, geprüft, und zu welchem Ergebnis ist die
Prüfung gekommen?
Maßnahmen zur Umgestaltung von universitären
Strukturen in Lübeck fallen nach dem geltenden födera-
listischen Kompetenzgefüge in die originäre Zuständig-
keit des Landes Schleswig-Holstein. Konkrete Aussagen
der Bundesregierung zu Modellbeispielen oder Umset-
zungsszenarien sind vor dem Hintergrund des geltenden
föderalistischen Kompetenzgefüges und des aktuellen
Verfahrensstandes nicht angezeigt.
Anlage 20
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen
des Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD)
(Drucksache 17/2285, Fragen 26 und 27):
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
– nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Äußerungen
des Bundesministers für Gesundheit bezüglich des drohenden
Ärztemangels – aus der seitens der schleswig-holsteinischen
Landesregierung angekündigten Schließung der in den Hoch-
schulrankings immer bestplatzierten Medizinerausbildung in
Lübeck?
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Länder
– der schleswig-holsteinische Wissenschaftsminister bei-
spielsweise hat festgestellt, dass sich das Konsolidierungsland
Schleswig-Holstein „zu viel Exzellenz“ nicht mehr leisten
kann (Pressemitteilung des wissenschaftlichen Personalrats
der Universität zu Lübeck vom 23. Juni 2010) – angesichts
der Finanzkrise und der Sparzwänge zunehmend wissen-
schaftliche Exzellenz nicht mehr finanzieren können, und
welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung auch vor
dem Hintergrund der jüngst verlängerten Bund-Länder-Initia-
tiven Hochschulpakt, Exzellenzinitiative und Pakt für For-
schung und Innovation aus den offenkundig massiven Finan-
zierungsproblemen der Länder hinsichtlich des Erhalts
wissenschaftlicher Exzellenz?
Zu Frage 26:
Angesichts der föderalen Kompetenzverteilung und
der Zuständigkeit der Länder für die Hochschulen kann
die Bundesregierung die Einrichtung oder Schließung
von Studiengängen durch einzelne Länder nicht steuern.
Der Bund leistet bereits mit dem Hochschulpakt 2020 ei-
nen Beitrag zur Finanzierung der Medizinausbildung in
Deutschland.
Zu Frage 27:
Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus-
haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit
den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig
und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent-
scheidungen zur Grundfinanzierung der Hochschulen
und zu weiteren Maßnahmen, die die Leistungsfähigkeit
der einzelnen Hochschulen in Forschung und Lehre un-
terstützen.
Wichtige Voraussetzungen für Innovationen und ein
langfristiges Wachstum sind wissenschaftliche Exzel-
lenz und hochqualifizierter Nachwuchs. Die Bundesre-
gierung hat diesen Zusammenhang auch im Lichte der
Finanz- und Wirtschaftskrise betont und leistet bereits
zahlreiche Beiträge zur Stärkung von wissenschaftlicher
Exzellenz an Hochschulen. Die Bundesregierung steht
darüber hinaus zu den Verpflichtungen, die sie gemein-
sam mit den Ländern beim Hochschulpakt 2020, der Ex-
zellenzinitiative und dem Pakt für Forschung und Inno-
vation eingegangen ist. Sie sieht diese gemeinsamen
Programme und die darin verfolgten Zielsetzungen auch
durch die Länder nicht infrage gestellt. So haben Bund
und Länder zum Beispiel in der Gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz am 21. Juni 2010 in Umsetzung des
Pakts für Forschung und Innovation den Haushalt der
Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen For-
schungsgemeinschaft für das Jahr 2011 mit einer 5-Pro-
zent-Steigerung gegenüber 2010 beschlossen.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das zwischen
Bund und Ländern im Oktober 2008 vereinbarte und am
16. Dezember 2009 bestätigte Ziel, gesamtstaatlich
10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und
Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt.
Anlage 21
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen
des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD)
(Drucksache 17/2285, Fragen 28 und 29):
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Redu-
zierung der Staatsausgaben zulasten von Bildung und Wissen-
5424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
schaft zwar einen einfachen, aber grundfalschen Weg bei der
Haushaltskonsolidierung darstellt, dass – sollte das Beispiel
Lübeck Schule machen – die Universität Lübeck bundesweit
vermutlich nur die erste Universität ist, deren Existenz gefähr-
det ist, und dass angesichts der Haushaltssituation zahlreicher
Bundesländer weitere Universitätsschließungen in anderen
Konsolidierungsländern folgen dürften?
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der Tatsache, dass in den Medien die schleswig-holsteinische
Landesregierung das Aus für die Universität Lübeck insbe-
sondere mit dem Exzellenzwettbewerb begründet, und welche
Maßnahmen wären nach Auffassung der Bundesregierung ge-
eignet, um das Gegeneinanderausspielen von Hochschul-
standorten – hier Lübeck und Kiel – wirksam – etwa in Bezug
auf die Ausgestaltung des Exzellenzwettbewerbs – zu verhin-
dern?
Zu Frage 28:
Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Haus-
haltsautonomie erstellen die Länder ihre Haushalte mit
den entsprechenden Prioritätensetzungen selbstständig
und unabhängig vom Bund. Dies gilt auch für die Ent-
scheidungen zur Grundfinanzierung einzelner Hoch-
schulen.
Die Bundesregierung geht nicht von einer Schlie-
ßungswelle von Hochschulstandorten in den kommen-
den Jahren aus. Die Bundesregierung geht vielmehr da-
von aus, dass die Länder, wie im Hochschulpakt 2020
vereinbart, in den Jahren 2011 bis 2015 insgesamt rund
275 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten in Deutsch-
land bereitstellen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen,
dass das zwischen Bund und Ländern im Oktober 2008
vereinbarte und am 16. Dezember 2009 bestätigte Ziel,
gesamtstaatlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
für Bildung und Forschung aufzuwenden, weiterhin gilt.
Zu Frage 29:
Die Bundesregierung hält an dem Ziel der gemeinsam
mit den Ländern vereinbarten Exzellenzinitiative fest, in
einem bundesweiten Wettbewerb zwischen Universitä-
ten die besten Forschungsprojekte und Konzepte von
Hochschulen zu fördern. Die Entscheidung über die zu
fördernden Universitäten wird entsprechend der Bund-
Länder-Vereinbarung in einem wissenschaftsgeleiteten
Verfahren nach wissenschaftlichen Exzellenzkriterien
getroffen. Strategische Entscheidungen zu Hochschul-
standorten in einem Land fallen unter die verfassungs-
mäßig garantierte Kulturhoheit der Länder.
Anlage 22
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen des
Abgeordneten Willi Brase (SPD) (Drucksache 17/2285,
Fragen 30 und 31):
Wie bewertet die Bundesregierung die in Medienberichten
zur Rettung der Universität Lübeck („Berlin wartet Konzept
zur Stiftungsuni ab“, Lübecker Nachrichten vom 24. Juni
2010) zitierten Modelle zur Rettung der Universität Lübeck,
denen zufolge das Leibniz-Institut für Meereswissenschaften
in Kiel unter das Dach der Helmholtz-Gemeinschaft verscho-
ben werden und das Land Schleswig-Holstein durch die hö-
here Bundesfinanzierung Einsparungen in Millionenhöhe er-
zielen soll – insbesondere vor dem Hintergrund, dass laut
Bericht der Tageszeitung Neues Deutschland vom 23. Juni
2010 bislang niemand mit der Leibniz-Gemeinschaft auch nur
das Gespräch gesucht hat und diese die Verschiebung von Zu-
ständigkeiten laut Medienberichten ablehnt –, und welche
Chancen räumt die Bundesregierung dem zweiten Modell ei-
ner Stiftungsuniversität ein?
Welchen Beitrag kann aus Sicht der Bundesregierung das
in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, GWK, disku-
tierte Bund-Länder-Programm zur Medizinerausbildung zum
Erhalt der von Schließung bedrohten Hochschulen und zur Si-
cherstellung der Medizinerausbildung leisten, und in welcher
Form – organisatorisch und/oder finanziell – ist der Bund be-
reit, sich hier einzubringen?
Zu Frage 30:
Maßnahmen zur strukturellen Umgestaltung von uni-
versitären Strukturen in Lübeck fallen nach dem gelten-
den föderalistischen Kompetenzgefüge in die originäre
Zuständigkeit des Landes Schleswig-Holstein. Konkrete
Aussagen der Bundesregierung zu Modellbeispielen
oder Umsetzungsszenarien sind vor dem Hintergrund
des geltenden föderalistischen Kompetenzgefüges und
des aktuellen Verfahrensstandes nicht angezeigt.
Zu Frage 31:
Der Bund leistet bereits mit dem Hochschulpakt 2020
einen Beitrag zur Finanzierung der Medizinausbildung
in Deutschland. Die KMK hat auf ihrer Sitzung am
27. Mai in München beschlossen, mit dem Bund Gesprä-
che über ein mögliches Sonderprogramm für zeitlich be-
fristete Studienplätze in der Medizin aufzunehmen. Auf
der GWK-Sitzung am 21. Juni 2010 wurden weitere Ge-
spräche zwischen Bund und einigen Ländern in den
kommenden Wochen vereinbart. Es liegen hierzu noch
keine Ergebnisse vor.
Anlage 23
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Fragen
des Abgeordneten Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 32 und 33):
Wie ist sichergestellt, dass die Bundesregierung die auf
dem G-8-Gipfel zugesagten Mittel nicht durch Kürzungen in
anderen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit auf-
bringt?
Welcher Anteil an den deutschen Zusagen für Mütter- und
Kindergesundheit wird in Zukunft geleistet werden, und wel-
cher Anteil wurde bereits in der Vergangenheit geleistet?
Zu Frage 32:
Der Haushalt 2011 befindet sich derzeit im regierungs-
internen Aufstellungsverfahren. Über Schwerpunktset-
zungen und detaillierte Ansätze wird das Parlament durch
den vom Kabinett verabschiedeten Regierungsentwurf
unterrichtet. Ob sich durch aktuelle oder künftige G-8-
Zusagen Anpassungserfordernisse ergeben, kann derzeit
nicht ausgeschlossen werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5425
(A) (C)
(D)(B)
Zu Frage 33:
Die bei dem G-8-Gipel 2010 zugesagten Mittel wer-
den ausschließlich in der Zukunft geleistet.
Anlage 24
Antwort
des Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage des
Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksa-
che 17/2285, Frage 34):
Inwieweit befürwortet die Bundesregierung die Pläne der
Bundesländer, die Rundfunkgebührenbefreiung zulasten von
Menschen mit Behinderung sowie gemeinnützigen Einrichtun-
gen für Behinderte unter anderem zum 1. Januar 2013 abzu-
schaffen (siehe Eckpunkte der Ministerpräsidenten der Länder
über eine veränderte Rundfunkfinanzierung vom 9./10. Juni
2010)?
Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes
liegen Fragen der Finanzierung des inländischen Rund-
funks in der Zuständigkeit der Länder. Die Regierungs-
chefin und Regierungschefs der Länder haben auf ihrer
Konferenz am 10. Juni 2010 in Berlin die im Länder-
kreis erarbeiteten Eckpunkte zur Neuordnung der Finan-
zierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zustim-
mend zur Kenntnis genommen.
Sofern Menschen mit Behinderung einen Befreiungs-
grund geltend machen können, sehen die Eckpunkte eine
Beitragsbefreiung für diesen Personenkreis vor. Für fi-
nanziell leistungsfähige Menschen mit Behinderung
wird ein ermäßigter Beitrag in Höhe von einem Drittel
des Rundfunkbeitrages angesetzt. Für nichtprivate ge-
meinnützige Einrichtungen für Behinderte enthalten die
Eckpunkte eine Begrenzung des Rundfunkbeitrags auf
höchstens einen Beitrag pro Betriebsstätte.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass nunmehr
der Entwurf eines Rundfunkbeitragsstaatsvertrages
durch die Länder erarbeitet werden wird, in den insbe-
sondere auch Ergebnisse von Anhörungen fachlicher
Kreise einfließen werden. Vor diesem Hintergrund sieht
die Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt von einer
Stellungnahme zu Einzelfragen möglicher künftiger Be-
freiungsregelungen ab.
Anlage 25
Antwort
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der
Abgeordneten Erika Steinbach (CDU/CSU) (Drucksa-
che 17/2285, Frage 35):
Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die Anzahl
der Morde an Journalisten in den letzten drei Jahren, insbe-
sondere im Irak, auf den Philippinen, in Kolumbien und in der
Russischen Föderation?
Die Bundesregierung setzt sich nachdrücklich für
Meinungs- und Pressefreiheit als unveräußerliche Men-
schenrechte und als Grundlage einer funktionierenden
Demokratie ein.
Die zunehmende Bedrohung von Journalisten mit
Menschenrechtsverletzungen, ob im Zusammenhang mit
bewaffneten Konflikten, im Umfeld organisierter Krimi-
nalität oder zum Beispiel nach umstrittenen Wahlen, ver-
folgt die Bundesregierung mit großer Sorge. Dabei gera-
ten immer mehr Menschen in Bedrängnis, die keiner
journalistischen Tätigkeit im klassischen Sinne nachge-
hen, sondern als Blogger oder in Onlineplattformen ge-
sellschaftliche Diskussionen anstoßen und auf Men-
schenrechtsverletzungen aufmerksam machen.
Die Bundesregierung tritt deutlich gegen Versuche
ein, Presse- und Meinungsfreiheit zu relativieren oder
preiszugeben. Sie wird auch zukünftig gemeinsam mit
den EU-Partnern Verletzungen der Meinungs- und Pres-
sefreiheit aufgreifen. Einzelfälle von Angriffen auf Jour-
nalisten und Morden an Medienschaffenden thematisiert
die Bundesregierung sowohl bilateral wie auch gemein-
sam mit den EU-Partnern.
Zu den Fragen nach Journalistenmorden in einzelnen
Ländern ist voranzustellen, dass der Bundesregierung
unterschiedliche Informationen vorliegen. Die nachfol-
gend genannten Zahlen für die entsprechenden Länder
stammen von verschiedenen Nichtregierungsorganisa-
tionen, zu denen die deutschen Auslandsvertretungen
Kontakt haben.
Irak: Nach Kenntnis der Bundesregierung wurden im
Zeitraum 2007 bis 2009 insgesamt 47 Journalisten in
Irak getötet – 2007: 32, 2008: 11, 2009: 4, 2010: 1;
Quelle: International Commitee to Protect Journalists.
Philippinen: Es gibt keine einheitlichen Angaben über
die Anzahl der Todesopfer unter den Journalisten auf
den Philippinen. Die am meisten zitierte Quelle ist die
National Union of Journalists of the Philippines. Diese
nennt folgende Zahlen: 2007: 5, 2008: 7, 2009: 38, da-
von 32 in dem „Maguindanao Massacre“, 2010 bis
heute: drei Journalisten. Diese Zahlen werden auch von
dem International News Safety Institute verwendet.
Davon abweichend das Center for Media Freedom &
Responsibility: 2007: 2, 2008: 6, 2009: 36 Journalisten,
davon 32 in dem „Maguindanao Massacre“, 2010: keine
Angaben. Beide Organisationen sind der Deutschen Bot-
schaft bekannt und werden von ihr als seriös einge-
schätzt.
Kolumbien: Nach Angaben der unabhängigen Nicht-
regierungsorganisation CPJ, Committee to Protect Jour-
nalists, wurden von 2007 bis 2010 zwei Journalisten er-
mordet, bei denen es einen klaren Zusammenhang
zwischen der Tätigkeit als Journalist und der Ermordung
gab. In beiden Fällen waren wahrscheinlich Paramilitärs
für die Morde verantwortlich. Im gleichen Zeitraum gab
es drei Morde, bei denen ein Zusammenhang möglich,
aber nicht nachgewiesen war.
Russische Föderation: Die Bundesregierung kann
keine Aussage über die genaue Anzahl von Morden an
und Angriffen auf Journalisten machen. Bekannt wurden
in den letzten Jahren Einzelfälle, zu denen folgende
Morde zählen:
5426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Anna Politkowskaja, Journalistin der Nowaja Gazeta,
ermordet am 7. Juni 2006; Magomed Jewlojew, Betrei-
ber der Webseite lngushetia.ru, am 31. August 2008 in
Polizeigewahrsam erschossen; Jaroslaw Jaroschenko,
Redakteur der Zeitschrift Corruption and Crime, im
April 2009 von Unbekannten brutal zusammengeschla-
gen, erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus im Juni
2009; Malik Achmedilow, dagestanischer Journalist, am
11. August 2009 in Machatschkala/Dagestan erschossen,
und Anastasija Baburowa, freie Journalistin, unter ande-
rem für Nowaja Gazeta; am 19. Januar 2009 auf offener
Straße zusammen mit dem Menschenrechtsanwalt
Stanislaw Markelow erschossen.
Übergriffe werden von den Justizbehörden oftmals
ignoriert oder in Abrede gestellt. Daher ist von einer ge-
wissen Dunkelziffer auszugehen. Außerdem sind Über-
griffe nicht in jedem Fall auf die journalistische Tätig-
keit der Opfer zurückzuführen, sondern können auch
andere Hintergründe haben. Die Abgrenzung und Ursa-
chenforschung ist angesichts der unübersichtlichen Si-
tuation – vor allem im Nordkaukasus – schwierig. Insge-
samt arbeiten kritische russische Journalisten in einer
Situation, die ihnen mitunter großen persönlichen Mut
abverlangt.
Anlage 26
Antwort
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des
Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache
17/2285, Fragen 36 und 37):
Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage der Staats-
ministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, dass der
zweite Wahlgang darüber entscheiden werde, ob der Weg Po-
lens zurück ins politische Abseits gehe, und wie beurteilt die
Bundesregierung eine möglicherweise dadurch entstehende
Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses?
In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung sich
zukünftig in Wahlauseinandersetzungen europäischer Partner-
staaten einzumischen?
Zu Frage 36:
Die Entscheidung, wer am 4. Juni 2010 zum nächsten
polnischen Präsidenten gewählt wird, obliegt alleine
dem polnischen Volk.
Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia
Pieper, hat am 23. Juni 2010 beim XIV. Deutsch-Polni-
schen Forum in Warschau betont, dass ihr sehr an
freundschaftlichen Beziehungen zu Polen gelegen ist
und sie sich in keiner Weise in den Fortgang der Präsi-
dentschaftswahl einmischen möchte.
Der polnische Staatssekretär Władisław Bartoszewski
hat bei derselben Veranstaltung das bilaterale Verhältnis
als hervorragend bezeichnet und dabei auch seine ver-
trauensvolle, enge Zusammenarbeit mit Staatsministerin
Pieper als Koordinatorin für die deutsch-polnische zwi-
schengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit
hervorgehoben.
Zu Frage 37:
Die Bundesregierung kommentiert innenpolitische
Wahlkampfauseinandersetzungen in europäischen Part-
nerstaaten nicht.
Anlage 27
Antwort
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des
Abgeordneten Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 38 und 39):
In wie vielen Fällen haben die Auslandsvertretungen der
Bundesrepublik Deutschland in der Türkei beim Ehegatten-
nachzug nach Deutschland von Ehegatten, die einen Hoch-
oder Fachhochschulabschluss oder eine entsprechende Quali-
fikation besitzen oder eine Erwerbstätigkeit ausüben, die re-
gelmäßig eine solche Qualifikation voraussetzt, vor der Ein-
reise den Nachweis von Deutschkenntnissen verlangt?
Wie stellt das Auswärtige Amt sicher, dass die Auslandsver-
tretungen der Bundesrepublik Deutschland bei Visumanträgen
zum Ehegattennachzug bei erkennbar geringem Integrationsbe-
darf gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes
Sprachnachweise nicht verlangen?
Zu Frage 38:
Im Zeitraum 1. Januar 2009 bis 31. März 2010 wurde
an den drei visumerteilenden Auslandsvertretungen in
der Türkei, Ankara, Istanbul und Izmir, in 228 Fällen das
Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes bejaht und auf
den Sprachnachweis verzichtet. Eine gesonderte statisti-
sche Erfassung nach einzelnen Ausnahmetatbeständen
findet nicht statt. Auch eine Erfassung des Bildungshin-
tergrundes der Antragsteller findet nicht statt.
Alleine die besondere Qualifikation genügt nach dem
Gesetz nicht, um den Ausnahmetatbestand des geringen
Integrationsbedarfs im Sinne des § 30 Abs. 2 Satz 3
Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes zu bejahen. Vielmehr
muss hierzu zusätzlich eine positive Erwerbsprognose
und positive Integrationsprognose bescheinigt werden
können, § 4 Abs. 2 Integrationskursverordnung.
Soweit die Erwerbsprognose positiv ausfällt, kann in
der Regel auch die Integrationsprognose bejaht werden.
Bei der Erwerbsprognose kommt der Ausländerbehörde
eine wichtige Rolle zu.
Zu Frage 39:
Die deutschen Auslandsvertretungen sind angewie-
sen, eine Ausnahme aufgrund erkennbar geringen Inte-
grationsbedarfs insbesondere dann anzunehmen, wenn
Antragstellern eine besondere Qualifikation, eine posi-
tive Erwerbsprognose und positive Integrationsprognose
bescheinigt werden kann.
Im Rahmen der Beratung von Antragstellern und Ein-
ladern gibt auch die Zentrale des Auswärtigen Amts
Auskunft über diesen Ausnahmetatbestand. Bei entspre-
chenden Anfragen von Bürgern gibt die Zentrale den
Auslandsvertretungen Hinweise zu Einzelfällen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5427
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 28
Antwort
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen der
Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 40
und 41):
Wie setzt sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür
ein, im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusam-
menarbeit in Europa, OSZE, Polizistinnen und Polizisten nach
Kirgistan zu schicken, um zur Stabilisierung der politischen
Lage beizutragen (siehe auch Reuters-Meldung vom 23. Juni
2010 „OSZE fordert internationale Polizei-Truppe für Süd-
Kirgistan“)?
In welcher Form setzt sich die Bundesregierung dafür ein,
deutsche Polizistinnen und Polizisten für eine internationale
OSZE-geführte Polizeitruppe für Kirgistan bereitzustellen,
und inwiefern beurteilt sie die Entsendung von Polizistinnen
und Polizisten in Krisengebiete als eine langfristige struktu-
relle Aufgabe der zivilen Konfliktbearbeitung?
Zu Frage 40:
Sowohl im Rahmen der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, als auch im Rah-
men der EU erörtert die Bundesregierung derzeit ge-
meinsam mit ihren Partnern, welche Mittel und Instru-
mente neben der bereits geleisteten humanitären Hilfe
noch zur Verfügung stehen, um zur Konfliktlösung und
zur Stabilisierung in Kirgisistan beizutragen.
Um mögliche Handlungsoptionen für die OSZE zu
analysieren, hat Kasachstan als derzeitiger OSZE-Vor-
sitz am 24. Juni 2010 eine Bedarfsermittlungsmission
nach Kirgisistan entsandt. Die Mission soll dazu dienen,
uns von der komplexen Lage vor Ort sowie den konkre-
ten Unterstützungsmöglichkeiten im Sicherheitsbereich
ein genaues Bild zu machen.
Im EU-Rahmen hat die Bundesregierung am 23. Juni
2010 zusammen mit Frankreich eine gemeinsame Initia-
tive zur Unterstützung Kirgisistans in der Krise einge-
bracht. Darin rufen Frankreich und Deutschland die EU
dazu auf, gemeinsam mit den Vereinten Nationen die
Möglichkeit einer internationalen Erkundungsmission zu
prüfen, weitere humanitäre Hilfe zu leisten, bei der Kon-
fliktlösung eng mit Russland zusammenzuarbeiten sowie
die von der OSZE noch zu beschließenden Maßnahmen
zu unterstützen.
Zu Frage 41:
Bisher hat die OSZE noch keinen Beschluss gefasst,
eine „internationale OSZE-geführte Polizeitruppe“ nach
Kirgisistan zu entsenden. Die Bundesregierung wird im
Lichte des Berichts der Bedarfsermittlungsmission der
OSZE und der aktuellen Sicherheitslage prüfen, an wel-
chen Maßnahmen der OSZE sie sich beteiligen wird.
Grundsätzlich gewinnt im Rahmen internationaler
Maßnahmen zur Konfliktbewältigung und Krisennach-
sorge die zivile Komponente, das heißt also auch der
Einsatz von Polizisten und Polizistinnen zunehmende
Bedeutung. Der Einsatz von Polizeikräften dient kurz-
fristig der Stabilisierung der Lage und kann langfristig
durch Unterstützung bei Ausbildung und Aufbau einer
nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitenden Polizei
eine zentrale Hilfestellung leisten.
Anlage 29
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD)
(Drucksache 17/2285, Frage 42):
Sind die vielfältigen Bildungsangebote, die zum Aufga-
bengebiet des Bundesministeriums des Innern gehören, wie
zum Beispiel die Bundeszentrale für politische Bildung oder
die Integrationskurse, auch vom Beschluss der Bundesregie-
rung betroffen, den Bildungsbereich von künftigen Haushalts-
kürzungen auszunehmen und sogar mit weiteren Finanzmit-
teln aufzustocken?
Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat für
konkrete Bildungsmaßnahmen von nachgeordneten Be-
hörden zusätzliche Bildungsmittel aus dem 12-Milliar-
den-Euro-Programm der Bundesregierung beantragt.
Diese vom 12-Milliarden-Euro-Programm profitieren-
den Behörden müssen jedoch gleichermaßen zu den all-
gemeinen Einsparvorgaben zur Haushaltskonsolidierung
beitragen, wie die anderen Behörden im Geschäftsbe-
reich des BMI. Die für den Einzelplan des BMI von der
Bundesregierung beschlossenen Absenkungen belaufen
sich im Jahr 2011 auf rund 77,4 Millionen Euro gegen-
über dem geltenden Finanzplan; im Jahr 2012 erhöht
sich der Einsparbetrag sogar auf rund 91,6 Millionen
Euro, in den Jahren 2013 und 2014 dann auf rund 99,1
Millionen Euro. Das BMI ist bei allen Bemühungen um
eine gleichmäßige Verteilung der Einsparungen bei der
Aufstellung des Haushaltsentwurfs nicht pauschal vor-
gegangen. Die beschlossenen Einsparungen richten sich
an der finanziellen Leistungsfähigkeit sämtlicher Berei-
che des Einzelplans aus. Auch der Grad der Flexibilisie-
rung und die unterschiedlichen Möglichkeiten, Projekte
zeitlich zu verschieben und damit auch kurzfristig auf
Einsparvorgaben zu reagieren, mussten berücksichtigt
werden.
Anlage 30
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD)
(Drucksache 17/2285, Frage 43):
Wie begründet die Bundesregierung die Auffassung, dass
sich aus der Rücknahme des Vorbehalts zum Übereinkommen
über die Rechte des Kindes kein bundesgesetzlicher Ände-
rungsbedarf ergebe, im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit
unbegleiteter minderjähriger Asylbewerberinnen und Asylbe-
werber, die das 16. Lebensjahr vollendet haben?
Ich darf zunächst an den Wortlaut des hier einschlägi-
gen Teils der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland
erinnern:
Nichts in dem Übereinkommen kann dahin ausge-
legt werden, dass die widerrechtliche Einreise eines
Ausländers in das Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland oder dessen widerrechtlicher Aufent-
5428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
halt dort erlaubt ist; auch kann keine Bestimmung
dahin ausgelegt werden, dass sie das Recht der
Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze
und Verordnungen über die Einreise von Auslän-
dern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu er-
lassen oder Unterschiede zwischen Inländern und
Ausländern zu machen.
In dieser Erklärung wird an keiner Stelle auf die Al-
tersgrenze im Asylrecht oder im Ausländerrecht Bezug
genommen. Es ist daher auch kein rechtlicher Grund er-
sichtlich, warum die von der Bundesregierung am 3. Mai
2010 beschlossene Rücknahme der Erklärung diese Al-
tersgrenze unzulässig machen sollte.
Es bestand und besteht Konsens innerhalb der Bun-
desregierung, dass die Erklärung eine deklaratorische
Bedeutung hat und ihre Rücknahme demgemäß keine
unmittelbaren Rechtsfolgen auslöst.
Anlage 31
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
des Abgeordneten Peter Friedrich (SPD) (Drucksache
17/2285, Frage 44):
Wie bewertet die Bundesregierung, dass rechtsextreme
Gruppierungen wie die NPD vermehrt über Google-Anzeigen
in den Onlineangeboten von Tageszeitungen und Blogs wer-
ben, so unter anderem mit den Worten „Kostenlos objektiv
über die NPD informieren“, und sind vonseiten der Bundesre-
gierung rechtliche Schritte geplant, diese Praxis zu unterbin-
den?
Der Bundesregierung liegen nur vereinzelte Hinweise
vor, wonach es der NPD gelungen ist, über den Google-
Werbedienst in Onlineanzeigen seriöser Zeitungen Wer-
bung zu platzieren. Bewerkstelligt wird dies mittels pro-
grammgesteuerter automatisierter Kopplung an bestimmte,
in Beiträgen enthaltene Schlagworte. Diese Schlagworte
können auch in kritischer Berichterstattung enthalten
sein. Durch die Verwendung einer entsprechenden Soft-
ware kann das Aufblenden der Werbung unterbunden
werden. Diese Filterfunktion kann sowohl vom einzelnen
Internetbetreiber als auch vom individuellen Nutzer akti-
viert werden. Seitens der von Online-nachrichtendiensten
betriebenen Internetseiten, wie zum Beispiel Welt Online
ist dies zwischenzeitlich auch erfolgt.
Anlage 32
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
des Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 45):
Wie lautet die Rechtfertigung der Bundesregierung für
ihre Enthaltung zu dem im Ministerrat befürworteten SWIFT-
Abkommen zur Übermittlung intimster Banktransaktionsda-
ten einer nicht näher bestimmbaren, vermutlich in die Millio-
nen gehenden Anzahl von Bundesbürgern für eine Dauer von
fünf Jahren in die nach EU-Datenschutzrecht als unsicheres
Drittland eingestufte USA angesichts ihres verfassungsrecht-
lichen Schutzauftrages für die Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes und damit auch für die Beachtung der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung,
in welcher bereits eine Speicherung von möglicherweise weit-
aus weniger sensitiven Daten für einen weitaus kürzeren Zeit-
raum von sechs Monaten für mit dem Grundgesetz unverein-
bar und nichtig angesehen wird?
Deutschland konnte dem Ratsbeschluss über die Un-
terzeichnung des sogenannten SWIFT-Abkommens im
schriftlichen Verfahren zustimmen, nachdem das Euro-
päische Parlament Zustimmung signalisiert hat und weil
es insbesondere im Hinblick auf den Rechtsschutz und
auf den Datenschutz deutliche Verbesserungen gegen-
über dem Interimsabkommen enthält. Hervorheben
möchte ich insbesondere folgende Verbesserungen, die
auf deutsche Initiative im Abkommen enthalten sind:
Das Ersuchen muss auch in Bezug auf die Datenarten
spezifiziert und eingeschränkt werden. Das Ersuchen
muss so eng wie möglich gefasst sein, um die Menge der
angeforderten Daten auf ein Minimum zu beschränken.
Drittstaatenübermittlung ist grundsätzlich nur bei Zu-
stimmung des jeweiligen Ursprungsstaats zulässig. Eine
Ausnahme besteht nur bei Gefahr im Verzug bei drin-
genden schweren Gefahren.
Berichtigungs-, Löschungs- und Sperrungsrechte
können künftig jeweils über die Datenschutzbehörde des
jeweiligen Mitgliedstaats geltend gemacht werden, die
die Anfrage an die USA weiterleitet.
Darüber hinaus müssen die USA in ihren Ersuchen den
angeforderten Übermittlungsumfang eingrenzen und zwar
aufgrund eines Risikoprofils, das insbesondere bestimmte
Nachrichtenarten und geografische Regionen berücksich-
tigt. Daten, die sich auf den Einheitlichen Euro-Zahlungs-
verkehrsraum beziehen, sogenannte SEPA-Daten, dürfen
von den USA nicht angefordert werden, Art. 4 Abs. 2 d,
und somit auch nicht übermittelt werden.
Was die von Ihnen angesprochene Höchstspeicher-
dauer der Daten anbelangt: Die Bunderegierung hat sich
mit Nachdruck für eine Verkürzung auf unter fünf Jahre
eingesetzt. Die USA waren aber laut Aussage der Ver-
handlungsführerin der EU, der Kommission, nicht kom-
promissbereit und verweisen – was zutrifft – darauf, dass
bereits die Banken weltweit nach globalen Standards zur
Terrorismusfinanzierungsbekämpfung genau zu dieser
fünfjährigen Vorsorgespeicherung verpflichtet sind: In
der EU ist dies in der Geldwäscherichtlinie genauso ge-
regelt, folglich im deutschen Geldwäschegesetz genauso
umgesetzt. Neu ist allerdings, dass der Vertrag nun aus-
drücklich Evaluierungsvorgaben vorsieht, die auf eine
Fristverkürzung zusteuern. Das Abkommen enthält in
Art. 12 und 13 Regelungen zur Sicherung des Daten-
schutzes in den USA. Gemäß Art. 12 Abs. 1 wird künf-
tig auch eine von der Europäischen Kommission be-
nannte Person vor Ort im US-Finanzministerium die
Verwendung der Daten überprüfen. Art. 13 sieht eine ge-
meinsame EU/US-Evaluierung spätestens nach sechs
Monaten nach Inkrafttreten des Abkommens dahinge-
hend vor, ob die durch das Abkommen gesetzten Vorga-
ben, insbesondere im Hinblick auf den Datenschutz ein-
gehalten werden. Dabei werden dieses Mal auch
europäische Datenschutzbeauftragte einbezogen werden
– eine der Verbesserungen, die das Abkommen gegen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5429
(A) (C)
(D)(B)
über den Datenschutzzusicherungen enthält, die die
USA bisher einseitig abgegeben haben und die die EU
im Jahr 2007 als angemessenes Datenschutzniveau für
eine Übermittlung in die USA anerkannt hatte – EU-
ABI. C 166 vom 20. Juli 2007, Seite 26.
Der Rat ist zudem übereingekommen, das Abkom-
men erneut zu bewerten, sobald das künftige EU-USA-
Rahmenabkommen über den Datenschutz abgeschlossen
worden ist.
Anlage 33
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Fra-
gen der Abgeordneten Dr. Eva Högl (SPD) (Drucksa-
che 17/2285, Fragen 46 und 47):
Wie wird die Bundesregierung sich bei der Abstimmung
über das sogenannte SWIFT-Abkommen im Rat der EU ver-
halten?
Welche Bedeutung hat nach Ansicht der Bundesregierung
der im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP for-
mulierte Ratifizierungsvorbehalt für das Inkrafttreten des
neuen SWIFT-Abkommens?
Zu Frage 46:
Die Bundesregierung hat im schriftlichen Verfahren
dem Ratsbeschluss über die Unterzeichnung des soge-
nannten SWIFT-Abkommens zugestimmt. Die Bundes-
regierung hat sich darüber hinaus damit einverstanden
erklärt, dass der Entwurf des Beschlusses über den Ab-
schluss des Abkommens nach der Unterzeichnung des
Abkommens dem Europäischen Parlament zur Zustim-
mung zugeleitet wird. Des Weiteren hat die Bundesre-
gierung ihre Zustimmung dazu erteilt, dass der Rat das
Europäische Parlament ersucht, die Angelegenheit im
Dringlichkeitsverfahren gemäß Art. 142 seiner Ge-
schäftsordnung zu behandeln.
Zu Frage 47:
Das sogenannte SWIFT-Abkommen wurde nach dem
Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezem-
ber 2009 und nach der Ablehnung des sogenannten Inte-
rimsabkommens durch das Europäische Parlament am
11. Februar 2011 neu ausverhandelt. Ich gehe davon aus,
dass Ihre Frage zum Koalitionsvertrag vom September
2009 darauf abzielt, ob in Deutschland ein Vertragsge-
setz für das Zustandekommen des Abkommens erforder-
lich ist. Dies ist nicht der Fall. Es handelt sich nicht um
ein sogenanntes gemischtes Abkommen. Die Europäi-
sche Union ist alleinige Vertragspartnerin der USA und
nicht daneben auch noch die Mitgliedstaaten. Das Ab-
kommen fällt in die Vertragsschlusskompetenz der Euro-
päischen Union. Der Rat der Europäischen Union stützt
das Abkommen auf den Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union, AEUV, insbesondere auf die
Art. 87 Abs. 2 Buchstabe a) und Art. 88 Abs. 2 in Ver-
bindung mit Art. 218 AEUV. Rein mitgliedstaatliche Kom-
petenzen sind von dem Abkommen nicht betroffen.
Anlage 34
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 48):
Hält die Bundesregierung es angesichts der in dem
Rechtsgutachten des Präsidenten des Bundesverfassungsge-
richtes a. D. Hans-Jürgen Papier genannten Argumente für
möglich, eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwer-
ken ohne Zustimmung des Bundesrates zu verabschieden und,
wenn ja, auf Grundlage welcher juristischen Überlegungen?
Die Bundesregierung berücksichtigt bei ihrer Bewer-
tung der Zustimmungsbedürftigkeit beziehungsweise
Zustimmungsfreiheit von Gesetzen insbesondere die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die am
11. Juni 2010 verkündete Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz enthält ent-
sprechende Aussagen, die von der Bundesregierung ge-
genwärtig ausgewertet werden. In das Gutachten von
Papier konnten sie erkennbar noch nicht einfließen.
Anlage 35
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE)
(Drucksache 17/2285, Frage 49):
Inwieweit spielte nach Kenntnis der Bundesregierung die
sogenannte EU-Rechtsstaatsmission EULEX Kosovo eine
Rolle bei der Abschiebung von über 100 Menschen – über-
wiegend Roma – mit einem Flug der Fluggesellschaft Air
Berlin nach Pristina am 22. Juni 2010 zum Beispiel durch
Auswahl der Abzuschiebenden oder Finanzierung der Ab-
schiebung, und inwiefern ist die Organisation und Finanzie-
rung von Abschiebeflügen nach Kosovo durch das Mandat
dieser sogenannten Rechtsstaatsmission gedeckt?
Die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen
Union im Kosovo, EULEX Kosovo, hatte nach Kenntnis
der Bundesregierung keinen Einfluss auf die Sammel-
rückführung nach Pristina am 22. Juni 2010. Weder die
Organisation noch die Finanzierung von Sammelrück-
führungen erfolgen über die EULEX Kosovo.
Anlage 36
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Max Stadler auf die Frage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE)
(Drucksache 17/2285, Frage 50):
Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung die Be-
reitstellung von Dokumenten zum Bosnien-Krieg – 1992 bis
1995 – für den Karadzić-Prozess vor dem Internationalen
Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, ICTY, in Den
Haag verweigert, die auf Antrag des angeklagten Radovan
Karadzić, ehemals Präsident der bosnischen Republika
Srpska, angefordert wurden und dessen Antrag durch die
ICTY-Richter am 19. Mai 2010 stattgegeben wurde, und sieht
die Bundesregierung in ihrer Verweigerungshaltung eine Be-
hinderung der internationalen Strafgerichtsbarkeit?
5430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Die Bundesregierung arbeitet weiterhin eng mit dem
Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige
Jugoslawien zusammen.
Das Gericht hat dem Beweisantrag des Angeklagten
nur teilweise stattgegeben. Hinsichtlich der verbleiben-
den Beweispunkte war der Bundesregierung und dem
Bundestag eine Herausgabe von Dokumenten nicht
möglich, weil keine entsprechenden Dokumente vorhan-
den sind.
Dies hat die Bundesregierung dem Gerichtshof in der
vergangenen Woche fristgerecht mitgeteilt.
Anlage 37
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra-
gen des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 51):
Auf welche Höhe schätzt die Bundesregierung in den
nächsten fünf Jahren die steuerlichen Mindereinnahmen aus
der geplanten Aufhebung der Einschränkung der Agrardiesel-
Steuerbegünstigung, und wie sollen diese Einnahmeverluste
kompensiert werden, damit eine zusätzliche Nettoneuver-
schuldung vermieden werden kann?
Die Bundesregierung schätzt die Mindereinnahmen
aus der Aufhebung der Einschränkungen bei der Agrar-
diesel-Steuerbegünstigung auf rund 260 Millionen Euro
jährlich. Die Steuermindereinnahmen werden dabei
überwiegend im Haushalt des Bundesministeriums für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz kom-
pensiert.
Anlage 38
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra-
gen der Abgeordneten Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 52):
Welche steuerrechtlichen Abschreibungsmöglichkeiten
gibt es in den Bereichen Bauen, Wohnen und Stadtentwick-
lung, und wie sind diese ausgestaltet?
Nach § 7 Absatz 4 EStG sind vor dem 1. Januar 1925
fertiggestellte Gebäude, die Wohnzwecken dienen, mit
einem AfA-Satz von 2,5 Prozent linear abzuschreiben.
Für nach dem 31. Dezember 1924 fertiggestellte Ge-
bäude, die Wohnzwecken dienen, gilt ein AfA-Satz von
2 Prozent. Dies entspricht einer Nutzungsdauer von 40
bzw. 50 Jahren. Für Gebäude, die zu einem Betriebsver-
mögen gehören und nicht Wohnzwecken dienen, gilt ein
AfA-Satz von 3 Prozent. Dies entspricht einer Nutzungs-
dauer von 33 Jahren.
Für Gebäude, die vom Steuerpflichtigen hergestellt
oder bis zum Ende des Jahres der Fertigstellung ange-
schafft worden sind, kann abweichend die Absetzung in
Staffelsätzen vorgenommen werden. Das gilt aber nur
noch für Gebäude, die Wohnzwecken dienen und auf-
grund eines bis Ende 2005 gestellten Bauantrags herge-
stellt oder bis Ende 2005 aufgrund eines rechtswirksam
abgeschlossenen obligatorischen Vertrages angeschafft
worden sind. Die Absetzung ist dabei nach § 7 Abs. 5
EStG mit den gesetzlich vorgeschriebenen Staffelsätzen
vorzunehmen. Die Staffeln legen eine Nutzungsdauer
von 40 bzw. 50 Jahren zugrunde. Die Anwendung de-
gressiver Abschreibung für nicht Wohnzwecken die-
nende Gebäude wurde bereits Ende 1994 abgeschafft.
Für Herstellungskosten infolge Modernisierungs und
Instandsetzungsarbeiten an Gebäuden in einem Sanie-
rungsgebiet oder städtebaulichen Entwicklungsbereich
können anstelle der AfA erhöhte Absetzungen nach
§ 7 h EStG in Höhe von je bis zu 9 Prozent dieser Her-
stellungskosten im Jahr der Herstellung und den folgen-
den sieben Jahren sowie je bis zu 7 Prozent in den darauf
folgenden vier Jahren steuermindernd geltend gemacht
werden.
§ 7 i EStG fördert Herstellungskosten für Baumaß-
nahmen an Baudenkmälern ebenfalls mit erhöhten Ab-
setzungen mit je bis zu 9 Prozent dieser Herstellungskos-
ten im Jahr der Herstellung und den folgenden sieben
Jahren sowie je bis zu 7 Prozent in den darauf folgenden
vier Jahren.
Nach § 10 f EStG sind Steuervergünstigungen für zu
eigenen Wohnzwecken genutzte Baudenkmale und Ge-
bäude in Sanierungsgebieten oder städtebaulichen Ent-
wicklungsgebieten möglich. Über 10 Jahre können je-
weils 9 Prozent bestimmter Aufwendungen wie Sonder-
ausgaben steuermindernd berücksichtigt werden. Hier
handelt es sich nicht um Abschreibungen im eigentli-
chen Sinne.
Anlage 39
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des
Abgeordneten Peter Friedrich (SPD) (Drucksache 17/2285,
Frage 53):
Sieht die Bundesregierung in der Bereitstellung von abge-
brannten Brennelementen durch deutsche Kernkraftwerks-
betreiber zur Wiederaufarbeitung in Russland und den dabei
anfallenden Nebenprodukten, die sich als Brennstoff für
RBMK-Reaktoren eignen, einen Widerspruch zur erklärten
Absicht der Bundesregierung, sich für eine sofortige Stillle-
gung der RBMK-Reaktoren einzusetzen, und wie bewertet sie
diesbezüglich die Äußerungen der EnBW zur Herkunft des
von der EnBW verwendeten Wiederaufarbeitungsurans?
Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennele-
mente aus deutschen Kernkraftwerken erfolgte in Frank-
reich und Großbritannien, nicht jedoch in Russland. Seit
dem 1. Juni 2005 ist die Abgabe von bestrahlten Brenn-
elementen zur Wiederaufarbeitung nach dem Atomge-
setz nicht mehr zulässig. Zu den Äußerungen einzelner
Unternehmen, deren Kontext im Übrigen nicht näher er-
läutert ist, kann die Bundesregierung keine Stellung neh-
men.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5431
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 40
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage der
Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 54):
Was waren die wesentlichen inhaltlichen Argumente der
Vertreter der vier Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und
EnBW, die diese bei dem Treffen mit der Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel am 23. Juni 2010 zu einer Brennelemente-
steuer und einer eventuellen Verlängerung der Laufzeit von
Atomkraftwerken vorgebracht haben, und wie beurteilt das
Bundeskanzleramt diese Argumente (insbesondere, welchen
Argumenten kann es folgen bzw. nicht folgen)?
Das Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und den
Vorstandvorsitzenden der vier Energieversorgungsunter-
nehmen EnBW AG, E.ON AG, RWE AG und Vattenfall
Europe AG am 23. Juni 2010 im Bundeskanzleramt
diente dem umfassenden Meinungsaustausch über aktu-
elle energiepolitische Fragen, insbesondere das Energie-
konzept der Bundesregierung, die in diesem Kontext ge-
plante Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke sowie
der im Rahmen des Konsolidierungspaketes beschlos-
sene steuerliche Ausgleich der Kernenergiewirtschaft.
Es handelte sich um ein reines Informationsgespräch. Zu
den Details des Gesprächs haben die Teilnehmer Ver-
traulichkeit vereinbart.
Anlage 41
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des
Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 55):
Trifft es zu, dass die Bundeskanzlerin den vier Energie-
konzernen bei dem Treffen im Bundeskanzleramt eingeräumt
hat, dass die Bundesregierung offen für Alternativvorschläge
zur Brennelementesteuer sei, und, falls ja, ist die Bundesre-
gierung auch offen für Alternativvorschläge von anderen Be-
troffenen der anderen Teile des Sparpaketes der Bundesregie-
rung?
Das Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und den
Vorstandvorsitzenden der vier Energieversorgungsunter-
nehmen EnBW AG, E.ON AG, RWE AG und Vattenfall
Europe AG am 23. Juni 2010 im Bundeskanzleramt
diente dem Informationsaustausch zu aktuellen energie-
politischen Fragen, insbesondere zum Energiekonzept
der Bundesregierung, die in diesem Kontext geplante
Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke sowie der im
Rahmen des Konsolidierungspaketes beschlossene steu-
erliche Ausgleich der Kernenergiewirtschaft. Zu den De-
tails des Gesprächs haben die Teilnehmer Vertraulichkeit
vereinbart.
Anlage 42
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Fragen der
Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 56 und 57):
Trifft es zu, dass Gespräche zwischen dem Bundesministe-
rium der Finanzen und den Atomkraftwerksbetreibern geplant
sind, um Alternativen zu einer Brennelementesteuer zu disku-
tieren, und, wenn ja, wann finden diese Gespräche statt?
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesmi-
nisters für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle, dass
die Brennelementesteuer der Abschöpfung der Zusatzgewinne
für den Fall einer Verlängerung der Laufzeit der deutschen
Atomkraftwerke dient und dass deshalb ein „eindeutiger poli-
tischer Zusammenhang“ zwischen Steuer und Laufzeitverlän-
gerung besteht (vergleiche AP-Meldung vom 23. Juni 2010)?
Zu Frage 56:
Im Rahmen der Umsetzung der vom Bundeskabinett
am 7. Juni 2010 beschlossenen „Eckpunkte für die wei-
tere Aufstellung des Haushaltentwurfs 2011 und des Fi-
nanzplans bis 2014“ wird der dort vorgesehene steuerli-
che Ausgleich der Kernenergiewirtschaft näher zu
beraten sein. Dabei werden auch die von den geplanten
Regelungen betroffenen Wirtschaftsunternehmen Gele-
genheit zur Stellungnahme erhalten.
Zu Frage 57:
Die Bundesregierung wird, wie sie bereits wiederholt
betont hat, alle Fragen, die längere Laufzeiten der Kern-
kraftwerke betreffen, im Zusammenhang mit dem Ener-
giekonzept entscheiden. Dies bezieht die Frage des
Vorteilsausgleichs ein. Das Aufkommen des vom Bun-
deskabinett am 7. Juni 2010 beschlossenen steuerlichen
Ausgleichs der Kernenergiewirtschaft wird hierbei zu
berücksichtigen sein.
Anlage 43
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des
Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 58):
Plant die Bundesregierung, durch das sich in Erarbeitung
befindliche CCS-Gesetz einen allgemeingültigen Rechtsrah-
men für CCS-Projekte in ganz Deutschland zu schaffen,
oder wird sich die Gültigkeit des CCS-Gesetzes auf De-
monstrationsanlagen beschränken und, wenn ja, auf welche?
Im derzeitigen Stadium der Erarbeitung des Referen-
tenentwurfs für ein CCS-Gesetz kann sich die Bundesre-
gierung noch nicht abschließend zu der Frage äußern, ob
und in welcher Form sich der Gesetzentwurf auf De-
monstrationsanlagen beschränken wird. Die federfüh-
renden Ressorts BMWi und BMU sind sich darin einig,
vorzuschlagen, dass das CCS-Gesetz bei der Regelung
der dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid auf die
Erprobung und Demonstration dieser Technologie be-
grenzt werden soll.
Anlage 44
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben)
(SPD) (Drucksache 17/2285, Frage 59):
5432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
Wie schätzt die Bundesregierung den Vorschlag ein, quali-
fizierte Reha-Berater bei den SGB-II-Trägern – SGB II: Zwei-
tes Buch Sozialgesetzbuch – zu verankern, die die Aufgaben
nach § 104 SGB IX wahrnehmen, für die bisher allein die
Bundesagentur für Arbeit als Rehabilitationsträger vorgese-
hen ist, und wird der Betreuungsschlüssel für schwerbehin-
derte Menschen im SGB II erhöht?
Auch für Rehabilitanden im Bereich der Grund-
sicherung nach dem SGB II ist die Bundesagentur für
Arbeit der zuständige Rehabilitationsträger, wenn nicht
nach gesetzlichen Regelungen ein anderer Rehabilita-
tionsträger zuständig ist. Für die Belange behinderter
und schwerbehinderter Menschen sind in jeder Agentur
für Arbeit spezielle Teams bzw. Teilteams eingerichtet,
§ 104 Abs. 4 SGB IX. Das ermöglicht eine spezifische,
auf die Personengruppe von Menschen mit Behinderung
ausgerichtete Betreuung, von der auch hilfebedürftige
Rehabilitanden im Bereich der Grundsicherung profitie-
ren können.
Bei den Arbeitsgemeinschaften und zugelassenen
kommunalen Trägern besteht keine gesetzliche Ver-
pflichtung zur Einrichtung besonderer Stellen zur Betreu-
ung und Vermittlung behinderter und schwerbehinderter
Menschen. Die Bundesagentur für Arbeit hat den Grund-
sicherungsstellen gleichwohl empfohlen, entweder per-
sönliche Ansprechpartner für diesen Personenkreis vor-
zuhalten oder für größere Geschäftsstellen entsprechende
Teams zu bilden. Ein besonderer Betreuungsschlüssel ist
nicht vorgegeben.
Anlage 45
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD)
(Drucksache 17/2285, Frage 60):
In welchen Fällen werden im Rahmen des Sparpaketes der
Bundesregierung Arbeitsförderungsleistungen für schwerbe-
hinderte Menschen, die durch die Bundesagentur für Arbeit
oder von SGB-II-Trägern als Pflichtleistungen erbracht wer-
den, in Ermessensleistungen umgewandelt oder Ermessens-
leistungen gestrichen?
Ob und gegebenenfalls welche Pflichtleistungen der
aktiven Arbeitsförderung in Ermessensleistungen umge-
wandelt werden, wird im Zusammenhang mit der für das
Jahr 2011 vorgesehenen Neuausrichtung der arbeits-
marktpolitischen Instrumente geprüft werden. Aussagen
zu einzelnen Instrumenten sind daher noch nicht mög-
lich. Die Bundesregierung hat sich mit den Beschlüssen
vom 6./7. Juni 2010 ausdrücklich dazu bekannt, die Zu-
kunftschancen für die Menschen durch Investitionen in
Bildung und Forschung, in Wachstumskräfte und in Ar-
beitsplätze zu verbessern. Dieser Prämisse wird auch die
Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente folgen.
Anlage 46
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra-
gen des Abgeordneten Klaus Brandner (SPD) (Druck-
sache 17/2285, Fragen 61 und 62):
Wie verträgt sich die Aussage des Bundesministers der Fi-
nanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, in seinem Interview mit der
Bild am Sonntag am 30. Mai 2010, dass Rentenkürzungen
ausgeschlossen seien, mit der Abschaffung des Zuschusses an
die Rentenversicherung beim Arbeitslosengeld II, ALG II,
und dem Wegfall von Erstattungen einigungsbedingter Leis-
tungen an die Rentenversicherung (§ 291 c SGB VI), und
kann ausgeschlossen werden, dass durch die Abschaffung der
Zuschüsse für den Einzelnen, zum Beispiel Langzeitarbeits-
lose, keine Reduzierung der zu erwartenden Rentenzahlungen
vorgenommen wird?
Kann ausgeschlossen werden, dass es durch den beabsich-
tigten Wegfall des Zuschusses an die Rentenversicherung
beim ALG II und der Erstattungen einigungsbedingter Leis-
tungen an die Rentenversicherung (§ 291 c SGB VI) nicht zu
einer Gefährdung der geplanten Rentenversicherungsbeitrags-
satzabsenkung im Jahr 2014 auf 19,8 Prozent und im Jahr
2015 auf 19,3 Prozent kommen wird?
Zu Frage 61:
Die angesproche Äußerung des Bundesministers der
Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, in der Bild am Sonn-
tag am 30. Mai 2010 beinhaltet keinen Widerspruch. Be-
reits der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD
vom November 2005 enthält zum einen die im Jahr 2006
umgesetzte Vereinbarung, die Beitragzahlung des Bun-
des für Bezieher von Arbeitslosengeld II von 78 Euro
auf 40 Euro monatlich fast zu halbieren und zum ande-
ren die Zusage, dass es keine Rentenkürzungen geben
dürfe.
Auch die derzeit diskutierten, die gesetzliche Renten-
versicherung betreffenden Sparmaßnahmen zur Haus-
haltskonsolidierung in Form des Wegfalls der Beitrags-
zahlung des Bundes für Bezieher von Arbeitslosen-
geld II und des Wegfalls der Erstattung des Bundes für
sogenannte einigungsbedingte Leistungen führen nicht
dazu, dass Bestandsrenten gekürzt werden.
Die Beitragszahlung des Bundes für Bezieher von Ar-
beitslosengeld II fällt vom Jahr 2011 an weg, sodass sich
für Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II erst von
diesem Zeitpunkt an Auswirkungen bei zukünftigen Ren-
tenansprüchen ergeben. Dem Wegfall der jährlichen Bei-
tragszahlung für Arbeitslosengeld II (derzeit 489,54 Euro)
steht im Alter eine monatliche Rentenminderung von ge-
genwärtig rund 2 Euro pro Jahr des Arbeitslosengeld II-
Bezugs gegenüber. Der Wegfall der Erstattung der eini-
gungsbedingten Leistungen durch den Bund betrifft al-
lein die interne Finanzierung. Für die heutigen und künf-
tigen Rentnerinnen und Rentner, deren Renten solche
Leistungen enthalten, ändert sich nichts.
Zu Frage 62:
Bei der angesprochenen Beitragssatzentwicklung
handelt es sich um das Ergebnis einer Modellrechnung
und nicht um eine geplante Absenkung des Beitragssat-
zes. Unter Berücksichtigung des Wegfalls der Beiträge
für Bezieher von Arbeitslosengeld II sowie des Wegfalls
der Erstattung einigungsbedingter Leistungen an die
Rentenversicherung ergibt sich nach aktuellem Rechen-
stand auch in den Jahren 2014 und 2015 ein stabiler Bei-
tragssatz von 19,9 Prozent.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5433
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 47
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra-
gen des Abgeordneten Werner Dreibus (DIE LINKE)
(Drucksache 17/2285, Fragen 63 und 64):
Wie hat sich seit 2005 die Zahl der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter bei der Bundesagentur für Arbeit entwickelt, die
örtliche Prüfungen von Verleihunternehmen vornehmen – bitte
jährlich und den heutigen Istzustand darstellen –, und wie viele
Beschäftigte der Verleihunternehmen waren von Verstößen
gegen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – auch hier bitte
die Jahreszahlen und den Stand des Jahres 2010 nennen und,
wenn möglich, nach häufigsten Verstößen aufgliedern – be-
troffen?
Wie oft finden Nachkontrollen bei denjenigen Verleihfir-
men statt, die durch die Bundesagentur für Arbeit regional ge-
prüft und beanstandet wurden, und welche Ergebnisse haben
diese Nachprüfungen hinsichtlich der Beseitigung des bean-
standeten Verstoßes gebracht?
Zu Frage 63:
Nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit standen
seit Ende 2004 im Fachgebiet Arbeitnehmerüberlassung
bundesweit jährlich 77 Stellen für Plankräfte zur Durch-
führung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, AÜG,
zur Verfügung. Im ersten Quartal 2009 waren es 74 Stel-
len. Auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales wird die Bundesagentur für Arbeit vom
15. Juli 2010 an – vorerst befristet bis Ende 2011 – 25 zu-
sätzliche Kräfte für Prüfaktivitäten einsetzen. Insgesamt
stehen damit vom 15. Juli 2010 an bundesweit 99,5 Kräfte
zur Durchführung des AÜG zur Verfügung.
Zur Frage, wie viele Beschäftigte von Verstößen ge-
gen das AÜG betroffen sind, erhebt die Bundesagentur
für Arbeit keine differenzierte Statistik. Der Bundesre-
gierung liegen daher keine Erkenntnisse hierzu vor.
Zur Art der Verstöße verweist die Bundesregierung auf
den 11. AÜG-Bericht – Bundestagsdrucksache 17/464,
Seite 16.
Zu Frage 64:
Werden bei Zeitarbeitsfirmen, die von den Regional-
direktionen geprüft wurden, Rechtsverstöße beanstandet,
gibt es verschiedene Formen der Nachkontrolle. Die Art
der Nachkontrolle richtet sich daher auch nach der Art
des Verstoßes. So kann beispielsweise die Beseitigung
eines Verstoßes – zum Beispiel gegen die Vergütungs-
pflicht – auch schriftlich von dem Zeitarbeitsunterneh-
men nachgewiesen werden.
Nach Aussagen der Bundesagentur für Arbeit werden
Zeitarbeitsunternehmen turnusmäßig mindestens vor der
ersten Verlängerung einer befristeten Erlaubnis und vor
Erteilung der unbefristeten Erlaubnis von den Regional-
direktionen geprüft. Sofern Verstöße festgestellt wurden,
erteilt die Bundesagentur für Arbeit eine Erlaubnis oft
wiederholt nur befristet. Über den gesetzlichen Befris-
tungsturnus hinaus ergibt sich daher eine Reihe von
Möglichkeiten der Nachkontrolle im Rahmen örtlicher
Prüfungen. Ihre Anzahl wird jedoch von der Bundes-
agentur für Arbeit statistisch nicht erfasst.
Nach Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit
stellen die Regionaldirektionen bei den Nachprüfungen
im Regelfall fest, dass die beanstandeten Verstöße beho-
ben wurden. In den Fällen, in denen Verstöße wiederholt
nicht abgestellt werden, spricht die Bundesagentur für
Arbeit Sanktionen gegenüber den Zeitarbeitsunterneh-
men aus. Dies kann von Geldbußen bis hin zum Entzug
der Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis führen.
Anlage 48
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra-
gen der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE
LINKE) (Drucksache 17/2285, Fragen 65 und 66):
Welchen politischen Handlungsbedarf sieht die Bundesre-
gierung angesichts dessen, dass die Zahl der verhängten Buß-
gelder aufgrund von Verstößen gegen das Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetz, AÜG, zunimmt, und wie teilen sich die seit
2005 verhängten Bußgelder bezogen auf ihre Höhe bzw. die
Art der Ordnungswidrigkeit in Verbindung mit den entspre-
chenden vorgegebenen Bußgeldrahmen – bitte jährlich an-
hand der Klassifizierung des § 16 AÜG darstellen und auch
für jede Art der Ordnungswidrigkeit bzw. für jeden vorgege-
benen Bußgeldrahmen die tatsächlich im Durchschnitt ver-
hängten Bußgeldhöhen beziffern – auf?
Wie hoch ist die Summe der jährlich seit 2005 eingetriebe-
nen Bußgelder, und wie viele der Bußgelder fallen auf die
vom Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministe-
rin für Arbeit und Soziales Hans-Joachim Fuchtel in der Fra-
gestunde am 16. Juni 2010 benannten Verstöße – bitte die ab-
soluten Zahlen für die jeweiligen Bereiche nennen?
Zu Frage 65:
Die Bundesregierung bezieht die vorgelegten Auswer-
tungen der Bundesagentur für Arbeit, BA, und der Behör-
den der Zollverwaltung zu den Verwarnungsgeldern und
Geldbußen in die Überlegungen zu möglichen gesetzli-
chen Änderungen im Bereich der Zeitarbeit mit ein. Nach
Angaben der BA betrug die Summe der Verwarnungsgel-
der und Geldbußen für Ordnungswidrigkeiten nach § 16
Abs. 1 Nr. 3 bis 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG,
für die die BA zuständige Verwaltungsbehörde ist, im
Jahr 2007: 56 103 Euro, 2008: 68 995 Euro, 2009:
81 390 Euro und im ersten Quartal 2010: 19 835 Euro.
Eine Auswertung der Verfolgung und Ahndung von Buß-
geldtatbeständen, die von den Behörden der Zollverwal-
tung verfolgt werden – § 16 Abs. 1 Nr. 1 bis 2 a AÜG –,
ist erst von 2009 an möglich. Im Jahr 2009 wurden insge-
samt 851 Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen
das AÜG mit einer Verwarnung mit Verwarnungsgeld, ei-
ner Geldbuße oder der Anordnung des Verfalls – § 29 a
OWiG – abgeschlossen. Verfall bedeutet, dass dem Täter
ein Geldbetrag entzogen wird, der höchstens dem Wert
des aus der Tat Erlangten entspricht, sofern gegen ihn
nicht eine Geldbuße verhängt wird. Insgesamt wurden
3 716 280,50 Euro an Verwarnungsgeldern und Geldbu-
ßen festgesetzt bzw. für verfallen erklärt.
Für eine weitergehende Differenzierung liegen der
Bundesregierung keine statistischen Auswertungen vor.
Die Ermittlung der durchschnittlichen Höhe der festge-
setzten Geldbußen ist seriös nicht möglich. Die den ein-
5434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
zelnen Bußgeldverfahren zugrunde liegenden Sachver-
halte sind hinsichtlich der Zahl der betroffenen
Arbeitnehmer und der Dauer der Zuwiderhandlung so
unterschiedlich, dass allein die Zahl der Bußgeldbe-
scheide und die Summe der festgesetzten Geldbußen
keine verlässliche Aussage zulässt. Die Zahl der in ei-
nem Bußgeldverfahren jeweils betroffenen Arbeitneh-
mer und die Dauer der Zuwiderhandlung – was regelmä-
ßig Einfluss auf die Höhe der Geldbuße hat – können
den statistischen Daten nicht entnommen werden.
Zu Frage 66:
Zur Höhe der Bußgelder und Verwarnungsgelder wird
auf die Antwort zu Frage 65 verwiesen.
Für die Ahndung und Verfolgung von Verstößen ge-
gen Mindestlohnbestimmungen, beispielsweise im Ma-
ler- und Lackiererhandwerk, sind die Behörden der Zoll-
verwaltung zuständige Verwaltungsbehörde. Sofern
Verstöße gegen Mindestlohnbestimmungen bei Prüfun-
gen festgestellt werden, erfolgt vonseiten der Bundes-
agentur für Arbeit eine Abgabe an das jeweils zuständige
Hauptzollamt.
Anlage 49
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Frage der Abgeordneten Jutta Krellmann (DIE
LINKE) (Drucksache 17/2285, Frage 67):
Was sind die zehn Einsatzbranchen – bitte jährliche Anga-
ben seit 2005 machen –, in denen wegen Verstößen gegen das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die meisten Bußgelder ver-
hängt wurden, und wie viele Beschäftigte waren von den Ver-
stößen tangiert?
Die Bundesagentur für Arbeit ist die für die Verfol-
gung und Ahndung der Ordnungswidrigkeiten nach § 16
Abs. 1 Nr. 3 bis 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz,
AÜG, zuständige Verwaltungsbehörde. Diese Ordnungs-
widrigkeiten betreffen die Zeitarbeitsbranche und Hand-
lungen des Verleihers. Nur bei wenigen Verstößen ist
auch die Branche des Entleihers betroffen. Dies ist in der
Regel bei Verstößen gegen Mindestlohnbestimmungen
der Fall. Für die Verfolgung und Ahndung von diesen
Verstößen sind die Behörden der Zollverwaltung zustän-
dig.
Eine Aussage zur Anzahl der Beschäftigten, die von
den Verstößen tangiert waren, kann nach Angaben der
Bundesagentur für Arbeit nicht getroffen werden, da
eine derartige Statistik nicht geführt wird.
Unabhängig von Bußgeldern sind Sanktionen durch
Auflagen, Nichtverlängerung einer befristeten Erlaubnis,
Nichterteilung einer unbefristeten Erlaubnis und Wider-
rufe möglich. Diese Entscheidungen werden durch die
Regionaldirektionen im Rahmen des Erlaubnisverfah-
rens getroffen.
Anlage 50
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Frage des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 68):
Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass die Anmelde-
zahlen von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in den Be-
rufsbildungswerken zum jetzigen Zeitpunkt gegenüber den
Vorjahren stark rückläufig sind, und welche Konsequenzen
zieht sie daraus?
Soweit die Voraussetzungen dafür gegeben sind, sol-
len behinderte wie nichtbehinderte Menschen in Betrie-
ben und Verwaltungen ausgebildet werden. Wenn Be-
trieb und Berufsschule bereit und in der Lage sind, die
Ausbildung unter angemessener Berücksichtigung der
Behinderung durchzuführen, wird für behinderte Men-
schen vorrangig eine solche Ausbildung angestrebt.
Sofern es Art und Schwere der Behinderung oder die
Sicherung des Erfolgs der Teilhabe erfordern, werden
die beruflichen Bildungsmaßnahmen in besonderen Ein-
richtungen der beruflichen Rehabilitation zum Beispiel
in Berufsbildungwerken durchgeführt.
In den vergangenen Jahren hat die Bundesagentur
für Arbeit ihre Anstrengungen zunehmend verstärkt,
für Jugendliche mit Behinderungen nach der Schulzeit
möglichst eine betriebliche Berufsausbildung zu er-
möglichen. Diese Entwicklung spiegelt sich in der An-
meldesituation in den Berufsbildungswerken wider, die
im Trend der letzten Jahre in Richtung späterer Anmel-
dung durch die Bundesagentur für Arbeit geht.
So hat sich auch in den vergangenen Jahren gezeigt,
dass die tatsächliche Anmeldesituation aufgrund des
Ausbildungsbeginns im Herbst erst im Oktober ersicht-
lich war.
Anlage 51
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Frage des Abgeordneten Markus Kurth (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 69):
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der vom Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen
für Menschenrechte herausgegebenen Studie vom 22. Dezem-
ber 2009, in der in den Nrn. 24 und 25 konstatiert wird, dass
es für die effektive Umsetzung der UN-Behindertenrechts-
konvention empfehlenswert sei, neben einem übergeordneten
Focal Point nach Art. 33 Abs. 1 der Konvention auch in allen
relevanten Ministerien und Abteilungen Focal Points einzu-
richten, um ein entsprechendes Bewusstsein zu bilden, an der
Erarbeitung eines Aktionsplanes teilzunehmen sowie die Um-
setzung zu begleiten und zu kontrollieren, und in welchen
Bundesministerien und deren Abteilungen wurden bislang ne-
ben dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der
Abteilung V Focal Points eingerichtet?
Die staatliche Anlaufstelle nach Art. 33 der UN-Be-
hindertenrechtskonvention, Focal Point, im Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales arbeitet bei der Er-
stellung des Nationalen Aktionsplans mit den übrigen
Ressorts der Bundesregierung ebenso eng zusammen
wie mit den übrigen Abteilungen des Hauses. Eine for-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5435
(A) (C)
(D)(B)
melle Benennung von weiteren Focal Points ist bislang
nicht erfolgt. Im Rahmen der weiteren Entwicklung und
insbesondere der anschließenden Umsetzung des Ak-
tionsplans wird eine noch intensivere Vernetzung der
Ressorts in diesem Bereich angestrebt. Die Benennung
von weiteren Focal Points wird dabei ausdrücklich nicht
ausgeschlossen.
Anlage 52
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 70):
Welche Aktivitäten plant die Bundesregierung national
und auf europäischer Ebene, um die Einführung einer Tier-
schutzkennzeichnung zu implementieren?
Der Ausgangspunkt der aktuellen Überlegungen zur
Einführung einer Tierschutzkennzeichnung ist der Be-
richt der Europäischen Kommission vom Oktober 2009.
Es handelt sich mithin um ein europäisches und kein na-
tionales Verfahren. Federführend für den weiteren Ver-
fahrensablauf sind die jeweiligen Institutionen der EU.
Die Bundesregierung wird sich in die Beratungen in den
Gremien des Rates aktiv einbringen.
Anlage 53
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 71):
Bei welchen Haushaltstiteln im Agraretat will die Bundes-
regierung Kürzungen vornehmen, um die Weiterführung der
Steuerermäßigungen beim Agrardiesel im heutigen Umfang
gegenzufinanzieren?
Die Fortführung der Agrardieselregelung verursacht
nach aktuellen Berechnungen geschätzte Steuerminder-
einnahmen von rund 260 Millionen Euro pro Jahr. Von
diesem Betrag muss das BMELV durch Einsparungen in
seinem Haushalt – Einzelplan 10 – 170 Millionen Euro
erbringen. Darüber hinaus muss der Einzelplan 10 einen
Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes leis-
ten.
Die Gegenfinanzierung von Agrardiesel und der all-
gemeine Konsolidierungsbeitrag sollen – vorbehaltlich
der Entscheidung der Bundesregierung über den Regie-
rungsentwurf des Haushalts 2011 in der Kabinettssitzung
am 7. Juli 2010 – insbesondere erbracht werden durch:
Erstens. Minderausgaben in der Agrarsozialpolitik, die
sich aufgrund aktueller Entwicklungen ergeben – insbe-
sondere durch Änderungen in der Zahl der Leistungs-
empfänger, günstigere Entwicklungen bei den Leis-
tungsaufwendungen je Einzelfall und Auswirkungen von
Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Änderungen in den gesetzlichen Regelungen der land-
wirtschaftlichen Sozialpolitik sind damit nicht verbun-
den. Zweitens Absenkung der Mittel für die Gemein-
schaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes, GAK, auf effektiv 600 Millionen Euro.
Dies bedeutet einen Rückgang gegenüber 2010 – effek-
tiv 700 Millionen Euro – um 100 Millionen Euro. Drit-
tens Verzicht auf die Fortsetzung des Programms zur Li-
quiditätssicherung der landwirtschaftlichen Betriebe in
2011 – Minderausgaben in 2011 von 25 Millionen Euro.
Viertens Veranschlagung einer Globalen Minderausgabe –
50 Millionen Euro in 2011, die im Zuge der parlamenta-
rischen Beratungen des Haushaltsentwurfs und gegebe-
nenfalls im Rahmen der Haushaltsbewirtschaftung 2011
aufzulösen sein wird. Einzelheiten, in welchen Berei-
chen die Globale Minderausgabe erwirtschaftet werden
soll, stehen noch nicht fest.
Anlage 54
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Fra-
gen der Abgeordneten Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 72 und 73):
Welche Faktoren werden über die Dienstpostenzahl hinaus
zur Auswahl der zu schließenden kleinen Kasernen herange-
zogen, und inwieweit werden städtebauliche Belange bei der
Standortauswahl der vom Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, angekündigten
Schließung eine Rolle spielen?
In welcher zeitlichen Frist werden die betroffenen Städte
und Gemeinden über die Schließung der Kasernen informiert,
und in welcher Form werden sie an dem folgenden Schlie-
ßungs- und Konversionsprozess beteiligt?
Zu Frage 72:
Die Bundeswehr steht, insbesondere durch die Auslands-
einsätze, großen Herausforderungen und Verantwortungen
gegenüber. Daher ist es die Absicht des Bundesministers der
Verteidigung, Anpassungen dort vorzunehmen, wo die
Bundeswehr effizienter und insbesondere einsatzorien-
tierter ausgerichtet werden kann. Dies alles geschieht
nicht vorrangig, aber auch vor dem Hintergrund der Maß-
nahmen der Bundesregierung zur Gewährleistung solider
Staatsfinanzen. Eingriffe in viele Bereiche der Bundes-
wehr – bis hin zur Stationierung – können vor dem bereits
seit längerem bekannten Hintergrund erforderlicher
Strukturreformen notwendig sein.
Aussagen zu konkreten Veränderungen an einzelnen
Standorten werden deshalb erst möglich sein, wenn die
erforderlichen Strukturanpassungen der Bundeswehr
sorgfältig geprüft und entschieden sind. Das Stationie-
rungskonzept wird gegebenenfalls in Gänze zu überprü-
fen sein. Der dann dabei verwendete Kriterienkatalog zur
Vorbereitung von Stationierungsentscheidungen orien-
tiert sich einerseits an militärischen/funktionalen Krite-
rien wie Übungs- und Ausbildungsmöglichkeiten oder
der geschlossenen Stationierung von Verbänden und Ein-
heiten und andererseits an betriebswirtschaftlichen Krite-
rien wie bereits getätigte Investitionen oder die Höhe der
Kosten für den Betrieb der Liegenschaften.
Dabei ist es alternativlos, dass die militärischen/funk-
tionalen und betriebswirtschaftlichen Kriterien gegen-
über regionalpolitischen Gesichtspunkten in den Vorder-
grund treten müssen. Die städtebaulichen Belange der
5436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
betroffenen Kommunen können demgegenüber keine
vorrangige Bedeutung bei der Bewertung von Standorten
erlangen.
Zu Frage 73:
Standortentscheidungen fallen ganz am Schluss eines
zeitaufwendigen Planungsprozesses. So müssen zunächst
die zukünftigen Rahmenbedingungen untersucht und ent-
schieden werden, dazu zählen auch die Wehrform und die
Personalumfänge der Bundeswehr. Darauf aufbauend
muss ein militärisches Gesamtkonzept erarbeitet werden,
auf dem dann die Stationierungsplanung aufsetzt.
Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben im Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen ist
seit dem 1. Januar 2005 für die Verwertung der für Vertei-
digungszwecke nicht mehr benötigten Immobilien des
Bundes zuständig. Sie wird den Kommunen die relevan-
ten liegenschaftsbezogenen Informationen zur Verfügung
stellen, damit Vorüberlegungen für eine künftige Nutzung
bereits weit vor der Räumung der Standorte durch die
Bundeswehr einsetzen können. Die betroffenen Kommu-
nen werden zu diesem Zweck so frühzeitig wie möglich
über die Termine der Standorträumung informiert.
Gleichzeitig werden erste Gespräche mit den Kommunen
und möglichen Investoren zur Anschlussnutzung geführt.
Zusätzlich werden im jeweiligen Einzelfall die betroffe-
nen Landesregierungen unterrichtet. Auch die Bundes-
wehr informiert im Internet, www.bundeswehr.de, über
die Freigabe von Liegenschaften und unterstützt die be-
troffenen Kommunen durch Informationen und Beratung.
Bei den Wehrbereichsverwaltungen und Bundeswehr-
Dienstleistungszentren stehen ebenfalls Ansprechpartner
für Konversionsfragen zu Verfügung. Investoren und Ver-
treter von Kommunen wird die Möglichkeit eingeräumt,
sich vor Ort zu informieren und die freiwerdenden Lie-
genschaften zu besichtigen. Die Kommunen sind dadurch
in der Lage, sich auf die anstehenden Veränderungen vor-
zubereiten und alternative Nutzungskonzepte zu entwi-
ckeln.
Eine schnelle Anschlussnutzung und damit auch die
Vermeidung fortlaufender Kosten vormals militärisch ge-
nutzter Liegenschaften liegt im wirtschaftlichen Interesse
des Bundes. Die Bundesministerien der Verteidigung und
der Finanzen haben eine gemeinsame Koordinierungs-
stelle gegründet. Sie ist zentraler Ansprechpartner für
Probleme und Anliegen der von Konversionsfolgen be-
troffenen Länder und Kommunen und wird diese Fälle
koordinieren und – sofern notwendig – unterstützend be-
gleiten. Im Rahmen einer vertrauensvollen Zusammenar-
beit wird die Bundesregierung auch zukünftig umfassend
und zeitgerecht sowohl die Abgeordneten als auch die be-
troffenen Kommunen über alle für sie wichtigen Ent-
scheidungen informieren.
Anlage 55
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 74):
Wie beantwortet die Bundesregierung nunmehr meine
mündliche Frage vom 2. Juni 2010 zum weiteren Schicksal
der acht Personen, die nach der Antwort der Bundesregierung
vom 9. Juni 2010 (siehe Plenarprotokoll 17/45, Seite 4576 A)
auf der Joint Priority Effects List, JPEL, der sogenannten To-
desliste der NATO-Truppen für Nordafghanistan, auf Initia-
tive von deutscher Seite seit Juni 2009 gelistet worden waren,
insbesondere ob die Personen inzwischen festgenommen oder
getötet wurden?
Von den acht Personen, die seit Juni 2009 von deut-
scher Seite zur Nominierung auf der Joint Prioritized Ef-
fects List, JPEL, der ISAF vorgeschlagen wurden, sind
zwischenzeitlich zwei bei Gefechtshandlungen ohne
eine Beteiligung deutscher Kräfte zu Tode gekommen.
In einem der beiden Fälle waren ausschließlich afgha-
nische Kräfte an den Gefechten beteiligt. Im anderen
Fall wurde eine Person getötet, als sie sich unter Anwen-
dung von Waffengewalt im Verlauf einer von nichtdeut-
schen Streitkräften unterstützten Operation einer Ergrei-
fung durch die afghanischen Sicherheitskräfte widersetzt
hatte. Damit verbleiben sechs der seit Juni 2009, und ei-
ner aus der Zeit vorher, von deutscher Seite für die No-
minierung auf der ISAF Joint Prioritized Effects List
vorgeschlagenen Personen weiterhin mit dem Ziel der
Festsetzung zur Fahndung durch ISAF und die afghani-
schen Sicherheitskräfte ausgeschrieben.
Der Bundesregierung ist bisher unverändert kein Fall
bekannt, bei dem Personen, deren Nominierung auf die
ISAF Joint Prioritized Effects List von deutscher Seite
mit dem Ziel der Festsetzung veranlasst wurde, entgegen
dieser Wirkungsforderung von Bündnispartnern in Af-
ghanistan gezielt getötet wurden.
Anlage 56
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage des
Abgeordneten René Röspel (SPD) (Drucksache 17/2285,
Frage 76):
Wird der Plan der Bundesregierung zur Einführung einer
Pflicht zur Veröffentlichung der Ergebnisse klinischer Prüfun-
gen im Rahmen des Referentenentwurfs für das Arzneimittel-
neuordnungsgesetz nicht zum „Aufbau eines zusätzlichen na-
tionalen Registrierungs- und Publikationssystems“ führen,
welches „nicht im Interesse einer einfacheren Zugänglichkeit
von Daten“ ist (wie der Abgeordnete Lars Lindemann am
25. März 2010 in einer Rede argumentierte), und teilt die
Bundesregierung die Auffassung, dass eine Verpflichtung zur
Registrierung aller klinischen Studien beim Deutschen Regis-
ter Klinischer Studien, DRKS, nicht gesetzlich verankerbar ist
(wie es der Abgeordnete Dr. Rolf Koschorrek in einer Rede
vom 25. März 2010 dargestellt hat)?
Die im Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittel-
marktes in der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV,
vorgesehene Regelung im Arzneimittelgesetz führt nicht
zum Aufbau eines zusätzlichen nationalen Registrie-
rungs- und Publikationssystems. Der vorgeschlagene
§ 42 b des Arzneimittelgesetzes enthält die grundsätzli-
che Verpflichtung für den pharmazeutischen Unterneh-
mer, Ergebnisse der klinischen Prüfungen mit seinem
zugelassenen oder für das Inverkehrbringen genehmig-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5437
(A) (C)
(D)(B)
ten Arzneimittel öffentlich zugänglich zu machen. Die
Verpflichtung gilt auch für den Sponsor einer klinischen
Prüfung mit einem zugelassenen Arzneimittel.
Schon jetzt sind die Sponsoren von klinischen Prü-
fungen nach § 13 Absatz 9 der GCP-Verordnung ver-
pflichtet, der zuständigen Bundesoberbehörde und der
zuständigen Ethik-Kommission innerhalb eines Jahres
nach Beendigung der klinischen Prüfung eine Zusam-
menfassung des Berichts über die klinische Prüfung zu
übermitteln. Diese Zusammenfassung muss alle wesent-
lichen Ergebnisse der klinischen Prüfung abdecken. Ort
und Form der Veröffentlichung werden nicht vorgege-
ben, diese kann beispielsweise auch auf dem Internetauf-
tritt eines Unternehmens oder eines Sponsors erfolgen
oder auf einer gesonderten Internetseite verlinkt werden.
Auch die Aufnahme in ein Register wird nicht vorge-
schrieben. Nach harmonisiertem europäischen Recht be-
steht bereits jetzt die Verpflichtung, alle klinischen Prü-
fungen in der europäischen Datenbank EudraCT zu
registrieren.
Die Europäische Kommission sieht vor, dass Regis-
trierungsdaten aus dieser bislang nur für Behörden zu-
gänglichen Datenbank ab September 2010 und Ergeb-
nisse über klinische Arzneimittelprüfungen ab 2011 öf-
fentlich zugänglich gemacht werden.
Eine weitere gesetzliche Verpflichtung zur Registrie-
rung klinischer Prüfungen wäre eine Doppelverpflich-
tung und ist deshalb nicht erforderlich. Davon abgese-
hen, könnte sie allenfalls für eine Registrierung bei einer
Behörde und nicht bei einer anderen Institution wie dem
Deutschen Register Klinischer Studien, DRKS, einge-
führt werden. Denn nicht alle Informationen zu einer kli-
nischen Prüfung können veröffentlicht werden, insbe-
sondere soweit sie schützenswerte Betriebs- und
Geschäftsgeheimnisse sowie patientenbezogene Daten
enthalten.
Anlage 57
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage des
Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksa-
che 17/2285, Frage 77):
Inwieweit wird sich die Bundesregierung bei den Ver-
handlungen um die 2011 anstehende Novellierung des
Glücksspielstaatsvertrages dafür einsetzen, dass Soziallotte-
rien, zum Beispiel „Aktion Mensch“, nicht als ebenso sucht-
gefährlich eingestuft werden wie kommerzielle Lotterien, so-
dass für Erstere Ausnahmeregelungen – zum Beispiel der
Losverkauf über das Internet – möglich werden?
Die Bundesregierung ist an den Verhandlungen um die
Novellierung des Glücksspiel-Staatsvertrages nicht betei-
ligt. Es handelt sich um einen Staatsvertrag der 16 Bun-
desländer, insofern hat die Bundesregierung keine Ein-
flussmöglichkeiten.
Anlage 58
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Fragen der
Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) (Drucksache 17/2285, Fragen 78 und 79):
Wie schätzt die Bundesregierung die wirtschaftliche Situa-
tion von freiberuflichen Hebammen ein, die von Juli 2010 an
eine Prämienzahlung ihrer Haftpflichtversicherungen von
3 000 Euro und mehr jährlich zu leisten haben, und welche
Folgen erwartet die Bundesregierung daraus?
Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung bezüglich
eines zukünftigen Engpasses der Versorgung mit Hebammen
insbesondere im ländlichen Raum, und was unternimmt die
Bundesregierung, um die Versorgung zu gewährleisten?
Zu Frage 78:
Der Bundesregierung liegen Daten zur Entwicklung
der Zahl der Hebammen/Geburtshelfer sowie zu den
Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV,
für Hebammenhilfe vor. Diese zeigen, dass sowohl die
Zahl der Hebammen als auch die Ausgaben der GKV in
den letzten Jahren spürbar gestiegen sind.
Die Bundesregierung nimmt das Anliegen der Hebam-
men sehr ernst. Es trifft zu, dass die Prämien für Berufs-
haftpflichtversicherungen der in der Geburtshilfe tätigen
Hebammen zum 1. Juli 2010 in erheblichem Umfang an-
gehoben werden.
Die Aufwendungen für Berufshaftpflichtversicherun-
gen sind nach Auffassung des Bundesministeriums für
Gesundheit, BMG, als Kostenfaktor bei den Vergütungs-
vereinbarungen zwischen den Hebammenverbänden und
dem GKV-Spitzenverband zu berücksichtigen, da § 134 a
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, SGB V, ausdrück-
lich vorschreibt, dass die „berechtigten wirtschaftlichen
Interessen“ der freiberuflichen Hebammen im Rahmen
der Vergütungsvereinbarungen zu berücksichtigen sind.
Nachdem eine Einigung zwischen den Vertragsparteien
nicht erzielt worden ist, ist es nun Aufgabe der gemeinsa-
men Schiedsstelle, die Vergütung festzulegen.
Für den 5. Juli 2010 wurde ein Termin für die Schieds-
verhandlung festgesetzt. Ich erwarte, dass die Schieds-
stelle bei ihrer Entscheidung auch die Erhöhung der Haft-
pflichtprämien angemessen berücksichtigen wird. Eine
Einflussnahme des BMG auf dieses Verfahren scheidet
allerdings aus.
Zu Frage 79:
Nach den Angaben des GKV-Spitzenverbandes hat die
Zahl der Leistungserbringerinnen – sowohl Hebammen
als auch Geburtshäuser – in den vergangenen Jahren zu-
genommen. Dem BMG sind bestehende Versorgungseng-
pässe nicht bekannt, so dass die Versorgungslage mit
Leistungen der Hebammenhilfe derzeit als gut bezeichnet
werden kann.
Ausgehend davon, dass der in Kürze zu erwartende
Schiedsspruch die steigenden Haftpflichtprämien für ge-
burtshilflich tätige Hebammen bei der Vergütung ange-
messen berücksichtigen wird, ist nach Ansicht des BMG
5438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
nicht zu erwarten, dass sich die Versorgungssituation
kurzfristig ändern wird.
Anlage 59
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die
Fragen des Abgeordneten Dirk Becher (SPD) (Drucksa-
che 17/2285, Fragen 80 und 81):
Hält die Bundesregierung die Deckelung von Biogasanla-
gen im Außenbereich auf 500 Kilowatt weiterhin für sinnvoll,
auch wenn die Anlagen ohne bauliche Veränderung mehr als
500 Kilowatt leisten könnten?
Wie ist die Einschätzung der Bundesregierung dazu, die
Begrenzung für den Bau von Biogasanlagen nicht mehr an der
Leistung, gemessen in Kilowatt, sondern an der räumlichen
Größe der Anlagen festzumachen, und welche Argumente
sprechen für eine Beibehaltung der derzeitig gültigen Mess-
größe?
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP
sieht für das Bauplanungsrecht unter anderem vor, das
Baugesetzbuch zu ändern. Das Gesetzgebungsverfahren
wird derzeit unter anderem durch eine Reihe von Exper-
tengesprächen vorbereitet. In diesem Zusammenhang
wird auch möglicher Änderungsbedarf bei der privile-
gierten Zulässigkeit von Biomasseanlagen im Außenbe-
reich, § 35 Abs. 1 Nr. 6 Baugesetzbuch, geprüft; Ergeb-
nisse liegen bislang noch nicht vor. Das Gesetz-
gebungsverfahren soll 2011 förmlich eingeleitet werden.
Das Inkrafttreten der Neuregelungen ist für 2012 vorge-
sehen.
Anlage 60
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die
Frage des Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 82):
Wie ist es zu erklären, dass das geeignete Prüfungsverfah-
ren der Materialforschungs- und -prüfanstalt an der Bauhaus-
Universität Weimar, MFPA – Sachverständiger Dr. Gerhard
Hempel –, vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung bereits am 27. Oktober 1992 mit dem
Schreiben StB 25/38.55.50/21 H 92 der Deutschen Einheit
Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, DEGES, zur Nutzung
empfohlen worden war – „Um alle im Hinblick auf Alkalikie-
selsäurereaktionen bestehenden Verdachtsmomente von vorn-
herein auszuräumen … Sein Prüfverfahren ist über die An-
wendung im Brückenbau hinaus auch im Fahrbahndeckenbau
anzuwenden und geeignet, Schäden abzuwenden“ –, ohne
dass die DEGES über Jahre hinweg darauf eingegangen wäre
und dadurch eindeutig vermeidbarer Schaden verursacht
wurde, und welche konkreten Autobahnabschnitte – bitte in
Kilometerangaben – sind nach aktuellem Kenntnisstand Ver-
dachtsfälle für die Schädigung durch die Alkalikieselsäurere-
aktion?
Das angesprochene Prüfungsverfahren wurde in dem
Institut für Baustoffe Weimar schon ab circa 1985 zur
Begutachtung von potenziell alkaliempfindlichen Ge-
steinskörnungen angewandt.
Unter Beteiligung des damaligen Instituts für Bau-
stoffe Weimar, heute MFPA-Weimar, Herrn Dr. Hempel,
wurden seit etwa 1991 Untersuchungen an geschädigten
Bauwerken durchgeführt, um die Richtlinie „Vorbeu-
gende Maßnahmen gegen schädigende Alkalireaktionen
im Beton“, Alkali-Richtlinie, fortzuschreiben. Die Al-
kali-Richtlinie wurde seitdem mehrfach aktualisiert.
Gesicherte Zahlen zur Länge der betroffenen Stre-
ckenabschnitte können nicht genannt werden. Der Nach-
weis einer schädigenden Reaktion an Betonfahrbahnde-
cken durch Alkali-Kieselsäure-Reaktionen, AKR, muss
durch spezielle, zeitaufwändige Untersuchungen er-
bracht werden, da das Rissbild auch durch andere Schä-
digungsprozesse verursacht werden kann. Im Ergebnis
haben sich in den letzten Jahren die Informationen über
Streckenabschnitte, für die Verdacht auf Schädigung
durch AKR besteht, für die diese Schadensursache nach-
gewiesen wurde und an denen Erhaltungsmaßnahmen
durchgeführt wurden, zum Teil bereits auch an Ver-
dachtsstrecken ohne diesen Nachweis, überschnitten.
Anlage 61
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die
Frage des Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/2285, Frage 83):
Wann wird die Finanzierungsvereinbarung für den zweiten
S-Bahn-Tunnel in München zum Abschluss kommen, und bis
zu welcher Grenze wird der Bund mögliche Kostensteigerun-
gen beim Bau des zweiten S-Bahn-Tunnels in München mitfi-
nanzieren?
Notwendig für die Entscheidung über eine anteils-
mäßige Finanzierung des zweiten Münchener S-Bahn-
tunnels mit Mitteln aus dem Bundesprogramm gemäß
§ 6 Abs. 1 des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes
ist die Vorlage eines Förderantrages, in dem die Vo-
raussetzungen dafür belegt sind. Dies ist bisher noch
nicht geschehen. Insofern können keine Aussagen über
die Entscheidung oder die Finanzierung etwaiger Kos-
tensteigerungen gemacht werden.
Anlage 62
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die
Frage des Abgeordneten Michael Groß (SPD) (Druck-
sache 17/2285, Frage 84):
Welche Wirkung auf die kommunalen Finanzen und wel-
che Art der Kompensation dieser Wirkung wird es aus Sicht
der Bundesregierung durch die geplante Streichung des Heiz-
kostenzuschusses geben?
Die Einführung der Heizkostenkomponente im Wohn-
geld war Teil der Wohngeldreform 2009, deren Auswir-
kungen auch auf nachgelagerte soziale Sicherungssysteme
insgesamt und nicht isoliert für einzelne Komponenten
berechnet wurden. Die finanziellen Auswirkungen des
Wegfalls der Heizkostenkomponente werden gegenwär-
tig im Zusammenhang mit dem anstehenden Gesetzge-
bungsverfahren zum Haushaltsbegleitgesetz 2011 unter
anderem für Leistungen der Grundsicherung für Arbeit-
suchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und
der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5439
(A) (C)
(D)(B)
buch abgeschätzt. Welche zusätzlichen Kosten sich gege-
benenfalls zukünftig für diese Systeme ergeben, ist der-
zeit noch nicht absehbar.
Anlage 63
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die
Fragen des Abgeordneten Uwe Beckmeyer (SPD)
(Drucksache 17/2285, Fragen 85 und 86):
Wie groß ist nach Kenntnis der Bundesregierung das Ver-
kehrsaufkommen von Lkw mit einem Gewicht von über
12 Tonnen auf allen vier- und mehrspurigen Bundesstraßen in
Deutschland, und wie wird sich auf der Grundlage vorliegen-
der Verkehrsprognosen das Verkehrsaufkommen in den
nächsten Jahren auf allen vier- und mehrspurigen Bundesstra-
ßen entwickeln?
Wie hoch schätzt die Bundesregierung die zu erwartenden
Mehreinnahmen aus der Lkw-Maut auf vier- und mehrspuri-
gen Bundesstraßen ein, und wie hoch werden voraussichtlich
die Systemkosten einer Lkw-Maut auf vier- und mehrspurigen
Bundesstraßen sein?
Zu Frage 85:
Dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung sind die Schwerverkehrsbelastungen einzel-
ner Bundesstraßen bekannt, sowie der Durchschnittswert
aller zwei- und mehrstreifigen Bundesstraßen.
Zu Frage 86:
Die Bundesregierung erwartet bei einer Bemautung
von vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen Mautein-
nahmen im unteren dreistelligen Millionenbereich. Da
die Ausweitung der Lkw-Maut auf vier- und mehrstrei-
fige Bundesstraßen zurzeit rechtlich, technisch und orga-
nisatorisch geprüft wird, können allerdings zum jetzigen
Zeitpunkt noch keine exakten Angaben gemacht werden.
Entscheidend wird letztlich der Umfang der Fahrleis-
tungen auf den betreffenden Straßenabschnitten sein.
Zur Höhe der Systemkosten kann zum jetzigen Zeit-
punkt ebenfalls noch keine Aussage getroffen werden.
Anlage 64
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die
Fragen des Abgeordneten Christian Lange (Backnang)
(SPD) (Drucksache 17/2285, Fragen 87 und 88):
Stimmen die Angaben des Bundesministers für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer, dass bei der
sogenannten Sparklausur der Bundesregierung für die Jahre
2011 bis 2014 bei den Infrastrukturinvestitionen Einsparun-
gen von viermal 200 Millionen Euro vereinbart wurden, oder
stimmen die Angaben des Bundesministers der Finanzen,
Dr. Wolfgang Schäuble, nach denen die Einsparungen in den
nächsten Jahren ansteigen sollen?
Welche Folgen werden die Einsparungen für die bereits
geplanten und zugesicherten Verkehrsprojekte haben, und
welche finanziellen Auswirkungen werden diese Einsparun-
gen auf die Bundesländer haben, insbesondere auf Baden-
Württemberg?
Zu Frage 87:
Die Bundesregierung hat auf ihrer Klausurtagung An-
fang Juni Eckpunkte für die weitere Aufstellung des
Haushaltsentwurfs 2011 und des Finanzplans bis 2014
beschlossen. Zur Umsetzung werden alle Ressorts einen
Beitrag leisten.
Die Frage nach einzelnen Einsparbeiträgen zielt daher
auf das Verfahren zur Aufstellung des Regierungsent-
wurfs des Bundeshaushalts 2011 ab und richtet sich auf
eine Phase der Vorbereitung der Etatplanung, die rein re-
gierungsintern verläuft. Es entspricht der gängigen Staats-
praxis, dass die Erörterung und die Erstellung des Regie-
rungsentwurfs des Bundeshaushalts in den Kernbereich
exekutiver Eigenverantwortlichkeit fällt und dass über
Einzelheiten dieses Verfahrens – so lange es andauert –
keine Auskünfte gegeben werden. Hierzu zählen gege-
benenfalls auch unterschiedliche Auffassungen zu be-
stimmten Details während der Haushaltsaufstellung.
Zu Frage 88:
Gegenwärtig finden die Ressortgespräche zur Auf-
stellung des Bundeshaushalts 2011 statt. Dabei spielt die
Haushaltskonsolidierung eine gewichtige Rolle. Bevor
aber zu den Auswirkungen Stellung bezogen werden
kann, sind die Verhandlungen erst einmal abzuschließen.
Dies erfolgt mit der Beschlussfassung des Kabinetts zum
Haushaltsentwurf 2011.
Anlage 65
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Jahressteuer-
gesetzes 2010 (JStG 2010) (Tagesordnungs-
punkt 10)
Olav Gutting (CDU/CSU): Es entspricht ja fast
schon einer gewissen Tradition, dass wir einmal im Jahr
unser jeweiliges Jahressteuergesetz beraten. Auch in die-
sem Jahr werden überwiegend steuertechnische Anpas-
sungen vorgenommen, welche sich im Laufe eines Jah-
res aus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben oder
aus Anregungen der Verwaltung ergaben. Die bloße
Menge dieser notwendigen Anpassungen hat es aller-
dings in sich. Schließlich gab es letztes Jahr kein Jahres-
steuergesetz, sodass wir über einen Gesetzentwurf von
einem Umfang von 175 Seiten mit rund 180 Maßnahmen
zu beraten haben. Die in Fachkreisen häufig verwandte
Bezeichnung als Omnibusgesetz – manche bezeichnen
es nachvollziehbar als klassisches Besenwagengesetz –
ist deshalb dieses Jahr zutreffender denn je. Gleichwohl
enthält auch der uns zur Lesung vorliegende Entwurf ei-
nes Jahressteuergesetzes 2010 eine Reihe von bedeutsa-
men Maßnahmen, die eine besondere Erwähnung ver-
dienen.
Mit dem Jahressteuergesetz werden wir – wie im Ko-
alitionsvertrag vorgesehen – die gleichheitswidrigen Be-
nachteiligungen von eingetragenen Lebenspartnern ge-
genüber Ehegatten im Bereich der Erbschafts- und
Schenkungsteuer und im Bereich der Grunderwerbsteuer
5440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
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abbauen. Zur Vermeidung einer Doppelförderung bei der
steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen
sind bereits mit öffentlichen Mitteln geförderte Maßnah-
men vereinzelt nicht absetzbar. Dies weiten wir nun kon-
sequent auf weitere Förderprogramme aus.
Mit dem Jahressteuergesetz 2010 wird auch der Um-
satzsteuerbetrug weiter eingedämmt werden. Mit der
Erweiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungs-
empfängers bei der Umsatzsteuer – sogenanntes Re-
verse-Charge-Verfahren – auf Lieferungen von
Industrieschrott, Altmetallen und sonstigen Abfallstof-
fen sowie Leistungen von Gebäudereinigern kann der
sogenannte Karussellbetrug in diesem Bereich wirksam
verhindert oder erschwert werden. Bedauerlich ist die
notwendige Verlängerung der Übergangsregelung bei
den elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmalen. Der
aktuelle Entwicklungsstand des Verfahrens lässt die ur-
sprünglich für 2011 geplante Einführung noch nicht zu.
Als Abgeordneter des Spargelwahlkreises Bruchsal-
Schwetzingen will ich noch eine, wie ich finde, sehr po-
sitive Maßnahme besonders hervorheben. Mit dem Jah-
ressteuergesetz 2010 werden wir die zu Recht vielfach
kritisierte Steuererklärungspflicht für viele Saisonar-
beitskräfte abschaffen. Bislang zwang diese Regelung
300 000 Saisonarbeitskräfte – davon alleine 200 000 in
der Landwirtschaft – eine Steuererklärung abzugeben,
obwohl absehbar war, dass keine Steuerlast entsteht. Seit
2009 mussten landwirtschaftliche Arbeitgeber – meist
Spargelanbauer – ihre Saisonarbeitskräfte zunehmend
bei Erstellung der Steuererklärung unterstützen. Es ist
nicht verwunderlich, dass ausländische Saisonarbeits-
kräfte – meist aus Polen, Kroatien, Rumänien oder Bul-
garien – nicht in der Lage waren, die amtlichen Vordru-
cke ohne Hilfestellung auszufüllen. Da tut man sich
schon als Muttersprachler schwer – mit rudimentären
deutschen Sprachkenntnissen geht aber rein gar nichts.
Also musste der Bauer oder gleich der Steuerberater hel-
fend einspringen. Die damit einhergehenden beträchtli-
chen Bürokratiekosten blieben bei dem jeweiligen
Arbeitgeber hängen, obwohl die Steuerbescheide regel-
mäßig nur eine Steuerlast von null Euro auswiesen. Wir
wollen mit dieser Entlastung nicht nur etwas für die sai-
sonalen Beschäftigten tun, sondern auch für deren Ar-
beitgeber und für die Finanzverwaltung gleichermaßen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf einen Punkt
hinweisen, der mir besonders am Herzen liegt. Noch
sind Ergänzungen möglich und aus meiner Sicht auch
notwendig. So brauchen wir eine sinnvolle Gesamtlö-
sung für die Pauschalbesteuerung nach § 37 b EStG.
Konkret geht es um die Pauschalierung der Sozialversi-
cherungsbeiträge bei pauschal besteuerten Entgeltbe-
standteilen. Es ist wenig verständlich, dass beispiels-
weise bei einer Einladung von eigenen Mitarbeitern zu
kulturellen Veranstaltungen zwar die darauf zu entrich-
tende Steuer vom Arbeitgeber pauschaliert abgeführt
werden kann, dieser aber dann wieder die Sozialversi-
cherungsbeiträge auf dieses Geschenk individuell be-
rechnen muss. Ziel einer Pauschalierung ist es nicht,
keine oder nur geringe Sozialversicherungsbeiträge ab-
zuführen, sondern Vereinfachungen bei der Berechnung
herbeizuführen. Hier sollten wir nochmals nachbessern.
Vereinfachung benötigt auch unser gesamtes Einkom-
mensteuerrecht. Ungeachtet des Jahressteuergesetzes
2010 wird sich die Union in dieser Legislaturperiode für
durchgreifende Steuervereinfachungen im Rahmen eines
Gesamtkonzeptes einsetzen.
Ich freue mich auf gute Beratungen.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Heute morgen
haben wir die Regierungserklärung von Bundeswirt-
schaftsminister Rainer Brüderle gehört. Das lautstarke
und zudem unangebrachte Übermaß an Eigenlob ist si-
cherlich nicht nur mir unangenehm aufgefallen. Ich
frage mich, wer denn nun recht hat: Bundeswirtschafts-
minister Brüderle, der sich die konjunkturelle Entwick-
lung schönredet und tatsächlich zu glauben scheint, das
sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz habe ir-
gendetwas damit zu tun, oder seine Parteifreunde von
der FDP, die sich mittlerweile gar nicht mehr gerne an
ihre eigene Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernach-
tungen erinnern möchten und stattdessen neuerdings für
„Steuervereinfachungen“ plädieren. Und wo sind eigent-
lich der Parteivorsitzende Westerwelle und sein Steuer-
papst Hermann Otto Solms, die wohl ihr eigenes neoli-
berales Mantra zu Steuersenkungen und Stufenmodellen
mittlerweile selbst nicht mehr hören können?
Die FDP verkauft uns ihre Einsicht, dass derzeit keine
Steuersenkungen möglich sind, dreist als bahnbrechen-
den Erkenntnisgewinn. Das ist etwa so, als behaupte
man jahrhundertelang, die Erde sei eine Scheibe, um
sich dann selber dafür auf die Schulter zu klopfen, dass
man die Kugelform der Erde für sich entdeckt hat – aber
manche sind ja offensichtlich auch mit kleinen Fort-
schritten auf dem Weg der Erkenntnis zufrieden.
Schließlich konnte man ja auch überhaupt nicht wis-
sen, dass wir uns mitten in einer schlimmen Wirtschafts-
und Finanzkrise befinden, dass die Einnahmen von
Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungssys-
temen deutlich zurückgehen werden und dass die Ausga-
ben der staatlichen Solidargemeinschaft zur Krisenbe-
wältigung stark ansteigen werden.
Statt Steuersenkungen stehen bei der FDP ab sofort
also Steuervereinfachungen auf dem Programm. Wieder
einmal ein neoliberaler Kurswechsel – kein Wunder,
dass bei diesen permanenten „strategischen Neuausrich-
tungen“ – oder soll ich Zick-Zack-Kurs sagen? – auch
letzte Spurenelemente politischer Führung verloren ge-
hen, die die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie kleine
und mittelständische Unternehmen von der Bundesregie-
rung in Krisenzeiten erwarten. Aber wahrscheinlich ist
das auch wirklich zu viel verlangt, wenn CDU/CSU und
FDP schon größte Mühe damit haben, das eigene ver-
rutschte politische Koordinatensystem andauernd an die
Realität anzupassen.
Deshalb verwundert es nicht, dass auch dem vorlie-
genden Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb die übergeord-
nete politische Richtung, der Wille zur versprochenen
Steuervereinfachung fehlt. Wäre das Jahressteuergesetz
2010 nicht eine gute Gelegenheit gewesen, die zu Oppo-
sitionszeiten bis zur totalen Ermüdung Einzelner vorge-
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tragenen Forderungen nach Steuervereinfachungen nun
endlich wenigstens teilweise einzulösen?
Ich erinnere mich an die Vorwürfe des Kollegen
Volker Wissing, die er bei der abschließenden Lesung
des letzten Jahressteuergesetzes 2009 am 28. November
2008 erhoben hat – ich zitiere –:
Sie verweigern Deutschland ein vereinfachtes Steu-
errecht, mit dem man die Probleme lösen könnte.
Aus dem Problem eines zu komplizierten Steuer-
rechts machen Sie einfach ein Zeitproblem. … Die
Menschen in Deutschland fühlen sich nicht wohl,
vor allen Dingen nicht angesichts des Steuerrechts,
weil Sie die Menschen systematisch abkassieren und
weil Sie sie mit einem viel zu komplizierten Steuer-
recht drangsalieren und Wirtschaftsunternehmen
lähmen.
Wahrscheinlich wird sich insbesondere die FDP im
Rückblick wirklich darüber ärgern, mit der Ausrichtung
des Jahressteuergesetzes 2010 nicht einen Schritt in
Richtung eines „vereinfachten Steuerrechts“ getan zu
haben. Aber wahrscheinlich war sie einfach noch nicht
so weit; die letzte Spitzkehre auf dem steuerpolitischen
Zick-Zack-Kurs liegt ja auch gerade erst kurze Zeit zu-
rück.
„Einfach“ klingt zunächst einmal nicht schlecht. Wer
allerdings genauer hinsieht, wird wieder einmal ent-
täuscht; denn die vollmundige Ankündigung einer Steu-
ervereinfachung hinterlässt leider keine erkennbaren
Spuren im vorliegenden Entwurf des Jahressteuergeset-
zes 2010. Aber vielleicht ist das auch besser so, wenn
man sich den Schaden anschaut, den die schwarz-gelbe
Lobbypolitik mit ihrem sogenannten Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz – besser Wachstumsverhinderungs-
gesetz oder Schuldenaufbaugesetz oder Investitionsver-
hinderungsgesetz oder Einnahmeverzichtsgesetz oder
einfach: Mövenpick-Gesetz – angerichtet hat.
Daher nochmals kurz zur Erinnerung und als Vorge-
schmack darauf, was wir uns unter „neoliberaler Steu-
ervereinfachung“ vorstellen können: Die FDP, die
selbsternannte „Partei des Mittelstandes und der Leis-
tungsträger“, hat in ihren langen Jahren der Oppositions-
arbeit mit leichter Hand Steuervereinfachungen und Bü-
rokratieabbau versprochen und führte quasi als erste
Amtshandlung neue, unbefristete und kostspielige Aus-
nahmen ein, die Bürgern, Unternehmen und dem Finanz-
amt erheblichen Verwaltungsaufwand auferlegen. Diese
neoliberale Klientelpolitik mit ihren Steuergeschenken
an einen sehr kleinen Kreis von Begünstigten unter dem
Deckmantel der Konjunktursteuerung wirkt auf mich ge-
radezu zynisch, wenn man sich die mittel- und langfris-
tige Wirkung der Beschlüsse und die Konsequenzen der
Einnahmeausfälle für Bund, Länder und Gemeinden vor
Augen führt.
Man muss deshalb ja fast schon erleichtert sein, wenn
die schwarz-gelbe Bundesregierung beim Jahressteuer-
gesetz 2010 auf substanzielle Steuerung verzichtet. Ich
bin daher froh, dass sich der Gesetzentwurf auf die erfor-
derlichen gesetzlichen Änderungen und Anpassungen im
Steuerrecht an Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und
Gemeinschaftsrecht beschränkt. Die Fachbeamtinnen
und -beamten aus dem Bundesfinanzministerium haben
in gewohnt gewissenhafter und sachkundiger Art und
Weise gearbeitet, sodass wir heute über einen Gesetzent-
wurf mit einer Fülle einzelner Regelungsbereiche spre-
chen. Politische Brisanz findet sich nur dort, wo Themen
mit politisch motivierter Klientelpolitik fortgesetzt wer-
den.
Die große Bandbreite des Jahressteuergesetzes spie-
gelt sich unter anderem in folgenden Regelungen:
Einführung einer Steuerbefreiungsvorschrift für ehren-
amtliche rechtliche Betreuer, Vormunde und Pfleger;
Steuerbarkeit von Transferentschädigungen für den
Wechsel eines Sportlers von einem nicht im Inland zu ei-
nem im Inland ansässigen Verein, §§ 49, 50 a, 52 EStG;
Aufhebung der zeitlichen Befristung der Regelung zur
degressiven Abschreibung für Abnutzung, degressive
AfA; Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspart-
nerschaften im Bereich der Erbschaft- und Schenkung-
steuer und der Grunderwerbsteuer; Anpassungen des
Umsatzsteuergesetzes an EU-Recht und aktuelle
Entwicklungen, zum Beispiel Bekämpfung des Umsatz-
steuerbetrugs bei der Einfuhr, § 5 UStG, und durch Er-
weiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsemp-
fängers bei der Umsatzsteuer auf Lieferungen von
Industrieschrott, Altmetallen und sonstigen Abfallstof-
fen sowie Leistungen von Gebäudereinigern, § 13 b
UStG.
Bei diesen zahlreichen gesetzlichen Änderungen ent-
stehen auch viele Fragen. Ich möchte mich in diesem
ersten Durchgang des Gesetzes darauf konzentrieren,
einige dieser Fragen aufzuwerfen und unsere Überlegun-
gen anzudeuten. Ich hoffe, dass die folgenden Beratun-
gen des zuständigen Finanzausschusses und die Erläute-
rungen der Fachbeamtinnen und Fachbeamten aus dem
Bundesfinanzministerium zur Klärung dieser Fragen
beitragen können, sodass zumindest am Ende der parla-
mentarischen Beratungen ein Gesetz steht, das unser
Steuerrecht ein kleines bisschen einfacher und vielleicht
sogar gerechter macht.
Zum Regelungsbereich Gleichstellung von eingetra-
genen Lebenspartnern mit Ehegatten im Erbschaft- und
Schenkungsteuerrecht sowie bei der Grunderwerb-
steuer. Der Entwurf des Jahressteuergesetzes 2010 sieht
die Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern
mit Ehegatten vor, § 15 Abs. 1 ErbStG-E. Eingetragene
Lebenspartner sollen künftig auch in Steuerklasse I auf-
genommen werden; ehemalige Lebenspartner werden
wie geschiedene Ehegatten in Steuerklasse II erfasst. Die
Gleichstellung bezieht sich auch auf die Freibetragsrege-
lung, § 16 Abs. 1 ErbStG-E. Künftig soll auch bei
Grundstücksübertragungen zwischen Lebenspartnern
keine Grunderwerbsteuer mehr anfallen, § 3 Nr. 4
GrEStG-E.
Die Arbeitsgruppe Finanzen der SPD-Bundestags-
fraktion hatte für die Gleichbehandlung von Ehegatten
und eingetragenen Lebenspartnern schon bei den Bera-
tungen zur Reform der Erbschaftsteuer geworben. Lei-
der war die CDU/CSU damals noch nicht zu einer ent-
sprechenden sinnvollen Lösung bereit. Das führte zu
5442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
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drei Steuerklassen, die nicht logisch definiert sind und
deren Tarifstufen unerklärliche Sprünge aufweisen – er-
klärbar nur durch Klientelpolitik für eine kleine Gruppe
von Erben mit einer Erbschaft zwischen 4 und 6 Millio-
nen Euro. Die Zeche zahlen nun die Erben in der Steuer-
klasse II, also zum Beispiel Geschwister, Nichten, Nef-
fen. Alle für einen – den am Starnberger See.
Zum Regelungsbereich Verschonungsvoraussetzun-
gen für Betriebsvermögen im Bereich der sogenannten
Optionsverschonung. Das Jahressteuergesetz 2010 sieht
auch eine Neuregelung des §13 a Abs. 8 Nr. 3 ErbStG
vor. Das in den Jahren 2008/2009 geschaffene Erb-
schaftsteuerrecht zielte bei der Vererbung von Unterneh-
men darauf, die Arbeitsplätze zu erhalten. Wir haben bei
der Reform der Erbschaftsbesteuerung ein zweiteiliges
Optionsmodell für die Besteuerung von Betriebsvermö-
gen eingeführt, das dem Erben eines Betriebs viel Flexi-
bilität bietet und Planungssicherheit bei der Betriebsfort-
führung ermöglicht. Zu den Grundvoraussetzungen für
die Verschonung von Betriebsvermögen, das heißt die
Steuerbefreiung des Erben, gehören, dass der Erbe den
Betrieb über einen bestimmten Zeitraum hinweg fort-
führt und die Arbeitsplätze – gemessen an der Lohn-
summe – im Wesentlichen erhält.
Die Wahlmöglichkeit in der Option 2, „Betriebsfort-
führung 10 Jahre“, sieht eine vollständige Befreiung des
Betriebserben von der Erbschaftsteuer vor, der Verscho-
nungsabschlag beträgt also 100 Prozent. Dafür muss der
Erbe strenge Kriterien erfüllen: Erstens. Der Betrieb
muss zehn Jahre lang weitergeführt werden. Zweitens.
Die Gesamtlohnsumme nach Ablauf dieser Zehn-Jahres-
Frist muss in der Summe 1 000 Prozent der Ausgangs-
lohnsumme erreichen. Diese Regelung ermöglicht dem
Betriebserben einen flexiblen Ausgleich zwischen Jah-
ren, in denen die Beschäftigung und damit die Lohn-
summe ansteigen, und Jahren, in denen die Lohnsumme
sinkt. Drittens. Der Anteil des Verwaltungsvermögens
darf nicht mehr als 10 Prozent des gesamten Betriebsver-
mögens betragen.
Steuererleichterung und Arbeitsplätze wurden durch
die Optionsverschonung eng miteinander verkoppelt.
Unsere Idee war also, das Unternehmensvermögen mit
Blick auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Unter-
nehmensfortführung steuerlich zu entlasten, wenn im
Zeitpunkt des Betriebsübergangs das Verwaltungsver-
mögen kleiner gleich 10 Prozent des Betriebsvermögens
beträgt, weil die Verwaltung eines großen Vermögens
nur eine kleine Bedeutung für die Arbeitsplätze hat.
Bei der vorgeschlagenen Neuregelung im Jahressteu-
ergesetz geht es um diesen letztgenannten Aspekt, ge-
nauer um die Anwendung dieser 10-Prozent-Grenze
auch bei Beteiligungen an Personengesellschaften und
Anteilen an Kapitalgesellschaften im Sinne des § 13 b
Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 ErbStG. Sicherlich bietet das parla-
mentarische Beratungsverfahren im Finanzausschuss die
Gelegenheit, die Einnahmewirkungen dieser Regelung
für die betroffenen Unternehmen und die Länderhaus-
halte zu verdeutlichen und zu bewerten, denen die Ein-
nahmen aus der Erbschaftsteuer zustehen.
Mit der Übertragung von Verwaltungsvermögen auf
extra gegründete Untergesellschaften wurde nun diese
Idee unterlaufen, Steuerberater sind erfinderisch. Auf
diese Weise ließ sich bei der Obergesellschaft totale
Steuerfreiheit für große Vermögen erreichen, auch wenn
der Anteil des Verwaltungsvermögens deutlich höher
war als ursprünglich geplant.
Ich bin froh, dass dieses „Schlupfloch“ durch das Jah-
ressteuergesetz geschlossen werden soll. Dass solche
engmaschigen Regelungen immer wieder notwendig
sind, verdanken wir dem fantasievollen Steuervermei-
dungsdrang der Bürgerinnen und Bürger, die sich an-
schließend über die Kompliziertheit der Gesetzgebung
echauffieren.
Zum Regelungsbereich Steuerbarkeit von Transfer-
entschädigungen für den Wechsel eines Sportlers. Jah-
ressteuergesetze haben sich mit vielen Detailregelungen
für Steuerpraxis und -verwaltung den wenig schmeichel-
haften Ruf eines häufig überaus „trockenen“ Gesetzge-
bungsverfahrens erworben, dem sich wohl nur über-
zeugte Steuerrechtler mit Genuss widmen. Um diesen
Eindruck – zumindest andeutungsweise – zu korrigieren,
greife ich abschließend die Regelungen zur steuerlichen
Behandlung von Transferentschädigungen für den
Wechsel eines Sportlers auf, etwa eines Fußballspielers.
Das ist eine fast „brandaktuelle“ Regelung; denn viele
Profis nutzen die Fußballweltmeisterschaft als Bühne
und wechseln während oder nach dem Turnier ins Aus-
land und umgekehrt. Was macht also das Finanzamt,
wenn ein verdienter Nationalspieler gegen eine Transfer-
entschädigung seine Karriere bei einem Verein in der
Bundesliga fortsetzen möchte?
Der Bundesfinanzgerichtshof hat entschieden, dass
Transferentschädigungen für den Wechsel von einem
ausländischen zu einem inländischen Verein nicht steu-
erbar sind. Diese Rechtsauffassung weicht allerdings
von der Verwaltungspraxis ab, die vor dem Urteil des
Gerichts Anwendung fand. Der Entwurf des Jahressteu-
ergesetzes sieht daher vor, zu diesem Status zurückzu-
kehren und solche Vergütungen an den früheren Verein
im Ausland zu besteuern, § 49 Abs. 1 Nr. 2 g.
Ich hoffe, dass uns die Beratungen im Finanzaus-
schuss Klarheit darüber verschaffen, wie Bundesregie-
rung und Koalitionsfraktionen die widerstreitenden
Rechtsauffassungen von Finanzverwaltung und Finanz-
gerichtsbarkeit auflösen sowie die offene Frage des
Rückwirkungsverbots der Regelung beantworten möch-
ten.
Auf einem Feld allerdings, der Lobbyarbeit für Groß-
unternehmen, beweist die neoliberale Bundesregierung
hingegen leider eine ebenso ärgerliche wie bemerkens-
werte Ausdauer. Auch das Jahressteuergesetz 2010 dreht
die Uhren bei der Unternehmensbesteuerung zurück, um
Großkonzernen erneut Steuergestaltungsmöglichkeiten
zu erschließen und das Steuersubstrat in Deutschland
auszudünnen.
Wir sind auf die Beratungen gespannt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5443
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Dr. Daniel Volk (FDP): Das Jahressteuergesetz 2010,
welches wir heute beraten, enthält eine Reihe von Punk-
ten, die für mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland sor-
gen. Folgende Punkte sind dabei hervorzuheben:
Lebenspartner werden im Erbschaftsteuer- und Schen-
kungsteuergesetz – siehe §§ 15 bis 17, 37 Abs. 4 – und im
Grunderwerbsteuerrecht – siehe §§ 3, 23 – mit Ehegatten
gleichgestellt; keine Rückwirkung bei der Beschränkung
des Vorsteuerabzugs infolge des Seeling-Urteils, § 15
Abs. 1 b UStG-E. Konkretisierungen im Bereich der haus-
haltsnahen Dienstleistungen, § 35 a EStG zur Vermei-
dung von Doppelförderung führen zu einem Ausschluss
von bestimmten öffentlich geförderten Maßnahmen aus
der Steuerermäßigung; Befreiung von der Pflicht zur Ab-
gabe einer Einkommensteuererklärung (§ 46 EStG) für un-
beschränkt und beschränkt steuerpflichtige Arbeitnehmer
bei Arbeitslöhnen unterhalb der Steuerbelastungsgrenze,
zum Beispiel für Saisonarbeiter, schon für 2009.
Dies ist ein deutlicher Beitrag zur Vereinfachung des
Steuerrechts, gerade für Geringverdiener und wird die
Finanzämter entlasten, damit diese sich auf andere Auf-
gaben konzentrieren können.
Es wird im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens da-
rüber nachzudenken sein, kreditwirtschaftliche Vorleis-
tungsprodukte, die innerhalb von Verbundstrukturen
erbracht werden, von der Umsatzsteuerpflicht auszuneh-
men. Der notwendige Strukturwandel in der deutschen
Kreditwirtschaft hin zu effizienteren und leistungsfähi-
geren Prozessen darf nicht an umsatzsteuerlichen Hür-
den scheitern. Für die dezentral organisierte Kreditwirt-
schaft bedeutet eine solche Anpassung die Schaffung
vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen im Vergleich
zu Großbanken. Letztlich profitieren die Verbraucher
vom Wegfall der faktischen Schattenmehrwertsteuer.
Ein Punkt liegt mir bei dieser Debatte noch am Herzen.
Es sollte doch möglich sein, im Rahmen des laufenden
Gesetzgebungsverfahrens zum Jahressteuergesetz 2010
eine Umformulierung des § 17 Satz 2 Nr. 2 KStG mit
Wirkung für alle verfahrensrechtlich noch offenen Fälle
vorzunehmen, die auf die tatsächliche Durchführung von
Gewinnabführungen und Verlustübernahmen bzw. auf
das tatsächliche Bestehen solcher Verpflichtungen und
nicht auf das Vorliegen ohnehin deklaratorischer formel-
ler Vereinbarungen abstellt. Diese klarstellende Gesetzes-
änderung würde zur Rechts- und Planungssicherheit für
die Unternehmen in Deutschland beitragen und das Ver-
trauen in die Steuergerechtigkeit nachhaltig stärken. Dies
mit dem Verweis auf den Koalitionsvertrag und die ohne-
hin geplante Neuregelung der Gruppenbesteuerung, in
die Zukunft aufzuschieben, stellt dabei nicht die beste Lö-
sung dar.
Die Masse an Änderungen zeigt aber eines deutlich:
Unser Steuerrecht ist zu kompliziert. Da haben wir drin-
genden Handlungsbedarf. Es kann nicht sein, dass wir
jedes Jahr ein so umfangreiches Gesetzespaket auf den
Weg bringen müssen, um Fehler und Unklarheiten zu be-
seitigen. Das Gesetz zeigt, dass das Steuerrecht sehr
komplex ist und damit der Lebenswirklichkeit einer ent-
wickelten Industrienation entspricht. Dass nur noch Ex-
perten den Durchblick haben – und das auch nur noch in
Teilbereichen – liegt auf der Hand. Forderungen nach
Steuervereinfachung sind berechtigt, setzen aber voraus,
dass dem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit
stärker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierun-
gen würden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und ga-
rantieren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das
Ziel der Steuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das
bestehende Recht an sich verändernde Verhältnisse an-
gepasst werden. Leider geht das nur mit einem so kom-
plexen Gesetz; das sollte sich aber ändern.
Gesunde Staatsfinanzen sind das A und O einer verant-
wortungsbewussten Regierungsarbeit. Da dürfte in die-
sem Haus zwischen allen Fraktionen Einigkeit bestehen.
Aber jede Partei in diesem Haus sollte sich auch selbst-
kritisch fragen, ob unter ihrer Regierungsverantwortung
– sei es im Bund, sei es in den Ländern oder sei es in den
Kommunen – das auch in der Praxis eingehalten wird.
Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und
nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben die Fa-
milien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlastet.
Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir werden Gesund-
heit wieder bezahlbar machen. Wir stehen für Investitio-
nen in die Zukunft. Wir werden die Bildungschancen für
alle Menschen in diesem Land verbessern; denn dies be-
deutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und
damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Üblicherweise wird
das Jahressteuergesetz im Vorjahr, bevor es in Kraft tritt,
verabschiedet. Dieses hier wird frühestens im Septem-
ber 2010 verabschiedet werden können. Das ist Kon-
zeptionslosigkeit und höchstproblematisch, da Änderun-
gen teilweise rückwirkend sind und zu erhöhter
Rechtsunsicherheit führen. Die Leidtragenden Ihrer
Politik sind dann wieder einmal die Bürgerinnen und
Bürger.
Das Gesetz beinhaltet eine Vielzahl kleinerer Ände-
rungen im Steuerrecht; es ist sozusagen ein Feinschliff
des Steuerrechts mit geringen finanziellen Auswirkun-
gen. Da wird mal hier, mal da etwas herumgedoktert.
Aber grundlegende Änderungen – Fehlanzeige. Dabei
wären diese jetzt dringend vonnöten, um auch endlich
hohe Einkommen und Vermögen zur Finanzierung he-
ranzuziehen. Selbst in Ihren Reihen werden Stimmen
laut, die zum Beispiel den Spitzensteuersatz erhöhen
wollen. Und auch von Vermögenden hört man, dass sie
mehr zur Finanzierung beitragen würden. Nur die Bun-
desregierung denkt nicht daran. Statt die Chance zu er-
greifen, zum Beispiel die Abgeltungsteuer abzuschaffen
und damit Kapitaleinkommen wieder nach der wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern, doktern
Sie wieder nur an dieser Regelung herum. Die Unge-
rechtigkeit bleibt erhalten, denn Kapitaleinkommen wer-
den immer noch bevorzugt behandelt, weil sehr hohe
Kapitaleinkommen im Vergleich zu Arbeitseinkommen
geringer besteuert werden.
Die Folge des Herumdokterns: Es wird noch kompli-
zierter statt einfacher. Sage und schreibe 105 Seiten Leit-
linien hat das Bundesfinanzministerium veröffentlicht,
um den Umgang mit der Abgeltungsteuer zu erleichtern.
5444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
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Steuervereinfachung ist das nicht. Daher fordern wir:
Schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab und sorgen sie da-
für, dass Kapitaleinkommen endlich wieder zum persön-
lichen Einkommensteuersatz versteuert werden.
Positiv in diesem Jahressteuergesetzentwurf möchten
wir hervorheben, dass eine Angleichung der eingetrage-
nen Lebenspartnerschaft an die Ehe geplant ist. Das ist
aber nur ein Minischritt; denn die Gleichstellung im Be-
reich der Einkommensteuer fehlt weiterhin. Also ma-
chen wir es uns einfacher. Öffnen wir die Ehe. Damit
wären unzählige Veränderungen von Gesetzen sowie
Verordnungen auf Bundes- und Landesebene nicht mehr
nötig.
Ebenfalls finden wir es gut, dass Lebensversicherun-
gen krisenfester werden sollen. Allerdings kritisieren wir
den Weg, wie Sie das bewerkstelligen wollen. Durch die
geplante Fristverlängerung von drei auf fünf Jahre, in
denen die Rückstellungen steuerfrei sind, verringert sich
der Anreiz für Versicherer, die Risikogewinne zeitnah
auszuzahlen. Damit geht die Regelung, wie sie geplant
ist, zulasten der Versicherten. Statt die Eigentümer und
Aktionäre heranzuziehen, zum Beispiel über ein Divi-
dendenausschüttungsverbot, wählen Sie den einfachen
Weg, indem sie die Versicherten belasten.
Ich möchte zum Schluss noch den Punkt Nichtanwen-
dungserlasse durch das Bundesministerium der Finanzen
ansprechen. Was heißt das? Jemand fühlt sich steuerlich
ungerecht behandelt und klagt deswegen – und bekommt
Recht. Nun folgt ein Nichtanwendungserlass des BMF,
welcher dazu führt, dass von diesem zumeist steuerzah-
lerfreundlichen Urteil nur der oder die Klagende profi-
tiert. Für alle anderen Steuerzahler gilt das Urteil nicht.
Das ist doch eine Frechheit. Wenn ein gültiges Urteil
vorliegt, müsste es doch auch für alle anderen gelten.
Das Ignorieren der BFH-Urteile stellt auch die Frage
nach der Respektierung der Gewaltenteilung. Besser wä-
ren gleich vernünftige Gesetzesänderungen, welche Sie
hiermit ja zum Teil vornehmen wollen.
Das waren nur ein paar Kritikpunkte. Kurzum: Über-
arbeiten Sie das Jahressteuergesetz noch mal. Zeit dafür
ist ja in den nächsten Wochen vorhanden.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fast kein
Tag verging in den vergangenen acht Monaten ohne ei-
nen steuerpolitischen Furz aus den Reihen der Regie-
rungskoalition. Etwas konkreter wurde es in Ihrem Spar-
paket. Da kündigten Sie steuerpolitische Änderungen
wie die Einführung einer Brennelementesteuer, einer
Finanzmarktsteuer und einer Flugticket-Tax an. Heute
nun sollen wir das Jahressteuergesetz 2010 beraten.
Aber nichts von alldem findet sich auf den 182 Seiten
dieses Gesetzes. Schlimmer noch: Inzwischen gibt es zu
diesem inhaltlich auf 180 von 182 Seiten nichtssagen-
den, aber handwerklich miserablen Gesetz bereits Emp-
fehlungen der Bundesratsausschüsse, die sich auf 100 Sei-
ten erstrecken. So ein Missverhältnis zwischen Inhalt
und Form habe ich noch nicht erlebt. Das Ganze kann
man mit Fug und Recht als Bürokratiemonster bezeich-
nen. Warum bringen Sie dieses Jahressteuergesetz fast
ohne Inhalt ein? In dieser Eile ohne abschließende Bera-
tung im Bundesrat und obwohl doch noch große Geset-
zesvorhaben geplant sind? Diese Hektik ist nicht nach-
vollziehbar und lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Es
wird wohl doch nicht trotz anderer Ankündigungen zu
weiteren Gesetzesvorhaben kommen. Die Buchungen in
Ihrem Sparhaushalt sind heute schon, was die Einnah-
meseite angeht, Luftbuchungen.
Obwohl Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung
laut Ihrer eigenen Aussage zentrale Politikfelder für die
Bundesregierung sind, kommen Sie selbst hier nicht vo-
ran, sondern schaffen mit diesem Gesetz im Gegenteil
noch mehr bürokratische Hürden. Statt verstärkte An-
strengungen zu unternehmen, um die elektronische
Steuer-ID zum Laufen zu bringen, perpetuieren Sie mit
zahlreichen Fristverlängerungen in diesem Gesetz diesen
nervigen Doppelzustand mit mehr Bürokratie. Das zeigt:
Gar nix ist mit einfach, niedrig und gerecht. Weder bei
der rechtlichen Ausgestaltung Ihrer Vorschläge für ein
besseres Steuersystem noch beim praktischen Vollzug
der Steuergesetzgebung haben Sie bisher punkten kön-
nen. Von einer Koalition, deren zentrales Themenfeld
Bürokratieabbau und Steuervereinfachung ist, hätte ich
wirklich mehr erwartet.
Auch weitere Versprechen aus dem Koalitionsvertrag
halten Sie nicht ein. Zwar bewegen Sie sich ein wenig in
Sachen Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner-
schaft im Erbschaft- und Grunderwerbsteuerrecht. Aber
in der Einkommensteuer tun Sie weiterhin so, als ob ein-
getragene Lebenspartner Fremde wären. Dabei hat das
Bundesverfassungsgericht bereits vor einem Jahr klarge-
stellt, dass wegen des Gleichheitsgrundsatzes des
Grundgesetzes eine vollständige Gleichstellung der ein-
getragenen Lebenspartnerschaft geboten ist. Wir hatten
bereits im November des vergangenen Jahres Anpassun-
gen für eine echte Gleichstellung im Erbschaftsteuer-
recht beantragt – Sie von Schwarz-Gelb haben dies
damals abgelehnt. Wir geben Ihnen eine zweite Chance.
Wir werden nun einen umfassenden Gesetzentwurf vor-
legen, der alle Bereiche des Steuerrechts berücksichtigt.
Ergreifen Sie diese Chance, stimmen Sie zu.
Spannend finde ich, dass endlich auch in Ihren Reihen
eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes nicht mehr tabu
ist. Zumindest bei einigen scheint es angekommen zu
sein, dass ein Sparpaket, das zum Beispiel das Elterngeld
für Hartz-IV-Empfangende streicht, es der nicht arbei-
tenden Millionärsgattin aber lässt, eben nicht fair und
gerecht ist, wie es Herr Westerwelle formulierte, sondern
eine Unverschämtheit. Damit die Lastenverteilung auch
wirklich gerechter wird und die Erhöhungsdebatte nicht
zu einer Placebodebatte verkommt, reicht es aber nicht
aus, den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Wenn wir den
Spitzensteuersatz erhöhen, belasten wir zwar die stärker,
die mit ihrer Arbeit viel verdienen. Wer aber wirklich
reich ist, lässt sein Geld für sich arbeiten. Dieses Geld
wird aber gar nicht mit dem Spitzensteuersatz versteuert,
sondern lediglich mit 25 Prozent. Wenn Herr Ackermann
also knapp 10 Millionen Euro im Jahr verdient und da-
von genug auf die hohe Kante legt, zahlt er nur in diesem
Jahr den Spitzensteuersatz. Für die Zinserträge der kom-
menden Jahre werden nur die 25 Prozent fällig, egal wie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5445
(A) (C)
(D)(B)
hoch die Zinserträge sind. Das müssen Sie ändern, und
damit würden Sie nebenbei über 1,2 Milliarden Euro
Steuermehreinnahmen verbuchen.
Die Zeit dafür ist überfällig. Auch wenn Sie es noch
nicht begriffen haben: In der Wirtschaft hat inzwischen
ein Umdenken eingesetzt. Das Angebot sollten Sie an-
nehmen.
Ich möchte Ihnen dazu eine Umfrage des Manager-
magazins nahelegen, wonach 54 Prozent der Führungs-
kräfte in der deutschen Wirtschaft am ehesten bei den
Reichen mehr Steuern erheben würden. Gerhard
Cromme, der Aufsichtsratsvorsitzende von Thyssen-
Krupp und Siemens, spricht sich dafür aus; Uwe Hück
von Porsche und Trigema-Chef Wolfgang Grupp sind
dabei, um nur ein paar Namen zu nennen. Sie haben die
Betroffenen an Ihrer Seite. Also zögern Sie nicht, son-
dern legen Sie endlich los. Statt Hartz-IV-Empfängern
das Elterngeld wegzunehmen, würden Sie damit einen
Beitrag von dem Teil der Gesellschaft verlangen, der es
sich durchaus leisten kann, mehr zu schultern. Ich zitiere
hierzu den Chef von Liqui-Moly, Ernst Probst: „Mir ist
es ein Rätsel, warum die Politik Leute vor einer höheren
Belastung verschonen will, die gar nicht verschont wer-
den wollen.“ Ich fordere Sie auf: Lösen Sie dieses Rät-
sel, hören Sie auf mit sozialem Kahlschlag und schaffen
Sie mehr Steuergerechtigkeit.
Auch der Bundesrat hat Ihnen bereits Nachhilfe er-
teilt. Ich nenne nur ein Beispiel: Nächste Woche beraten
wir in einer Anhörung des Finanzausschusses Vor-
schläge zur Änderung der strafbefreienden Selbstan-
zeige. Wir Grüne haben hier klare Forderungen gestellt –
von der dringend erforderlichen Verbesserung der perso-
nellen Ausstattung der Finanzbehörden über die Einfüh-
rung einer Bundessteuerverwaltung, die Bildung von so-
genannte Large Taxpayers Units für Wohlhabende und
Großunternehmen bis hin zu der eigentlichen Selbstver-
ständlichkeit, dass endlich gelten muss, dass Wiederho-
lungstäter nicht straffrei bleiben sollten und jemand, der
jahrelang systematisch Steuern hinterzieht und das ir-
gendwann dem Finanzamt offenbart, nicht besser daste-
hen darf als einer, der einfach nur zu spät zahlt. Die
schwarz-gelben Vorstellungen dazu sind vage und un-
konkret – der Umsetzungszeitpunkt unklar. Der Bundes-
rat dagegen hat schon jetzt ausformuliert, wie wir eine
Verschärfung der Selbstanzeige im Jahressteuergesetz
vornehmen können. Das zeigt: Ein Jahressteuergesetz
muss keine langweilige Auflistung redaktioneller Kor-
rekturen sein.
Die Steuerpolitik ist der Zankapfel von Schwarz-
Gelb. Mal sollen die Steuern runter, dann soll nichts pas-
sieren, dann sollen sie rauf. Die Uneinigkeit in diesem
zentralen Politikfeld untergräbt die Handlungsfähigkeit
der gesamten Bundesregierung. Nur so kann ich mir er-
klären, dass auch in diesem 100 Seiten langen Jahres-
steuergesetz im Grunde überhaupt nichts drinsteht. Aber
das muss nicht so bleiben. Ich erwarte von Ihnen, dass
Sie in den kommenden Beratungen substanzielle Vor-
schläge auf den Tisch legen, die über die Anregungen
aus dem Nachhilfeunterricht des Bundesrates in Sachen
Gesetzeschreiben hinausgehen.
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Das Jahressteuergesetz 2010
ist wie üblich ein überwiegend „technisches“ Gesetz. Im
Verlauf des Jahres 2009 hat sich in vielen Bereichen des
deutschen Steuerrechts ein fachlich notwendiger Ände-
rungsbedarf ergeben, der nun in über 200 Einzelmaßnah-
men umgesetzt wird.
Neben den überwiegend technischen Änderungen
enthält das Gesetz aber einige Maßnahmen, die steuer-
politisch wichtig sind. Im Bereich der Einkommensteuer
handelt es sich insbesondere um folgende Regelungen:
So wird die Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuer-
erklärung für sogenannte Saisonarbeitskräfte, also im
wesentlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei
Arbeitslöhnen unterhalb der Steuerbelastungsgrenze,
aufgehoben.
Danach soll in den Fällen, in denen der Jahresarbeits-
lohn unterhalb der Steuerbelastungsgrenze liegt, keine
Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung
mehr bestehen, obwohl ein Freibetrag zum Beispiel für
erhöhte Werbungskosten auf der Lohnsteuerkarte bzw.
Lohnsteuerbescheinigung eingetragen wurde. Die Rege-
lung soll für unbeschränkt und beschränkt Steuerpflich-
tige bereits ab dem Kalenderjahr 2009 gelten.
Die Jahresarbeitslohngrenze wurde anhand der einem
Arbeitnehmer zustehenden gesetzlichen Freibeträge er-
mittelt. Da bei Arbeitslöhnen innerhalb dieser Grenze
grundsätzlich keine Einkommensteuerschuld entsteht,
wird diese Regelung das Besteuerungsverfahren für alle
betroffenen Personen vereinfachen. Zum einen werden
die Steuerpflichtigen in diesen niedrigen Einkommens-
bereichen von der Abgabe einer Steuererklärung befreit.
Zum anderen werden die Finanzämter von dem Arbeits-
aufwand und den Verwaltungskosten entlastet, die durch
den Erlass eines Steuerbescheids entstehen, in dem keine
Steuer festzusetzen ist. Das vorgesehene Verfahren ist
insoweit bürgerfreundlich und bürokratieabbauend.
Des Weiteren wird bei der Steuerbarkeit der Transferent-
schädigungen im Profisport im Rahmen der beschränkten
Steuerpflicht der in der Vergangenheit praktizierte
Rechtszustand wiederhergestellt. Damit unterliegen Ver-
gütungen für Sportlertransfers von ausländischen Verei-
nen ins Inland nunmehr ab 2011 wieder der Besteuerung
nach dem Einkommensteuergesetz. Eine rückwirkende
Regelung ist nicht vorgesehen. Damit wird auch ein An-
liegen des Koalitionsvertrages umgesetzt, gesetzgeberi-
sche Maßnahmen mit Rückwirkung grundsätzlich zu ver-
meiden.
Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Aufhebung
der Befristung für die Übertragung stiller Reserven bei
der Veräußerung von Binnenschiffen. Nach bisheriger
Rechtslage können stille Reserven bei der Veräußerung
von Binnenschiffen lediglich bis einschließlich 2010
übertragen werden. Diese Befristung wird aufgehoben;
denn auch an der Investitionsförderung nach dem Ein-
kommensteuergesetz wird weiter festgehalten. Mit der
Weitergeltung dieses steuerlichen Anreizes zur – drin-
gend erforderlichen – Verjüngung der deutschen Binnen-
schifffahrtsflotte soll deren Konkurrenzfähigkeit im euro-
päischen Vergleich gewährleistet werden. Damit setzen
5446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
wir einen weiteren Punkt unserer Koalitionsvereinbarung
um.
Ebenfalls hervorzuheben ist die enthaltene Regelung
zur Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte. Durch
eine Ergänzung im Einkommensteuergesetz soll gesetz-
lich klargestellt werden, dass private Veräußerungsge-
schäfte mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs, zum
Beispiel Gebrauchtfahrzeuge, innerhalb der Haltefrist
von einem Jahr nicht steuerbar sind.
Im Bereich der elektronischen Lohnsteuerabzugs-
merkmale sollen Aktualisierungen und Anpassungen er-
folgen, da die ursprünglich vorgesehene Einführung der
elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale, ELStAM,
im Kalenderjahr 2011 noch nicht erfolgen kann.
Daher sind Übergangsregelungen erforderlich, die es
erlauben, dass der Lohnsteuerabzug in der Übergangszeit
ohne neue Lohnsteuerkarte erfolgen kann. Gleichzeitig
werden die Rechte des Arbeitnehmers hinsichtlich seiner
Datenhoheit gestärkt; denn der Arbeitnehmer kann in Zu-
kunft durch Mitteilung gegenüber dem Finanzamt be-
stimmen, wer Zugriff auf seine ELStAM-Daten hat.
Auch im Bereich der Umsatzsteuer sind steuerpoli-
tisch wichtige Regelungen hervorzuheben:
Zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs wird die
Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers bei der
Umsatzsteuer auf Lieferungen von Industrieschrott, Alt-
metallen und sonstigen Abfallstoffen sowie auf Leistun-
gen von Gebäudereinigern, § 13 b UStG, erweitert.
Durch die Rechtsänderungen sollen Umsatzsteueraus-
fälle auch durch betrügerische Geschäfte verhindert wer-
den.
Des Weiteren führen wir zur Vermeidung erheblicher
finanzieller Belastungen für den Kultursektor eine Ver-
jährungsregelung für die Ausstellung der für die Umsatz-
steuerbefreiung privater Kulturunternehmer erforderli-
chen Bescheinigung ein. Künftig beträgt die Frist für die
Erteilung oder Änderung derartiger Bescheinigungen
grundsätzlich nur noch vier Jahre. Damit wird die erfor-
derliche Rechtssicherheit für die Kulturveranstalter ge-
schaffen, die künftig nicht mehr befürchten muss, durch
nachträgliche Bescheidung rückwirkend die Vorsteuerab-
zugsberechtigung zu verlieren.
Ebenfalls hervorzuheben ist, dass im Erbschaft- und
im Grunderwerbsteuerrecht Lebenspartner künftig mit
Ehegatten steuerlich gleichgestellt werden. Im Erb-
schaftsteuerrecht gilt nunmehr für sie: gleiche Steuer-
klasse und gleicher Steuersatz wie bei Ehegatten. Auch
diese Maßnahme setzt ein Ziel des Koalitionsvertrages
um.
Fazit: Nach dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
bringt die Bundesregierung mit dem heute beratenen Ge-
setzesvorhaben ein weiteres großes Steuergesetz auf den
Weg. Auch mit diesem Vorhaben werden steuerpolitisch
wichtige Vorhaben umgesetzt. Daneben wird mit den
vorgenommenen Rechtsänderungen ein möglichst rei-
bungsloses Funktionieren des Besteuerungsverfahrens
gewährleistet. Das JStG 2010 dient damit auch der Si-
cherung des Steueraufkommens und steht daher im Ein-
klang mit dem Ziel der Haushaltskonsolidierung und der
gesamtstaatlich zu tragenden Finanzierungsverantwor-
tung.
Anlage 66
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Brücken bauen – Grundlagenforschung durch
Validierungsförderung der Wirtschaft nahe-
bringen
– Innovationslücke schließen – Zügig ein trag-
fähiges Konzept zur Stärkung der Innova-
tions- und Validierungsforschung vorlegen
(Tagesordnungspunkt 12)
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Arbeitgeber- und Un-
ternehmensverbände stellen gern Forderungen an die
Politik – auch im Bereich von Wissenschaft und For-
schung. Die Forschungsprämie Eins etwa geht auf eine
Anregung aus diesen Kreisen zurück und kann aufgrund
ihrer geringen Akzeptanz als gescheitert gelten. Eine
weitere Forderung von BDI und BDA ist die derzeit dis-
kutierte steuerliche Förderung von privaten Forschungs-
und Entwicklungsaufwendungen. Auch die hier verhan-
delte Validierungsförderung wurde von der Industrie ins
Gespräch gebracht. Sie wird allerdings ebenso von Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwa der Max-
Planck-Gesellschaft unterstützt. Was also ist anders an
dieser Art der Innovationsförderung?
Mit diesem Instrument soll die sogenannte Validie-
rungslücke geschlossen werden. Sie entsteht, weil die
Wissenschaft auf der einen und die private Wirtschaft
auf der anderen Seite unterschiedlich vorgehen. Wäh-
rend die Grundlagenforschung neues Wissen erarbeitet,
ohne sich durch einen bestimmten Zweck einengen zu
lassen, erwarten private Unternehmen einen möglichst
hohen Gewinn, erzielbar etwa durch technologische
Alleinstellungsmerkmale auf dem Markt. Ergebnisse
aus der Forschung sind daher für Unternehmen nur dann
interessant, wenn sie bei ihrer Umsetzung möglichst we-
nig riskieren und einen schnellen Return on Investment
erzielen können.
Von vielen Akteuren aus Wissenschaft und Wirtschaft
ist die Einschätzung zu hören, dass in den Universitäten
und Forschungsinstituten ein großes Potenzial an Erfin-
dungen und Innovationen brachliege. Dieses Potenzial
für kommerzielle Nutzung müsse gesichtet und so um
betriebswirtschaftliche Informationen angereichert wer-
den, dass es für Investoren attraktiv wird. Diese Aufbe-
reitung soll die Validierungsforschung übernehmen und
damit eine Scharnierfunktion zwischen dem wissen-
schaftlichen und dem privatwirtschaftlichen Interesse er-
füllen.
Die Koalition verfolgt in ihrem Antrag nun die Ab-
sicht, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
selbst das Geld für die Weiterentwicklung ihrer For-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5447
(A) (C)
(D)(B)
schungsergebnisse in die Hand zu geben. Dann soll ih-
nen noch ein Innovationsmentor an die Seite gestellt
werden, der kraft seiner Erfahrung diese Weiterentwick-
lung in die richtige Richtung lenkt. Dieses Konzept er-
kennt jedoch gerade nicht die von mir benannten unter-
schiedlichen Vorgehensweisen in Wissenschaft und in
Wirtschaft an. Eine Validierung von Forschungsergeb-
nissen scheitert in der Regel nicht an finanziellen Res-
sourcen. Vielmehr verfügen Wissenschaftler und Wis-
senschaftlerinnen oft nicht über das notwendige
betriebswirtschaftliche Know-how und die Kenntnis des
Marktes. Das gehört nicht zu ihrem Berufsbild und steht
häufig im Widerspruch dazu. Daher fehlt es oft auch
schlicht am Eigeninteresse. Gebraucht wird also eine
echte Scharnierfunktion zwischen Forschung und Markt.
Die Verlängerung der Forschung bis in den Markt ist
nicht erfolgversprechend, wie die Forschungsprämie
Eins bereits signalisiert hat. Daher unterstützt meine
Fraktion das Konzept der SPD, das eine externe Agen-
tur, besetzt mit wirtschaftserfahrenen Profis, vorsieht.
Diese sollen für die Wirtschaft interessante Forschungs-
ergebnisse aufbereiten. Wichtig ist dabei, dass jedoch
das Recht an Erfindungen nicht in deren Besitz überge-
hen soll.
Ich möchte jedoch auch zum sozialdemokratischen
Konzept kritische Hinweise geben: Solch einen Flop wie
die Forschungsprämie können wir uns nicht noch einmal
leisten. Wir haben keine Sicherheit, dass ein neues För-
derprogramm die sogenannte Validierungslücke tatsäch-
lich schließt. Probieren wir die Validierungsförderung
also erst einmal auf einem begrenzten Technologiefeld
aus – zum Beispiel im Bereich der Biotechnologie, wo
das Programm GO-Bio bereits Gründungen unterstützt –,
und werten wir nach einer Einführungsphase umfassend
die Erfahrungen mit dem neuen Instrument aus, bevor wir
über dessen weitere Ausdehnung entscheiden.
Und der zweite Hinweis: natürlich haben auch wir
Linke ein Interesse daran, dass die Ergebnisse aus der
Wissenschaft bei den Menschen ankommen – man
denke nur an Impfstoffe oder neue medizintechnische
Verfahren. Wissenstransfer ist gut und sinnvoll. Jedoch
darf es nicht sein, dass die Unternehmen ihre Gewinn-
erwartung auf Kosten des Steuerzahlers abschätzen las-
sen – durch die öffentlich geförderte externe Agentur –
und anschließend nur noch diese Gewinne einstreichen.
Wir erkennen an, dass die einzelnen Unternehmen vor
einem zu großen Risiko bei der Umsetzung neuen Wis-
sens zurückschrecken. In der Gesamtheit muss die In-
dustrie jedoch an den Kosten für die Validierungsförde-
rung beteiligt werden – zum Beispiel über eine
öffentlich-private Finanzierung des einzurichtenden
Fonds. Der Hightechgründerfonds hat gezeigt, dass ein
solches Konzept funktionieren kann. Wirtschaft und Ar-
beitgeber sollten auf diese Weise zeigen, dass mit der
Forderung an die Gesellschaft auch die Übernahme von
Verantwortung verbunden ist.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Koalitionsfraktionen haben einen Antrag zur Validie-
rungsforschung vorgelegt, zur verbesserten Bewertung
des Potenzials von Ergebnissen aus der öffentlichen
Grundlagenforschung für den Transfer in Richtung An-
wendung und Innovation. Die Zielsetzung ist richtig und
die Entwicklung eines entsprechenden Förderkonzepts
überfällig. Mehrfach haben Innovationsexperten in den
letzten Jahren bei der Validierungsforschung politischen
Handlungsbedarf identifiziert. Zuletzt mahnte 2009 die
Expertenkommission für Forschung und Innovation ein-
dringlich die Schließung dieser Förderlücke an. Im Bun-
deshaushalt sind schon seit zweieinhalb Jahren entspre-
chende Mittel veranschlagt. Aber was immer gefehlt hat,
war ein Konzept für diesen Forschungsansatz.
Wer nun gehofft hat, was lange währt, wird endlich
gut, sieht sich allerdings enttäuscht. Das, was CDU/CSU
und FDP vorgelegt haben, schrammt zielgenau am ei-
gentlichen Sinn der Validierungsforschung vorbei. Eine
Förderlücke besteht vor allem bei der Validierung von
High-Risk-Projekten, also bei Ergebnissen aus der
Grundlagenforschung, bei denen das Transfer- und Ver-
marktungspotenzial tatsächlich unklar ist, die Erfolgs-
chancen ungewiss sind und die eigene Bewertung durch
die Grundlagenforscher selbst kaum zu leisten ist. Für
die nötige Validierungsprüfung haben die Grundlagen-
forscherinnen und -forscher in den Hochschulen und öf-
fentlichen Forschungseinrichtungen weder die Mittel
noch das Wissen über Märkte und Marktchancen. Weil
der Ausgang der Bewertung aber so ungewiss ist, kön-
nen und wollen auch private Kapitalgeber und Unterneh-
men nicht oder noch nicht einspringen. Im Endeffekt
bleiben gerade die Chancen und Möglichkeiten aus sol-
chen High-Risk-Projekten sehr oft ungenutzt, auch wenn
sie den Weg für vielversprechende Innovationssprünge
öffnen könnten. Genau diese vielversprechenden, hoch-
gradig ungewissen Projekte wird die neue Fördermaß-
nahme des BMBF kaum erreichen.
Das schwerfällige Antragsverfahren, die Suche nach
einem Innovationsmentor, der ehrenamtlich tätig sein
soll, und die Durchführung der Prüfung werden echte
Grundlagenforscher eher abschrecken. Ihr VIP-Pro-
gramm könnte seinen eigentlichen Sinn genauso leicht
verfehlen wie zuvor schon die Forschungsprämie des
BMBF. Statt der raschen und effizienten Validierungs-
prüfung, damit potenzielle Kapitalgeber ihre Investitions-
entscheidung treffen können, steht bei ihrem Konzept
die möglichst umfangreiche Weiterentwicklung der In-
vention im Fokus. Im günstigsten Fall nehmen die
Grundlagenforscher aus den öffentlichen Forschungsein-
richtungen und Hochschulen den Aufwand auf sich, weil
sie sowieso mit der Marktgängigkeit und technischen
Machbarkeit rechnen. VIP wäre dann nichts anderes als
ein weiteres Innovationsförderprogramm, wie es sie für
Start-ups, Ausgründungen und den Anwendungstransfer
bereits gibt. Diese Gefahr ist dem BMBF durchaus be-
wusst. Sonst würden Sie nicht darauf hinweisen, dass die
Antragsteller doch zuerst prüfen sollen, ob es nicht
schon andere, europäische, nationale oder bundesländer-
spezifische Förderprogramme gibt. Die neue Maßnahme
fördert also nicht vorrangig echte Validierungsfor-
schung, sondern bestenfalls die Weiterentwicklung be-
reits vorvalidierter Vorhaben. Statt Brücken zu bauen
– wie der Antrag der Koalitionsfraktionen irreführender-
weise heißt –, finanziert die Regierung die Weiterfahrt
5448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
(A) (C)
(D)(B)
auf bereits durch normale Transferprogramme gut be-
gleiteten Wegen.
Wir lehnen daher den Antrag der Koalitionsfraktionen
ab. Ihr Konzept geht am Problem vorbei. Der Antrag der
SPD-Fraktion erscheint uns besser geeignet, die Validie-
rung hoch ungewisser Ergebnisse aus der Grundlagen-
forschung zu fördern. Wir befürworten daher, das Kon-
zept der SPD auszuprobieren.
Anlage 67
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des
Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer
Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts
– Antrag: Die revidierte Fassung des Europäi-
schen Übereinkommens über die Adoption
von Kindern unterzeichnen
(Tagesordnungspunkt 14 a und b)
Ute Granold (CDU/CSU): Nachdem wir uns bereits
in der vergangenen Sitzungswoche mit verschiedenen
Aspekten der Gleichstellung von Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft befasst haben, beraten wir heute
speziell über das Adoptionsrecht eingetragener Lebens-
partnerschaften. Hierzu liegt ein Gesetzentwurf der Grü-
nen vor. Auch zu der Frage der gemeinsamen Adoption
habe ich mich schon in der vergangenen Debatte geäu-
ßert. Deshalb will ich mich an dieser Stelle nicht im Ein-
zelnen wiederholen. Erlauben Sie mir dennoch eine An-
merkung:
Ich habe die rechtlichen Verbesserungen für eingetra-
gene Lebenspartnerschaften der vergangenen zehn Jahre
nicht als Verdienst der Union reklamiert. Mir war es le-
diglich wichtig festzustellen, dass die in diesem Bereich
vorgenommenen zahlreichen Veränderungen auch ein-
mal zur Kenntnis genommen und von den Betroffenen
entsprechend gewürdigt werden.
Unsere Ablehnung des Volladoptionsrechts ist keines-
wegs Ausdruck eines nicht mehr zeitgemäßen Gesell-
schaftsbildes. Wir nehmen gesellschaftliche Veränderun-
gen sehr wohl zur Kenntnis und reagieren hierauf auch
im erforderlichen Maß. Dies geschah zuletzt zum Bei-
spiel bei der Reform des Unterhaltsrechts, und das wer-
den wir auch bei der jetzt anstehenden Reform des ge-
meinsamen Sorgerechts nichtehelicher Eltern tun.
Anders als bei der rechtlichen Ausgestaltung der einge-
tragenen Lebenspartnerschaften stehen beim Adoptions-
recht ausschließlich die Interessen der Kinder und nicht
die der betroffenen Erwachsenen im Vordergrund. Ge-
rade das ist für mich Ausdruck einer modernen Gesell-
schaftspolitik. Deshalb lehnen wir das hier geforderte
gemeinsame Adoptionsrecht ab.
Wenn ich mir die Diskussion der letzten Jahre – aber
auch den heute zur Beratung anstehenden Gesetzent-
wurf – anschaue, muss ich feststellen, dass es den An-
tragstellern darin im Wesentlichen um die Bedürfnisse
und Interessen der potenziellen „Eltern“ geht. Es wird
von Diskriminierung Homosexueller und bestimmter
Lebensformen gesprochen und Gleichberechtigung durch
den Gesetzgeber eingefordert. Und wo bleiben die Kin-
der? Wo bleibt das Kindeswohl?
Ganz offensichtlich sind die Rechte und Interessen
der Kinder in dieser ganzen Diskussion allenfalls zweit-
rangig. Das ist höchst problematisch; denn es sind die
Kinder, die durch eine Adoption am stärksten betroffen
sind. Mir scheint es, dass sich diejenigen, die sich zu die-
sem Thema äußern, der Tragweite einer Adoption gar
nicht bewusst sind.
Eine Adoption ist der wohl einschneidendste Rechts-
akt, den unsere Rechtsordnung kennt. Dieser Umstand
erfordert von uns eine besondere Sensibilität, Vorsicht
und Zurückhaltung. Das vermisse ich hier leider. Ihnen
geht es offensichtlich immer nur um die Bedürfnisse und
Lebensverwirklichung der betroffenen Erwachsenen.
Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal in Er-
innerung rufen: Bei Fragen der Adoption geht es um die
Kinder. Die Diskussion, die wir führen, darf sich daher
nicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Erwachse-
nen reduzieren. Einziger Maßstab für uns als Gesetzge-
ber muss vielmehr das Kindeswohl sein. Dies betrifft
übrigens nicht nur das Recht eingetragener Lebenspart-
nerschaften, sondern alle Bereiche des Familienrechts.
Ich hatte bereits die Reform des Unterhaltsrechts in der
vergangenen Legislaturperiode oder die jetzt anstehende
gesetzliche Neuregelung des gemeinsamen Sorgerechts
nichtverheirateter Eltern erwähnt. Ich würde mich
freuen, wenn Sie – liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, aber auch der FDP – das einmal aner-
kennen würden.
Die entscheidende Frage lautet also: Dient eine ge-
setzliche Regelung, die den Weg für eine gemeinsame
Adoption durch eingetragene Lebenspartnerschaften ge-
nerell ermöglicht, dem Kindeswohl oder nicht? Ich
meine, nein.
Es entspricht unserer festen Überzeugung, dass Kin-
der für eine gedeihliche Entwicklung Vater und Mutter
brauchen. Keineswegs möchte ich damit in Abrede stel-
len, dass sich nicht auch Homosexuelle rührend, aufop-
ferungsvoll und voller Liebe um Kinder kümmern wol-
len und können. Dies ändert aber nichts an der Tatsache,
dass die unterschiedliche Geschlechtlichkeit der elterli-
chen Bezugspersonen für die Persönlichkeitsentwick-
lung der Kinder nun einmal äußerst wichtig ist. Das
sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Es be-
steht auch in anderen Bereichen – ich denke etwa an das
Umgangsrecht bei alleinerziehenden Müttern oder Vä-
tern – nicht nur in diesem Haus Konsens, dass es für die
Entwicklung des Kindes wichtig ist, auch eine Bindung
zu seinem Vater bzw. seiner Mutter aufzubauen.
Die Antragsteller verweisen vor diesem Hintergrund
nun auf eine in der vergangenen Legislaturperiode vom
Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Studie,
die belegen soll, dass das Aufwachsen in gleichge-
schlechtlichen Lebenspartnerschaften nicht dem Kindes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5449
(A) (C)
(D)(B)
wohl zuwiderlaufe. Diese Interpretation ist allerdings
einseitig, selektiv und ignoriert im Übrigen wesentliche
Erkenntnisse der Studie.
Wie ich bereits in der vergangenen Debatte ausge-
führt habe, erfahren Kinder von gleichgeschlechtlichen
Eltern häufig Stigmatisierungen. Das mag vielleicht be-
dauerlich sein, ist aber eine Tatsache. Auch die zitierte
Studie „Die Lebenssituation von Kindern in gleichge-
schlechtlichen Lebenspartnerschaften“ hat diesbezüglich
bestätigt: Jedes zweite der betroffenen Kinder und Ju-
gendlichen gab an, dass es aufgrund seiner Lebenssitua-
tion Benachteiligungen erfahren habe. Wir dürfen insbe-
sondere sensible Kinder und Jugendliche, die in der
Pubertät sind, einer solchen Belastung nicht aussetzen.
Der Staat hat hier eine Schutzpflicht und muss daher im
Zweifel von entsprechenden Gesetzesänderungen abse-
hen.
Außerdem sind die Ergebnisse der Studie gerade in
Bezug auf die jetzt diskutierte Frage der Volladoption
auch insofern nicht aussagekräftig, als Kinder, die im
Wege der Fremdkindadoption angenommen worden
sind, in der Gesamtstichprobe der Untersuchung seltene
Ausnahmefälle bilden. So haben gerade einmal 13 von
693 Familien, also weniger als zwei Prozent, ihr Kind im
Wege der Fremdkindadoption angenommen. Entspre-
chend bewertet die Studie selbst die Aussagekraft ihrer
Ergebnisse für diese spezielle Familienform infolge der
geringen Datenbasis als eingeschränkt.
Die Antragsteller argumentieren zudem, dass ein
Recht auf Adoption auch verfassungsrechtlich geboten
sei. Dabei verweisen sie insbesondere auf einen Be-
schluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsge-
richts vom Juli 2009.
Besagte Entscheidung befasst sich aber konkret nur
mit der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Ar-
beitnehmer des öffentlichen Dienstes. Des Weiteren be-
schränkt das Bundesverfassungsgericht die Feststellung
der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung
auf das Feld der Ehe und trennt hiervon den Schutzbe-
reich der Familie gerade ausdrücklich ab, der dann eröff-
net sei, wenn Kinder hinzukämen. Der Prüfungsmaßstab
bei Fragen des Adoptionsrechts ist damit von vornherein
ein anderer. Hinzu tritt hier als maßgeblicher Aspekt das
Kindeswohl im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Grundgeset-
zes. Ein gesetzgeberischer Bedarf im Bereich des Adop-
tionsrechts ist damit durch die besagte Entscheidung in
keiner Weise zu begründen.
Soweit die Antragssteller sich nunmehr auf ein Gut-
achten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundesta-
ges beziehen, das die Auffassung vertritt, die Entschei-
dung gebiete eine Gleichstellung auch im Bereich des
Adoptionsrechts, weise ich darauf hin, dass derselbe Au-
tor nur einige Monate zuvor in einem Infobrief des Wis-
senschaftlichen Dienstes, den er zugleich im eigenen
Namen in einer Fachzeitschrift veröffentlich hat, genau
das Gegenteil feststellt. Dort kommt er nämlich – ich zi-
tiere – zu folgendem Ergebnis: „Es ist nur ein Rege-
lungsbereich ersichtlich, auf den die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts keine unmittelbare Auswir-
kung hat: Das Recht der gemeinschaftlichen Adoption
nach §§ 1754 ff. Bürgerliches Gesetzbuch.“ Ich denke,
angesichts dieses offensichtlichen Widerspruchs hilft
uns der Wissenschaftliche Dienst hier kaum weiter.
Aber es lohnt sich, einen Blick auf die Grundsatzent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr
2002 zu werfen. Da heißt es ganz eindeutig:
„Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz (…) gebietet als ver-
bindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich
des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentli-
chen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatli-
che Ordnung.“ Und weiter: „Nur für sie besteht ein ver-
fassungsrechtlicher Auftrag zur Förderung.“ Darüber
hinaus stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass es
dem Gesetzgeber zwar freistehe, anderen Einstandsge-
meinschaften als der Ehe neue Möglichkeiten zu eröff-
nen, ihre Beziehung in eine Rechtsform zu bringen,
wenn er dabei eine Austauschbarkeit der jeweiligen
rechtlichen Gestalt mit der Ehe vermeidet. Zugleich
stellt das Bundesverfassungsgericht jedoch ganz klar
fest: „Ein verfassungsrechtliches Gebot, solche Mög-
lichkeiten zu schaffen, besteht jedoch nicht.“
Die einfache Lektüre der Gerichtsentscheidung zeigt
also, dass es keinesfalls verfassungsrechtlich geboten ist,
eingetragene Lebenspartnerschaften auch im Bereich des
Adoptionsrechts mit der Ehe gleichzustellen.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den heute
ebenfalls zur Beratung stehenden Antrag zum Europäi-
schen Übereinkommen vom 24. April 1967 über die
Adoption von Kindern eingehen. Die Antragsteller ge-
hen zu Recht davon aus, dass ein Adoptionsrecht für
gleichgeschlechtliche Paare im Widerspruch zum besag-
ten Übereinkommen stünde. Nach geltendem Recht
wäre es also dem deutschen Gesetzgeber völkerrechtlich
verwehrt, eine entsprechende Gesetzesänderung zu be-
schließen. Die jetzt vom Europäischen Ausschuss für
rechtliche Zusammenarbeit ausgehandelte Vertragsände-
rung würde es aber den Mitgliedstaaten ermöglichen,
auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit der
gemeinsamen Adoption einzuräumen.
Die Bundesregierung hat diese Vertragsänderung je-
doch aus guten Gründen bisher weder gezeichnet noch
ratifiziert. Für die Union kann ich sagen: Wir lehnen auf
nationaler Ebene eine Gesetzesänderung ab. Aus diesem
Grund besteht für uns auch kein Anlass, die Vertragsän-
derung in absehbarer Zeit zu zeichnen.
Johannes Kahrs (SPD): Wir debattieren hier und
heute die Frage der Angleichung des Adoptionsrechtes
im Hinblick auf Ehe und eingetragene Lebenspartner-
schaft. Bereits heute leben in jeder achten eingetragenen
Lebenspartnerschaft Kinder. Neben den leiblichen Kin-
dern eines der Partner, für die es die Möglichkeit der
Stiefkindadoption gibt, handelt es sich dabei auch um
Adoptiv- oder Pflegekinder eines der beiden Partner.
Diesen Kindern der letztgenannten Gruppe verwehren
CDU und CSU wesentliche Rechte. Sie sollen weder
Unterhaltsansprüche gegenüber beiden Elternteilen ha-
ben noch von beiden Eltern erben dürfen. Diese Kinder
5450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
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sollen also, geht es nach der Union, schlechter behandelt
werden als andere.
Absurderweise wird dies mit dem Wohl der Kinder
begründet. In der Sitzung vom 17. Juni wurde hier der
Antrag über die Gleichstellung eingetragener Lebens-
partnerschaften der SPD-Fraktion beraten. Dabei agi-
tierte die Kollegin Granold von der CDU vehement ge-
gen jede rechtliche Angleichung im Adoptionsrecht. Ich
zitiere: „Vieles spricht dafür, dass Kinder von gleichge-
schlechtlichen Ehen“ – und ja, Frau Granold verwendete
tatsächlich das Wort „Ehe“ – „dass Kinder von gleichge-
schlechtlichen Ehen häufiger Stigmatisierungen erfahren
als andere.“ Liebe Frau Granold, liebe Kollegen von
CDU und CSU, woran liegt es wohl, dass es solche Dis-
kriminierungen gibt? Nicht zuletzt natürlich daran, dass
ihre Partei es immer entschieden abgelehnt hat, Schwu-
len und Lesben die gleichen Rechte zuzugestehen wie
anderen Bürgern dieses Landes. Frau Granold hat in ih-
rer damaligen Rede die vielen Verbesserungen, die es im
Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung von Schwulen
und Lesben und der eingetragenen Lebenspartnerschaf-
ten in den letzten Jahren gegeben hat, aufgezählt. Sie hat
dabei vergessen hinzuzufügen, dass jede einzelne Ver-
besserung dabei gegen den zähen Widerstand ihrer eige-
nen Partei erkämpft werden musste. Über die Jahre
kamen die schlimmsten und abfälligsten öffentlichen
Äußerungen von Politikern über Schwule und Lesben
zuverlässig aus den Reihen der Union. Jedes Mal goss
man damit Öl ins Feuer der Vorurteile. Die etwaige Stig-
matisierung von Kindern geht somit auch auf ihr Konto,
liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU.
Kinder können nicht nur wegen des Geschlechtes ih-
rer Eltern gehänselt werden. Infrage kommen leider auch
Herkunft, Religion, soziale Stellung und Besitzstand.
Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, den
betreffenden Eltern eine gemeinsame Adoption zu ver-
bieten. Die Erklärung der Kollegin Granold trägt der
Tatsache nicht Rechnung, dass es in zahlreichen gleich-
geschlechtlichen Partnerschaften schon lange Kinder
gibt. Wie kann es für das Wohl des Kindes förderlich
sein, wenn im Fall des Falles ein Elternteil nicht unter-
haltspflichtig ist? Wie können Sie, liebe Unionskollegen,
rechtfertigen, dass diese Kinder erbrechtlich nicht als
Kinder zählen dürfen? Wie können Sie rechtfertigen,
dass Sie Waisen lieber weiter im Heim sehen als bei El-
tern, die zufällig dasselbe Geschlecht haben? Wie kön-
nen Sie hier eigentlich mit dem Wort „Kindeswohl“
argumentieren? Ihre Argumente sind nicht fundiert,
nicht durchdacht und ganz einfach zu widerlegen.
Die Kollegin Granold erwähnte noch, dass Sie die Er-
gebnisse der in der vergangenen Legislaturperiode von
Bundesjustizministerin Zypries in Auftrag gegebenen
Studie ablehnen. Die Studie hat keine gravierenden
Nachteile für Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen El-
tern aufwachsen, feststellen können. Sicherlich mag es
bei dieser Studie gewisse Einschränkungen aufgrund der
zur Verfügung stehenden Datenbasis gegeben haben.
Dabei blenden Sie aber aus, dass aus anderen Ländern
ebenfalls zahlreiche Studien vorliegen, die alle zum sel-
ben Ergebnis kommen: Es gibt keine psychologischen
oder signifikanten sozialen Nachteile für Kinder mit
gleichgeschlechtlichen Eltern. Im Gegenteil: Gerade die
adoptierten Kinder sind einer aktuellen Studie aus den
USA zufolge überdurchschnittlich gut materiell abgesi-
chert, weil es sich immer um Wunschkinder handelt und
die Entscheidung zur Adoption vorher gut abgewogen
wird. Frau Granold selbst hat darauf hingewiesen, dass
gleichgeschlechtliche Eltern häufig einen überdurch-
schnittlich hohen sozialen Status haben.
Sie sehen: Keines der Argumente von CDU und CSU
ist stichhaltig. Sie, liebe Kollegen von der Union, lehnen
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne nur aus ei-
nem Grund ab: Sie bringen es einfach nicht fertig, ihre
Vorurteile rational zu beleuchten und über Bord zu wer-
fen. Vier von fünf Fraktionen, darunter Ihr Koalitions-
partner, sind in dieser Sache einer Meinung. Für alle au-
ßer für die Union gilt die Gleichstellung als selbst-
verständlich und lange überfällig. Sehen Sie endlich ein,
dass Sie in dieser Frage in der Minderheit sind. Sehen
Sie ein, dass auch die Rechtsprechung, auch auf europäi-
scher Ebene, sich in der Vergangenheit nicht Ihrer, son-
dern stets unserer Position angenähert hat. Sehen Sie ein,
dass die Zeit gegen Sie arbeitet. Ich bin zuversichtlich,
dass dieser leidige Streit in einigen Jahren Geschichte
ist. Irgendwann wird man über die jetzige Haltung der
Union nur noch lachen. Bevor Sie sich also völlig der
Lächerlichkeit preisgeben: Geben Sie sich einen Ruck,
handeln Sie im Interesse der Kinder und setzen Sie die
Gleichstellung der Lebenspartnerschaften in allen
Rechtsbereichen durch.
Stephan Thomae (FDP): Ihnen allen ist bekannt,
dass die FDP immer beharrlich und unbeirrbar dafür ein-
getreten ist, dass jeder Mensch seinen Lebensentwurf
verwirklichen kann. Dies galt immer und gilt auch wei-
terhin im Hinblick auf unterschiedliche sexuelle Orien-
tierungen.
Die FDP hat dabei ihr Augenmerk immer auf das
Machbare gelegt. Es war und ist uns immer wichtig, zu
fragen, was politisch umsetzbar ist. Mit Schaufensteran-
trägen kann man manchmal Teile der Öffentlichkeit be-
eindrucken. Aber entscheidend ist, sein Ziel im Auge zu
behalten, und, wenn man es nicht sofort erreichen kann,
sich ihm Schritt für Schritt zu nähern. Dies tut die FDP.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag mit der CDU
und der CSU vereinbart, den nächsten Schritt zu unter-
nehmen, um die Schlechterstellung gleichgeschlechtli-
cher Paare im Beamtenrecht zu korrigieren: Neben der
Gleichstellung von Lebenspartnern im Rahmen des
BAföG haben wir im Jahressteuergesetz 2010 sowohl
die Gleichstellung von Lebenspartnern bei den Steuer-
sätzen im Rahmen der Erbschaft- und Schenkungsteuer
als auch die Befreiung des Lebenspartners in der Grund-
erwerbsteuer vorgesehen.
Das ist pragmatische Politik, die den Betroffenen
mehr nützt als zur Schau getragene Maximalforderun-
gen, wie zum Beispiel im Antrag der Linken, der viel-
leicht viel Beifall finden mag und hohe Erwartungen
weckt, aber dann in der gesellschaftlichen und politi-
schen Diskussion Widerstand hervorruft.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5451
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Und auch der SPD vermag ich heute kein viel besse-
res Zeugnis auszustellen. Heute beglückt uns die SPD
mit ihren guten Ideen. Das Lebenspartnerschaftsgesetz
ist 2001 zu rot-grüner Regierungszeit in Kraft getreten.
Und es fällt uns Liberalen auch gar kein Zacken aus der
Krone, das anzuerkennen.
Die FDP hat damals dem Gesetz nicht zugestimmt,
weil sie selbst schon 1999 einen eigenen Vorschlag in
den Bundestag eingebracht hatte. Es ist allerdings, in
manchen Teilen, unvollständig geblieben. Ich nenne hier
Lücken in den Bereichen des Adoptionsrechts, des Be-
amtenrechts, des Einkommensteuerrechts, des Erb-
schaftsteuerrechts.
2004 hat die FDP dem Lebenspartnerschaftsergän-
zungsgesetz zugestimmt. Umstrittenster Punkt darin war
die Stiefkindadoption. Der Freistaat Bayern hatte des-
halb damals auch gegen dieses Ergänzungsgesetz einen
Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht
erhoben. Nachdem sich nunmehr die FDP in der Bayeri-
schen Staatsregierung befindet, hat der Freistaat Bayern
diesen Normenkontrollantrag zurückgezogen.
Und daran, dass die Union mit uns nun in dieser Le-
gislatur die nächsten Schritte tun wird, kann man erken-
nen: CDU, CSU und FDP tun gemeinsam weitere
Schritte.
Summa summarum kann ich Ihnen versichern, dass
diese Regierung einen klaren rechts- und innenpoliti-
schen Kompass besitzt und eine Justizministerin, die mit
diesem Kompass umzugehen versteht. Ein Kompass ist
kein Zauberstab, der den Wanderer gleich ans Ziel zau-
bert. Aber wer seinem Kompass vertraut und unbeirrt
Schritt für Schritt macht, der nähert sich unweigerlich
seinem Ziel. Seien Sie gewiss: Die Regierungskoalition
befindet sich auf dem richtigen Weg.
Michael Kauch (FDP): Die FDP hat bereits im Jahr
2004 einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag
eingebracht, mit dem eingetragene Lebenspartner das
volle Adoptionsrecht erhalten sollten. Wir haben die
Forderung erneut erhoben, als die damalige rot-grüne
Bundesregierung das Lebenspartnerschaftsergänzungs-
gesetz eingebracht hatte.
Damals hatte es die ehemalige Bundesjustizministerin
Brigitte Zypries von der SPD abgelehnt, das volle Adop-
tionsrecht zu beschließen. Auch die damalige bündnis-
grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages,
Antje Vollmer, hielt eine flammende Rede gegen das
Adoptionsrecht für Lesben und Schwule. Heraus kam
dann ein Kompromiss: die Stiefkindadoption als Mög-
lichkeit im Lebenspartnerschaftsgesetz – getragen von
allen Fraktionen mit Ausnahme der Union.
In den zurückliegenden Monaten hat die FDP in der
Gleichstellungspolitik für Lesben und Schwule mehr
durchgesetzt als die SPD in den vier Jahren Regierung
zuvor. Für das Beamtenrecht haben wir im Koalitions-
vertrag die volle Gleichstellung von Lebenspartnern mit
Ehegatten vereinbart, im Steuerrecht einen Abbau der
Benachteiligungen. Die lange versprochene und von
Rot-Grün und Schwarz-Rot niemals realisierte Magnus-
Hirschfeld-Stiftung wird Realität. In der Entwicklungs-
politik werden neue Akzente für die Menschenrechte
Homosexueller gesetzt.
Lediglich bei den Regenbogen-Familien sind wir an
der starren Haltung unseres Koalitionspartners geschei-
tert. Wir werden deshalb den Dialog mit den Kollegin-
nen und Kollegen der Union fortführen. CDU und CSU
haben sich in anderen Fragen der Familienpolitik bereits
bewegt. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass
das auch hier der Fall sein wird.
Alle erziehungswissenschaftlichen Studien zeigen:
Kinder in schwulen oder lesbischen Beziehungen wach-
sen genauso gut und selbstbewusst auf wie in heterosexu-
ellen. Zudem wachsen seit mehr als zehn Jahren Kinder
in gleichgeschlechtlichen Pflegefamilien auf – ebenfalls
ohne irgendwelche Probleme.
Die FDP steht weiterhin zum vollen Adoptionsrecht
für eingetragene Lebenspartner. Auch wenn es nicht ge-
lungen ist, diese Forderung im Koalitionsvertrag zu ver-
ankern, ist und bleibt sie Ziel der Liberalen. Wir können
dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zum
Adoptionsrecht allerdings nicht zustimmen; denn wech-
selndes Abstimmungsverhalten wäre ein Bruch des Ko-
alitionsvertrages. Die Ablehnung erfolgt aber ausdrück-
lich nicht aus inhaltlichen Gründen.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Seit Anfang 2000
verfolgen Millionen Menschen nahezu jeden Sonntag
das Heranwachsen von Felix. Felix ist kein leichtes
Kind. Er ist HIV-Positiv, mal introvertiert, mal rebel-
lisch, mal hat er eine Freundin, mal keine. Zeitweise
hing er dem Okkultismus an, und er treibt auch sonst viel
Unfug. Er wächst innerhalb einer Familie auf, die ihn
liebevoll durch die Wirren der Pubertät geleitet. Seine
Eltern heißen Carsten und Käthe. Käthe ist ein Spitz-
name für Georg. Carsten und Georg haben Felix im
Jahre 2003 gemeinsam adoptiert, nachdem sie sich zuvor
das Jawort gaben. Etwa 3 bis 5 Millionen Menschen in
Deutschland sehen dies Woche für Woche in der Serie
„Lindentraße“. Felix ist in einer gesicherten Position. Er
hat Unterhalts- und Erbansprüche gegenüber beiden El-
ternteilen. Diese Position hat Felix in der Fernsehwelt.
In der realen Welt hätte Felix dies nur, wenn Georg
oder Carsten sein leiblicher Vater wäre; denn dann
hätte der andere Lebenspartner die Möglichkeit der
Stiefkindadoption. Ansonsten bleibt ihm dies verwehrt.
Es geht um das Wohl des Kindes, und dies betrifft in
Deutschland schon jedes achte Kind. Deshalb halte ich
es nicht nur für unverständlich, sondern für unverant-
wortlich, wenn die CDU/CSU sich nicht nur einer Rege-
lung, sondern sogar einer Diskussion einer realen Pro-
blemlage verschließt. So wie es die Kollegin Ute
Granold von der CDU am 17. Juni zu Protokoll gab, zu
unserem Antrag „Öffnung der Ehe“ für Lesben und
Schwule. Wie kann es sein, dass sich die CDU/CSU-
Fraktion sogar jeglicher Diskussion verweigert? Das ist
doch ein Unding. Damit bedienen Sie sich Ressenti-
ments gegen Lesben und Schwule und zeigen, dass Ih-
nen das Wohl und die Rechtssicherheit von Kindern egal
sind.
5452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
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Die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gege-
bene Studie zur Lebenssituation von Kindern in gleichge-
schlechtlichen Lebensgemeinschaften kam 2009 zu dem
absehbaren Ergebnis, dass lesbische Mütter und schwule
Väter in ihrer elterlichen Kompetenz heterosexuellen El-
tern in nichts nachstehen. Die feststellbaren Unter-
schiede im Erziehungsverhalten und Familienklima för-
dern ausnahmslos das Wohl des Kindes. Art und Umfang
dieser umfangreichen Studie lassen keine Zweifel auf-
kommen; wir benötigen schnellstmöglich ein gemeinsa-
mes Adoptionsrecht für Lesben und Schwule – im Inte-
resse der Kinder. Meine Damen und Herren von der
FDP, wenn Sie eine Bürgerrechtspartei nicht nur der
Worte, sondern auch der Taten sein wollen, dann werden
Sie endlich aktiv. Sie können nicht bloß in Interviews
das gemeinsame Adoptionsrecht fordern und dann im
Parlament wieder einmal den Konservativen nachgeben.
Bei der Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers konnten
und wollten Sie sich durchsetzen, wenn es um das Wohl
der Kinder geht, kneifen sie. Das ist feige.
Die Linke fordert, dass die Bundesrepublik auch die
revidierte Fassung des Europäischen Übereinkommens
über die Adoption von Kindern unterzeichnet, welches
allen Kindern zugute kommt. Deutschland würde ein
Zeichen setzen, dass es mit der Zeit geht. Dieses überar-
beitete Abkommen ermöglicht unter anderem den Unter-
zeichnern die Möglichkeit auch gleichgeschlechtlichen
Partnern ein Adoptionsrecht zuzubilligen. Lassen sie uns
zum Wohle der Kinder handeln. Es bedarf einer Lösung,
ob mit diesem Gesetzentwurf oder durch die Zustim-
mung unseres Antrags „Öffnung der Ehe“. Was für Mil-
lionen Fernsehzuschauer normal ist, sollte endlich auch
Lebensrealität werden.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
„Es hat nicht sollen sein.“ – Das war die Antwort des
Bundesaußenministers Guido Westerwelle im Bravo-In-
terview auf die Frage, ob er sich nicht Kinder gewünscht
hätte. Was er nicht gesagt hat: Es ist der Gesetzgeber in
Deutschland, der ihm und seinem Partner diesen Wunsch
verweigert, und das, obwohl ohne Zweifel ein Kind im
Haushalt Westerwelle sehr behütet wäre und einen guten
Start in sein Leben bekommen hätte. Aber homosexuelle
Paare dürfen in Deutschland keine Kinder adoptieren,
obwohl längst klar ist, dass Kinder in gleichgeschlechtli-
chen Partnerschaften genauso liebevoll erzogen werden
wie in der klassischen Ehe. Das zeigt ein Blick in die Le-
benswirklichkeit der Menschen: In vielen gleichge-
schlechtlichen Partnerschaften wachsen schon heute
Kinder auf. Der Mikrozensus des statistischen Bundes-
amtes geht davon aus, dass in knapp jeder achten schwu-
len oder lesbischen Partnerschaft Kinder leben. Das
Bundesjustizministerium hat untersuchen lassen, wie
diese Familien zurechtkommen. Und siehe da: Es gibt
keinen Hinweis darauf, dass Kinder aus Regenbogenfa-
milien irgendwelche Nachteile hätten. Die repräsentative
Studie zeigt, dass Lesben und Schwule gute Eltern sein
können und genauso Verantwortung für Kinder überneh-
men.
Diese Auffassung teilt die Mehrheit der Deutschen.
Am Dienstag dieser Woche hat das renommierte Mei-
nungsforschungsinstitut respondi über 1 000 Menschen
in Deutschland gefragt, ob nach ihrer Auffassung homo-
sexuellen Paaren ermöglicht werden sollte, Kinder zu
adoptieren. 61 Prozent der Befragten, die repräsentativ
für alle Deutschen sind, haben dies bejaht – und die Zu-
stimmung geht über alle Bevölkerungsgruppen hinweg.
Männer wie Frauen, ob selbst Kinder im Haushalt oder
nicht, geringe Einkommen oder hohe, hoher formaler
Bildungsgrad oder geringer – in allen Bevölkerungs-
gruppen hat sich eine deutliche Mehrheit dafür ausge-
sprochen, hier zu einer Gleichstellung zu kommen. Dies
sollte auch den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU-Fraktion zu denken geben.
Meine Fraktion stellt heute zwei Anträge zur Debatte,
die der Lebenswirklichkeit in Deutschland und den
Wünschen der Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger
Rechnung tragen. Unser vorgeschlagener Gesetzentwurf
ermöglicht die Adoption durch Menschen, die eine ein-
getragene Lebenspartnerschaft eingegangen sind. Zu
Recht verweisen alle Fraktionen und Parteien darauf,
dass beim Adoptionsrecht das Wohl des Kindes im Vor-
dergrund steht. Bei den in Lebenspartnerschaften leben-
den Kindern handelt es sich um eigene Kinder, aber auch
um gemeinsame Pflegekinder oder Adoptivkinder einer
Partnerin oder eines Partners. Obwohl zwei Erziehungs-
personen für das Kind sorgen, werden die Kinder durch
fehlende Ansprüche gegenüber den faktischen Eltern
nach dem geltenden Unterhalts- oder Erbrecht benach-
teiligt. Gegenüber gemeinschaftlich adoptierten Kin-
dern verheirateter Eltern fehlt ihnen die doppelte Sicher-
heit. Auch im Alltag erfahren Kinder in solchen
Familien Nachteile durch die fehlende rechtliche Aner-
kennung als Familie. Diese Diskriminierung ist hinsicht-
lich des Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, da der Schutz der
Familie und das Wohl des Kindes die rechtliche Absi-
cherung dieser faktischen Eltern-Kind-Beziehungen ge-
bieten.
Niemand hat ein Recht auf ein Kind. Kinder haben
vielmehr ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Aufmerksam-
keit und Geborgenheit. All dies können sie bei gleichge-
schlechtlichen Eltern grundsätzlich in gleicher Weise
erfahren wie bei verschiedengeschlechtlichen Paaren.
Lesben und Schwule sind genauso verantwortliche El-
tern wie andere Menschen. Ein genereller Ausschluss
vom gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit
von Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus
ideologischen Gründen pauschal infrage. Diese willkür-
liche Diskriminierung ist sachlich nicht gerechtfertigt
und schadet dem Kindeswohl, indem sie die Stigmatisie-
rung bereits bestehender Familien mit gleichgeschlecht-
lichen Eltern fördert und den Kreis der am besten geeig-
neten Adoptiveltern künstlich verknappt. Ob eine
Adoption im konkreten Fall dem Wohl des Kindes dient,
muss bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften
genauso wie bei Ehepaaren jeweils im Einzelfall der
sachkundigen Entscheidung des Vormundschaftsgerichts
überlassen bleiben.
In Europa isoliert sich die Bundesregierung mit ihrer
Verweigerungshaltung immer mehr. In acht Staaten ist es
gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt, gemeinschaftlich
zu adoptieren. Neun weitere Staaten haben das revidierte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 51. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010 5453
(A) (C)
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europäische Übereinkommen zur Adoption bereits ge-
zeichnet, das es den Mitgliedstaaten ermöglicht, die
Adoption durch Schwule und Lesben zu gestatten. Die
Bundesregierung verweigert bis heute die Ratifizierung,
obwohl es gerade die ehemalige Bundesjustizministerin
Zypries war, die die Neuauflage vorangebracht hatte.
Der Antrag, den wir Grünen heute vorlegen, fordert die
Bundesregierung auf, ihre Blockadehaltung zu beenden.
Im Hohen Haus des Bundestages teilt die Mehrheit
der Abgeordneten unsere Auffassung – zumindest in der
Theorie. Gerade die FDP hat im Bundestagswahlkampf
offensiv die Änderung des Adoptionsrechtes zugunsten
von Lesben und Schwulen vertreten. Nun hat die Bun-
desjustizministerin angekündigt, das Adoptionsrecht ei-
ner umfassenden Reform zu unterziehen. Die Alters-
grenzen für potenzielle Eltern sollen gesenkt werden.
Nicht geplant ist dagegen, auch lesbischen oder schwu-
len Paaren die Adoption zu ermöglichen. Der FDP-Ab-
geordnete Kauch hat in vergangenen Debatten der dama-
ligen rot-grünen Bundesregierung vorgeworfen, aus –
ich zitiere – „Angst vor Gegnern des Adoptionsrechtes“
im Jahr 2005 „nur“ die Stiefkindadoption zu ermögli-
chen. Ich frage ihn: Vor wem hat die FDP jetzt Angst,
wenn sie in der Adoptionsfrage keinen Schritt weiter ge-
hen will – obwohl die Einstellung in der Bevölkerung
heute sehr viel aufgeschlossener ist? Die FDP lässt sich
vollständig von der CDU/CSU-Fraktion über den Tisch
ziehen. Als Anwalt für Bürgerrechte fällt sie deswegen
komplett aus.
Die Union dagegen betreibt aktive Verhinderungs-
politik. Sie bleibt verhaftet in einem vormodernen Fami-
lienbild, welches den Menschen vorschreiben will, wie
sie zu leben haben. In der vergangenen Sitzungswoche
war sich die Abgeordnete Ute Granold nicht zu schade,
uralte und längst widerlegte Thesen aufzustellen: Kinder
seien in verschiedengeschlechtlichen Familien grund-
sätzlich besser aufgehoben. Gerade weil Kindern und Ju-
gendlichen Diskriminierung begegne, müsse der Staat
sie schützen. Hier macht sich die Union selbst vom Bock
zum Gärtner. Erst sorgt sie mit ihrer permanenten Ver-
weigerungshaltung dafür, dass Regenbogenfamilien stig-
matisiert und diskriminiert werden, um dann diesen Tat-
bestand gegen die betroffenen Kinder zu verwenden.
Frau Granold, umgekehrt wird ein Schuh draus. Helfen
Sie endlich mit, Vorurteile abzubauen und Diskriminie-
rung zu beenden. Stimmen Sie unserem Antrag zu.
51. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 1. Juli 2010
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26
Anlage 27
Anlage 28
Anlage 29
Anlage 30
Anlage 31
Anlage 32
Anlage 33
Anlage 34
Anlage 35
Anlage 36
Anlage 37
Anlage 38
Anlage 39
Anlage 40
Anlage 41
Anlage 42
Anlage 43
Anlage 44
Anlage 45
Anlage 46
Anlage 47
Anlage 48
Anlage 49
Anlage 50
Anlage 51
Anlage 52
Anlage 53
Anlage 54
Anlage 55
Anlage 56
Anlage 57
Anlage 58
Anlage 59
Anlage 60
Anlage 61
Anlage 62
Anlage 63
Anlage 64
Anlage 65
Anlage 66
Anlage 67