Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5127
(A) (C)
(D)(B)
der im Interesse der Zivildienstleistenden noch der Ein-Schipanski, Tankred CDU/CSU 17.06.2010
nunmehr geltenden Dauer des Zivildienstes überhaupt
umsetzbar ist.
Steinke, Kersten DIE LINKE 17.06.2010
richtungen liegen kann. Es stellt sich zudem die Frage,
ob die vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend vorgelegte und begrüßenswerte Kon-
zeption zum „Zivildienst als Lerndienst" innerhalb der
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 17.06.2010
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
van Aken, Jan DIE LINKE 17.06.2010
Bätzing-Lichtenthäler,
Sabine
SPD 17.06.2010
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
17.06.2010
Bülow, Marco SPD 17.06.2010
Fischer (Karlsruhe-
Land), Axel E.
CDU/CSU 17.06.2010**
Fischer (Hamburg),
Dirk
CDU/CSU 17.06.2010
Fritz, Erich G. CDU/CSU 17.06.2010**
Groschek, Michael SPD 17.06.2010
Hempelmann, Rolf SPD 17.06.2010
Höger, Inge DIE LINKE 17.06.2010
Hörster, Joachim CDU/CSU 17.06.2010**
Koczy, Ute BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
17.06.2010
Kunert, Katrin DIE LINKE 17.06.2010
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 17.06.2010*
Nahles, Andrea SPD 17.06.2010
Nietan, Dietmar SPD 17.06.2010
Pflug, Johannes SPD 17.06.2010**
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 17.06.2010
Sager, Krista BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
17.06.2010
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Thomas Dörflinger (CDU/
CSU) zur namentlichen Abstimmung über den
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehr- und
zivildienstrechtlicher Vorschriften 2010 (Wehr-
rechtsänderungsgesetz 2010 – WehrRÄndG 2010)
(Tagesordnungspunkt 11 a)
Dem Gesetzentwurf über die Verkürzung von Wehr-
und Zivildienst auf sechs Monate werde ich heute unter
Zurückstellung großer Bedenken meine Zustimmung er-
teilen.
Aus jahrelanger Tätigkeit als Berichterstatter für den
Bereich Zivildienst weiß ich um den Umstand, dass
schon die Verkürzung des Zivildienstes auf neun Monate
und die damit entstehende Unterjährigkeit zu großen
Problemen bei der Umsetzung sowohl bei den Zivil-
dienststellen als auch bei den Zivildienstleistenden ge-
führt hat. Es besteht die berechtigte Befürchtung, dass
sich diese Probleme durch die neuerliche Verkürzung
nochmals vergrößern.
Zwar sorgt die Option, die Dauer des Zivildienstes
freiwillig zu verlängern, im Interesse der Einrichtungen
für eine gewisse Entspannung der Situation. Es ist aber
schlecht zu bestreiten, dass nach Abzug von Einfüh-
rungslehrgang, staatsbürgerlichem Unterricht und even-
tuellen Rüstzeiten für die eigentliche Dienstzeit nur ein
überschaubarer Zeitraum zur Verfügung steht, was we-
Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 17.06.2010
Wolff (Wolmirstedt),
Waltraud
SPD 17.06.2010
Zapf, Uta SPD 17.06.2010
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
5128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 3
Erklärung nach § 31 Abs. 2 GO
des Abgeordneten Hans-Ulrich Klose (SPD) zur
namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung wehr- und zivil-
dienstrechtlicher Vorschriften 2010 (Wehrrechts-
änderungsgesetz 2010 – WehrRÄndG 2010) und
über den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen (Tagesordnungspunkt
11a und b)
An den namentlichen Abstimmungen
a) auf Antrag der SPD zur 2./3. Lesung des CDU/CSU-
und-FDP-Entwurfs eines Wehrrechtsänderungsgeset-
zes 2010 und
b) zum Antrag der Grünen „Wehrpflicht beenden"
werde ich mich nicht beteiligen, und zwar aus folgenden
Gründen:
Ich bin Mitglied der vom Bundesverteidigungsminis-
ter berufenen Strukturkommission, die sich unter ande-
rem auch mit der Wehrpflicht und der Wehrverfassung
beschäftigt. Vor Abschluss der Beratungen in der Kom-
mission möchte ich mich in der Sache nicht festlegen;
ich kann mich aber auch nicht enthalten, weil ich zu bei-
den Punkten eine Meinung habe. Daher die mit meinem
Fraktionsvorsitzenden abgesprochene Nichtbeteiligung
an der Abstimmung.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO, Absatz 1
der Abgeordneten Jens Ackermann, Daniel
Bahr (Münster), Florian Bernschneider, Sebastian
Blumenthal, Marco Buschmann, Dr. Bijan Djir-
Sarai, Patrick Döring, Manuel Höferlin,
Sebastian Körber, Horst Meierhofer, Björn
Sänger, Florian Toncar, Serkan Tören und
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (alle FDP) zur
namentlichen Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen zu dem Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung wehr- und zivildienstrechtlicher Vor-
schriften 2010 (Wehrrechtsänderungsgesetz
2010 – WehrRÄndG 2010) (Tagesordnungs-
punkt 11 b)
Die Verkürzung der Wehrpflicht von neun auf sechs
Monate ist das Ergebnis einer Abwägung zwischen den
Grundrechten der von der Wehrpflicht betroffenen jun-
gen Männer und den sicherheitspolitischen Erfordernis-
sen unseres Landes in der derzeitigen Struktur unserer
Streitkräfte. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache,
dass die Wehrpflicht einen massiven Grundrechteingriff
darstellt und wichtige Kapazitäten in den Strukturen der
Bundeswehr, die längst eine Armee im internationalen
Einsatz geworden ist, bindet. Deswegen bleiben wir der
Meinung, dass diese Abwägungsfrage auch grundsätz-
lich im Sinne der Grundrechte der jungen Männer ent-
schieden werden kann.
Daher ist und bleibt die Aussetzung der Wehrpflicht
unser Ziel. Wir brauchen stattdessen eine moderne Frei-
willigenarmee, die Schaffung sozialversicherungspflich-
tiger Arbeitsplätze anstelle von Zivildienststellen im So-
zialbereich und die Förderung freiwilligen Engagements
für die Gesellschaft im Rahmen eines freiwilligen sozia-
len Jahres oder verwandter Modelle.
Aus unserer Sicht ist jeder Monat Pflichtdienst, der
wegfällt, für die jungen Männer und gleichermaßen für
das Gemeinwesen selbst ein Freiheitsgewinn. Schon
jetzt haben wir also mehr erreicht als Bündnis 90/Die
Grünen in ihrer Regierungszeit, in der die Wehrpflicht
nur von zehn auf neun Monate verkürzt werden konnte.
Diese Errungenschaft der jetzigen Koalition werden wir
auch durch ein gemeinsames Abstimmungsverhalten in
dieser Frage unterstreichen. Daher lehnen wir den An-
trag von Bündnis 90/Die Grünen samt Entschließungs-
antrag ab. Die Ablehnung des Antrags der Linken ist
schon allein wegen der Unterstellung einer „Kriegspoli-
tik“ geboten, die nichts mit dem Dienst unserer Soldatin-
nen und Soldaten im Ausland zu tun hat. Sollte davon
abgesehen beim Koalitionspartner noch ein Umdenken
einsetzen und dieser sich einer Aussetzung der Wehr-
pflicht nicht mehr in den Weg stellen, würden wir dies
ausdrücklich begrüßen und in guter Zusammenarbeit
schnellstmöglich umsetzen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Großen Anfrage: Sicherung
der Technologieführerschaft Deutschlands im
Verkehrs- und Baubereich (Tagesordnungs-
punkt 10)
Steffen Bilger (CDU/CSU): Vor zwei Monaten habe
ich im Deutschen Bundestag schon einmal zum Thema
alternative Antriebe gesprochen. Vieles von dem damals
Gesagten ist auch heute noch aktuell. Anlass waren da-
mals ein umfassender Antrag der Grünen und ein Antrag
der SPD-Fraktion zu nachhaltiger Mobilität. Bei dem
SPD-Antrag fehlte allerdings – wie ich es damals schon
kritisiert hatte – jeder Bezug zur Elektromobilität. Umso
mehr freut es mich, dass wir heute über eine Große An-
frage der Sozialdemokraten zu diesem Thema diskutieren
können. Um es aber gleich vorwegzunehmen: Außer ei-
nem Haufen Fragen an die Bundesregierung ist den Kol-
legen von der SPD zur Elektromobilität nichts eingefal-
len.
Die christlich-liberale Koalition macht das anders:
Wir geben Antworten und handeln. Am 3. Mai haben
wir mit dem Kanzlergipfel den Startschuss für die Natio-
nale Plattform Elektromobilität gelegt. Ich habe im März
gesagt, dass wir nach dem Kanzlergipfel loslegen. Das
halten wir auch so. Derzeit arbeiten wir sehr konkret an
einem Koalitionsantrag zur Elektromobilität. Die Ar-
beitsgruppen der Nationalen Plattform sitzen mit Hoch-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5129
(A) (C)
(D)(B)
druck an ihren Empfehlungen. Dies alles dient dem Ziel,
Deutschland zum Leitmarkt und Leitanbieter für alterna-
tive Antriebe und CO2-arme Fahrzeuge zu machen.
Dieses Ziel sollte ein gemeinsames Ziel von uns allen
sein. Daher habe ich auch erfreut zur Kenntnis genom-
men, dass Sie in Ihrem Antrag durchaus Positives am
bisherigen Vorgehen der Bundesregierung sehen.
Die Elektromobilität hat für uns allein schon einen
hohen Stellenwert, weil sie ein Beitrag sein kann zum
Schutz der Umwelt, zur Schonung von Ressourcen und
damit letztendlich zur Bewahrung der Schöpfung.
In der Anfrage geht es aber in erster Linie um die Si-
cherung der Technologieführerschaft Deutschlands im
Verkehrsbereich. Konkret bedeutet das, Deutschland
zum Leitanbieter für alternative Antriebe zu machen.
Die Elektromobilität ist eine große Chance für den Wirt-
schaftsstandort Deutschland – und eine große Herausfor-
derung: Immer mehr neue Autos werden in Zukunft
elektrisch fahren oder zumindest über einen zusätzlichen
Elektromotor verfügen. Der Bau von Elektrofahrzeugen,
innovativen Energiespeichersystemen und Ladestellen
wird in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten
Marktchancen eröffnen und Arbeitsplätze schaffen.
Diese werden allerdings nicht nur auf Automobilkon-
zerne und Zulieferindustrie beschränkt sein. Dabei ver-
steht sich von selbst, dass wir einen technologieoffenen
Ansatz verfolgen. Insgesamt gilt es, heute schon an die
genannten Punkte zu denken und die Weichen richtig zu
stellen.
Mit der bereits erwähnten Gründung der Nationalen
Plattform Elektromobilität wurde eine Arbeitsstruktur
geschaffen, um den Nationalen Entwicklungsplan Elek-
tromobilität der Bundesregierung von 2009 fortzuentwi-
ckeln. Darüber hinaus ist es ihre Aufgabe, konkrete Kon-
zepte zu seiner praktischen Umsetzung vorzulegen. Bis
Ende 2010 werden eine Zwischenbilanz der Arbeits-
gruppen und erste Vorschläge vorliegen. Wir begrüßen
diese Initiativen der Bundesregierung ausdrücklich. Ins-
gesamt muss die Politik gemeinsam mit Verbrauchern,
Wirtschaft und Wissenschaft eine Strategie für diese
wichtige Zukunftstechnologie erarbeiten.
Ich will nicht verschweigen, dass wir noch viel vor
uns haben. Es ist noch viel zu tun in den Bereichen Aus-
und Weiterbildung, bei der Grundlagenforschung in der
Speichertechnologie, der Vernetzung von Forschungs-
projekten, beim Bilden von Forschungsclustern, der Ein-
beziehung von Verkehrstelematik, beim Recycling, den
Rohstoffabhängigkeiten, bei intelligenten Netzen, der
Auswertung der Modellregionen, der Ausweitung von
Elektromobilität auf andere Verkehrsträger und und und.
Wir wissen das und arbeiten an Antworten. Außerdem
kann sicherlich auch die Koordinierung der vier beteilig-
ten Ressorts noch verbessert werden. Der Gemeinsamen
Geschäftsstelle Elektromobilität der Bundesregierung je-
denfalls sollten durchaus mehr Kompetenzen übertragen
werden. Unsere Aufgabe als Parlament ist es, die Arbeit
der Gemeinsamen Geschäftsstelle intensiv zu begleiten.
Für Deutschland die Technologieführerschaft zu si-
chern, geht nicht ohne finanzielle Förderung. Dabei ist
für uns als Union klar, dass es sich bei dieser Förderung
nicht um eine Kaufprämie handeln kann. Klar ist aber
auch, dass wir bei der Forschung und Entwicklung för-
dern müssen. In Zeiten des Sparens und der Haushalts-
konsolidierung geht es um besonders effektiven Einsatz
von staatlichen Fördermitteln. Wir müssen die For-
schungsförderung über 2011 hinaus fortsetzen und zu-
sätzliche Fördermöglichkeiten prüfen. Dabei hilft das
klare Bekenntnis der Bundesregierung zu weiteren inten-
siven Investitionen in Forschung und Bildung. Von den
im Koalitionsvertrag erwähnten zusätzlichen 12 Milliar-
den Euro bis 2013 sollten meiner Meinung nach umfang-
reiche Mittel für Elektromobilität bereitgestellt werden.
Damit könnte das erfolgreiche 500-Millionen-Paket aus
dem zweiten Konjunkturprogramm über 2011 hinaus
fortgesetzt werden. Da die Elektromobilität für die Bun-
desregierung Priorität hat, wäre das nur folgerichtig.
Wir haben einen Nationalen Entwicklungsplan Elek-
tromobilität und eine Nationale Plattform. Die Elektro-
mobilität macht aber nicht an nationalen Grenzen halt.
Wir brauchen multinationale Vereinbarungen bei der
Standardisierung, der Rechtssicherheit und der Verbrau-
cherfreundlichkeit. Sprich: Wir brauchen Europa! Des-
halb sind wir hierzu mit unseren französischen Kollegen
im Gespräch. Wir begrüßen auch im Großen und Ganzen
die Strategie der Kommission für saubere und energieef-
fiziente Fahrzeuge und unterstützen die Arbeit in den zu-
ständigen Standardisierungsgremien. National handeln,
aber europäisch denken, ist das Gebot der Stunde. Da-
rauf kommt es ganz besonders beim weiteren Ausbau
der Elektromobilität an.
Karl Hohlmeier (CDU/CSU): „Sicherung der Tech-
nologieführerschaft Deutschlands im Verkehrs- und
Baubereich“ – ein bedeutendes Thema, das die Kollegin-
nen und Kollegen von der SPD hier aufgegriffen haben.
Ich finde es nur schade, dass sie es in ihrer Großen Anfrage
so auffällig einseitig darstellen. Aus meiner Sicht und der
Sicht meiner Fraktion umfasst dieses große Thema doch
etwas mehr als nur Klima- und Energiefragen, alternative
Antriebstechnologien und ein Tempolimit von 130 km/h
auf Autobahnen.
Meine begrenzte Redezeit erlaubt es mir leider nicht,
hier heute für umfassende Aufklärung bei den Kollegen
der Opposition zu sorgen. Das will ich auch gar nicht,
die Anfrage richtet sich schließlich an die Regierung.
Aber erlauben Sie mir doch den Hinweis auf unseren
Koalitionsvertrag. Dort steht sehr viel Wichtiges zu die-
sem Thema.
Ich möchte mich gern auf ein paar Bereiche beschrän-
ken, die aus meiner Sicht besonders hervorzuheben sind
und in denen ich dringenden Handlungsbedarf zur Siche-
rung der Technologieführerschaft Deutschlands sehe.
Zum Thema Verkehr/Infrastruktur. Für den Verkehrs-
bereich will ich zunächst einmal auf eine Grundvoraus-
setzung für die Sicherung der Technologieführerschaft
Deutschlands hinweisen: die uneingeschränkte Mobili-
tät. Es geht, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol-
legen von der SPD, nicht darum, Mobilität zu verhin-
dern, sondern sie uneingeschränkt zu ermöglichen.
5130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Wir müssen sicherstellen, dass die Verkehrsströme in
unserem Land reibungslos fließen können. Dies gilt vor
allem vor dem Hintergrund stetig steigender Wachs-
tumsraten im Frachtbereich. Hierfür brauchen wir eine
optimale Funktionsfähigkeit aller Verkehrsträger und
eine gute Vernetzung. Hierzu brauchen wir intelligente
Verkehrslenkungs- und Verkehrsmanagementsysteme, und
hierzu brauchen wir vor allem Maßnahmen zum Erhalt
sowie zum Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.
Zu den konkreten Infrastrukturmaßnahmen. Lassen
Sie mich kurz auf den konkreten Nachholbedarf in der
Verkehrsinfrastruktur eingehen. Wir brauchen dringend
ein Straßenbauprogramm West. Der Zustand zahlreicher
Bundestraßen und Bundesautobahnen im Westen
Deutschlands ist schlecht und bedarf der Verbesserung.
Hier hat das SPD-geführte Verkehrsministerium viel zu
lange geschlafen und den Anschluss verpasst. Das wer-
den wir nun nachholen.
Natürlich bedeutet das nicht, dass wir Abstriche in
den neuen Ländern machen dürfen. Die Verkehrspro-
jekte „Deutsche Einheit“ werden wir ohne Wenn und
Aber abschließen. Hier darf Ost und West nicht gegen-
einander ausgespielt werden, sondern wir brauchen eine
vernünftige Balance. Der Verkehrsminister, Peter
Ramsauer, hat dies ganz klar betont.
Wir müssen außerdem den zunehmenden Verkehrs-
strömen im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung
auf Schiene und Straße gerecht werden. Hier ist voraus-
schauendes Handeln gefragt, um nicht später der Ent-
wicklung hinterherzuhinken.
Als konkretes Beispiel kann ich hier aus eigener Er-
fahrung aus meinem Wahlkreis in Ostbayern, an der
Grenze zur tschechischen Republik berichten. Beim
Bahnausbau sind uns unsere tschechischen Nachbarn
schon etwas voraus. Sie haben längst die Notwendigkeit
erkannt, dass die direkte Bahnverbindung von Prag nach
München über Pilsen, Furth im Wald, Schwandorf und
Regensburg ausbaut werden muss. In Gesprächen mit
dem tschechischen Verkehrsministerium haben die Kol-
legen aus dem Nachbarland klargemacht, dass für sie
eine optimale Vernetzung der europäischen Zentren
Grundvoraussetzung für den innergemeinschaftlichen
Handel ist.
Wenn wir unsere Stellung als Technologie- und Lo-
gistikstandort langfristig sichern und weiterentwickeln
wollen, müssen wir hier mitziehen, und zwar voraus-
schauend. Wir müssen politisch gestalten und dürfen uns
nicht allein auf die Aussagen von Gutachtern zu Kosten-
und Nutzenberechnungen zurückziehen.
Zum Thema Bauen und Wohnen. Vorausschauendes
Handeln ist auch die Maxime für die Bau- und insbeson-
dere die Wohnungsbaupolitik. Hier sind wir auf einem
sehr guten Weg, den wir dank des Einsatzes unseres Ver-
kehrs- und Bauministers auch konsequent weitergehen.
In Deutschland entfallen immer noch 40 Prozent des
gesamten Energieverbrauchs auf das Heizen und Kühlen
von Gebäuden. Das zeigt uns, dass hier ein enormes Ein-
sparpotenzial besteht. Peter Ramsauer hat daher durch-
gesetzt, dass die Maßnahmen zur energetischen Gebäu-
desanierung weitergeführt werden.
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm bleibt uns
auch in dieser historisch schwierigen Finanzlage weiter
erhalten. Das war nicht einfach und ein gewaltiger Kraft-
akt, für den ich den Minister ausdrücklich lobe und Kritik
an seinem Handeln entschieden zurückweise.
Wir sind weiterhin auf einem sehr guten Weg, das er-
folgreiche Marktanreizprogramm fortzuführen. Wir brin-
gen die Entwicklungen zum Passivhaus stetig voran,
denn Energie, die gar nicht erst verbraucht wird, ist im-
mer noch die beste.
Lassen Sie mich abschließend an dieser Stelle auch
einmal die immer wieder vergessene Bedeutung der Roll-
laden- und Sonnenschutzbranche hervorheben. Wärme,
die an kalten Tagen durch eine intelligente automatische
Steuerung von Rollläden nicht nach außen verloren geht,
braucht nicht durch Heizungen ersetzt zu werden. Und
Wärme, die an warmen Tagen gar nicht erst in die Ge-
bäude eindringt, muss auch nicht gekühlt und abgeführt
werden.
Wir haben in Deutschland exzellente Technologien im
Rollladen- und Sonnenschutzbereich. Genauso, wie wir
exzellente Technologien in zahlreichen anderen Bereichen
haben. Zur Sicherung unserer Technologieführerschaft
müssen wir daher auch weniger bekannte Branchen unter-
stützen und dürfen uns nicht nur auf bestimmte Techno-
logien konzentrieren und verlassen.
Die Technologieführerschaft Deutschlands ruht auf
mehreren Säulen. Eine einseitige Betrachtung sichert
diese Führerschaft mit Sicherheit nicht.
Ute Kumpf (SPD): Klimawandel und Klimaschutz
gehören zu den größten Herausforderungen unserer Zeit.
Klimaschutz ist auch die soziale Frage dieses Jahrhun-
derts. In diesem Bereich wird entschieden, ob wir das
Ziel einer gerechten Teilhabe – weltweit und national –
erreichen. Auch nach dem Scheitern der Klimakonferenz
von Kopenhagen muss Deutschland seine Vorreiterrolle
beim Klimaschutz in Europa weiter ausbauen. Bis 2020
sollen die Treibhausgasemissionen in Deutschland um
mindestens 40 Prozent, bis 2050 um 80 bis 95 Prozent
gegenüber 1990 vermindert werden. Aktuell verursa-
chen die Sektoren Gebäude und Verkehr rund 40 Prozent
des CO2-Ausstoßes in Deutschland. Das ist eine Heraus-
forderung für die Baupolitik, Energie- und Klimakon-
zepte zu entwickeln, eine Herausforderung für die Ver-
kehrspolitik, CO2-freie Mobilität zu organisieren, mit
Energieeffizienz, Elektromobilität und nachhaltigen Ver-
kehrskonzepten.
In der rot-grünen Bundesregierung und der Großen
Koalition haben wir die Weichen dafür gestellt, und zwar
mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, dem Integrierten
Energie- und Klimaprogramm, der Schaffung der Natio-
nalen Plattform für Wasserstoff- und Brennstoffzellen-
technologie NOW, dem Nationalen Entwicklungsplan
Elektromobilität und dem Ziel, bis 2020 1 Million Elek-
troautos auf deutsche Straßen zu bringen, den 500 Mil-
lionen Euro an Fördergeldern im Konjunkturprogramm II
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5131
(A) (C)
(D)(B)
für die Forschung, Entwicklung und Erprobung von
Elektromobilität in acht Modellregionen bis 2011. Blei-
ben wir beim Verkehr und dem Thema Elektromobilität.
Was macht die schwarz-gelbe Bundesregierung unter
Kanzlerin Merkel? Eigene Ideen? Fehlanzeige! Sie
macht Produktpiraterie, was uns ehren sollte, gibt aber
unsere Projekte und Maßnahmen als ihre aus. Sie insze-
niert einen Elektroautogipfel Anfang Mai mit viel Blitz-
lichtgewitter und legt dann im Anschluss alles in die
Hände der Automobilindustrie. Vier Ministerien und Mi-
nister machten sich beim Gipfel den Platz auf dem Po-
dium gegenseitig streitig, sprachen mit vielen Zungen,
sind aber bis heute nicht in der Lage, unsere Große An-
frage, gestellt im März, zu beantworten. Leadership und
eine nachhaltige Verkehrspolitik im Interesse der Men-
schen sieht anders aus. So verspielt die Bundesregierung
Merkel auch hier Vertrauen – bei den Verbrauchern, bei
der Wirtschaft, bei der Industrie. Die Menschen sind offen
für Elektromobilität und für nachhaltige Verkehrskon-
zepte. Das belegen Umfragen. 85 Prozent würden beim
nächsten Mal ein Elektrofahrzeug kaufen, so eine Studie
der Münchener Unternehmensberatung Barkawi vom
Oktober 2009; bei einer Umfrage des ADAC bei seinen
Mitgliedern im September 2009 waren es 75 Prozent.
Die deutsche Automobilindustrie ist auf diese Nach-
frage und auf diese Erwartungen nicht vorbereitet. Es
gibt noch keine alltagstauglichen deutschen Produkte,
die einem Pkw mit Verbrennungsmotor gleichkommen;
der Preis bei den Erprobungsfahrzeugen stimmt noch
nicht, denn circa 40 Prozent der Befragten wollen und
können nicht mehr Geld für ein Elektroauto als für ein
Auto mit Verbrennungsmotor ausgeben. Eine nationale
Plattform Elektromobilität der Automobilindustrie al-
leine reicht also nicht aus. Die Politik versagt, wenn wir
alles der Automobilindustrie überlassen. Wir brauchen
eine nationale Kraftanstrengung, wir brauchen eine kon-
zertierte Aktion für eine CO2-freie Mobilität, und wir
brauchen politische Rahmenbedingungen für Elektromo-
bilität. Ein Leitmarkt Elektromobilität fällt nicht vom
Himmel. Ein Leitmarkt braucht Leitplanken, wie ein
Förderkonzept für Forschung und Entwicklung, eine
Qualifizierungsstrategie in Ausbildung, Studium und
Lehre, ein Förderkonzept für die Infrastruktur in den
Kommunen und in der Fläche, Normen, Standards und
Vorgaben, damit wir die Vorreiter im internationalen
Wettbewerb in der Automobilindustrie bleiben.
Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir uns schöner
reden als wir sind. Die Automobilindustrie hat in den
90er-Jahren durch Outsourcing viele Kompetenzen nach
Asien verlagert, gerade bei der Batterietechnologie.
Schlüsseltechnologien für die Elektromobilität sind
Fahrzeugbatterien, elektrische Motoren, mechanische
Antriebsstränge und Leistungselektronik. Deutschland
ist gerade in diesen Schlüsselbereichen schlecht aufge-
stellt. Japan, Korea und China laufen uns hier den Rang
ab, so die Einschätzung der Expertenkommission „For-
schung und Innovation“ in ihrem Gutachten 2010 an die
Bundesregierung. Und wir laufen Gefahr, weiter zurück-
zufallen: So fördert China mit einer Milliarde Euro, in
Korea forschen 8 000 Wissenschaftler an der Weiterent-
wicklung der Batterietechnologie, die USA stecken
2 Milliarden Euro in die Forschung und Entwicklung.
Und wo sind die Konzepte der deutschen Regierung?
Deutschland muss starke Anstrengungen unternehmen,
um gerade in der Batterietechnologie wieder eigene Stär-
ken zu entwickeln, um wieder Produktionsstätte für Bat-
terien zu werden. Was macht die Regierung?
Die SPD fordert von der Bundesregierung, noch in
diesem Jahr auch die Frage zu beantworten, wie es 2011
in den acht Modellregionen weitergeht, wenn die Förde-
rung durch das Konjunkturprogramm aus der Großen
Koalition ausläuft. Wie wird das Wissen, werden die Er-
fahrungen und Konzepte zugänglich gemacht, damit an-
dere Regionen davon profitieren und ein Wissenstransfer
möglich wird? Wissensmanagement muss organisiert
werden. Wie geht es vor Ort weiter? Wie wird die Infra-
struktur, ein enges Netz an Ladestationen vorangetrie-
ben? Ohne Infrastruktur kann Elektromobilität nicht flä-
chendeckend organisiert werden. Die Experten sind sich
weltweit seit langem einig: Batteriefahrzeuge werden si-
cherlich billiger werden, die Zahl der Ladezyklen wird
genauso wie die Zuverlässigkeit steigen, ihre Reichweite
wird aber nie die von Verbrennungsmotoren sein. Nur
den Antrieb zu wechseln, reicht also nicht aus. Elektro-
autos brauchen ein neues Fahrzeug- und Mobilitätskon-
zept. Es ist die Chance für eine neue Mobilitätskultur.
Das zeigen die Modellversuche in London oder auch bei
uns, das Projekt car2go in Ulm. Mehr Menschen werden
in naher Zukunft das Auto nutzen, jedoch nicht zwangs-
läufig eines besitzen wollen. Da schlägt die Stunde für
Carsharing, für ein nachhaltiges Mobilitätsmanagement
in den Städten mit der Vernetzung der Verkehrsträger.
Dieses muss mit politischen Maßnahmen begleitet wer-
den: mit Privilegierung von Elektromobilität im öffentli-
chen Raum. Stichwort: Parkplätze, Benutzen von Bus-
spuren und Ladestationen im Parkhaus. Die öffentliche
Hand muss mit ihren Fuhrparks Vorreiter werden. Diese
Maßnahmen sind für die SPD sinnvoller, bevor wir die
Forderung nach einer Prämie in Höhe von 5 000 Euro
beim Kauf eines Elektroautos, wie es die Grünen for-
dern, unterstützen. Da sind wir ganz auf der Seite von
Bremens grünem Umweltsenator Loske, der von einer
„unnötigen Zweitwagenprämie“ spricht.
Was wir jetzt vor allem brauchen, ist eine handlungs-
fähige Bundesregierung, keine Regierung, die alles dem
Markt und der Automobilbranche überlassen will und
die hinter einer Plattform in Deckung geht und abwartet.
Wir brauchen eine konzertierte Aktion für die Elektro-
mobilität, die nicht an unserer nationalen Grenze endet.
Wir brauchen diese auch für Europa. Die nationale Brille
alleine reicht nicht. Die unterschiedlichen Industrien und
Forschungsdisziplinen müssen miteinander reden, bran-
chenübergreifende und internationale Forschungs- und
Umsetzungsprogramme festlegen, neue strategische Al-
lianzen schmieden. Die SPD hat den Weg vorgezeichnet.
Jetzt muss die Bundesregierung zeigen, was ihre schö-
nen Worte wert sind! Um mit Weert Canzler und
Andreas Knie, zwei renommierten Mobilitätsforschern,
zu enden: „Der angestrebte Leitmarkt von morgen kann
nicht mit Geschäftskonzepten von gestern gesichert wer-
den. Es braucht zukunftsfähige Mobilitätsangebote für
die regenerativ versorgte Metropole und ihre anspruchs-
5132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
vollen, aber nicht mehr autoabhängigen Bewohner.“ Wir
brauchen keine Gipfelinszenierung, sondern politische
Rahmenbedingungen, damit wir keine Spätzünder beim
Elektroauto werden und Weltspitze beim Auto und im
Verkehrssektor bleiben.
Wolfgang Tiefensee (SPD): Deutschland steht vor
einer Richtungsentscheidung: Wollen wir in der Elektro-
mobilität eine Revolution anschieben, oder lediglich ein
paar Forschungsprojekte fördern? Schreitet die Bundes-
regierung mit beherzten, mutigen Maßnahmen voran
oder verliert sie sich wieder im Klein-Klein, wie bei an-
deren Themen auch? Mit dem Elektromobilitätsgipfel
am 3. Mai 2010 hat sie wieder einmal eine Chance ver-
passt, einen Aufbruch in ein neues Zeitalter zu wagen.
Dabei müssen jetzt die Weichen für die Zukunft gestellt
werden, weil sich Mobilität grundlegend verändern wird.
Ich weiß, dass sich das nur wenige vorstellen können;
denn seit unserem ersten Kindheitsblick auf eine Welt-
karte steht Europa im Mittelpunkt; Deutschland ist im
Zentrum, Asien und die USA kleben am Rand. Das Land
der Dichter, Denker und Ingenieure steht naturgemäß für
Weltgeltung. Beispiel Autoindustrie: Autos wurden hier
erfunden und vervollkommnet, Deutschland ist seit Carl
Benz Autonation Nummer eins.
Es geht um eine Revolution. Was aber, wenn sich die
Koordinaten rasend schnell und dramatisch verschieben
würden? Was, wenn Asien ins Zentrum rückte, die Land-
karten korrigiert werden müssten, wenn dort ein Know-
how versammelt wäre, das einen Sprung in ein neues
Zeitalter ermöglichte, in die Epoche der Elektromobili-
tät? Das Thema ist absolut in – noch; denn wie üblich
wird das Interesse bald erlahmen; die Medienkarawane
zieht weiter.
Nach gründlicher Beschäftigung mit der Materie ist
es nichtsdestotrotz meine Überzeugung, dass wir dran-
bleiben müssen, weil es hier entgegen aller Unkenrufe
um eine Revolution geht. Sie steht der in der Kommuni-
kationsbranche in nichts nach. Wer nun glaubt, mit zag-
haften Schritten mithalten zu können, wird im Wettbe-
werb dramatisch an Boden verlieren. Umgekehrt kann,
wer die Zeichen der Zeit erkennt, wer kraftvoll inves-
tiert, riesige PotenZiale heben.
Worum geht es? Verkehrsadern werden wieder be-
wohnbar, Abgase verschwinden.
Auch in 30 Jahren wird der gute alte Ottomotor sei-
nen Platz haben, weil Effizienzsteigerungen machbar
sind. Biogas, synthetische Kraftstoffe, die Wasserstoff-
und Brennstoffzelle vervollkommnen die Palette der Zu-
kunft. Im Zentrum steht jedoch die Elektromobilität. Sie
führt nicht nur zu einem Paradigmenwechsel in der Mo-
bilität selbst – man kauft kein Auto mehr, sondern Mobi-
lität – sondern sie ermöglicht auch Umweltfreundlich-
keit neuer Qualität, greift man auf grünen Strom zurück.
Sie generiert neuartige Werkstoffe, die Einfluss auf Ge-
wicht und Design haben werden.
Es entwickelt sich eine Verschränkung von Kraftfahr-
zeug und Energiewirtschaft. Ein Auto steht bisher zu
95 Prozent seiner Lebenszeit einfach nur platzver-
schwendet herum. Mit den Batterien gibt es plötzlich ein
Speichermedium, das die dezentrale Speicherung von
Strom aus Wind und Sonne in völlig neuer Weise zu-
lässt. Verkehrsadern werden wieder bewohnbar, weil
Lärm und Abgase verschwinden. Skeptiker werfen ein
– und die erheischen immer große Aufmerksamkeit –,
das zentrale Problem der Batterie sei in naher Zukunft
nicht lösbar. Zu schwach auf der Brust, heißt es da, zu
schwer, zu teuer, zu gefährlich, mit ewigen Ladezeiten,
nicht recycelbar. Deren Fazit: Macht mal halblang, das
wird dauern.
In diesem Geist agiert auch die deutsche Bundesre-
gierung. Sie ließ eine schnelle und direkte Zusage für
eine bessere staatliche Förderung von Forschung und
Entwicklung verstreichen; denn im Rahmen der Neu-
gründung der „Nationalen Plattform Elektromobilität“
wurden keine konkreten Maßnahmen festgelegt. Dass
die Bundesregierung aus ihrer lahmen Forschungspolitik
schon erste Konsequenzen zieht, hat sich leider in der
Abschlusserklärung nach dem Mobilitätsgipfel gezeigt.
Das Ziel von einer Million Elektroautos aus heimischer
Produktion im Jahr 2020 wird nun nicht mehr ange-
strebt. Stattdessen wird nun nur noch von einer Million
Elektroautos auf deutschen Straßen gesprochen, egal ob
diese in Deutschland produziert wurden oder nicht. Dies
zeigt wiederum, dass mit dieser Bundesregierung keine
zukunftsgerichtete Technologiepolitik zu machen ist.
Damit die nächste Welle an Elektroautos aus Deutsch-
land kommt, muss sofort und mit mehr Dynamik und
Innovation auf die grundlegenden Veränderungen re-
agiert werden.
Noch hat Deutschlands Automobilindustrie eine
Chance, ihren Rückstand auf die ausländische Konkur-
renz im Bereich der Elektromobilität aufzuholen. Doch
um dies zu schaffen, muss eine erhöhte Forschungsför-
derung Kernpunkt aller politischen Steuerung sein. Der
Evonik-Chef und Leiter der Arbeitsgruppe Batterietech-
nologie sagt: „Wenn wir international vorne mitspielen
wollen, brauchen wir gezielte Unterstützung“, und:
„Entscheidungen muss es so schnell wie möglich ge-
ben.“
In Asien geht man schrittweise vor.
Laut einer Studie von McKinsey wird jedoch die
staatliche Förderung von FuE und der Infrastruktur von
Elektroautos in Deutschland innerhalb der nächsten fünf
Jahre weit hinter der von anderen wichtigen Automobil-
nationen zurückbleiben. So belegt Deutschland in der
vorliegenden Untersuchung mit 0,615 Milliarden Euro
nur den fünften Platz. Die USA mit 22,187 Milliarden
Euro, China mit 3,337 Milliarden Euro, Frankreich mit
2,182 Milliarden Euro und selbst Spanien mit 1,390 Mil-
liarden Euro fördern deutlich stärker die FuE von Elek-
troautos. Diese Zahlen machen deutlich, dass vor allem
in China und den USA die Elektromobilität als Möglich-
keit angesehen wird, die eigene Automobilindustrie an
die Spitze des neu entstehenden Massenmarktes Elektro-
auto zu katapultieren. Daher unterstützen die dortigen
Regierungen auch in solch erheblichem Umfang und mit
solch hoher Umsetzungsgeschwindigkeit die heimische
Automobilindustrie.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5133
(A) (C)
(D)(B)
In Asien kann man exemplarisch sehen, wie es anders
gehen kann. Dort peilt man derweil mit deutschen Batte-
rieexperten an, in etwa fünf Jahren den Elektroantriebs-
strang für 7 000 Euro anzubieten: vergleichbar dem her-
kömmlichen Motor- und Getriebepaket, Reichweite über
300 Kilometer, kurze Ladezeiten und höchste Sicherheit.
Vorreiter ist SB LiMotive in Stuttgart, eine koreanisch-
deutsche Kooperation, in Sachsen die Firma Li-Tech.
Deutsche Automobilhersteller warnen zu Recht: Dros-
selt nicht den Kauf herkömmlicher Autos durch das Ge-
rede vom verfügbaren Elektroauto. Sie suchen die
perfekte Lösung. So liegen unsere Tugenden und Wett-
bewerbsnachteile eng beieinander. Hierzulande werden
sämtliche Schritte einer Neuentwicklung von heute bis
zum fernen Ziel als gerade Linie mit allen Risiken vor-
bedacht.
In Asien setzt man Schritt für Schritt, kalkuliert den
Irrtum ein und korrigiert sich. Über 70 Prozent der Pa-
tente werden nicht etwa in der Grundlagenforschung,
sondern in der Produktion generiert. Unterstreicht das
nicht die Notwendigkeit, Forschung und Fertigung von
Beginn an zu verschränken? Die jetzige Bundesregie-
rung tut alles, die Erwartung tief zu hängen und das Bud-
get überschaubar klein zu halten. In ihrer Geschäftsstelle
Elektromobilität mühen sich Beamte – dreieinhalb Stel-
len – um die Koordinierung komplizierter Projekte. Vier
Ministerien streiten um Kompetenzen. Begleitet von ei-
nem Geldministerium, das die Taschen zuhält, wo visio-
närer Umgang mit Finanzen nötig wäre.
In Asien und Amerika werden ehrgeizige Ziele ge-
setzt. Innenstädte abgasfrei, öffentliche Wagenparks
komplett elektromobil. Mit Milliardenbeträgen wird die
Grundlagenforschung angetrieben, die öffentliche Hand
zum Kauf animiert, der Kunde mit Prämien geködert. Ihr
Credo: Die Europäer sind bei den herkömmlichen Tech-
nologien nicht zu toppen, also schlagen wir sie durch ei-
nen Paradigmenwechsel. Das wollen und müssen wir
verhindern. Aber wie? Stichworte: Deutschland wird
Technologieführer Elektroenergie. Das sollte das große
Ziel sein. Der Begriff Leitmarkt verwirrt, denn nicht die
Anzahl gekaufter Fahrzeuge am Markt steht im Vorder-
grund.
Wir brauchen einen europäischen Pakt Elektromobili-
tät.
Statt des x-ten deutschen Gipfels aller ohnehin Über-
zeugten ist ein europäisches Projekt, ein europäischer
Pakt Elektromobilität vonnöten. Er zielt auf klare Ar-
beitsteilung, kluge Standardisierung der wesentlichen
Komponenten und auf beherzte öffentliche Förderung,
die sich an den außereuropäischen Wettbewerbern misst,
ohne im Brüsseler Notifizierungsdschungel stecken zu
bleiben, auf Bündelung der industriellen, wissenschaftli-
chen und öffentlichen Ressourcen zu einem Gesamtpa-
ket auf milliardenschwere Förderung der Grundlagenfor-
schung jetzt, statt der Bezuschussung von Autokäufen,
auf Unterstützung der Kommunen beim Aufbau der
Strominfrastruktur durch gesetzliche Flankierung, Stan-
dards und Finanzen, auf Ausbau der Bildungszweige auf
dem Felde der Elektrochemie, auf Verschränkung der
Energiewirtschaft, Automobilindustrie und Kommunen
zu einem schlagkräftigen Ganzen. Eine Herkulesaufgabe
ist das, aber das lohnenswert!
Petra Müller (Aachen) (FDP): Klimaschutz und
Energieeinsparungen gehören zu den großen Herausfor-
derungen. In diesem Punkt sind wir uns wohl alle einig,
fraktionsübergreifend.
Deutschland hält seine Spitzenposition in der Techno-
logieführerschaft. Genau deshalb müssen wir weiterhin
durch eine verstärkte Forschungsförderung die Techno-
logieentwicklung und Innovationskraft und damit die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft stärken. Der
sauberen Energie wird die Zukunft gehören. Auch im
Hinblick auf die Öl-Katastrophe am Golf.
Der Baubereich spielt neben dem Verkehr bei der
Energieeinsparung eine zentrale Rolle. Durch nachhalti-
ges Bauen und Sanieren erreichen wir eine Reduzierung
des CO2-Ausstoßes und kommen somit unseren ambitio-
nierten Klimaschutzzielen immer näher. Deshalb bin ich
auch sehr glücklich, dass das CO2-Gebäudesanierungs-
programm auch über 2011 hinaus seine Erfolgsgeschichte
weiterschreiben kann. Die heißt: Gebäude sanieren,
Klima schützen, Geld sparen. Die energetische Gebäude-
sanierung entlastet dabei nicht nur die Umwelt, sondern
auch die Geldbörse der Bürgerinnen und Bürger, zum
Beispiel bei den Heizkosten.
Als stadtentwicklungspolitische Sprecherin meiner
Fraktion möchte ich die Weichen stellen und über das
einzelne energetische Gebäude hinausblicken. Die FDP
strebt eine quartiersbezogene Lösung an, die energe-
tisch-dynamische Stadtentwicklung. Wir wollen Ver-
kehr, Wohnen und Leben in der Stadt harmonisieren.
Das trägt zu einer ressourcenschonenden Stadtentwick-
lung bei, etwa über kürzere Wege und weniger Erschlie-
ßungsflächen und geringere Wärmeverluste durch kom-
paktere Baustrukturen.
Bei der Zertifizierung von Gebäuden und Quartieren
– es geht um die Bereiche Klimawandel, Energiekosten,
demografischer Wandel, altersgerechtes Bauen – werden
kontinuierlich neue Qualitätsstandards entwickelt und
fortgeführt.
Wir, die Koalition, haben durch das aktuelle Sparpaket
bewiesen, dass wir den Bundeshaushalt stärker auf die
Zukunft ausrichten können, indem wir die Investitionen
in die Zukunft unseres Landes trotz Konsolidierungs-
druck – erhalten und weiter ausbauen. Heute leben über
6 Milliarden Menschen auf dieser Erde, in 40 Jahren wer-
den es wohl 9 Milliarden sein, die alle danach streben, an
der Entwicklung teilzuhaben. Allein aus Gründen der
Ressourcenverknappung sind wir gezwungen, in vielen
Bereichen neue Wege zu gehen. Aber das ist auch die
Chance. In den rasant wachsenden Ländern wie China
und Indien wird individuelle Mobilität genauso eingefor-
dert, wie es bei uns der Fall ist.
Es ist unsere Aufgabe in Deutschland, dass wir im
Verkehrs- und Baubereich ressourcenunabhängiger, um-
weltfreundlicher und nachhaltiger agieren.
Im Koalitionsvertrag bekennen wir uns zum einen zur
regenerativen Energie, zum anderen zur Elektromobili-
tät. Die christlich-liberale Koalition möchte dazu beitra-
5134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
gen, dass Deutschland Leitmarkt für Elektromobilität
wird und dass bis 2020 eine Millionen Elektrofahrzeuge
auf unseren Straßen fahren. Das ist ein ehrgeiziges Ziel.
Das unterstützen wir durch eine leistungsfähige und
gut vernetzte Verkehrs, Stadt- und Energieinfrastruktur.
Wir im Bund sind dazu Impuls- und Innovationsgeber.
Wir brauchen ein umfassendes Konzept über Strom-
erzeugung und -verteilung, die Entwicklung einer Lade-
infrastruktur, intelligente Verkehrsleitsysteme. Auch
oder gerade weil ich von der Zukunft der Elektrofahr-
zeuge überzeugt bin, weiß ich dass letztlich nicht der
Staat darüber entscheidet, in welchem Maße sich am
Markt bestimmte Fahrzeugtypen durchsetzen, sondern
einzig und allein der Verbraucher, die Nutzer. Das ist li-
berale Politik.
Der technische Fortschritt stellt uns aber auch vor
neue Anforderungen an die Berufsbilder. Denn, wenn
wir keine Ingenieure oder Kfz-Mechaniker mehr ausbil-
den können, können wir auch nicht die Führung, bei-
spielsweise in der Elektromobilität, übernehmen. Genau
deshalb wird auch nicht im Haushalt in den Punkten Bil-
dung und Forschung gespart.
Nur wenn wir das alles bedenken, wird eine neue
Wertschöpfungskette entstehen, und wir können Techno-
logieführer für alternative Antriebe, CO2-arme Fahr-
zeuge und eine energetisch-dynamische Stadtentwick-
lung sein.
Wir haben den Mut, die Weichen richtig zu stellen.
Deutschland wird zu den Gewinnern der multipolaren
Welt gehören. Wir sind schon auf einem guten Weg. Das
zeigen die aktuellen Zahlen der Wirtschaftsinstitute.
Herbert Behrens (DIE LINKE): Heute geht es um
die Technologieführerschaft der Bundesrepublik. Was
heißt denn eigentlich Technologieführerschaft eines
Landes? Ich kenne sie bislang von Unternehmen, zum
Beispiel von OHB-System GmbH in Bremen, die in der
Weltraumtechnologie ganz vorne sind und Satelliten für
den militärischen Einsatz entwickelt haben, oder von
Rheinmetall Defence, die mit ihrer Bremer Drohne, dem
Flugroboter für den Kriegseinsatz, führend sind. Techno-
logieführerschaft ist kein Wert an sich. Wir müssen fra-
gen: Wem nützt eine Technologie? Ich will nicht unfair
sein: In diese Richtung zielt diese große Anfrage nicht.
Sondern? Ihnen geht es um das Erneuerbare-Energien-
Gesetz, um das Integrierte Energie- und Klimapaket und
den Nationalen Entwicklungsplan Elektromobilität. Er-
staunlicherweise beziehen sich zwölf Ihrer 27 Fragen auf
Elektroautomobilität. Ich frage Sie: Gehen wir wirklich
einen innovativen Weg, wenn wir den Individualverkehr
mit dem Auto auf Stromantrieb umstellen? Ich finde, wir
begeben uns auf den technologischen Holzweg, wenn
wir jetzt deutsche Unternehmen, gefördert mit Millio-
nenbeträgen aus dem Bundeshaushalt, zu Technologie-
führern in der Elektroautomobilität entwickeln wollen.
Es geht meiner Meinung nach um etwas anderes: Die
Umwelt kann nur nachhaltig geschützt werden, wenn
man, statt am Auto rumzuschrauben, nach umweltver-
träglichen Alternativen sucht. Wir bleiben dabei: Wir
wollen eine sozial und ökologisch nachhaltige Verkehrs-
politik. Das bedeutet keine Technologieführerschaft,
aber unsere Alternativen sind hochinnovativ. Dazu brau-
chen wir ein sicheres und kundenfreundliches Verkehrs-
system mit Bus und Bahn; wir brauchen kundenfreund-
liche Angebote der Bahn AG im Güterverkehr, die von
den Unternehmen angenommen werden. Wie gesagt, das
hat nichts mit High-Tech oder Technologieführerschaft
zu tun, aber es senkt den CO2-Ausstoß und wirkt gegen
den Klimawandel.
Selbstverständlich werden weiter Autos auf unseren
Straßen unterwegs sein. Aber ein innovatives Verkehrs-
konzept darf diesen Verkehr nur als einen Teil begreifen.
Statt Milliarden ins Elektroautos zu investieren, braucht
es effektive Maßnahmen: Tempolimit, Einsatz von schad-
stoffarmen Verbrennungsmotoren, Carsharing – auch das
ist heute schon machbar. Die Technologie ist vorhanden.
All die Maßnahmen, die ich hier angesprochen habe,
sind aktive Beiträge zum Klimaschutz und zur Verbesse-
rung des Verkehrssektors, womit Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, Ihre große Anfrage begründen.
Was wir wirklich brauchen, ist eine Grundlagenforschung
für erneuerbare Energien und für moderne Transport- und
Logistikketten. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, nicht bei Großen Anfragen stecken bleiben.
Schauen Sie in den Sachstandsbericht des Umweltbun-
desamtes mit dem Titel „CO2-Emissionsminderung im
Verkehr in Deutschland“. Da steht ja drin, was wir tun
müssen, um dieses Ziel zu erreichen: Verkehrsvermeidung,
Verkehrsverlagerung, Verkehrsoptimierung, ökonomische
Maßnahmen, und direkte Emissionsvermeidung, alles
Maßnahmen, die wir als Linke-Fraktion in unser Konzept
für eine „ökologisch und sozial nachhaltige Verkehrs-
wende“ aufgenommen haben. Statt Milliarden für
Brennstoffzellenforschung wollen wir mehr Geld für die
Entwicklung alternativer Energieerzeugung; statt Tech-
nologieführerschaft bei Elektroautos wollen wir innova-
tive Mobilität und Klimaschutz, und das nicht morgen,
sondern heute.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit der großen Anfrage zielt die SPD-Fraktion auf die
Nichtaktivitäten der Bundesregierung zum Klima-
schutz. Zu Recht wird danach gefragt, was die Bundes-
regierung konkret tut, wie und wann sie welche Maßnah-
men ergreifen will, um den selbstgesteckten Zielen nä-
her zu kommen.
Die Fragen zur Umsetzung des IKEP, des Integrierten
Klimaschutz- und Energieprogramms der Bundesregie-
rung, sind so berechtigt wie die Fragen zur Festlegung
und Realisierung der Sektorziele im Bau- und Verkehrs-
bereich. Denn leider war die Koalition in all diesen Fel-
dern bisher eher untätig.
Beispiel: Elektromobilität und der Elektromobilitäts-
gipfel der Kanzlerin. Alle waren gespannt, was die Bun-
desregierung am 3. Mai 2010 vor der versammelten Pro-
minenz aus Politik, Wirtschaft und Medien vorstellen
würde. Präsentiert wurde das Logo für die nationale
Plattform Elektromobilität, sieben Arbeitsgruppen und
Politik im Talkshowstil auf Unterhaltungsniveau. Keine
Konzeption! Das war eine große Luftnummer ohne Sub-
stanz. Auch die Koalitionsfraktionen haben in dieser Sa-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5135
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(D)(B)
che keine Eile. Den angekündigten Antrag wird es erst
nach der Sommerpause geben – wenn überhaupt.
Meine Damen und Herren von der Koalition: Klima-
schutz ist kein Thema von übermorgen. Technologiefüh-
rerschaft bei der Elektromobilität gewinnt man nicht im
Schlafe. Auch nette Bekenntnisreden des Ministers, „wir
wollen Deutschland zum Leitmarkt für Elektromobilität
machen“, helfen da nicht weiter.
Während man in China, USA, Japan und Frankreich
mit kräftigen Marktanreizprogrammen die E-Mobility
vorantreibt, um die Technologieführerschaft zu gewin-
nen, wartet die Bundesregierung auf die Ergebnisse der
Arbeitsgruppen in einem Jahr. So wird man die Zukunft
nicht gewinnen.
Das Argument, in diesen Zeiten knapper Kassen und
großer Schuldenberge verbieten sich teure Marktanreiz-
programme, lassen wir nicht gelten. Wir wollen keine
Subvention des Kaufs von E-Autos wie bei der Ab-
wrackprämie. Wir wollen den Kaufanreiz für klima-
freundliche Autos dadurch finanzieren, dass wir die Kfz-
Steuer für Spritschlucker, SUVs und andere große Wa-
gen deutlich erhöhen. Wir wollen das Dienstwagensteu-
erprivileg, das den Kauf und Betrieb von Fahrzeugen mit
drei bis vier Milliarden Euro steuerlich begünstigt, korri-
gieren. Klimaschädliche und teure Wagen sollen nicht
mehr voll abgeschrieben werden können. Mit den so
erzielten Einnahmen wollen wir Forschung und Ent-
wicklung von klimafreundlichen Mobilitätstechnolo-
gien, insbesondere Speichertechniken, fördern. Wer die
Arbeitsplätze in der Autoindustrie in Deutschland erhal-
ten will, der muss den technologischen Wandel zu klima-
freundlichen Fahrzeugen massiv vorantreiben.
Die Debatte zum Nichtstun der Bundesregierung
beim Klimaschutz ist überfällig. Die große Anfrage der
SPD gibt dazu einen Anstoß. Man hätte sicher allerdings
gewünscht, dass die SPD in diesem Sinne schon als Re-
gierungspartei gehandelt hätte.
Notwendig ist ein umfassender Klimaschutz-Aktions-
plan mit klaren Zielen und Maßnahmen für die Bereiche
Verkehr und Bauen. Klimaschutz kann nur gelingen,
wenn wir in diesen Bereichen ansetzen. Während frü-
here Regierungen sich bemühten, die Vorreiterrolle zu
übernehmen, hat man bei dieser Regierung den Ein-
druck, sie wolle sich die rote Laterne erschlafen. Wir
werden alles tun, sie aufzuwecken. Wir sind gespannt
auf die Antworten der Bundesregierung.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Gleichstellung eingetragener Lebenspart-
nerschaften
– Öffnung der Ehe
(Tagesordnungspunkt 12)
Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute einmal
mehr über die rechtliche Besserstellung eingetragener
Lebenspartnerschaften. Bei dieser Gelegenheit sollten
wir uns einmal vor Augen halten, was in diesem Bereich
bereits geschehen ist. Vor nunmehr fast zehn Jahren hat
die damalige rot-grüne Koalition das Lebenspartner-
schaftsgesetz verabschiedet. Nachdem die verfassungs-
rechtlichen Fragen durch die Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts im Jahr 2002 geklärt wurden, ist
Anfang 2005 das Gesetz zur Überarbeitung des Lebens-
partnerschaftsgesetzes in Kraft getreten. Dabei wurde
– neben der politisch sehr umstrittenen Einführung der
Stiefkindadoption – das Unterhalts-, Güter- und Versor-
gungsausgleichsrecht auf eingetragene Lebenspartner-
schaften übertragen und eine Gleichstellung bei der
Hinterbliebenenversorgung in der gesetzlichen Renten-
versicherung vollzogen. Eingetragene Lebenspartner-
schaften sind damit im Zivilrecht weitestgehend gleich-
gestellt. Das sollte auch einmal von den Kolleginnen und
Kollegen der Opposition positiv zur Kenntnis genom-
men werden.
Des Weiteren haben zahlreiche Bundesländer in den
vergangenen Jahren ihre Landesbeamten im Bereich des
Familienzuschlages, der Hinterbliebenenversorgung und
der Beihilfe gleichgestellt. Für den Bereich des öffentli-
chen Dienstrechts hat es zudem mehrere Gerichtsent-
scheidungen gegeben, die wir als Gesetzgeber selbstver-
ständlich zu beachten haben: Eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2007 hatte die
Frage zum Gegenstand, ob das öffentliche Dienstrecht in
Deutschland gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskri-
minierungsverbot verstößt. Im vergangenen Jahr hat zu-
dem der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in
Bezug auf die betriebliche Hinterbliebenenversorgung
für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes ganz explizit
entschieden, dass die Benachteiligung eingetragener Le-
benspartner verfassungswidrig sei, soweit es nicht einen
gewichtigen Grund für die Differenzierung gebe.
Unabhängig von der Frage, inwiefern aus besagten
Entscheidungen konkrete gesetzgeberische Maßnahmen
abgeleitet werden können, haben wir im Koalitions-
vertrag vereinbart, die familien- und ehebezogenen Re-
gelungen bei Besoldung, Versorgung und Beihilfe im
Bereich der Bundesbeamten auf die eingetragenen Le-
benspartnerschaften zu übertragen. Das federführende
Bundesministerium des Innern hat hierzu bereits im
April dieses Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf
auf den Weg gebracht, der eine vollständige Gleichstel-
lung im öffentlichen Dienstrecht zum Gegenstand hat.
Das Gesetz befindet sich derzeit in der Abstimmung mit
den Verbänden, wobei noch einige rechtliche Details zu
klären sind, wie zum Beispiel die Frage einer etwaigen
Rückwirkung. Es ist geplant, das Gesetz in der zweiten
Jahreshälfte in den Bundestag einzubringen. Wenn alles
klappt, wird es bereits zum Jahreswechsel eine entspre-
chende gesetzliche Regelung geben. Dieser Aspekt des
SPD-Antrags hat sich also erübrigt.
Ein weiterer Punkt im Antrag der SPD betrifft die
Frage des Steuerrechts. Auch dazu haben wir eine Ver-
einbarung im Koalitionsvertrag: „Wir wollen gleich-
heitswidrige Benachteiligungen im Steuerrecht abbauen
und insbesondere die Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichts zur Gleichstellung von Lebenspartnern
5136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
mit Ehegatten umsetzen.“ Soweit die Antragsteller der
SPD nun auch im Steuerrecht eine vollständige Gleich-
stellung, das heißt insbesondere eine Ausweitung des
Ehegattensplittings auf eingetragene Lebenspartner-
schaften anmahnen, möchte ich zunächst auf das kürz-
lich vom Bundeskabinett verabschiedete Jahressteuerge-
setz 2010 hinweisen: Das sieht für die Bereiche
Erbschaft-, Schenkung- und Grunderwerbsteuer eine
vollständige Gleichbehandlung von eingetragenen Le-
benspartnerschaften mit der Ehe vor. Bei Schenkungen
und Erbschaften gilt folglich für Lebenspartner künftig
die gleiche Steuerklasse wie bei Eheleuten. Darüber hi-
naus soll wie bei Eheleuten bei Grundstücksübertragun-
gen keine Grunderwerbsteuer mehr anfallen.
Diese Änderungen bedeuten erhebliche Verbesserun-
gen, die für die Betroffenen im Ergebnis in der Praxis
mehr bringen als die hier von Ihnen geführten symboli-
schen Debatten über Änderungen des Art. 3 des Grund-
gesetzes oder die Frage, ob das Institut der Ehe auch für
gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden sollte. Mit
diesen Maßnahmen haben wir unsere Koalitionsverein-
barung bereits in zentralen Punkten umgesetzt. Darüber
hinaus wird aber nun auch gefordert, das Ehegattensplit-
ting auf eingetragene Lebenspartnerschaften auszuwei-
ten. Hier wundert es mich schon, dass ausgerechnet die
Parteien, die seit Jahren bei jeder Gelegenheit mit der
Behauptung, dass es sich hierbei um ein „anachronisti-
sches Instrument“ handele, das Frauen von der Erwerbs-
tätigkeit abhalte und sie auf die Rolle der Hausfrau redu-
ziere, die Abschaffung des Ehegattensplittings fordern,
nunmehr die Ausweitung auf eingetragene Lebenspart-
nerschaften wollen. Das erscheint mir mehr als paradox.
Vielleicht gelingt es Ihnen, diesen Widerspruch in den
anstehenden Beratungen aufzuklären.
Natürlich erkennen auch wir an, dass die eingetragene
Lebenspartnerschaft wie die Ehe eine auf Dauer ge-
schlossene solidarische Einstandsgemeinschaft bildet.
Indem die Menschen füreinander eintreten und sorgen,
entlasten sie an vielen Stellen die Gemeinschaft; damit
ist diese Form des Zusammenlebens und des Füreinan-
derdaseins auch Ausdruck der gerade von uns immer
wieder eingeforderten Subsidiarität. Wo steuerliche oder
sonstige staatliche Privilegien ausschließlich an diese
Einstandspflicht anknüpfen, bedürfen Differenzierun-
gen zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartner-
schaft daher einer genauen Prüfung und gegebenenfalls
einer Anpassung. Eben aus diesem Grund haben wir
jetzt die hier beschriebenen Änderungen auf den Weg
gebracht.
Auf der anderen Seite ist jedoch auch zu berücksichti-
gen, dass die deutsche Rechtsordnung den verschiede-
nen Formen familiären Zusammenlebens gerade nicht
wertneutral gegenübersteht. Das Grundgesetz trifft viel-
mehr eine Grundentscheidung zugunsten der Ehe als
Leitbild des familiären Zusammenlebens, indem es diese
unter den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz
stellt. Soweit ein steuerliches Privileg Ausdruck der ge-
zielten Förderung eben dieser speziellen Form des Zu-
sammenlebens ist, ist eine Differenzierung auch weiter-
hin geboten. Es gilt vor diesem Hintergrund, das
Verhältnis von Förderung einer besonderen, verfas-
sungsrechtlich geschützten Form des Zusammenlebens
auf der einen Seite und der steuerlichen Freistellung
konkreter Einstandspflichten als Ausdruck der steuerli-
chen Leistungsgleichheit auf der einen Seite ganz gene-
rell zu überprüfen und gegebenenfalls neu auszutarieren.
Diese Prüfung darf sich allerdings nicht auf das Verhält-
nis von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft be-
schränken, sondern muss sich vielmehr ganz generell auf
alle Unterhaltspflichten, die aus einer familiären Bezie-
hung resultieren, erstrecken. Deshalb plädieren wir be-
reits in unserem Grundsatzprogramm für eine Prüfung,
ob sich das Ehegattensplitting zu einem Familien-
splitting weiterentwickeln lässt. Wir sehen daher für eine
kurzfristige, zumindest so weitreichende Änderung zu-
gunsten einer einzelnen Gruppe innerhalb des geltenden
Einkommensteuersystems derzeit keinen Bedarf und
lehnen insbesondere die Ausweitung des Ehegattensplit-
tings ab.
Ähnlich wie jetzt im Bereich der Schenkung- und
Erbschaftsteuer sollten wir uns vielmehr auf notwendige
punktuelle, kurzfristig zu realisierende Anpassungen be-
schränken. So wird jetzt zum Beispiel über Angleichun-
gen bei der einkommensteuerlichen Höchstgrenze für
Zuwendungen an politische Parteien diskutiert. Darüber
hinaus gibt es eine Reihe weiterer vergleichbarer Rege-
lungen, beispielsweise bei den Sonderausgabenpausch-
beträgen, den Vorsorgeaufwendungen oder den Freibe-
trägen bei Kapitalerträgen. Soweit Forderungen nach
einer vollständigen Gleichstellung immer wieder verfas-
sungsrechtlich abgeleitet bzw. begründet werden,
möchte ich in Erinnerung rufen, dass das Bundesverfas-
sungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung von 2002
ganz explizit festgestellt hat, dass das Grundgesetz nicht
gebietet, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft
bis ins Detail dem Institut der Ehe anzupassen. Das soll-
ten auch die Kolleginnen und Kollegen der Opposition
einmal zur Kenntnis nehmen. Hieran ändert auch die
jüngste – bereits erwähnte – Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts aus dem letzten Jahr nichts; denn
hier ging es – wie gesagt – lediglich um die spezielle
Frage der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für
Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes. Unmittelbare
Rückschlüsse auf andere Rechtsbereiche sind daher
nicht zulässig.
Im Bereich des Adoptionsrechts lehnen wir auch zu-
künftig jede Weiterung, also insbesondere das Recht zur
Volladoption, entschieden ab. Da gibt es mit uns keine
Diskussionen; denn anders als bei der rechtlichen Aus-
gestaltung der Lebenspartnerschaften stehen die Interes-
sen der Kinder und nicht die Interessen der betroffenen
Erwachsenen im besonderen Fokus. Kinder haben ein
Recht auf Vater und Mutter. Die unterschiedliche Ge-
schlechtlichkeit ist für die Erziehung und Persönlich-
keitsentwicklung der Kinder von besonderer Bedeutung.
Kinder sind daher – bei vergleichbaren sozialen Verhält-
nissen – im Zweifel bei Vater und Mutter grundsätzlich
besser aufgehoben als bei gleichgeschlechtlichen Paa-
ren. Vieles spricht dafür, dass Kinder von gleichge-
schlechtlichen Ehen häufiger Stigmatisierungen erfahren
und Opfer von Mobbing werden. Die Auswirkungen da-
von können insbesondere bei sensiblen und labilen Kin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5137
(A) (C)
(D)(B)
dern sowie in der Pubertät für die betroffenen Kinder
und Jugendlichen gravierend sein. Der Staat hat hier eine
Schutzpflicht und muss im Zweifel von entsprechenden
Gesetzesänderungen absehen. Nach der vom Bundesjus-
tizministerium veröffentlichte Studie „Die Lebenssitua-
tion von Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebenspart-
nerschaften“ haben 47 Prozent der Kinder und
Jugendlichen angegeben, aufgrund ihrer Lebenssituation
Benachteiligungen erfahren zu haben. Hier haben wir als
Gesetzgeber einen eindeutigen Schutzauftrag.
Soweit die Studie an anderer Stelle zu dem Ergebnis
kommt, dass Kinder und Jugendliche aus gleichge-
schlechtlichen Familien im Vergleich zu den Kindern
aus verschiedengeschlechtlichen Familien in ihrer Ent-
wicklung angeblich keine Nachteile haben, ist darauf
hinzuweisen, dass die Studie diesbezüglich nur be-
grenzte Aussagekraft hat; denn insbesondere die soziale
Herkunft der Kinder wird nicht berücksichtigt. Diese ist
jedoch für den Bildungsstatus, die familiäre sowie psy-
chologische Situation und damit für die persönliche Ent-
wicklung der Kinder von entscheidender Relevanz. Man
kann dabei durchaus unterstellen, dass gleichgeschlecht-
liche Eltern häufig einen überdurchschnittlich hohen
sozialen Status haben. Um eine belastbare Aussage zu
etwaigen Nachteilen von Kindern in gleichgeschlechtli-
chen Familien zu erhalten, hätte man also die soziale
Herkunft in die Untersuchung einbeziehen müssen bzw.
die Situation bei verschieden- und gleichgeschlechtli-
chen Familien in jeweils gleichen sozialen und wirt-
schaftlichen Verhältnissen miteinander vergleichen müs-
sen. Dies ist aber leider nicht geschehen.
Die Ergebnisse der Studie sind in Bezug auf das jetzt
geforderte gemeinsame Adoptionsrecht auch aus einem
anderen Grund nicht aussagekräftig. Kinder, die im
Wege der Fremdkindadoption angenommen worden
sind, bilden in der Gesamtstichprobe seltene Ausnahme-
fälle. Gerade einmal 13 von 693 Familien, also weniger
als 2 Prozent, haben ihr Kind im Wege der Fremdkind-
adoption angenommen. Entsprechend bewertet die Stu-
die selbst die Aussagekraft ihrer Ergebnisse für diese
spezielle Familienform infolge der geringen Datenbasis
als eingeschränkt. Auch die Befunde der Studie zur Ent-
wicklung dieser Kinder können aufgrund der Stichpro-
bengröße nicht verallgemeinert werden. Darüber hinaus
steht ein vollständiges Adoptionsrecht im Widerspruch
zum Europäischen Übereinkommen vom 24. April 1967
über die Adoption von Kindern. Dies hat das
Bundesjustizministerium jetzt noch einmal in seiner
Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der Grü-
nen betont.
Abschließend möchte ich noch kurz auf den zweiten
heute zur Beratung stehenden Antrag der Fraktion Die
Linke eingehen. Der Antrag fordert im Wesentlichen,
das Institut der Ehe für gleichgeschlechtliche Lebens-
partner zu öffnen und gleichzeitig das Institut der einge-
tragenen Lebenspartnerschaften abzuschaffen. Allein
aus verfassungsrechtlichen Gründen ist dieser Vorschlag
abwegig. Zwar enthält das Grundgesetz selbst keine De-
finition der Ehe, sondern setzt diese vielmehr als beson-
dere Form des menschlichen Lebens voraus; das Bun-
desverfassungsgericht hat jedoch diesbezüglich in seiner
Entscheidung aus dem Jahr 2002 ganz klar festgestellt
– ich zitiere –: „Zum Gehalt der Ehe, wie er sich unge-
achtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit ein-
hergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung
bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung be-
kommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines
Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten
Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Ent-
schluss unter Mitwirkung des Staates, in der Mann und
Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander ste-
hen und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens
frei entscheiden können.“ Die Ehe ist also von Verfas-
sungs wegen der Beziehung von Frau und Mann vorbe-
halten. Eine Öffnung gegenüber gleichgeschlechtlichen
Beziehungen scheidet damit aus. Ich denke, dass damit
zum Antrag der Fraktion Die Linke alles gesagt ist. Ich
wünsche mir nun sachliche Beratungen in den Ausschüs-
sen, die sich ausschließlich an den Bedürfnissen der
Menschen orientieren und nicht in ideologischen Gra-
benkämpfen erschöpfen.
Christine Lambrecht (SPD): Man mag sich fragen,
warum wir gerade jetzt einen Antrag zur vollständigen
Gleichstellung von Lebenspartnerschaften vorlegen. Der
Zeitpunkt ist jedoch nicht zufällig gewählt; denn, wie
viele von Ihnen wissen, werden in nächster Zeit zahlrei-
che Veranstaltungen anlässlich des Christopher Street
Days stattfinden. Auch in den Straßen von Berlin wer-
den in zwei Tagen wieder die Regenbogenfahnen wehen.
Ich habe mich gefreut, sehr geehrte Frau Bundesjustiz-
ministerin, dass Sie die Schirmherrschaft über diese Ver-
anstaltung übernommen haben. Aber wenn Sie sich so
engagiert für die Rechte der Lesben und Schwulen ein-
setzen, dann frage ich mich schon, warum Ihren Anträ-
gen aus der letzten Legislaturperiode und den Ankündi-
gungen aus dem Koalitionsvertrag bisher keine Taten
gefolgt sind. Der Koalitionsvertrag sieht vor, im öffentli-
chen Dienst die Ausgewogenheit von Rechten und
Pflichten von Eingetragenen Lebenspartnern zu verbes-
sern. Dazu sollen die familien- und ehebezogenen Rege-
lungen über Besoldung, Versorgung und Beihilfe auf Le-
benspartner übertragen werden. Der Koalitionsvertrag
sieht ebenfalls den Abbau gleichheitswidriger Benach-
teiligungen im Steuerrecht und insbesondere die Umset-
zung der Entscheidungen des Bundesverfassungsge-
richts zur Gleichstellung von Lebenspartnern mit
Ehegatten vor. Noch in Ihrer Regierungserklärung vom
11. November 2009 haben Sie Verbesserungen im öf-
fentlichen Dienstrecht und im Steuerrecht angekündigt.
Sie hatten sich hiernach in der Gesellschaftspolitik nach
eigenen Aussagen viel vorgenommen. Passiert ist jedoch
nichts! Nach sieben Monaten des Wartens sehen wir uns
jetzt veranlasst, die Bundesregierung an die Realisierung
ihrer Ankündigungen zu erinnern. Seit August 2001 bie-
tet das Institut der Eingetragenen Lebenspartnerschaft
gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit, ihrer
Partnerschaft einen gesicherten Rechtsrahmen zu geben.
Eingetragene Lebenspartnerinnen und Lebenspartner
sind Eheleuten jedoch bis heute nicht in allen Bereichen
gleichgestellt. In den vergangenen Legislaturperioden
scheiterten die Bemühungen der SPD-Bundestagsfrak-
tion um weitere Angleichungen häufig am Bundesrat, in
5138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
der vergangenen Wahlperiode an unserem Koalitions-
partner, der Union. Zurzeit ist zwar die Adoption von
leiblichen Kindern des Lebenspartners zulässig – die so-
genannte Stiefkindadoption –, nicht jedoch die gemein-
same Adoption eines Kindes durch beide Lebenspartner.
Bisher wurde von Kritikern des großen Adoptionsrechts
gerne eingewendet, das Aufwachsen von Kindern bei
gleichgeschlechtlichen Partnern sei der Kindesentwick-
lung abträglich. Das Ergebnis der von unserer damaligen
Bundesjustizministerin in der vergangenen Legislaturpe-
riode in Auftrag gegebenen Studie „Die Lebenssituation
von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartner-
schaften“ widerlegt diese These. Demnach ist der be-
deutsame Einflussfaktor für die kindliche Entwicklung
in allen Familienformen die Beziehungsqualität in der
Familie. Der Studie zufolge wachsen Kinder in gleichge-
schlechtlichen Partnerschaften genauso gut auf wie bei
heterosexuellen Eltern. Das Ergebnis der Untersuchung
fordert eindeutig: Die gemeinsame Adoption für Lebens-
partner ist jetzt endlich zuzulassen. Frau Justizministe-
rin, das Ergebnis der Studie liegt seit Juli 2009 vor. Dür-
fen wir noch mit einer Vorlage Ihres Hauses rechnen?
Auch im Einkommen- und Grunderwerbsteuerrecht steht
die Gleichstellung noch aus. Im Erbschaft- und Schen-
kungsteuerrecht ist die Angleichung der Steuersätze
nicht erfolgt. Im öffentlichen Dienst werden Lebenspart-
ner bisher nur in Teilbereichen berücksichtigt. Auch hier
scheint vollkommener Stillstand eingetreten zu sein in
Ihrer Koalition und in Ihrem Ministerium.
Weiterhin begrüßen wir zwar, dass der Bundesinnen-
minister für das öffentliche Dienstrecht einen Referen-
tenentwurf zur Übertragung ehebezogener Regelungen
auf Lebenspartnerschaften vorgelegt hat. Der Entwurf
sieht ein Inkrafttreten am Tag nach der Verkündung vor.
Um den Vorgaben der umzusetzenden Richtlinie 2000/
78/EG Genüge zu tun, müsste das Gesetz jedoch rück-
wirkend mit Ablauf der Umsetzungsfrist in Kraft treten.
Auch dies lässt auf Stillstand im Handeln der Bundesre-
gierung schließen. Der ebenfalls im Koalitionsvertrag
angekündigte Abbau von Benachteiligungen im Steuer-
recht und insbesondere die Umsetzung der Entscheidun-
gen des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung
von Lebenspartnern mit Ehegatten ist nicht erfolgt. Im
Einkommensteuerrecht werden eingetragene Lebens-
partnerschaften aber entgegen den Ankündigungen im
Koalitionsvertrag insbesondere beim Ehegattensplitting
immer noch gegenüber Ehegatten benachteiligt. Der
gleichheitswidrige Zustand hält für die Lebenspartner-
schaften damit an. Ihre Schirmherrschaft allein wird den
Stillstand nicht beenden. Wir fordern Sie daher auf, end-
lich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Eingetragene
Lebenspartnerschaften in allen Bereichen mit der Ehe
gleichstellt und bestehende Benachteiligungen abschafft.
Stephan Thomae (FDP): Ihnen allen ist bekannt,
dass die FDP immer beharrlich und unbeirrbar dafür ein-
getreten ist, dass jeder Mensch seinen Lebensentwurf
verwirklichen kann. Dies galt immer und gilt weiterhin,
auch im Hinblick auf unterschiedliche sexuelle Orientie-
rungen. Die FDP hat dabei immer ihr Augenmerk auf
das Machbare gelegt. Es war und ist uns immer wichtig,
zu fragen, was politisch umsetzbar ist. Mit Schaufenster-
anträgen kann man manchmal Teile der Öffentlichkeit
beeindrucken. Aber entscheidend ist, sein Ziel im Auge
zu behalten und – wenn man es nicht sofort erreichen
kann – sich ihm Schritt für Schritt zu nähern. Dies tut die
FDP.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag mit der CDU
und der CSU vereinbart, den nächsten Schritt zu unter-
nehmen, um die Schlechterstellung gleichgeschlechtli-
cher Paare im Beamtenrecht zu korrigieren. Neben der
Gleichstellung von Lebenspartnern im BAföG haben wir
im Jahressteuergesetz 2010 sowohl die Gleichstellung
von Lebenspartnern bei den Steuersätzen der Erbschaft-
und Schenkungsteuer als auch die Befreiung des Lebens-
partners bei der Grunderwerbsteuer vorgesehen. Das ist
pragmatische Politik, die den Betroffenen mehr nützt als
zur Schau getragene Maximalforderungen, wie zum Bei-
spiel im Antrag der Linken, der vielleicht viel Beifall
finden mag und hohe Erwartungen weckt, aber dann in
der gesellschaftlichen und politischen Diskussion Wi-
derstand hervorruft.
Und auch der SPD vermag ich heute kein viel besse-
res Zeugnis auszustellen. Heute beglückt uns die SPD
mit ihren guten Ideen. Das Lebenspartnerschaftsgesetz
ist 2001 zu rot-grüner Regierungszeit in Kraft getreten.
Und es fällt uns Liberalen auch gar kein Zacken aus der
Krone, das anzuerkennen. Die FDP hat damals dem Ge-
setz nicht zugestimmt, weil sie 1999 selbst schon einen
eigenen Vorschlag in den Bundestag eingebracht hatte.
Es ist allerdings, in manchen Teilen, unvollständig ge-
blieben. Ich nenne hier Lücken in den Bereichen des Ad-
optionsrechts, des Beamtenrechts, des Einkommensteu-
errechts und des Erbschaftsteuerrechts. 2004 hat die
FDP dem Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz zuge-
stimmt. Umstrittenster Punkt darin war die Stiefkindad-
option. Der Freistaat Bayern hatte deshalb damals auch
gegen dieses Ergänzungsgesetz einen Normenkontroll-
antrag vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben.
Nachdem sich nunmehr die FDP in der bayerischen
Staatsregierung befindet, hat der Freistaat Bayern diesen
Normenkontrollantrag zurückgezogen. Daran, dass die
Union mit uns nun in dieser Legislatur die nächsten
Schritte tun wird, kann man erkennen: CDU, CSU und
FDP tun gemeinsam weitere Schritte.
Summa summarum kann ich Ihnen versichern, dass
diese Regierung einen klaren rechts- und innenpoliti-
schen Kompass besitzt und eine Justizministerin, die mit
diesem Kompass umzugehen versteht. Ein Kompass ist
kein Zauberstab, der den Wanderer gleich ans Ziel zau-
bert. Aber wer seinem Kompass vertraut und unbeirrt
Schritt für Schritt macht, der nähert sich unweigerlich
seinem Ziel. Seien Sie gewiss: Die Regierungskoalition
befindet sich auf dem richtigen Weg.
Michael Kauch (FDP): Die FDP hat Wort gehalten.
In den zurückliegenden Monaten hat die FDP in der
Gleichstellungspolitik für Lesben und Schwule mehr
durchgesetzt als die SPD in den vier Jahren Regierung
zuvor. Deshalb ist es schon sehr fragwürdig, dass die
SPD kurz vor den Christopher Street Days in den großen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5139
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(D)(B)
Städten Deutschlands diesen Antrag vorlegt. Mit der hei-
ßen Nadel gestrickt, will sie der FDP Nachhilfe geben.
Diese Nachhilfe hätte eher die SPD in der Großen
Koalition gebraucht, meine Damen und Herren von den
Sozialdemokraten. Wir Liberale stehen für Stärkung der
Bürgerrechte. Wir haben mit dem gleichen Koalitions-
partner, den die SPD in den letzten Jahren hatte, erheb-
lich mehr für Lesben und Schwule durchgesetzt; denn
wir haben uns nachdrücklich engagiert, hatten Erfolg
und arbeiten diesbezüglich alle Punkte des Koalitions-
vertrages ab, Schritt für Schritt. FDP und Union haben
vereinbart: „Wir wollen die Ausgewogenheit von Rech-
ten und Pflichten von Eingetragenen Lebenspartner-
schaften verbessern. Dazu werden wir die familien- und
ehebezogenen Regelungen über Besoldung, Versorgung
und Beihilfe auf Lebenspartnerschaften übertragen.“ Zur
Umsetzung befindet sich ein Gesetzentwurf in der Res-
sortabstimmung. FDP und Union haben weiter verein-
bart: „Wir werden gleichheitswidrige Benachteiligungen
im Steuerrecht abbauen und insbesondere die Entschei-
dungen des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstel-
lung von Lebenspartnern mit Ehegatten umsetzen.“
Als ersten Schritt hat das Bundeskabinett im Mai be-
schlossen, dass Eingetragene Lebenspartner bei Grund-
erwerb- und Erbschaftsteuer völlig mit Ehegatten gleich-
gestellt werden. Das erfolgt im Jahressteuergesetz. Die
Änderung bei der Erbschaftsteuer bringt eingetragenen
Lebenspartnern nun nicht nur gleiche Freibeträge, son-
dern auch gleiche Steuersätze wie Ehegatten. Durch die
Änderung bei der Grunderwerbsteuer wird die Übertra-
gung von Grundstücken zwischen Lebenspartnern steu-
erfrei. Gleiches gilt für den Grundstückserwerb aus dem
Nachlass bei Tod eines der Lebenspartner. Jetzt gilt auch
im Steuerrecht zunehmend: Wer gleiche Pflichten hat,
muss auch gleiche Rechte bekommen. Hier werden wir
weiter machen, auch bei den verbleibenden Benachteili-
gungen im Steuerrecht. Bereits von der Bundesregie-
rung beschlossen und in das parlamentarische Verfahren
eingebracht ist die BAföG-Reform. Lebenspartner wer-
den bei der Ausbildungsförderung und bei den Auf-
stiegsfortbildungen gleichbehandelt. Die Gleichstel-
lung hat übrigens für die Betroffenen zwei Seiten,
nämlich bei Rechten und Pflichten. Einerseits werden
künftig die Partnereinkommen bei der Berechnung der
BAföG-Leistungen angerechnet, andererseits werden
dem Paar auch die gleichen Freibeträge bei Einkom-
mensberechnung, Darlehensrückzahlung und sonstigen
Abzugsmöglichkeiten wie bei Ehegatten eingeräumt.
Zudem – und das ist ein bedeutsamer Fortschritt – wer-
den auch ausländische Lebenspartner künftig förderbe-
rechtigt sein. Sie sehen, welche Fortschritte die FDP be-
reits erreicht hat. Die FDP setzt in der Regierung das
um, was sie vor der Wahl versprochen hat.
Schritt für Schritt zur Gleichstellung, das ist der Weg
der FDP-Bundestagsfraktion und von Bundesjustiz-
ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Klar ist
aber auch: Nicht alle Forderungen der FDP konnten in
der Koalition umgesetzt werden. Wir treten weiterhin
für das volle gemeinsame Adoptionsrecht eingetragener
Lebenspartner ein, auch wenn wir wissen, dass die
Union diesen Weg noch nicht mitgehen will. Wir werden
auf diesem Weg weiter vo-ranschreiten. Unser Ziel ist
die vollständige Gleichstellung Eingetragener Lebens-
partner mit der Ehe. Welchen Namen sie trägt, ist dann
nicht mehr entscheidend. Die Liberalen sind der Motor
für Bürgerrechte in der Koalition mit der Union. Der
Stillstand aus der Zeit von Schwarz-Rot wurde beendet.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Am kommenden
Wochenende findet der 32. Christopher Street Day in
Berlin statt. Der CSD gedenkt alljährlich dem Aufstand
von Schwulen und Transgendern. Sie rebellierten gegen
einen brutalen Polizeiüberfall am 27. Juni 1969 auf das
Lokal „Stonewall Inn“ in der Christopher Street in New
York.
Der Berliner CSD erwartet mehr als eine halbe Mil-
lion Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die bunt, vielfäl-
tig und schrill demonstrieren werden. Lesben, Schwule,
Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle gehen
selbstbewusst auf die Straße. Sie fordern endlich in allen
Bereichen „normal“, das heißt gleichbehandelt zu wer-
den. Sie fordern ein Ende der vielen kleinen und großen
Diskriminierungen, denen sie sich immer noch im tägli-
chen Leben ausgesetzt sehen. Viele Berlinerinnen und
Berliner werden sich dieses Ereignis nicht entgehen las-
sen und damit ihre Solidarität ausdrücken.
Sicher ist vieles erreicht worden; Homosexualität wird
nicht mehr strafbewehrt oder als Krankheit klassifiziert.
Als vorläufigen Höhepunkt jahrzehntelangen Kamp-
fes beschloss der Deutsche Bundestag im Jahre 2001 das
Lebenspartnerschaftsgesetz. Dieses Gesetz ermöglichte
erstmals eine staatlich anerkannte Partnerschaft von Les-
ben und Schwulen. Der deutsche Gesetzgeber entschloss
sich zu einem sehr mutigen und wichtigen Schritt. Doch
von Beginn an war dieses Gesetz mit einem Makel be-
haftet. Es schuf ein eigenes Rechtsinstitut für Lesben
und Schwule, das deutlich weniger Rechte, aber nahezu
alle Pflichten der Ehe vorsah.
Einige europäische Staaten gingen einen anderen
Weg. Die Niederlande, Belgien, Spanien, Norwegen,
Schweden und Portugal öffneten die Ehe. Dieser Schritt
ist konsequent, denn er schafft nicht eine Sondergesetz-
gebung, die sich durch zahlreiche Einzelgesetze zieht
und – wie im Fall des Transsexuellengesetzes – zu er-
heblichen rechtlichen Problemen führt.
Am 7. Juli 2009 entschied das Bundesverfassungs-
gericht, dass es verfassungsrechtlich nicht begründbar
sei, aus dem besonderen Schutz der Ehe abzuleiten, dass
andere Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe aus-
zugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen
sind. Es schloss sich in der Argumentation dem soge-
nannten Maruko-Urteil des EuGH vom 1. April 2009 an.
Das Urteil des BVerfG ist fundamental. Es erteilt dem
Gesetzgeber den Auftrag die Diskriminierung der einge-
tragenen Lebenspartnerschaft endlich zu beenden.
Wir könnten nun das Lebenspartnerschaftsgesetz in
allen Bereichen der Ehe gleichstellen, wie es die SPD
fordert. Dies ist ein möglicher, aber sehr mühevoller
Weg und erfordert die Änderung einer Vielzahl von
Gesetzen und Verordnungen sowohl auf Bundes- als
auch auf Landesebene. Darüber legt die heutige, in den
5140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Situation
ein beredtes Zeugnis ab. Fast zehn Jahre nach der
Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes haben es
einige Bundesländer immer noch nicht in Landesrecht
überführt. So darf der Akt der Verpartnerung in Baden-
Württemberg nicht in den Standesämtern vollzogen wer-
den, sondern wird in die Ordnungsämter verbannt. Zum
Teil verlangen Kommunen für eine Verpartnerung dop-
pelt so hohe Gebühren wie für eine Eheschließung. Zu-
dem würden wir weiterhin zwei Rechtsinstitute haben,
eines für heterosexuelle Menschen und eines für homo-
sexuelle Menschen. Dies ist nicht mehr zeitgemäß.
Tun wir es dem isländischen Parlament gleich, das
sich am vergangenen Wochenende einstimmig für die
Öffnung der Ehe entschied und zugleich die seit 1996
geltende eingetragene Lebenspartnerschaft außer Kraft
setzte. Auch der Berliner Senat wird demnächst eine Ini-
tiative zur Öffnung der Ehe in den Bundesrat einbringen.
Diskriminierung ist nicht mehr zeitgemäß, und die
Öffnung der Ehe wäre ein wesentlicher Baustein, um die
Diskriminierung von Lesben und Schwulen endlich zu
beenden.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Bundesverfassungsgericht hat 2009 die Gleichstel-
lung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe
vom Gesetzgeber verlangt. Was ist seither geschehen?
Nichts. Die Gleichstellung bei der Erbschaftsteuer? –
Die wurde im November 2009 von der schwarz-gelben
Koalitionsmehrheit abgelehnt. Die Gleichstellung bei
der Einkommensteuer? – Fehlanzeige! Die Gleichstel-
lung bei der Beamtenversorgung? – Die verfassungswid-
rige Benachteiligung von Soldatinnen und Soldaten und
Beamtinnen und Beamten, die in einer Lebensgemein-
schaft leben, dauert bis zum heutigen Tag an. Und wo ist
die Bundesjustizministerin? Mehr als warme Worte sind
nicht zu hören. Die Ratifizierung des revidierten euro-
päischen Übereinkommens über die Adoption von Kin-
dern, das die Adoption durch Lebenspartner endlich zu-
lässt, steht noch immer aus, und dies obwohl
Deutschland bis zum Jahr 2008 besonders hartnäckig
– auch in Person der früheren Bundesjustizministerin
Zypries – dafür gearbeitet hat! Die Ermöglichung der ge-
meinschaftlichen Adoption, die von der FDP zehn Jahre
lautstark gefordert wurde, wird offensichtlich nicht ein-
mal vorbereitet.
Die Fraktionen der SPD und der Linken legen heute
zwei Anträge vor, die im Ergebnis zum selben, richtigen
Schluss kommen und deshalb von der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen in der Sache unterstützt werden.
Ich freue mich, dass gerade die SPD jetzt auch für die
volle Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner-
schaft mit der Ehe inklusive des Adoptionsrecht für les-
bische und schwule Paare eintritt. In der Vergangenheit,
insbesondere in der gemeinsamen Regierungszeit, war
die Haltung der Sozialdemokraten in dieser Frage nicht
immer eindeutig. Deswegen begrüße ich die Klarstel-
lung, die dieser Antrag für die zukünftige Zusammenar-
beit mit sich bringt. Die Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode
Initiativen eingebracht, die die vollständige rechtliche
Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft
mit der Ehe bzw. die Öffnung der Ehe für Lesben und
Schwule gefordert haben. Im Gegensatz zu den jetzt vor-
gelegten Anträgen handelte es sich jedoch um ausformu-
lierte, umfassende Gesetzentwürfe, die wir der Bundes-
regierung gern zur Verfügung stellen, um die heute von
der SPD und den Linken geforderten Anliegen umzuset-
zen.
Die Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner-
schaft mit der Ehe ist aus verfassungsrechtlichen Grün-
den nicht nur möglich, sondern sogar zwingend erforder-
lich. Dies hat das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli
des letzten Jahres in einem Entscheid zur Hinterbliebe-
nenversorgung deutlich gemacht. Das Gericht hat festge-
stellt, dass eingetragene Lebenspartnerschaft und Ehe ju-
ristisch vergleichbar sind, weil sie – ich zitiere – „eine
auf Dauer übernommene, auch rechtlich verbindliche
Verantwortung für den Partner“ begründeten – BVerfG, 1
BvR 1164/07 Rn. 102ff. Und – das sage ich insbeson-
dere in Richtung der Konservativen in CDU/CSU und in
der FDP –: „Ein Grund für die Unterscheidung von Ehe
und eingetragener Lebenspartnerschaft kann nicht darin
gesehen werden, dass typischer Weise bei Eheleuten auf-
grund von Kindererziehung ein anderer Versorgungsbe-
darf entstünde als bei Lebenspartnern. Nicht in jeder Ehe
gibt es Kinder. Es ist auch nicht jede Ehe auf Kinder aus-
gerichtet.“ Und das Gericht weiter: „In zahlreichen ein-
getragenen Lebenspartnerschaften leben Kinder.“
Das Bundesverfassungsgericht ist hier in seiner Wahr-
nehmung der gesellschaftlichen Realität sehr viel weiter
als große Teile der Regierungskoalition. Während das
Justizministerium und die Bundesregierung es noch
nicht einmal schaffen, das revidierte europäische Über-
einkommen über die Adoption von Kindern zu zeichnen,
erkennt das Bundesverfassungsgericht die gelebte Wirk-
lichkeit von liebevollen Regenbogenfamilien an. Wieder
einmal ist es Karlsruhe, das der Regierung den Weg wei-
sen muss. Das Gericht ist zum Ergebnis gekommen, dass
Unterscheidungen zwischen den Instituten der Ehe und
der eingetragenen Lebenspartnerschaft sachlich nur dann
zulässig sind, wenn diese Unterschiede in der Natur der
Beziehungen selbst liegen. Meine Fraktion hat die Bun-
desregierung in einer Kleinen Anfrage aufgefordert, zu
zeigen, welche Unterscheidungen das sein könnten. Die
einzige Unterscheidung, die den Beamten eingefallen
ist: Auch in Zukunft soll es kein Lebenspartnerschafts-
befähigungszeugnis analog zum Ehebefähigungszeug-
nis geben. Da kann man doch nur sagen: Selbst Ihnen
von der CDU/CSU und der FDP fehlt es inzwischen an
Fantasie, wie man die von Ihnen betriebene Diskriminie-
rung noch seriös begründen kann!
Die Schlussfolgerungen aus dem Entscheid des Bun-
desverfassungsgerichts sind klar: Der Gesetzgeber ist
verpflichtet, sämtliche Ungleichbehandlungen zwischen
Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft zu beseiti-
gen. Dies gilt insbesondere für das Steuerrecht, das
Beamtenrecht und auch für das Adoptionsrecht. Diese
Auffassung bestätigen auch mehrere Gutachten des Wis-
senschaftlichen Dienstes des Bundestages. Die Bundes-
regierung und die Koalitionsfraktionen bleiben jedoch
untätig. Auch ein Jahr nach dem Entscheid liegen dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5141
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(D)(B)
Parlament keine Gesetzentwürfe vor, welche die Miss-
stände beseitigen. Die Bundesregierung behält sich vor,
nur bei Neuregelungen von bestimmten Sachgebieten
die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu berück-
sichtigen. Das genügt nicht. Es kann nicht sein, dass die
Grund- und Bürgerrechte von Lesben und Schwulen
weiter ignoriert werden, weil es nicht in das gemächliche
Arbeitstempo, um es höflich zu formulieren, der
schwarz-gelben Regierung passt. Als Deutscher Bundes-
tag ist es unsere Pflicht, selbst tätig zu werden; denn je-
der Tag ohne rechtliche Gleichstellung verletzt die Ver-
fassung unseres Landes.
Es gibt verschiedene Wege zur Gleichberechtigung.
Die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben wäre der
einfachste und gradlinigste Weg: Diesen Weg sind zahl-
reiche europäische Nachbarn gegangen, darunter die ka-
tholisch geprägten Staaten Portugal und Spanien. Die
Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aner-
kennt, dass Liebe, Fürsorge und gegenseitige Ver-
antwortung nicht in einer heterosexuellen und einer ho-
mosexuellen Ausprägung existieren. Es sind dieselben
gelebten Werte und deswegen sollte es auch nur ein
Institut geben. Dennoch: Bis zur Öffnung der Ehe und
der Neudefinition des Ehebegriffs als eine auf Lebens-
zeit geschlossene Verbindung zweier Menschen, die für-
einander Verantwortung übernehmen, muss das Parla-
ment seiner Aufgabe gerecht werden und gleiche Rechte
schaffen. Deswegen ist es konsequent, jetzt die Gleich-
stellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der
Ehe vorzunehmen. Dieser Weg ist vom Verfassungsge-
richt vorgezeichnet, und deswegen kann und muss er
jetzt gegangen werden. Meine Fraktion hat in den ver-
gangenen Wochen weitere Gesetzentwürfe eingebracht:
zur Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner-
schaft im Adoptionsrecht und im Beamtenrecht. Auch
im Detail werden wir diese Regierung stellen, wo es not-
wendig ist.
In diesen Tagen finden überall in der Republik De-
monstrationen und Paraden für die Rechte von Schwu-
len, Lesben, Trans- und Intersexuellen statt. Nunmehr
41 Jahre dauert der Kampf um Anerkennung und gleiche
Rechte. Mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft und
der Möglichkeit der Stiefkindadoption haben insbeson-
dere wir Grünen unseren Beitrag dazu geleistet. Die
Große Koalition aus SPD und CDU und auch die jetzige
schwarz-gelbe Mehrheit haben in der Bürgerrechtspoli-
tik vor allem Stillstand bedeutet. Es ist an der Zeit, den
nächsten Schritt zu gehen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes für
bessere Beschäftigungschancen am Arbeits-
markt – Beschäftigungschancengesetz (Tages-
ordnungspunkt 13)
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Noch ist die derzeitige
Wirtschafts- und Finanzkrise nicht überwunden, aber wir
sind hier auf einem sehr guten Weg. Jetzt ist nicht die
Zeit, resigniert auf der Stelle zu treten, sondern die Zeit
des Vorwärtsschauens. Bei der Opposition, vor allem bei
den Linken, ist aber das Schlechtreden der gegenwärti-
gen Situation symptomatisch. Sie verhält sich damit sta-
tisch und rückwärtsgewandt. Aus vielerlei Gründen ist
die Stimmung derzeit oft schlechter als die Lage. Statt
hier gegenzusteuern, gießen gerade die Linken mit ihrer
Angstrhetorik hier immer wieder Öl ins Feuer.
Zwei gegensätzliche Tendenzen sind derzeit sichtbar:
Einerseits bewegen sich viele Unternehmen mit ihren
Haltekosten noch immer an den Grenzen der Belastbar-
keit, andererseits beginnt allmählich die wirtschaftliche
Erholung. Manche Unternehmen erreicht die Krise ver-
mutlich erst in den nächsten Monaten und wird sie über
2010 hinaus vor Herausforderungen stellen.
Hier greift die Bundesregierung mit dem Beschäfti-
gungschancengesetz ein. So wird die Sonderregelung
zur Förderung der Kurzarbeit bis März 2012 verlängert
und den Unternehmen damit Planungssicherheit gege-
ben. Darüber hinaus verlängern wir die Sonderregelung,
dass Kurzarbeitergeld für Zeitarbeitnehmer unter glei-
chen Voraussetzungen wie für andere Arbeitnehmer
möglich ist.
Für Qualifizierungsmaßnahmen während der Kurzar-
beit werden den Arbeitgebern die vollen Sozialversiche-
rungsbeiträge erstattet, wenn die Arbeitnehmer während
mindestens der Hälfte der ausgefallenen Arbeitszeit qua-
lifiziert werden.
Die volle Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge
für Kurzarbeit ab dem 1. Januar 2009 erfolgt ab dem
siebten Kalendermonat des Bezugs; die Erstattung er-
folgt arbeitgeberbezogen.
Dabei darf die Kurzarbeiterregelung aber nicht den
Charakter einer Dauersubvention bekommen. Deshalb
soll zum Beispiel auch die Konzernklausel nicht verlän-
gert werden, nach der Unternehmen Sozialabgaben so-
fort erstattet wurden, wenn an einem anderen Standort
schon die Kurzarbeit eingeführt war.
Im Krisenjahr 2009 sind wir wegen des klugen Kri-
senmanagements der Bundesregierung gut gefahren. Das
ist vor allem auch der Kurzarbeit zu verdanken, sozusa-
gen dem Kriseninstrument Nummer eins.
Kurzarbeit verhindert Arbeitslosigkeit zum einen dank
der Arbeitgeber, die ihren Beitrag geleistet haben, indem
sie die Haltekosten getragen haben, und zum anderen
dank der Politik, die das Kurzarbeitergeld bewilligt hat.
Kurzarbeitergeldregelung und flexiblere Tarifvertrags-
gestaltung haben es vielen Unternehmen erlaubt, ihre
Arbeitnehmer auch in der Krise weiterzubeschäftigen.
Vor allem können sich aber auch die Beschäftigten, die
Lohneinbußen auf sich genommen haben, um ihre Ar-
beitsplätze zu behalten, diesen Erfolg zurechnen.
Vor allem vom Mittelstand wird die Kurzarbeit ge-
nutzt. Sie sichert Unternehmen ihre gut eingespielte Be-
legschaft, die sie für den nächsten Auftrag braucht. Zu
beobachten ist in diesen Zeiten auch: Viele Betriebe ste-
hen zu ihren Beschäftigten, insbesondere zu den älteren
5142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
unter ihnen. Es gab keine Entlassungs- und auch keine
Frühverrentungswellen.
Gerade vor dem Hintergrund des sich wieder verstär-
kenden Fachkräftemangels war und ist es ein Gebot der
ökonomischen Vernunft, zumindest die Stammbeleg-
schaften zu halten.
Hunderttausende Arbeitsplätze konnten so gerettet
werden, zwei Drittel davon vor allem in kleinen und
mittleren Unternehmen. Laut DGB gäbe es ohne Kurzar-
beit jetzt wahrscheinlich 200 000 bis 300 000 Arbeits-
lose mehr.
Drei Aspekte möchte in diesem Zusammenhang be-
sonders hervorheben:
Erstens. Gerade kleine und mittelständische Betriebe
profitieren von der Regelung. Über die Hälfte der Kurz-
arbeit, 52 bis 56 Prozent, wird in mittelständischen Be-
trieben zwischen 20 und 500 Mitarbeitern geleistet.
Zweitens. Durch Kurzarbeit werden auch innovative
Betriebe mit hochqualifizierten Arbeitskräften gefördert.
Müsste ein Teil dieser Belegschaft gehen, ginge den Un-
ternehmen Innovationspotenzial verloren.
Drittens. Viele Betriebe bilden weiter aus, statt die
Ausbildung im Zuge der Krise und vor dem Hintergrund
drohender Entlassungen einzustellen.
Der derzeitige Rückgang der Kurzarbeit beweist noch
einmal, wie wichtig es ist, sie als Instrument zur Bewäl-
tigung der Krise einzusetzen.
Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-
schung, IAB, belief sich die Zahl der Kurzarbeiter im
Monatsdurchschnitt des ersten Quartals 2010 auf rund
933 000 Personen, nach 1,12 Millionen im dritten und
984 000 im vierten Quartal des Jahres 2009.
Sie sehen: Das Beschäftigungschancengesetz ist ein
weiteres Instrument, um der Wirtschafts- und Finanz-
krise entschlossen entgegenzutreten. Unser Ziel ist es,
aus der Krise heraus neue Brücken zu mehr Beschäfti-
gung zu bauen und gezielt die zu unterstützen, die es auf
dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben.
Jetzt ist nicht die Zeit der Zauderer und Bedenkenträ-
ger, sondern die Zeit derjenigen, die Mut zum Handeln
haben. Springen Sie deshalb über Ihren Schatten und
stimmen Sie unserem Maßnahmenpaket zu!
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Gut, dass ein
Gesetz gilt, von niemandem angezweifelt, nicht beklagt
und als absolut verfassungskonform bewertet. Es ist
nicht das Beschäftigungschancengesetz, das wir heute in
erster Lesung behandeln, sondern es ist das sogenannte
Struck’sche Gesetz. Denn für den Entwurf eines Geset-
zes für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt
muss es dringend Anwendung finden. Kein Gesetz
kommt so aus dem Bundestag heraus, wie es hereinge-
kommen ist.
Warum ist das so wichtig in diesem Fall? Vom Ent-
wurf sind viele arbeitsmarktrelevante Maßnahmen be-
rührt. Zusammengefasst sollen sie dem Ziel dienen, die
Chancen auf Beschäftigung zu verbessern. Daran
möchte ich die geplanten Veränderungen messen und sie
auf Folgendes hin prüfen: Was wird besser, was ver-
schlechtert sich – und für wen?
Beginnen wir mit der freiwilligen Versicherung in der
Arbeitslosenversicherung, § 28 a SGB III. Es ist richtig,
diese Möglichkeit zu entfristen. Es ist nachvollziehbar,
dass die Beiträge erhöht werden sollen. Aber die Bei-
träge für eine Gründungsphase nur ein Jahr lang auf
50 Prozent zu reduzieren, das scheint mir zu wenig. Der
DGB schlägt 24 Monate vor; das finde ich angemessen.
Schon die Umbenennung in „Versicherungspflicht-
verhältnis auf Antrag“ dokumentiert Ihren lobenswerten
Willen zur Neustrukturierung. Ich möchte Ihnen Mut
machen, noch einen weiteren Punkt einer besseren Lö-
sung zuzuführen. Es geht dabei um mehr Gerechtigkeit
bei der Leistung aus diesem Versicherungsverhältnis.
Wenn die Beitragshöhen gleich sind, sollte beim Leis-
tungsanspruch in der Höhe nicht nach sogenannten Qua-
lifizierungsstufen differenziert werden. Im Übrigen plä-
diere ich für ein wesentlich größeres Zeitfenster für
einen möglichen Beitritt nach Inkrafttreten des Gesetzes.
Geben Sie auch den langjährig Selbstständigen eine
Chance!
Wesentliche Änderungen nehmen Sie beim Kurzar-
beitergeld vor. Ihre Verlängerung der flexibleren und
kraftvolleren Kurzarbeitergeldregelung findet sich da;
meines Erachtens wäre sie unter Fortführung der gelten-
den Bedingungen besser.
Von herausragender Bedeutung sind jedoch die Ver-
änderungen, die Sie für Transfergesellschaften vorneh-
men wollen. Wir wissen, Transfergesellschaften sind ein
bewährtes arbeitsmarktpolitisches Instrument. Sie die-
nen als Brücke von und in Beschäftigung. Sie haben sich
bewährt, wenn es darum geht, strukturelle Umbrüche so-
zialverträglich zu gestalten. Sie erlauben, stichtagbezo-
gen und unabhängig von individuellen Kündigungster-
minen Strukturveränderungen umzusetzen. Ihr Ziel ist
es, die Betroffenen für eine weitere, der Qualifikation
entsprechende oder auf ihr aufbauende Tätigkeit zu qua-
lifizieren und in eine entsprechende Tätigkeit zu vermit-
teln.
Wenn wir Ihre Novellierung an diesen Kriterien mes-
sen, stellen wir fest, dass nicht alle zielführend sind. Da-
für drei Beispiele:
So ist die Regelung „Profiling durch BA“ eine Einla-
dung zur Doppelarbeit, also besser zu modifizieren.
So wäre die Erweiterung des Transferkurzarbeitergel-
des von 12 auf bis zu 24 Monate jetzt zu diskutieren und
gegebenenfalls einzubringen. Dazu findet sich jedoch
nichts.
So fehlt es insgesamt an Klarheit in den Regelungen
zu Erfolg und Qualität.
Ich hoffe, dass die geplante Anhörung Ihnen auch hier
Gelegenheit gibt, die jetzt vorliegenden Regelungen zu
verbessern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5143
(A) (C)
(D)(B)
Lassen Sie uns gemeinsam auch noch einmal auf
§ 131 Abs. 3 SGB III schauen, das sogenannte Bemes-
sungsentgelt. Sollte es nicht unser gemeinsames Ziel
sein, Teilnehmer an Transfergesellschaften bei Eintritt
von Arbeitslosigkeit so zu stellen, als hätten sie unmit-
telbar Arbeitslosengeld in Anspruch genommen?
Bei mehreren Förderinstrumenten im SGB III schla-
gen Sie eine Verlängerung der Laufzeit vor. Das bewer-
ten wir positiv. Hier greife ich drei heraus: die Verlänge-
rung des Programms WeGebAU; noch besser wäre die
Entfristung dieses erfolgreichen Instrumentes, § 417
SGB III; die Verlängerung des Eingliederungszuschus-
ses für Ältere, §421 f SGB III; die Verlängerung des
Ausbildungsbonus im Zusammenhang mit Insolvenz
oder Stilllegung, § 421 r SGB III. Aber Sie wissen, dass
es zum Ausbildungsbonus weitaus mehr zu sagen und zu
regeln gäbe.
Leider konnten Sie sich – bis jetzt – nicht entschlie-
ßen, andere Instrumente über Dezember 2010 hinaus zu
verlängern, so zum Beispiel den Ausbildungsbonus für
Altbewerber. Junge Menschen, die es besonders schwer
haben, in Ausbildung zu kommen, dürfen wir nicht ab-
schreiben; vielmehr müssen wir uns verstärkt um sie
kümmern. In den Reden der Ministerin höre ich das im-
mer wieder. Recht hat sie. Setzen Sie es in die Tat um!
Ein Problem will, nein: muss ich hier ansprechen. Es
ist das Ende der Förderung des dritten Ausbildungsjah-
res in der Altenpflege. Dazu haben wir im Ausschuss den
Parlamentarischen Staatssekretär Brauksiepe gehört. In
Ihrem Gesetzentwurf finde ich keine Verlängerung dieser
Förderung, § 421 t Abs. 5 Nr. 6 SGB III. Ich schließe da-
raus, dass die Bundesregierung beabsichtigt, tatsächlich
„auszusteigen“. Ich halte das für grundfalsch.
Die Ausbildungsanfängerzahlen lagen 2009 noch un-
ter denen des Jahres 2001/2002. Die Ausbildungskosten
in der Altenpflege werden von den Bundesländern nur
bei den öffentlichen Schulen übernommen. In Nieder-
sachsen zum Beispiel ist jedoch jeder zweite Ausbil-
dungsplatz in einer privaten Schule. Hier fällt Schulgeld
von circa 260 Euro im Monat an. Das sogenannte Pfle-
gepaket in Niedersachsen sieht keine Lösung vor, und
ich fürchte, Niedersachsen ist nicht das einzige Bundes-
land, das belastbare Antworten nicht liefert. Ja, es
stimmt: Der Streit um die Finanzierung der Altenpflege-
ausbildung dauert bereits viele Jahre. Ja, dafür brauchen
wir eine bundesweite Lösung. Ja, wir dürfen die Bundes-
länder nicht aus der Verantwortung entlassen. Aber wol-
len Sie das auf dem Rücken potenzieller Fachkräfte aus-
tragen? Wollen Sie den Fachkräftemangel tatsächlich auf
diese Weise befeuern?
Schon diese Beispiele zeigen: Das Struck’sche Gesetz
muss angewendet werden, damit aus diesem Entwurf et-
was werden kann, das den Namen „Chancengesetz“ ver-
dient. Die SPD-Bundestagsfraktion wird Ihre parlamen-
tarische Nacharbeit kritisch-konstruktiv begleiten. Die
Arbeitsuchenden werden Sie daran messen, ob ihre
Chancen auf Arbeit tatsächlich steigen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Der Gesetzesentwurf
der Bundesregierung, das Beschäftigungschancengesetz,
ist ein wichtiger Beitrag zur wirtschaftlichen Entwick-
lung am Ende der Krise in Deutschland.
Hierbei möchte ich insbesondere den Aspekt des
Kurzarbeitergeldes beleuchten. Mein Kollege Johannes
Vogel wird sich den Fragen des privaten Vermittlungs-
gutscheins widmen.
Grundsätzlich muss man sagen, dass das Kurzarbei-
tergeld ein wichtiges arbeitsmarktpolitisches Instrument
in der Krise war und ist. Die Zahl der Arbeitslosen wäh-
rend der größten Wirtschafts- und Finanzkrise Deutsch-
lands ist stabil geblieben; es kam – im Gegensatz zu
unseren europäischen Nachbarländern – in deutschen
Unternehmen kaum zu Massenentlassungen, und die
Zahl der Arbeitslosen geht beständig zurück – nicht so
schnell, wie wir uns das gewünscht hätten, aber doch zü-
giger als erwartet.
Das ist auch gerade angesichts des bevorstehenden, ja
schon aktuellen Fachkräftemangels enorm wichtig. Die
Betriebe wissen, dass es für sie unerlässlich ist, Wissen
in den Betrieben zu halten und es nicht durch Entlassun-
gen zu verlieren. Hierbei hat das Kurzarbeitergeld gehol-
fen.
Gerade die Erleichterungen beim Kurzarbeitergeld
haben dazu geführt, dass es von den Unternehmen so gut
angenommen wurde. Die Lockerungen bei den Anforde-
rungen an die Anspruchsstellung, aber natürlich insbe-
sondere die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge
hat das Kurzarbeitergeld für die Unternehmen attraktiv
gemacht.
Es hat viele Menschen damit vor der Arbeitslosigkeit
geschützt, die gerade in der Krise vermutlich Schwierig-
keiten gehabt hätten, einen neuen Job zu finden. Wir alle
wissen, dass die Gefahr der Verfestigung der Langzeitar-
beitslosigkeit mit jedem Tag ohne Beschäftigung steigt.
Dadurch wurde auch die Bundesagentur für Arbeit bei
den Arbeitslosengeldzahlungen erheblich entlastet.
Denn es ist klar, dass das Kurzarbeitergeld im Endeffekt
günstiger ist als die Finanzierung der Arbeitslosigkeit
und die Vermittlungsbemühungen der Bundesagentur für
Arbeit, zumindest dann, wenn sich nicht doch noch Ar-
beitslosigkeit an die Kurzarbeit anschließt.
Trotz allem ist beim Einsatz dieses Mittels auch Vor-
sicht geboten. Nicht aus einer Befürchtung des Miss-
brauchs hinaus – da habe ich großes Vertrauen in unsere
Unternehmen –, sondern um einen notwendigen Struk-
turwandel in den Unternehmen zu ermöglichen.
Eins ist klar: Mit der FDP wird es keine Verlängerung
der gesetzlichen Bezugsfrist geben. Das würde Sinn und
Systematik des Kurzarbeitergeldes widersprechen, weil
der Arbeitsausfall gerade nicht mehr „vorübergehend“
ist. Das ist aber das gesetzliche Erfordernis, das über-
haupt eine solche staatliche Unterstützung rechtfertigt.
Bei einer 36-monatigen Bezugsdauer ließe sich der maß-
gebliche vorübergehende Arbeitsausfall kaum noch von
dauerhafter Verminderung des Arbeitsvolumens abgren-
zen. Eine seriöse Marktprognose und personalwirt-
schaftliche Planung ist auf eine so lange Frist kaum zu
5144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
erstellen. Belastbare betriebswirtschaftliche Prognosen
zum zukünftigen Arbeitsvolumen erscheinen über einen
Zeitraum von 36 Monaten nahezu ausgeschlossen. Das
haben auch alle Experten bei der entsprechenden Anhö-
rung im Ausschuss gesagt.
Genau aus diesen Gründen beträgt der gesetzliche
Grundfall der Bezugsfrist für das Kurzarbeitergeld sechs
Monate.
Kurzfristig in der Krise kann die Solidargemeinschaft
für angeschlagene Unternehmen einstehen; aber bei
wirtschaftlichen Problemen von bis zu oder sogar mehr
als drei Jahren – denn die Unternehmen beginnen ja
nicht am ersten Tag der Schwierigkeiten mit Kurzarbeit,
sondern gehen verantwortungsbewusst mit diesem Mit-
tel als Ultima Ratio um – muss sich ein Unternehmen
auch der Realität stellen, dass gewisse strukturelle Ver-
änderungen wohl unvermeidlich sind.
Vor allem soll das Kurzarbeitergeld die Beschäfti-
gungsverhältnisse sichern, die auch langfristig Bestand
haben, und keine abzusehende Arbeitslosigkeit verzö-
gern. Denn das ist ein Punkt, der häufig vergessen wird:
Die Kurzarbeit wird durch Mittel der Beitragszahler
finanziert, und die Kosten sind insbesondere seit der Er-
stattung der Sozialversicherungsbeiträge beachtlich.
Deshalb haben wir nützliche Maßnahmen im Be-
schäftigungschancengesetz befristet verlängert und wer-
den weniger hilfreiche Maßnahmen auslaufen lassen.
Denn wichtiger als die Quantität ist der richtige Einsatz
der Mittel. Einzelne Regelungen haben nicht den ge-
wünschten Erfolg gezeigt. Daher soll die 100-prozentige
Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge ab dem sieb-
ten Monat künftig betriebsbezogen und nicht mehr kon-
zernbezogen möglich sein. Damit schaffen wir die soge-
nannte Konzernklausel ab, die Konzerne bevorzugt und
kleine und mittlere Unternehmen ohne Grund benachtei-
ligt hat.
Die 100-prozentige Erstattung der Sozialversiche-
rungsbeiträge bei Qualifizierungsmaßnahmen war je-
doch eine bewusste Entscheidung, die wir als Liberale
getroffen haben. Wir haben immer die Relevanz von Bil-
dung und Weiterbildung im (Berufs-)Leben anerkannt
und gefördert.
Dabei muss klar sein, dass es eine Exit-Strategie gibt.
Wir sind in einer Erholungsphase; es gibt einen deutli-
chen Ausblick auf das Ende der Krise. Daher gibt es in
dem Beschäftigungschancengesetz keine vollständige
Synchronisierung der möglichen verlängerten Bezugs-
fristen des Kurzarbeitergeldes und der Erstattung der So-
zialversicherungsbeiträge. Diese Erstattung wird bis
Frühling 2012 verlängert. Nicht zuletzt müssen die Un-
ternehmen langsam wieder an die Erhöhung der Rema-
nenzkosten gewöhnt werden.
Als Fazit lässt sich zusammenfassen, dass das Kurzar-
beitergeld ein wichtiges Instrument ist, das maßvoll ein-
gesetzt werden muss. Haltlose Ausweitungen der Be-
zugsfrist oder ein Systemwechsel zur gesetzlich
festgeschriebenen Erstattung der Sozialversicherungs-
beiträge hilft nicht den Unternehmen und vor allem nicht
den Arbeitnehmern. Unsere Strategie steht; unser Au-
genmerk muss in Zukunft noch mehr auf den Anstren-
gungen zur wirtschaftlichen Erholung liegen. Denn trotz
aller Effizienz wünschen wir uns doch alle eine wirt-
schaftliche Situation, die den Einsatz solcher Maßnah-
men überflüssig macht.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Es wird Sie
wenig überraschen, aber ich kann mich den Argumenten
meines Fraktionskollegen Herrn Dr. Kolb nur anschlie-
ßen. Wir leisten mit dem Beschäftigungschancengesetz
einen wichtigen, entscheidenden Beitrag zum Ende der
Krise auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Ich will noch einmal kurz und abschließend die zen-
tralen Punkte mit Blick auf das Kurzarbeitergeld bekräf-
tigen: Das Kurzarbeitergeld war in der Krise wirklich
das Mittel der Wahl. Nur durch seinen Einsatz konnten
wir verhindern, dass sich auf dem deutschen Arbeits-
markt dieselben schwerwiegenden Einbrüche gezeigt ha-
ben, wie wir es im europäischen Ausland erlebt haben.
Man kann es gar nicht oft genug betonen: Es gibt ein
einziges Land in der Europäischen Union, das im Jahres-
verlauf 2008 bis 2009 nicht nur keinen Anstieg der Ar-
beitslosigkeit erlebt hat, sondern sogar einen leichten
Rückgang, nämlich Deutschland. Das ist nicht nur, aber
zu ganz wesentlichen Teilen auch dem Kurzarbeitergeld
zu verdanken.
Allerdings – und darauf haben wir Liberale auch
schon immer hingewiesen – sollte uns diese Erfolgsge-
schichte nicht übersehen lassen, dass wir nun die ersten
deutlichen Aufschwungsindikatoren haben. Das heißt,
eine Verlängerung des Kurzarbeitergelds ohne Augen-
maß wäre fatal. Deswegen haben wir eine Regelung ge-
wählt, die die Unternehmen unterstützt, aber auch dafür
sorgt, dass sie nicht einen möglicherweise notwendigen
Strukturwandel vernachlässigen. Außerdem haben wir
schlichtweg Unsinniges abgeschafft, etwa die Konzern-
klausel. Sie sehen, wir waren uns hier im Hause nicht im
Prinzip uneinig, wohl aber in den Details, und da haben
wir unsere Hausaufgaben besser gemacht.
Abgesehen davon gehen wir mit dem Beschäfti-
gungschancengesetz noch eine ganze Reihe anderer ar-
beitsmarktpolitischer Aufgaben an. Denn es wäre wenig
hilfreich, im anstehenden Aufschwung arbeitsmarktpoli-
tische Instrumente, deren Befristung zum Jahresende an-
steht, ohne nähere Prüfung auslaufen zu lassen. Grund-
sätzlich bleibt an dieser Stelle erst einmal festzuhalten,
dass die christlich-liberale Koalition bis Ende des Jahres
2011 alle – ich betone: alle – arbeitsmarktpolitischen In-
strumente evaluieren wird. Bei dieser Evaluation kann es
für uns nur einen Maßstab geben. Dieser Maßstab wird
die Frage sein: Was bringt Menschen in Arbeit? Wir
werden dies keinesfalls kurzfristig und einseitig verste-
hen, sondern langfristig und umfassend. Der Maßstab
muss also ein Augenmerk auf die Eröffnung von Chan-
cen legen.
Mit Blick auf die konkreten Maßnahmen will ich Fol-
gendes festhalten: Die Möglichkeit der freiwilligen Wei-
terversicherung in der Arbeitslosenversicherung stellen
wir auf eine neues, solides Fundament. Außerdem ist es
uns gelungen, die bisherigen Erfahrungen einfließen zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5145
(A) (C)
(D)(B)
lassen, weswegen wir beispielsweise die Antragsfrist auf
drei Monate verlängern und so Existenzgründern ganz
praktisch das Leben leichter machen. Ferner verlängern
wir die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer, den
Eingliederungszuschuss für Ältere, die Weiterbildung
beschäftigter älterer Arbeitnehmer in kleinen und mittle-
ren Unternehmen, die erweiterte Berufsorientierung so-
wie den Ausbildungsbonus bei Insolvenz. Wie gesagt,
hierbei geht es vor allem darum, nicht den ersten Schritt
vor dem zweiten zu tun. Alle Maßnahmen werden im
nächsten Jahr überprüft, und dann werden wir in Ruhe
entscheiden, was Sinn hat und was nicht.
Abgesehen davon werden wir noch Änderungsan-
träge zum Beschäftigungschancengesetz einbringen, bei-
spielsweise, um den Vermittlungsgutschein nach § 421 g
SGB III zu verlängern. Darüber hinaus wollen wir ihn
dahin gehend umgestalten, dass er gleich zu Beginn der
Arbeitslosigkeit von Erwerbslosen in Anspruch genom-
men werden kann. Auch der Vermittlungsgutschein wird
sich natürlich der neutralen Evaluation des nächsten
Jahres stellen müssen. Aber ich möchte doch einmal
festhalten, dass es ein Grundanliegen der rot-grünen Ar-
beitsmarktreformen gewesen ist, auch private Arbeits-
vermittlung zuzulassen, womit ein Markt- und Wettbe-
werbselement in den Bereich der Arbeitsvermittlung
Einzug gehalten hat. Als Liberaler kann ich das nur be-
grüßen, auch weil ich persönlich bisher den Eindruck ge-
wonnen habe, dass der Vermittlungsgutschein ein erfolg-
reiches Instrument ist.
Abschließend bleibt also festzuhalten, dass das Be-
schäftigungschancengesetz ein gutes Beispiel dafür ist,
dass man auch mit einer Summe im Einzelnen wenig
spektakulären gesetzgeberischen Maßnahmen gute Ar-
beitsmarktpolitik betreiben kann. Das Beschäftigungs-
chancengesetz zeichnet sich durch Bedacht und Ausge-
wogenheit aus. Nach den Änderungen der zweiten
Lesung werbe ich für breite Zustimmung in der dritten
Lesung.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Das Beschäfti-
gungschancengesetz, das die Regierung heute in den
Bundestag einbringt, ist ein Scheingesetz. Denn so sinn-
voll einzelne Regelungen dieses Gesetzes sein mögen:
Durch das zeitgleich von der Bundesregierung angekün-
digte Sparpaket wird die Axt bei der aktiven Arbeits-
marktpolitik angelegt. 16 Milliarden Euro sollen hier bis
2014 gekürzt werden. So wird den Arbeitsmarktmaßnah-
men, die die Bundesregierung mit dem Gesetz verlän-
gern will, die finanzielle Grundlage entzogen.
Zum Gesetzentwurf konkret. Dieser enthält drei zen-
trale Punkte:
Erstens. Die Bundesregierung will die Kurzarbeiter-
regelungen verlängern. Das ist vernünftig. Aber leider
hat sie es abgelehnt, die Bezugsdauer des Kurzarbeiter-
geldes auf 36 Monate zu verlängern und die steuerliche
Benachteiligung von Kurzarbeiterinnen und Kurzarbei-
tern, den Progressionsvorbehalt, zu beseitigen.
Auch Vorschläge der IG Metall, tarifliche Regelungen
mit gesetzlichen Maßnahmen zu unterstützen, wurden
nicht aufgegriffen.
Zweitens. Die Möglichkeit für eine bestimmte
Gruppe von Selbstständigen, sich freiwillig in der Ar-
beitslosenversicherung zu versichern, soll bestehen blei-
ben. Hier sind Sie dem Druck der Linken und den Grü-
nen gefolgt, die dies schon vor drei Monaten in den
Bundestag eingebracht hatten.
Nicht aufgegriffen haben Sie jedoch unsere Vor-
schläge, die Arbeitslosenversicherung für weitere Grup-
pen von Selbstständigen zu öffnen. Und Sie können
nicht nachvollziehbar begründen, warum Sie die Bei-
träge für Selbstständige in dieser Form erhöhen.
Drittens. Die Regierung will bestimmte zeitlich be-
fristete Regelungen verlängern, bis die Überprüfung der
Instrumente der Arbeitsförderung abgeschlossen ist. Es
geht hier zum Beispiel um Beschäftigungshilfen und die
Weiterbildung älterer Arbeitnehmer. Es geht um Maß-
nahmen zur Berufsorientierung oder den Ausbildungs-
bonus, der es Auszubildenden von pleitegegangenen
Betrieben ermöglichen soll, ihre Ausbildung abzuschlie-
ßen.
So weit, so gut. Das Absurde an der Politik der Bun-
desregierung ist: Sie will Maßnahmen verlängern und
streicht zugleich die Gelder, mit denen diese Maßnah-
men finanziert werden. Union und FDP betreiben damit
eine Placebopolitik auf dem Rücken der Erwerbslosen.
Unsere Arbeitsministerin Frau von der Leyen hat ihr
Wort gebrochen. Noch Ende April kündigte Sie an: „Wir
werden nicht sinnlos kürzen.“ Nun soll genau das statt-
finden.
Unsere Arbeitsministerin entpuppt sich immer mehr
als Ankündigungsministerin; sie tritt in der Öffentlich-
keit mit schönen Worten auf, aber die Taten bleiben aus.
Das erleben wir auch bei dem Thema Leiharbeit. Auf-
grund des öffentlichen Drucks kündigte sie Maßnahmen
gegen den Missbrauch von Leiharbeit an. Nun kursiert in
ihrem Haus ein dürftiger Gesetzentwurf, mit dem weder
die Benachteiligung der Leiharbeiterinnen und Leihar-
beiter beseitigt noch das Lohndumping mittels Leihar-
beit unterbunden wird.
Diese schwarz-gelbe Regierung braucht Druck inner-
und vor allem außerhalb des Parlaments. Dafür wird die
Linke in den nächsten Monaten streiten.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Name Beschäftigungschancengesetz ist Etiketten-
schwindel. Denn die Chancen Arbeitsloser, auf Basis
dieses Gesetzes einen neuen Job zu bekommen, sind
gleich Null. Die Verlängerung der Sonderregelungen zur
Kurzarbeit wird vielleicht weiterhin einem Anstieg der
Arbeitslosigkeit entgegenwirken, obwohl die Kurzarbeit
gerade deutlich zurückgeht – neue Impulse für Beschäf-
tigung entstehen dadurch aber nicht. Für einzelne Bran-
chen und Unternehmen kann im Gegenteil eine zu lange
Entlastung der Arbeitgeber im Falle von Kurzarbeit, die
zudem noch nicht einmal einen Anreiz für mehr Quali-
5146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
fizierung setzt, dazu führen, dass der notwendige
Strukturwandel behindert und so ein nachhaltiger Auf-
schwung gehemmt wird.
Neue Beschäftigungschancen, meine Damen und
Herren von Union und FDP, und neue zukunftstaugliche
Jobs entstehen nur, wenn die Arbeitsplatzpotenziale in
den Zukunftsbranchen Umwelt, Bildung, Gesundheit
und Pflege erschlossen werden. Dafür brauchen wir eine
Neuausrichtung der Aus- und Weiterbildung. Genau das
leisten Sie aber nicht. Im Gegenteil, viele der mit den
Konjunkturpaketen eingeführten Qualifizierungsanreize
sollen nicht fortgeführt werden. Das gilt beispielsweise
für die komplette dreijährige Förderung von Umschulun-
gen in den Bereichen Kranken- und Altenpflege. Auch
die Sonderregelung, mit der Arbeitnehmer gefördert
werden können, deren Berufsabschluss länger zurück-
liegt, wird gestrichen. Ich finde: Zumindest solange es
die krisenbedingten Sonderregelungen für das Kurzar-
beitergeld gibt und die Arbeitgeber bei den Sozialabga-
ben entlastet werden, sollten auch diese Sonderregelun-
gen weitergelten.
Auch andere arbeitsmarktpolitische Instrumente lau-
fen Ende des Jahres aus, beispielsweise die Vermitt-
lungsgutscheine und der Qualifizierungszuschuss für
Jüngere. Die Bundesregierung selbst weist in dem vor-
liegenden Gesetzentwurf darauf hin, dass eine ganzheit-
liche Überprüfung aller Arbeitsmarktinstrumente im
Jahr 2011 ansteht. Da wäre es nur folgerichtig, alle Maß-
nahmen, die 2010 auslaufen, um ein Jahr zu verlängern.
Dann ließe sich tatsächlich fachlich beurteilen, welche
Instrumente geeignet sind, um die Menschen zügig und
dauerhaft wieder in Arbeit zu bringen. Verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und FDP, ich befürchte,
dass Sie das aber gar nicht wirklich wissen wollen. Bei
Ihnen geht es nur noch um kurzfristig wirksame Einspar-
effekte. Das wird aber langfristig eine teure Sache; denn
nur wenn es gelingt, die Arbeitslosigkeit nachhaltig ab-
zubauen, wird auch der Etat dauerhaft entlastet.
Mit dem Beschäftigungschancengesetz soll auch die
freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige
entfristet werden. Das fordern wir seit langem; aber Sie,
meine Damen und Herren von CDU, CSU und FDP, ver-
binden damit eine Vervierfachung der Beiträge. Das
werden sich viele Gründerinnen und Gründer nicht leis-
ten können. Die Solo-Selbstständigen gehören nicht zu
den Besserverdienern. Diese Menschen, die sich eine
neue Existenz mit ihrer Selbstständigkeit aufbauen und
die in den ersten Jahren oft nur ein sehr bescheidenes
Einkommen erzielen, wollen Sie jetzt mit höheren Bei-
trägen abzocken. Dem Finanztableau des Beschäfti-
gungschancengesetzes ist doch zu entnehmen, dass die
Selbstständigen mittelfristig ein 11-Millionen-Euro-Plus
für die Kasse der Bundesagentur für Arbeit bringen sol-
len. Das ist unanständig, und ich sage Ihnen: So wird
Deutschland nicht zum Gründerland, und Sicherheit
bleibt für viele Menschen ein Fremdwort.
Dieses Gesetz werden wir im Ausschuss ausführlich
debattieren müssen. Ich setze darauf, dass es noch Ände-
rungen geben wird. Das hoffe ich insbesondere für die
freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige,
damit diese Versicherungsoption auch zukünftig für
Solo-Selbstständige mit kleinen Einkommen bezahlbar
bleibt.
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Die Entwick-
lung des Arbeitsmarktes in der Wirtschaftskrise zeigt,
dass mit den richtigen arbeitsmarktpolitischen Maßnah-
men Beschäftigung und Wirtschaftswachstum gesichert
werden können. Dieser Erfolg, der allen zugutekommt,
wird mit dem Beschäftigungschancengesetz fortgeführt.
Im Jahr 2009 ging die wirtschaftliche Produktion in
Deutschland in bisher nicht gekanntem Ausmaß zurück.
Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich jedoch als stabil er-
wiesen. Es ist weder zu dem erwarteten massiven Rück-
gang der Beschäftigung noch zu einem sprunghaften An-
stieg der Arbeitslosigkeit gekommen. Nach der für uns
alle überraschend geringfügigen Eintrübung der Arbeits-
marktlage im Jahr 2009 verbessert sich die Situation zu-
sehends. Im Mai gab es erstmals wieder mehr sozialver-
sicherungspflichtig Beschäftigte als im Vorjahresmonat.
Auch die Zahl der arbeitslosen und unterbeschäftigten
Personen – ohne Kurzarbeiter – ist geringer als noch vor
einem Jahr. Nach der letzten Meldung von Eurostat ist
die Arbeitslosigkeit in 26 Mitgliedstaaten gestiegen, ein-
zig in Deutschland ist sie gesunken.
Das Instrument Kurzarbeit hat den deutschen Arbeits-
markt stabilisiert und verhindert nach wie vor Arbeitslo-
sigkeit in größerem Umfang. Im März 2010 gab es noch
knapp 700 000 konjunkturelle Kurzarbeiter. Allein ge-
genüber dem Vormonat ist dies ein Rückgang um rund
100 000 Kurzarbeiter. Es zeigt sich, dass die Kurzarbeit
kontinuierlich zurückgeht und gleichzeitig die Arbeitslo-
sigkeit sinkt. Die Befürchtung, Kurzarbeit könne Ar-
beitslosigkeit nicht verhindern, sondern nur verzögern,
ist bislang unbegründet. Trotz der positiven Entwicklung
deutet die hohe Zahl an Kurzarbeitern auf eine immer
noch anhaltende Unterauslastung der Betriebe hin, die
weiterhin eine Gefährdung für den Arbeitsmarkt dar-
stellt. Es muss den Betrieben daher frühzeitig signalisiert
werden, dass ihr Bemühen um ein Festhalten an ihren
Mitarbeitern auch zukünftig unterstützt wird.
Mit dem Beschäftigungschancengesetz verlängern
wir die im Jahr 2009 eingeführten Sonderregelungen
beim Kurzarbeitergeld bis Ende März 2012. Sie sind bis-
lang bis Ende 2010 gültig. Dies betrifft die Erleichterun-
gen bei den gesetzlichen Voraussetzungen und die
Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge. Die Maß-
nahmen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass der
Arbeitsmarkt sich in der Krise äußerst stabil zeigt. Ich
nenne Ihnen drei wesentliche Vorteile der Kurzarbeit:
Erstens. Arbeitslosigkeit, die viel teurer geworden
wäre als die Kosten, die für die Kurzarbeit anfielen,
wurde vermieden;
Zweitens. Das für die Betriebe wichtige Know-how
wurde in den Betrieben erhalten
Drittens. Die Kaufkraft der Kurzarbeiter wurde gesi-
chert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5147
(A) (C)
(D)(B)
Auch im nächsten Jahr werden Teile der Wirtschaft
von Auftragsausfällen betroffen sein. Diesen Unterneh-
men und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wollen
wir helfen, die Phase mit Auftragsrückgängen möglichst
ohne Entlassungen zu überstehen. Welchen Betrieben
wird damit geholfen? Teilweise wurde vermutet, es seien
vor allem Großunternehmen. Im Gegenteil: Wir wissen
inzwischen, zwei Drittel der Kurzarbeiter arbeiten in
kleinen und mittelständischen Unternehmen. Lediglich ein
Drittel der Kurzarbeiter ist in Großbetrieben ab 500 Mitar-
beitern beschäftigt. Der Fokus auf kleine und mittelstän-
dische Unternehmen wird durch die Verlängerung noch
einmal gestärkt. Die sogenannte Konzernklausel werden
wir nicht verlängern. Betriebe mit mehreren Standorten
sind somit künftig Betrieben mit einem Standort gleich-
gestellt.
Ich bin überzeugt, dass wir so weiterhin die Krise
meistern können. Und gerade in Zeiten knapper Kassen
ist es sozialpolitisch verantwortungsvoll, Beschäftigung
in den Unternehmen zu sichern statt Arbeitslosigkeit zu
finanzieren. Die Geschichte der Kurzarbeit ist eine Er-
folgsgeschichte. Vielfach war vom deutschen Beschäfti-
gungswunder die Rede. Lassen Sie uns diese deutsche
Erfolgsstory weiterschreiben.
In diesen schwierigen Zeiten haben wir auch die älte-
ren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick.
Speziell für Ältere werden drei arbeitsmarktpolitische
Instrumente verlängert: die Weiterbildung beschäftigter
älterer Arbeitnehmer, der Eingliederungszuschuss für
Ältere und die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer.
Damit werden Beschäftigungschancen für Ältere auf-
rechterhalten. Diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente
werden bis Ende des Jahres 2011 verlängert. Auch der
Vermittlungsgutschein soll zunächst um ein Jahr verlän-
gert werden. Wie es danach weitergehen wird, werden
wir im Zusammenhang mit der für das Jahr 2011 vorge-
sehenen Überprüfung aller arbeitsmarktpolitischen In-
strumente zu entscheiden haben.
Besonders wichtig ist es, jungen Menschen beim Start
in das Berufsleben die erforderlichen Hilfen zu geben.
Deshalb wird die erweiterte Berufsorientierung bis Ende
des Jahres 2013 verlängert. Sie unterstützt junge Men-
schen bei der Berufswahl. Außerdem wollen wir den
Ausbildungsbonus für Auszubildende insolventer Be-
triebe bis Ende des Jahres 2013 verlängern. Dies sichert
den erfolgreichen Abschluss von Berufsausbildungen in
den von der Wirtschaftskrise beeinflussten Jahren. Im
Jahr 2009 wurden 2 456 Ausbildungsboni in Insolvenz-
fällen bewilligt.
Wir wollen weiterhin auch denjenigen einen verbes-
serten sozialen Schutz bieten, die eine „Anwartschaft“
auf Arbeitslosengeld erworben haben und den Schritt in
die Selbständigkeit wagen. Deshalb soll die bis Ende des
Jahres 2010 befristete Möglichkeit für Existenzgründer
und Auslandsbeschäftigte, ein Versicherungsverhältnis
auf Antrag einzugehen, fortgeführt werden.
Aber wir vergessen auch nicht diejenigen, die keine
Beschäftigung mehr haben. Neue Ansätze wie die „Bür-
gerarbeit“ werden ab Juli 2010 bundesweit erprobt. Die
Modellprojekte werden im regionalen Konsens entwi-
ckelt. Denn alle Arbeitsmarktpartner sollen sich für die
Bezieher von Arbeitslosengeld II verantwortlich fühlen
und entsprechend handeln. Es ist nicht das Hauptziel,
möglichst viele Bürgerarbeitsplätze zu besetzen. Haupt-
ziel ist, durch eine gute Betreuung und Vermittlung mög-
lichst vielen Betroffenen vorher zu einer Beschäftigung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verhelfen. Und
nur für diejenigen, die trotz intensiver Hilfen keine Ar-
beit finden können, stehen die Bürgerarbeitsplätze be-
reit.
Ich bin überzeugt, dass wir mit diesen Regelungen für
die nächste Zeit zur Sicherung von Beschäftigung und
Wirtschaftswachstum gut aufgestellt sind.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Fachkräftepro-
gramm – Bildung und Erziehung – unverzüglich
auf den Weg bringen (Tagesordnungspunkt 14)
Marcus Weinberg (CDU/CSU): Die christlich-libe-
rale Koalition legt Priorität auf Bildung. Das haben wir
mit den Aussagen im Koalitionsvertrag, mit der Aufsto-
ckung des Haushalts und dem Festhalten am 10-Prozent-
Ziel bis 2015 mehr als deutlich gemacht, und zwar weil
wir davon überzeugt sind, dass wir in die Zukunft unse-
res Landes, in die Köpfe unseres Landes investieren
wollen und müssen. Dabei haben wir uns auch zum Ziel
gesetzt: Bildung von Anfang an mit gerechten Chancen
für alle. Lebenslanges Lernen, die Berücksichtigung he-
terogener Lerngruppen, Durchlässigkeit der Bildungs-
wege und Transparenz des Bildungssystems dienen als
Eckpfeiler einer modernen Bildungspolitik; denn in den
vergangenen Jahren und auch zukünftig haben wir mit
diesen neuen Herausforderungen zu kämpfen.
Es gilt, im immer schnelleren weltweiten Wissenszu-
wachs zu bestehen, soziale Aufstiegschancen zu ermög-
lichen, Migrantinnen und Migranten mit hohem Qualifi-
kationsniveau zu integrieren und dem aufgrund des
demografischen Wandels drohenden Fachkräftemangel
entgegenzuwirken. Bildungspolitik muss deshalb am
Anfang ansetzen und alle Stationen der Bildungsbiogra-
fie begleiten. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, be-
stätigt der dritte nationale Bildungsbericht „Bildung in
Deutschland 2010“, der heute veröffentlicht wurde – und
zwar mit vielen positiven Ergebnissen. Danach lagen die
Bildungsausgaben je Bildungsteilnehmer in 2009 über
dem OECD-Durchschnitt und waren damit höher als in
2006. Es gab einen Rückgang der Schulabgänger ohne
Hauptschulabschluss. Die ganztägige Bildung und Be-
treuung im Schulalter wurde erheblich ausgeweitet. Da-
rüber hinaus ist der Hochschulpakt laut Bildungsbericht
nachweislich ein Erfolgsrezept. Die Studienanfängerzahl
erreichte in 2009 einen Höchststand. Sie stieg von 2006
bis 2009 um 23 Prozent auf rund 423 000. Die Zielgröße
des Hochschulpaktes von 91 000 zusätzlichen Studien-
anfängern bis 2010 gegenüber dem Basisjahr 2005
wurde damit bereits 2009 überschritten. Die Studienan-
fängerquote lag mit 43 Prozent über der hochschulpoli-
5148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
tisch angestrebten Marke von 40 Prozent. Die Zahl der
Bildungsausländer erhöhte sich in 2008 ebenfalls. Und
schließlich etablierte sich entgegen aller Unkenrufe die
Studienaufnahme in den Bachelorstudiengängen.
Nun gilt es, diese Anstrengungen fortzuführen, und
zwar in den Bereichen frühkindliche Bildung, Sprach-
förderung und Berufsorientierungsprogramm. Im Be-
reich der frühkindlichen Bildung legen wir neben der
Schaffung der Infrastruktur besonderes Augenmerk auf
die Qualifizierung der Erzieherinnen und Erzieher. Die
Schulleistungsuntersuchungen der jüngsten Vergangen-
heit zeigten mehrfach, dass eine entsprechende Ausbil-
dung des pädagogischen Personals eine Grundvorausset-
zung für ein erfolgreiches Bildungssystem ist. Um
sowohl Quantität als auch Qualität zu verbessern, hat der
Bund, auch wenn die Frage der Kapazitäten, Ausbildung
und Weiterbildung in die Zuständigkeit der Länder fällt,
unterstützend Maßnahmen ergriffen: Das Kinderförde-
rungsgesetz sichert neben einem Betreuungsplatzausbau
die Verbesserung der Qualität der Erziehungsangebote
zu. Mit der Qualifizierungsinitiative für Deutschland
„Aufstieg durch Bildung“ für die Ausbildung von Erzie-
herinnen und Erziehern unterstützt der Bund die Länder
in der Verbesserung der Ausbildung der Fachkräfte, un-
ter anderem durch zusätzliche Weiterbildungsangebote.
Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Län-
der beschlossen auf dem Bildungsgipfel im Dezember
2009 die Durchführung von Maßnahmen in den Berei-
chen frühkindliche Sprachförderung und Bildung, För-
derung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen
sowie vertiefte Berufsorientierung. Die „Weiterbildungs-
initiative Frühpädagogische Fachkräfte“ erarbeitet Qua-
lifizierungsansätze für die Fort- und Weiterbildung von
pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtun-
gen. Und das „Aktionsprogramm Kindertagespflege“
unterstützt seit 2008 die Länder beim quantitativen und
qualitativen Ausbau im Bereich der Kindertagespflege.
In Zahlen ausgedrückt, lassen sich laut nationalem
Bildungsbericht bereits positive Entwicklungen für den
qualitativen und quantitativen Ausbau festmachen. So
standen rund 47 000 Tageseinrichtungen für Kinder zur
Verfügung, und das Personal in den Kindertagesstätten
wurde um 42 000 Personen erhöht. Weiter heißt es, dass
das Angebotsprofil, vor allem in den alten Bundeslän-
dern, gestiegen sei, und im Bereich der Dreijährigen am
stärksten ausgebaut wurde. Dabei wurde eine Steigerung
zwischen 2006 und 2009 von 167 Prozent erreicht – von
20 000 auf 53 000 Kinder. Ebenso fand eine Steigerung
in der Bildungsbeteiligung der Vier- bis Fünfjährigen
von 74 Prozent in 2006 zu bundesweit 95 Prozent in
2009 statt. Bei den unter Dreijährigen stieg die Quote
der Bildungsbeteiligung im Westen auf 15 Prozent in
2009, 2006 waren es noch 8 Prozent. Folglich wurden
hier innerhalb von drei Jahren 100 000 Plätze geschaf-
fen.
Was die Frage der Ausbildung von Erzieherinnen und
Erziehern auf Hochschulniveau angeht, so bleibt festzu-
stellen, dass eine wissenschaftliche Unterlegung in der
frühen Bildung eine von mehreren sinnvollen und wich-
tigen Zielsetzungen sein sollte. Die tatsächliche pädago-
gische Befähigung drückt sich jedoch nicht allein durch
die Erlangung eines akademischen Abschlusses aus.
Hier widerspreche ich den Aussagen der Kollegen der
Linken. Der von mir eingangs genannte Begriff der
Durchlässigkeit sollte eine größere Gewichtung erhalten.
Aufgrund einer flexibleren Handhabung sollten unter
Einhaltung der Qualitätsstandards Quereinstiege ermög-
licht werden. Und damit ich nicht missverstanden werde:
Ich bin nicht gegen eine universitäre Ausbildung, aber
ich halte nichts von einer Konzentration auf eine gene-
relle Hochschulausbildung, sondern vielmehr von einer
dauerhaften begleitenden Qualifizierung. Das würde
auch kurzfristigere Lösungen für die Erwerbssuchenden
und den Arbeitsmarkt schaffen, der an pädagogischen
Fachkräften unterbesetzt ist.
Zur Verbesserung aller frühkindlichen, schulischen
und außerschulischen Angebote halten wir als Union
auch weiterhin die Fortführung und Erweiterung von
Leistungsstanduntersuchungen für unerlässlich. Es gilt,
die vereinbarten Bildungsstandards in ihrer Bedeutung
für die „Bildungsrepublik“ zu stärken und umzusetzen
und eine Gleichwertigkeit der Bildungsabschlüsse inner-
halb Deutschlands zu gewährleisten. Hierzu sollte nach
Möglichkeit über weitere Fachbereiche in der Hoch-
schulreifeprüfung und einen verstärkten Einsatz verein-
heitlichter Lehr- und Lernmittel nachgedacht werden.
All diese Maßnahmen zeigen, dass wir kein neu aufge-
legtes Fachkräfteprogramm – wie hier von den Linken
gefordert – benötigen. Wir werden die bestehenden Pro-
gramme umsetzen, ob Bildungsbündnisse, Bildungsket-
ten oder eine Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes.
Die von mir angesprochenen neuen bildungspoliti-
schen Ansätze werden wir zukünftig ebenso energisch
und mit hervorgehobener Bedeutung weiterverfolgen,
wie wir bisher damit erfolgreich begonnen haben.
Durchlässigkeit und individuelle Förderung sehen wir
dabei als Treiber einer modernen Bildungspolitik an statt
überholter Diskussionen um Strukturen oder Gleichma-
cherei. Wir setzen auf Qualität statt auf rückwärtsge-
wandte Verteilungspolitik. Die regional unterschiedlich
gewachsenen Strukturen der Bildungslandschaft erken-
nen wir an. Zur Bewältigung der neuen Herausforderun-
gen und gesellschaftlichen Veränderungen werden wir
allerdings eine offene Diskussion mit allen Betroffenen
und Beteiligen darüber führen, was Bildung in Zukunft
bedeutet, und darüber, was die Politik auf welcher Ebene
zu leisten hat.
Ewa Klamt (CDU/CSU): Die Bundesregierung und
die Länder haben mit dem Hochschulpakt die Vorausset-
zung für die Aufnahme neuer Studierender an den Hoch-
schulen geschaffen. Die Hochschulen werden bis 2010
insgesamt 91 370 zusätzliche Studienanfänger gegen-
über 2005 aufnehmen. Dementsprechend erfolgt selbst-
verständlich auch eine Erhöhung der Anzahl der Lehr-
amtsstudienplätze. Bereits jetzt können die Länder für
den Ausbau des Lehramtes Unterstützung des Bundes
aus dem Hochschulpakt erhalten. Der Hochschulpakt
sichert mit der ersten Säule der Vereinbarung ein be-
darfsgerechtes Studienangebot. Hierbei leistet der Bund
einen Beitrag pro zusätzlichen Studienanfänger von
13 000 Euro, einen vergleichbaren Beitrag stellen die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5149
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(D)(B)
Länder bereit. Die fächerspezifische Steuerung des Aus-
baus – in den Jahren 2011 bis 2015 sollen 275 000 zu-
sätzliche Studienmöglichkeiten entstehen – obliegt den
Ländern. Wenn die Länder den Lehramtsbereich aus-
bauen wollen, dann erhalten Sie für jeden zusätzlichen
Studienanfänger im Lehramt den oben genannten Betrag
vom Bund. Darüber hinaus besteht aus hochschulpoliti-
scher Sicht derzeit keine Notwendigkeit für zusätzliche
Maßnahmen. Die Länder können zudem jetzt schon Mit-
tel für zusätzlich geschaffene Studienmöglichkeiten im
Zuge einer Akademisierung von Erziehungsberufen er-
halten. Eine Weiterentwicklung der Erzieherausbildung
an Hochschulen und der Ausbau der vorhandenen Kapa-
zitäten werden entsprechend dem Zuwachs der Studien-
anfängerinnen und Studienanfänger in diesem Bereich
im Hochschulpakt berücksichtigt. Auch hier steuert der
Bund für jeden zusätzlichen Studienanfänger insgesamt
13 000 Euro bei.
Die Bundesregierung hat mit einer Vielzahl von Pro-
grammen und einem immensen finanziellen Aufwand
verbesserte Rahmenbedingungen in den Bereichen Bil-
dung und Erziehung geschaffen. Beispielhaft genannt
werden können hier folgende Projekte: die Weiterbil-
dungsinitiative frühpädagogische Fachkräfte zur För-
derung der Anschlussfähigkeit zwischen Aus-, Fort-
und Weiterbildung, um individuelle Bildungs- und Kar-
rierechancen in der Frühpädagogik zu verbessern, Mo-
delle der Anerkennung und Anschlussfähigkeit bei
Aus-, Fort- und Weiterbildung zu unterstützen und aus-
zuweiten. Der Expertenkreis zum Qualifikationsprofil
Frühpädagogik – Fachschule/Fachakademie beabsichtigt
die horizontale und vertikale Durchlässigkeit zu verbes-
sern. Das wissenschaftlich begleitete Projekt „BIBER –
Netzwerk Frühkindliche Bildung“ bietet Fachkräften In-
formationen zu aktuellen Fragestellungen und Themen
sowie die Möglichkeiten der Vernetzung und Weiterbil-
dung. Die Qualifizierung von Erzieherinnen und Erzie-
hern im MINT-Bereich wird im Zuge der Initiative
„Haus der kleinen Forscher“ gefördert. Anders als im so-
zialistischen Einheitsstaat ist es im föderalistischen Sys-
tem der Bundesrepublik Deutschland aus gutem Grund
die Aufgabe der Länder, innerhalb dieses Rahmens und
unterstützt durch die begleitenden Maßnahmen des Bun-
des mit konkreten Maßnahmen auf den regionalen Be-
darf zu reagieren. Grundsätzlich sind es die Länder, die
für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern und
anderer Fachkräfte sowie die Festlegung der Einstel-
lungsvoraussetzungen zuständig sind. Der Bedarf an Er-
zieherinnen und Erziehern – auch an akademisch qualifi-
ziertem Personal – wird vor Ort durch Länder,
Kommunen und Träger der Einrichtungen ermittelt und
gedeckt.
Nun gehen die Länder zugegebener Maßen sehr unter-
schiedlich mit dieser Verantwortung um. Deshalb erlaube
ich mir, mein Bundesland Niedersachsen exemplarisch zu
nennen, um zu erläutern, wie verantwortungsvoll und
vorausschauend Maßnahmen ergriffen werden können,
um die Lehrerausbildung nachhaltig zu verbessern und
den Bedarf an Lehrkräften zu sichern. Entsprechend dem
gestiegenen Bedarf an neuen Lehrkräften wurde bezogen
auf das Jahr 2002 die Zahl der Auszubildenden im Vorbe-
reitungsdienst bis 2009 um fast 35Prozent gesteigert. Für
das Lehramt an Gymnasium ist eine weitere Anhebung
im Jahr 2009 erfolgt. Seit 2006 wurden in jedem Jahr
mehr Einstellungen an öffentlichen allgemeinbildenden
Schulen vorgenommen als Abgänge zu verzeichnen wa-
ren, und dies bei gleichzeitig sinkenden Schülerzahlen.
1 200 Stellen, die wegen sinkender Schülerzahlen einge-
spart werden sollten verblieben im Schulbereich.
Im Jahr 2008 wurden alle durch Pensionierung frei
werdenden Lehrerstellen wieder besetzt. Diese werden
zur Verbesserung der Qualität in allen Bildungsberei-
chen eingesetzt. Die Zahl der Einstellungen in den
Schuldienst an öffentlichen allgemeinbildenden Schulen
ist im Jahr 2009 auf 3 374 Lehrkräfte gestiegen. Mit über
86 000 Lehrkräften hat Niedersachsen im Jahr 2009 da-
mit die höchste Zahl in der Geschichte des Landes er-
reicht. Die Zahl der Vollzeiteinheiten für Lehrerinnen
und Lehrer ist von 2003 bis 2009 um fast 300 erhöht
worden. So sind in den sogenannten Berufswissenschaf-
ten der Lehrerbildung an den niedersächsischen Hoch-
schulen erhebliche positive Veränderungen eingetreten.
Dies betrifft sowohl strukturelle Aspekte als auch die in-
haltliche Profilbildung. Niedersachsen ist in den letzten
Jahren der Überzeugung gefolgt, dass eine kompetenz-
orientierte und forschungsbasierte Ausbildung unerläss-
lich für die Gewinnung guter Lehrkräfte ist. Deshalb hat
mein Bundesland die berufsfeldbezogene Professionali-
sierung, die Forschungsorientierung, das exemplarische
Lernen und die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen in
den Mittelpunkt der Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte
gestellt. Das Land hat mit der Verordnung über Master-
abschlüsse für Lehrämter eine bundesweit beachtete
Vorreiterrolle bei der kompetenzorientierten Formulie-
rung von Anforderungen an zukünftige Lehrerinnen und
Lehrer übernommen. In Niedersachsen werden damit die
von der Kultusministerkonferenz im Herbst 2008 be-
schlossenen „Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforde-
rungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken
in der Lehrerbildung“ bereits umgesetzt. Damit ist Leh-
rerbildung eines der zentralen Handlungsfelder der
Hochschulentwicklung in Niedersachsen.
Im Rahmen des Hochschulpaktes werden außerdem
zusätzliche Studienplätze in Studiengängen mit Lehr-
amtsoption geschaffen werden. So standen beispiels-
weise im Wintersemester 2009/10 bereits 413 zusätzli-
che Studienplätze in Zwei-Fach-Bachelorstudiengängen
mit Lehramtsoption zur Verfügung, die im Rahmen des
Hochschulpaktes 2020 geschaffen wurden. Im Bereich
der frühkindlichen Bildung sind bundesweit bereits eine
Vielzahl von verschiedenen Institutionen, Projekten und
Ausbildungsgängen entstanden, die sich zum Ziel ge-
setzt haben, die Bildung und Betreuung von Kindern in
Deutschland sowohl quantitativ wie qualitativ auszu-
bauen und zu verbessern. Seit knapp fünf Jahren erfolgt
in Deutschland ein rascher Aufbau zahlreicher Bachelor-
und Master-Studiengänge im Bereich Pädagogik der frü-
hen Kindheit an deutschen Fachhochschulen, Universi-
täten und Fachakademien.
Auch hier ist Niedersachsen hervorragend aufgestellt.
Im Rahmen des Projektes „Professionalisierung, Trans-
fer und Transparenz im frühpädagogischen Praxis- und
5150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Ausbildungsumfeld“ des Niedersächsischen Instituts
für frühkindliche Bildung und Entwicklung, nifbe, soll
exemplarisch die Professionalisierung der Erzieher und
Frühpädagogen vorangetrieben und Modelle für eine
Verbesserung von Transparenz und Durchlässigkeit im
System der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften in
Kindertageseinrichtungen entwickelt werden. Das Pro-
jekt fügt sich ein in die Qualifizierungsinitiative „Auf-
stieg durch Bildung“ der Bundesregierung, in dessen
Rahmen unter anderem seit 2008 auch 80 000 Erziehe-
rinnen und Erzieher sowie Tagesmütter und -väter er-
reicht und die frühpädagogische Forschung gestärkt wer-
den sollen, ein weiteres Beispiel für die positive
Wirkung bereits bestehender Förderungsmaßnahmen des
Bundes. Das wissenschaftlich begleitete Projekt soll als
Beispiel für andere Bundesländer dienen und zeichnet
sich durch eine frühzeitige Kontaktaufnahme und Ver-
netzung mit den zuständigen Ministerien der Bundeslän-
der, auch mit den von Ihnen mit regierten, aus.
Die Ausgaben für frühkindliche Bildung wurden seit
2003 verdoppelt: Bis 2013 werden sie verdreifacht.
Den Ausbau der Qualität in der Kindertagespflege hat
Niedersachsen bereits 2007 mit dem Landesprogramm
„Familien mit Zukunft“ in Angriff genommen. Hier hat
das Land bis 2010 100 Millionen Euro für die Verbesse-
rung von Betreuungsangeboten für Kinder zur Verfü-
gung gestellt. Das Niedersächsische Ministerium für So-
ziales, Frauen, Familie und Gesundheit fördert mit
80 Millionen Euro den flächendeckend qualitativen Be-
treuungsausbau vor allem für die unter Dreijährigen. Mit
dem Projekt „Brückenjahr“ soll die Kontinuität des Ler-
nens beim Übergang vom Kindergarten in die Grund-
schule gesichert werden. Bis Ende 2010 stellt das Nie-
dersächsische Kultusministerium dafür 20 Millionen
Euro bereit, um alle Kinder vor der Einschulung best-
möglich zu fördern. Die Zusammenarbeit von Kinderta-
geseinrichtungen und Grundschule wird gezielt ausge-
baut und optimiert, Bildungsziele und -inhalte
aufeinander abgestimmt.
Mit dem Modellvorhaben „Offene Schule Nieder-
sachsen“ werden aufbauend auf dem Projekt „Anrech-
nung beruflicher Kompetenzen“ Studienangebote für
neue Zielgruppen mit beruflichen Abschlüssen und de-
ren Anrechenbarkeit auf das Studium erprobt, um damit
die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und schuli-
scher Bildung sowie die Anerkennung beruflicher Quali-
fikation zu verbessern. Auch hier werden zusätzliche
Projektmittel durch das Land investiert. Entsprechend
haben wir seit mehreren Jahren eine Steigerung berufs-
begleitender Studien- und Weiterbildungsangebote zu
verzeichnen. Um den Zugang zu diesen Weiterbildungs-
angeboten zu verbessern, wurde ein entsprechendes Por-
tal im Internet eingerichtet.
Die Bundesregierung hat in der Krise und trotz eines
Sparpakets in Höhe von 80 Milliarden Euro von Einspa-
rungen im Bildungsbereich ausdrücklich abgesehen.
Stattdessen wird zu Recht an dem Beschluss festgehal-
ten, 12 Milliarden Euro in Bildung und Forschung zu in-
vestieren. Die Rahmenbedingungen für die Bildung zu-
sätzlichen pädagogischen Nachwuchses für den
frühkindlichen und schulischen Bereich sind geschaffen
worden. Nun liegt es bei den Ländern, ihre Fachkräfte
auf Bildungseinrichtungen für die Herausforderungen
des demografischen Wandels zu rüsten. Das von CDU
und FDP regierte Land Niedersachsen hat bewiesen,
dass dies möglich ist.
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Die Bun-
desregierung wird nicht müde, immer und immer wieder
zu betonen, dass im Bereich Bildung nicht gespart wer-
den dürfe, ja sogar mehr Geld zur Verfügung gestellt
werden müsse. Doch was nützt dies, wenn durch die ver-
fehlte Politik der Bundesregierung den Bundesländern,
die bei den meisten Fragen entweder ganz das Sagen
haben oder zumindest ein gewichtiges Wort mitzureden
haben, das Geld dafür entzogen wird.
Durch Aktionen wie das Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz oder das unsoziale Sparprogramm wird die Situa-
tion immer schwieriger. So ist eher davon auszugehen,
dass die Ausgaben der öffentlichen Hand für Bildung
insgesamt weniger werden, auch wenn der Bund zulegt.
Nicht zuletzt der gescheiterte Bildungsgipfel von letzter
Woche macht deutlich, wie ernst die Lage ist und wie
sehr die Länder von Finanznöten geplagt sind. Der
gescheiterte Gipfel zeigt aber auch, wie wenig ernst es
der Bundesregierung tatsächlich mit der Bildung in un-
serem Land ist, denn sonst hätte man schon längst dieses
grundlegende Problem in Angriff genommen. Daher ist
es begrüßenswert, wenn mit dem vorliegenden Antrag
der Fraktion Die Linke ein Fachkräfteprogramm „Bil-
dung und Erziehung“ gefordert wird.
Bei allem Verständnis dafür, dass das im Grundgesetz
verankerte Kooperationsverbot beseitigt werden muss
und mehr Zusammenarbeit zwischen den Ländern und
mit dem Bund dringend nötig ist, kann es aber nicht das
Ziel sein, jetzt die ureigenen Aufgaben der Länder auf
den Bund zu übertragen. Ziel eines Bund-Länder-Pro-
gramms kann es meines Erachtens nicht sein, zusätzliche
Lehramtsstudienplätze für alle Schularten zur Verfügung
zu stellen, wie im Antrag gefordert, um schließlich in
spätestens sieben bis acht Jahren den Ländern 10 000 zu-
sätzliche Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung stellen
zu können, um 25 000 zusätzliche vollzeitschulische
Ausbildungsplätze für Erzieherinnen und Erzieher ein-
zurichten. Sinnvoll ist auch nicht, eine bessere Ver-
gleichbarkeit der Statistiken zu fordern, um zukünftig
die Modellberechnungen für den Lehrerbedarf zu verein-
fachen.
Ich gebe zu, dass auch ich noch nie nachvollziehen
konnte, warum zum Beispiel mein Bundesland, der Frei-
staat Bayern, es bislang nie fertig gebracht hat, seinen
Lehrerbedarf richtig zu berechnen, wo doch jedes Kind
sechs Jahre alt wird, bis es zur Schule kommt, und jedes
Kind standesamtlich gemeldet ist, also die Zahl der Kin-
der dem Ministerium lange vor dem Einschulungstermin
bekannt ist. Aber diesen Mangel zu beseitigen, ist nicht
Aufgabe eines Bund-Länder-Programms.
Besonders drängend ist, dass wir endlich mehr
Gleichklang bei den Schulsystemen bekommen und der
ständige Reformaktionismus, den so manches Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5151
(A) (C)
(D)(B)
land seit Jahren an den Tag legt, endlich ein Ende hat.
Gerade im Bereich der schulischen Bildung brauchen
wir ein viel stärkeres Zusammenwirken der Bundeslän-
der und eine vernünftige Finanzausstattung. Ein gutes
Bildungsangebot erreicht man nicht nur durch Quantität,
sondern vor allem durch Qualität. Wir brauchen eine
massive Verbesserung der kompletten Bildungskette,
von der frühkindlichen Bildung über den Ausbau der
Ganztagsschulen bis hin zur Ausstattung der Hochschu-
len. Wir brauchen einen nationalen Pakt von Bund, Län-
dern und Kommunen, der bundesweit einheitliche Stan-
dards festschreibt, um die Teilhabe an Bildung für alle
sicherzustellen. Erzieherinnen und Erziehern kommt da-
bei zwar eine Schlüsselstellung zu, doch sie brauchen
ideale Rahmenbedingungen in den verschiedensten Ein-
richtungen, um eine optimale Betreuung zu gewährleis-
ten. Nicht zuletzt braucht es eine bessere Entlohnung für
die Berufsgruppe der Erzieherinnen und Erzieher. Auch
hierzu kann ich leider nichts im vorliegenden Antrag finden.
Kommen wir zum Bereich der Schule. Ich stimme da-
mit überein, dass wir mehr Lehrerinnen und Lehrer brau-
chen. Doch einfach eine Zahl in den Raum zu stellen, ist
mir zu wenig. Vielmehr müssen wir die Qualität und die
Kompatibilität der Lehrerausbildung in den Blick neh-
men. Es kann doch nicht sein, dass jemand, der in Ba-
den-Württemberg studiert hat, in Bayern keine Chance
hat, als Lehrer zu arbeiten, oder dass die Ausbildung so
auf eine Schulart zugeschnitten ist, dass die Verwendung
in einer anderen Schulart nicht möglich ist. Da bringt es
wenig, wenn der Bund jetzt einseitig mehr Fachkräfte
anordnet und deren Ausbildung qualifiziert. Es braucht
vielmehr ein abgestimmtes Vorgehen auf breiter Front.
Darüber hinaus dürfen wir die Kommunen nicht ver-
gessen. Insbesondere im Bereich der frühkindlichen Bil-
dung kommt ihnen eine wichtige Rolle zu. Wenn es da-
rum geht, mehr und besser qualifizierte Fachkräfte
einzusetzen, dann darf auch die Frage der Finanzierung
nicht ausgeklammert werden. Vollmundige Forderungen
nach mehr Personal sind nur mit einer soliden Finanzie-
rung realistisch.
In dem von der SPD-Fraktion in der vergangenen Wo-
che vorgelegten Antrag zur Verbesserung der frühkindli-
chen Betreuung und Bildung haben wir deshalb auch
diese Frage aufgegriffen. Wir halten fest an unserer For-
derung, einen Aufschlag auf den Spitzensteuersatz zu-
gunsten der Bildung einzuführen. Es darf nicht sein, dass
die Leistungen für sozial Schwache von der Bundesre-
gierung gekürzt werden, um damit zum Beispiel ein-
kommensunabhängige Stipendien für Studierende aufzu-
legen.
Da im vorliegenden Antrag viele Bereiche angespro-
chen werden, die in der Finanzierungsverantwortung der
Länder liegen, muss auch die Frage geklärt werden, wie
wir deren Kassen wieder füllen können. In unserem An-
trag von vergangener Woche fordern wir daher, die durch
das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz bei
den Kommunen entstandenen Einnahmeausfälle von
1,6 Milliarden Euro jährlich vollständig zu kompensie-
ren und damit die Kommunen, die eine wichtige Verant-
wortung zum Ausbau der frühkindlichen Bildung und
Betreuung tragen, zu entlasten. Außerdem muss die
Bundesregierung auf weitere Steuerermäßigungen, die
zu zusätzlichen Belastungen der Kommunen führen, ver-
zichten und den von der SPD geforderten Rettungs-
schirm für Kommunen zeitnah angehen.
Den Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die
Linke sage ich: Der vorliegende Antrag geht in seiner
grundsätzlichen Intention zwar in die richtige Richtung.
Er klammert leider viele Bereiche, die für eine tatsächli-
che Verbesserung der Bildungsinfrastruktur erforderlich
sind, aus und gibt insbesondere auf die Frage nach den
notwendigen Finanzmitteln keine Antwort. Gerade bei
der Bildungsfinanzierung gilt es aber, der Bundesregie-
rung auf den Zahn zu fühlen. Wir als Opposition dürfen
es nicht zulassen, dass sich Schwarz-Gelb mit einer Er-
höhung des Bundesetats für Bildung brüsten, während
sie andernorts Familien und Bildungsträgern Milliarden
wegnehmen, um sie an Hoteliers und andere Günstlinge
zu verteilen.
Caren Marks (SPD): Heute debattieren wir über den
drohenden Fachkräftemangel in Schulen und Kinderta-
gesstätten, dem Schwarz-Gelb bislang in keiner Weise
entgegenwirkt; denn wo bleibt die Initiative der Bundes-
regierung, damit die offenen Fachkräftestellen schnell
besetzt werden können? Wo ist das Engagement der
Bundesfamilienministerin, den Ausbau der frühkindli-
chen Bildung und Betreuung voranzutreiben und mehr
Erzieherinnen und Erzieher zu gewinnen? Wo sind die
Rettungsmaßnahmen für die Kommunen, damit diese fi-
nanziell in der Lage sind, den Betreuungsausbau zu
stemmen? Weit und breit ist nichts in Sicht. In den letz-
ten Wochen und Monaten hatten wir es mit einer Reihe
von Rettungspaketen zu tun: Rettungspakete für die Sta-
bilisierung der Banken, für Griechenland, für den Euro.
Große Gesetzespakete sind in Windeseile durch den
Bundestag gepeitscht worden. Aber bei der Verbesse-
rung der Bildung und der Qualifizierung von Menschen,
die im sozialen Bereich arbeiten wollen, hat die Bundes-
regierung keine Eile.
Der Bildungsgipfel letzte Woche, meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, war eine große
Chance, die Sie verpasst haben. Ich möchte daran erin-
nern: 2008 hat die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“
ausgerufen. Sie hat die Steigerung der Ausgaben für Bil-
dung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlands-
produkts bis 2015 versprochen. Doch was ist letzte Wo-
che passiert? Die Bundesregierung hat konkrete
Verabredungen wieder auf die lange Bank geschoben,
die CDU-Länder haben wieder einmal gebockt. Der
Spiegel titelte zum Scheitern des Bildungsgipfels tref-
fend „Vertagen, verschleppen, vertrösten“. Ich sage Ih-
nen: Wenn das Thema Bildung vertagt und verschleppt
wird, ist dies ein Armutszeugnis für unser Land. Die Zu-
kunftschancen der Kinder und Jugendlichen stehen auf
dem Spiel. Um nichts Geringeres geht es dabei. Was den
Fachkräftemangel in den Kitas betrifft, fehlt es der Re-
gierung nicht an Erkenntnissen.
Die Bundesregierung selbst hat auf eine Kleine An-
frage der SPD geantwortet, dass sie mit einem Bedarf
von bis zu 40 000 Erzieherinnen und Erzieher bis 2013
rechnet. Der Fachkräftemangel ist heute schon in einigen
5152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Regionen spürbar. Ein weiteres Vertagen und Verschlep-
pen ist daher absolut unverständlich. Nicht nur in dem
Antrag der Linken wird zu Recht ein Fachkräftepro-
gramm gefordert. Auch die SPD fordert in ihrem Antrag
zum Thema frühkindliche Bildung und Betreuung, den
wir vergangene Woche eingebracht haben, eine Fach-
kräfteoffensive.
Wir sagen klar: Kinder können nur dann optimal ge-
fördert werden, wenn es eine ausreichende Zahl an qua-
lifizierten Fachkräften in Kitas gibt. Das macht eine gute
Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur aus, und das er-
warten auch die Eltern zu Recht. Als Sofortmaßnahme
müssen arbeitslose und arbeitsuchende Erzieherinnen
und Erzieher möglichst schnell und unbürokratisch auf
offene Stellen vermittelt werden. Der Beruf der Erziehe-
rin bzw. des Erziehers muss attraktiver werden; daher
sind Aus-, Fort- und Weiterbildung zu verbessern. Wich-
tig sind auch eine gerechte Bezahlung von Erzieherinnen
und Erziehern und gute Arbeitsbedingungen in Kitas.
Weil in Kitas nur 3 Prozent männliche Erzieher beschäf-
tigt sind, müssen deutlich mehr Männer motiviert wer-
den, sich für diesen Beruf zu entscheiden.
Das alles geht nur mit einer klugen Arbeitsmarktpoli-
tik. Aber der von der Regierung angekündigte Kahl-
schlag bei den Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeits-
lose wird die Lage verschlimmern. Mehr Arbeitslose mit
weniger Chancen wird das Ergebnis dieser Politik sein,
nicht aber mehr qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher.
Es geht auch anders. SPD-geführte Länder haben längst
erkannt, dass gehandelt werden muss. Die Qualitätsof-
fensive „Zukunftschance Kinder – Bildung von Anfang
an“ in Rheinland-Pfalz unterstützt angehende und ausge-
bildete Erzieherinnen und Erzieher landesweit mit einem
vorbildlichen Aus- und Fortbildungsprogramm.
Wir sagen klar: Der Bund darf die Länder mit der He-
rausforderung, den Fachkräftemangel in Kitas zu bewäl-
tigen, nicht alleine lassen. Daher muss die Bundesregie-
rung endlich aktiv werden und konkrete Maßnahmen mit
den Ländern verabreden, um mehr Personal für Kitas zu
gewinnen. Es ist eine Zukunftsaufgabe, mehr Menschen
für die Arbeit mit Kindern zu begeistern und somit dem
Fachkräftemangel in Kitas und Schulen entgegenzuwir-
ken. Vor dieser Aufgabe darf sich Schwarz-Gelb nicht
länger drücken, die zuständigen Ministerinnen dürfen
dies erst recht nicht.
Sylvia Canel (FDP): Der Fachkräftebedarf in den
Kindertagesstätten und den Schulen ist nicht von der
Hand zu weisen. Die Situationsbeschreibung und die Be-
darfsprognosen des Antrags der Linken sind stichhaltig.
Die Verfehlungen einer irregeleiteten Bildungspolitik
mit ihren verheerenden Auswirkungen lassen sich be-
sonders schön und plakativ am Beispiel des rot-rot re-
gierten Berlins nachvollziehen. Die Defizite in der
Betreuungsqualität in den Kindertagesstätten, der Unter-
richtsausfall, die Probleme bei der Lehrergewinnung und
-versorgung und eine stetige Verschlechterung der Hoch-
schulfinanzierung lassen vor allem eines zurück: eine
desaströse Situation und unzufriedene Schüler, Studie-
rende, Eltern, Lehrer und Hochschulangehörige.
Das Land Berlin und andere Bundesländer kommen
ihrer Kernaufgabe offensichtlich nicht gewissenhaft und
zuverlässig nach. Der heute veröffentlichte Bildungs-
bericht zeigt, dass wir alle zusammen, Bund und Länder,
unsere Anstrengungen intensivieren müssen, wenn solche
schlechten Ergebnisse endlich der Vergangenheit angehö-
ren sollen. Professor Weishaupt, unter dessen Leitung der
Bildungsbericht erstellt wurde, erklärt als dessen wichtige
Botschaft an die Bildungspolitik, dass die Entwicklungen
im Bildungswesen es erforderlich machten, die Mittel
für Bildung mindestens auf dem gegenwärtigen Niveau
zu erhalten und für neue Aufgaben zusätzliche Mittel be-
reitzustellen seien.
Der Präsident des Deutschen Studentenwerkes, Pro-
fessor Dobischat, äußerte sich heute in einer Pressemit-
teilung mit folgenden Worten: „Bessere Bildung für alle,
bessere Zukunftschancen für alle – das ist eine gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe, hier stehen die Länder in der
Pflicht, dem Bund zu folgen.“ Der Bund investiert schon
jetzt tatkräftig in den Bildungsbereich. Die zusätzlichen
Investitionen belaufen sich auf 12 Milliarden Euro. Das
ist eine bislang unerreichte Summe für den Bildungsbe-
reich und zeigt deutlich unsere Prioritätensetzung. Im
Bund haben wir große Projekte auf den Weg gebracht
und deren Finanzierung sichergestellt. Der Bildungsgip-
fel am 10. Juni hat gezeigt, dass die Punkte, die vonsei-
ten des Bundes zugesagt wurden, eingehalten werden.
Am 10-Prozent-Ziel halten wir fest, und 40 Prozent der
Finanzierungslücke von 13 Milliarden Euro für Bil-
dungsausgaben werden übernommen, und zwar durch
konkrete Projekte: die Erhöhung des BAföG, das Stipen-
dienprogramm und vor allem der Qualitätspakt Lehre,
als dritte Säule des Hochschulpaktes. Der Qualitätspakt
Lehre führt zu einer Verbesserung der Studienbedingungen
und zur Weiterentwicklung guter Lehre in der gesamten
Breite der Hochschullandschaft. Bis 2020 wird der Bund
rund 2 Milliarden Euro hierfür bereitstellen.
Diese einmalige und zuvor noch nie unternommene
Kraftanstrengung kann jedoch nicht dazu führen, dass
die Länder aus ihrer Verantwortung entlassen werden.
Sie stehen in der Pflicht, die ihnen vom Grundgesetz zu-
gesprochene Kernaufgabe verantwortungsvoll wahrzu-
nehmen. Es kann nicht sein, dass die Länder Mittel vom
Bund einfordern, ohne ihre eigenen Hausaufgaben zu
machen, also durch eine eindeutige Prioritätensetzung
die entsprechenden Mittel im Landeshaushalt freizuma-
chen. Es kann nicht sein, dass sich die Länder mit ihrem
Ausgabenverhalten verzetteln, nachrangige Politikfel-
der hochpäppeln und schließlich die Ausfälle im Bil-
dungsbereich dann über Bundesmittel begleichen wollen.
Bundesmittel sind keine Kompensationsmittel! Bundes-
mittel sollen Investitionen und Bildungsausgaben der
Länder sinnvoll ergänzen, um unser Land voranzubrin-
gen und unsere Zukunftschancen zu verbessern. Die Zu-
sammenarbeit von Bund und Ländern darf nicht zu ei-
nem Nullsummenspiel werden. Wir benötigen frisches
Geld im System. Gerade deswegen ist die derzeitige Un-
beweglichkeit der Länder so enttäuschend. Die Minister-
präsidenten werden derzeit ihrer Verantwortung nicht
gerecht. Mit den elenden Erpressungsversuchen in Sa-
chen Umsatzsteuerpunkte muss Schluss sein. Es ist Zeit
für eine konstruktive Zusammenarbeit! Damit muss end-
lich begonnen werden.
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Eine alte Volks-
weisheit sagt: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5153
(A) (C)
(D)(B)
nimmermehr“ oder in neue, aus Finnland kommende Er-
kenntnisse und geschlechtergerecht übersetzt: „Auf den
Anfang kommt es an“. Diese Einsicht hat sich in den
letzten Jahren auch in Deutschland durchgesetzt. Aber
von der Einsicht bis zur Besserung ist es noch ein weiter
Weg. Wir stellen uns die Frage, wie viele internationale
Studien noch erhoben und ausgewertet werden müssen,
bis klar ist, dass man gegen den aktuellen und den dro-
henden Mangel an pädagogischem Personal in Kinder-
einrichtungen und Schulen etwas tun muss. Da hat die
Bundesregierung vor Jahren endlich einen Rechtsan-
spruch auf frühkindliche Bildung und Betreuung einge-
räumt, und Länder und Kommunen tun sich schon
schwer damit, den Ausbau der Platzzahlen entsprechend
voranzubringen. Dass es aber für eine qualitativ hoch-
wertige Betreuung auch gut ausgebildeten Personals be-
darf, ist in der Euphorie untergegangen. Zwar wird etwas
nebulös auf Bildungsgipfeln von Qualifizierung und
Weiterbildung geredet, aber frühkindliche Bildung
braucht hochwertig und vollwertig ausgebildetes Perso-
nal.
Allein für das Ausbauziel der Bundesregierung, von
dem wir heute schon wissen, dass es nicht reicht, und für
den Ersatz älterer Kolleginnen, die heute schon das
50. Lebensjahr überschritten haben und in absehbarer
Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen, werden in den
nächsten Jahren 130 000 zusätzliche Fachkräfte in der
Kinderbetreuung benötigt. Etwa die Hälfte davon müsste
bereits in zwei Jahren zur Verfügung stehen. Diese Auf-
gabe zu erfüllen, sind Bund, Länder und in der Folge
Kommunen weit entfernt. In meinem Bundesland, Sach-
sen-Anhalt, in dem es seit 20 Jahren einen Rechtan-
spruch für alle Kinder unter drei Jahren gibt, liegt die
Betreuungsquote bei den Jüngsten bei 55 Prozent. Wenn
man diese Betreuungszahlen bundesweit hochrechnet,
fehlen mehr als doppelt so viele Erzieherinnen und Er-
zieher für die Krippenkinder.
Nicht besser wird es in der Schule. Zwar glaubt man
heute noch in einigen Bundesländern, dass man, zumin-
dest in der Summe ausreichend, teilweise sogar zu viele
Lehrerinnen und Lehrer habe, tatsächlich sind aber heute
schon vielerorts nicht genügend Lehrerinnen und Lehrer
da, um den Unterricht zu 100 Prozent abzudecken. Zu-
dem sind mehr als die Hälfte der Kolleginnen und Kolle-
gen in den Ländern älter als 50 Jahre, werden also in
absehbarer Zeit den Schuldienst verlassen. Nach Erhe-
bungen auf Bundesebene werden aber in fast allen Län-
dern zu wenige Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet, um
diesen Bedarf rechtzeitig zu ersetzen.
Auch Referendariatsplätze stehen nicht genügend zur
Verfügung. Die Länder können zwar mehr Stellen für
Lehrerinnen und Lehrer in ihren Landeshaushalten ein-
planen, sie werden aber schon die heute vorhandenen
nicht mehr besetzen können. Dann wird sich die Perso-
nalsituation an den Schulen dramatisch verschärfen, und
es müssen womöglich Klassen zusammengelegt und Un-
terricht gekürzt werden, oder aber die Lehrerarbeitszeit
muss noch weiter erhöht werden. Das alles sind untaug-
liche Maßnahmen, wenn die Bildungsqualität verbessert
werden soll.
Der Bundesregierung und den Ländern blieben dann
nur weitere Hilfsprogramme wie das Programm mit den
Berufseinstiegsbegleitern, die Qualität schulischer Bil-
dung würde sich weiter verschlechtern, und die soziale
Schieflage beim Bildungszugang würde weiter zuneh-
men. Dies gilt es zu verhindern, sofern das überhaupt
noch möglich ist. Deshalb fordert die Linke, umgehend
ein Fachkräfteprogramm „Bildung und Erziehung“ zwi-
schen Bund und Ländern zu vereinbaren, das den zügi-
gen Ausbau der Ausbildung von Lehrerinnen und Leh-
rern sowie Erzieherinnen und Erziehern zum Ziel hat.
Dabei geht es sowohl um Lehramtsstudienplätze für alle
Schularten und um die frühkindliche Bildung, die in ei-
ner – nunmehr vierten – Säule des Hochschulpaktes zu
vereinbaren wären, als auch um die vollzeitschulische
Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern und natür-
lich um berufsbegleitende Weiterbildung, die zum Be-
rufsabschluss führt, und zwar für alle diejenigen in der
Kinderbetreuung Tätigen, die heute noch keinen solchen
Abschluss haben.
Auch wenn wir perspektivisch für die Arbeit im früh-
kindlichen Bereich eine Ausbildung auf Hochschulni-
veau für alle dort Beschäftigten anstreben, muss in einer
längeren Übergangszeit noch die tradierte vollzeitschuli-
sche Ausbildung an Berufsfachschulen genutzt werden.
Das sind zwar noch nicht alle Aufgaben, die bei der Aus-
bildung pädagogischen Personals für Kinderbetreuung
und Schule anstehen, wenn die Qualität der Bildung ver-
bessert werden soll, aber es sind die dringendsten. Da-
rum beschränken wir uns in unserem Antrag zunächst
auf diese. Sie zu ignorieren, in dieser Sache auf die Län-
der zu verweisen und im Übrigen nach der Devise zu
verfahren „Kommt Zeit, kommt Rat“, wäre eine fahrläs-
sige Unterlassung politischen Handelns, die von der jun-
gen Generation bezahlt werden muss.
Das darf nicht hingenommen werden, darum stimmen
sie unserem Antrag nach Beratung in den Ausschüssen
zu.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In dem Antrag der Linken wird die Einsetzung
eines Fachkräfteprogramms „Bildung und Erziehung“
gefordert. Sie schreiben in ihrem Antrag, die Bundesre-
gierung solle dieses Programm „in Abstimmung mit den
Ländern“ aufsetzen. Doch hier ergibt sich schon das
erste Problem: Spätestens nach dem Scheitern des Bil-
dungsgipfels am 10. Juni ist dieses Ansinnen zwar nett
gemeint, läuft politisch aber ins Leere. Ein echter Bil-
dungsgipfel hätte für diese ohne Frage äußerst relevan-
ten Problemstellungen Lösungsstrategien aufzeigen
müssen. Passiert ist in dieser Hinsicht jedoch nichts.
Zum inhaltlichen Sachstand lässt sich festhalten: Seit
Jahren ist klar, dass Deutschland auf einen riesigen Man-
gel an pädagogischen Fachkräften zusteuert, sei das in
Schulen oder in Einrichtungen der Kindertagesbetreu-
ung. Laut nationalem Bildungsbericht 2010 sind
50 Prozent der Lehrkräfte im Schulbereich 50 Jahre und
älter. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland hin-
ter Italien und Schweden hier an dritter Stelle. Obwohl
die Pensionierungswelle von Lehrerinnen und Lehrern
5154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
gerade erst anrollt, fehlen schon heute bundesweit Tau-
sende von Lehrkräften, fallen Woche für Woche zig Tau-
sende Unterrichtsstunden aus. Bis 2015 werden, so bele-
gen es Studien unter anderem von Bildungsforscher
Klaus Klemm, 10 000 Junglehrerinnen und -lehrer jähr-
lich fehlen. Um dem Lehrermangel entgegenzutreten,
hat die KMK nach etlichen Anläufen Vereinbarungen
getroffen, um das Lehramtsstudium zu verbessern, unter
anderem um die länderübergreifende Vergleichbarkeit zu
fördern. Diese Vereinbarung ist gut und richtig, heraus-
gekommen ist bisher allerdings nichts. Da fragt man sich
schon, was KMK-Beschlüsse überhaupt wert sind.
Zudem müssen Mobilitätshindernisse für Lehrerinnen
und Lehrer zwischen den Ländern abgebaut werden, wo-
bei klar sein muss, dass dies nicht zu einem Wettkampf
um Lehrerinnen und Lehrer führen darf. Auch für Sei-
teneinsteiger wird von den Ländern viel zu wenig getan.
Wir wollen, dass Quereinsteiger, die über relevante
Fachkompetenzen verfügen, ein verkürztes Lehramtsstu-
dium absolvieren und auch berufsbegleitend qualifiziert
werden können. Für junge Menschen, die Lehrerin oder
Lehrer werden wollen, müssen ausreichend viele Lehr-
amtsstudienplätze zur Verfügung stehen. Wir halten je-
doch nichts davon, wie von der Linken gefordert, eine
weitere Säule im Hochschulpakt 2020 für die Lehreraus-
bildung zu schaffen. Im Rahmen einer dritten Säule im
Hochschulpakt fordern wir eine Gesamtstrategie für gute
Lehre, zu der unter anderem der Ausbau von zusätzlichen
Studienplätzen gehört. Darüber hinaus muss gewährleis-
tet sein, dass jede und jeder, der ein Lehramtsstudium
beendet hat, seine Ausbildung im Rahmen des Referen-
dariats fortsetzen und beenden kann. Hier liegt zurzeit
das eigentliche Problem.
Für uns Grüne ist es wichtig, den Schwerpunkt nicht
nur auf die Quantität des pädagogischen Personals, son-
dern auch auf die Qualität zu legen. Hier möchte ich ei-
nige Stichpunkte nennen: Eine elementare Frage ist die
Akquisition geeigneter Lehrkräfte. Werbung für den
Lehrerberuf sollte bereits in der Schule in der gymnasia-
len Oberstufe beginnen, gezielt sollten Studienberech-
tigte mit Migrationshintergrund angesprochen werden.
Vor dem Studium ist es notwendig, beispielsweise über
Praxisphasen und intensive Beratung, die Eignung der
Lehramtsstudiumsinteressierten zu überprüfen. Für die
Lehrerausbildung gilt, dass wir eine Reform der Ausbil-
dung brauchen: hin zur frühzeitigen Heranführung an die
Praxis. Ein stärkerer Praxisbezug, der früh im Studium
beginnt, könnte zudem die hohe Zahl der Studienabbre-
cher erheblich verringern. Die Studierenden müssen so
ausgebildet werden, dass sie den Anforderungen, die im
späteren Berufsleben an sie gestellt werden, begegnen
können. Dazu gehören die individuelle Förderung aller
Schülerinnen und Schüler, die Gestaltung eines moder-
nen inklusiven Schulsystems und ein an dem einzelnen
Schüler orientierter Unterricht.
Die Zukunftsperspektiven eines Kindes werden maß-
geblich geprägt von den Förder- und Bildungsangeboten
in frühen Jahren. Daher fordern wir ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung und die Verbesserung
des Personals in der Kindertagesbetreuung durch wissen-
schaftliche Ausbildung. Seit Jahren fällt im Vergleich zu
anderen Bildungsbereichen der geringe Akademisierungs-
grad auf: Seit 2006 hat sich dieser nur um 0,4 Prozent-
punkte auf 3,2 Prozent erhöht. Der Beruf der Erzieherin
bzw. des Erziehers muss dringend ergänzt werden durch
akademisch qualifizierte Frühpädagoginnen und -päda-
gogen. Erzieherinnen und Erziehern soll die Möglichkeit
eröffnet werden, sich zu Frühpädagoginnen und Früh-
pädagogen weiterzubilden.
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt, um dem Mangel
an pädagogischem Personal zu begegnen, ist die Weiter-
bildung. Hier liegt die Bundeskompetenz beim Bund
und beim Bildungsministerium. Das Scheitern des Bil-
dungsgipfels zwischen Bund und Ländern lässt einen da-
ran zweifeln, wie der Bund jetzt seine Aufgaben in die-
sem Bereich wahrnehmen soll. Wir brauchen aber einen
wirklichen Aufbruch hin zu mehr Weiterbildung! Das
bestehende Meister-BAföG, mit dem auch Erzieherinnen
und Altenpfleger gefördert werden können, ist nur ein
Trippelschritt in die richtige Richtung. Um jedem Men-
schen eine Weiterbildung zu ermöglichen, fordern wir
ein neues Erwachsenen-BAföG, das in dem bisherigen
Meister-BAföG aufgehen soll. Im Bereich der Kinderta-
gespflege fordern wir von der Bundesregierung, wie im
Koalitionsvertrag angekündigt, eine Weiterentwicklung
der Qualifikationen. Laut Bildungsbericht entspricht das
Qualifikationsniveau des Tagespflegepersonals häufig
nicht den fachlichen Anforderungen. 55 Prozent des Per-
sonals verfügen noch nicht einmal über die Minimalqua-
lifikation eines 160-Stunden-Kurses, für Ostdeutschland
ist der Anteil sogar noch höher! Hier sind dringend Ver-
besserungen notwendig. Der Bund sollte im Rahmen des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes seine Möglichkeiten
ausnutzen, hier bessere Standards zu setzen. Der ge-
wünschte Prozess der Verberuflichung der Kindertages-
pflege muss auch zu einer angemessenen Entlohnung der
Tätigkeit führen.
Abschließend lässt sich sagen: Vieles kann von Bun-
desseite nur angeregt, aber nicht umgesetzt oder durch-
gesetzt werden. Der Antrag, den wir heute diskutieren,
hat vieles Richtige benannt, läuft aber in großen Teilen
leider ins Leere.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
(Tagesordnungspunkt 16)
Mechthild Heil (CDU/CSU): Seit seiner Entstehung
kritisieren Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, das Asylbewerberleistungsgesetz. Eine Aus-
nahme bildet nur die Zeit, in der Sie an der Regierung
waren. In dieser Zeit gab es dazu keine Initiative von Ih-
nen, den als so schlecht gebrandmarkten Zustand zu än-
dern. Der uns heute vorliegende Antrag ist zuletzt vor ei-
nem Jahr hier im Hohen Hause gescheitert. Sie
versuchen es erneut. Immerhin haben Sie den Antrag
überarbeitet und aktualisiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5155
(A) (C)
(D)(B)
Sie kritisieren wieder, dass Asylsuchende nicht die
gleichen Sozialhilfeleistungen wie deutsche Staatsbürger
bekommen. Als „Ausschluss“ bezeichnen Sie dies und
als „sozialrechtlich diskriminierend“. Das sehe ich nicht
so! Asylsuchende und bedürftige Bürger unseres Landes
werden im Sinne des Staatsbürgerrechts unterschieden.
Das Gesetz versteht unter Asyl einen zunächst begrenz-
ten Aufenthalt in Deutschland, bei dem es um eine
vorübergehende Versorgung der Betroffenen geht und
deren Schutz vor politischer Verfolgung und unmensch-
licher Behandlung in ihrem Herkunftsland, bis über den
Asylantrag entschieden wird, um nicht mehr, aber auch
nicht weniger. Folglich müssen Menschen, die sich wo-
möglich nur kurz in unserem Land aufhalten, nicht um-
gehend sozial integriert und mit inländischen Bedürfti-
gen gleichgestellt werden. Sobald Asylbewerber sich aus
von ihnen nicht zu vertretenden Gründen länger als vier
Jahre in der Bundesrepublik aufhalten, erhalten sie die
gleichen Leistungen wie deutsche Staatsangehörige. Sie
werden gleich behandelt. Von Diskriminierung kann
keine Rede sein.
Zuvor erhalten sie Leistungen nach dem Asylbewer-
berleistungsgesetz, die geringer als die Leistungen für
Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger sind. Ja,
Asylsuchende und Geduldete erhalten medizinische Ver-
sorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die auf
die unabweisbar notwendige Behandlung „akuter
Schmerzzustände“ beschränkt ist. Das Gesetz garantiert
darüber hinaus auch beispielsweise eine Impfvorsorge
oder umfassende Leistungen bei Schwangerschaft und
Geburt. Die Menschen werden also ausreichend ver-
sorgt.
Das Asylbewerberleistungsgesetz ist vor allem nach
dem Sachleistungsprinzip aufgebaut. Die Sachleistungen
folgen der Preisentwicklung. Steigende Preise werden
vom Staat getragen, nicht von Asylsuchenden. Hinzu
kommt, dass Leistungen für Asylbewerber nicht – wie
im SGB XII und im SGB II – pauschaliert werden, son-
dern im Einzelfall individuelle Beihilfen – zum weit
überwiegenden Teil ebenfalls als Sachleistungen – etwa
für Bekleidung, Hausrat usw. gewährt werden. Auch
diese einmaligen Beihilfen folgen der Preisentwicklung
und belasten die Tasche der Asylanten nicht. Soviel zu
Ihrem Vorwurf, die Leistungen wären seit 1993 nicht
mehr angepasst worden.
Für mich ist das Asylbewerberleistungsgesetz kein
„ungeeignetes, überflüssiges und unverhältnismäßiges
Gesetz“, wie Sie es in Ihrem Antrag bezeichnen. Im Ge-
genteil: Das Gesetz hat seinen Zweck voll erfüllt und
erfüllt ihn noch heute. Das Ziel der damaligen Bundesre-
gierung war es vor allem, den Missbrauch des Asyl-
rechts einzuschränken und damit den Zustrom von
Flüchtlingen in die Bundesrepublik Deutschland zu be-
grenzen. Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts
hat unser Land europaweit den Hauptanteil der Flücht-
lingsströme aufgenommen. Dies hat unsere sozialen Si-
cherungssysteme in Deutschland enorm belastet. In die-
sen Zustand wollen wir von der christlich-liberalen
Koalition nicht zurück. Wir wollen auch die Kommunen,
die die Träger der Asylhilfe sind, nicht mit höheren Kos-
ten belasten.
Ein Weiteres: Im Jahre 1992 hatten 438 191 Men-
schen Asyl in Deutschland beantragt. 95 Prozent wurden
nicht als Asylberechtigte anerkannt. Das zeigt: Ein gro-
ßer Teil der Asylsuchenden berief sich auf das Asyl-
recht, ohne tatsächlich politisch verfolgt oder einer un-
menschlichen Behandlung ausgesetzt gewesen zu sein.
Viele kamen über sichere Drittstaaten zu uns. Wirt-
schaftliche Gründe waren also oft das ausschlaggebende
Motiv für die Einreise und den Aufenthaltswunsch. Um
diesem Asylmissbrauch entgegenzutreten, einigten sich
CDU/CSU, SPD und FDP im Jahr 1992 im Asylkompro-
miss, Regelungen zum Mindestunterhalt von Asyl-
bewerbern zu schaffen, und im Folgenden wurde das
Asylbewerberleistungsgesetz erlassen. Dass diese Idee
richtig war, zeigt uns die Entwicklung der letzten Jahre.
Das Gesetz verhindert Missbrauch und gewährt politisch
Verfolgten und unmenschlich Behandelten die nötige
Unterstützung. Wir lehnen Ihren Antrag ab.
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ihr Gesetzent-
wurf, den Sie fast wortgleich schon im November 2008
in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, enthält
in der Sache keine neuen überzeugenden Argumente. In-
sofern interpretieren Sie wieder einmal ein Bundesver-
fassungsgerichtsurteil nach eigenem Gutdünken, obwohl
Ihnen alle Argumente seit den Antworten auf Ihre Anfra-
gen vom Dezember 2007 und März dieses Jahres be-
kannt sind. Es handelt sich vielmehr wieder einmal um
einen typischen Oppositionsentwurf, der die Realität
ausblendet. Dabei tun die Grünen so, als ob sie schon
immer in der Opposition gewesen wären und nicht sie-
ben lange Jahre mit der SPD in der Regierungsverant-
wortung gestanden hätten. Die Bundesregierung prüft
genau, welche Bedeutung die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 zu den
Hartz-IV-Regelsätzen für die Leistungen nach dem
Asylbewerbergesetz hat. In der Antwort auf Ihre Kleine
Anfrage im März dieses Jahres hat die Bundesregierung
bereits deutlich gemacht, dass es sich dabei um kompli-
zierte Sach- und Rechtsfragen handelt, deren Prüfung
noch nicht abgeschlossen ist. Keineswegs ist seit dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts klar, wie es der
vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
suggeriert, dass die Leistungen für Asylbewerber nicht
den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen.
Das Bundesverfassungsgericht führt in seinen Entschei-
dungsgründen eben aus, dass der Gesetzgeber für die
Hilfeleistung gruppenbezogene Differenzierungen vor-
nehmen kann. Eine solche Differenzierung liegt dem
Asylbewerberleistungsgesetz zugrunde. Wir reden hier
von Asylbewerbern. Das bedeutet, dass es also nicht um
einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland geht, son-
dern um eine vorübergehende Versorgung der Betroffe-
nen bis zu einer Entscheidung über ihren Asylantrag.
Leistungen für eine Integration sind daher nicht erforder-
lich. Aus diesem Grund dürfen die Grundleistungen für
eine eingeschränkte Zeit geringer ausfallen. Außer Frage
steht dabei natürlich, dass die Asylbewerber gerade im
Vergleich zu anderen Nationen ausreichend unterstützt
werden. Dies beinhaltet selbstverständlich auch den Be-
reich der medizinischen Versorgung.
5156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Um auf die eingangs erwähnte Realitätsferne der Grü-
nen zurückzukommen, möchte ich auf den Ursprung des
Asylbewerberleistungsgesetzes zu sprechen kommen.
Unter dem damaligen Eindruck massiv steigender Asyl-
bewerberzahlen haben sich CDU/CSU, SPD und FDP
im Jahr 1992 auf einen Asylkompromiss geeinigt, auf
dessen Grundlage dann ein Jahr später das Asylbewer-
berleistungsgesetz entstanden ist. Hauptanliegen dieses
Gesetzes war und ist es, die Leistungen für Asylbewer-
ber gegenüber der Sozialhilfe zu vereinfachen und auf
die notwendigen Bedürfnisse eines vorübergehenden
Aufenthaltes in Deutschland abzustimmen. Dieses Ge-
setz war notwendig und richtig und erfüllt nach wie vor
seinen Anspruch. Zum einen gewährleistet es eine aus-
reichende Versorgung der Asylbewerber für die Dauer
ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik, zum anderen
reduziert es aber auch die Zahl der Einreisen von Asyl-
suchenden nach Deutschland und bewegt die bereits
abgelehnten Asylsuchenden bzw. Geduldeten zu einer
schnellen Ausreise aus Deutschland. Aber noch einen
weiteren wichtigen Punkt dürfen wir in dieser Debatte
nicht vergessen: Letztendlich kommt es auch hier wie in
so vielen Bereichen auf einen angemessenen Ausgleich
zwischen den Leistungszahlungen und den Steuerzah-
lern an. Das heißt in diesem Fall konkret, einen Aus-
gleich zwischen den Leistungen der asylsuchenden Men-
schen auf der einen und den Steuerzahlern auf der
anderen Seite zu schaffen. So können wir doch die Au-
gen nicht davor verschließen, dass in Deutschland die
steuerzahlenden Leistungsträger unserer Gesellschaft
bereits jetzt bis an die Schmerzgrenze belastet werden.
Erklären Sie, meine Damen und Herren von den Grünen,
einem Hartz-IV-Empfänger einmal, warum er ebenso
viele Leistungen empfangen soll wie ein Asylbewerber,
der bedingt durch den nur vorübergehenden Aufenthalt
in Deutschland ganz andere finanzielle Ansprüche hat.
Die ohnehin schon strapazierten sozialen Sicherungssys-
teme würden durch die Abschaffung des Asylbewerber-
leistungsgesetzes noch mehr unter Druck geraten. Die
Forderung einer Abschaffung des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes durch den Entwurf der Grünen entbehrt
somit jeglicher Grundlage und dient wohl eher der
Pflege der eigenen Klientel als einem konstruktiven Bei-
trag zum Umgang mit Asylbewerbern.
Fazit: Das globale und schwerwiegende Problem stei-
gender Flüchtlingsströme lösen wir nicht dadurch, dass
wir die Leistungen für Asylbewerber generell anheben
und dadurch unser schlechtes Gewissen zu beruhigen
versuchen. Eine ausreichende Versorgung der Asylbe-
werber bei uns in Deutschland steht dabei jedoch außer
Frage. Deshalb sollten wir die Prüfung der Bundesregie-
rung im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichts-
urteil abwarten. Erst dann gibt es eine neue Sachlage.
Eine vorherige Diskussion ist völlig überflüssig.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Schade, dass wir die
Debatte zum Asylbewerberleistungsgesetz heute nur zu
Protokoll führen.
Aber besser spät als nie. Auch wir sehen – genau wie
die Antragsteller – dringenden Handlungsbedarf. Das
Bundesverfassungsgericht hat am 9. Februar 2010 ein
wegweisendes Urteil gesprochen. Es geht darum, was
ein Mensch braucht, um in Würde leben zu können.
Art. 1 des Grundgesetzes spricht dabei von allen Men-
schen, nicht nur von deutschen Staatsbürgern! Leider
gelten hinsichtlich der Absicherung des Existenzmini-
mums unterschiedliche Regeln für deutsche und für viele
nicht deutsche Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land. Für alle, die unter das Asylbewerberleistungsge-
setz fallen, gab es seit seiner Einführung im Jahr 1993
keinerlei Erhöhung der Regelsätze. Der tatsächliche
Kaufkraftverlust beläuft sich für diesen Zeitraum auf
rund 25 Prozent. Schon 2001 haben wir gemeinsam mit
den Grünen versucht, die Leistungen für Asylsuchende
wenigstens geringfügig heraufzusetzen. Die damalige
Mehrheit im Bundesrat von CDU, CSU und FDP brachte
unsere Gesetzesinitiative allerdings zum Scheitern. In
der Großen Koalition hat sich die Situation für Bezieher
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leider weiter
verschlechtert. Sie müssen seither nicht mehr nur drei,
sondern jetzt vier Jahre im niedrigen Leistungsniveau
des Asylbewerberleistungsgesetzes verbleiben, ehe sie
Anspruch auf Sozialhilfe haben. Diese Kröte haben wir
geschluckt, um dafür im Gegenzug Verbesserungen für
geduldete Ausländer beim Zugang zum Arbeitsmarkt
durchzusetzen.
Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt sehr klare
Worte zu Regelsätzen und Härtefällen in der Grund-
sicherung gesprochen. Wir erwarten, dass nicht nur die
Regelsätze in der Sozialhilfe und im Arbeitslosengeld II,
sondern auch im Asylbewerberleistungsgesetz entspre-
chend angepasst werden. Wir haben diese Forderung in
unserem Antrag zur Neufestsetzung der Regelsätze vom
2. März 2010 formuliert. Wir wollen, dass die Regelleis-
tung in voller Höhe bar ausgezahlt und nicht als Sach-
leistung zur Verfügung gestellt wird. 1,34 Euro am Tag –
das ist der durchschnittliche gesetzliche Barbetrag, wo-
von Flüchtlinge und Asylbewerber im Leistungsbezug
heute in Deutschland leben müssen. Einer vierköpfigen
Familie mit zwei Kindern zwischen 6 und 13 Jahren ste-
hen im Monat 736 Euro zu. Diesen Betrag erhält die Fa-
milie aber nicht zwangsläufig in voller Höhe. Die Bun-
desländer sind nur verpflichtet, einen Barbetrag von
lediglich 81,80 Euro auszuzahlen. Der Rest kann in
Sachleistungen erbracht werden. Auf das Jahr gerechnet
beträgt die Regelleistung – in Bar- und Sachleistungen –
für vier Personen 8 832 Euro. Zum Vergleich: Das säch-
liche Existenzminimum liegt für einen alleinstehenden
deutschen Mitbürger im Jahr 2010 bei 7 656 Euro, für
Paare bei 12 996 Euro und für Kinder bei 3 864 Euro.
Wir hatten im Mai 2009 eine Anhörung zum Asylbe-
werberleistungsgesetz. Die Sachverständigen waren sich
einig: Insbesondere die Sachleistungen, die von der
schwarz-gelben Bundesregierung gerne bei jeder Gele-
genheit für die Sozialpolitik propagiert werden, erweisen
sich als ineffizient, stigmatisierend und schikanierend.
Das Zusammenstellen von Essenspaketen entspricht we-
der einem würdigen Umgang mit den Hilfebedürftigen,
noch ergibt es aus finanzieller Sicht Sinn; denn durch
den logistischen Aufwand fallen erhebliche Verwal-
tungskosten an, die eingespart werden könnten. Eine Er-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5157
(A) (C)
(D)(B)
höhung der Regelsätze für Asylbewerber ist von der
Union immer wieder mit dem Argument ausgebremst
worden, dass durch höhere Leistungen ein wirtschaftli-
cher Anreiz, nach Deutschland zu kommen, geschaffen
würde. Schlepperbanden würden dadurch Tor und Tür
geöffnet.
Warum aber flüchten Menschen aus ihrer Heimat, und
warum suchen sie in einem fremden Land Asyl? In der
Regel sind diese Menschen in ihrem Heimatland massiv
bedroht. Sie müssen um das eigene Leben und um das
ihrer Familie fürchten. In einer solchen existenziellen Si-
tuation fragt man nicht danach, wie hoch die Sozialleis-
tungen in dem Land sind, in das man flüchten kann. Man
geht dorthin, wo man sicher leben kann.
In der Europäischen Union ist darüber hinaus gere-
gelt, dass nur in einem Staat Asyl beantragt werden darf.
Das Übereinkommen von Dublin regelt klar, dass das
der EU-Staat ist, den der Flüchtling zuerst betritt, und
das ist normalerweise nicht Deutschland! Deswegen ist
die Zahl der Leistungsberechtigten nach dem Asylbe-
werberleistungsgesetz seit Jahren stark rückläufig: Im
Jahr 1996 hatten wir in Deutschland rund 490 000 Leis-
tungsberechtigte, Ende des Jahres 2008 waren es nur
noch knapp 128 000. Das wirkt sich natürlich auch auf
die Ausgaben für die Leistungen nach dem Asylbewer-
berleistungsgesetz aus: Hatten wir im Jahr 1996 noch
Ausgaben von knapp 2,9 Milliarden Euro, lag diese
Summe für das Jahr 2008 bei rund 842 Millionen. Euro.
Aber nicht nur die Regelsätze nach dem Asylbewer-
berleistungsgesetz und die Zuteilung von Lebensmitteln
oder Gutscheinregelungen sind menschenunwürdig. Es
gibt nach wie vor Bundesländer, die Asylbewerbern
keine eigene Wohnung zugestehen, sondern lediglich
Sammelunterkünfte anbieten. Auch dies müssen wir än-
dern! Eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung von
deutschen Sozialleistungsempfängern und Asylbewer-
bern zeigt sich auch bei der medizinischen Versorgung.
Ein Beispiel: Einem Kind von Asylsuchenden wird in
der Regel ein dringend notwendiges Hörgerät verwei-
gert. Eine massive sprachliche Entwicklungsstörung
wird dabei in Kauf genommen. Traumatisierte Flücht-
linge erhalten keinerlei psychologische Betreuung. Auch
die Kinder nicht. Das hat mit Menschenwürde nichts zu
tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
auch wir sehen dringenden Handlungsbedarf und werden
einen Gesetzentwurf einbringen. Wir möchten die Miss-
stände im Asylbewerberleistungsgesetz verändern. Das
bedeutet: Anpassung der Regelsätze an die Sozialhilfe-
sätze, Barauszahlung statt Sachleistungen, gleichwertige
medizinische Versorgung. Sie fordern eine komplette
Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Dafür
sehen wir keine politischen Mehrheiten, nicht hier im
Bundestag – das könnte sich allerdings bei dem derzeiti-
gen Regierungschaos schnell ändern –, aber es müssen
auch die Länder zustimmen.
Sie fordern in Ihrer Gesetzesinitiative, dass für Asyl-
suchende und deren Angehörige die Rechtskreise der
Grundsicherung für Arbeitsuchende bzw. der Sozialhilfe
gelten sollen. Das würde bedeuten, dass erwerbsfähige
Asylsuchende sofort eine Förderung zur Eingliederung
in den Arbeitsmarkt erhalten. Bei ungeklärtem Aufent-
haltsstatus ist das aus unserer Sicht kein geeigneter Weg.
Zu diesem Schluss kommt auch das Bundesamt für Mi-
gration und Flüchtlinge. Deswegen spricht sich die SPD-
Bundestagsfraktion dafür aus, das Asylbewerberleis-
tungsgesetz als Rechtskreis beizubehalten. Man muss
aber, wie bereits ausgeführt, das Asylbewerberleistungs-
gesetz grundgesetzkonform und menschenwürdig ausge-
stalten.
Miriam Gruß (FDP): Asylbewerbern muss bestmög-
lich geholfen werden. In erster Linie brauchen sie eine
wirkliche Perspektive für ihr weiteres Leben. Ihr Antrag
bietet da leider keine Lösungen. Eines ist klar: Viele Zu-
stände, in denen Asylbewerber leben, sind nicht akzepta-
bel, so bei Teilen ihrer Unterbringung. Was hier man-
chenorts lange Zeit Alltag war und teilweise noch ist,
war und ist nicht hinnehmbar. Wir setzen uns jetzt inten-
siv für eine Verbesserung dieser Verhältnisse ein. Die
Koalition befasst sich deshalb mit unterschiedlichen
Ansätzen, um die Situation von Asylbewerbern zu opti-
mieren. Im Folgenden möchte ich Ihnen diese gern skiz-
zieren. Uns Liberalen war es wichtig, die Prüfung des
Sachleistungsprinzips im Koalitionsvertrag zu veran-
kern. Die Bundesregierung wird dies umsetzen, um dann
den Asylbewerbern möglichst eine schnelle Hilfe zuteil
werden zu lassen. Dass es immer Spielräume gibt für
praktische Verbesserungen, beweist mein Heimatland
Bayern. Die ersten Korrekturen sind dort eingeleitet.
Künftig dürfen Familien und Alleinerziehende nach Ab-
schluss ihres Asylverwaltungsverfahrens in eine eigene
Wohnung ziehen. Das ist ein erster, wichtiger Schritt.
Außerdem sieht der Koalitionsvertrag auf Bundes-
ebene vor, die Residenzpflicht so auszugestalten, dass
eine hinreichende Mobilität, insbesondere im Hinblick
auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme, möglich ist. Das
ist ein Beispiel, das Schule machen kann. Auch das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-
Regelsätzen ist im Zusammenhang mit der Höhe der
Leistungen für Asylbewerber zu beachten. Das Bundes-
verfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 9. Februar
2010 entschieden, dass die Regelleistung für Erwach-
sene und Kinder nicht den verfassungsrechtlichen An-
spruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums erfüllen. Dieses Urteil hatte bereits
die Fraktion Die Linke zum Anlass genommen, die Bun-
desregierung im Rahmen einer Kleinen Anfrage vom
17. Februar 2010 nach den Auswirkungen auf das Asyl-
bewerberleistungsgesetz zu fragen. Das BVerfG hat mit
seinem Urteil den Gesetzgeber beauftragt, dieses Grund-
recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu
konkretisieren. Das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales ist mit der Ausarbeitung eines Lösungsansatzes
betraut, der für Herbst dieses Jahres zu erwarten ist.
Für uns Liberale ist neben der rechtlichen Situation
von Asylbewerbern eines besonders wichtig: Wir möch-
ten die Möglichkeit fördern, dass Asylbewerber mög-
lichst schnell einen Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Es
ist Teil des liberalen Selbstverständnisses, dass die Men-
schen ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise selbst
5158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
erwirtschaften können. Durch einen solchen Schritt
würde man den Asylbewerbern wirklich eine Perspek-
tive bieten. Ihr Gesetzentwurf führt gerade in diesem
zentralen Bereich nicht zu einer Verbesserung. Vielmehr
geht es auch hier darum, die Anspruchsberechtigten in
finanzieller Abhängigkeit des Staates zu halten. Lassen
Sie mich eines noch zum Ende sagen: Es ist schon er-
staunlich, dass Sie jetzt das fordern, was Sie in Ihrer Re-
gierungszeit längst hätten umsetzen können. Sie entlar-
ven damit Ihren Antrag als einen reinen Scheinantrag.
Wir als Regierungskoalition halten uns lieber an die Re-
alität und machen eine Politik, die sich am Menschen ori-
entiert, damit die Asylbewerber eine echte Chance auf
ein eigenständiges Leben bekommen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Das Asylbewerberleis-
tungsgesetz wurde 1993 beschlossen, um Asylbewerber
von einer Flucht nach Deutschland abzuschrecken. Es
war Teil des sogenannten Asylkompromisses, also der
faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl in Deutsch-
land. Dieses Gesetz arbeitet mit der Unterstellung, Asyl-
bewerber kämen ohnehin nur wegen des Bezugs von So-
zialleistungen nach Deutschland. Es bedient rassistische
Vorstellungen von vermeintlichen Wirtschaftsflüchtlin-
gen und Sozialschmarotzern, gegen die sich Deutschland
endlich zur Wehr setzen müsse. Und es wurde noch ein
weiteres Argument ins Feld geführt. Da die Betroffenen
ja sowieso nur kurze Zeit in Deutschland bleiben wür-
den, brauchten sie auch nur das Allernötigste zum Le-
ben. Die verringerten Sozialleistungen sollen auch eine
Integration in die Gesellschaft verhindern. Dieses Gesetz
ist nicht nur in seinen Grundannahmen rassistisch, es be-
fördert auch Rassismus in der Gesellschaft; denn in die-
sem Gesetz ist auch die Unterbringung von Asylbewer-
bern in Wohnheimen geregelt. Damit trägt dieses Gesetz
zur Stigmatisierung von Asylsuchenden aktiv bei. Sie
werden zum leichten Ziel für rassistische Attacken und
Pöbeleien bis hin zu gewalttätigen Angriffen. Die Serie
von Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte zu
Beginn der 90er-Jahre hat dies auf erschreckende Art vor
Augen geführt.
Der größte Skandal an diesem gesamten Gesetz ist
aber, dass hier eine ganze Menschengruppe allein auf-
grund ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltsstatus weit
unter dem Existenzminimum vegetieren muss. Diese
Menschen erhalten nur 60 Prozent des Satzes, den Emp-
fänger von Hartz-IV-Leistungen erhalten. Zudem gilt das
diskriminierende Sachleistungsprinzip. Neben der Un-
terbringung in Wohnheimen bedeutet das Ausgabe von
Kleidung und Nahrungsmittelpaketen oder Gutschei-
nen. Damit wird diesen Menschen jede Möglichkeit ge-
nommen, selbst zu bestimmen, was sie essen und welche
Kleidung sie tragen.
Und das gilt nicht nur vorübergehend. Zuletzt hat die
Koalition aus SPD und Union das Gesetz dahin gehend
geändert, dass die Betroffenen nun vier Jahre lang unter
dieses Sonderregime fallen, vier Jahre, in denen keine
Integration dieser Menschen stattfinden soll, vier Jahre,
in denen sie übrigens auch nicht durch eigene Arbeits-
leistung ihre Situation verbessern können, weil sie einem
Arbeitsverbot unterliegen. Wir alle wissen, wie schwer
es für Langzeitarbeitslose ist, wieder in das Berufsleben
einzusteigen. Bei diesen Menschen kommen noch
sprachliche Schwierigkeiten hinzu; denn Sprachkurse
und Ähnliches können sie nicht besuchen.
Dieses Gesetz dient also der systematischen Ausgren-
zung von Asylsuchenden und geduldeten Flüchtlingen,
soweit sie auch unter die Regelungen des Gesetzes fallen.
Es zielt darauf, eine Integration dieser Menschen zu ver-
hindern und das Abschreckungspotenzial dieser Regelun-
gen aufrechtzuerhalten. Das Asylbewerberleistungsge-
setz verletzt eklatant das Recht jedes Menschen auf ein
Leben in Würde. Diese und alle vorhergehenden Bun-
desregierungen stellen dieses Menschenrecht unter einen
Kostenvorbehalt. Der Parlamentarische Staatssekretär
beim Bundesminister des Innern Ole Schröder hat zu Be-
ginn dieser Woche bei einem Symposium des UN-Flücht-
lingshilfswerks weiteren Widerstand Deutschlands gegen
neue EU-Regelungen angekündigt, Asylbewerber und Be-
zieher von Sozialleistungen gleichzustellen. Selbst Ver-
besserungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt werden von
dieser Bundesregierung abgelehnt. Die Bundesregierung
ignoriert dabei im Übrigen das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts zur Festlegung der Hartz-IV-Sätze für Kin-
der. Das Gericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, ein
transparentes und sachgerechtes Verfahren zur realitätsge-
rechten Bedarfsermittlung zu wählen. Das betrifft Asylbe-
werber ganz offensichtlich genauso wie die Kinder von
Hartz-IV-Empfängern. Denn in diesem Fall hat der Ge-
setzgeber einfach einmal vor 18 Jahren einen Regelsatz
festgeschrieben. Der Bedarf wurde also nicht ermittelt,
sondern schlicht politisch festgelegt. Darüber hinaus
wurde er niemals erhöht, sondern stattdessen wurde die
Bezugsdauer immer weiter ausgedehnt. Legt man die
Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts in dem ge-
nannten Urteil an das Asylbewerberleistungsgesetz an,
ist vollkommen klar: Dieses Gesetz ist verfassungs-
widrig und muss endlich abgeschafft werden.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
schwarz-gelbe Koalition beschwört jetzt die bürgerli-
chen Tugenden, entnehme ich der Presse. Eine dieser
Tugenden ist, sich an Gesetze zu halten, zuvörderst an
das Grundgesetz, dort an Art. 1, der die Grundrechte ein-
leitet und gleichzeitig programmatische Grundaussage
unserer Verfassung ist. Dort heißt es: „Die Würde des
Menschen ist unantastbar.“ Es heißt nicht: Die Würde
der Deutschen ist unantastbar.“ – Dementsprechend gel-
ten die Leitsätze des Urteils des Bundesverfassungsge-
richts vom 9. Februar zu den ALG-II-Regelsätzen nicht
nur für Deutsche, sondern für alle Menschen im Gel-
tungsbereich des Grundgesetzes.
Das menschenwürdige Existenzminimum ist zu ge-
währleisten und nach einem transparenten und nachvoll-
ziehbaren Verfahren zu ermitteln. Das Bundesverfas-
sungsgericht sagt ganz klar, dass das soziokulturelle
Existenzminimum nicht „ins Blaue hinein“ zu schätzen
ist. Es dürfte doch hier allen einleuchten, dass das selbst-
verständlich ein universaler Anspruch ist, der nicht nur
für das Zweite Buch Sozialgesetzbuch gilt. Dieser gilt
für alle Menschen, und deshalb brauchen wir kein Son-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5159
(A) (C)
(D)(B)
dergesetz, das Menschenwürde für Flüchtlinge separiert
und im Ergebnis Menschen in ihrer Würde herabsetzt.
Doch seit es das Asylbewerberleistungsgesetz gibt,
seit 17 Jahren, geschieht genau dies mit vielen Men-
schen. Ob asylsuchend, ob geduldet oder bleibeberech-
tigt, der Aufenthaltstitel unterscheidet sich, nicht aber
die Unterversorgung. Die Leistungen des Asylbewerber-
leistungsgesetzes liegen um ein Drittel unter den ohne-
hin schon zu niedrig bemessenen Sätzen des SGB II.
Und sie sind, entgegen geltender Rechtslage, nach § 3
Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz nie angepasst wor-
den – nicht ein einziges Mal in 17 Jahren. Da sage ich
nur: Bürgerliche Tugenden? Von wegen. Stattdessen will
ich die Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hause
fragen, die alle erkennbar keinen Hunger leiden: Wie
soll man mit 40,90 Euro „Taschengeld“ und 184,07 Euro
für Ernährung, Kleidung, Gesundheits- und Körper-
pflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haus-
halts im Monat als erwachsener Haushaltsvorstand aus-
kommen? Und dann noch ein Hinweis: Das Geld wird
nicht unbedingt auf das Girokonto überwiesen. Stattdes-
sen gibt es regelmäßig Gutscheine und Sachleistungen.
Was für ein Unsinn und was für ein Bürokratiewahn!
Schon all dies rechtfertigt die sofortige Abschaffung des
Asylbewerberleistungsgesetzes.
Einen weiteren wichtigen Punkt darf ich mir nicht er-
sparen: Zum Gesundheitssystem in Deutschland haben
Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleis-
tungsgesetz bekommen, keinen Zugang. Nur bei akuten
Erkrankungen und Schmerzzuständen gibt es Hilfe.
Konkret heißt das: keine Prävention, keine Untersuchun-
gen. Es muss schon erst so schlimm sein, dass der Kran-
kenwagen vorfahren muss, bevor es Hilfe gibt. Überle-
gen Sie sich einmal, welche Situationen in Ihrem Leben
bei einer solchen medizinischen Versorgung schon ganz
anders hätten ausgehen können! Ich denke, einige hier
hätten Chancen, diese Debatte aus dem Jenseits zu be-
trachten.
Besonders unmenschlich ist, dass die Bundesregie-
rung bewusst die sogenannte EU-Aufnahmerichtlinie
nicht umsetzt. Deshalb gibt es für von physischer, psy-
chischer oder sexueller Gewalt betroffene Flüchtlinge
auch keinen Therapieanspruch, der garantiert ist. Die
Menschen sind auf den guten Willen angewiesen. Auch
Leistungsbeziehende nach dem Asylbewerberleistungs-
gesetz brauchen endlich eine vernünftige Krankenversi-
cherung, so wie wir alle sie haben. Angeblich hat das
wohl auch die Bundesregierung verstanden. Sonst wäre
gar nicht zu erklären, dass sie auf europäischer Ebene im
Stockholmer Programm zur EU-Rechtspolitik erst im
Dezember zugestimmt hat, dass Flüchtlinge in der EU
überall ähnliche Lebensbedingungen haben sollen.
Aber an der praktischen Umsetzung hapert es dann
gewaltig. Das ist das übliche System dieser Bundesre-
gierung: Sonntagsreden, wenn man zu Gast in Europa
ist, hier in Deutschland nichts tun, wenn es um Men-
schen geht, die Hilfe benötigen. Staatssekretär Ole
Schröder geht es aber nur um angeblich anfallende Kos-
ten, weil „die Vorschläge der EU-Kommission … die
Asylverfahren verlängern und verteuern“ würden – so
zitiert in der taz vom 15. Juni 2010). Ein merkwürdiges
Politikverständnis. Geht es doch beim Asyl häufig um
Leben und Tod. Von christlicher Nächstenliebe zeugt
diese Haltung nicht. Diesmal sollte der Gesetzgeber das
Heft des Handelns nicht aus der Hand geben. Anders als
beim ALG-II-Regelsatz hat er die Möglichkeit, einen of-
fensichtlichen Verfassungsbruch selbst zu heilen. Wir
alle sollten sie nutzen.
17 Jahre nach Inkrafttreten des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes ist es Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen,
Schluss zu machen mit einem Gesetz, das Menschen
ausgrenzt, Schluss zu machen mit einem Gesetz, das dis-
kriminiert und extrem bürokratisch ist, Schluss zu ma-
chen mit einem Gesetz, dass Menschen das Existenzmi-
nimum vorenthält und ihnen nicht die Möglichkeit gibt,
in Deutschland ihren Lebensunterhalt selbst zu bestrei-
ten.
Sagen Sie Nein zur Diskriminierung und damit Ja zur
Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundeswaldgesetzes
– Beschlussempfehlung und Bericht:
– Antrag: Bundeswaldgesetz nachhaltig
gestalten – Schutz und Pflege des Öko-
systems für heutige und künftige Genera-
tionen
– Antrag: Bundeswaldgesetz ändern – Na-
turnahe Waldbewirtschaftung fördern
– Antrag: Das Bundeswaldgesetz novellie-
ren und ökologische Mindeststandards
für die Waldbewirtschaftung einführen
– Unterrichtung: Waldbericht der Bundes-
regierung 2009
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Alois Gerig (CDU/CSU): Bei der Novellierung des
Bundeswaldgesetzes biegen wir heute auf die Zielgerade
ein. Der heute zur abschließenden Beratung stehende
Gesetzentwurf wurde vom Land Niedersachsen über den
Bundesrat eingebracht. Die Koalitionsfraktionen haben
am Gesetzentwurf wichtige Ergänzungen vorgenommen.
Mit dem Gesetzentwurf wollen wir notwendige Ände-
rungen am Bundeswaldgesetz vornehmen und gleichzei-
tig an Bewährtem festhalten.
Die Koalition lässt sich bei der Bundeswaldgesetzno-
velle von der Zielsetzung leiten, die vielfältigen Funktio-
nen des Waldes für Pflanzen, Tiere und den Menschen
zu erhalten. Intakte Wälder sind notwendig, um die bio-
logische Vielfalt zu bewahren. Als CO2-Speicher sind
unsere Wälder zudem aktive Klimaschützer. Für den
Menschen leistet der Wald nicht nur einen wichtigen
5160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Beitrag für die Trinkwasserversorgung und zum Immis-
sionsschutz; der Mensch findet im Wald auch Ruhe und
Erholung.
Daneben hat der Wald eine zunehmend große wirt-
schaftliche Bedeutung: Die Forst- und Holzwirtschaft
sorgt nicht nur für Wertschöpfung im ländlichen Raum,
sie ist dort auch ein wichtiger Arbeitgeber. Die Aufgabe
der Waldpolitik ist, die unterschiedlichen Waldfunktio-
nen in einen vernünftigen Ausgleich zu bringen. Dies ist
vor dem Hintergrund des Klimawandels keine leichte
Aufgabe. Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Bundes-
waldgesetznovelle die richtige Richtung einschlagen,
um dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Der Gesetzentwurf sieht als Erstes vor, den Waldbe-
griff zu präzisieren. Künftig sollen Kurzumtriebsplanta-
gen nicht unter den Waldbegriff des Bundeswaldgeset-
zes fallen. Auf Kurzumtriebsplantagen werden schnell
wachsende Bäume und Sträucher angebaut, um inner-
halb weniger Jahre den nachwachsenden Rohstoff Holz
ernten zu können. Kurzumtriebsplantagen sind kein
Wald, weil sie nicht auf dauerhafte und nachhaltige Nut-
zung ausgelegt sind. Diese Kulturform ist eindeutig
landwirtschaftlich geprägt. Es ist deshalb richtig, Kurz-
umtriebsplantagen vom Waldbegriff auszunehmen.
Mit der angestrebten Gesetzesänderung werden bes-
sere Bedingungen für Kurzumtriebsplantagen geschaf-
fen. Holz ist der mit Abstand wichtigste erneuerbare
Energieträger in Deutschland. In den kommenden Jahren
ist mit steigender Nachfrage nach Energieholz zu rech-
nen. Kurzumtriebsplantagen können dazu beitragen, das
Potenzial an Energieholz zu vergrößern, ohne dass wir
die Nachhaltigkeit der Waldbewirtschaftung gefährden.
Beim Waldbegriff muss noch an einer weiteren Stelle
nachgebessert werden. Wir wollen, dass mit Forstpflan-
zen teilweise bestockte Flächen, die landwirtschaftlich
genutzt werden und deshalb unter die InVeKoS-Verord-
nung fallen, kein Wald im Sinne des Bundeswaldgeset-
zes sind. Die bessere Abgrenzung zwischen landwirt-
schaftlichen und forstwirtschaftlichen Flächen dient dem
Ziel, Almen aus dem Waldbegriff herauszunehmen und
ihre Bewirtschaftung dauerhaft zu ermöglichen. Dies ist
im Alpenraum nicht nur für die betroffenen landwirt-
schaftlichen Betriebe von Bedeutung. Die Almwirtschaft
leistet seit Generationen einen wertvollen Beitrag zur
Pflege der Kulturlandschaft und für die Offenhaltung der
Flächen. Almen sind aus diesem Grund auch für den
Tourismus äußerst wichtig.
Mit dem Gesetzentwurf wollen wir des Weiteren er-
reichen, dass forstwirtschaftliche Vereinigungen das
Holz ihrer Mitglieder vermarkten dürfen. Forstwirt-
schaftliche Vereinigungen sind Zusammenschlüsse von
Forstbetriebsgemeinschaften, die wiederum Zusammen-
schlüsse von Waldeigentümern sind. Zu den Aufgaben
der forstwirtschaftlichen Vereinigungen gehört beispiels-
weise die Beratung ihrer Mitglieder. Die Vermarktung
von Holz ist ihnen bislang nicht erlaubt.
Die Entwicklung der Holzindustrie ist seit einigen
Jahren durch Konzentrationsprozesse geprägt. Den rund
2,9 Millionen Waldbesitzern und Kleinstwaldbesitzern
in Deutschland stehen immer weniger – aber dafür
mächtige – Holzabnehmer gegenüber. Damit sich Erzeu-
ger und Abnehmer auf Augenhöhe begegnen können,
wollen wir es den forstwirtschaftlichen Vereinigungen
ermöglichen, das Holz ihrer Mitglieder zu vermarkten.
Mit der Gesetzesänderung will die Koalition dazu beitra-
gen, dass sich die forstwirtschaftlichen Strukturen
marktgerecht entwickeln können und die Forstwirtschaft
ein starkes wirtschaftliches Standbein des ländlichen
Raums bleibt.
Eine weitere Neuregelung betrifft die Verkehrssiche-
rungspflicht im Wald. Es geht um die Frage, wer haftet,
wenn Besucher im Wald zu Schaden kommen. Von Wald-
besitzern wird aus Naturschutzgründen verlangt, ver-
mehrt Totholz – umgefallene Bäume oder abgefallene
Äste – im Wald zu belassen. Dadurch ergeben sich mehr
Gefahrensituationen für Erholungssuchende. Dies ist
deshalb problematisch, weil die Anzahl der Erholungs-
suchenden zugenommen hat und sich auch die Erho-
lungsformen ändern; Beispiele hierfür sind Joggen und
Mountainbikefahren.
Der Wald ist als Erholungsraum unverzichtbar. Die
erfreulich vielen Waldbesucher sind ein wesentlicher
Grund dafür, dass der Wald in Deutschland eine hohe
Wertschätzung genießt und der Schutz des Waldes in der
gesamten Gesellschaft unumstritten ist. Da der Wald für
alle zugänglich ist und dies auch bleiben soll, kann der
Waldbesitzer seiner Verkehrssicherungspflicht nicht da-
durch nachkommen, dass er den Zutritt zum Wald ver-
wehrt. Deshalb muss im Bundeswaldgesetz nun klarge-
stellt werden, dass Waldbesitzer für waldtypische
Gefahren nicht haften.
Im Gesetzgebungsverfahren hat die Koalition geprüft,
ob der niedersächsische Gesetzentwurf ausreichend ist.
Neben der bereits angesprochenen Herausnahme der Al-
men aus dem Waldbegriff halten wir weitere Änderun-
gen am Bundeswaldgesetz für erforderlich. So wird der
Begriff Staatswald eindeutiger definiert, weil viele
Forstverwaltungen in Körperschaften des öffentlichen
Rechts oder andere Rechtsformen umgewandelt wurden.
Da viele Wälder Bodendenkmäler aufweisen oder aus
Parkanlagen oder Friedhöfen hervorgegangen sind, stel-
len wir sicher, dass in Zukunft der Denkmalschutz im
Wald berücksichtigt wird. Unser Wald ist ein Kulturgut.
Damit Deutschland seine Berichtspflichten gegenüber
der Europäischen Union und gegenüber dem Klima-
sekretariat der UN-Klimarahmenkonvention besser er-
füllen kann, wird zudem die Bundeswaldinventur zu ei-
nem umfassenden Waldmonitoring ausgeweitet.
Die Vorschläge der Opposition haben wir geprüft. Die
Forderung, die gute fachliche Praxis im Bundeswaldge-
setz zu verankern, kann die Union nicht unterstützen.
Wir sehen uns in unserer Auffassung durch die Anhö-
rung bestätigt. Aufgrund der regionalen Besonderheiten
in der Waldstruktur ist es zweckmäßig, dass die ord-
nungsgemäße Waldbewirtschaftung wie bisher durch die
Länder geregelt wird.
Da die Holzvorräte der Wälder in den vergangenen
Jahren zugenommen haben und unsere Wälder bereits
jetzt einen unverzichtbaren Beitrag zum Erhalt der biolo-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5161
(A) (C)
(D)(B)
gischen Vielfalt leisten, halte ich eine bundeseinheitliche
Festlegung der guten fachlichen Praxis für entbehrlich.
Wichtiger als neue bürokratische Vorschriften erscheint
mir, dass in der Forstwirtschaft und in der Forstverwal-
tung gut ausgebildete Fachkräfte eingesetzt werden.
Dies stellt sicher, dass das Holz fachgerecht dem Wald
entnommen wird und die Wälder naturnah und nachhal-
tig weiterentwickelt werden.
Meinungsverschiedenheiten in der Frage, ob die gute
fachliche Praxis ins Waldgesetz gehört, haben in der
Großen Koalition eine Novellierung des Bundeswaldge-
setzes blockiert. Die Koalition aus Union und FDP
nimmt nun die notwendigen Änderungen vor und leistet
damit einen wichtigen Beitrag, unseren Wald auf die Zu-
kunft vorzubereiten. Dies zeigt einmal mehr: Die christ-
lich-liberale Koalition zahlt sich für unser Land aus.
Mit der Änderung des Bundeswaldgesetzes nehmen
wir wichtige Weichenstellungen vor: Wir stellen den An-
bau von Energieholz auf eine neue Rechtsgrundlage und
unterstützen so den Ausbau erneuerbarer Energien. Für
Waldbesitzer schaffen wir mehr Rechtssicherheit in Haf-
tungsfragen und stärken zudem ihre Stellung auf dem
Holzmarkt. Wir sichern die Almwirtschaft und sorgen
dafür, dass in unserem Kulturgut Wald der Denkmal-
schutz größere Beachtung findet. Dies sind alles gute
Gründe, die Bundeswaldgesetznovelle heute zu be-
schließen. Mit der Gesetzesänderung erreichen wir, dass
unser Wald – immerhin 31 Prozent der Fläche Deutsch-
lands – zukünftig neben allen angesprochenen Funktio-
nen auch als grüne Lunge für unsere Bevölkerung dienen
kann. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Petra Crone (SPD): Der dritte Anlauf, das Bundes-
waldgesetz zeitgemäß und nachhaltig zu gestalten, ist
gescheitert. Union und FDP verweigern sich ihrer Ver-
antwortung für unsere Lebensgrundlage Wald, indem sie
naturschutzfachlichen Aspekten im Bundeswaldgesetz
eine klare Absage erteilen. Starrsinnig verneinen die Re-
gierungskoalitionen die ökologischen und ökonomi-
schen Zusammenhänge im Wald. Dadurch liefern sie ein
Bundeswaldgesetz ab, das weit hinter den Erwartungen
vieler forstlicher Akteure und Akteure des Naturschutzes
zurückbleibt.
Für die SPD-Bundestagsfraktion war und ist die Inte-
gration eines Mindestmaßes an Naturschutz auf der ge-
samten Waldfläche unabdingbar. Gemeinsam mit Ver-
bändevertretern fordern wir weiterhin die Verankerung
der guten fachlichen Praxis im Bundeswaldgesetz. Nach
der erfolgten Anhörung sprach noch mehr für die Auf-
nahme der Zielstellung einer guten fachlichen Praxis in
die Bundesgesetzgebung als bereits vorher. Union und
FDP haben nur mit einem Ohr den Sachverständigen zu-
gehört. Auf dem naturschutzfachlichen Ohr sind sie
taub.
Dabei liegt eine ressourcenschonende und nachhal-
tige Bewirtschaftung klar im ureigenen, ja gar existen-
ziellen Interesse des Waldbesitzers. Erfreulicherweise
hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Die Ent-
wicklung geht weg von reinen Nadelbaumkulturen hin
zu mit Laubbäumen durchsetzten Mischwäldern. Ich be-
grüße dies ausdrücklich; denn Mischwälder sind stabiler
gegen Witterungsverhältnisse und Baumschädlinge als
die Nadelbaumkulturen der Vergangenheit. Mischwälder
machen deshalb sowohl für die Umwelt als auch unter
forstwirtschaftlichen Gesichtspunkten Sinn.
Des Weiteren wirtschaftet eine hohe Zahl von Betrie-
ben der Forstwirtschaft bereits auf einem hohen ökologi-
schen Standard, einem Standard, der oftmals über die
naturschutzfachlichen Mindestanforderungen laut GfP
hinausreicht. Ökologische Waldnutzung und die Ver-
marktung ökologischer Holzprodukte gehen Hand in
Hand. Umso unverständlicher ist, dass Union und FDP
in den 70er-Jahren feststecken. Ich bin schon enttäuscht,
dass das Gesprächsangebot aus meiner ersten Rede kei-
nen Widerhall fand, liebe Frau Kollegin Happach-
Kasan, meine von Ihnen so gelobte Charmeoffensive hin
oder her.
Nicht jeder Waldbesitzer achtet seinen Besitz. Auch
das ist eine Tatsache, die man dem Waldbericht der Bun-
desregierung entnehmen kann. Sie scheinen immer noch
glauben zu wollen, liebe Kollegen und Kolleginnen der
Koalition, dass gierige Investoren vor der Natur haltma-
chen. Wer schnelles Geld verdienen will, dem ist egal,
dass nach einem Kahlschlag die Waldfläche für Jahr-
zehnte keine Nutzungen mehr abwirft und die Leistungs-
fähigkeit des Waldbodens empfindlich zerstört wird. Be-
richte, in denen unseriöse Holzeinschlagsunternehmen
den Waldbesitzern einen Kahlschlag empfehlen oder pri-
vate Investoren innerhalb weniger Tage so viel Holz ein-
schlagen, dass eine weitere nachhaltige Entwicklung des
Waldes auf lange Sicht nicht mehr möglich ist, sind lei-
der keine Seltenheit mehr. Daraus resultierend ist es eine
Bagatellisierung, wenn vonseiten der Koalitionsfraktio-
nen immer wieder gesagt wird, dass in unseren Wäldern
die Dinge zum Besten stünden.
Die Mindestanforderungen der guten fachlichen Pra-
xis, verankert in einem Bundesgesetz, könnten in diesen
Fällen entsprechende Sanktionierungen nach sich zie-
hen, die der bezweckten Garantiewirkung einer ökologi-
schen Mindestsicherung Rechnung tragen. Häufig sind
die Landeswaldgesetze eben nicht ausreichend hinsicht-
lich ihrer mit Ordnungswidrigkeiten belegten Regelun-
gen oder diese fehlen in einigen Ländern in Gänze.
Es kann auch nicht trösten, dass das Bundeswaldgesetz
an der einen oder anderen Stelle an Effizienz gewinnt. Als
Resultat aus naturschutzfachlicher Sicht bleibt es ein Fos-
sil aus dem Jahre 1975. Mit keinem Federstrich werden
die Ursachen der Missstände in unseren deutschen Wäl-
dern bekämpft. Ich bin verwundert, dass sich die Kolle-
gen und Kolleginnen der Linken durch ihre Zustimmung
zum Gesetz mit so wenig zufrieden geben, zumal sie in
ihrem Antrag ein anderes, besseres Bundeswaldgesetz
fordern. Diese Gesetzesänderung begünstigt alleinig
Waldnutzer. Sie vernachlässigt komplett den Adressaten
von Waldpolitik, sprich: den heimischen Wald selbst mit
seinen 4 000 Pflanzen- und rund 7 000 Tierarten.
Wir lehnen auch die Änderung hinsichtlich der Alm-
flächen ab. Diese Ergänzung führt dazu, dass in den
bayerischen Alpen circa 7 000 Hektar Bergwald und da-
von die Hälfte ausgewiesener Schutzwald aus der Wald-
5162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
definition herausfallen. Damit unterliegen sie nicht mehr
dem Schutz des Bundeswaldgesetzes. Berg- und Schutz-
wälder haben eine zentrale Bedeutung für den Erosions-,
Lawinen- und Hochwasserschutz. Hier wird auf dem
Umweg über Berlin ureigene bayerische Landespolitik
erledigt, um vor Ort keine Aufregung zu verursachen
und geräuschlos die Klientel zu bedienen. Auch dem
Ausgleich zwischen Almbauern und Waldschützern, der
von der Kollegin Cornelia Behm beantragt wurde, ver-
weigerten Sie Ihre Zustimmung.
Die Bitte der Almbauern haben Sie aber gern erfüllt.
Um unseren Wald, dessen Erzeugnisse und Leistungen
offenkundig immens sind, haben sich Union und FDP
hingegen nicht bemüht. Der Wald ist mit seinen Multi-
funktionen unersetzbar, und es bedarf für seine Zu-
standsverbesserung verstärkt einer nationalen und inter-
nationalen Politik für Nachhaltigkeit. Ein gesunder Wald
muss Zielmarke von Waldpolitik sein.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Ich freue
mich sehr, dass es der christlich-liberalen Koalition
gelungen ist, die überfällige Änderung des Bundeswald-
gesetzes zum Abschluss zu bringen. Es ist der dritte An-
lauf: Rot-Grün ist gescheitert, Schwarz-Rot ist geschei-
tert, jetzt klappt es. Das ist ein schöner Erfolg für den
Wald, die Waldbesitzer, die nachhaltige Produktion von
Biomasse und die bessere wissenschaftliche Begleitung
der vom Klimawandel verursachten Änderungen im
Wald. Ich bedanke mich für die Zustimmung der Linken,
deren Anregung aus der Anhörung wir gern umgesetzt
haben.
Das Bundeswaldgesetz hat sich insgesamt bewährt;
aber vor allem in drei Bereichen ist eine Ergänzung er-
forderlich geworden: bei der Verkehrssicherungspflicht,
der Walddefinition und der Holzvermarktung durch
forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse.
Durch die multifunktionale Nutzung der Wälder erge-
ben sich verschiedene Zielkonflikte zwischen Waldbesit-
zern und Erholungssuchenden. Im Interesse der faunisti-
schen Biodiversität sind in den vergangenen Jahren die
Totholzanteile im Wald gesteigert worden. Damit ist die
Gefahr gestiegen, dass Menschen durch abfallende Äste
oder umstürzende Bäume zu Schaden kommen. Für die
Waldbesitzer, die den Wald bewirtschaften, entstehen
hierdurch spezielle Anforderungen. Sie sind durch das
Gesetz verpflichtet, das freie Betretungsrecht zu gestat-
ten; allerdings erfolgt das Betreten auf eigene Gefahr.
Wir wollen, dass Waldbesitzer nicht für ihre Dienste
zum Wohle der Allgemeinheit belastet werden. Die Ver-
kehrssicherungspflicht an Waldwegen bleibt bestehen;
aber waldtypische Gefahren werden in Zukunft von der
Haftung ausgeschlossen sein. Ein Blick auf verschiedene
Gerichtsurteile der letzten Jahre zeigt, dass wir mit die-
ser Formulierung Waldbesitzer entlasten können. Wir
sind uns allerdings bewusst: Wir können durch Regelun-
gen im Bundeswaldgesetz nicht die Haftungsregelungen
des Bürgerlichen Gesetzbuches aushebeln.
Die Holznutzung hat in den letzten Jahren enorm zu-
genommen. Es ist davon auszugehen, dass sich dieser
Trend in Zukunft noch verstärkt. Die Produktion von
Biomasse in Kurzumtriebsplantagen, KUP, hat gegenüber
Monokulturen wie dem Maisanbau ökologische Vorteile:
Sie zeigen eine deutlich höhere Biodiversität und benöti-
gen weniger Dünge- und Pflanzenschutzmittel. Der Wis-
senschaftliche Beirat des Agrarministeriums hatte schon
im Jahr 2007 in seinem Gutachten auf die ökologischen
und ökonomischen Vorteile der Nutzung von Holz aus
Kurzumtriebsplantagen hingewiesen. In verschiedenen
Regionen Deutschlands gibt es daher Projekte, in KUP
Holz für die energetische und stoffliche Nutzung zu pro-
duzieren. Diese Projekte können Wettbewerbsfähigkeit
mit anderen Produktionen von Biomasse nur erreichen,
wenn sie Rechtssicherheit haben. Dafür müssen Kur-
zumtriebsplantagen und auch Agroforstsysteme vom
Waldbegriff ausgenommen werden. Angesichts der deut-
lichen ökologischen und ökonomischen Vorteile der
Produktion von Biomasse in Agroforstsystemen gegen-
über dem Maisanbau ist diese Weichenstellung überfäl-
lig.
Die Herausnahme der licht bewaldeten Bergalmen im
Alpenraum erfolgte auf bayrischen Wunsch. Um die tra-
ditionelle Bewirtschaftungsform zu gewährleisten, ha-
ben wir einen vernünftigen Weg gefunden, der sich an
einer fortdauernden landwirtschaftlichen Nutzung der
betroffenen Flächen orientiert. Bei Aufgabe der land-
wirtschaftlichen Nutzung und zunehmender Bestockung
werden diese Almen zu Wald. Die Umsetzung der Al-
penkonvention wird durch diese Klarstellung gestärkt.
Schutzwälder sind keine landwirtschaftlich genutzten
Flächen und daher von der Regelung nicht betroffen.
Wälder sind ein Archiv der Kulturgeschichte. Der Li-
mes, slawische Wallanlagen, mittelalterliche Pflugspu-
ren sind Beispiele für kulturgeschichtliche Entwicklun-
gen, die in Wäldern bewahrt wurden. Historische
Parkanlagen und Friedhöfe sind mit ihrem teilweise gro-
ßen Baumbestand ebenfalls Wälder. Der Denkmalcha-
rakter dieser Anlagen verdient besonderen Schutz. Wir
wollen, dass die Bewirtschaftung der Wälder auch ihre
kulturgeschichtliche Dimension berücksichtigt, und ha-
ben dafür den § 11 ergänzt. Diese Anpassung wird die
Pflege und den Erhalt der bedeutenden Kulturgüter im
Rahmen des Waldgesetzes vereinfachen. Die multifunk-
tionale Nutzung unserer Wälder gibt Freiräume, auch
denkmalpflegerische Aspekte bei der Waldnutzung zu
berücksichtigen. In einem Aufsatz, veröffentlicht in
Band 55 der Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomi-
tees für Denkmalschutz, wurde die Forstwirtschaft pau-
schal als Monokultur-Kahlschlag-Methode bezeichnet.
Ein solches Zerrbild hat nichts mit der forstwirtschaftli-
chen Realität in Deutschland zu tun und kann daher auch
eine Herausnahme von historischen Parkanlagen aus
dem Geltungsbereich des Bundeswaldgesetzes nicht be-
gründen.
Im Bereich der Sägewerke hat in den letzten Jahren
eine erhebliche Konzentration stattgefunden. Der Privat-
wald ist dagegen überwiegend klein strukturiert. Fast
60 Prozent der Waldbesitzer bewirtschaften Wälder, die
kleiner als 20 Hektar sind. Wir wollen deren Möglich-
keiten, ihr Holz gemeinsam zu vermarkten, verbessern.
Um die nachhaltige und wirtschaftliche Nutzung dieser
Ressourcen zu verbessern, wollen wir die forstwirt-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5163
(A) (C)
(D)(B)
schaftlichen Vereinigungen in die Lage versetzen, diese
Waldbesitzer bei der Vermarktung des bedeutendsten
nachwachsenden Rohstoffes Holz zu unterstützen. Zu
diesem Zweck haben wir mit Änderungen in § 37 und
§ 40 die forstwirtschaftlichen Vereinigungen besserge-
stellt. Dies wird eine größere Flexibilität schaffen und
gleichzeitig den Verwaltungsaufwand deutlich reduzie-
ren. Insbesondere die Holzvermarktung der privaten
Kleinwaldbesitzer wird gestärkt und kann helfen, die
wirtschaftliche Nutzung des Rohstoffes Holz aus diesen
Waldflächen unter nachhaltigen Gesichtspunkten zu ver-
bessern.
Die insbesondere von den Naturschutzverbänden er-
hobene Forderung nach der gesetzlichen Festlegung ei-
ner guten fachlichen Praxis im Bundeswaldgesetz sehen
wir nicht als notwendig an. In den meisten Landeswald-
gesetzen gibt es dazu bereits Regelungen. Gesetzliche
Regelungen für Selbstverständlichkeiten wie die Ver-
meidung des flächigen Befahrens der Waldfläche helfen
nicht weiter. Detailliertere Regelungen können nicht all-
gemeingültig für alle Wälder von der norddeutschen
Tiefebene über die Mittelgebirge bis zum Alpenrand
festgelegt werden. Viele Waldeigentümer haben zudem
bereits freiwillig höhere Kosten akzeptiert, um höheren
Standards in der Waldbewirtschaftung zu genügen. So
sind fast 70 Prozent der Waldfläche in Deutschland zerti-
fiziert. Die Ergebnisse der letzten Bundeswaldinventur
zeigen, dass die Waldbesitzer sehr verantwortlich mit ih-
ren Wäldern umgehen. Der Waldumbau hin zu stabilen,
naturnahen Mischwäldern geht voran, und auch der
Schutz von Primärwäldern wird verstärkt. Der Anteil
von Totholzanteilen im Wald steigt und leistet einen Bei-
trag zur Biodiversität. Der Bundeswaldbericht zeigt,
dass im Wald ein wesentlich geringerer Artenschwund
zu verzeichnen ist als auf der Freifläche.
Untersuchungen zeigen uns, dass in den letzten Jah-
ren Erkenntnisse der Wissenschaft vergleichsweise
schnell von der Praxis übernommen worden sind. Dabei
leistet die gute forstliche Ausbildung der Forstmitarbei-
terinnen und -mitarbeiter einen wichtigen Beitrag.
Wir brauchen eine wissenschaftsbasierte Weiterent-
wicklung unserer Wälder. Dafür müssen wir verschie-
dene Daten erheben, die den jetzigen Zustand beschrei-
ben. Durch Vergleich mit früheren Waldinventuren lässt
sich die Entwicklung unserer Wälder aufzeigen. Daraus
lassen sich Prognosen für die Waldentwicklung ableiten
und Handlungsoptionen für Eingriffe ausarbeiten. Dafür
haben wir auch Änderungen bei der Waldinventur durch-
gesetzt. Nur eine breite Wissensbasis ermöglicht sachge-
rechte Entscheidungen. Neben den Daten zum Holzbe-
stand, dem Baumartenbestand und der Baumgesundheit
wollen wir vor allem die Erkenntnisse aus der Bodenzu-
standserhebung mit einbeziehen. Ebenso soll im Rah-
men von internationalen Verpflichtungen der Kohlen-
stoffbestand, also die Holzmenge, im Abstand von fünf
Jahren erhoben werden. Diese Maßnahmen sollen das
Monitoring unserer Wälder verbessern und noch aussa-
gekräftiger machen.
Alexander Süßmair (DIE LINKE): Die gute Nach-
richt zuerst: Der heute zu beschließende Gesetzentwurf
zur Änderung des Bundeswaldgesetzes, BWaldG, hat ge-
zeigt, dass die Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen lernfähig sind. Wie ich mir von Kolleginnen
und Kollegen, die bereits länger im Agrarausschuss des
Bundestages sitzen, habe sagen lassen, kommt es selten
bis nie vor, dass die Regierung aus einer Anhörung lernt
und Erkenntnisse aus einer Anhörung in ihren Gesetz-
entwurf einfließen lässt.
Doch dieses Mal ist genau das passiert. Der von der
Linken benannte Sachverständige Enno Rosenthal, Vor-
sitzender des Brandenburger Waldbauernverbandes,
machte in der Anhörung deutlich, dass Änderungen im
§ 37 BWaldG zur Erleichterung der Arbeit der forstwirt-
schaftlichen Vereinigungen unbedingt auch Folgeände-
rungen im § 40 nach sich ziehen müssen. Der Hinweis
war berechtigt, was man schon an den offenen Mündern
und staunenden Blicken auf der Regierungsbank bemer-
ken konnte. Gut, dass Herr Rosenthal die Bundesregie-
rung noch rechtzeitig darauf hingewiesen hat, dass ihr
bei einem Gesetzentwurf, über welchen bereits gefühlte
100 Jahre debattiert wird, ein dicker Patzer passiert ist.
Eine andere zentrale Forderung aus der Anhörung
– die Definition der „ordnungsgemäßen Forstwirtschaft“
im Sinne einer naturnahen Waldbewirtschaftung – wurde
natürlich nicht aufgenommen. Genau an diesem Punkt
streiten sich die jetzigen Regierungsfraktionen und die
jetzigen Oppositionsfraktionen bereits seit Jahren.
Für SPD und Grüne ist das ein Grund, die komplette
Gesetzesnovelle nun abzulehnen.
Wir als Linke wollen uns dieser Totalverweigerung
nicht anschließen, denn der Gesetzentwurf enthält viele
Forderungen, welche auch bereits in unserem Antrag
17/1743 „Bundeswaldgesetz ändern – Naturnahe Wald-
bewirtschaftung fördern“ aufgelistet sind: Erleichterun-
gen bei der Verkehrssicherungspflicht, Neudefinition des
Waldbegriffes zur Unterstützung der Agroforstwirtschaft
– meine Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat speziell zu
diesem Thema bereits mehrfach im Bundestag gespro-
chen – und die Aufgabenerweiterung der forstwirtschaft-
lichen Vereinigungen.
Richtig sind darüber hinausgehende Forderungen, wie
sie nicht nur in unserem Antrag, sondern auch in den an-
deren beiden Oppositionsanträgen zu finden sind. Daher
werden wir auch allen drei Anträgen zustimmen.
Ich kann nicht verstehen, warum SPD und Grüne
nicht diesen wenigstens kleinen Schritt in die richtige
Richtung mitgehen wollen und den Gesetzentwurf der
Koalition unterstützen. Wenn Ihnen eine Novelle des
Bundeswaldgesetzes mit naturschutzfachlichen Anfor-
derungen so wichtig gewesen wäre, dann hätten Sie dazu
von 1998 bis 2005 gemeinsam Zeit gehabt. Damals war,
wenn ich das richtig in Erinnerung habe, die SPD der
große Blockierer.
Doch zurück zum Wald: Die Linke steht für eine na-
turnahe Waldbewirtschaftung. Daran halten wir fest. Da-
her werden wir auch weiterhin an der Notwendigkeit ei-
ner Novelle des Bundeswaldgesetzes mit dem Ziel einer
sinnvollen Definition der „ordnungsgemäßen Forstwirt-
schaft“ festhalten. Liebe SPD, liebe Grüne: Vielleicht
sind die Mehrheitsverhältnisse ab 2013 so, dass wir dies
dann mit Ihren Stimmen erreichen können.
5164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Zu einer naturnahen Waldbewirtschaftung gehört für
uns, dass eine größere Naturnähe durch die Wahl stand-
ortgerechter einheimischer Baumarten, kahlschlagsfreies
Wirtschaften, Waldrandgestaltung, Reduzierung der Bo-
denbearbeitung und Bodenverdichtung, Vermeidung des
Einsatzes von Herbiziden, Pestiziden und Düngemitteln,
waldverträgliche Wilddichten und Verzicht auf gentech-
nisch verändertes Pflanz- und Saatgut erreicht wird.
Darüber hinaus sind soziale und Qualifizierungsstan-
dards für die Erholungs- und Bildungsfunktion des Wal-
des sowie für die in der Forstwirtschaft Beschäftigten zu
entwickeln. Alle Aufgaben sind durch qualifiziertes
forstliches Personal abzusichern.
Heute haben wir einen längst fälligen ersten Schritt
getan. Die Linke wird weiter dafür werben, dass diesem
weitere Schritte folgen. Einer könnte eine Novelle des
Bundesjagdgesetzes sein.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nach der Expertenanhörung war klar, dass die Bundes-
regierung den unzureichenden Bundesratsentwurf für
eine Waldgesetznovelle nachbessern musste. Das betraf
selbst Punkte, über die im Grundsatz parteiübergreifend
Einigkeit besteht.
Mit den vorgelegten Änderungsanträgen sind den Re-
gierungsfraktionen allerdings nur teilweise befriedi-
gende Lösungen gelungen. An manchen Stellen wurden
sie den Anforderungen nicht gerecht.
Wie von dieser Regierung nicht anders zu erwarten,
betrifft das in erster Linie die von allen drei Oppositions-
fraktionen geforderten ökologischen Mindeststandards
für die Waldbewirtschaftung. Diese werden im Bundes-
waldgesetz auch zukünftig fehlen. Für Bündnis 90/Die
Grünen ist das Bundeswaldgesetz angesichts gestiege-
nen Nutzungsdrucks so nicht zustimmungsfähig. Wir
werden aber den beiden anderen Oppositionsanträgen
zustimmen, die wie unser Antrag ebenfalls Mindeststan-
dards fordern.
Nun komme ich zur Abgrenzung von Wald und Agro-
forstsystemen. Auch aus bündnisgrüner Sicht ist es rich-
tig, das Flächenidentifizierungssystem von InVeKoS zu
nutzen, um Wälder im Regelfall klar und eindeutig von
Agrarflächen abzugrenzen. Aber es gibt in den Alpen
eine Schnittmenge von Almweiden und Schutzwäldern.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die CSU bestreitet,
dass es diese Schnittmenge gibt. Alle Beteiligten, die
sich in dieser Streitfrage mit ihren gegensätzlichen Inte-
ressen geäußert haben, gehen davon aus, dass es viele
Flächen gibt, die sowohl Schutzwald als auch von Alm-
bauern genutztes Weideland sind.
Angesichts der grundlegenden Bedeutung von
Schutzwäldern muss das Gesetz klarstellen: Schutzwäl-
der müssen Wald bleiben, so wie wir Bündnisgrüne es
gestern im Agrarausschuss beantragt haben.
Da das Land Bayern aber per Gesetz viele Almen zu
Schutzwäldern erklärt hat, die auch aus Sicht der biolo-
gischen Vielfalt zukünftig kein Wald sein sollten, ist es
Aufgabe des Landes Bayern, das einzelflächenbezogen
zu ändern. Stattdessen, wie es die Koalition tut, im Bun-
deswaldgesetz pauschal für alle als Almweide genutzten
Schutzwälder den Waldstatus aufzuheben, ist jedenfalls
der für den Schutz der Berge falsche Weg. Denn nun-
mehr steht zu befürchten, dass viele Bergwälder, die das
auch bleiben sollten, ihren Waldstatus verlieren.
Auch beim Thema Verkehrssicherungspflicht lässt
sich bereits heute vorhersagen, dass die Diskussion da-
rüber unter Waldbesitzern und unter Naturschützern mit
Sicherheit weitergehen wird. Denn eine Lockerung war
nicht das Ziel der vom Bundesrat vorgelegten und von
der Koalition nunmehr unverändert übernommenen
Ergänzung dieser Regelung um den Verweis auf wald-
typische Gefahren. Hier wird lediglich das derzeit ausge-
übte Richterrecht festgelegt, wie aus der Gesetzesbe-
gründung hervorgeht. Sowohl Waldbesitzer als auch
Naturschützer haben eine Lockerung der Verkehrssiche-
rungspflicht erwartet. Genau deswegen wird die Diskus-
sion darüber weitergehen.
Hinzu kommt, dass die Verantwortung und die Kos-
tenträgerschaft für die Verkehrssicherungspflicht an
Straßen gemäß dem Verursacherprinzip dem Straßen-
baulastträger zuzuweisen ist. Wer Straßen baut, muss
auch die Folgekosten tragen. Es kann nicht sein, dass sie
weiterhin auf die Waldbesitzer abgewälzt werden. Das
sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, selbst
wenn man feststellt, dass das für die leidgeprüften öf-
fentlichen Haushalte eine große Herausforderung ist.
Sachdienlicher und kostenschonender wäre es, wenn we-
niger Straßen und Wege durch Wälder geführt würden.
Zwar hat der Gesetzentwurf den Aufgabenbereich der
forstwirtschaftlichen Vereinigungen um die Holzver-
marktung erweitert, nicht aber auch um die Durchfüh-
rung forstwirtschaftlicher Maßnahmen. Ich bedaure sehr,
dass die Regierungskoalition diese Anregung aus der
Expertenanhörung nicht aufgegriffen hat; denn das wäre
im Interesse einer effizienten Bewirtschaftung des
Kleinprivatwaldes gewesen. Die Behauptung von Frau
Happach-Kasan, die meisten forstwirtschaftlichen Verei-
nigungen würden das ja bereits heute tun, obwohl sie
dazu eigentlich nicht ermächtigt sind, kann ja wohl nicht
das letzte Wort gewesen sein.
Gerne hätten wir diesem Gesetz zugestimmt. Aber die
Mängel bei den vorgelegten Änderungen und der völlige
Verzicht auf die Vorgaben für die nachhaltige und ord-
nungsgemäße Waldwirtschaft lassen das nicht zu. Die
Novellierung des Bundeswaldgesetzes bleibt daher wei-
terhin auf der Tagesordnung.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Todesstrafe weltweit abschaffen
– Folter bekämpfen und Folteropfer unter-
stützen
– Abschaffung der Todesstrafe weltweit
(Tagesordnungspunkt 19 a bis c)
Frank Heinrich (CDU/CSU): In diesen Tagen ist man
als Mitglied des Menschenrechtsausschusses versucht, der
Opposition ein herzliches Dankeschön zu sagen. Wir ha-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5165
(A) (C)
(D)(B)
ben Woche für Woche die Gelegenheit, unsere Positio-
nen zu den wesentlichen Menschenrechtsthemen coram
publico neu zu erklären. Dass wir diese bereits im
Dezember 2009 in einem Antrag formuliert und im
März 2010 hier im Bundestag beschlossen haben, ent-
bindet uns nicht von der Aufgabe, den Stellenwert und
die konkrete Ausgestaltung der Menschenrechte in den
verschiedenen Themenfeldern wieder und wieder zu be-
tonen, und dadurch ins kollektive Bewusstsein zu trans-
portieren. In diesem Sinne, liebe Freunde von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und auch von der Linkspartei:
Herzlichen Dank für ihre Vorlage zu einer neuen De-
batte! Die CDU/CSU hat als christliche Partei dezidiert
zu Menschenrechten Stellung genommen und wird es
weiter
Doch das ist nur eine Perspektive auf die Sache, ich
möchte mein Unverständnis zu einer anderen Perspek-
tive nicht verhehlen. Hier werden wichtige, ja wesentli-
che Sachthemen parteipolitisch instrumentalisiert. Der
Bundestag hat beschlossen, die Menschenrechte welt-
weit zu schützen. Die Themen Todesstrafe und Folter
sind ausdrückliche Bestandteile dieses Beschlusses.
Wenn Sie nun Antrag auf Antrag zu diesen Themen for-
mulieren, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren,
dass Sie von der eigentlichen Arbeit ablenken wollen.
Polemik statt Tagesgeschäft, darin kann sich doch die
Rolle einer Opposition nicht erschöpfen!
Wie wenig Ihnen an dieser Stelle an einer konstrukti-
ven Zusammenarbeit gelegen ist, zeigt das Scheitern eines
interfraktionellen Antrags zur Ächtung der Todesstrafe.
Trotz unserer eindeutigen Beschlüsse zum Thema wollte
die CDU/CSU-Fraktion gemeinsam mit der FDP und der
SPD einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als ge-
meinsamen Antrag auf den Weg bringen, um der beson-
deren Bedeutung des Themas Ausdruck zu verleihen.
Was in den vergangenen Legislaturperioden noch mög-
lich war, ist diesmal an der Sturheit und Verbissenheit
der Bündnisgrünen gescheitert. Wir bedauern es außer-
ordentlich.
Hier noch einmal der Kern unserer unterschiedlichen
Auffassungen: Ihr Antrag nennt Namen einzelner betrof-
fener Menschen und einzelne Staaten, die bestimmte
Konventionen oder Protokolle nicht ratifiziert haben, aber
eine positive Entwicklung aufweisen. So wichtig jedes
einzelne Schicksal eines Menschen ist, der in einer Todes-
zelle sitzt – und wir sind dankbar für die hervorragende
Arbeit der Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidi-
ger, die diese Namen international bekanntmachen, kein
Mensch ist eine Nummer, auch ein Todeskandidat bleibt
ein Geschöpf mit persönlicher Würde –, so wenig dürfen
wir die Augen vor einer bitteren Realität nicht verschlie-
ßen: Insbesondere politische Häftlinge in autoritären Re-
gimen sind immer wieder zusätzlichen Repressionen
ausgesetzt, wenn sie exemplarisch als Regimeopfer be-
nannt werden. Die Nennung von Namen in ihrem Antrag
ist daher menschlich absolut verständlich und doch in
der Sache nicht zweckdienlich.
Gestern war der Bundesaußenminister im Menschen-
rechtsausschuss. Sehr glaubwürdig hat er den Einsatz der
Bundesrepublik für die Rechte der Menschen als prioritä-
res Ziel deutscher Außenpolitik betont. Zugleich hat er
dabei den unschätzbaren Wert der „Stillen Diplomatie“
herausgestellt. Ja, Politik muss Missstände auch anpran-
gern. Aber einzelne Schicksale werden gefährdet, wenn
sie mit Sanktionsandrohungen und öffentlichen Bloß-
stellungen einhergehen. Das Gleiche lässt sich von ein-
zelnen Ländern sagen. Wenn wir diese Länder auf dem
Weg zu Ratifizierungen internationaler Abkommen vor-
schnell an den Pranger stellen, geht dieser Schuss nach
hinten los. Lassen Sie es mich als Pädagoge sagen: Ver-
stärkung und Unterstützung heißen die Zauberworte,
nicht Ermahnung und Entmutigung. Ein Antrag, der die
Todesstrafe weltweit ächtet, sollte daher aus unserer
Sicht generelle, ja universelle Forderungen und Feststel-
lungen enthalten, um so den Charakter einer Resolution
zu erfahren. Konkrete Bezichtigungen dagegen kommen
einem politischen Tribunal gleich und können, wie so-
eben ausgeführt, letztlich das genaue Gegenteil des Be-
absichtigten bewirken.
Lassen Sie mich zur Position der CDU/CSU zurück-
kommen. Ich zitiere aus dem Antrag und Beschluss
„Menschenrechte weltweit schützen“. Gleich im ersten
Punkt äußern wir uns klar und unmissverständlich zur
Todesstrafe. „Unveräußerliche Prinzipien wie körperliche
und geistige Unversehrtheit, Gedanken- und Meinungs-
freiheit und die Freiheit von Diskriminierung sind in vielen
Teilen der Welt gefährdet. Die grausamste und un-
menschlichste Form der Bestrafung, die Todesstrafe,
wurde in vielen Staaten der Welt abgeschafft. Darunter
sind alle Staaten der Europäischen Union. Doch immer
noch wird die Todesstrafe verhängt bzw. vollstreckt, und
dies nicht nur in autoritären Regimen wie Iran, China
oder Sudan, sondern auch in Demokratien wie den USA
und Japan. Es gibt keinen rechtsstaatlichen Grund, der
die Todesstrafe rechtfertigt; zudem können Fehlurteile
nie ganz ausgeschlossen werden. Ein Grundanliegen
deutscher Menschenrechtspolitik bleiben deshalb die
Aussetzung und in letzter Konsequenz die Abschaffung
der Todesstrafe.“
Deutlicher und eindeutiger kann man die Todesstrafe
nicht ablehnen. Menschenrechtliche, rechtsstaatliche und
humanitäre Gründe sprechen unisono gegen die Todes-
strafe. Die Damen und Herren von der Opposition haben
unserem Antrag die Zustimmung verweigert.
Auch zur Ächtung der Folter nimmt unser Beschluss
Stellung und führt eindeutige, evidente Gründe ins Feld
– ich zitiere –: „In mehr als 150 Staaten der Welt sind
Menschen Folter sowie grausamster und unmenschlicher
Behandlung ausgesetzt. In Konfliktsituationen sind in
den letzten Jahren verstärkt auch Kinder, Jugendliche
und Frauen Opfer von Folter geworden. Aber auch Tau-
sende von politischen Dissidenten sind in den Gefäng-
nissen weltweit tagtäglich Folter und Misshandlungen
ausgesetzt. All dies geschieht, obwohl die Folter völker-
rechtlich in einer Vielzahl internationaler Abkommen
verboten wurde. Seit 1984 ist mit dem ,Übereinkommen
gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung‘ der Vereinten Nationen das
Folterverbot für die Vertragsstaaten bindend und die
Überwachung des Verbots von unabhängigen Stellen
vorgesehen. Das Folterverbot gilt absolut und darf nicht
gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden.“
5166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
(D)(B)
Mit diesem Beschluss haben wir dezidierte Grundla-
gen, Folter als Menschenrechtsverletzung zu benennen
und zu bekämpfen, und wir tun es auch. Allerdings nicht
nur in den Ländern, die uns eine Folterpraxis vermuten
lassen. Nein, wie ernst wir uns als Bundesrepublik und
als Mitglied der Europäischen Union selber nehmen
müssen und nehmen, zeigt ein Bespiel aus der jüngsten
Vergangenheit. Der Fall Gäfgen ging zu Genüge durch
den Medienwald.
Ich zitiere eine Meldung der dpa vom 10. Juni diesen
Jahres: „Kindermörder Gäfgen erzielt juristischen Teil-
erfolg. Straßburg. Der Kindsmörder Magnus Gäfgen hat
einen Teilerfolg mit seiner Folterbeschwerde gegen
Deutschland erreicht. Mit der Gewaltandrohung gegen
Gäfgen bei der Fahndung nach einem entführten Kind
habe Deutschland gegen das Folterverbot der Menschen-
rechtskonvention verstoßen, befand der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag in
Straßburg. Die Richter warfen Deutschland eine man-
gelnde juristische Aufarbeitung dieser Folterandrohung
vor.“
Dass der EGMR der Bundesrepublik vorwirft, gegen
das Folterverbot verstoßen zu haben, mag auf den ersten
Blick erschüttern: In Deutschland wird gefoltert. Doch
auf den zweiten und dritten Blick sieht das Bild ganz an-
ders aus. Der zweite Blick: Wer kann emotional nicht
nachempfinden, wie die Gewaltandrohung zustande
kam. Ein Entführer verbirgt sein grausames Geheimnis,
ein Kind könnte vielleicht noch gerettet werden. Ich ver-
stehe die Drohung gut. Doch eben hier zeigt sich die sitt-
liche Reife einer Gesellschaft. Folter ist grundsätzlich
falsch, auch wenn sie emotional verständlich ist, und da-
her lehnen wir sie ab. Der dritte Blick: Es ist ein Beweis
wahrer Rechtstaatlichkeit, auch unangenehme Urteile zu
akzeptieren. Wer sich dem Urteil eines EGMR stellt, er-
wirbt sich auch das Mandat, selber für die Einhaltung
von Menschenrechten zu werben und zu kämpfen. Wer
Standards im Ernstfall gelten lässt, kann sie im Regelfall
proklamieren.
Ein letzter Gedanke. Todesstrafe und Folter stehen im
Zusammenhang mit anderen Menschenrechtsthemen,
auch dazu führt unser Antrag einiges aus: „Folter und
Misshandlungen stehen in engem Zusammenhang mit
Formen der Sklaverei und des Menschenhandels. Sklave-
rei ist kein Übel der Vergangenheit, sondern den Angaben
der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge
Schicksal von zwölf Millionen Menschen weltweit –
hauptsächlich von Frauen und Kindern. 70 Prozent der
gehandelten Menschen werden als Zwangsprostituierte
Opfer sexueller Ausbeutung. Die übrigen Betroffenen
werden als Zwangsarbeitskräfte, Kindersoldaten, unfrei-
willige Organspender und zu Zwecken illegaler Adop-
tion verkauft. Sklaverei und Menschenhandel sind seit
Beginn des 20. Jahrhunderts auf Grundlage internationa-
ler Abkommen geächtete Verbrechen. Im Rahmen des
Protokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen
die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aus
dem Jahr 2000 wird ein notwendiger Schritt getan, um
Menschenhandel zum Zweck der Prostitution und der
Sklavenarbeit zu bekämpfen.“
Internationale Unternehmen dürfen in ihrem Engage-
ment nicht wertfrei handeln und stehen in der Pflicht, in
ihrer unternehmerischen Tätigkeit die Menschenrechte
zu achten. Bereits heute gibt es Mechanismen, die ge-
währleisten, dass Produkte und Dienstleistungen nicht
unter Verletzung der Menschenrechte erbracht werden.
Initiativen, wie der von Kofi Annan begründete Global
Compact, durch den sich Unternehmen freiwillig ver-
pflichten, Menschenrechtsprinzipien in ihrem Engage-
ment zu achten, sind von herausragender Bedeutung.
Aber auch andere freiwillige Selbstverpflichtungen, Ver-
haltenskodizes und Zertifizierungsmaßnahmen haben
gezeigt, dass Unternehmen ihre Verantwortung erkannt
haben und bereit sind, diese wahrzunehmen. Mittel- bis
langfristig werden sich konkrete Außenwirtschaftsinte-
ressen besser verwirklichen lassen, wenn Rechtsstaat-
lichkeit und Menschenrechte beachtet werden.
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Mehrmals haben
wir parteiübergreifend im Deutschen Bundestag be-
schlossen, die jeweilige Bundesregierung aufzufordern,
sich für die weltweite Ächtung und Abschaffung der To-
desstrafe einzusetzen. Das tun wir aus gutem Grund;
denn die Todesstrafe verstößt gegen das Recht auf Le-
ben, ein elementares Grundrecht jedes Menschen. Der
Staat ist verpflichtet, dieses Grundrecht zu sichern.
In exakt 58 Ländern gibt es derzeit noch die Todes-
strafe. Im Jahr 2007 sind Schätzungen von Amnesty In-
ternational zufolge 1 252 Menschen hingerichtet wor-
den; im Jahr 2008 waren es 2 390 Menschen, das heißt,
weltweit wurden täglich sieben Menschen hingerichtet,
davon allein mindestens 1 700 in China. Hinter vorge-
haltener Hand spricht man allerdings von jährlich circa
8 000 Hinrichtungen in diesem Land. Sollte sich der Ein-
druck des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregie-
rung, Markus Löning, bestätigen, scheint sich in China
derzeit etwas zu verändern, nicht nur, was die Delikte,
welche zur Todesstrafe führen, betrifft, sondern auch be-
züglich der Rechte der Angeklagten, der Abkehr von der
Erpressung von Geständnissen durch Folter sowie von
der Öffentlichkeit von Hinrichtungen. Doch klar ist: Die
Bedingungen der Todesstrafe zu verbessern ist keine Lö-
sung; die Todesstrafe gehört abgeschafft.
Im Iran ist die Lage weiter dramatisch. Die Todes-
strafe droht nicht nur bei Gewaltverbrechen, sondern
auch bei politischer Meinungsäußerung. Die Befürch-
tungen, dass der Jahrestag der umstrittenen Wiederwahl
von Präsident Ahmadinedschad am 12. Juni 2010 von ei-
ner Hinrichtungswelle begleitet würde, haben sich leider
bestätigt. Nicht vergessen sollten wir die unerträgliche
Vielzahl von Todesurteilen nach dem Scharia-Recht: we-
gen Homosexualität, Ehebruchs oder Apostasie, also
dem Abfall vom wahren Glauben.
Entsetzt bin ich nach wie vor über die Situation in den
USA, die ebenfalls zu den fünf Staaten gehören, welche
weltweit die meisten Hinrichtungen zu verantworten ha-
ben. Im vergangenen Jahr waren es 52 Menschen. Zu-
dem sitzen mehr als 1 000 Häftlinge in Todestrakten;
häufig tun sie das mehrere qualvolle Jahre, manche jahr-
zehntelang, und ohne, dass man ihnen mitteilen würde,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5167
(A) (C)
(D)(B)
wann die Todesstrafe vollstreckt wird. Meines Erachtens
ist das eine unmenschliche Behandlung, die der Folter
gleichgesetzt werden kann.
Dass auch Präsident Obama sich öffentlich für die To-
desstrafe ausgesprochen hat, zum Beispiel für Terroris-
ten und für Kinderschänder, entsetzt mich nicht nur, weil
er wissen sollte, dass es auch bei Gerichtsverfahren, die
zur Todesstrafe führen, Fehlurteile gibt. Seit 1973 wur-
den in den USA 139 zum Tode verurteilte Menschen we-
gen erwiesener Unschuld entlassen; für 23 andere Men-
schen kam die Einsicht in ihre Unschuld zu spät.
Besonders tragisch an der Tatsache, dass die USA in
der Spitzengruppe der Todesstrafenverhänger und -an-
wender sind, ist insbesondere, dass die USA global für
die Entwicklung von Menschenrechten und Demokratie
eintreten wollen. Gelten sie in diesem Bereich als Vor-
bild, dann haben wir es schwerer, weiterhin für die Ab-
schaffung und Ächtung der Todesstrafe einzutreten.
Immerhin ist im Kampf gegen die Todesstrafe Bewe-
gung. Vor nur 20 Jahren hatten noch zwei Drittel aller
Staaten die Todesstrafe. Heute haben sie bereits zwei
Drittel aller Staaten abgeschafft. Das macht Mut – hof-
fentlich auch allen Nichtregierungsorganisationen, die
sich für den Kampf gegen die Todesstrafe einsetzen.
Wir reden heute auch über eine andere schwere Men-
schenrechtsverletzung, nämlich die Folter. Hierzu haben
wir ebenfalls einen SPD-Antrag eingebracht, zum einen
um auf den internationalen Tag zur Unterstützung von
Folteropfern am 26. Juni aufmerksam zu machen und
zum anderen um die wichtige Arbeit der psychosozialen
Behandlungszentren für Folteropfer zu würdigen.
Ein besonderer Grund ist aber auch, dass nun der
5. Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der UN-
Anti-Folter-Konvention, CAT, vorliegt. Darin wird be-
mängelt, dass Deutschland den vorgeschriebenen nationa-
len Präventionsmechanismus nicht ausreichend umsetzt.
Wie wichtig dieser ist, haben wir in den letzten Tagen
gesehen.
Zudem kritisieren wir die schrittweise Aushöhlung
des nach der Genfer Flüchtlingskonvention gültigen
Non-Refoulement-Prinzips (Art. 33). Es verbietet,
Flüchtlinge in Länder aus- oder zurückzuweisen, in de-
nen ihnen Verfolgung oder Gefahr für Leben und Frei-
heit drohen würde. Ich appelliere wie bereits vor einigen
Wochen eindringlich an die Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen: Lösen Sie das aktuelle Rücknah-
meübereinkommen mit Syrien auf!
Lassen Sie mich abschließend noch einen traurigen
Punkt ansprechen: Leider ist es – im Gegensatz zu früher –
nicht möglich gewesen, einen fraktionsübergreifenden
Antrag zur Ablehnung der Todesstrafe vorzulegen, vor
allem wegen der Unionspolitiker im Menschenrechts-
ausschuss. Sie sollten sich ein Beispiel an den Entwick-
lungspolitikern nehmen, die ganz selbstverständlich eine
gemeinsame fraktionsübergreifende Erklärung zur Ver-
hängung der Todesstrafe wegen homosexueller Hand-
lungen in Uganda verabschieden. Im Menschenrechts-
ausschuss hatten wir übrigens auch versucht, gemeinsam
gegen diese schlimme Menschenrechtsverletzung vorzu-
gehen. Das ist leider – wie so vieles – an Ihrem Starrsinn
und Ihrer Überheblichkeit gescheitert.
Kehren Sie um auf diesem Weg! Die Türe zwischen
der ersten und der zweiten Lesung ist noch offen: Sie
können sich dem Antrag von SPD und Grünen noch an-
schließen.
Marina Schuster (FDP): Weltweit werden weiterhin
Menschen gehängt, erschossen, vergast, mittels Injektion
vergiftet, gesteinigt, geköpft oder auf andere Weise hin-
gerichtet. Die Liste der Straftaten, die mit dem Tode
geahndet werden können, reicht in den Ländern mit To-
desstrafe von Mord, Vergewaltigung, Landesverrat, Ent-
führung, Veruntreuung bis zu Dingen wie Abfall vom
Glauben, Homosexualität und sogar außerehelichem Se-
xualverkehr. Bei Letzterem gilt in manchen Ländern so-
gar das vergewaltigte Opfer als Täterin oder Täter, die
oder den es hinzurichten gilt. All diese Fälle zeugen von
tiefer Menschenverachtung. Aus tiefster Überzeugung,
dass die Todesstrafe eine unmenschliche und grausame
Strafe ist, treten wir für ihre weltweite Ächtung und Ab-
schaffung ein.
Die Bundesregierung hat im Kampf gegen die Todes-
strafe bereits konkrete Erfolge erzielt. Ich möchte an die-
ser Stelle besonders das Engagement von Dirk Niebel
herausstellen: Als bekannt wurde, dass in Uganda ein
Gesetzentwurf zur Einführung der Todesstrafe auf Ho-
mosexualität in das Parlament eingebracht wurde, hat er
gegenüber der ugandischen Regierung umgehend deut-
lich gemacht, dass eine Verabschiedung des Gesetzes
spürbare Folgen für die Entwicklungszusammenarbeit
haben werde. Auch der Menschenrechtsbeauftragte der
Bundesregierung, Markus Löning, war selbst in Uganda
vor Ort und hat das Gespräch mit Menschenrechtsakti-
visten und Regierungsvertretern gesucht. In der letzten
Sitzung des Menschenrechtsausschusses konnte er be-
richten, dass dieses Gesetz aufgrund des internationalen
Drucks und infolge der anstehenden Wahlen in Uganda
vom Tisch sei.
Das ist eine Nachricht, die uns alle erleichtert. Denn
wir kämpfen alle hier im Haus für die Abschaffung der
Todesstrafe weltweit. Der Fall belegt aber auch, dass der
Kampf genauso geboten ist, damit nicht noch mehr Län-
der auf die furchtbare Idee kommen, die Todesstrafe für
immer mehr oder neue Tatbestände einzuführen. Denn
eines ist für uns klar: Wir wollen nicht, dass der Gesetz-
entwurf des Abgeordneten Bahati in anderen afrikani-
schen Staaten Nachahmung findet. Ich danke allen, die
sich deutlich dagegen positioniert haben, und ich freue
mich, dass die Opposition das Engagement von Markus
Löning in ihrem Antrag ausdrücklich lobt.
Die Todesstrafe ist grausam, unmenschlich und mit
unserem Wertesystem nicht vereinbar. Sie ist ein anti-
quiertes Relikt eines primitiven Verlangens nach Rache.
Doch Rache steht einem aufgeklärten Staat nicht zu.
Hier darf ich Thomas Dehler zitieren: "Wie der Staat
seine Rechtsbrecher behandelt, kennzeichnet seinen
Geist.“ Die Todesstrafe gehört abgeschafft. Ob ein Staat
die Todesstrafe abschafft oder nicht, das hängt nicht da-
von ab, ob dieser arm oder reich ist; die Abschaffung
5168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
(A) (C)
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hängt einzig vom politischen Willen der Verantwortli-
chen ab.
Der Kampf gegen die weltweite Ächtung und Ab-
schaffung der Todesstrafe ist ein gemeinsamer Kraftakt.
Umso bedauerlicher finde ich es, dass es keinen inter-
fraktionellen Antrag dazu geben wird.
Der rot-grüne Antrag führt einige Einzelfälle auf. Das
Nennen von Einzelfällen bringt aber gerade bei diesem
Thema erhebliche Probleme mit sich. Denn es ist nicht
an uns, einzelne Verfahren, die zu einem Todesurteil ge-
führt haben, zu evaluieren. Unsere Kernaussage muss
vielmehr lauten, dass jedes Todesurteil, egal wo, egal
wie zustande gekommen und egal gegen wen, falsch ist.
Das muss doch das klare Signal sein!
Der Antrag von SPD und Grünen bekommt ein Ge-
sicht, nämlich jenes der Symbolfigur der Linken. Unser
Antrag umfasst aber auch die vielen gesichts- und na-
menlosen Hingerichteten weltweit, die keine prominente
Stimme haben. Mehrere Tausend Menschen sind nach
Schätzungen von Amnesty International allein in China
hingerichtet worden. Genaue Zahlen kennt man nicht;
sie werden von der chinesischen Staatsführung geheim
gehalten.
Der Antrag der Linken enthält einen begrifflichen
Fehler. Die sogenannten gezielten Tötungen sind nicht
mit der Tötung aufgrund einer verhängten Todesstrafe
gleichzusetzen. Gleiches gilt für die extralegalen Tötun-
gen. Selbstverständlich sind beide Handlungen ethisch-
moralisch verwerflich und verstoßen gegen geltendes
Recht.
Extralegale Tötungen erwähnt die Linke zu meiner
großen Verwunderung nur in Kolumbien. Die alleinige
Bezugnahme auf Kolumbien wird der globalen Proble-
matik nicht gerecht. Erst diese Woche haben wir die
Menschenrechtssituation im Nordkaukasus geschildert
bekommen. Dass Sie hier nur Kolumbien erwähnen,
zeigt, dass Sie auf einem Auge blind sind.
Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag
der SPD eingehen. Die SPD hat eine etwas missver-
ständliche Formulierung im zweiten Absatz. Da wir ih-
ren Antrag aber in den Ausschuss überweisen, werden
wir dort die Diskussion dazu mit den Kolleginnen und
Kollegen der SPD führen.
Für die FDP ist klar: Das Folterverbot gilt umfassend
und absolut. Die Koalition fährt hierzu auch einen klaren
Kurs. Im Koalitionsvertrag heißt es auf Seite 150 auch
ganz klar:
In unserem Regierungshandeln treten wir für die
weltweite Abschaffung von Todesstrafe, Folter und
unmenschlicher Behandlung ein.
Auch in dem Antrag „Menschenrechte weltweit
schützen“, den die Koalitionsfraktionen im Dezember
2009 eingebracht haben, haben wir bereits klare Aussa-
gen dazu getroffen.
Annette Groth (DIE LINKE): Wir fordern in unse-
rem Antrag die weltweite Abschaffung der Todesstrafe.
Die Todesstrafe ist eine durch nichts zu rechtfertigende
Form grausamer und unmenschlicher Strafe. Sie ist bei
Fehlurteilen nicht korrigierbar und wird oftmals rassis-
tisch motiviert verhängt. Darüber hinaus lehnen wir die
Todesstrafe ab, weil sie politisch immer wieder dazu
missbraucht werden kann und missbraucht wird, um
politische Gegner und Oppositionelle auszuschalten.
Neben der klassischen, legalisierten Form der Todes-
strafe hat die Anzahl der extralegalen Tötungen in den
letzten Jahren – auch im Zusammenhang mit dem soge-
nannten Krieg gegen den Terror – in besorgniserregen-
dem Ausmaß zugenommen. Die extralegalen Tötungen
werden entweder durch staatliche Sicherheitsorgane
oder durch parastaatliche Gruppen vollsteckt. Extrale-
gale Tötungen sind Ausdruck einer menschenverachten-
den Willkür und gehen meist Hand in Hand mit der An-
wendung von Folter und dem Verschwindenlassen der
betreffenden Personen. Obwohl es – übrigens im Gegen-
satz zur Todesstrafe, die grundsätzlich völkerrechtlich
nicht verboten ist – völkerrechtliche Instrumente gibt,
fehlt eindeutig der politische Wille zu deren Anwen-
dung. Die UN-Generalversammlung hat 2008 erneut mit
einer Resolution, 63/182, ihre Grundsätze hinsichtlich
der Verhütung und Untersuchung von außergesetzlichen,
willkürlichen und summarischen Hinrichtungen bekräf-
tigt und die wichtige Rolle des Sonderberichterstatters
hervorgehoben. Jedoch wird dieser Mechanismus nicht
genutzt und scheint somit politisch nicht gewollt zu sein.
Ich fordere an dieser Stelle die Bundesregierung aus-
drücklich auf, das Thema der extralegalen und gezielten
Tötungen international auch bei ihren Verbündeten auf
die Tagesordnung zu setzen.
Zurück zur klassischen Form der Todesstrafe: Aktuell
haben 139 Länder die Todesstrafe per Gesetz oder de
facto abgeschafft, während 58 Staaten weiterhin an der
Todesstrafe festhalten. Weltweit gibt es einen erfreuli-
chen Trend zur Abschaffung der Todesstrafe. So haben
in den letzten 15 Jahren 54 Staaten die Todesstrafe abge-
schafft, davon allein 15 Länder in den letzten drei Jah-
ren.
Am 18. Dezember 2007 gab es in der Generalver-
sammlung der Vereinten Nationen erstmalig die notwen-
dige Mehrheit zur Verabschiedung einer Resolution, die
zu einem sofortigen weltweiten Hinrichtungsmoratorium
als erstem Schritt zur Abschaffung der Todesstrafe auf-
ruft. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass ein Mo-
ratorium häufig der erstes Schritt zur tatsächlichen Ab-
schaffung der Todesstrafe in vielen Ländern war. Ich
fordere die Bundesregierung auf, weitere Länder als Un-
terstützer für diese wichtige Resolution zu gewinnen.
Trotz dieser positiven Initiative werden weltweit
mehrere tausend Menschen jährlich hingerichtet und
zum Tode verurteilt. Die Länder, in denen die meisten
Exekutionen stattfinden, sind China, der Iran, der Irak,
Saudi-Arabien, die USA und der Jemen. Mit den vier
letztgenannten Staaten unterhält Deutschland umfangrei-
che Programme zur Polizei- und Militärkooperation und
liefert Technologie zur Ausrüstung der Sicherheitskräfte.
In China werden mit Abstand die meisten Todesurteile
weltweit vollstreckt. Da Exekutionen in China als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5169
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(D)(B)
Staatsgeheimnis behandelt werden, gibt es keine ge-
nauen Angaben. Nachdem der Oberste Chinesische Ge-
richtshof 2008 alle Todesurteile aus dem Jahr 2007 über-
prüft hat und 15 Prozent aller Urteile als fehlerhaft
eingestuft hat, wurde dieses Jahr ein neues Gesetz einge-
führt, das unter anderem durch Folter erzwungene Ge-
ständnisse als ungültig für die Urteilsfindung, besonders
bei der Verhängung von Todesurteilen erklärt. Experten
erwarten dadurch eine deutliche Reduzierung der Todes-
urteile.
Vor allem möchte und muss ich an dieser Stelle die
Vollstreckung von Todesurteilen an zwei besonders vul-
nerablen Gruppen, nämlich an Kindern bzw. Minderjäh-
rigen und an Personen mit geistiger Behinderung oder
psychisch kranken Personen als unmenschliche Praxis
verurteilen. Zu den Ländern, die in diesem oder im letz-
ten Jahr die Todesstrafe an Minderjährigen vollzogen ha-
ben, gehören Afghanistan, China, der Iran und Saudi-
Arabien. Die Praxis der Hinrichtung von Kindern und
Jugendlichen ist durch die UN-Kinderrechtskonvention
international geächtet, die auch von den betreffenden
Ländern ratifiziert worden ist. Zu den Ländern, die die
Todesstrafe an Personen mit geistiger Behinderung oder
an psychisch kranken Personen vollziehen, gehören ne-
ben China, dem Iran und Japan auch die USA. Obwohl
der Oberste Gerichtshof der USA 2002 die Hinrichtung
von Straftätern mit einem gestörten geistigen Entwick-
lungsstand für verfassungswidrig erklärt hat, ist dagegen
die Vollstreckung der Todesstrafe an geistig kranken
Personen in den USA weiterhin erlaubt. Ich fordere von
der Bundesregierung, sich gegenüber den betreffenden
Ländern deutlich gegen die Vollstreckung von Todesur-
teilen an Kindern und Menschen mit geistiger Behinde-
rung bzw. psychisch Kranken einzusetzen.
Darüber hinaus verfolge ich mit großer Besorgnis die
Entwicklung im Iran, wo allein in diesem Monat rund
20 Todesurteile vollstreckt worden sind. Am 9. Mai wur-
den in Teheran vier Männer und eine Frau kurdischer
Abstammung gehängt. Bereits Anfang des Jahres wurde
die Hinrichtung von zwei Männern bekannt, die im Zuge
der Unruhen nach den Präsidentschaftswahlen vor einem
Jahr in Schauprozessen zum Tode verurteilt worden wa-
ren. Gegenwärtig befinden sich mindestens neun weitere
Personen, die in ähnlichen Prozessen verurteilt worden
sind, im Todestrakt.
Als menschenrechtliche Sprecherin meiner Fraktion
verurteile ich jede Anwendung der Todesstrafe ebenso
wie jede Form von extralegalen Tötungen weltweit und
werde weiterhin für deren Abschaffung kämpfen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Todesstrafe muss weltweit abgeschafft werden. –
Das ist keine Floskel und keine Binsenweisheit; die For-
derung nach der Abschaffung der Todesstrafe ist eine
der, wenn nicht gar die zentrale Forderung der weltwei-
ten Menschenrechtspolitik.
Es war deshalb in den vergangenen Legislaturperio-
den nur folgerichtig und auch der Sache angemessen,
dass die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, der FDP und
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser allzu wichti-
gen Sache gemeinsam Anträge gestellt haben. Hierdurch
konnte der Deutsche Bundestag ein starkes Zeichen an
all jene Staaten senden, die nach wie vor auf der Todes-
strafe beharren. Wir konnten ein starkes Zeichen an jene
Menschen senden, die von der Todesstrafe bedroht sind.
Und wir konnten ein starkes Zeichen an jene Nichtregie-
rungsorganisationen senden, die tagtäglich für die Ab-
schaffung und Zurückdrängung der Todesstrafe kämpfen
und dafür unsere Unterstützung benötigen.
Dieses starke Zeichen bleibt in dieser Wahlperiode
unter Schwarz-Gelb aus – unter einer Koalition, die sich
christliche Werte und liberale Freiheitsrechte auf ihre
Fahnen geschrieben hat. Das ist eine Schande für diese
Koalition und blamiert den Deutschen Bundestag.
Ein gemeinsamer Antrag konnte nicht zustande kom-
men, weil die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen,
insbesondere die angeblichen Menschenrechtspolitikerin-
nen und -politiker der Union, nicht mit den Oppositions-
fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zusammenarbeiten wollten. In der Finanzpolitik, der In-
nenpolitik, der Wirtschaftspolitik – auf vielen Politikfel-
dern – kann, vielleicht sogar: muss die Koalition ihren
Weg alleine gehen. In der Menschenrechtspolitik aber ist
eine solche Verweigerungshaltung schlicht borniert und
zeugt von der mangelnden Souveränität, sich Diskussio-
nen und Argumenten zu stellen. Die Arroganz der Macht
können in einer Demokratie jene zeigen, die die Mehr-
heit haben. In einer Diskussion über die Abschaffung der
Todesstrafe kostet sie jedoch möglicherweise Menschen-
leben.
Diese Verweigerungshaltung hat zwei überaus bittere
Facetten:
Erstens ist die Sache, um die es hier geht, viel zu
wichtig, um sich einer Diskussion einfach zu verschlie-
ßen. Die Forderung nach der Abschaffung der Todes-
strafe folgt unmittelbar aus der Menschenwürde. Dies
kann in zahlreichen Menschenrechtspakten nachgelesen
werden; zumindest sei den Koalitionsabgeordneten aber
ein Blick in das Grundgesetz empfohlen: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“,
steht dort als allererstes in Art. 1 Abs. 1. Das scheint
bei den vermeintlichen Menschenrechtspolitikern von
Schwarz-Gelb in Vergessenheit geraten zu sein. Denn
was, wenn nicht die Drohung mit dem Tod macht den
Menschen mehr zum Objekt staatlichen Handelns und
beraubt ihn damit seiner Würde? Für was, wenn nicht
die Abschaffung der Todesstrafe lohnt es sich als aufge-
klärter Mensch und Menschenrechtspolitiker mehr zu
streiten?
Zweitens betreibt die Koalition parteipolitische
Machtspielchen, zum einen mit den Oppositionsfraktio-
nen – was nur ein wenig peinlich, aber nicht weiter
schlimm ist –, zum anderen aber auf dem Rücken der
von der Todesstrafe bedrohten Menschen. Ich werfe kurz
einen Blick zurück: Wir haben gemeinsam an einem An-
tragsentwurf gearbeitet, lange und intensiv, haben die
Änderungswünsche der Koalition berücksichtigt und
eingearbeitet und uns bei Zahlen und Fakten immer wie-
der bei Amnesty International rückversichert. In alle
5170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
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(D)(B)
Entscheidungsprozesse war die Koalition eingebunden –
bis schließlich und plötzlich der Rückzieher kam. Dies
war ein Schlag ins Gesicht für alle von der Todesstrafe
bedrohten Menschen, für alle NGOs, die gegen die To-
desstrafe kämpfen, und für Amnesty International, die
kurz zuvor den Bericht zur Todesstrafe veröffentlicht
hatte. Freuen dürften sich dagegen all jene, die an der
Todesstrafe weiter festhalten, die Regimes in China, dem
Iran oder Sudan beispielsweise. Was tun nun wir Men-
schenrechtspolitiker, wenn wir in diese Länder reisen
und Vertreter der dortigen Regierungen treffen? Ein star-
kes und einstimmiges Votum des Bundstages können wir
ihnen nicht vorhalten. Nur einen Oppositionsantrag, der
von der Mehrheit des Hauses überstimmt wurde, oder
ein gespaltenes Votum, wenn der Antrag der Koalition in
der nächsten Woche kommt. Als ob wir in dieser Frage
unüberbrückbare Differenzen hätten. Eine Schande ist
das.
Ich kenne ja die Argumente der Koalition. Sie hat sie
lapidar vorgetragen, als sie erklärte, bei einem gemeinsa-
men Antrag nicht weiter mitarbeiten zu wollen.
Erstens sagte die Koalition, sie wolle keine Einzelfall-
politik betreiben. Sieben Einzelfälle aus drei verschiede-
nen Staaten haben wir exemplarisch aufgeführt. Waren
dies sieben zu viel oder 10 000 zu wenig? Keiner konnte
es uns erklären. Wer aber wie die Koalitionsfraktionen
meint, Menschenrechtspolitik könne man losgelöst von
Einzelschicksalen betreiben, der hat das Wesen und den
Sinn der Menschenrechte nicht verstanden. Denn Men-
schenrechtspolitik hat immer zwei Dimensionen, einer-
seits die Strategie der Verrechtlichung und der Durchset-
zung der Menschenrechtsabkommen, andererseits den
Kampf um Einzelschicksale. Denn wenn Staaten zu gro-
ßen rechtlichen und politischen Veränderungen noch
nicht willens oder in der Lage sind, bleibt uns nichts an-
deres übrig, als uns um die einzelnen Betroffenen zu
kümmern. Das mag exemplarisch sein und muss deshalb
Stückwerk bleiben. Vielleicht ist es auch nicht ganz ge-
recht gegenüber denjenigen Menschen, für die man sich
nicht hat einsetzen können, weil ihr Einzelfall nicht be-
kannt geworden ist. Doch diesem moralischen Dilemma
kann man nicht dadurch begegnen, rein gar nichts zu un-
ternehmen. Denn im Einsatz für die Menschenrechte
geht es in erster Linie immer um die Menschen, nicht
nur um große politische Ziele oder pathetische Reden.
Einzelschicksale exponiert herauszuheben wird also nie
obsolet werden, andernfalls würden viele Chancen,
Menschen zu helfen und Menschenleben zu retten unge-
nutzt verstreichen, während wir auf den großen Wurf
warten. Wer da behauptet, sie oder er könne einem An-
trag zur Abschaffung der Todesstrafe aus dem Grund
nicht zustimmen, es gehe darin um Menschen und Indi-
viduen, der ist schlichtweg zynisch und an der Sache
nicht wirklich interessiert.
Zweitens sagt die Koalition, sie fordere die Abschaf-
fung der Todesstrafe ja auch, nur halt nicht so explizit.
Die Forderung stünde schließlich in dem Antrag von
CDU/CSU und FDP mit dem schönen Titel „Menschen-
rechte weltweit schützen“. Natürlich steht sie dort drin.
Als dritte von siebzehn Forderungen. Diese versteckte
Forderung ist ein politisches Nullum, und die Koalition
unterstreicht diese Einstellung durch ihr Verhalten in der
hiesigen Debatte. Nun hat sie einen Antrag zur Abschaf-
fung der Todesstrafe für die nächste Sitzungswoche an-
gekündigt, ohne Debatte und Aussprache. Der Bundes-
tag zerfällt also in dieser Wahlperiode bei der Forderung
nach der Abschaffung der Todesstrafe erstmalig seit lan-
ger Zeit in Koalition und Opposition. Das ist blamabel.
Denn nur ein klares gemeinsames Signal hätte eine
große Wirkung erzielen können.
Wem die Zurückdrängung und Abschaffung der To-
desstrafe wirklich ein politisches Anliegen ist, der muss
aufstehen und sich aktiv dafür engagieren. Selbst unser
Antrag ist hierbei nur ein kleiner Beitrag. Aber er ist
wertvoll und wichtig, um den Kampf gegen die Todes-
strafe zu unterstützen.
Wir fordern etwa, China an die Umsetzung seiner
Selbstverpflichtung zur Ratifizierung zu erinnern und
auf die chinesische Führung einzuwirken, die Verhän-
gung und Vollstreckung der Todesstrafe sukzessive ein-
zuschränken. Eine Forderung, die es Amnesty Internatio-
nal deutlich erleichtern würde, im kommenden Jahr
wieder einen Bericht über die Todesstrafe vorlegen zu
können, in dem auch valide Zahlen zu China genannt
werden können. Durch diesen Bericht wiederum würde
sich die weltweite Aufmerksamkeit auf die immense
Zahl an Exekutionen in China richten und viele Men-
schenleben retten. Auch fordern wir, gegenüber Russ-
land auf die Ratifikation des 6. Zusatzprotokolls zur
EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe zu drän-
gen. Schließlich ist Russland nach wie vor das einzige
Land im Europarat, das sich dem verweigert. Bundes-
außenminister Westerwelle propagiert momentan, mit
seinem russischen Amtskollegen Lawrow über eine Mo-
dernisierungspartnerschaft zu verhandeln. Warum sollte
er diese Forderung also im Rahmen dessen nicht erhe-
ben? Warum soll der Bundestag in vorauseilendem Ge-
horsam darauf verzichten, ihn hierzu zumindest aufzu-
fordern? Der Iran richtet Minderjährige hin und bricht
dadurch seine eigenen völkerrechtlichen Verpflichtun-
gen. Die Bundesregierung muss gegenüber Iran darauf
drängen, dass dies beendet wird. Und auch auf die USA
sollte die Bundesregierung einwirken, damit die Todes-
strafe in allen Bundesstaaten abgeschafft und die zum
Tode verurteilten Menschen begnadigt werden. – Viele
kleine Schritte sind dies, zugegeben. Aber es wären
enorm wichtige.
Es geht hier um einen langen Atem. Es geht um kon-
sistente und kohärente Politik. Es geht um den Wesens-
kern unseres Grundgesetzes und aller Menschenrechts-
pakte. Ich bitte Sie daher herzlich und nachdrücklich,
dem Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zuzustimmen. Alles andere wäre fatal.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Sechsten Ge-
setzes zur Änderung des Weingesetzes (Tages-
ordnungspunkt 20)
Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir beraten heute
eine Änderung des Weingesetzes. Mit dieser Änderung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5171
(A) (C)
(D)(B)
soll wieder mehr Gerechtigkeit für alle weinerzeugenden
Betriebe geschaffen werden. Wir wollen bislang beste-
hende Möglichkeiten einer Umgehung der qualitäts-
orientierten Mengenbegrenzung im Weinbau ab der
Ernte 2010 verhindern. Ich sehe darin das Schließen ei-
ner Lücke, die es bislang ermöglicht hat, mehr Wein auf
den Markt zu bringen, als die bestehende Hektarhöchst-
ertragsregelung zulässt.
Mit der Novellierung des Weingesetzes wird die von
unterschiedlichsten Verbänden und Interessengruppen
der Weinwirtschaft in der Vergangenheit mehrfach vor-
getragene Forderung erfüllt, wonach der gesetzlich vor-
geschriebene Hektarertrag nicht nur von den Erzeugern,
sondern auch von allen nachfolgenden Handelsstufen
einzuhalten ist.
Wenn Umrechnungsfaktoren von Trauben in Kilo-
gramm zu Wein in Liter oder von Most in Liter zu Wein
in Liter verwendet werden, müssen diese realistisch defi-
niert und von allen eingehalten werden. Jeder Winzer
muss sich an die gesetzliche Vorgabe halten, pro Hektar
Rebfläche nicht mehr als die erlaubte Menge an Wein in
Litern zu erzeugen. Werden geerntete Trauben zur Wei-
terverarbeitung etwa an eine Kellerei verkauft, wird de-
ren Gewicht in Liter umgerechnet, um die Übereinstim-
mung mit der Höchstertragsregel festzustellen. Dies
geschieht der Einfachheit halber nach dem generellen
Schlüssel: 100 Kilogramm Trauben = 75 Liter Wein.
Im Gegensatz zu diesem theoretischen Umrechnungs-
faktor 0,75 konnten bisher aber in der Praxis auch deut-
lich darüber liegende Mengen als Qualitätswein ver-
marktet werden. Die Hektarertragsregelung muss heute
daher im Weingesetz so verankert werden, dass eine
Umgehung künftig ausgeschlossen ist.
Der Verkauf von Trauben hat sich in den letzten fünf
Jahren fast verdoppelt und belief sich in der Ernte 2009
bereits auf 10 Prozent der rheinland-pfälzischen Ge-
samterntemenge von 6,1 Millionen Hektoliter. Die mehr-
jährige Statistik des Genossenschaftsverbandes zu den
Auskelterungsergebnissen der größten Winzergenossen-
schaften in Rheinland-Pfalz belegt, dass der geltende
Umrechnungsfaktor 0,75 in diesen Betrieben nach wie
vor dem tatsächlichen Ergebnis entspricht.
Eine Erhöhung auf einen durch intensive Auspres-
sung erzielbaren Wert von 0,80 oder mehr widerspricht
unserem konsequenten Qualitätsstreben. Deshalb bleibt
es heute beim für alle Rebsorten gültigen Umrechnungs-
faktor 0,75 von Trauben zu Wein.
Die Abgabe von Most durch Erzeuger an nachfol-
gende Handelsstufen lag in den letzten Jahren bei etwa
18 Prozent der Gesamterntemenge. Aufgrund der durch
Einsatz schonender Ernte- und Verarbeitungstechnik nur
noch niedrigen Trubanteile im Most wollen wir die Än-
derung des Umrechnungsfaktors 0,95 von Most – in Li-
ter – zu Wein – in Liter – auf 0,97 im jetzigen Gesetzge-
bungsverfahren festlegen.
Als Auswirkung der Änderung des Mostfaktors er-
warte ich, dass vor allem die aufkaufenden Kellereien
bei der Weinbereitung aus Most nicht in die missliche
Lage kommen, erzeugte Mehrmengen in die Destillation
abführen zu müssen. Weiterhin wird erst der aufnehmen-
den Hand eine Abstufung in niedrigere Qualitätsstufen
analog zum Winzerbetrieb ermöglicht, damit Gerechtig-
keit für alle Wettbewerber auf gleichem Niveau herge-
stellt ist.
Ich denke, dass die oben angegebenen Maßnahmen
ein richtiger und wichtiger Schritt zur Wiederherstellung
der Chancengleichheit im Weinbau sind. Ich möchte
mich ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit mit der
SPD-Fraktion und auch der Landesregierung in Mainz
bedanken, aber auch bei der Bundesministerin Ilse
Aigner, MdB, und der Parlamentarischen Staatssekretä-
rin Julia Klöckner, MdB, für ihre konstruktive Hilfe bei
der Überarbeitung dieses fraktionsübergreifenden An-
trags, der jetzt beschlossen werden soll. Ich bedanke
mich auch bei den Bundesländern, die für eine abschlie-
ßende Beratung im Bundesrat ihre Zustimmung signali-
siert haben und so den Wünschen des Landes Rheinland-
Pfalz und der Weinwirtschaft entsprechen. Sie alle haben
eingesehen, dass Qualität unser bestes Verkaufsargument
ist.
Dieses Gesetz dient der Qualitätssicherung, wenn
nicht sogar der Qualitätsverbesserung. Damit sind wir
auch auf gutem Weg, wenn es bei der Umsetzung der
Weinmarktreform der Europäischen Union darum geht,
unseren deutschen Wein entsprechend positiv herauszu-
stellen. Hierzu erwarte ich auch konstruktive Vorschläge
der Weinbau- und Kellereiverbände. Ich freue mich,
gleich im Anschluss auf dem Sommerfest meines Hei-
matlandes ein Glas hochwertigen Weins zu genießen und
danke allen, die daran beteiligt waren, dieses Qualitäts-
niveau zu bewahren.
Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute in zweiter
und dritter Lesung das sechste Gesetz zur Änderung des
Weingesetzes. Seit der ersten Lesung am 21. Mai hat
sich nicht wirklich viel getan, doch auch heute hat sich
das Struck’sche Gesetz wieder einmal bewahrheitet:
Kein Gesetz kommt ins Parlament und verlässt es unver-
ändert.
Bereits vor der ersten Lesung haben wir uns so eng
sowohl mit der Weinwirtschaft als auch mit den Landes-
regierungen der Weinbau betreibenden Länder abge-
stimmt, dass wir das Gesetz überfraktionell einbringen
konnten. Wir waren uns alle einig, die notwendigen und
längst überfälligen Änderungen in der Hektarertragsre-
gelung schnell und unkompliziert in Kraft zu setzen, da-
mit sie pünktlich zur Lese 2010 rechtskräftig werden.
Besonders hilfreich war hier die gute Zusammenar-
beit mit dem Ministerium in Mainz und die Beratungen
mit der Weinwirtschaft. Die Ergebnisse mündeten dann
auch im Änderungsantrag der Koalition, dem wir nach
einer kurzen aber fruchtbaren Ausschusssitzung zustim-
men konnten. Alles in allem ein schnelles und konstruk-
tives Gesetzesverfahren, gut vorbereitet, klar in der Sa-
che und schnell durchgesetzt. Das hätte die Koalition
alleine sicher nicht so reibungslos hinbekommen, auch
wenn sie im Nachhinein so tut, als hätte sie es alleine ge-
tan. Ich muss schon sagen, dass das, was ich am 9. Juni
in der Presse vom Kollegen Bleser gelesen habe, schon
5172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
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recht peinlich war. Ich zitiere: „Die christlich-liberale
Koalition hat heute eine dringend notwendige Korrektur
des Weingesetzes vorgenommen und damit auf Fehlent-
wicklungen der vergangenen Jahre reagiert.“
Hier wurden so oft das Koalitionshandeln und die
Wichtigkeit des Vorhabens beschworen, dass es schon
verdächtig ist. Herr Bleser, nur um es gerade zu rücken:
Dieses Gesetz haben wir überfraktionell eingebracht und
beschlossen. Ohne Ihre ganz persönliche Blockade hät-
ten wir es schon 2009 erledigt, und auch in diesem Ver-
fahren haben Sie sich sicher nicht als Öl im Getriebe her-
vorgetan. Die Lorbeeren Ihrer Fraktion darf sich Ihr
Kollege Schindler abholen, der eine gute und konstruk-
tive Zusammenarbeit im Interesse der deutschen Wein-
wirtschaft geleistet hat.
Alexander Süßmair (DIE LINKE): Vor wenigen
Wochen, im Mai, haben wir eine Gesetzesänderung be-
raten, die sowohl Erzeugern wie Verbrauchern nutzen
sollte und die eigentlich auch alle wollten. Die Hektar-
ertragsregelungen sollten nicht nur für Winzer, sondern
für alle Wein verarbeitenden Betriebe gelten.
Unsere Fraktion wurde an der Erarbeitung der Geset-
zesnovelle aufgrund des immer noch geltenden Unver-
einbarkeitsbeschlusses der CDU/CSU nicht beteiligt.
Dieses parlamentarisch unwürdige und undemokratische
Verhalten kennen wir bereits. Inhaltlich allerdings trennt
uns in der Weingesetzfrage nur wenig von den Fraktio-
nen, die auf dem Antrag stehen; wir sind uns eigentlich
einig: Deutscher Wein soll nicht durch Menge, er soll
durch Qualität punkten. Um dies zu ermöglichen – ich
hatte bereits in der ersten Lesung darauf hingewiesen –
will die Linke regionale Wertschöpfungsketten fördern
und ökologisch unsinnige Transporte teurer machen.
Denn es ist nicht einzusehen, warum Wein, der mehrere
10 000 Kilometer entfernt industriell von prekär Be-
schäftigten hergestellt wurde, nur ein Drittel des hier bei
uns sozial und ökologisch nachhaltig produzierten Weins
kostet. Hier müssen wir ansetzen, um unsere europäi-
sche, unsere deutsche Weinwirtschaft zu stärken. Damit
wäre eigentlich alles gesagt.
Aber plötzlich kommt die CDU/CSU mit einem Än-
derungsantrag zur Novelle heraus, die sie selbst mit ein-
gebracht und verfasst hatte. Der Umrechnungsfaktor von
Most zu Wein soll von 95 auf 97 erhöht werden. Sind
wir denn in Auerbachs Keller? Genau so, wie Mephisto
in Goethes Faust dort jedem den gewünschten Wein aus
dem Tisch herauszaubert, scheint es, dass Sie es allen
recht machen wollen; denn was bedeutet denn Ihre Än-
derung faktisch? Durch die Anhebung des Umrech-
nungsfaktors für Most zu Wein von 95 auf 97 kann nun
mehr Wein aus dem Most hergestellt werden als bisher.
Damit machen Sie die ursprüngliche Änderung, nämlich
die Hektarertragsregelung auch auf Betriebe anzuwen-
den, welche selbst keine Weintrauben produzieren, wie-
der zunichte.
In der Novelle sollte nun erst die Weinqualität gesi-
chert werden, damit deutscher Wein eben durch Qualität
punkten kann. Vor wem aber knicken Sie hier nun wie-
der ein? Reicht es aus, wenn ein paar Lobbyisten oder
Unternehmen sich beklagen, damit Sie eine Änderung,
die vielen nutzen würde, auch dem Verbraucher, wieder
zurücknehmen? Bei Ihnen verwandelt sich der Wein in
Wasser; denn sie wollen einfach den Umrechnungsfaktor
von Most zu Wein anheben. Wie ich schon bei der ersten
Lesung befürchtete, geht es hier um Flickschusterei. Da-
bei haben wir davon im Weinrecht wirklich schon genug.
Was wir brauchen, ist keine Zahlenklauberei, sondern
ein mit Weitblick verfasstes neues Weinrecht innerhalb
der Gemeinsamen Marktordnung. Darüber hinaus scha-
den Sie mit Ihrem legislativen „Gepansche“ der Qualität
und dem Ruf des deutschen Weins.
Ihr Zickzackkurs mag gut sein für den Wahlkampf in
Rheinland-Pfalz, er mag einigen Winzern und Kellereien
Hoffnung machen. Das, was die Gesetzesnovelle aber
bewirken sollte, nämlich Verlässlichkeit und Sicherheit
für Erzeuger und Verbraucher, das konterkarieren Sie
mit Ihrem Hin und Her. Die Linke kann und will sich
dem nicht anschließen. Die Linke tritt aber genau so, wie
es im ursprünglichen Antrag vorgesehen war, für die
Verbindlichkeit der Hektarertragsregelungen ein. Wir
werden deshalb den Änderungsantrag ablehnen und uns
bei der Abstimmung über die Novelle enthalten.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be-
reits in unserer Stellungnahme zur ersten Lesung hatten
wir den Ansatz einer sinnvollen Mengenregulierung bei
den Weinerträgen begrüßt und deshalb aktiv die inter-
fraktionelle Initiative zur Änderung des Weingesetzes in
den relevanten Punkten mitgetragen. Es ist äußerst be-
dauerlich, dass die Regierungsfraktionen und hier spe-
ziell die Union durch einen formalen wie inhaltlichen
Zickzackkurs diese seltene interfraktionelle Geschlos-
senheit jetzt aufbricht, so dass uns eine Zustimmung lei-
der nicht mehr möglich ist. Der deutsche Weinbau hätte
eine fraktionsübergreifende Unterstützung verdient, aber
wie sollen wir dem Aufruf der Regierungsfraktionen zur
Zustimmung entgegenkommen, wenn diese offenbar
selbst nicht so genau wissen, was Sie eigentlich wollen?!
Der quasi in letzter Minute eingebrachte Änderungs-
antrag der Unionsfraktion im AfELV ist ein Signal an
die Branche, dass in Sachen Umrechnungsfaktoren und
damit der tatsächlichen Mengenbegrenzung noch nicht
das letzte Wort gesprochen ist. Statt ein klares Bekennt-
nis zur Qualitätsausrichtung – und damit zu einer geziel-
ten Mengenregulierung – abzugeben, ermuntern die Re-
gierungsfraktionen damit die Profiteure der Mehrungen,
an ihrer Strategie der Ausreizung aller Möglichkeiten
zur Volumensteigerung festzuhalten.
Abschließend noch eine kurze Bemerkung zu einem
aktuellen Thema, dass vielen Winzern auf der Seele
liegt: in vielen Regionen gibt es zurzeit Unmut über die
laufende Registrierung von Flächen im neuen Erosions-
kataster. Wir finden es bedauerlich, wenn die an sich
sehr sinnvolle Erfassung potenziell erosionsgefährdeter
Flächen und deren Einstufung in verschiedene Risiko-
kategorien durch handwerkliche Fehler in der Umset-
zung auf Landesebene als bürokratische Eingriffe wahr-
genommen werden. Auch wenn es für die Betriebe kein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5173
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Trost sein dürfte: zu den jetzigen Problemen hat maß-
geblich auch die Verzögerungstaktik von Union und
DBV beigetragen. Jahrelang hat man sich auf die Ver-
schleppung und Verdrängung der Thematik konzentriert.
Diese Zeit hätte man besser nutzen können und müssen,
um die Betriebe und Behörden auf das Erosionskataster
vorzubereiten. Wir fordern die Bundesregierung und die
Landesregierungen deshalb auf, jetzt schleunigst die Be-
triebe bei der konkreten Umsetzung der neuen Vorgaben
zu unterstützen und sie nicht in einem bürokratischen
Chaos allein zu lassen!
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Hochwasserschutz europäisch und ökolo-
gisch nachhaltig umsetzen – Für ein inte-
griertes Hochwasserschutzkonzept
– Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz
und Renaturierung von Nass- und Feuchtge-
bieten fördern – Hochwassergefahren min-
dern, Klima schützen
– Auenschutzprogramm vorlegen
(Tagesordnungspunkt 21)
Ingbert Liebing (CDU/CSU): In den vergangenen
Wochen kam niemand umhin, über die Fernseher den
abermaligen rasanten Anstieg der Pegel am deutschen
Lauf der Oder verfolgen zu müssen. Die Bilder des Jahr-
hunderthochwassers an der Oder im Jahr 1997 sind nach
wie vor in unseren Köpfen präsent. Doch obwohl sich
auch in diesem Jahr wieder eine außergewöhnliche Flut-
welle ankündigte, unterschied sich die diesjährige Situa-
tion doch grundlegend von der vor 13 Jahren: Das Gros
der Deiche ist seit 1997 fast durchweg von Grund auf sa-
niert worden, und die Schäden der diesjährigen Flut fie-
len erheblich geringer aus als noch 1997.
Die daraus resultierende grundlegende Verbesserung
der Hochwassersituation in Deutschland ist Ergebnis
entschiedenen Handelns aller politisch Verantwortli-
chen: Die Hochwasserproblematik wurde erkannt, es
wurden zeitnah die richtigen Maßnahmen ergriffen, und
der Hochwasserschutz befindet sich in Deutschland
heute auf dem richtigen Weg. Diese Ansicht äußerte im
Übrigen auch der ehemalige Bundesumweltminister
Sigmar Gabriel in einer Pressemitteilung vom 26. April
2007 anlässlich der Verabschiedung der europäischen
Hochwasserschutzrichtlinie. Aus diesem Grund über-
rascht die Kritik, die die SPD in ihrem der heutigen De-
batte zugrunde liegenden Antrag „Hochwasserschutz eu-
ropäisch und ökologisch nachhaltig umsetzen“ übt. Bis
vor einem guten halben Jahr war doch ein SPD-Umwelt-
minister für den Hochwasserschutz verantwortlich!
Dabei will ich den Kollegen von der SPD grundsätz-
lich durchaus zustimmen, belegt durch das von mir ein-
gangs bereits skizzierte Beispiel: Hochwasserschutz ist
und bleibt wichtig!
An dieser Stelle möchte ich auf zwei Anträge zurück-
kommen, mit denen wir uns in der vergangenen Sit-
zungswoche im Plenum beschäftigt haben: zum einen
auf einen Antrag von der SPD zum Wasserhaushalt in
Feuchtgebieten, Drucksache 17/1748, zum anderen auf
einen Antrag von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zur Vorlage eines Auenschutzprogramms, Drucksache
17/1760.
Da diese drei Vorlagen durchaus grundsätzlich wich-
tige Anliegen aufgreifen und auch der Koalitionsvertrag
der christlich-liberalen Bundesregierung die Reaktivie-
rung natürlicher Auen für den Natur- und Hochwasser-
schutz sowie die Renaturierung von Flusstälern, wo im-
mer möglich, beabsichtigt, möchte ich zusammen mit
meinem Kollegen Josef Göppel anbieten, dass wir hier
zu einem gemeinsamen Beschluss kommen und diesen
Themenkomplex erneut behandeln.
Bis dahin widerspreche ich allerdings entschieden
dem Eindruck, den der vorliegende SPD-Antrag vermit-
telt, Hochwasserschäden würden immer dramatischer
und die Bundesregierung arbeite diesen nicht entschie-
den und aktiv genug entgegen. Einige ausgewählte Bei-
spiele belegen das Engagement der Bundesregierung:
Umsetzung der EU-Hochwasserrisikorichtlinie durch
das neue Wasserhaushaltsgesetz, wobei der Kernbe-
standteil ein integrierter Ansatz im Bereich der Hoch-
wasserrisikovorsorge ist; Förderung von Maßnahmen
zur Verbesserung des Wasserrückhalts in der Landschaft
und Rückbau von Deichen zur Wiedergewinnung von
Überschwemmungsgebieten im Rahmen der Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“; Weiterentwicklung der deutschen An-
passungsstrategie an den Klimawandel, die im Dezem-
ber 2009 verabschiedet wurde und an deren Weiterent-
wicklung die Bundesressorts derzeit mit der Zielsetzung
arbeiten, im Frühjahr 2011 einen mit den Bundesländern
abgestimmten Aktionsplan vorzulegen.
Neben dem falschen Eindruck, den der vorliegende
Antrag bezüglich des Hochwassermanagements der
Bundesregierung erweckt, gibt es einen weiteren we-
sentlichen Grund, warum wir diesen ablehnen: Er ver-
kennt in wesentlichen Punkten die kompetenzrechtlichen
Rahmenbedingungen, aufgrund derer die Zuständigkeit
für Planung und Umsetzung der Maßnahmen des vorsor-
genden Hochwasserschutzes bei den Bundesländern lie-
gen. Beispielsweise ist ein eigenes Auenschutzpro-
gramm der Bundesregierung verfassungsrechtlich nicht
möglich.
Abschließend möchte ich festhalten: Deutschland be-
findet sich beim Hochwasserschutz auf dem richtigen
Weg; das letzte Oder-Hochwasser hat dies eindrücklich
belegt. Es wurde bereits viel Gutes auf den Weg ge-
bracht; wir nehmen die Thematik dennoch weiterhin
ernst. Aus diesem Grund sind auch wir an einer noch
besseren Verknüpfung der Bereiche naturnaher Wasser-
haushalt, Renaturierung von Feuchtgebieten und Schutz
der Auen interessiert; denn davon würde wiederum auch
5174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
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der Hochwasserschutz profitieren. Das Angebot an die
Oppositionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zu gemeinsamen Gesprächen ist hiermit gemacht.
Josef Göppel (CDU/CSU): Wir haben die Bilder der
Hochwasser an Weichsel und Oder der letzten Wochen
und Monate vor Augen. Die Zahl der Todesopfer in un-
serem Nachbarland Polen ist indes auf 15 angestiegen.
Tausende Häuser und Straßen stehen unter Wasser. Für
Polen sind es die schlimmsten Überschwemmungen seit
über 100 Jahren. Polens Regierungschef Donald Tusk
beziffert die Schäden auf 2,5 Milliarden Euro.
In Deutschland nehmen die Hochwasserschäden nicht
zu. Nach der Flutkatastrophe von 1997 und den Hoch-
wassern an Elbe und Oder 2002 wurden alte Dämme und
Deiche saniert und neue gebaut. In Deutschland ist viel
für den Hochwasserschutz getan worden. Alle Regierun-
gen der vergangenen Jahre, gleich welcher politischen
Konstellation, haben zu dieser Verbesserung beigetra-
gen.
Die jetzige Koalition steht ebenfalls für einen konse-
quenten Hochwasserschutz. Ich darf hierzu aus dem Ko-
alitionsvertrag zitieren:
Frei fließende Flüsse haben einen hohen ökologi-
schen Wert. … Für den Natur- und Hochwasser-
schutz sollen natürliche Auen reaktiviert und Fluss-
täler, wo immer möglich, renaturiert werden.
Vor dem Hintergrund des Klimawandels und der sich
ergebenden Folgen für den Wasserhaushalt wird sowohl
der Hochwasserschutz als auch der Schutz der Ressource
Trinkwasser immer bedeutender. Hochwasserschutz
meint dabei nicht nur technischen Schutz und Verbauun-
gen. Der effektivste Hochwasserschutz ist unbestritten
der Schutz der natürlichen Flusslandschaften und der
Flussauen mit allen positiven Nebeneffekten für den
Grundwasser- und Naturschutz. Wir müssen den Flüssen
wieder mehr Raum geben, damit Flüsse ihrer natürlichen
Dynamik folgen können und Rückhalteflächen geschaf-
fen werden. Deshalb bin ich aktives Mitglied der parla-
mentarischen Arbeitsgruppe „Frei fließende Flüsse“.
Die am 7. November 2007 verabschiedete Nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt umfasst auch den Au-
enschutz. Das Bundesumweltministerium hat den Auen-
zustandsbericht im Oktober 2009 vorgelegt. Es ist ver-
einbart, dass im Rahmen der Umsetzung der Nationalen
Strategie ein Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“
erarbeitet werden soll. Das Bundesumweltministerium
arbeitet an der Vorbereitung dieses Bundesprogramms.
Es sieht einen Förderschwerpunkt beim Schutz der
Flussauen vor.
Ein nur auf die Kompetenzen des Bundes bezogenes
Auenschutzprogramm ist nicht sinnvoll, weil die Kom-
petenzen nicht alleine beim Bund liegen, sondern sich
auf Bund, Länder und Gemeinden verteilen. Dennoch
greifen die Anträge wichtige Anliegen auf. Dazu gehö-
ren die Reinhaltung des Grundwassers, die Sicherung
der Trinkwasservorräte und die Sicherung der Artenviel-
falt. Es ist allgemein bekannt, dass gerade in den Feucht-
gebieten, Flussauen und Mooren die Artenvielfalt am
meisten bedroht ist.
Die Forderung, den Erhalt und die Renaturierung von
Feuchtgebieten bei der Neuregelung der Gemeinsamen
Agrarpolitik einzubeziehen, ist sinnvoll. Ich persönlich
unterstütze die Forderung nach der Schaffung einer Ge-
nehmigungspflicht für den Umbruch von Grünland und
ein Umbruchverbot auf feuchten und anmoorigen Stand-
orten.
Genauso sinnvoll ist die bekannte Forderung, die
Ausweisung von Bauland in der Aue zu unterlassen.
Bauland in der Aue provoziert Hochwasserschäden und
erzwingt teure technische Schutzmaßnahmen, die sich
volkswirtschaftlich nicht rechnen.
Wir benötigen durchaus bundesweite Lösungsansätze.
Ein Hochwasser macht nicht an einer Landesgrenze halt.
Die Themen, die wir auf Bundesebene anpacken können,
sollten wir gemeinsam in Angriff nehmen und zielorien-
tiert diskutieren. Ökologischer Hochwasserschutz und
Auenschutz gehen dabei Hand in Hand.
Ich möchte deshalb mein Angebot für einen gemein-
samen Antrag zum Schutz des Wasserhaushaltes und der
Feuchtgebiete erneuern.
Oliver Kaczmarek (SPD): Wir reden nicht häufig
über Wasser in Deutschland. Hohe Standards in der Was-
serwirtschaft, der Trinkwasserversorgung und der Ab-
wasserbeseitigung gehören zum Alltag. Der damit ver-
bundene Aufwand wird zu häufig nicht gesehen.
Gesprochen wird über Wasser meist im Zusammenhang
mit Bedrohungen oder manchmal auch Katastrophen.
Diese Ereignisse stellen uns immer wieder vor die He-
rausforderung, neu über den Gewässerschutz und den
Schutz vor Hochwassern zu debattieren.
Vor allem vor dem Hintergrund des Klimawandels
spielt der ökologische Gewässerschutz eine immer wich-
tigere Rolle. Naturnahe Gewässer sind der beste Schutz
vor Hochwasser und somit auch ein Schutz des Men-
schen.
Die jüngsten Hochwasser an Weichsel und Oder mit
ihren Nebenflüssen haben deutlich gemacht, welche He-
rausforderungen infolge klimatisch bedingter Extrem-
wetterereignisse zukünftig zu erwarten sind: Hochwas-
ser folgen nicht nur in immer kürzeren Abständen; auch
die Sachschäden für die Bürgerinnen und Bürger werden
von Mal zu Mal schwerwiegender.
Der Klimawandel verschärft durch zunehmenden
Starkregen die Probleme. In der Folge werden in
Deutschland die Niederschläge im Winter zu-, im
Sommer jedoch abnehmen. Als mögliche Auswirkungen
auf den Wasserhaushalt ist von einer steigenden Hoch-
wasserwahrscheinlichkeit im Winter und im Frühjahr
– unter anderem durch die geringere Niederschlagsspei-
cherung als Schnee – auszugehen.
Wir müssen jetzt konsequent handeln, um auf diese
Herausforderung zu reagieren:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5175
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Erstens. Nachhaltiger Hochwasserschutz ist ökologi-
scher Hochwasserschutz. Naturnahe Wasserspeicher
leisten den nachhaltigsten Beitrag zum effektiven Schutz
vor Hochwassern in den Siedlungsgebieten.
Zweitens. Wir müssen uns stärker als bisher bewusst
machen, dass Programme und Maßnahmen nicht singu-
lär zu betrachten sind. Die Formel ist: Naturschutz ist
Klimaschutz und Klimaschutz ist Hochwasserschutz.
Deswegen ist Hochwasserschutz auch untrennbarer Teil
der Strategie zur Bewältigung des Klimawandels.
Drittens. Europäisch denken heißt: Wir müssen mitei-
nander über ökologischen Hochwasserschutz einen Kon-
sens finden. Das haben uns die Ereignisse an der Weich-
sel noch einmal deutlich vor Augen geführt.
Der Wasserhaushalt hat sich in der gesamten Land-
schaft drastisch verändert. In den letzten 100 Jahren
wurden Flüsse und Bäche begradigt, Auen ausgedeicht
und landwirtschaftlich genutzt oder bebaut, Moore und
Feuchtgebiete entwässert, Böden verdichtet und versie-
gelt und Wälder zu nicht standortgerechten artenarmen
Forsten umgebaut.
Wer allerdings verheerende Hochwasser nachhaltig
vermeiden möchte, der kommt nicht umhin, den Flüssen
ihren Raum zurückzugeben. Die Fehler der Vergangen-
heit wie Kanalisierung und Begradigung der Flüsse,
Wiesenumbruch in den Talauen und Bodenverdichtung
werden mittlerweile gebietsweise rückgängig gemacht.
Aber bis heute setzen sich die Flächenversiegelung und
der Zugriff auf Überschwemmungs- und Flusseinzugs-
gebiete für neue Straßen, Bau- und Gewerbegebiete fort.
Natürliche Wasserspeicher wie Auen und Moore sind
gegenwärtig zu einem Großteil zerstört. Sie schützen
aber wirksamer vor Hochwasser als technische Lösun-
gen wie Stahlmauern oder immer höhere Deiche. Hinzu
kommt, dass Auen und Moore natürliche CO2-Senken
sind und damit einen wichtigen Beitrag zum Kampf ge-
gen den Klimawandel leisten. Außerdem findet sich in
keinem anderen Ökosystem eine so eindrucksvolle Viel-
falt an Tier- und Pflanzenarten wie in naturnahen Flüs-
sen und Flussauen. Über 12 000 Arten kommen hier vor,
darunter viele ausgesprochene Seltenheiten wie Biber,
Pirol oder der Schwarzstorch.
In einem landwirtschaftlich und industriell genutzten
Raum sind immer wieder Kompromisse zwischen ökolo-
gischer und ökonomischer Nutzung notwendig. Seit der
Industrialisierung bis heute hat die einseitige Fokussie-
rung jedoch nicht nur zu einem Verlust der Artenvielfalt
und Biodiversität geführt, sondern auch zu einer Ver-
schärfung der Hochwassergefahr. Umso wichtiger ist es,
Industrie, Landwirtschaft und Binnenschifffahrt in die
Planung von wirkungsvollen Hochwasserschutzmaßnah-
men mit einzubeziehen.
Hochwasserschutz darf nicht auf den Deichbau ver-
engt werden. Auch beim letzten Hochwasser an der Oder
vor einigen Wochen haben Behördenvertreter und Politi-
ker fast ausnahmslos darüber geredet, ob die Deiche
halten oder nicht. Kaum jemand spricht über die Not-
wendigkeit, im Einzugsbereich der Flüsse den ursprüng-
lichen natürlichen Zustand wiederherzustellen und mehr
Überschwemmungsflächen zu schaffen. Hier wird auch
ein offensichtlicher Mangel der Bundesregierung deut-
lich: Mit dem Hinweis auf Länderzuständigkeiten zieht
man sich aus der Verantwortung. Dabei wäre es richtig,
wenn die Bundesregierung ein Bündnis für den Hoch-
wasserschutz und für den Schutz des naturnahen Wasser-
haushalts anführen würde, und zwar sowohl auf Bundes-
wie auch auf europäischer Ebene.
Denn es ist banal: Flüsse machen an keiner Landes-
grenze halt. Dennoch muss darauf hingewiesen werden,
weil heute kaum ein gemeinsames Verständnis über den
ökologischen Hochwasserschutz in den Regierungen Eu-
ropas herrscht. Deshalb ist es unabdingbar, nachhaltigen
Hochwasserschutz stärker auf der europäischen Ebene
zu verankern und zu kontrollieren. Wir müssen gemein-
sam dafür werben, nachhaltigem Hochwasserschutz
durch natürliche Wasserspeicher den Vorrang vor kurz-
fristigen Maßnahmen, wie der Errichtung von Rückhal-
tebecken oder Stahlmauern, zu geben. In der Debatte im
Umweltausschuss habe ich dazu parteiübergreifend viel
Zustimmung gesehen. Daher bin ich hoffnungsfroh, dass
wir das Thema nun nicht einfach wieder beiseitelegen
und beim nächsten Hochwasser erneut aufrufen, sondern
es kontinuierlich bearbeiten und am Ende über Wasser in
Deutschland tatsächlich nicht nur reden, wenn es uns be-
droht.
Horst Meierhofer (FDP):
Wir werden die Qualität der Gewässer weiter ver-
bessern. Hierzu werden wir die Anforderungen der
Wasserrahmenrichtlinie an die Gewässergüte ge-
meinsam mit unseren Nachbarn zügig umsetzen,
Schadstoffeinträge weiter vermindern und den Ge-
wässern mehr Raum geben. Die Förderung von
Agrar-Umweltmaßnahmen ist stärker auf die Ver-
ringerung der Einträge von Nährstoffen und Pflan-
zenschutzmitteln in Gewässer auszurichten.
Soweit das Zitat auf Seite 25 des Koalitionsvertrages.
Inhaltlich begrüße ich die Vorschläge der SPD und
der Grünen. Allerdings zeigt das Zitat auf, dass die An-
träge keine Fortentwicklung unserer Pläne bringen. Ich
möchte anhand einzelner Bereiche hervorheben, welche
Bemühungen bisher getroffen wurden, und aufzeigen,
dass wir hier keineswegs untätig bleiben.
Hinsichtlich der Grundwasserqualität werden wir uns
bald mit der neuen Grundwasserverordnung auf einem
Schutzniveau bewegen, das höher ist als jemals zuvor.
Die europäischen Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie
werden mehr als nur eingehalten. Mit der FDP-Fraktion
wird es keine Verringerung des Grundwasserschutzstan-
dards geben.
Zweiter Bereich: Oberflächengewässer. Selbstver-
ständlich ist es richtig, wenn im Antrag der Grünen der
Auenschutz als eines der zentralen Themen für eine an-
gemessene Hochwasservorsorge hervorgehoben wird.
Der Auenschutz liegt uns ohnehin besonders am Herzen.
„Für den Natur- und Hochwasserschutz sollen natürliche
Auen reaktiviert und Flusstäler, wo immer möglich, re-
5176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
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naturiert werden.“ Auch dies ist ein wörtliches Zitat aus
dem Koalitonsvertrag.
Unser gemeinsames Ziel muss es sein, darüber hinaus
Auenschutz, mehr Retentionsräume und weniger Ver-
bauung nicht nur an Donau, Rhein, Elbe oder Oder im
Blick zu haben, sondern das Hochwasserproblem am Ort
seiner Entstehung zu verhindern oder zumindest zu redu-
zieren. Das heißt im Klartext: Wenn Bächen und kleinen
Zuflüssen genügend Raum gegeben ist, nimmt auch der
Druck auf die großen Ströme ab.
Auch ein Blick zurück zeigt, dass dieser Bereich seit
Jahren und über Parteigrenzen hinweg immer im Fokus
stand. Erwähnenswert ist zum Beispiel die Nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt aus dem Jahr 2007:
Wir wollen bis 2020 die Fließgewässer und ihre Auen in
der Funktion als Lebensraum soweit sichern, um den ge-
samten Naturraum in seiner Vielfalt wiederherzustellen.
Gleichzeitig soll die Anzahl der Überflutungsräume
deutlich erhöht werden.
Weiter haben wir pünktlich am 22. März 2010 für alle
relevanten Flussgebietseinheiten die Bewirtschaftungs-
pläne an die Europäische Kommission übermittelt und
eine Planung für die Verbesserung der Fließgewässer
vorgenommen.
Hier muss erwähnt werden, dass alleine die Umset-
zung der Wasserrahmenrichtlinie bis Ende 2015 ge-
schätzte 9,4 Milliarden Euro kosten wird. Wie Sie hieran
erkennen können, zeigt sich auch auf haushalterischer
Ebene der politische Wille der Regierung, den Natur-
schutz trotz finanzieller Sparzwänge hoch zu gewichten.
Erneut darf ich Ihnen erfreut mitteilen, dass die Arbeit
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungen auch auf-
grund unseres politischen Drängens mittlerweile be-
inhaltet, bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie
einen ökologischen Part zu übernehmen und sich aktiv für
den Umweltschutz einzusetzen – eine sehr erfreuliche
Entwicklung!
Lassen Sie mich noch in aller Kürze auf Schutzmaß-
nahmen vor Hochwasser eingehen, die trotz aller erforder-
lichen natürlichen Maßnahmen hilfreiche und sinnvolle
Ergänzungen darstellen. Ein Deich wird nicht vollständig
durch Auen ersetzbar sein. Technische Lösungen sind
bis zu einem gewissen Grad gerade in dicht besiedelten
Gebieten erforderlich. Wie Sie anhand des letzten Hoch-
wassers an der Oder sehen konnten, ist der Zustand und
die Pflege dieser Konstruktionen in keinem schlechten
Zustand, auch wenn an manchen Stellen noch Verbesse-
rungsbedarf besteht.
Ich begrüße die Debatte um das elementarste aller
Güter und bin stets bereit, gute Ideen aufzunehmen, will
Ihnen aber auch sagen: Die Koalition hat dieses Thema
im Griff.
Sabine Stüber (DIE LINKE): Das Thema Gewässer-
und Hochwasserschutz wird immer dann aktuell, wenn
die Resultate von jahrelangen Versäumnissen in aller
Härte spürbar werden, nämlich dann, wenn es Hochwas-
ser gibt. Das Vorsorgeprinzip verlangt aber, vor Eintre-
ten der Katastrophe Maßnahmen zu ergreifen, die diese
zumindest eindämmen oder bestenfalls sogar ganz ver-
hindern. Deshalb würde ich mir eine Beschäftigung des
Parlaments mit dem für viele Menschen existenziellen
Thema „Hochwasserschutz“ auch einmal unabhängig
von aktuellen Hochwasserereignissen wünschen.
Die bedeutendsten Klimaprognosen für den mittel-
europäischen Raum sagen voraus, dass sich fortschrei-
tend die Jahresniederschlagsmengen auf immer weniger,
aber umso heftigere Niederschlagsereignisse verteilen
werden. Das stellt bereits heute, da wir die ersten Aus-
wirkungen dieser Entwicklung zu spüren bekommen,
besondere Herausforderungen und Ansprüche an den
Gewässer- und Hochwasserschutz.
Die Forderungen nach einem integrierten Hochwas-
serschutzkonzept sind sinnvoll und begrüßenswert, in
der vorliegenden Form aber nicht konsequent genug. Sie
wären besser angelegt in konkreten Gesetzesänderungen
oder Programmen. In den Anträgen findet sich unserer
Meinung nach auch die europäische Komponente nicht
ausreichend wieder. Eine bessere Koordinierung als
bloße Formulierung reicht nicht aus; denn hier muss
schnellstens gehandelt werden. Höhere Deiche in Bran-
denburg allein sind zwar gut für die örtliche Bevölke-
rung. Sie können aber nicht die Lösung des Problems
sein, wenn auf der anderen Seite der Oder ganze Dörfer
unter Wasser stehen. Hochwasser kennt keine Grenzen.
Grenzenloses Denken und Planen muss auch Leitschnur
jeder Hochwasserpolitik sein.
Die Wechselwirkungen zwischen Fluss und Aue be-
einflussen maßgeblich den ökologischen Zustand beider
Lebensräume. Flussauen haben vielfältige Funktionen.
Sie dienen als Lebensraum, als Biotopverbundachsen,
sie sorgen für sauberes Grundwasser und sind Erho-
lungsräume. Als Retentionsräume für Flüsse dienen sie
auch dem Hochwasserschutz.
Der Schutz von Flussauen ist daher ein wichtiger Be-
standteil zur Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtli-
nie, die uns verpflichtet, bis 2015 für einen guten ökolo-
gischen und chemischen Zustand der Gewässer zu
sorgen. Aus dem Auenschutzbericht geht allerdings her-
vor, dass die Auen in Deutschland ihre Funktion als Le-
bensraum, Wasserfilter und Überflutungsfläche nicht
ausreichend erfüllen.
Deshalb begrüßt Die Linke den Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen, der die Bundesregierung auffordert,
die Ergebnisse des Auenschutzberichtes endlich in kon-
kretes Handeln umzusetzen.
Wir stimmen zu, dass die Einbeziehung der verschie-
denen Akteure zum überregionalen Ausgleich unter-
schiedlicher Nutzungsinteressen erforderlich ist. Ge-
nauso hoch schätzen wir auch den jeweiligen regionalen
Interessenausgleich ein. Hier erinnere ich noch einmal
an das geglückte Beispiel der Deichrückverlegung an der
Elbe bei Lenzen. Dort entstanden 425 Hektar Überflu-
tungsfläche und nach Initialpflanzung wächst seit zehn
Jahren auf 300 Hektar Auwald. Das ist ein gutes Beispiel
dafür, dass es gehen kann, wenn der politische Wille vor-
handen ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010 5177
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Dass es aber gravierende Defizite gibt, zeigen die
Ziele für Feuchtgebiete und Moore in der nationalen
Strategie zur Biologischen Vielfalt, die bis heute nicht
erreicht sind. Deshalb geht uns der Antrag der SPD zum
Schutz von Nass- und Feuchtgebieten auch nicht weit
genug. Für uns ist es wichtig, dass Prioritäten gesetzt
werden, die in konkretem Handeln münden statt allge-
meiner Erklärungen zum Ernst der Lage.
Um ein Beispiel zu nennen: Moore bedecken nur
3 Prozent der Landfläche, binden aber 30 Prozent des
terrestrischen Kohlenstoffs in sich. Das zeigt, welche
der Abstimmung unseres Antrages im Agrarausschuss
enthalten. Hat Ihre interne Abstimmung nicht funktioniert
oder hat die Agrarlobby erfolgreich ihre Muskeln spielen
lassen? Dann hätten Sie sich aber auch bei Ihrem eigenen
Antrag zum Wasserhaushalt enthalten müssen, dessen
Forderungen sich weitgehend mit unseren decken.
Der SPD-Antrag für ein integriertes Hochwasserkon-
zept beinhaltet viele richtige Ansätze, die wir bereits for-
muliert und in die Debatten im Deutschen Bundestag
eingebracht haben. Aber er geht nicht weit genug. Es muss
eine klare Priorität für den naturnahen Hochwasser-
Bedeutung ihnen nicht nur für die Artenvielfalt, sondern
auch für den Klimaschutz zukommt. Moorschutz hat da-
her höchste Priorität! Die Länder sind aufgefordert,
Moorschutzkonzepte zu erstellen. Als Grundlage müs-
sen Zustandsbewertungen her als Basis für einen flä-
chendeckenden Moorschutz. Ein Umbruchverbot von
Moorböden kann nur ordnungsrechtlich durchgesetzt
werden. Dazu muss die Bundesregierung für eine konse-
quente Umsteuerung der EU-Agrarpolitik in diesem
Punkt einsetzen.
Intensive Landnutzung, Begradigung von Flüssen und
Dezimierung natürlicher Auenflächen muss mit konkre-
ten Programmen begegnet werden – durch Renaturie-
rung von Gewässern, Rückverlegung von Deichen und
Verbesserung der Wasserrückhaltefähigkeit von Mooren
und Feuchtgebieten. Die Bundesregierung ist gefordert,
endlich die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingun-
gen zu schaffen, es ist höchste Zeit.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unser
Antrag zum Auenschutzprogramm und der SPD-Antrag
zum Wasserhaushalt wurden hier im Plenum bereits ein-
mal beraten. Herr Liebing und Herr Göppel von der
Unionsfraktion hatten sich in dieser Debatte für einen
gemeinsamen Beschluss im Bundestag ausgesprochen.
Schade nur, dass sie dann in den Ausschüssen unseren
Antrag mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt ha-
ben. Wir hätten gemeinsam einen sinnvollen Beitrag zu
Artenschutz, Hochwasserschutz und Gewässerschutz
leisten können.
Stattdessen hören wir von Schwarz-Gelb in Sachen
Auenschutz bisher nur Sonntagsreden, obwohl der Koali-
tionsvertrag die Renaturierung von Auen und Flusstälern
verspricht. Mit der Zustimmung zu unserem Antrag hät-
ten sie beweisen können, dass sie es damit ernst meinen.
Auch über die SPD habe ich in diesem Zusammen-
hang gestaunt. Denn wider Erwarten haben Sie sich bei
schutz vor dem technischen Hochwasserschutz geben.
Natürliche Rückhalteflächen müssen konsequent geschützt
werden, und verloren gegangene Rückhalteflächen müssen
als Überschwemmungsgebiete zurückgewonnen werden.
Die jüngsten Überschwemmungen in Frankreich, Polen
und Tschechien haben uns wieder vor Augen geführt,
wie gefährlich Hochwasser sein kann. In Folge des Klima-
wandels werden wir immer häufiger starke Überschwem-
mungen erleben. Darauf müssen wir uns vorbereiten, und
dazu reichen die bisherigen Maßnahmen nicht aus.
Naturnaher Hochwasserschutz braucht gesellschaftliche
Akzeptanz. Die Landwirtschaft, die Waldwirtschaft und
die Menschen in den Flusstälern müssen für dieses Kon-
zept gewonnen werden. Wir sind davon überzeugt: Auen-
schutz und damit Hochwasserschutz sind ein Gewinn für
alle, für Mensch und Natur.
Dabei ist die Rolle der Flussgebietsgemeinschaften
besonders wichtig, vor allem international. Denn die
Überschwemmungen in Polen haben dazu geführt, dass
bei uns das Hochwasser nicht mehr so mächtig war. Un-
sere Deiche wurden entlastet. Wenn die Polen ihren tech-
nischen Hochwasserschutz verbessern, bleiben sie beim
nächsten Mal verschont, und wir haben wieder mit ver-
schärften Problemen zu rechnen.
Höhere Deiche und ein schnellerer Abfluss des Wassers
verlagern die Probleme immer nur flussabwärts. Dabei
wächst die Gewalt der Wassermassen. Aus dieser Spirale
müssen wir ausbrechen, und das geht nur mit einer mo-
dernen naturnahen Hochwasserpolitik, die auf Wasser-
rückhalt, Wasserspeicherung und langsamere Abfluss-
geschwindigkeiten setzt, und das in der gesamten
Flussgebietsgemeinschaft. Dafür brauchen wir die nöti-
gen Flächen, die nötigen Mittel und ein ressortübergrei-
fendes, stimmiges Konzept. Darauf werden wir weiter-
hin drängen.
49. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13