2) Anlage 11
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23321
(A) (C)
(B) (D)
Heinz-Peter Haustein (FDP): „Im Märzen der
Bauer die Rösslein einspannt …“ So beginnt mit schöner
Völlig klar: Es muss gelten, dass niemand durch hohe
Telefonkosten davon abgehalten werden darf, bei der
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Kostenpflichtige Ser-
vice-Telefonnummer der Arbeitsagentur in eine
gebührenfreie Rufnummer umwandeln (Tages-
ordnungspunkt 10)
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.03.2009
Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.03.2009
Binding (Heidelberg),
Lothar
SPD 26.03.2009
Bülow, Marco SPD 26.03.2009
Dreibus, Werner DIE LINKE 26.03.2009
Gabriel, Sigmar SPD 26.03.2009
Gleicke, Iris SPD 26.03.2009
Granold, Ute CDU/CSU 26.03.2009
Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.03.2009
Hirsch, Cornelia DIE LINKE 26.03.2009
Dr. Högl, Eva SPD 26.03.2009
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.03.2009
Korte, Jan DIE LINKE 26.03.2009
Dr. Küster, Uwe SPD 26.03.2009
Kunert, Katrin DIE LINKE 26.03.2009
Lötzer, Ulla DIE LINKE 26.03.2009
Schily, Otto SPD 26.03.2009
Sebastian, Wilhelm
Josef
CDU/CSU 26.03.2009
Wieczorek-Zeul,
Heidemarie
SPD 26.03.2009
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 26.03.2009
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Regelmäßigkeit im Frühjahr ein bekanntes Kinderlied.
Mit derselben Regelmäßigkeit müssen wir uns hier lei-
der mit den fixen Ideen der Linken befassen. Mit dem
vorliegenden Antrag fordern die Linken nun eine kosten-
lose Telefonhotline bei der Bundesagentur für Arbeit.
Aus einer ganzen Reihe von Gründen muss der Antrag
hier abgelehnt werden. Lassen Sie mich Ihnen ein paar
davon nennen.
Erstens. Zunächst muss festgestellt werden, dass es
sich hier um eine Phantomdebatte handelt. Was die Lin-
ken als schreiende Ungerechtigkeit brandmarken, ist ei-
gentlich der Rede nicht wert. Laut Auskunft der Telekom
dauert das durchschnittliche Telefonat zwei bis drei Mi-
nuten. Bei Gebühren in Höhe von 3,9 Cent pro Minute
macht das 11,7 Cent für ein dreiminütiges Gespräch. Bei
der durchschnittlichen Zahl von acht Anrufen pro Jahr
geht es hier um einen Betrag von 93,6 Cent – im Jahr!
Zweitens. Abgesehen davon besteht die Möglichkeit
des Rückrufs durch die Arbeitsagentur. Außerdem kann
immer noch jeder, dem das zu teuer ist, persönlich zur
Arbeitsagentur gehen, um seine Fragen im direkten Ge-
spräch mit der Sachbearbeiterin oder dem Sachbearbei-
ter zu klären. Gerade wenn es um individuelle Beratung
geht, um Arbeitsangebote, konkrete Maßnahmen oder
diffizile Probleme, empfiehlt sich ohnehin der direkte
Kontakt zum persönlichen Berater.
Drittens. Das Argument schließlich, dass es bei der
Rentenversicherung bereits eine kostenlose Hotline
gebe, wie es hier von den Linken ins Feld geführt wird,
greift nicht. Zwar gibt es, wie von den Linken behauptet,
bei der Rentenversicherung tatsächlich eine kostenlose
Hotline. Über diese jedoch lassen sich nur allgemeine
Fragen klären. Eine spezifische Beratung oder Bespre-
chung konkreter Probleme einzelner Antragsteller er-
folgt bei der Rentenversicherung über die Telefonhotline
nicht.
Viertens. Schon in seinem Grundgedanken ist der An-
trag fehlerhaft. Denn selbst wenn man wie die Linken zu
dem Ergebnis käme, dass es bei den Kommunikations-
kosten einer stärkeren Unterstützung der Betroffenen be-
dürfte, so könnte nicht die Lösung sein, gleich die kom-
plette Telekommunikation kostenlos zur Verfügung zu
stellen. Vielmehr müsste den betroffenen Menschen ziel-
genau geholfen werden. Denn warum sollte auch der Ar-
beitgeber, der einen Arbeitsplatz zu besetzen hat, oder
der Schüler oder Student, der sich informieren will, oder
auch jeder andere Bundesbürger, der die Agentur anruft,
kostenlos telefonieren können?
Fünftens. Ferner muss berücksichtigt werden, dass es
sich um Mittel der Beitragszahler handelt, mit denen die
kostenlose Hotline bezahlt werden soll. Im Interesse
niedriger Lohnnebenkosten und angesichts des Ziels der
Beschäftigungssicherung aber ist ein sparsamer Umgang
mit den zur Verfügung stehenden Mitteln unerlässlich.
23322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
Arbeitsagentur seine Fragen oder Probleme vorzutragen.
Das wäre der Aufgabenerfüllung der Arbeitsagentur
kontraproduktiv und würde ihren Zielen der Unterstüt-
zung und Hilfe der Betroffenen zuwiderlaufen. Doch die
anfallenden Gebühren für die existierende Hotline von
3,9 Cent pro Minute sind vertretbar.
Mit einem herzlichen Glückauf aus dem Erzgebirge!
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zu Beginn möchte ich festhalten, dass drei der hier ver-
tretenen Fraktion für eine kostenlose Servicenummer bei
der Bundesagentur für Arbeit sind. Dabei handelt es sich
um uns Grüne, um die Linke und um die SPD. Das reicht
für eine klare parlamentarische Mehrheit. Und trotzdem
wird der erstaunte Bürger am Ende dieses Tages feststel-
len, dass sein Anruf bei der Bundesagentur auch in Zu-
kunft Geld kosten wird. Kolleginnen und Kollegen der
SPD, dass Sie hier auf fehlende Zuständigkeit machen, ist
mehr als wunderlich. Das interessiert Sie doch sonst
auch nicht, wenn Sie zum Beispiel der Bundesagentur
auch gegen die Position der Selbstverwaltung Kosten
aufdrücken, die eigentlich vom Steuerzahler zu tragen
wären.
Denn hier geht es nicht um Peanuts, wie es uns
Union und FDP weismachen wollen, sondern hier geht
es um richtig viel Geld, das ausgerechnet Arbeitslose
und Arbeitsuchende bezahlen müssen, wenn sie sich da-
rum bemühen, etwas an ihrer Situation zu ändern, oder
wenn sie schlicht ihren Pflichten nachkommen. Denn
nur Festnetzkunden zahlen 3,9 Cent pro Minute, wenn
sie die Servicenummer der Bundesagentur anrufen. Mo-
bilkunden können sogar bis zu 72 Cent pro Gesprächs-
minute loswerden; bei Prepaidkarten liegen die Kosten
teilweise noch höher. Auch Flatrate-Kunden sind ver-
donnert, für die Sondernummer zu bezahlen. Ihr sparsa-
mer Ansatz wird also nicht belohnt.
Die Anwahl der Nummer kann also sehr hohe Kosten
verursachen, insbesondere wenn die Anrufer nicht über
einen Festnetzanschluss verfügen. Denn genutzt wird die
Nummer nicht nur von den Arbeitsagenturen, sondern
auch von den Arbeitsgemeinschaften, sodass auch Arbeits-
losengeld-II-Bezieher von Gebühren betroffen sind. Gerade
sie haben wenig Geld für teure Nummern, sodass die
Servicenummer immer wieder zu Ärger und Unmut
führt; das zeigen uns Rückmeldungen aus Berlin und
Dresden.
Im Dezember 2008 wurde der 100 000 000 000. Kun-
denanruf über die Servicenummer getätigt. Und, so mel-
dete die Bundesagentur in diesem Zusammenhang, in
über 80 Prozent der Gespräche können die Anliegen der
Anrufer abschließend behandelt werden. Das spricht für
die Einrichtung einer zentralen Nummer, und das spricht
für das Angebot der telefonischen Erledigung von Ge-
schäftsvorgängen. Das spricht nicht für eine indirekte
Gebühr durch Telefonkosten. Sowohl Arbeitslose als
auch die Bundesagentur für Arbeit haben durch die tele-
fonische Bearbeitung Vorteile und Effizienzgewinne, so-
dass beide Seiten profitieren. Das sollte genügen.
Ich finde kein Argument, das die Kostenpflicht der
Servicenummer rechtfertigt. Darum werden wir Grüne
uns nicht nur in diesem Sinne äußern, sondern auch in
diesem Sinne handeln. Wir stimmen dem Antrag der
Linken zu.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Besteuerung von
Dienstwagen CO2-effizient ausrichten und Pri-
vilegien abbauen (Tagesordnungspunkt 12)
Dr. Volker Wissing (FDP): Ich habe bereits mit gro-
ßem Interesse zur Kenntnis genommen, dass die Grünen
kleinere Dienstwagen für Abgeordnete fordern. Es ist
aber schade, dass Sie sich in aller Regel darauf beschrän-
ken, Regelungen einzufordern, statt einfach mit gutem
Beispiel voranzugehen. Warum gibt es eigentlich keinen
Beschluss der grünen Bundestagsfraktion, auf die
Dienstwagen der Fahrbereitschaft zu verzichten und
stattdessen ausschließlich den öffentlichen Nahverkehr
zu nutzen? Das wäre ein Signal.
Dazu brauchen Sie keine Mehrheit, dazu brauchen Sie
keine Gesetzesinitiative, dazu brauchen Sie einfach in
Ihrem Sinne Umweltbewusstsein und natürlich Selbst-
überwindung. Aber so weit ist es dann mit Ihrem Umwelt-
bewusstsein doch nicht her. Auf die großen Wagen der
Fahrbereitschaft schimpfen, aber diese munter nutzen.
Seltener wurde grüne Öko-Scheinheiligkeit auf ein-
drucksvollere Weise vorgeführt.
Es ist mir auch nicht bekannt, dass die grüne Partei- und
Fraktionsspitze auf besonders kleine und spritsparende
Dienstwagen zurückgreift. Und in ihrer aktiven Dienstzeit
sind weder die Minister Trittin noch Fischer oder Künast
im A-Klasse-Mercedes oder Einser-BMW vorgefahren. Im
Gegenteil, der durchschnittliche Verbrauch und die Moto-
risierung der Dienstwagenflotte des Bundes sind unter
Rot-Grün kräftig angestiegen.
Wer sich in der Regierungszeit mit größeren Dienstwa-
gen bedient hat, ist heute nicht unbedingt glaubwürdig,
wenn er kleinere Dienstwagen fordert. Es war eine der
Errungenschaften der rot-grünen Bundesregierung, den
durchschnittlichen Verbrauch der Dienstwagenflotte des
Bundes von 10,99 l pro 100 km auf 11,84 l pro 100 km zu
steigern. Die durchschnittliche Motorenleistung ist sogar
von 87,75 kW in 1998, auf 123,33 kW in 2004 gestie-
gen. Das ist die real existierende Dienstwagenpolitik der
Grünen, und daran werden wir Sie messen und nicht an
dem, was Sie hier in wohlfeilen Anträgen schreiben.
Und wollen Sie wissen, was die damalige Bundes-
regierung von 3-Liter-Autos hielt? Ich zitiere: Eine Ver-
wendungsbreite dieser Fahrzeuge innerhalb der Aufga-
ben der Bundesverwaltung ist nicht gegeben.
Wenn man diese Geschichte kennt und dann Ihren An-
trag liest, weiß man, dass das reinstes Öko-Pharisäertum
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23323
(A) (C)
(B) (D)
ist. Bei den Grünen ist Umweltpolitik zu einer reinen
Schaufensterdisziplin verkommen. Es liegt noch so in
der Auslage, ist aber nicht mehr wirklich im Angebot.
Genauso funktioniert auch dieser Antrag. Die Grünen
bekämpfen die vermeintlichen Spritfresser. Wow, denkt
man, sich die Grünen machen ernst mit Umweltschutz,
und dann schaut man genauer hin und erkennt die grüne
Mogelpackung.
Was verursacht denn die Kohlendioxid-Emission? Die
große Karosserie, der große Motor oder der Verbrauch
von Kraftstoff. Wenn Sie über die Steuer den Kraftstoff-
verbrauch senken wollen, dann erreichen Sie dieses
nicht über die Kraftfahrzeug-, sondern die Mineralöl-
steuer. Und genau an dieser Stelle zeigt sich auch, dass,
wenn es zum Schwur kommt, der Umweltschutz bedeutend
besser bei der FDP als bei den Grünen aufgehoben ist.
Wir waren es, die eine aufkommensneutrale Umlage der
Kfz- auf die Mineralölsteuer gefordert haben. Wir haben
dazu sogar ganz konkrete Anträge gestellt, die können
Sie nachlesen.
Der FDP geht es um die Umwelt, den Grünen um die
Überführung von Neiddebatten in die Umweltpolitik.
Auch wenn ich jetzt den einen oder anderen von Ihnen
überfordere: Der Siebener-BMW, der in der Garage
steht, verursacht weniger Emissionen als der Einser-
BMW auf der Autobahn. Und genau dort setzt die FDP
an: Wir wollen das Maximum für die Umwelt erreichen,
den Menschen aber nicht vorschreiben, welches Auto sie
zu fahren haben. Uns geht es um Lösungen für die Um-
welt und nicht um verbrämte Neiddebatten – genau darin
unterscheiden wir uns von Ihnen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung:
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
zu den Anträgen:
– Einheit in Vielfalt – Kulturpolitik in und
für Europa aktiv gestalten
– Vielfalt verbindet – Europäische Kultur
stärken und weiterentwickeln
– der Unterrichtung: Vorschlag für einen Be-
schluss des Europäischen Parlaments und
des Rates über das Programm „Kultur 2007“
(2007–2013)
– des Antrags: Europäische Kulturpolitik neu
ausrichten
(Tagesordnungspunkt 13 a bis c)
Christoph Waitz (FDP): Kunst und Kultur, das sind
die Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Ohne Kunst und
Kultur wären die Länder der Welt nur beliebige Zusam-
menschlüsse von Menschenansammlungen. Ohne Kunst
und Kultur gäbe es keine Identität.
In Europa kommt Kunst und Kultur eine besondere
Rolle zur Stärkung der Verständigung und Identitätsbil-
dung unter den 27 Mitgliedstaaten zu. Nur wenn es uns
gelingt, die kulturellen Gemeinsamkeiten und Traditio-
nen zu betonen, wird aus einer wirtschaftlichen und poli-
tischen Interessengruppe auch eine identitätsgeprägte
Gemeinschaft wachsen. Die Enquete-Kommission „Kul-
tur in Deutschland“ hat eine ganze Reihe von Hand-
lungsempfehlungen beschlossen, um Kunst und Kultur
auch auf europäischer Ebene zu stärken. Und ich freue
mich, dass alle Fraktionen diese Handlungsempfehlun-
gen im Großen und Ganzen teilen.
Wir alle wissen: Die Kulturpolitik unterliegt auf der
europäischen Ebene dem Subsidiaritätsprinzip. Das be-
deutet konkret, dass die Mitgliedstaaten über Fragen der
Kulturpolitik selbst entscheiden. Dieses Prinzip ist rich-
tig und nur konsequent. Eine aus Brüssel harmonisierte
Kulturpolitik wäre sonst womöglich geeignet, die kultu-
relle Vielfalt in Europa ein Stück weit zurückzudrängen.
Vielmehr lebt die europäische Kulturpolitik gerade von
der Vielfalt der Kulturen. Aber ich sage Ihnen: Deutsch-
land wird sich auch im Feld der Kulturpolitik in Europa
künftig noch besser profilieren und aktiver werden müs-
sen. Die heutige Debatte und unsere Anträge können nur
der Anfang einer vertieften Diskussion sein, die eine ak-
tivere Kulturpolitik Deutschlands auf europäischer
Ebene ermöglichen soll.
Da die Fraktionen nicht alle Handlungsempfehlungen
der Enquete-Kommission gleichermaßen teilen, möchte
ich heute die Unterschiede herausstellen und darlegen,
warum die FDP-Bundestagsfraktion einen eigenen An-
trag zur Neuausrichtung der europäischen Kulturpolitik
in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Obwohl
wir viele Forderungen des Koalitionsantrags teilen, stim-
men wir in folgenden Punkten nicht überein:
Der erste Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die Frage der offenen Koordinierung. So gut das Instru-
ment der offenen Koordinierung auch gemeint ist – die
offene Koordinierung führt dazu, dass die Diskussion
über europäische Kulturpolitik aus den demokratisch le-
gitimierten Gremien in Round-Table-Runden der Tech-
nokraten verlagert wird. Über die Ausrichtung der Kul-
turpolitik entscheiden dann die EU-Kommission und
Ministerialbeamte der Mitgliedstaaten. Wir befürchten,
dass Politik, zivilgesellschaftliche Gruppen und Ver-
bände nicht angemessen an der Diskussion innerhalb der
offenen Koordinierung beteiligt werden könnten oder
dass diesen Gruppen schlicht und ergreifend die Res-
sourcen für eine solche Beteiligung fehlten. Die Konse-
quenzen der Methode der offenen Koordinierung für die
Kulturschaffenden sind erst in Ansätzen erkennbar. Da-
bei müssen wir darauf achten, dass wir die Kulturschaf-
fenden auch auf europäischer Ebene noch besser mit ein-
binden. Sonst ist der Unfrieden der Kulturschaffenden
vorprogrammiert. Daneben besteht die Gefahr, dass die
Kulturpolitik der Europäischen Union noch maßgebli-
cher als bisher von der Europäischen Kommission domi-
23324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
niert wird, trotz der Geltung des Subsidiaritätsprinzips.
Wir lehnen daher die Methode der offenen Koordinie-
rung aus grundsätzlichen Erwägungen ab.
Der zweite Punkt betrifft die Forderung nach einem
europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zum ei-
nen dürfte ein solcher Rundfunk nicht die deutschen
Vorstellungen zur Staatsferne einer solchen Einrichtung
erfüllen. Zum anderen verfügen die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union bereits über hervorragend ausge-
statteten Rundfunk. Wer die Bedeutung der Europäi-
schen Union und die Vermittlung von europäischen In-
halten herausstellen möchte, der sollte in den einzelnen
Mitgliedstaaten ansetzen und nicht auf der Ebene der
Europäischen Union. Es ist unklar, wer für ein solches
Angebot finanziell aufkommen sollte. Wir lehnen die
Ausweitung um einen weiteren – europäischen – öffent-
lich-rechtlichen Rundfunk ab.
Der dritte Punkt betrifft die Finanzierung der auszu-
weitenden Kulturausgaben. Die Koalitionsparteien schrei-
ben in ihrem Antrag, dass für den wichtigen europäi-
schen Kulturaustausch ein angemessener Budgetanteil
des EU-Haushalts zur Verfügung gestellt werden muss.
Diese finanzielle Forderung bleibt leider völlig nebulös.
Bedeutet dies, dass das Gesamtbudget des EU-Haushal-
tes angehoben werden muss? Dieser Forderung können
wir nicht zustimmen. Eine Stärkung des Kulturhaushalts
der Europäischen Union muss aus anderen Töpfen ge-
genfinanziert werden.
Lassen Sie mich den Inhalt unseres Antrags kurz vor-
stellen: Er stellt die Grundlage dar, um die europäische
Kulturpolitik nachhaltig zu stärken und neu auszurich-
ten. Er unterstützt den Prozess des Zusammenfindens
der Kulturen in Europa und stärkt das Ziel eines Europas
der kulturellen Vielfalt. Er stärkt das zivilgesellschaftli-
che Engagement, ohne das Kunst und Kultur nicht über-
leben könnten. Zivilgesellschaftliche Akteure sollen ak-
tiv an der Aufstellung einer Europäischen Kulturagenda
mitwirken können. Unser Antrag fordert die Schaffung
eines besonderen Kultursiegels für europäische Kultur-
stätten. Damit könnten besonders bedeutsame Orte der
Kultur und Geschichte Europas hervorgehoben werden.
Der Antrag sieht die Stärkung des europäischen Films
vor, indem die Präsentation des jährlich vergebenen eu-
ropäischen Filmpreises deutlich aufgewertet wird. Er
fordert die Entwicklung einer gemeinsamen europäi-
schen außenkulturpolitischen Strategie ein, innerhalb de-
rer sich deutsche und europäische Kultureinrichtungen
und Organisationen besser vernetzen können. Dafür sollte
der bereits bestehende Zusammenschluss der nationalen
Kulturinstitute innerhalb der European National Insti-
tutes of Culture weiter gefördert und ausgebaut werden.
Nicht zuletzt sieht unser Antrag die Schaffung einer Eu-
ropäischen Kulturstiftung vor. Diese könnte in Anleh-
nung an die Kulturstiftung des Bundes staatenübergrei-
fende Kulturprojekte initiieren und das Forum für einen
europäischen Kulturdialog darstellen. Damit erfüllt un-
ser Antrag konsequent die Vorgaben des Art. 151 EG-
Vertrag. Daher bitte ich Sie um Unterstützung für diesen
Antrag.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Schutzsystem gegen
Sprengfallen unverzüglich beschaffen (Tages-
ordnungspunkt 14)
Hans Raidel (CDU/CSU): Unsere Soldatinnen und
Soldaten leisten in Afghanistan einen hervorragenden
Job. Sie riskieren für unsere Sicherheit Leib und Leben.
Meines Erachtens muss uns dieser Einsatz der Bundes-
wehr mit Dankbarkeit erfüllen.
Die Bundeswehr hat einen wichtigen Auftrag: Es gilt,
den Afghanistan Compact, den wir 2006 beschlossen ha-
ben, auch in die Wirklichkeit umzusetzen. Er umfasst Se-
curity, Economic Development und Good Governance.
Die Bundeswehr schafft die Voraussetzungen für den
Aufbau, um den es eben auch geht. Wir müssen das Ver-
trauen der Menschen in Afghanistan gewinnen. Ich
denke, es ist wichtig, immer wieder darzustellen, vor
welchen Herausforderungen die Bundeswehr in Afgha-
nistan steht. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind dort
in einer Art und Weise engagiert, dass der Ansatz der
vernetzten Sicherheit umgesetzt und das Ansehen der
Bundesrepublik Deutschland gemehrt wird. Wie gefähr-
lich die Aufgaben der Bundeswehr in Afghanistan sind,
wird darin deutlich, dass in diesem Einsatz bereits 28 Sol-
daten ihr Leben verloren haben. Zu den heimtückischs-
ten Terroranschlägen gehören Sprengfallen.
Wegen der mit dem Einsatz verbundenen Gefahren ist
es notwendig, dass wir alle Voraussetzungen schaffen,
damit unsere Soldaten ihren Auftrag dort gut erfüllen
können. Wir haben mittlerweile über 700 geschützte
Fahrzeuge in Afghanistan, mehr als alle anderen Natio-
nen dort. Wir haben die Aufklärung verstärkt. Wir haben
zusätzliche Verstärkungstruppen dorthin geschickt, weil
wir aufgrund der Verschärfung der Sicherheitslage, die
unbestritten eingetreten ist, mehr Flexibilität brauchen.
Wenn die FDP mit ihrem Antrag wirklich eine Ver-
besserung der Sicherheitssituation unserer Soldatinnen
und Soldaten herbeiführen wollte, würde ich diese De-
batte sehr begrüßen. Dem ist aber leider nicht so. Das
äußerst sensible Thema der Schutzsysteme gegen
Sprengfallen, die sogenannten Störsender, aber in der
Öffentlichkeit zu debattieren, zeigt, vorsichtig formu-
liert, einen Mangel an Sensibilität.
Wenn wir jetzt an dieser Stelle etwas tiefer in die De-
batte einsteigen wollten, müssen wir Details über die
Wirkungsweise der Störsender nennen, Details, die aber
die Sicherheit unserer Soldaten gefährden würden. Wir
müssten darlegen, welche Kenntnisse wir von den Terro-
risten haben, welche Strategie sie anwenden, welche
Materialien sie nutzen, welche Schwachstellen sie haben
etc., und dann müssten wir darlegen, wie wir mit wel-
chem technischen Hilfsmittel darauf reagieren wollen.
Jedem müsste klar sein, dass wir dies nicht machen
können, weil Terroristen direkt darauf reagieren würden.
Die Terroristen würden sich auf die Abwehrmethode
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23325
(A) (C)
(B) (D)
einstellen, ihr Angriffssystem verbessern. Damit würde
die Gefahrensituation unserer Soldatinnen und Soldaten
drastisch verschlechtert. Deshalb sage ich Ihnen, meine
Damen und Herren von der FDP: Diese von Ihnen ge-
führte Debatte gehört in den Verteidigungsausschuss, in
eine nichtöffentliche Sitzung.
Die Bundeswehr tut im Moment alles, um die sich im
Einsatz befindlichen Fahrzeuge mit möglichst effizien-
ten Störsendern auszustatten. Mit Ausnahme sogenannter
reaktiver Störsender sind alle Störsender gegen Remote
Controlled Improvised Explosive Devices, RCIED, ent-
wickelt, die durch die Bundeswehr eingeführt sind bzw.
absehbar eingeführt werden.
Die Bundeswehr nutzt bereits seit Anfang 2007 erste
Störsender in Afghanistan. Zurzeit befinden sich über
80 Störsender im Einsatz. Mehr als 500 Störsender wer-
den bis Ende 2010 folgen. Das ist eine Leistung, die sich
sehen lassen kann.
Die Störsender müssen, um wirksam sein zu können,
elektromagnetische Strahlung abgeben. Für den Einsatz
ist zu beachten, dass unbeteiligte Personen, anders als
die Besatzungen der Fahrzeuge, nicht durch konstruktive
Maßnahmen vor unzulässiger Belastung durch elektro-
magnetische Strahlung geschützt sind. Hier greifen be-
triebliche Maßnahmen, die die Besatzungen von Fahr-
zeugen mit Störsendern lageabhängig nutzen können.
Darüber hinaus können Störsender auch die eigene
Funkkommunikation stören. Kommt es hierbei zu Frik-
tionen, so muss der militärische Führer vor Ort entschei-
den, was in der jeweiligen Lage Vorrang hat – das Stören
von RCIED oder die ungestörte eigene Funkkommuni-
kation. Hier muss weitergeforscht und weiterentwickelt
werden.
Die Schutzreichweite eines Störsenders ist entschei-
dend davon bestimmt, wie weit der Auslösesender vom
RCIED positioniert ist. Dies ist im Allgemeinen nicht
bekannt. Hinzu kommt, dass die Schutzwirkung durch
Abschattungen – Gelände, Häuser, Fahrzeuge zwischen
Störsender und RCIED – eingeschränkt werden kann.
Ein absoluter Wert als Mindestschutzreichweite für ei-
nen Störsender lässt sich daher nicht angeben.
Sollten die Auflagen für den Betrieb der Störsender,
die in den Bestimmungen für den Einsatz niedergelegt
sind, nicht beachtet werden, können Störsender Unbetei-
ligte einer Belastung durch elektromagnetische Strah-
lung aussetzen. Ebenso können sie die eigenen Funk-
kommunikation stören. Darüber hinaus ist es möglich,
dass Störsender andere Systeme stören, die ein ver-
gleichbares Frequenzspektrum nutzen. Auch hier muss
weiterentwickelt werden.
Aufgrund der Beschaffenheit und Eigenschaften von
Improvised Explosive Devices, IED, mit den unter-
schiedlichsten Zünd-/Auslösemechanismen und Wirkla-
dungen gibt es weltweit keine einheitliche technische
Lösung, die für sich allein abstandsfähig und sicher je-
des IED bekämpfen kann.
Die Bundeswehr deckt ihren Bedarf an Störsendern
sowohl über Maßnahmen des Einsatzbedingten Sofort-
bedarfs, ESB, als auch über das Regelbeschaffungsver-
fahren. Bisher wurden über 80 Störsender über ESB in
die Bundeswehr eingeführt. Deren Finanzierung erfolgte
aus Kapitel 14 03 Titelgruppe 08, Maßnahmen der Bun-
deswehr im Zusammenhang mit internationalen Ein-
sätze, dort Titel 554 81, Militärische Beschaffungen.
Diese Schutzsysteme werden im Einsatzgebiet in Afgha-
nistan in verschiedenen Fahrzeugtypen genutzt.
Die Beschaffung und Integration von weiteren mehr
als 500 Systemen ist beauftragt. Davon werden rund 440
Counter-IED Systeme über das übliche Beschaffungs-
verfahren in die Streitkräfte eingeführt. Der Zulauf die-
ser Schutzsysteme ist für dieses Jahr vorgesehen. Die In-
tegration in die jeweiligen Trägerfahrzeuge wird – je
nach operationeller Verfügbarkeit der jeweiligen Fahr-
zeuge – bis ins nächste Jahr andauern. Die Beschaffung
wird aus Kapitel 14 16 Titel 554 05, Beschaffung Fern-
meldematerial, und die Integration in die Fahrzeuge aus
Kapitel 14 16 Titel 554 07, Beschaffung Kampffahr-
zeuge, finanziert.
Neben den in die Bundeswehr eingeführten geschütz-
ten Fahrzeugen mit ihrer definierten Widerstandsfähig-
keit gegen eine Bedrohung – ihrem Schutz – versprechen
Systeme, die IED frühzeitig detektieren können, einen
weiteren Zuwachs an Schutz. Entsprechende Forschungs-
projekte sind in Vorbereitung. Dies erscheint mir als ein
weiterer sehr vielversprechender Ansatz, um mehr Si-
cherheit für die Bundeswehr in Afghanistan zu erreichen.
Ich hoffe und gehe fest davon aus, dass alle in diesem
Hause mit mir darin übereinstimmen, dass wir uns ge-
meinsam dafür einsetzen, alles zu unternehmen, um die
Sicherheit unserer Soldaten weiter zu verbessern.
Maik Reichel (SPD): Der Antrag der FDP stammt
vom 7. November 2007. Bereits zu diesem Zeitpunkt
war er überholt; allenfalls hat er das engagierte Handeln
der Bundesregierung, die Sicherheit unserer Soldatinnen
und Soldaten stets zu erhöhen, unterstützt.
Ich will gleich zu Beginn feststellen: Die Koalitions-
fraktionen und die Bundesregierung legen großen Wert
darauf, dass die Angehörigen der Bundeswehr und der
Polizeien den höchstmöglichen Schutz während der
Auslandseinsätze erhalten. Daran wird sich nichts än-
dern. Dies lässt sich auch am Verteidigungshaushalt der
letzten Jahre ablesen.
Festzustellen ist zunächst, dass asymmetrische An-
griffe, die mit den bislang eingesetzten militärischen Ge-
genmaßnahmen nur bedingt beherrschbar sind, einen
wesentlichen Teil der Bedrohung ausmachen. Billigste
Flugkörper, die im Nahbereich gleichwohl immense
Schäden anrichten können, Sprengfallen an Straßen, Au-
tobomben und durch Saboteure und Selbstmordattentäter
eingeschleuste Sprengsätze gehören dazu.
Die Verwundbarkeit der Einsatzliegenschaften sowie
der in den Krisenregionen operierenden Konvois wurde
bereits durch eine Vielzahl von Vorfällen deutlich. Zu
Recht betonen die Kollegen der FDP-Fraktion das
Schutzbedürfnis deutscher Soldaten bei Auslandseinsät-
zen. Ich gehe davon aus, dass nicht nur meine Fraktion
dieses Anliegen unterstützt, und möchte zur besseren
23326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
Darstellung kurz auf die eigentliche Herausforderung,
welche die Anschaffung respektive die Entwicklung ei-
nes solchen Schutzsystems mit sich bringt, eingehen. So
muss man zunächst rein technische Unterscheidungen
beim Schutz vor Sprengfallen treffen. Auf der einen
Seite bedarf es eines elektronischen Schutzes vor funk-
ferngezündeten Sprengfallen, auf der anderen Seite aber
auch vor mechanisch zündenden Explosionskörpern. Da
sich der eigentliche Angriff rein technisch nicht verhin-
dern lässt, wurde und wird unser Augenmerk auf die
Verbesserung des passiven Schutzes unserer Soldatinnen
und Soldaten gelenkt. Die hier zum Truppentransport
notwendigen Fahrzeuge wurden in den vergangen Jahren
beschafft. Mehr als 800 geschützte Fahrzeuge befinden
sich in Afghanistan.
Als technisch problematischer stellte sich allerdings
die Umsetzung eines elektronischen Funkstörsenders
dar. Zwar steht der Bundeswehr der Störpanzer Hummel
auf der Basis des Transportpanzers Fuchs zur Verfügung.
Wie bei allen Transportpanzern, die der elektronischen
Kampfführung dienen, ist in diesem Fahrzeug ein
15-kW-Stromaggregat integriert. Auffälliges Merkmal
des Störsenders 33 ist eine Vielzahl von Antennen auf
dem Fahrzeugdach. Das System ist in der Lage, im HF-,
VHF- und UHF-Bereich mit Leistungen von 1 bzw. 2 kW
als automatisch antwortender Störsender auf mehreren
Kanälen gleichzeitig zu arbeiten. Verdeutlicht man sich
jedoch allein den räumlichen Umfang dieses adaptiven
Systems – es kann ohne größeren Aufwand auf jedem
Transportpanzer Fuchs betrieben werden –, so stellt man
unmittelbar fest, dass dieses in der bestehenden Form
nicht auf andere, kleinere Fahrzeuge übertragbar war.
Weiterhin sorgte der Zielkonflikt zwischen Größe des
Systems, Leistungsfähigkeit und Schutzbedürfnis der ei-
genen Soldaten in den vergangenen Jahren für Verzöge-
rungen.
Wenn ich hier von Schutzbedürfnis spreche, dann
gehe ich damit nicht nur auf den Schutz vor Anschlägen
ein als vielmehr auch auf die Auswirkungen, die die elek-
tronischen Systeme auf unsere Soldaten haben. Wir wol-
len Strahlungsschäden ausschließen. Deshalb empfinde
ich es durchaus als verantwortungsbewusst, Systeme erst
dann einzusetzen, wenn der durch sie verursachte Scha-
den möglichst minimiert bzw. ganz verhindert wird. Purer
Aktionismus, wie im Antrag der FDP gefordert, kostet wo-
möglich mehr Menschenleben, als er schützt. Vor der flä-
chendeckenden Einführung von Störsendern wurde ver-
ständlicherweise eine Erprobung durchgeführt. Dies war
notwendig, falls technische Schwierigkeiten auftreten
würden.
Dass die Bundesregierung sich jedoch nicht auf die-
sem Fakt ausruht, sondern den angemahnten Schutzbe-
darf erkannt hat, zeigt sich unter anderem auch darin,
dass nun entsprechende Systeme verfügbar sind und
auch durch das BMVg beschafft werden. Dieses Störsys-
tem wurde so konzipiert, dass es an neun verschiedene
Fahrzeugtypen spezifisch adaptiert werden kann. Hier-
bei belaufen sich die Kosten für die bis zum Jahr 2011 zu
beschaffenden 602 Systeme auf insgesamt 106 Millio-
nen Euro, wobei die Bundeswehr nach eigenen Angaben
bereits über 128 ausgelieferte Einheiten verfügt und
diese auch einsetzt. Die Kleinstörsender werden weiter-
hin nach und nach beschafft, was auch im Etat seinen
Niederschlag findet.
Wir können schlussfolgern: Die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen tun alles, um unsere Solda-
tinnen und Soldaten so gut wie möglich zu schützen. Der
Antrag war, wie gesagt, bereits zum Zeitpunkt seiner
Stellung überholt.
Elke Hoff (FDP): Anschläge mit improvisierten
Sprengfallen, sogenannten IED, bleiben die größte Bedro-
hung für unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan.
Ihre Zahl hat sich im Jahre 2008 im Vergleich zu 2007
sogar noch einmal erhöht. So gab es 2008 in Afghanistan
insgesamt 1 343 IED-Anschläge. 2007 waren es noch 905.
Erschwerend kommt der Trend hinzu, dass IED immer
häufiger große Wirkladungen haben, gegen die selbst
geschützte Fahrzeuge nur einen relativ geringen Schutz
bieten können. Deswegen bin ich froh, dass inzwischen
eine spürbare Verbesserung bei der Ausstattung mit
Schutzsystemen gegen Sprengfallen erreicht werden
konnte.
Erfahrungen in Afghanistan zeigen, dass Operationen
auch im Norden des Landes nicht mehr ohne Störsender
durchgeführt werden können. Eine ausreichende Anzahl
von Störsendern auf geschützten Fahrzeugen ist also ein
absolutes Ausstattungsmuss für die deutsche ISAF-
Truppe. Dabei ist auch auf einen ausgewogenen Flotten-
mix an leichten und schwereren Fahrzeugen als Träger
dieser Jammer zu achten, um die Mobilität auch in unter-
schiedlichem Gelände gewährleisten zu können. Weiter-
hin muss die Ausbildung zur Entdeckung von IED im
Einsatzland in der einsatzvorbereitenden als auch in der
einsatzbegleitenden Ausbildung eine wichtige Rolle
spielen, um die Sensibilität der Soldaten für diese Gefahr
hoch zu halten. Eine rechtzeitig entdeckte Sprengfalle
kann entschärft werden und keinen Schaden mehr an-
richten. Wichtig bleibt aber eine rasche Ausstattung der
Bundeswehrsoldaten in Afghanistan mit genügend ge-
eigneten Störsendern, da die Gefahr durch IED allgegen-
wärtig ist und mit den jetzt beginnenden milderen
Witterungsbedingungen wieder ansteigen wird.
Der erreichte Einstieg in die Beschaffung der Schutz-
systeme gegen Sprengfallen ist auch ein Erfolg des Drän-
gens und Werbens des Deutschen Bundestages gegenüber
der Bundesregierung, schnell und pragmatisch Abhilfe zu
schaffen. Dennoch dürfen sich weder Bundesregierung
noch Parlament nun zurücklehnen und den erreichten
Ausrüstungszustand bewundern. Für Selbstzufriedenheit
besteht kein Anlass. Vielmehr muss man das Erreichte
als einen wichtigen ersten Schritt begreifen. Bisher ist
noch nicht einmal ein Viertel der auszurüstenden Fahr-
zeuge mit Schutzsystemen ausgerüstet, und ob es sich
bei der derzeit bekannten Größenordnung der zu beschaf-
fenden Systeme um den tatsächlichen Bedarf handelt, darf
bezweifelt werden. Der Deutsche Bundestag muss weiter
Druck ausüben, dass die Bundesregierung endlich den tat-
sächlichen Bedarf für die Beschaffung von Schutzsystemen
gegen Sprengfallen definiert und umgehend beschafft.
Die Bundeswehr braucht ausreichend geschützte Fahr-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23327
(A) (C)
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zeuge im Einsatz, die auch gegen die Hauptbedrohung in
Afghanistan gerüstet sind. Hier handelt es sich um eine
Fähigkeitslücke, die schnellstmöglich geschlossen werden
muss. Deswegen bin ich nicht glücklich darüber, das
zwei Drittel der zu beschaffenden Schutzsysteme regulär
über den CPM und nicht im Wege des einsatzbedingten
Sofortbedarfs beschafft werden sollen.
Über das widersprüchliche Verhalten der Koalitions-
fraktionen zu diesem Thema im Deutschen Bundestag
und seinen Fachausschüssen bin ich sehr erstaunt. SPD
und Union halten den vorliegenden Antrag der FDP-
Fraktion für wenig sachlich, weil sich ihnen der Eindruck
aufdränge, er sei prophylaktisch gestellt worden, um beim
nächsten Anschlag auf diesen Antrag hinweisen zu kön-
nen. Meine Damen und Herren, das ist zynisch, und wir
verwahren uns gegen diesen Vorwurf. Darüber hinaus
haben sie diesem Antrag als wortgleichen Haushaltsan-
trag am 24. Oktober 2007 im Verteidigungsausschuss
zugestimmt und dann die seitens der FDP-Fraktion bean-
tragte notwendige Erhöhung der Haushaltsmittel abge-
lehnt. So macht man keine verantwortungsvolle Politik.
Die Bereitstellung finanzieller Mittel ist die konkrete
Umsetzung des politischen Willens.
Und genügend Geld wird beim Umgang mit der Bedro-
hung durch Sprengfallen auch weiterhin notwendig sein.
Seit Monaten ist zu beobachten, dass die Aufständischen
auf die Schutzmaßnahmen der Bundeswehr reagieren und
die IEDs nicht mehr vorrangig per Mobiltelefon, sondern
durch Drahtvorrichtungen oder andere alternative Auslös-
mechanismen zur Explosion bringen. Dieses Hase-und-
Igel-Spiel wird die Bundeswehr dauerhaft beschäftigen.
Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass auf
aktuelle Entwicklungen ausreichend reagiert werden
kann. So ist schon heute gewiss, dass automatisierte Mini-
sonden und Robotersysteme geprüft und erprobt werden
müssen, um die IED-Protektion auf größere Strecken
ausdehnen zu können. In diesem Zusammenhang kann
ich auch nur schwer nachvollziehen, warum die Haushalts-
mittel für die Systemfähigkeitsforderung Counter-IED
im Haushaltsjahr 2009 gegenüber dem Vorjahr deutlich
gekürzt worden sind.
Hier setzt sich die verfehlte Haushalts- und Beschaf-
fungspolitik des Verteidigungsministeriums fort, die wir
seit Beginn der Legislaturperiode immer wieder deutlich
kritisieren. Ich kann leider keine klare Priorisierung in
der Ausgabenpolitik des Verteidigungsministeriums er-
kennen. Auch in den letzten Monaten wurde mit dem
Geld der Steuerzahler mehr Industriepolitik betrieben,
als die Bundeswehr für die Erfüllung ihres Auftrages
ausgestattet wurde. Dafür ist die zu langsame Beschaf-
fung der Schutzsysteme gegen Sprengfallen ein Beispiel
unter vielen. Ärgerlich ist für mich, dass viele der am
dringendsten notwendigen Dinge in der Relation des
Verteidigungshaushalts wenig Geld kosten. Ich bin mir
immer weniger sicher, ob das Umsteuern im Verteidi-
gungsministerium auf eine einsatzorientierte Beschaf-
fungspolitik eine Frage des politischen Willens oder des
Mangels an Kenntnis der Entscheider ist.
Der Kontakt zur Truppe zeigt immer wieder überdeut-
lich, wie sehr die Auftragserfüllung durch die Defizite in
Ausrüstung und Ausbildung leidet. Das Fehlen ge-
schützter Fahrzeuge insbesondere in den kleineren
Schutzklassen in Afghanistan schränkt immer noch die
Patrouillentätigkeit erheblich ein. Es fehlen so wichtige
Ausrüstungsgegenstände wie Nachtsichtgeräte, Laser-
Licht-Module und persönliche Ausstattung. Auch andere
Mängel in der persönlichen Ausstattung der Truppe wer-
den von den Soldatinnen und Soldaten immer häufiger
durch private Beschaffungen kompensiert und dem
Mantra des Ministers, die Bundeswehr sei für ihren Ein-
satz bestens ausgerüstet und ausgebildet, wird zuneh-
mend mit Resignation begegnet.
Inge Höger (DIE LINKE): Bundeswehrangehörige
durch technische Verbesserungen gegen explodierende
Sprengfallen zu schützen, das klingt – oberflächlich be-
trachtet – plausibel. Durch Störsender an gepanzerten
Fahrzeugen soll die Zündung von improvisierten
Sprengfallen, besonders in Afghanistan, unterbunden
werden, um so Soldatinnen und Soldaten weniger häufig
zu Anschlagsopfern werden zu lassen.
Doch woher kommt der Widerstand – auch gegen die
Bundeswehr –, wo diese doch angeblich nur helfen soll
und will? Warum werden die ISAF-Angehörigen von
immer mehr Menschen in Afghanistan nur noch als bru-
tale Besatzer wahrgenommen? Diesen Fragen weicht so-
wohl die Bundesregierung als auch die FDP mit diesem
rein technokratischen Antrag aus.
Aber auch jenseits dieser grundsätzlichen Erwägun-
gen weist der FDP-Antrag immanente Schwächen auf.
Was die FDP hier fordert, wird die Bundesregierung oh-
nehin umsetzen, wenn auch möglicherweise ein klein
wenig langsamer, als es im vorliegenden Antrag gefor-
dert wird. Doch völlig egal, wie schnell diese Störsender
beschafft werden, sie nützen den Soldatinnen und Solda-
ten bestenfalls kurzfristig, wenn überhaupt. Attentäter
stellen sich schnell auf das Schutzniveau ihrer jeweiligen
Gegner ein, und entsprechend ist die Aufrüstungsspirale
im Straßenkampf längst im Gange. Im Irak zeigt sich das
Dilemma schon seit Jahren. Kaum waren dort in größe-
rem Umfang Störsender im Einsatz, kamen auch neue
Generationen von Sprengfallen zum Einsatz. Es ist nur
eine Frage der Zeit, bis neue Technologien für Attentate
auch in Afghanistan zur Verfügung stehen. Bereits heute
sind viele Sprengfallen so aufgebaut, dass sie durch
Störsender nicht zu stoppen sind. Als im Sommer letzten
Jahres deutsche Polizisten einem Anschlag zum Opfer
fielen, war der Zündmechanismus ein ganz primitiver:
Die Sprengladung wurde mit einem Kabel gezündet. Es
gibt zahlreiche alternative Zündmethoden von Infrarot-
sendern bis zur Fernsteuerung für Spielzeugautos. All
das lässt sich mit gängigen Störsendern nicht stoppen.
Die Einzigen, die wirklich von der Ausrüstung der Fahr-
zeuge mit Störsendern profitieren, sind die Hersteller
dieser Apparate.
Diese Störsender, auch Jammer genannt, sind nach
Herstellerangaben so konstruiert, dass durch die Geräte
keine gesundheitliche Gefährdung der Fahrzeugbesatzung
zu befürchten ist. Doch jüngste EU-Studien ergaben,
dass selbst längeres Telefonieren mit Handys gesund-
23328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
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(B) (D)
heitliche Schäden hervorrufen kann. Im Verhältnis dazu
sind dauerhafte Bestrahlungen durch Störsender, die
noch dazu parallel auf verschiedenen Frequenzen senden
und denen die Soldaten auf engstem Raum ausgesetzt
sind, eine wesentlich ernsthaftere Gefährdung. Die Sol-
datinnen und Soldaten bezahlen so für einen ungewissen
Schutz vor Sprengfallen mit einer konstanten gesund-
heitlichen Gefährdung und unbekannten Spätfolgen.
Die Verwendung der Störsender kann zudem zur wei-
teren Verschärfung der Situation in den Einsatzgebieten
führen, wenn überall dort, wo Bundeswehrfahrzeuge
auftauchen, die Mobilfunkkommunikation lahmgelegt
wird. Gerade in den Einsatzgebieten der Bundeswehr im
Kosovo und in Afghanistan sind Mobiltelefone wesentlich
weiter verbreitet als Festnetztelefone. Aus Gesprächen
mit Bundeswehrsoldaten weiß ich zudem, dass auch sie
bei Patrouillen in Afghanistan zur Kommunikation auf
das dortige Mobilfunknetz zurückgreifen, was bei aktiven
Störsendern natürlich nicht mehr funktioniert.
Der effektive Schutz der Soldatinnen und Soldaten ist
weder eine finanzielle noch eine technische Frage, sondern
eine politische. Die Linke beteiligt sich nicht daran,
wenn Soldatinnen und Soldaten eine technische Illusion
von Sicherheit vorgegaukelt wird. Der einzig wirkliche
Schutz für die Bundeswehrangehörigen in Afghanistan
besteht darin, sie sofort und vollständig abzuziehen.
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Bundesregierung setzt die Schwerpunkte für militä-
rische Beschaffungen falsch. Die Bundeswehr ver-
schwendet Geld, indem sie beharrlich immer wieder die
gleichen Fehler wiederholt. Verteidigungsminister Franz
Josef Jung hat sich dieser Problematik in der gesamten
Legislaturperiode nie angenommen und damit die Liste
der schlechten Amtsführung eindrucksvoll um einen
wichtigen Punkt verlängert.
Erster Fehler: Die Bundeswehr betreibt aus ihrem
Etat zu viel Industriepolitik und Subventionierung der
Rüstungsindustrie. Jüngstes Beispiel der letzten Monate
ist dabei der dritte Einsatzgruppenversorger für die Bun-
desmarine. Das Verteidigungsministerium hat hinge-
nommen, dass die Industrie den Wettbewerb selbst aus-
schaltet, indem sie sich einfach zusammenschließt und
für den dritten EGV das Zweieinhalbfache der Vorgän-
ger berechnet. Betrachtet man dies im Zusammenhang
mit der Tatsache, dass es eine schlüssige Strategie zur
Rüstungsindustrie seitens der Bundesregierung über-
haupt nicht gibt, stellt man fest, dass das Geld der Steu-
erzahler völlig wirkungslos versickert – während es
gleichzeitig an allen Ecken und Enden fehlt.
Zweiter Fehler: Die Bundeswehr hängt in ihren Be-
drohungsszenarien gedanklich immer noch an den gro-
ßen Konflikten. Wenn es schon nicht mehr der Kalte
Krieg ist, dann doch bitte zumindest noch die symmetri-
schen Schlachten. Auch hier ein aktuelles Beispiel aus
der letzten Woche: die Bundesregierung beschafft als
ersten Schritt 30 000 Schuss Sprengmunition für die
Panzerhaubitze 2000. Das Preisschild verzeichnet über
60 Millionen Euro, und dies für Munition, die wir in den
Depots einlagern werden, bis die Haltbarkeit überschrit-
ten ist und wir sie wieder vernichten, um Platz für die
nächste Generation an unnötiger Munition zu machen. In
welchen UN-mandatierten Stabilisierungsmissionen oder
humanitären Einsätzen wollen Sie eigentlich die Panzer-
haubitze 2000 auf 30 Kilometer großflächig schießen
lassen?
Über die Investitionsruine Eurofighter zu sprechen,
werden Sie uns vor der Bundestagswahl ja noch ausrei-
chend Gelegenheit bieten. Die Kette der Beispiele ließe
sich noch lange fortführen.
Die Bundeswehr setzt den Schwerpunkt darauf, das
volle Spektrum an Waffen im Depot bzw. auf dem Park-
platz stehen zu haben, unabhängig davon, ob man es der-
zeit benötigt. Man könnte es ja in der Zukunft benötigen!
Aus diesem falschen Konzept resultiert schlussend-
lich der dritte Fehler: Es fehlen die Mittel für die heute
wirklich erforderliche Ausrüstung. Was in dem heute
stattfindenden Auslandseinsatz möglichst schnell und
dringend benötigt würde, wird nur halbherzig beschafft,
in winzige Beschaffungshäppchen aufgeteilt oder auf der
Zeitachse geschoben. Was bei den UN-mandatierten
Einsätzen der Bundeswehr benötigt würde, sind mehr
geschützte Fahrzeuge im Einsatzgebiet, besserer Feldla-
gerschutz, bessere persönliche Ausrüstung, mehr Luft-
transportkapazitäten. Und wir benötigen es schnell.
Da ist der Antrag der Kolleginnen und Kollegen der
FDP, den wir hier beraten, richtig: Vordringlich beschafft
werden diese Projekte von der Regierung nicht. Auch
wenn im Bereich des Schutzes gegen Sprengfallen mitt-
lerweile mehr Systeme im Einsatz sind: Schnell und prio-
risiert war die Beschaffung leider nie. Stattdessen hören
wir vom Verteidigungsministerium und von den Koali-
tionsfraktionen immer wieder das gleiche Mantra: Die
Bundeswehr sei bestens ausgerüstet, man tue doch alles,
alles Wichtige sei in Planung oder Beschaffung. Warum
widerspricht dies diametral allen Aussagen, die man hört
und sieht, wenn man mal die Ebene der Bundeswehr-
pressesprecher und der BMVg-Sprechzettel verlässt?
Sind die Klagen der Soldatinnen und Soldaten im Aus-
landseinsatz erfunden? Mitnichten!
Die Klagen sind berechtigt, denn aus den genannten
Gründen werden die wichtigen Beschaffungen immer
zwischen Rüstungsindustrieförderung und Depotauffül-
lung gequetscht, nicht schnell und nicht mit Priorität, son-
dern nur danach, wie viel Luft nach den falschen unnüt-
zen Beschaffungen dem Etat gerade noch bleibt. Die
Schutzsysteme gegen Sprengfallen mögen ein Detail ge-
wesen sein – aber sie sind symptomatisch für die Kon-
zeptlosigkeit dieses Verteidigungsministers und die Geld-
verschwendung, die diese Regierung auszeichnet. Beim
vergleichsweise kostengünstigen zivilen Wiederaufbau
und beim Schutz der Soldatinnen und Soldaten wird ge-
knausert, aber bei milliardenschweren Großprojekten
kann es immer nicht genug geben. Werden Sie endlich Ih-
rer Verantwortung gerecht, und beenden Sie diesen Un-
fug!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23329
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Anlage 6
zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Pakistan stabilisieren
und seine demokratische Entwicklung voran-
treiben (Tagesordnungspunkt 15)
Holger Haibach (CDU/CSU): Was haben Frauen-
rechte und der Ausbau von Mobilfunknetzen miteinan-
der gemeinsam? Beides stößt bei den radikalislamischen
Taliban in Pakistan auf Widerstand. Zwar haben sie, als
die Regierung in Islamabad ihnen im Swat-Tal und ande-
ren Gegenden die Einführung der Scharia als Rechtsord-
nung zugestand, erklärt, Mädchenschulen nicht schlie-
ßen zu wollen. Zur gleichen Zeit wurden aber elf dieser
Mädchenschulen niedergebrannt – eine ausgesprochen
effektive Methode, Unterricht von Mädchen zu unterbin-
den und Angst und Schrecken zu verbreiten.
Und der Mobilfunk? Als die pakistanische Regierung in
dieser Woche bekanntgab, im Grenzgebiet zu Afghanistan
ein Mobilfunknetz ausbauen zu wollen, reagierten die
Taliban mit einem Flugblatt folgenden Inhalts: „Wir
werden Regierungsbehörden und diejenigen, die SIM-
Karten verkaufen, wie Kriminelle behandeln.“ Das Netz
sei dazu bestimmt, die Taliban auszuspionieren.
Diese beiden Begebenheiten verdeutlichen, welchen
innenpolitischen Herausforderungen die pakistanische
Regierung durch die Taliban ausgesetzt ist. Dass Pakis-
tan endlich die weltweite Aufmerksamkeit erfährt, die es
sicherlich verdient, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass
sich der Deutsche Bundestag in der dritten aufeinander-
folgenden Sitzungswoche mit diesem Land beschäftigt.
Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, legen
Ihnen heute einen Antrag vor, von dem wir sicher sind,
dass er der komplexen Situation Pakistans gerecht wird.
Unbestritten auch in diesem Hohen Hause ist sicher-
lich, dass die Lage in Pakistan großen Anlass zur Sorge
gibt: Die Auseinandersetzung zwischen Präsident Zadari
und Oppositionsführer Sharif, die in dem Streit um die
Wiedereinsetzung des Obersten Richters Chaudry gipfelte.
Die angespannte Sicherheitslage, die offensichtliche bisher
fehlgeschlagene Bekämpfung radikalislamischen Terrors,
der ebenso offensichtliche Machtverfall der Zentralregie-
rung, die desaströse Wirtschaftslage, die ohne das Ein-
greifen der internationalen Gemeinschaft zum Konkurs
des Landes hätte führen können, die Lage in den Tribal
Areas im Grenzgebiet zu Afghanistan, der ungelöste
Kaschmir-Konflikt mit all seinen Implikationen, der Han-
del mit Drogen und Waffen – die Liste ist lang und ließe
sich nach Belieben fortsetzen.
Ebenso unstreitig dürfte sein, dass die Einwohner Pa-
kistans, wie alle anderen Menschen auch, das Recht auf
eine friedliche Entwicklung und auf Zukunftschancen
haben. Schließlich sollte uns allen ebenfalls klar sein,
dass es auch in unserem eigenen Interesse ist, Pakistan
als starken Partner in dieser Region an unserer Seite zu
wissen und nicht als ein Staat, der durch seine Instabilität
nicht nur die gesamte Region, sondern auch die Sicher-
heit von Tausenden deutscher Soldatinnen und Soldaten,
Diplomaten, Entwicklungshelfern und vielen anderen
gefährdet. Darüber hinaus steht außer Frage, dass Deutsch-
land ein Interesse daran haben muss, den Nuklearwaffen-
staat Pakistan zu stabilisieren.
Die Frage stellt sich also: Was kann und muss getan
werden, um, wie es in unserem Antrag heißt, „Pakistan
zu stabilisieren und seine demokratische Entwicklung
voranzutreiben“? Und: Welchen Beitrag kann besonders
Deutschland dazu leisten?
Zuerst möchte ich dazu feststellen, dass Deutschland
früher als andere Länder die Notwendigkeit des Handelns
erkannt und entsprechende Vorschläge gemacht sowie
Ressourcen vielerlei Art zur Verfügung gestellt hat.
Deutschland engagiert sich an vorderster Stelle in der
Ende 2008 gegründeten Gruppe „Freunde des demokrati-
schen Pakistans“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die in-
ternationale Unterstützung für Pakistan in den Bereichen
Sicherheit, Entwicklung, Energie und Aufbau besser zu
koordinieren.
All die Hilfsangebote aus dem Ausland werden aller-
dings nicht fruchten, wenn die innere Stabilität Pakistans
nicht wiederhergestellt werden kann. Wir dürfen bei aller
Unterstützung die politisch Handelnden im Land nicht
aus ihrer Verantwortung entlassen. Es wird ihre Aufgabe
sein, durch entsprechende gesetzliche Maßnahmen, aber
auch durch eigenes Verhalten dafür zu sorgen, dass die
Voraussetzungen für eine gute Entwicklung des Landes
geschaffen werden. Denn alleine die Tatsache, dass ein
Militärmachthaber durch eine demokratisch legitimierte
Staatsführung abgesetzt wurde, löst bei Weitem nicht
alle Probleme. Im Gegenteil: Scheitert diese Führung,
droht die Radikalisierung der Gesellschaft und der er-
neute Ruf nach einem „starken“ Mann.
Es geht also um nichts weniger als den Aufbau eines
unabhängigen und qualifizierten Rechtssystems, den
Kampf gegen Drogen und Korruption, die Auseinander-
setzung mit den Taliban und damit auch den Aufbau
rechtsstaatlicher Strukturen in bisher völlig unkontrol-
lierten Gebieten, die Einbindung der Zivilgesellschaft in
den weiteren Prozess, die Bewältigung einer Wirt-
schaftskrise und die Schaffung einigermaßen zufrieden-
stellender Beziehungen zu allen Nachbarn. Zusätzlich
hierzu müssen das Militär und besonders der militärische
Geheimdienst ISI einer effektiven politischen Kontrolle
unterzogen werden.
Bei all dem, insbesondere beim Aufbau rechtsstaatlicher
Strukturen, kann Deutschland einen wichtigen Beitrag leis-
ten: zum einen durch entsprechende finanzielle Ressourcen,
zum anderen durch die langjährige Erfahrung deutscher
Experten auf diesen Gebieten.
Deutschland kann auch unterstützend tätig sein, wenn
es um die Verbesserung der Beziehungen Pakistans zu
seinen Nachbarn geht. Sowohl zu Afghanistan – auf-
grund der schon länger währenden Grenzstreitigkeiten –
als auch zu Indien – aufgrund des Kaschmir-Konflikts
und anderer tradierter Auseinandersetzungen – gibt es
keine wirklich stabilen, geschweige denn gutnachbarli-
chen Beziehungen. Hier kann Deutschland allerdings
nur im Zusammenwirken mit seinen europäischen Part-
23330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
nern, aber auch gemeinsam mit den Partnern des transat-
lantischen Bündnisses, vor allem den USA, erfolgreich
unterstützend eingreifen.
Inzwischen gilt es meiner Meinung nach als anerkannt,
dass eine erfolgreiche Stabilisierung Pakistans, Afghanis-
tans und mithin der gesamten Region nur im Zusammen-
wirken aller regionalen Akteure erreicht werden kann.
Dies schließt neben diesen beiden Staaten sicherlich
auch Indien und den Iran ein. Sicherlich ist es auch richtig,
mit all denen zu verhandeln und zu reden, die sich einer
Stabilisierung der Region verpflichtet fühlen. Solche
Gespräche verbieten sich allerdings mit Gruppen, die,
wie die radikalislamischen Kräfte, Ziele verfolgen, die
denen der internationalen Staatengemeinschaft zuwider-
laufen.
Abschließend möchte ich feststellen, dass es uns nur ge-
lingen kann, bei der Stabilisierung und Demokratisierung
Pakistans erfolgreich zu helfen, wenn alle Beteiligten,
seien es innerstaatliche, seien es regionale oder internatio-
nale Akteure nicht nur dasselbe Ziel, sondern auch eine
abgestimmte Strategie zur Erreichung dieses Ziels ver-
folgen.
Vor allem aber wird es sehr darauf ankommen, dass
die Menschen in Pakistan das Gefühl haben, dass es ihr
Weg ist, den sie gehen. Deshalb ist es so wichtig, dass
Politiker und gesellschaftlich Handelnde in Pakistan ihre
Verantwortung erkennen und wahrnehmen. Denn nur
aus dem Bewusstsein der eigenen Verantwortung er-
wächst die Bereitschaft zu eigenständigem Handeln.
Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Am ver-
gangenen Wochenende hat die pakistanische Regierung
auf massiven Druck der Opposition den vor 16 Monaten
entlassenen Obersten Richter des Landes, Richter Iftikhar
Muhammad Chaudhry, wieder eingesetzt. Mit ihm können
weitere 60 Richter ihr Amt nun wieder ausüben, nach-
dem sie vor den Wahlen im Jahr 2008 noch unter der Mi-
litärregierung von Pervez Musharraf abgesetzt worden
waren. Endlich hat Asif Ali Zardari seinen Widerstand
aufgegeben. Es ist nicht hinnehmbar, dass ein demokra-
tisch gewählter Präsident sich weiterhin der Methoden
einer Militärdiktatur bedient, um sich in seinem Amt zu
sichern.
Der pakistanische Staat befindet sich auf einem langen
Weg hin zur Demokratie. Dieses Ziel kann nur erreicht
werden, wenn sich die Situation der Bevölkerung insge-
samt ändert. Die Armut der Menschen in Pakistan muss
bekämpft werden, damit die Ressourcen der Menschen
für den Aufbau der Zivilgesellschaft freigesetzt werden
können.
Demokratie und Stabilität in Pakistan sind von großer
Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Region.
Deshalb erwägt nun auch die US-Regierung im Rahmen
ihrer Afghanistan-Strategie, die Mittel für die militärische
und zivile Unterstützung Pakistans zu erhöhen, die Summe
für den zivilen Bereich soll sich sogar verdreifachen.
Ich begrüße es sehr, dass der Aufbau Pakistans
Schwerpunkt in der deutschen Entwicklungszusammen-
arbeit ist. Der deutsche Außenminister Frank-Walter
Steinmeier hat im Februar Botschafter Mützelburg zum
Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan ernannt.
Dies ist ein deutliches Signal an Pakistan und an Präsi-
dent Zardari, dass Pakistan von uns im Hinblick auf
wirtschaftliche Entwicklung und auf Demokratisierung
unterstützt wird.
Im vergangenen Jahr hat Deutschland seine Mittel für
Pakistan verdoppelt. Schwerpunkte in der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit sind:
Erstens. Vergabe von Mikrokrediten zur Unterstützung
der Menschen, die eigene Geschäfte oder Projekte finan-
zieren wollen und damit eine wirtschaftliche Grundlage
für ihr Leben schaffen. Dabei hat sich erwiesen, dass insbe-
sondere Frauen das Geld aus Mikrokrediten in Bereichen
investieren, die der gesamten Gemeinschaft zugutekom-
men. Außerdem sind Frauen besonders verlässliche Rück-
zahlerinnen.
Zweitens. Förderung von Kleinbetrieben als Rückgrat
der Wirtschaft: Das deutsche Know-how im Bereich er-
neuerbare Energien sollte im Rahmen von Kooperationen
in den Aufbau einer funktionierenden Energieversorgung
in Pakistan einfließen. Das öffentliche Stromnetz kann
durchschnittlich für vier Stunden pro Tag Strom liefern.
Darüber hinaus behelfen sich die reicheren Menschen in
Pakistan mit Dieselgeneratoren, die Armen müssen ohne
elektrischen Strom auskommen. Dies vergrößert die Lücke
zwischen Arm und Reich. Darüber hinaus tragen die Gene-
ratoren erheblich zur Umweltverschmutzung in Pakistan
bei.
Drittens. Entwicklung der Zivilgesellschaft. Deutsch-
land unterstützt die Arbeit von deutschen und pakistani-
schen Nichtregierungsorganisationen, beispielsweise den
Evangelischen Entwicklungsdienst und SPARC, die sich
für die Entwicklung der Zivilgesellschaft engagieren und
damit den Aufbau der Demokratie unterstützen. Auch der
Aufbau eines effizienten Bildungssystems, das allen
Kindern offensteht, unterstützt den Demokratisierungs-
prozess wesentlich.
Ich habe vor einigen Monaten Pakistan besucht.
Meine Gesprächspartner dort haben mich darum gebeten,
zu erreichen, dass Deutschland in Regierungsverhandlun-
gen mit Pakistan darauf dringt, dass das Blasphemiegesetz
außer Kraft gesetzt wird. Dieses dient zur Denunziation
und Verfolgung von Einzelnen und von Gruppen, die
sich für die demokratische Entwicklung Pakistans ein-
setzen.
Die Taangh Wasaib Organisation in Sargodha führt
Rechtsberatungsprojekte für Frauen im ländlichen Punjab
durch. Über 50 Dörfer sind daran beteiligt. Das Beson-
dere daran ist, dass die Entwicklung der Frauen spürbare
Entwicklungen in der gesamten Region angestoßen haben.
Demokratische Entwicklung braucht alle Menschen im
Land. Deshalb müssen insbesondere die Rechte von
Frauen und Mädchen gestärkt werden. Dies muss sich in
der Verfassung niederschlagen.
Johannes Pflug (SPD): Ich beginne mit einer guten
Nachricht: Die Wiedereinsetzung des Obersten Richters
Chaudhry durch den pakistanischen Staatspräsidenten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23331
(A) (C)
(B) (D)
Zardari hat die innenpolitische Krise vorerst beendet und
Ruhe geschaffen für einen Neubeginn des Demokratisie-
rungsprozesses. Das ist eine gute Nachricht, aber wir
dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen und mit verklärtem
Blick auf eine demokratische Entwicklung warten.
Präsident Zardari hat die verfassungswidrige Abset-
zung Chaudhrys durch Ex-Militärherrscher Musharraf
nicht aus demokratischer Überzeugung rückgängig ge-
macht, und er wollte schon gar kein Wahlversprechen
einlösen. Die Reformkräfte in Pakistan haben ihm keine
Wahl gelassen. Diese Kräfte sind tief verankert in der pa-
kistanischen Gesellschaft: Juristen, Menschenrechtler,
Gewerkschaftler, die Oppositionspartei PML-N und so-
gar sein eigener Ministerpräsident Gilani und letztlich
auch Armeechef Kyani. Der Fall Chaudhry zeigt: Diese
Reformkräfte können demokratische Entwicklungen er-
zwingen. Realismus bleibt aber das Gebot der Stunde,
das Land steht vor großen Problemen.
Pakistan steckt in einer schweren Wirtschaftskrise,
die unsere Krise in Deutschland wie einen Aufschwung
wirken lässt. Im vergangenen Herbst verhinderte nur ein
Kredit des IWF über 7,6 Milliarden US-Dollar einen fi-
nanziellen Zusammenbruch des Landes. In diesem Jahr
braucht Pakistan ein Wachstum von mindestens 6,5 Pro-
zent, um die Zahl der Arbeitslosen nicht weiter anwach-
sen zu lassen. Prognostiziert für das laufende Jahr sind
allerdings bestenfalls 2,5 Prozent.
Gleichzeitig muss das Land ein akutes Flüchtlings-
problem bewältigen. Hunderttausende Menschen aus
den FATA-Gebieten und aus dem Swat-Tal flüchten nach
Peschawar, Islamabad, Lahore und vor allem nach Kara-
chi. Dort werden bereits mehr als 1,3 Millionen Paschtu-
nen vermutet, die auf eine Bevölkerungsgruppe mit Mi-
grationshintergrund aus Indien treffen. Diese wird reprä-
sentiert durch die MQM, eine Partei, die in der Vergan-
genheit durch militante Mitglieder auffiel.
Ein dritter schwerer Konflikt schwellt im Panjab. Seit
dem Disqualifikationsurteil gegen die beiden Sharif-
Brüder am 25. Februar wird die Provinz an der Grenze
zu Indien von einem Gouverneur regiert, den der Staats-
präsidenten mit aller Kraft durchgesetzt hat – und nur am
Rande sei erwähnt: der ein guter Bekannter von Zardari
ist. Dies stellt im traditionellen Stammesgebiet der
PML-N eine große Provokation dar. Premierminister
Gilani hat bereits eine Revision gefordert.
Der Panjab-Konflikt kann für Präsident Zardari exis-
tenziell werden. Zum Zweiten hängt seine Zukunft von
den Entscheidungen des Obersten Richters Chaudhry
ab. Dieser könnte den Prozess gegen Zardari ebenso
wieder aufgreifen wie den Prozess gegen Ex-Präsident
Musharraf. Sollte er das tun, könnte das Militär aber
auch noch eingreifen.
Das sind aber nur die innenpolitischen Krisenherde.
Außenpolitisch ist die Atommacht Pakistan für die Si-
cherheit Süd- und Zentralasiens von großer Bedeutung,
insbesondere für die Entwicklung im benachbarten Af-
ghanistan und in Indien. Die erfolgreiche Bekämpfung
der Terroristen auf pakistanischem Boden und die innere
Stabilität Pakistans sind daher eine wesentliche Voraus-
setzung für den Erfolg der ISAF-Mission der NATO in
Afghanistan.
Die Bundesregierung hat im Jahr 2007 die deutsche
Doppelpräsidentschaft in EU und G 8 für eine Initiative
zur Stabilisierung der Lage in Pakistan genutzt – insbe-
sondere in den Stammesgebieten und in der Grenzregion –
sowie zur Verbesserung der Kooperation mit Afghanis-
tan. Sie ist zudem in der Ende September 2008 gegrün-
deten Gruppe der „Freunde des demokratischen Pakis-
tans“ engagiert, welche die internationale Unterstützung
für Pakistan in den Bereichen Sicherheit, Entwicklung,
Energie und Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen bes-
ser abstimmen soll. Gleichzeitig hat die Bundesregie-
rung Pakistan zu einem Schwerpunkt der Entwicklungs-
politik gemacht. Meine Kollegin Christel Riemann-
Hanewinkel wird zu diesem Thema gleich noch alles
Wichtige sagen.
Wir müssen Pakistan bei seinem Aufbau weiter unter-
stützen. Im Bildungsbereich müssen die Grundbildung
als Alternative zum Unterricht in den Madrassas und
auch die Berufsbildung ausgebaut werden. Wir können
helfen, die pakistanische Wirtschaft zu entwickeln und
für die Menschen ein Mindestmaß an sozialer Fürsorge
und Sicherheit zu schaffen. In das öffentliche Gesund-
heitssystem beispielsweise investierte das Land nur
0,5 Prozent seines BIP.
Wir müssen aber vor allem alles tun, um die Zivilge-
sellschaft und die Reformkräfte in Pakistan zu unterstüt-
zen. Sie haben gerade im Fall Chaudhry gezeigt, dass sie
für eine Demokratisierung kämpfen können. Das kann
nur in unserem Interesse sein. Eine friedliche Stabilisie-
rung des Landes ist die beste Grundlage für eine weitere
demokratische Entwicklung.
Noch eine Anmerkung zum Schluss: Die Anerken-
nung des Rechts der Scharia im Swat-Tal mag zwar ver-
fassungsgemäß und auch historisch nachvollziehbar
sein, aber sie ist eine Teilkapitulation gegenüber den Is-
lamisten und Radikalen im Land. Ich behaupte, sie ist
ein umgefallener Dominostein. Es dürfen keine weiteren
folgen.
Elke Hoff (FDP): Der vorliegende Antrag der Regie-
rungsfraktionen enttäuscht. Die Regierungsfraktionen
scheinen sich inzwischen auch in der Außen- und Si-
cherheitspolitik nur noch auf einen Minimalkonsens ver-
ständigen zu können. Wenn dieser Antrag die Bilanz der
Pakistan-Politik der Großen Koalition sein soll, wäre
dies ein Armutszeugnis. Dass die Bundesregierung die
Doppelpräsidentschaft Deutschlands in EU und G 8 für
eine Initiative zur Stabilisierung der Lage in Pakistan ge-
nutzt haben soll, ist mir leider entgangen. Dabei hätte ich
mir diese ausdrücklich gewünscht. Auch der Verweis auf
die Gründung der Gruppe „Freunde des demokratischen
Pakistans“ überrascht mich. Nach meinem Kenntnis-
stand haben sich die Aktivitäten dieser Gruppe auf die
Gründung und eine einzige rein prozedurale Arbeitssit-
zung im November letzten Jahres beschränkt.
Bis heute ist für mich keinerlei Pakistan-Strategie der
Bundesregierung erkennbar. Eine mehr oder weniger zu-
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treffende Bestandsaufnahme kann eigene Aktivitäten
nicht ersetzen. Es genügt nicht, immer wieder Pakistan
als einen Schlüssel zur Lösung der Probleme in der
Region zu benennen, wenn der Analyse dann kaum kon-
krete Projekte folgen. Pakistan hofft auf deutsche Unter-
stützung bei der weiteren Stabilisierung und Demokrati-
sierung des Landes. Deutschland ist hierbei als ehrlicher
Makler hochwillkommen.
Wenn Deutschland einen Beitrag zur Stabilisierung
Pakistans leisten will, muss es auch möglich sein, die pa-
kistanischen Sicherheitskräfte, insbesondere die Grenz-
polizei, sowohl bei deren Ausbildung als auch bei der
Ausstattung zu unterstützen. Pakistan muss vor allem
auch durch internationale Rückendeckung in die Lage
versetzt werden, die Proliferation von sensiblem Wissen
und Technologien an nichtstaatliche Akteure zu verhin-
dern. Hier war Pakistan in der Vergangenheit zu anfällig,
wie der Erfolg des Khan-Netzwerkes gezeigt hat. Ich
möchte die Bundesregierung ermuntern, die Anstrengun-
gen beim Ausbau der bilateralen Beziehungen deutlich zu
verstärken.
Ich hoffe sehr, dass neue Impulse für ein stabileres
Pakistan auch von der Afghanistan-Konferenz in Den
Haag ausgehen werden. Es ist aus meiner Sicht alterna-
tivlos, eine internationale Strategie zur Stabilisierung
und Entwicklung der pakistanischen und zugleich der
afghanischen Wirtschaft kurzfristig auf den Weg zu brin-
gen. Dies bedeutet neben der Entwicklung von lokalen
und regionalen Märkten auch die Öffnung westlicher
Märkte für Produkte aus beiden Ländern. Lob verdient
der Antrag deshalb auch dafür, dass sich die Regierungs-
fraktionen für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen
zum Iran einsetzen und sich damit auch wohltuend von
der Iran-Politik der Bundesregierung absetzen.
Ein weiterer gravierender Konfliktherd Pakistans ist
die mangelhafte Versorgung mit Energie und Elektrizität.
Die Gasversorgung über eine neue Pipeline aus dem Iran
wird von der internationalen Gemeinschaft bisher nicht
gerade unterstützt, sodass die pakistanische Regierung
kaum eine Alternative zu chinesischer Atomenergie hat,
um die 170 Millionen Bürger mit Energie zu versorgen.
Gerade deshalb streut die Ausnahmeregelung der Nu-
clear Suppliers Group zum Handel mit Nukleartechnolo-
gie für den indischen Nachbarn hier besonders Salz in
die Wunde.
Gerade in dem Bereich der Energieversorgung könnte
Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung
Pakistans leisten. Hilfe bei der konzeptionellen Entwick-
lung und beim technologischen Ausbau erneuerbarer
Energien wäre auf pakistanischer Seite hochwillkommen.
Der Bau und die Wartung dieser Anlagen vor Ort würden
mittelfristig neue Arbeitsplätze generieren und knappe
Ressourcen schonen.
Ein weiterer Bereich, der eine Stabilisierung des Lan-
des gefährdet, ist das hohe Ausmaß an Analphabetismus
sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Eine breit
angelegte, gut strukturierte Alphabetisierungskampagne,
verbunden mit der Unterstützung beim Aufbau funktio-
nierender staatlicher Schulen und entsprechender Curri-
cula unter Berücksichtigung religiöser Befindlichkeiten,
könnte ein äußerst sinnvoller Beitrag der internationalen
Gemeinschaft sein. Der Charakter dieser Anstrengungen
müsste jedoch weit über einen Projektcharakter hinausge-
hen und langfristig angelegt sein.
Uns sollte Mut machen, dass Pakistan trotz des verbrei-
teten Analphabetismus auch über ein großes Reservoir
an gut ausgebildeten jungen Menschen verfügt, die Teil
einer zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Elite
sein können und wollen. Mit diesen Hoffnungsträgern
muss ein intensiver Dialog aufgenommen werden.
Von einer Stabilisierung Pakistans kann, insbesondere
in den teilautonomen Stammesgebieten im Nordwesten
des Landes, leider immer noch keine Rede sein. Der zu-
nehmende Verlust der Kontrolle im Swat-Tal, die An-
griffe auf Nachschublager und Nachschubwege der
ISAF am Khaiberpass und die große Zahl ziviler Ver-
luste bei Gefechten zwischen Extremisten und den pa-
kistanischen Sicherheitskräften machen wenig Mut.
Auch hier schweigt der Antrag der Regierungsfraktionen.
Ein Pakistan-Antrag, der kein Wort über die Operationen
der amerikanischen Partner in den Stammesgebieten ver-
liert, ist schlicht ungenügend. Die nationale Souveränität
Pakistans ist zu achten. Auf der anderen Seite wäre es
aber auch hilfreich, wenn die pakistanische Regierung ge-
genüber der eigenen Bevölkerung offener kommunizieren
würde, dass sie mitunter auf die militärische Kooperation
mit den USA und anderen Partnern im Kampf gegen Ex-
tremisten und Terroristen im eigenen Land angewiesen ist.
Darüber hinaus ist sich Pakistan aber zunehmend be-
wusst, dass es einen eigenen Beitrag zur Bekämpfung
des internationalen Terrorismus leisten muss. Es besteht
auch die Bereitschaft Pakistans, dabei militärische Mittel
einzusetzen. Damit dies aber in der Praxis auch Erfolg
haben kann, muss die pakistanische Bevölkerung diesen
Kampf gegen Extremisten und Terroristen als ein ureigenes
Anliegen begreifen. In der Vergangenheit war dies leider
nicht der Fall. Die Wahrnehmung innerhalb der pakistani-
schen Bevölkerung, dass das Vorgehen der pakistanischen
Regierung und der Sicherheitskräfte lediglich stellvertretend
und im Auftrag der US-Amerikaner erfolge, ist fatal.
Ohne Frage ist Pakistan auch ein Jahr nach den Wahlen
weiterhin von stabilen demokratischen Verhältnissen,
wie wir sie uns vorstellen, entfernt. Daher brauchen wir
Geduld und sollten unsere Erwartungen an die Geschwin-
digkeit von Modernisierungsprozessen auf ein realistisches
Maß reduzieren. Nur wenn wir die gesellschaftlichen und
kulturellen Besonderheiten Pakistans verstehen, wird ein
Dialog mit Pakistan Erfolg haben können.
Pakistan steht nicht an der Grenze zum Staatszerfall,
und die Nuklearwaffen drohen derzeit auch nicht in die
Hände von Extremisten zu fallen. Auch wenn sich die
Rolle des Militärs in Pakistan mit unseren Vorstellungen
von Streitkräften innerhalb einer Demokratie nicht ver-
einbaren lässt, so muss man aber konstatieren, dass es
auch in den Zeiten größter Instabilität die Kontrolle über
die pakistanischen Nuklearwaffen sichergestellt hat.
Die Wahlen im letzten Jahr haben gezeigt, dass die
Masse der pakistanischen Bevölkerung die Islamisten
nicht will und politisch nicht unterstützt. Sie haben nur
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23333
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einen Sitz im Parlament errungen und haben darüber hi-
naus in den paschtunischen Stammesgebieten an der
Grenze zu Afghanistan und in der Nordwestprovinz ihre
Regierungsbeteiligung verloren. Die Bewegung der
Rechtsanwälte hat in den letzten Monaten gezeigt, dass
es auch außerhalb der Parteien ein großes zivilgesell-
schaftliches Potenzial in Pakistan gibt.
Hierauf sollte die internationale Gemeinschaft aufbauen.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Der Antrag der
Regierungskoalition „Pakistan stabilisieren und seine
demokratische Entwicklung vorantreiben“ verdient es,
um diese Uhrzeit behandelt zu werden: ein nichtssagen-
der, langweiliger Antrag. In jeder Tageszeitung kann
man mehr und Besseres zum Thema lesen. An irgendei-
ner Stelle des Antrages stellen die Antragsteller fest:
„Die Bundesregierung hat Pakistan zu einem Schwer-
punkt ihrer Außen- und Entwicklungspolitik gemacht.“
Wenn Schwerpunkte so aussehen, möchte ich nicht wis-
sen, wie die Außen- und Entwicklungspolitik gegenüber
Ländern gestaltet werden soll, die kein Schwerpunkt
sind.
Das Interessanteste an diesem Antrag sind die The-
men, die nicht angesprochen werden: Der Antrag setzt
sich in keiner Weise mit den völkerrechtswidrigen An-
griffen der US-Armee auf pakistanische Grenzregionen
zu Afghanistan auseinander. Unter den Forderungen an
die Bundesregierung fehlt dann selbstverständlich auch
die Aufforderung, gegenüber den Vereinigten Staaten
von Amerika eine verbindliche Aussage über die Ein-
stellung dieser Handlungen zu fordern. Zu Recht wird
auf das gespannte Verhältnis zwischen Indien und Pakis-
tan hingewiesen. Aber die Antragsteller verweigern sich
einer Auseinandersetzung darüber, dass die deutsche Zu-
stimmung zum Atom-Deal Indien–USA eben diese
Spannungen verschärft und nicht zur Entspannung in der
Region beigetragen hat. Es scheint so, dass nach wie vor
Forderungen an die USA für die deutsche Bundesregie-
rung und die sie tragende Koalition tabu sind. Mehr Mut,
liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter der Präsident-
schaft Barack Obamas darf man auch die US-Adminis-
tration kritisieren.
Tatsache ist doch, dass die Luftangriffe auf pakistani-
sches Territorium nicht dazu beigetragen haben, den Ter-
rorismus zu bekämpfen, sondern terroristischen Organi-
sationen Zulauf verschaffen und Rechtfertigung bieten.
Tatsache ist auch, dass der Atom-Deal zwischen den
USA und Indien der Glaubwürdigkeit der gesamten
Nichtweiterverbreitungspolitik schweren Schaden zuge-
fügt hat. Notwendig wäre gewesen, immer wieder auf
Pakistan und auf Indien mit der Forderung nach atoma-
rer Abrüstung einzuwirken.
Ich weiß nicht, ob die Koalitionsfraktionen mittler-
weile deutsche Rüstungslieferungen unter den Begriff
Entwicklungszusammenarbeit subsumieren. Dieses Thema
taucht im Antrag der Koalitionsfraktionen überhaupt
nicht auf. Das lässt verschiedene Schlussfolgerungen zu:
Entweder ist Ihnen das Thema so peinlich, dass sie nicht
darüber reden wollen, oder Sie wollen verheimlichen,
dass an der Rüstungszusammenarbeit nichts geändert
werden soll. Ich stelle fest: Deutschland exportiert Waf-
fen in ein Spannungsgebiet. Dass Pakistan ein Span-
nungsgebiet ist, kann man selbst in Ihrem Antrag nachle-
sen.
Völlig lieblos wird in Ihrem Antrag die Idee einer re-
gionalen Sicherheitskonferenz als ein Beitrag zur Been-
digung des Krieges in Afghanistan behandelt. Die Linke
hat seit Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass
die Bundesregierung Initiativen für eine solche Konfe-
renz auf den Weg bringen muss. Das hat sich inzwischen
die Shanghai-Organisation zu eigen gemacht. Es ist ein
wichtiger Schritt, wenn Afghanistan, Pakistan und In-
dien, der Iran, Russland und China sowie zentralasiati-
sche Staaten zusammentreten und über Sicherheit in der
Region beraten. Im Zentrum dieser Beratungen stehen
Möglichkeiten, den Afghanistan-Krieg zu beenden. Ein
Ende des Krieges in Afghanistan stabilisiert auch Pakis-
tan.
Die neue US-Regierung stellt sich positiv zum Ge-
danken der regionalen Sicherheit. Zumindest das hätte
die Regierungskoalition zu mehr Überlegungen als den
dürftigen Punkt 6 ihres Antrages führen können. Nota-
bene: Ein originärer deutscher Beitrag zu einer regiona-
len Sicherheitskonferenz könnte die Ankündigung des
Abzuges deutscher Soldaten aus Afghanistan sein. Das
wiederum ist von der jetzigen Bundesregierung nicht zu
erwarten. Regionale Sicherheitsstrukturen können auch
einen Einfluss auf die gewaltsame Auseinandersetzung
um Kaschmir nehmen.
Solche Vorschläge können Sie alle bei der Linken
nachlesen. Unsere Vorschläge mindern die Gefahren mi-
litärischer Konflikte und sind insofern auch geeignet,
Terrorismus wirksam zu bekämpfen.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Koalition hat einen Antrag zum Thema „Pakistan
stabilisieren und demokratische Entwicklung vorantrei-
ben“ vorgelegt. Damit kommt bereits die gestiegene
Aufmerksamkeit für Pakistan auch seitens der deutschen
Politik zum Ausdruck, was nicht zuletzt mit den wieder
gewachsenen Spannungen zwischen Pakistan und Indien
nach den Anschlägen in Mumbai im September 2008,
vor allem aber mit den bekannten Verbindungen zur
schwierigen Sicherheitslage in Afghanistan zusammen-
hängt.
Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, dass
die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen vor
ziemlich genau einem Jahr, im April 2008, einen ähnli-
chen Antrag vorgelegt hat, der von den Koalitionsfrak-
tionen abgelehnt wurde. Der Titel lautete: „Für eine um-
fassende Strategie zur demokratieverträglichen und
zivilgesellschaftlichen Stabilisierung Pakistans“. Die
Ähnlichkeit des Titels mit dem heute diskutierten Antrag
der Koalitionsfraktionen ist schon frappierend. Und im
September 2008 haben wir einen Antrag eingebracht mit
dem Titel „Kontraproduktive US-Operationen in Pakis-
tan sofort einstellen – Umfassende Strategie zur Stabili-
sierung Pakistans entwickeln“. Viele unserer Forderun-
gen finden sich jetzt auch im Antrag der Koalition
wieder: vor allem die Forderung, Pakistans Weg Rich-
23334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
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tung Rechtsstaatlichkeit und mehr Demokratie nach der
Ära Musharraf zu unterstützen. Hier sind wir uns einig.
Dazu muss die pakistanische Regierung die notwendigen
Reformen durchführen. Die internationale Gemeinschaft
muss diesen Weg unterstützen, denn wir alle wissen,
dass eine Eindämmung extremistischer Rückzugsorte
vor allem in den Stammesgebieten und dem Grenzgebiet
zu Afghanistan und ein dauerhaft stabiles Pakistan
Grundvoraussetzungen nicht nur für eine Verbesserung
der Lage in Afghanistan, sondern auch für Stabilität in
der ganzen Region sind. Dazu ist ein weiterer Ausbau
der Entwicklungszusammenarbeit, vor allem Investitio-
nen in Bildung und die wirtschaftlichen Perspektiven des
Landes notwendig.
Hoffnung gibt die jüngste Entwicklung und die Wie-
dereinsetzung des Obersten Richters Iftikhar Chaudhry
nach den landesweiten Demonstrationen der Anwälte-
und Richterbewegung. Pakistan ist nicht nur das poten-
ziell „gefährlichste Land der Welt“, wie es dieser Tage
manchmal heißt – es ist auch ein Land mit ungeheurem
Potenzial, einer breiten Zivilgesellschaft und einer be-
merkenswert unabhängigen Medienlandschaft. Im Be-
reich dieser Zivilgesellschaft würden wir uns noch mehr
positives Engagement der internationalen Gemeinschaft,
der EU und der Bundesrepublik wünschen. An mögli-
chen Partnern mangelt es in Pakistan nicht. Die Men-
schenrechte und die Lage der Frauen müssen dabei noch
mehr in den Mittelpunkt rücken und als Schwerpunkt
nachhaltig gefördert werden.
Ich will aber auch deutlich sagen, was wir in dem An-
trag der Koalition vermissen: Dazu zählt ein klares Be-
kenntnis im Antrag, diese Spannungsregion mit einer
deutlichen Absage an Rüstungslieferungen nicht zu be-
lasten. Wer in der jetzigen Situation Rüstungsexporten
nach Pakistan oder Indien zustimmt, handelt unverant-
wortlich und nimmt das Risiko in Kauf, die wachsenden
Spannungen zwischen den beiden Nuklearmächten an-
zuheizen.
Es fehlt auch eine neue strategische Ausrichtung. Es
gibt zwar jetzt einen Beauftragten des Auswärtigen Am-
tes, Bernd Mützelburg, für Afghanistan und Pakistan,
was wir begrüßen. Aber während die neue US-Regie-
rung ihre bisherige Politik umfassend evaluiert und in
Kürze bei der Afghanistan-Konferenz in Den Haag die
Ergebnisse vorstellen wird, bleibt unklar, welche umfas-
senden strategischen Konzepte für Pakistan und die Re-
gion die Bundesregierung eigentlich anstrebt. Dass zeigt
sich zum Beispiel bei der Frage nach effektiver Terroris-
musbekämpfung in Afghanistan und Pakistan. Im An-
trag heißt es dazu, dass es hier eines „neuen Ansatzes“
bedürfe. Eine Antwort, was damit gemeint ist, bleibt der
Antrag aber schuldig. Kritisch beschrieben wird das
jüngste Abkommen der pakistanischen Regierung mit
Taliban-Kräften in der Region Swat. Eine kritische Be-
trachtung dieser Vereinbarung ist angebracht, da mit ihr
die Legitimität einer konservativen Auslegung von
Sharia-Recht bereits zur Ermordung Oppositioneller und
einer drastischen Verschlechterung der Menschenrechts-
lage geführt hat. Wer eine neue Strategie der Terroris-
musbekämpfung einfordert, der muss aber auch die
Frage möglicher Verhandlungen ausloten, gerade wenn
der neue US-Präsident das Thema der Verhandlungen
mit sogenannten „gemäßigten Taliban“ prominent ange-
sprochen hat.
Das Thema der anhaltenden US-Luftangriffe mit
Drohnen auf mutmaßliche Taliban-Stützpunkte in den
Stammesgebieten wird im Antrag der Koalition schlicht
ausgespart. Mit diesen Angriffen über die Grenze nach
Pakistan hinweg setzt die Obama-Regierung die Präven-
tivschlag-Strategie der Bush-Regierung fort. Laut Pres-
seberichten denkt sie sogar über eine Ausweitung nach.
Diese Angriffe, bei denen wiederholt auch Zivilisten
ums Leben kamen, drohen die Autorität der pakistani-
schen Regierung zu untergraben und so kontraproduktiv
zu wirken. In dieser Frage erwarten wir eine klare Hal-
tung der Bundesregierung, die einem nicht völkerrechts-
konformen Vorgehen bei der Terrorismusbekämpfung
eine klare Absage erteilt.
Dies steht in engem Zusammenhang mit der unge-
klärten Frage der OEF-Einsätze in Afghanistan, die
keine ausreichende völkerrechtliche Grundlage mehr ha-
ben, sondern die Legitimität des gesamten Einsatzes ge-
fährden. Dass diese Debatte, welche Bündnis 90/Die
Grünen schon seit 2006 zu führen versuchen, alles an-
dere als eine Phantomdebatte ist, hat der jüngste Vorfall
in Kundus gezeigt: Zum wiederholten Male sind Zivilis-
ten bei einem geheimen Kommandoeinsatz getötet wor-
den, diesmal im deutschen Zuständigkeitsbereich. Dass
die deutschen ISAF-Verantwortlichen gar nicht infor-
miert waren und mit dem Bürgermeister einer ihrer
wichtigsten Partner zur Angriffsfläche wird, ist eine ab-
surde und unhaltbare Situation, welche die gesamten
Aufbaubemühungen gefährdet. Die Bundesregierung hat
sich bisher geweigert, dazu kritisch Stellung zu nehmen.
Ein Festhalten am Status quo ist keine Lösung. Wir müs-
sen diese schwierigen Fragen offen mit den Partnern dis-
kutieren und die richtigen Antworten darauf finden,
wenn wir nicht in Kauf nehmen wollen, dass die Aus-
sichten auf eine Stabilisierung in der Region noch
schlechter werden. Die Chancen dafür, zum Beispiel auf
dem bevorstehenden NATO-Gipfel, müssen unbedingt
genutzt werden.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des
– Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände-
rung des Telekommunikationsgesetzes
– Antrags: Möglichkeiten missbräuchlicher
Ortung von Mobiltelefonen mittels privater
Anbieter begegnen
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Die Telekom-
munikationsbranche lebt und entwickelt sich rasant wei-
ter. Es ist klar, dass bei dem Innovationstempo auch der
rechtliche Rahmen von Zeit zu Zeit überprüft werden
muss. Dies hat die Große Koalition mit dem vorliegenden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23335
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Gesetz erfolgreich getan: Wir schaffen den rechtlichen
Rahmen für Innovation und einen zeitgemäßen Verbrau-
cherschutz. Gerade dieses Gesetz zeigt, dass wir Ver-
braucherschutz und Innovation so kombiniert haben,
dass sie sich gegenseitig befruchten und nicht behindern.
Ein weiterer wichtiger Baustein des Gesetzes ist die
Fortführung des Vermittlungsdienstes für Menschen mit
Hörbehinderungen.
Ich will auf die aus meiner Sicht wichtigsten Punkte
eingehen:
Zunächst möchte ich auf einen Missstand zu sprechen
kommen, der ehrliche Unternehmen schädigt und dem
Verbraucher Leistungen aufzwingt, die er nicht möchte:
Zurzeit muss die Betreibervorauswahl vom Netzbetreiber
schon dann umgestellt werden, wenn ein Unternehmen
dem Netzbetreiber mitteilt, dass ein bestimmter Kunde
sich für eine Betreibervorauswahl zu seinen Gunsten
entschieden hätte. So weit, so gut. Einige unseriöse Unter-
nehmen haben daraus dann ein Selbstbedienungsmodell
zu Lasten aller anderen Beteiligten entwickelt:
Alles beginnt ganz harmlos. Eine freundliche Stimme
fragt, ob man nicht ohne lästige Sparvorwahl günstig tele-
fonieren möchte. Dann ist gleichgültig, was geschieht:
Selbst wenn Sie „Nein“ ins Telefon brüllen oder die Ver-
bindung unterbrechen, teilen die unseriösen Unterneh-
men dem Netzbetreiber mit, dass Sie in Zukunft die Ge-
spräche über dieses Unternehmen abwickeln wollten.
Der Netzbetreiber stellt um, die Kunden erhalten keine
Nachricht. Sie merken erst, wenn die ersten Rechnungen
vom Netzbetreiber und vom unseriösen Unternehmen
kommen, dass irgendetwas nicht stimmt und sie Opfer
krimineller Machenschaften geworden sind. Dann müssen
die Kunden, oft ältere Menschen, von Pontius zu Pilatus
laufen, um den Ursprungszustand wiederherzustellen.
Geschädigt werden durch diese sogenannten unterge-
schobenen Verträge nicht nur die Verbraucher, sondern
auch ihre ursprünglichen Vertragspartner, die durch die
Skrupellosigkeit der „schwarzen Schafe“ Kunden verlieren.
Diesem Missbrauch schieben wir heute einen Riegel
vor. Die Erklärung der Teilnehmer zur Einrichtung oder
Änderung der Betreibervorauswahl oder die Vollmacht
zur Abgabe dieser Erklärung bedarf zukünftig der Text-
form. Der Netzbetreiber stellt nur um, wenn eine schrift-
liche Erklärung des Konsumenten vorliegt – das kann
eine Mail, eine SMS oder auch eine Postkarte sein. Sonst
tut sich gar nichts. Auch wenn der eine oder andere
Marktteilnehmer es lieber gehabt hätte, wenn nur eine
notariell beglaubigte Erklärung wirksam wäre, glaube
ich, dass wir hier die Balance zwischen dem Schutz der
Verbraucher und der redlichen Marktteilnehmer einerseits
und der Akquisitionsmöglichkeiten für Wettbewerber
andererseits gewahrt haben. Hier zeigt sich wieder, dass
der Schutz der Lauterkeit des Wettbewerbs in vielen Fällen
auch der beste Schutz der Konsumenten ist. Klarheit und
Wahrheit im Geschäftsleben nützt allen.
Bitte lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch
auf den nächsten großen Themenkomplex kommen: Die
Strukturierung des Raumes der 0180er-Rufnummern für
Servicedienste, die zum Beispiel Versandhändler, Versi-
cherungen, die Post und viele andere Dienstleister nutzen.
Die preiswerten Servicedienste, bei denen der Preis nicht
– wie bei den 0900er-Nummern – vorher angesagt werden
muss, müssen von den wesentlich teureren Premium-
diensten abgegrenzt werden. Bisher hat die Bundesnetz-
agentur gemäß § 67 Abs. 2 TKG Preishöchstgrenzen für
Anrufe aus dem Festnetz bei Servicediensten festgelegt.
Eine Preishöchstgrenze für Anrufe von Handys gibt es
zurzeit nicht, das heißt, Sie wissen nie genau – wenn Sie
vorher nicht die geradezu sprichwörtlich transparenten
Preisübersichten der Mobilfunkunternehmen studiert ha-
ben –, wie teuer das Gespräch eigentlich ist. Und das
kann ins Geld gehen: Bis zu 87 Cent pro Minute werden
derzeit für solche Anrufe in Rechnung gestellt. Dies ist
unter dem Gesichtspunkt der Transparenz durchaus ver-
besserungsbedürftig.
Wir haben uns dafür entschieden, für Anrufe bei Ser-
vicediensten aus dem Festnetz eine Preishöchstgrenze
von 14 Cent pro Minute oder 20 Cent pro Anruf fest-
zulegen. Dies orientiert sich an den von der Bundesnetz-
agentur schon bisher festgelegten Preisen. Um den
Raum der 0180er-Rufnummern abschließend zu struktu-
rieren, haben wir uns auch für Preishöchstgrenzen für
Anrufe aus den Mobilfunknetzen entschieden. Mit Regu-
lierung hat das nichts zu tun. Solche Behauptungen wer-
den auch nicht durch ständige Wiederholungen wahrer.
Wir haben uns für Preisobergrenzen für den Mobil-
funk auf 42 Cent pro Minute oder 60 Cent pro Anruf ent-
schlossen. Damit tragen wir nicht nur den grundsätzlich
anderen Kostenstrukturen im Mobilfunk Rechnung, son-
dern auch dem Vertrauen der Anbieter in ihre Geschäfts-
modelle. Es wird allzu leicht vergessen, dass es hier
nicht nur um die vier Mobilfunkanbieter geht, sondern
auch um eine Vielzahl kleiner und mittelständischer
Unternehmen, die die nachgefragten Dienstleistungen
erbringen. Bei der ursprünglichen Vorgabe des Regie-
rungsentwurfs wären hier existenzbedrohende Margen-
schrumpfungen nicht auszuschließen gewesen. Es er-
schien uns auch nicht angebracht, die Innovations- und
Investitionskraft der Mobilfunker durch eine überzogene
Preishöchstgrenze zu schwächen. Deutschland braucht
starke und leistungsfähige Mobilfunkanbieter, die auch
die Erschließung des ländlichen Raumes mit schnellen
Internetzugängen schultern können.
Das Gesetz ermöglicht innovative Geschäftsmodelle.
Viele Menschen in der Bundesrepublik haben inzwi-
schen keinen Festnetzanschluss mehr, sondern telefonie-
ren ausschließlich mobil. Dies führt dann aber auch sehr
oft dazu, dass diese Mobilfunkanschlüsse nicht mehr in
den Verzeichnissen der Telefonauskunft enthalten sind.
Wir ebnen jetzt den Weg dafür, dass man andere Mobil-
funkteilnehmer, deren Nummern man nicht weiß und
auch nicht erfragen kann, trotzdem erreichen kann. Sie
rufen bei einem Dienst an und erbitten eine Mobilfunk-
nummer. Weil der Dienst die nicht herausgeben darf,
schickt er dem angefragten Mobilfunkteilnehmer eine
SMS, in der er diesem Gesprächswunsch, Name und
Rückrufnummer übermittelt. Es muss gemäß § 95 Abs. 2
Satz 3 deutlich sichtbar und gut lesbar darauf hingewiesen
werden, dass der Teilnehmer der Versendung weiterer
Nachrichten jederzeit schriftlich oder elektronisch wider-
sprechen kann. Diese Pflicht ist bußgeldbewehrt. Nach
23336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
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erfolgtem Widerspruch ist die Übermittlung weiterer
Kontaktwünsche unzulässig. Es ist also eine Opt-out-Mög-
lichkeit gegeben. Dies ist wichtig, da niemand belästigt
werden soll. Der Mobilfunkteilnehmer hat nun drei Mög-
lichkeiten, auf die SMS mit der Rückrufbitte zu reagieren:
ignorieren, weiteren Nachrichten solcher Art widerspre-
chen oder aber zurückrufen. Dies ist ein Dienst, der in
unsere mobile Zeit passt. Ein Dienst, der den Menschen
nützt, innovativ ist und Arbeitsplätze sichert und schafft.
Mit besonderer Freude habe ich gesehen, dass die
FDP beim anderen TK-Thema, den Diensten, die auf der
Ortung eines Mobiltelefons basieren, die Linie der Großen
Koalition teilt. Die Standortdaten eines Handys können
heute leicht auch von Privatfirmen ermittelt werden und
für viele sinnvolle Dienste verwendet werden. Doch
auch hier gilt: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Unproblematisch sind Local Based Services, die dem In-
haber des Handys – insbesondere in der Fremde – das
Leben erleichtern. Die guten Feen aus der Welt der
Dienstleister nennen ihm in Windeseile die indischen
Restaurants, Werkstätten, Weinläden und vieles mehr in
der Nähe seines Standorts. Hinter den Kulissen spielt
sich Folgendes ab: Der Mobilfunkbetreiber übermittelt
die Standortdaten auf Wunsch des Nutzers dem Informa-
tionsdienst. Der wiederum übermittelt die gewünschten
Informationen dem Nutzer. Alle sind zufrieden.
Anders sieht es in den Fällen aus, in denen die Stand-
ortdaten Dritten oder anderen Mobilfunkteilnehmern
übermittelt werden. Hier besteht eine evidente Miss-
brauchsgefahr. Ich will Ihnen dies an zwei Beispielen
verdeutlichen: Person A überlässt ein Handy, das bei ei-
nem Ortungsdienst angemeldet ist, Person B. Dadurch
kann Person A Person B über die praktische und kosten-
günstige Ortungsflatrate kontrollieren und den Standort
von Person B erfahren. Oder: Ein Jugendlicher meldet
sich per SMS bei einem Dienst an, der es allen Mitglie-
dern seiner Clique erlaubt, sich über den Aufenthaltsort
der anderen zu informieren. Auch wenn er die lustige
SMS-Anmeldung längst vergessen hat, wird er geortet.
Wir wollen die Dienste, aber nicht deren Missbrauch.
Martin Dörmann (SPD): Heute ist ein guter Tag für
den Verbraucherschutz in Deutschland: Vor wenigen
Stunden haben wir im Bundestag das Gesetz zur Be-
kämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbes-
serung des Verbraucherschutzes bei besonderen Ver-
triebsformen verabschiedet.
Künftig können Verträge, die am Telefon abgeschlos-
sen worden sind, generell widerrufen werden. In der Ver-
gangenheit haben sich unseriöse Unternehmen immer
wieder über das bereits geltende Recht hinweggesetzt,
wonach telefonische Werbung verboten ist, wenn der
Angerufene zuvor nicht eingewilligt hat. Die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher dürfen nicht durch unerbe-
tene Werbung belästigt oder geschädigt werden. Schwar-
zen Schafen sagen wir nachdrücklich den Kampf an.
Verstöße werden künftig mit einem Bußgeld von bis zu
50 000 Euro bestraft.
Auch die Rufnummerunterdrückung bei Werbeanru-
fen ist nun verboten. Nur so lässt sich feststellen, wer
wirklich angerufen hat. Missachtungen werden mit einer
Geldbuße von bis zu 10 000 Euro geahndet.
Diese Maßnahmen sind notwendig geworden, um der
Fülle der vermeintlich oder tatsächlich untergeschobe-
nen Verträge entgegenzuwirken, die insbesondere ältere
Menschen getroffen hat. Nicht zuletzt stärken wir damit
alle seriösen Anbieter.
In dieser Debatte geht es um die Änderung des Tele-
kommunikationsgesetzes. Auch hier verfolgt die Große
Koalition das Ziel, die Verbraucherrechte zu verbessern
und mehr Sicherheit und Transparenz zu schaffen. Im
Bereich der Telekommunikation haben wir es mit einem
besonders dynamischen Markt zu tun. Neue technische
Möglichkeiten bringen immer wieder neue Geschäfts-
modelle hervor. Das ist prinzipiell gut so. Allerdings
muss der Gesetzgeber genau beobachten, wo es Ent-
wicklungen im Markt gibt, die unerwünscht sind, und
gegebenenfalls nachjustieren, um die Rechte der Tele-
fonkunden zu wahren oder zu stärken. Dabei müssen wir
insbesondere folgende Fragestellungen im Auge behal-
ten: Wo gibt es Fehlentwicklungen? Wie können die
Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam
gewahrt werden? Und wie können wir die Rahmenbe-
dingungen für die TK-Unternehmen so setzen, dass wir
die wirtschaftliche Dynamik in diesem Bereich nicht un-
nötig bremsen und auch weiterhin Anreize für Investitio-
nen setzen? Insgesamt geht es also darum, die notwen-
dige Balance zwischen einem freien Markt und
notwendigen Regulierungen zu wahren.
Ein gutes Beispiel hierfür sind die 0180er-Rufnum-
mern, die bisher „Geteilte-Kosten-Dienste“ heißen und
nun im Gesetz als „Service-Dienste“ bezeichnet werden.
Über diese Rufnummerngasse bieten die unterschied-
lichsten Organisationen und Unternehmen Dienstleistun-
gen an, von Banken und Versicherungen bis hin zu Be-
hörden. Die Kunden beziehungsweise die Bürgerinnen
und Bürger können über diese Nummern Informationen
oder andere Servicedienste abrufen. Es ist wichtig, diese
Rufnummerngasse so auszugestalten und zu strukturie-
ren, dass die Anrufenden wissen, welche Kosten bei der
Nutzung auf sie zukommen. Zugleich wollen wir unseriö-
se Anbieter, die nur ein möglichst gutes Geschäft ma-
chen wollen und den Rufnummernbereich zur „Tarnung“
nutzen, fernhalten. Aus diesem Grund gab es bislang
schon eine Preishöchstgrenze für Anrufer aus dem Fest-
netz in Höhe von 14 Cent pro Minute bzw. von 20 Cent
pro Anruf. Neu eingeführt haben wir nun auch eine
Preishöchstgrenze für Anrufe aus dem Mobilfunknetz,
und zwar in Höhe von 42 Cent pro Minute bzw. von
60 Cent pro Anruf. Zugleich muss der Höchstpreis für
einen Anruf aus den Mobilfunknetzen künftig angege-
ben werden. Mit dieser Regelung tragen wir verschiede-
nen Aspekten in angemessener Weise Rechnung: Der
von einem Handy Anrufende weiß nun, was ihn der An-
ruf höchstens kostet. Die unterschiedlichen Kosten für
die Unternehmen bei Festnetz und Mobilfunk werden
berücksichtigt. Zugleich bleibt den Unternehmen Spiel-
raum für Preiswettbewerb. Und es wird erreicht, dass ein
klarer Unterschied zur 0900er-Rufnummerngasse be-
steht, in der höhere Preise möglich sind.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23337
(A) (C)
(B) (D)
Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung waren niedrigere Höchstpreise für Anrufer aus dem
Mobilfunknetz vorgesehen, während die Mobilfunkun-
ternehmen natürlich am liebsten auf neue Preisobergren-
zen verzichtet hätten. Die nun gefundenen Beträge sind
aus Sicht der Koalitionsfraktionen ein ausgewogener
Kompromiss. Er wird der Zielsetzung der Bundesregie-
rung, keine Preisregulierung, sondern lediglich eine bes-
sere Strukturierung der Rufnummerngassen vorzuneh-
men, voll gerecht. Alle gesteckten Ziele werden erreicht,
ohne dass eine Überregulierung stattfindet, die die
Marktdynamik unnötig bremst. Wir wollen, dass die
Mobilfunkunternehmen auch in Zukunft im gesetzten
Rahmen mit unterschiedlichen Preisen in den Wettbe-
werb gehen können. Zugleich wollen wir Investitionsan-
reize nicht unnötig bremsen. Zudem ist die Vorleistungs-
kette in diesem Bereich zu berücksichtigen. Wir haben
es nämlich nicht nur mit den Telekommunikationsunter-
nehmen zu tun. Vielmehr werden die eigentlichen Tele-
fondienste von produzierenden Unternehmen erbracht,
die auch ausreichend am Umsatz partizipieren müssen.
Ein zu geringer Preis könnte den notwendigen Spielraum
für solche Dienste infrage stellen und somit bestimmte
Serviceleistungen gefährden. Zudem würde ein zusätzli-
cher Lohndruck auf die Beschäftigten entstehen, den wir
vermeiden wollen. Der nunmehr festgelegte Höchstpreis
wird diesen Gesichtspunkten gerecht. Dies ist auch ein
Ergebnis der erweiterten Berichterstatterrunde, an der
zahlreiche Experten und auch die Oppositionsfraktionen
teilgenommen haben.
Ich will einen zweiten Punkt nennen, bei dem wir
ebenfalls zwischen den Interessen der Unternehmen ei-
nerseits und den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und
Verbraucher andererseits einen vernünftigen Ausgleich
gefunden haben. In jüngerer Zeit werden zunehmend
Dienste angeboten, bei denen die Teilnehmer ihr Handy
orten lassen können und der Standpunkt verabredungs-
gemäß an Dritte weitergegeben wird. Beispielsweise ge-
schieht dies bei der Notfallortung älterer Menschen oder
verlorengegangener Kinder. Ein anderes nutzerfreundli-
ches Beispiel wird unter dem Begriff „Social Commu-
nity“ zusammengefasst: Hierbei lassen sich unterwegs
Freunde und Bekannte mit deren vorheriger Zustim-
mung lokalisieren, die der Handynutzer spontan treffen
oder besuchen will. Bislang genügte zur Beauftragung
eines solchen Dienstes eine entsprechende SMS des
Teilnehmers. Nun bewegen wir uns in diesem Bereich
allerdings in einem sensiblen Umfeld, bei dem es um
Datensicherheit geht. Möglichen Missbrauch durch
Dritte wollen wir unbedingt vermeiden. Aus diesem
Grund wird die Ortung eines Handys durch eine andere
Privatperson nun strengeren Vorgaben unterworfen. Zu-
künftig bedarf es einer schriftlichen und ausdrücklichen
Einwilligung des Teilnehmers, also des Inhabers der Te-
lefonnummer. Zudem muss der Diensteanbieter den Nut-
zer nach fünfmaliger Verwendung des Ortungsdienstes
informieren, sodass Kontrolle ermöglicht und Miss-
brauch ausgeschlossen wird. Damit wird der Gefahr vor-
gebeugt, dass beispielsweise ein Ehemann seiner Frau
hinterherspionieren kann oder umgekehrt. Denn selbst
wenn der Ehemann Inhaber des Handys sein sollte,
würde die betroffene Ehefrau als Nutzerin per Kurznach-
richt von der Ortung erfahren.
Die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher
werden künftig auch durch den Schutz vor untergescho-
benen Verträgen gestärkt. In der Vergangenheit war die
Form des „Slamming“, also des Unterschiebens von Ver-
trägen, zu einer ärgerlichen Abzocke geworden, der das
Gesetz den Garaus machen will. War es bisher so, dass
die Umstellung des Telefonanschlusses auf eine Betrei-
bervorauswahl (Preselection) praktisch auf Zuruf mög-
lich war, wird künftig das Textformerfordernis zu mehr
Rechtssicherheit bei allen Beteiligten führen. Viele Kun-
den hatten gar nicht bemerkt, dass sie die Erklärung zu
einem Vertragswechsel gegeben haben sollen, weil sie
am Telefon lediglich der Zusendung von Informations-
material zugestimmt hatten. So kam es in vielen Fällen
nicht nur zu berechtigtem Ärger bei den Betroffenen,
sondern auch zu juristischen Streitigkeiten. Flankiert
wird diese Maßnahme von dem bereits erwähnten Ge-
setz gegen unerlaubte Telefonwerbung, das ein allgemei-
nes Widerrufsrecht für am Telefon abgeschlossene Ver-
träge vorsieht.
Des Weiteren geht es im Gesetzentwurf um die wirk-
same Durchsetzung der europäischen Verordnung über
das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen. Diese
sieht beispielsweise vor, dass den Kunden im europäi-
schen Ausland für abgehende und ankommende Anrufe
keine überhöhten Preise in Rechnung gestellt werden.
Der Eurotarif soll ein hohes Verbraucherschutzniveau
garantieren und zugleich für eine ausreichende Gewinn-
spanne der beteiligten Unternehmen sorgen. Die tatsäch-
liche Umsetzung der Verordnung muss auf der nationa-
len Ebene sichergestellt werden. Hierzu sieht der
Gesetzentwurf Bußgelder bei Verstößen der Unterneh-
men vor. Außerdem werden die Befugnisse der Bundes-
netzagentur gestärkt. Die Regulierungsbehörde kann von
sich aus tätig werden, um die Einhaltung der Verordnung
zu gewährleisten, und kann bei Verstößen die sofortige
Beendigung anordnen.
Die Zahl der Mobilfunkverträge ist in den vergange-
nen Jahren rapide angestiegen. Inzwischen gibt es in
Deutschland mehr Handys als Einwohner. Im Gegensatz
zu den Inhabern von Festnetzanschlüssen sind die Han-
dybesitzer nur in geringem Umfang in den Teilnehmer-
verzeichnissen enthalten. Um hier Abhilfe zu schaffen,
soll der Inhaber eines Mobilfunkanschlusses künftig per
Textmitteilung über den Kontaktwunsch eines anderen
Teilnehmers informiert werden. Dabei werden Name
und Telefonnummer des Interessenten angegeben. Der
gesuchte Teilnehmer kann somit selbst entscheiden, ob
er den Kontakt erwidern will, ohne dass es zur Übermitt-
lung seiner Mobilfunknummer kommt.
Schließlich haben wir auch den Dienst für gehörlose
und hörgeschädigte Menschen umfassend geregelt.
Diese können die bereitgestellten Vermittlungsdienste
der Anbieter zu einem erschwinglichen Preis und unter
Berücksichtigung ihrer besonderen Situation in An-
spruch nehmen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist es gelungen,
die Verbraucherrechte so zu stärken, dass zugleich auch
23338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
für die Unternehmen ein zusätzlicher Nutzen entsteht,
sei es durch mehr Transparenz, attraktive Dienste oder
größere Rechtssicherheit. Deshalb bitte ich um Ihre Zu-
stimmung.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Der vorlie-
gende Entwurf zur Änderung des Telekommunikations-
gesetzes ist ein Flickwerk von Einzelmaßnahmen ohne
klare sachliche oder ordnungspolitische Linie. Die Bun-
desregierung hat es bis heute nicht bewerkstelligt, fun-
dierte Begründungen für einen großen Teil der Änderun-
gen vorzulegen. Andere Stellschrauben werden sogar
bewusst in die falsche Richtung gedreht.
Damit ich Ihnen nicht den Abend vermiese, beginne
ich mit den positiven Aspekten des Gesetzentwurfes. So-
gar davon gibt es einige wenige. Zunächst ist zu begrü-
ßen, dass Sie das Thema Standortdaten aufgenommen
haben, wie es auch von der FDP vorgeschlagen wurde.
Der Antrag der FDP dazu wird hier heute ebenfalls bera-
ten, und ich bitte um Ihre Unterstützung. Ebenfalls be-
grüßenswert ist die Ermöglichung eines innovativen
Dienstes durch eine Ergänzung von § 95 Abs. 2, mit dem
von beiden Seiten gewünschte Kontaktaufnahmen zwi-
schen Bürgern im Einklang mit Datenschutzerfordernis-
sen ermöglicht werden.
Überhaupt kein Verständnis habe ich allerdings nach
wie vor für die von der Bundesregierung vorgeschlage-
nen Preisobergrenzen in der 0180er-Nummerngasse. Bei
einem erweiterten Berichterstattergespräch zu diesem
Gesetzentwurf hatten wir uns alle gewünscht, die Argu-
mente der Bundesregierung zu den Preisobergrenzen
nachgeliefert zu bekommen. Wir mussten feststellen: Es
existierten keine, jedenfalls keine tragfähigen. Die Fest-
setzung der Obergrenze ist völlig willkürlich, ordnungs-
politisch verfehlt und entbehrt jeglicher Notwendigkeit.
Bis heute konnten weder die Vertreter der Bundesregie-
rung noch die Vertreter der Großen Koalition nachvoll-
ziehbar darlegen, worin überhaupt der Anlass für einen
solch schwerwiegenden Eingriff in den Markt liegen
soll. Massenhafter Missbrauch zumindest konnte nicht
nachgewiesen werden; er liegt tatsächlich auch nicht vor.
Mich persönlich hat in diesem Zusammenhang auch
das Festhalten am Textformerfordernis nach wie vor
nicht überzeugt. Bereits das geltende Recht verfügt über
hinreichende Mechanismen. Das Textformerfordernis er-
höht die Bürokratie und behindert den Wettbewerb; denn
viele auch vom Kunden eigentlich gewünschte Vertrags-
wechsel werden aufgrund des Aufwandes, den das Text-
formerfordernis mit sich bringt, nicht abgeschlossen
werden. Außerdem wird diese Vorgabe ohnehin nur die
seriösen Anbieter treffen; die wenigen Abzocker lassen
sich doch davon nicht beeindrucken. Untergeschobene
Verträge – ob sie schriftlich hätten fixiert werden müssen
oder nicht – sind ja schon bisher nicht zulässig, kommen
aber trotzdem vor.
Die FDP-Bundestagsfraktion kann dem vorliegenden
Gesetzentwurf daher nicht zustimmen. Es ist bedauer-
lich, dass auch die Vertreter der Großen Koalition den
Telekommunikationsmarkt nach wie vor eher als Tum-
melbecken fieser Abzocker verstehen statt als innovati-
ven und immer wichtigeren Teil der Volkswirtschaft, der
bisher der Wirtschaftskrise besser trotzt als fast alle an-
deren Branchen. Gerade in der aktuellen Situation halte
ich das für töricht.
Vor diesem Hintergrund möchte ich auch auf die
Breitbandstrategie der Bundesregierung hinweisen, die
nach eigenem Bekunden die Förderung einer wachs-
tums- und investitionsorientierten Regulierung zum Ziel
hat. Die vorgesehene gesetzliche Festschreibung von
Preisobergrenzen, welche von tatsächlichen Preisbil-
dungsprozessen vollständig entkoppelt ist, steht dem
entgegen. Wir sollten keine widersprüchlichen Signale
setzen, zumal für den Fall, dass sich die Bundesregie-
rung bei den ausgeheckten Preisen irrt – so etwas soll ja
vorkommen –, eine neuerliche Anpassung nur über den
gesetzlichen Weg möglich wäre. Unflexibler und fort-
schrittsfeindlicher geht es kaum, zumal diese Lösung die
Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur aushebelt.
Die nun hoffentlich baldmöglichst endende Legisla-
turperiode ist gekennzeichnet von einer massiven Aus-
weitung von Überwachung und Speicherungspflichten.
Dabei wurde ein gesundes Maß zwischen gebotenen Si-
cherheitsinteressen einerseits und dem Schutz der Mei-
nungs-, Medien- und Kommunikationsfreiheit anderer-
seits häufig nicht gefunden. Diese Tatsache wurde der
Bundesregierung von unterschiedlichsten gerichtlichen
Instanzen bereits mehrfach unter die Nase gerieben. Die
anstehende Änderung des TKG hätte die Möglichkeit er-
öffnet, wenigstens eine kleine Verbesserung bei der
Rechtssicherheit im Telekommunikationsbereich durch
die Verlängerung des Bußgeldmoratoriums in § 150
Abs. 12 b zu erreichen. Auch das haben Sie versäumt,
ohne Begründung wohlgemerkt. Den ausformulierten
Änderungsantrag, welchen die FDP-Fraktion im Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie gestellt hatte, ha-
ben Sie ja leider einfach abgelehnt.
Die FDP-Fraktion hat heute einen Entschließungsan-
trag zum TKG-Änderungsgesetz vorgelegt, der die größ-
ten Löcher des Regierungsentwurfs stopfen soll. Ich
bitte Sie nicht nur, sondern ich empfehle Ihnen nach-
drücklich, diesem Ihre Zustimmung zu geben. Der er-
folgreiche Wettbewerb zugunsten von Innovation und
Investitionen im Telekommunikationssektor, von dem
nicht zuletzt die Verbraucher durch attraktive Dienste
und günstige Preise profitieren, muss fortgeführt wer-
den. Der Regierungsentwurf zielt im Großen und Gan-
zen genau in die andere, die falsche Richtung. Reißen
Sie das Ruder noch herum!
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Der Entwurf zur
Änderung des Telekommunikationsgesetzes liegt jetzt
schon seit mehr als einem Jahr vor. Schade dass der Ver-
braucherschutz von dieser Regierung immer wieder auf
die lange Bank geschoben wird, bevor es zu Beschlüssen
kommt. Wir hätten sicherlich gerne alle etwas länger ge-
wartet, wenn in der Zwischenzeit noch grandiose Ver-
besserungen am Gesetz erfolgt wären; aber das ist ja
nicht passiert.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Die vorliegenden
Änderungen gehen zum Teil in die richtige Richtung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23339
(A) (C)
(B) (D)
Wenn beispielsweise Vermittlungsdienste für Gehörlose
verpflichtend eingeführt werden und wenn der Abzocke-
rei mit Telefonservicediensten endlich zumindest ansatz-
weise entgegengetreten wird, dann ist das zu begrüßen.
Gerade Telefongespräche über die 0180-Vorwahl, die
auch von öffentlichen Stellen benutzt wird, dürfen nicht
zu teuer sein, wenn die Telefonrechnung keine bösen
Überraschungen bringen soll. Schade ist allerdings, dass
die Bundesregierung so zaghaft handelt, wenn es um den
Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern geht.
Noch schlimmer ist es, dass die Koalitionsfraktionen nur
einen Tag vor der Beratung im Wirtschaftsausschuss den
Entwurf der Regierung noch einmal entscheidend ver-
schlechtert haben. Dafür sollten Sie sich schämen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Union.
Der Verbraucherzentrale-Bundesverband betont be-
reits seit langem, dass Preishöchstgrenzen für 0180er-
Nummern einheitlich bei 10 Cent liegen müssten, um die
Verbraucher vor Abzocke zu schützen. Die Bundesregie-
rung hatte die Höchstgrenze für Telefonate aus dem
Festnetz bei 14 Cent festgelegt und für Anrufe vom
Handy – ohne triftige Begründung – sogar bei 28 Cent.
Jetzt kommt die Große Koalition und erhöht die Grenze
im Mobilfunk in letzter Minute noch einmal auf 42 Cent.
Es ist klar, woher dieser Sinneswandel kommt; schließ-
lich hatten die Telefonkonzerne im Vorfeld der Beratun-
gen lauthals gejammert, sie würden bei Preisobergrenzen
überhaupt keine Gewinne mehr machen. SPD und Union
fallen ein weiteres Mal vor den Konzernlobbyisten auf
die Knie – ein trauriges Bild.
Auch beim Schutz vor untergeschobenen Verträgen
hätten Sie mutiger sein können, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und SPD. Zu Recht beklagen ja
auch Sie, dass unseriöse Unternehmen den Telefonver-
trag von Verbrauchern zum Teil ohne deren Wissen ab-
ändern lassen. Warum verlangen Sie aber in Ihrem Ge-
setz bei der Betreibervorauswahl nur Textform und nicht
Schriftform, also eine eigenhändige Unterschrift des Te-
lefonkunden? Wenn ein Kunde wirklich seinen Vertrag
ändern oder zu einem anderen Anbieter wechseln will,
so sollte er das selbst mit seiner Unterschrift bestätigen –
nur so ließe sich Missbrauch wirklich ausschließen.
Dennoch: Kleine Verbesserungen sind besser als gar
keine. Deshalb wird Die Linke Ihr Gesetz nicht ableh-
nen, sondern sich enthalten.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung
des Telekommunikationsgesetzes setzt eine EU-Verord-
nung zum Thema Roaming um und enthält gleichzeitig
weitere verbraucherpolitische Aspekte des Telekommu-
nikationsmarktes. Wir begrüßen, dass mit dem Gesetz
Verbraucherrechte und der Verbraucherschutz gestärkt
werden sollen. Da Verbraucherschutz aber nachweislich
nicht die Stärke der Großen Koalition ist, ist es wenig
verwunderlich, dass einige Änderungen auf halber Stre-
cke stehen bleiben und nicht des Pudels Kern treffen.
Konkret geht es um das Problem der sogenannten
untergeschobenen Verträge. Kunden werden ohne ihr
persönliches Einverständnis zur Umstellung der Betrei-
berauswahl gebracht. Dem Missbrauch bei der Betreiber-
auswahl soll mit dem Gesetz ein Riegel vorgeschoben
werden. Wir begrüßen, dass diese Problematik endlich
angegangen wird; doch leider geht der Gesetzentwurf
der Bundesregierung an dieser Stelle nicht weit genug.
Im Gesetzentwurf wird die Textform zur Bestätigung der
Betreiberauswahl vorgesehen. Dies reicht nicht aus, um
Betrug wirksam zu bekämpfen, weil die bloße Textform
nicht zwangsläufig eine eigenhändige Unterschrift vor-
sieht. Wir fordern, die Schriftform als verbindlich in das
Gesetz aufzunehmen. Kunden müssten so für einen Ver-
tragsabschluss den Stift in die Hand nehmen und wären
vor dubiosen Verträgen deutlich besser geschützt.
Ähnlich unzureichend wie bei den untergeschobenen
Verträgen sieht der Gesetzentwurf bei dem brisanten
Thema der Lokalisierungsdienste im Mobilfunk aus.
Erstens ist dieses Thema erst durch die Stellungnahmen
des Bundesrates auf die Agenda des Gesetzesentwurfs
genommen worden, und zweitens wird das Problem des
Datenschutzes nicht gelöst. Die FDP weist in ihrem
Antrag zu Recht auf das Recht einer jeden Person auf in-
formationelle Selbstbestimmung hin. Mit der jetzigen
Formulierung in § 98 Abs. 1 Satz 1 – „… seine Einwilli-
gung ausdrücklich, gesondert und schriftlich erteilen“ –
kann dem Problem des Missbrauchs nicht wirklich be-
gegnet werden. Wenn Handyvertragspartnerin und Han-
dynutzer auseinanderfallen, kann der Ortungsdienst nach
wie vor untergeschoben werden. Wir finden den Vor-
schlag des BITKOM, eine Einwilligung per SMS zu ge-
ben, die mit einer Auftragsbestätigung per SMS und ei-
ner Information, wie der Dienst sofort beendet werden
kann, ergänzt durch SMS-Benachrichtigungen, verfol-
genswert. So weiß jeder, sobald der Lokalisierungsdienst
ohne sein Wissen eingerichtet wurde, a) dass man über-
wacht wird und b) wie man den Dienst wieder abstellen
kann.
Auch die Preisfestlegung für Anrufe bei Service-
diensten der 0180er-Nummern gibt uns Rätsel auf. Prin-
zipiell befürworten wir einen verbraucherfreundlichen
Schutz vor überhöhten Gebühren. Es bleibt aber offen,
ob diese Preisfestsetzung in § 66 des TKG geregelt wer-
den muss oder ob sie nicht Aufgabe der Bundesnetz-
agentur ist. Die Preisgrenze von ursprünglich 28 Cent
pro Minute und jetzt 42 Cent pro Minute für Anrufe aus
dem Mobilfunknetz sind beide nicht aus Kostenberech-
nungen oder einer Marktanalyse abgeleitet.
Im erweiterten Berichterstattergespräch zum TKG
forderte die Verbraucherzentrale Bundesverband sogar,
den Preis noch weiter zu senken. Weder Verbandsvertre-
ter noch die Vertreter des BMWi konnten eine plausible
Preiskalkulation vorlegen. Folglich erscheinen die Preis-
grenzen für den Mobilfunk aus der Luft gegriffen. Für
das Festnetz wird die Preisgrenze von 14 Cent pro Mi-
nute aus dem Preis, der sich am Markt entwickelt hat
und von der Bundesnetzagentur festgesetzt wurde, abge-
leitet. Uns bleibt aber verschlossen, wieso für Gespräche
aus Mobilfunknetzen ein dreifacher Preisaufschlag zu-
lässig sein soll. Im Sinne der Verbraucherinnen und Ver-
braucher hätten wir uns eine verpflichtende Preisansage
zu Beginn eines Anrufs mit genauen Preisangaben ge-
wünscht. Dadurch wäre es ein Leichtes, Transparenz in
23340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
das Dickicht der unterschiedlichen Tarife für Service-
dienste der 0180er-Nummern zu bringen.
An meinen Ausführungen wird deutlich, dass die
Bundesregierung zwar den richtigen Ansatz verfolgt,
aber mal wieder die nötige Konsequenz vermissen lässt.
Statt Probleme umfassend im Sinne der Verbraucher zu
lösen, wird ein Gesetzentwurf mit vielen Lücken vorge-
legt.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Für eine zukunftstaug-
liche und menschenrechtlich fundierte Europäi-
sche Migrationspolitik (Tagesordnungspunkt 18)
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Was die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen uns hier als Antrag auf-
tischt, kommt mir vor wie ein Eintopf. Willkürlich haben
Sie verschiedene Zutaten aus dem Gemischtwarenladen
Ihrer Flüchtlingspolitik zu einem bunten Eintopf zusam-
mengerührt. Ob dieser Eintopf so gut schmeckt wie der
samstägliche Eintopf bei mir zu Hause, wage ich zu be-
zweifeln.
Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl hat
eine koordinierte Einwanderungs- und Asylpolitik der
Mitgliedstaaten zum Ziel. Keineswegs geht es darum,
Europa zu einer undurchlässigen Festung zu machen,
wie vielfach von linker Seite behauptet wird. Wir wollen
in und für die EU legale Wege zur Einwanderung benö-
tigter Arbeitskräfte öffnen. Illegale Einwanderer sollen
in ihre Heimat zurückgeschickt werden, können aber aus
wirtschaftlichen Gründen auch Aufenthaltsgenehmigun-
gen bekommen. Es ist richtig, dass diese Entscheidungen
in den Mitgliedstaaten gefällt werden. Denn nur dort
kann am besten beurteilt werden, ob die wirtschaftliche
Situation und die Lage am Arbeitsmarkt Zuwanderung
erforderlich machen. Wir möchten wirtschaftliche Mi-
gration ermöglichen, dies aber doch an den Erfordernis-
sen der Menschen, gleich ob Deutsche oder ausländische
Mitmenschen, die bereits bei uns leben und arbeiten,
orientieren.
Was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-
nis 90/Die Grünen, wollen, ist eine unkontrollierte Zu-
wanderung auf unseren Arbeitsmarkt und damit auch in
unser Sozialsystem. Das kann man nur als verantwor-
tungslos bezeichnen. Wenn Fachkräfte benötigt werden
und unter den bereits hier lebenden Menschen nicht zu
finden sind, dann, aber auch nur dann sollten wir natür-
lich auf einwanderungspolitische Instrumente zurück-
greifen. Es ist unbestritten, dass wir in dem einen oder
anderen Bereich Einwanderung benötigen werden. Es
kann jedoch nicht unser Auftrag sein, hier lebende Fach-
kräfte durch Zuwanderer zu ersetzen, nur weil Erstere
„zu teuer“ sind. Wir sind ferner in der Verantwortung ge-
genüber den Ländern, aus denen die Menschen zuwan-
dern wollen. Gesteuerte Zuwanderung bedeutet nämlich
auch, dass dafür Sorge getragen wird, dass die Länder in
Afrika, Asien und Südamerika nicht urplötzlich eine er-
hebliche Zahl an dringend benötigten Fachkräften verlie-
ren.
Zur Schleuserproblematik. Ich glaube, es ist das Ziel
der meisten Fraktionen im Bundestag, Schleusern und
Schleppern das Handwerk zu legen. Wir können dem
tödlichen Geschäft der Schleuserbanden die Existenz-
grundlage nur entziehen, indem wir dann, wenn im Falle
ihrer Heimkehr keine Gefahr für die Menschen besteht,
Rückführungen auch konsequent durchführen. Ihr Be-
mühen, illegalen Flüchtlingen aus humanitären Erwä-
gungen heraus zu einem dauerhaften Bleiberecht zu ver-
helfen, in allen Ehren. Aber Legalisierungskampagnen,
wie Sie sie in Ihrem Europawahlprogramm fordern,
könnten von Schleppern und Schleusern eher als Ermun-
terung verstanden werden. Wenn Sie auch noch Gesund-
heitsversorgung und Schulbesuch fordern, dann fehlen
mir schon die Worte. Schließlich muss sich in den Her-
kunftsländern herumsprechen, dass es nicht attraktiv ist,
auf illegalem Wege nach Europa zu kommen.
Leider unterstellen Sie in Ihrem Antrag dem Europäi-
schen Migrations- und Asylpakt, er sei überwiegend re-
striktiv formuliert. Das ist der Pakt nicht; Europa lässt
die Herkunftsländer mit ihren Sorgen nicht allein. Wir
sehen die Partnerschaft mit den Herkunftsstaaten als eine
dringende Notwendigkeit, um illegale Migration mit all
ihren Gefahren, auch und gerade für die Migrantinnen
und Migranten, zu bekämpfen. Ich zitiere an dieser
Stelle den Bundesinnenminister:
… und das erreichen wir natürlich besser, wenn wir
es als Europäer gemeinsam machen. Wenn wir ge-
meinsam handeln, haben wir eher eine Möglichkeit,
afrikanische Staaten davon zu überzeugen, dass es
in ihrem Interesse ist, Illegale auch zurückzuneh-
men.
Zur Bekämpfung von Schleuserbanden gehört, dass
die Arbeit von FRONTEX gestärkt wird. Ich bitte Sie,
Ihre ideologischen Scheuklappen und Ihr stetes Miss-
trauen gegen Polizei und Militär abzulegen. Die Bundes-
polizei beteiligt sich mit Hubschraubern daran,
Menschen, die durch gewissenlose Schleuser in Lebens-
gefahr gebracht wurden, aus selbiger zu retten. FRON-
TEX nimmt an den Außengrenzen die Aufgaben war, die
wir früher an den Binnengrenzen der EU, welche, Gott
sei Dank, nicht mehr da sind, ausgeführt haben. Die
Floskel von der „Festung Europa“ soll wohl suggerieren,
dass wir uns hier einmauern und niemanden reinlassen
wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir fördern eine maß-
geschneiderte und passgenaue Migration, die den Men-
schen, sowohl denen, die nach Europa kommen wollen,
als auch unseren Bürgerinnen und Bürgern, gerecht
wird. Dabei handeln wir natürlich auch in Verantwor-
tung für unsere Sicherheit und unsere Arbeitsmärkte.
Wir begreifen die Globalisierung auch im Migrationsbe-
reich als Chance für uns und für die Herkunftsländer. Ich
finde es unerträglich wie hier mit dem Kampfbegriff
„Festung Europa“ Stimmung gemacht wird.
Dann fordern Sie für Drittstaatsangehörige, die sich
länger hier in Deutschland aufhalten, als Beitrag zu de-
ren besserer Integration aktives und passives Wahlrecht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23341
(A) (C)
(B) (D)
Für die kommunale Ebene haben wir im Koalitionsver-
trag einen Prüfauftrag dazu vereinbart, und dazu gibt es
ja, das will ich gerne einräumen, unterschiedliche
Rechtsauffassungen. Ich sage aber ganz klar, dass ein
solches Wahlrecht am Endpunkt der erfolgreichen Inte-
gration eines ausländischen Mitbürgers, nämlich mit
dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, stehen
sollte. Volle Staatsbürgerrechte stehen am Ende einer ge-
glückten Integration nicht am Anfang. Alles andere wäre
widersinnig. Hinzu kommt, dass sich zwar die Mehrheit
der hier lebenden Drittstaatsangehörigen nach Recht und
Gesetz verhalten, es aber auch eine kleine Minderheit
gibt, die insbesondere das passive Wahlrecht dazu nut-
zen, sich für politische Ideologien und ausländische
Gruppierungen einsetzen, die mit unserem Verständnis
von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung
nichts zu tun haben. Sie täuschen sich, wenn Sie denken,
ein von vornherein eingeräumtes Wahlrecht sei ein Mit-
tel zur Integration. Das stimmt nur insofern, als das
Wahlrecht und alle Staatsbürgerschaftsrechte ein Anreiz
für Integrationsbemühungen der Migranten darstellen.
Sie und ja wohl auch der SPD-Kollege Veit wollen das
Pferd von hinten aufzäumen, indem Sie das Wahlrecht
an jeden verschenken wollen.
Was die gebetsmühlenartig vorgetragene Behauptung
angeht, ein Großteil der Kommunen begrüßen dies eben-
falls, so muss ich Ihnen leider sagen: Diese Behauptung
wird durch permanente Wiederholung nicht richtiger. Im
Gegenteil, der Deutsche Städtetag lehnt dies ab. Gleich-
wohl wissen wir natürlich, dass Migrantinnen und Mi-
granten aus Drittstaaten bei den Angelegenheiten, die sie
betreffen, ein Mitspracherecht brauchen. Dazu gibt es in
vielen Kommunen kommunale Ausländerbeiräte, wo
Drittstaatsangehörige am kommunalen Geschehen betei-
ligt werden. Und man kann sicher bei den Kommunen in
Deutschland dafür werben, von dieser Möglichkeit stär-
ker Gebrauch zu machen; denn ein Gremium, in dem so-
wohl die Integrationswilligen als auch die integrierenden
Kommunen zusammenkommen, kann bei der Integra-
tion nur helfen.
Der von Ihnen hier zusammengerührte Eintopf ist we-
der für die Migranten noch für unsere Bürgerinnen und
Bürger bekömmlich. Deshalb lehnen CDU und CSU den
Antrag ab. Die CDU/CSU steht voll und ganz hinter der
Einwanderungs- und Asylpolitik von Herrn Bundes-
innenminister Dr. Schäuble, auch wenn diese von eini-
gen Kolleginnen und Kollegen der SPD nicht voll unter-
stützt wird.
Rüdiger Veit (SPD): Vor fünf Monaten haben wir
hier schon einmal über diesen Antrag debattiert, und
schon damals habe ich gesagt, dass der Antrag aus Sicht
der SPD-Fraktion ganz überwiegend richtigen Inhalts ist.
Inzwischen hat auch das Europäische Parlament der
Blue-Card-Richtlinie Ende November zugestimmt. In
diesem Punkt hat die – positive – Realität den Antrag
überholt. Die SPD-Bundestagsfraktion und die sozialde-
mokratischen Abgeordneten im Europäischen Parlament
haben die Blue-Card-Initiative immer ausdrücklich be-
grüßt. Ohne Zweifel wird die Regelung – vernünftig aus-
gestaltet und angewandt – dazu beitragen, dass Europa
vor allem im Wettbewerb mit anderen Einwanderungs-
ländern – ein solches ist Deutschland – an Attraktivität
gewinnt. Das ist dringend notwendig; denn wir brauchen
Einwanderung Hochqualifizierter als Bereicherung für
unsere Gesellschaft.
Aber wir brauchen eben nicht nur die hochqualifizierten
Einwanderer, um zum Beispiel den Folgen des demografi-
schen Alterungsprozesses und dem Problem des Fachkräf-
temangels nachhaltig begegnen zu können. Langfristig
wollen wir die Vorrangprüfung als Grundsatz der deutschen
Migrationspolitik nach und nach aufheben und schließ-
lich ein Punktesystem mit Kontingenten für die Anzahl
der Arbeitsmigranten einführen. Das ist, wie Sie alle
wissen, keineswegs ein neuer Gedanke; die Einführung
eines Punktesystems war unter der rot-grünen Bundes-
regierung Gegenstand der Verhandlungen zum neuen
Zuwanderungsrecht. Damals scheiterte dieses Vorhaben
am Widerstand der CDU/CSU im Bundesrat.
Möglichkeiten zur legalen Migration können zudem
dazu beitragen, illegale Einwanderung nach Europa ein-
zudämmen.
Wir sind einer Meinung mit den Antragstellern, die ei-
nen menschenrechtlich einwandfreien Umgang mit soge-
nannten Bootsflüchtlingen fordern. Menschenrechte sind
universell gültig, ohne Frage. Das ist selbstverständlich.
Die Thematik der Bootsflüchtlinge und die Gefahr der
Umgehung des Refoulement-Verbotes sind uns daher sehr
präsent, insbesondere die Problematik der sogenannten
gemischten Migrationsströme, also Migrantengruppen,
deren Mitglieder zum einen aus Migranten bestehen, die
zum Zweck der illegalen Arbeit nach Europa wollen, auf
der anderen Seite aber auch aus Migranten, die nach in-
ternationalen Konventionen schutzbedürftig sind. Letz-
teren muss nach unserer Überzeugung Zugang zu einem
Staatsgebiet gewährt werden, auf dem solche Verfahren
überhaupt möglich sind. Dies ist in keinem afrikanischen
Staat der Fall. Die Thematik der gemischten Flüchtlings-
ströme haben wir anlässlich einer Dienstreise von Mit-
gliedern der AG Inneres nach Warschau gerade letzte
Woche mit dem Strategic Development Officer bei
FRONTEX erörtert. Es ist klar geworden, dass es für den
Umgang mit Bootsflüchtlingen keine einheitliche Hand-
habe gibt, aber eine solche dringend notwendig ist.
Wir unterstützen daher die Empfehlung des Deutschen
Institutes für Menschenrechte, den Schengener Grenzkodex
menschenrechtskonform auszugestalten und verbindliche
Regelungen für den Umgang mit Bootsflüchtlingen sowie
eine Entlastung der EU-Randstaaten auf EU-Ebene zu
beschließen. Solange ein solidarisches System in der EU
fehlt, das die durch Asylanträge und Grenzschutz über-
proportional belasteten Randstaaten wie Griechenland,
Malta, Spanien oder Italien entlastet, und der Schengener
Grenzkodex grundlegende Menschenrechtsstandards nicht
klar und verbindlich festschreibt, solange wird sich an der
gegenwärtigen unbefriedigenden Situation nichts ändern.
Die SPD-Fraktion wird sich in der EU für eine solche
Änderung einsetzen. Nur so kann Deutschland seiner
Verantwortung für den Grundrechtsschutz an der ge-
meinsamen EU-Außengrenze gerecht werden.
23342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
Die weiteren im Antrag enthaltenen Ideen zur Sicher-
stellung des menschenrechtskonformen Umgangs mit
Bootsflüchtlingen wie zum Beispiel eine intensive Schu-
lung für Mitarbeiter von europäischen- und Grenzschutz-
behörden bezüglich internationalen Menschenrechts- und
Flüchtlingsschutzes und die Sicherstellung einer parlamen-
tarischen Kontrolle der Grenzschutzagentur FRONTEX
sind gut. Gerne werden wir diese Vorschläge aufgreifen
und ebenfalls auf EU-Ebene unterstützen.
Wie sie alle wissen, hat der Rat der Europäischen
Union mit Beschluss vom 27. November letzten Jahres
die Aufnahme von insgesamt 10 000 irakischen Flücht-
lingen aus Syrien und Jordanien beschlossen. Bund und
Länder haben sich geeinigt, 2 500 Flüchtlingen die Auf-
nahme – Resettlement – in Deutschland zu gewähren.
Die ersten Flüchtlinge sind bereits in Deutschland ange-
kommen. Auch wenn diese Aktion einmalig sein sollte
und nicht unter dem Stichpunkt eines allgemeinen Re-
settlement-Programms für die EU diskutiert worden ist,
so freue ich mich darüber und werte die Aufnahme der
irakischen Flüchtlinge quasi als Fortschritt hin zu einem
EU-weiten Resettlement-Programm. Dem können Sie
unschwer entnehmen, dass wir auch für die Etablierung
eines solchen europaweiten Systems sind. Wiederholt
hat zudem Bundesinnenminister Schäuble das Thema
bei JI-Treffen auf die Tagesordnung gesetzt, und wir
werden ihn in diesem Punkt weiter unterstützen.
Im Asylbereich streiten wir auf EU-Ebene – wie die
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen –
für eine gleichmäßigere und solidarischere Lastenvertei-
lung bei der Aufnahme von Flüchtlingen und den anfallen-
den Kosten nicht nur im Zusammenhang mit den Boots-
flüchtlingen. Wir stehen hier unter zwei Gesichtspunkten in
der Verantwortung: Erstens müssen wir häufiger als bisher
von der Möglichkeit des Selbsteintrittsrecht Gebrauch
machen, wenn in dem nach der Dublin-II-Verordnung
zuständigen Staat die Durchführung eines rechtsstaatlichen
Asylverfahrens nicht gewährleistet ist. Sie wissen, dass
das zum Beispiel in Griechenland leider nicht der Fall
ist. Das führt mich zum zweiten Gesichtspunkt: So richtig
es ist, dass die Zustände in Griechenland dramatisch
sind, so falsch wäre es, hier allein mit dem erhobenen
Zeigefinger zu reagieren. Wichtiger ist es, ein europäi-
sches Lastenteilungssystem zu etablieren, damit wir inner-
halb einer solidarischen Gemeinschaft von EU-Mitglied-
staaten die Staaten an den Südgrenzen der EU mit ihren
Herausforderungen nicht alleine lassen. Wir werden uns
deshalb nicht nur bei der anstehenden Überarbeitung der
Dublin-II-Verordnung dafür einsetzen, dass Personen
nur dann in das Erstasylland zurückgeschoben werden
können, wenn dort die Durchführung eines vollständigen
Asylverfahrens garantiert ist. Wir werden uns auch für
die geforderte Lastenteilung einsetzen.
Zum Thema Rückführungsrichtlinie habe ich schon in
meinem ersten Redebeitrag zu diesem Antrag festgestellt,
dass sie inhaltlich sowohl für unsere Kolleginnen und
Kollegen in Brüssel als auch für uns ein schwerer Kom-
promiss war und ist. Immerhin legt sie aber allgemein-
verbindliche Mindeststandards fest. Das ist insbesondere
für die Staaten von Bedeutung, die in zentralen Fragen wie
der Haftdauer oder der Befristung von Wiedereinreise-
sperren zurzeit noch über keinerlei Standards verfügen.
Mit Bauchschmerzen haben unsere europäischen Kolle-
ginnen und Kollegen daher die Regelung befürwortet.
Diesen umkämpften Kompromiss jetzt noch einmal auf-
zuschnüren ist illusorisch.
Die Aufgabe, die jetzt vor uns als Parlamentarier eines
mitgliedstaatlichen Parlamentes vor allem liegt, ist eine
andere als die im Antrag vorgeschlagene. Ich möchte in
diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf verweisen,
dass es eine politische Verabredung im Rat gab, wonach
sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, bestehende
innerstaatliche Standards nicht abzusenken, sofern sie
höher als die von der Richtlinie vorgegebenen sind.
Deshalb müssen wir nunmehr unsere innerstaatlichen
Standards prüfen und sie anheben, wo die Richtlinie dies
erfordert, ohne sie abzusenken, wo sie es erlaubt. Mittel-
fristig werden wir jedoch auf eine Anhebung der einzel-
nen Standards auch auf europäischer Ebene hinarbeiten.
Auch müssen für Abschiebegefängnisse europäische
Mindeststandards gelten, damit die Menschen und ins-
besondere besonders schutzbedürftige Personengruppen
wie Frauen, unbegleitete Minderjährige und Behinderte
nicht unwürdig untergebracht werden.
Gleichwohl hätten wir uns im Zusammenhang mit der
Rückführungsrichtlinie aber vor allem gewünscht, dass
eine Inhaftierung Minderjähriger grundsätzlich aus-
geschlossen ist oder zumindest Altersuntergrenzen fest-
gelegt werden. Außerdem ist die in der Richtlinie einge-
räumte Möglichkeit einer Haftdauer von bis zu achtzehn
Monaten zu lang, erst recht natürlich für ein Kind.
Unbegleitete Kinder und Jugendliche sind von den
Restriktionen in der Abschiebungshaft ganz besonders
betroffen; darüber besteht zwischen uns sicher Einigkeit.
Die Erfahrung der Haft in einem Land, von dem sich die
Kinder und Jugendlichen Sicherheit und Schutz vor der
Verfolgung im Herkunftsland erhofft haben, hat immense
Auswirkungen auf die aktuelle psychische Situation der
Betroffenen und auf ihre weitere Entwicklung. In inter-
nationalen Übereinkommen wie der UN-Kinderrechts-
konvention werden deshalb hohe Hürden gegen die
Inhaftierung Minderjähriger errichtet. Der Hohe Flücht-
lingskommissar der Vereinten Nationen – UNHCR – in-
terpretiert die UN-Kinderrechtskonvention so, dass
Abschiebungshaft bei Kindern unter 16 Jahren grund-
sätzlich nicht und bei Jugendlichen unter 18 Jahren nur
als letztes Mittel verhängt werden darf.
In einigen Bundesländern existieren Erlasse, die die
Verhängung von Abschiebungshaft bei Kindern unter
16 Jahren generell untersagen, so in Baden-Württem-
berg, Bayern, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen,
Schleswig-Holstein, Thüringen. Unser Ziel sollte es
sein, dies unbedingt für alle Bundesländer zu erreichen.
Ich möchte jetzt noch ein Stichwort nennen, das nicht in
dem vorliegenden Antrag vorkommt, aber zum Gesamt-
kontext sehr wohl gehört. Auch habe ich es schon in
meinem Redebeitrag zu diesem Antrag in erster Bera-
tung und bei vielen anderen Gelegenheiten genannt:
Beschulung von Kindern ohne einen legalen Aufenthalts-
status. Wiederholt möchte ich darauf hinweisen, dass wir
in dieser Angelegenheit meiner Ansicht nach eine Eini-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23343
(A) (C)
(B) (D)
gung dahin gehend gefunden haben, das sich illegal bei
uns aufhältigen Kindern der Schulbesuch ohne Angst
vor Entdeckung – sonst ist es eben in der Praxis nicht die
Gewährung des Schulbesuchs – gewährleistet werden
muss. Für diejenigen unter Ihnen, die immer noch nicht
ganz überzeugt sind, habe ich etwas Neues, nämlich
Plausibilitätsüberlegungen und Alternativberechnungen
zur Zahl der Kinder ohne Aufenthaltsstatus, vorgestellt
und erarbeitet von Frau Dr. Dita Vogel, Hamburgisches
WeltWirtschaftsInstitut, anlässlich der V. Jahrestagung
Illegalität Anfang März dieses Jahres. Gemäß den Über-
legungen von Frau Dr. Vogel erscheint eine Zahl von
mindestens 8 000 und maximal 30 000 Kindern ohne
Aufenthaltsstatus – 0 bis unter 16 Jahre – für die heutige
Situation in der Bundesrepublik Deutschland plausibel.
Bezieht man diese Zahlen auf die Gesamtzahl von mehr
als 9 Millionen Schülerinnen und Schülern in allgemein-
bildenden Schulen in Deutschland, kommt man auf An-
teile von 0,09 bis 0,7 Prozent. 0,09 oder 0,7 Prozent Kin-
der ohne einen Aufenthaltstitel an deutschen Schulen,
das kann unser System frag- und problemlos gut verkraf-
ten. Davor sollten nun wirklich auch die Zweifler unter
Ihnen keine Angst haben. Ich fordere Sie noch einmal
auf, hier auf eine Reform der Mitteilungspflichten hinzu-
wirken und vor allem auch mit den Ländervertretern in
Kontakt zu treten.
Wenn ich vor fünf Monaten an gleicher Stelle zum
selben Antrag gesagt habe, dass es bezüglich der Voraus-
setzung des deutschen Spracherwerbs im Ausland für
nachziehende Ehegatten für Ausländer, aber auch bezüg-
lich des Erwerbs der deutschen Sprache im Ausland als
Voraussetzung für den Ehegattennachzug von Dritt-
staatsangehörigen zu Unionsbürgern mit der Fraktion
der CDU/CSU einen unüberbrückbaren Dissens gibt, so
kann ich das heute nur wiederholen und anfügen, das die
uns in der Koalition in diesen Punkten trennende Kluft
in den vergangenen letzten fünf Monaten nicht kleiner
geworden ist.
In einigen Bereichen des vorliegenden Antrages sind
wir als Große Koalition schon auf einem guten Weg, in
anderen – das ist der Hauptgrund dafür, dass wir ihn
heute wieder ablehnen müssen – sind wir als SPD-Frak-
tion aufgrund der derzeitigen Koalitionsbindung zu einer
Zustimmung nicht in der Lage, auch wenn wir viele
Punkte für richtig halten.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): In manchem ha-
ben die Grünen mit Ihrem Antrag recht: Wir brauchen
ein europäisch abgestimmtes Flüchtlings- und Asylkon-
zept. Wir brauchen eine europäische Lastenteilung im
Bereich der Flüchtlingsströme. Wir können Malta oder
die Kanaren nicht mit Tausenden von Migranten allein-
lassen.
Es darf aber auch keine Anreizsysteme geben, die
eine weitere unkontrollierte Zuwanderung ermöglichen.
Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass kriminelle
Schleuser mit falschen Versprechungen und aus Geldgier
Menschen nach Europa locken und billigend sogar den
Tod der Verschleppten auf See in Kauf nehmen. Wir
müssen die wirklichen Ursachen dieser Flüchtlings-
ströme bekämpfen.
Durch den Antrag wird auch der Eindruck erweckt,
dass nicht nur bei den Linken, sondern auch bei bestimm-
ten Vertretern der Grünen nach wie vor eine naive Freude
an unkontrollierter und unsteuerbarer Zuwanderung be-
steht. Wir brauchen eine Steuerung der Zuwanderung,
keine Ausweitung der Anreize und Vereinfachungen der
Möglichkeiten der unkontrollierten Zuwanderung. Nur
dann können wir diffuse Ängste bei den Bürgern unseres
Landes abbauen.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich
einig, dass der stärkere Zuzug von Fachkräften nach
Deutschland ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslo-
sigkeit bei uns ist; denn der Einsatz jeder weiteren Fach-
kraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Gerade in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist eine Zukunftssiche-
rung durch Forschung und Entwicklung neuer Produkte
durch Fachkräfte erforderlich.
Die FDP fordert deshalb ein Punktesystem, das die
Zuwanderung nach klaren Kriterien steuert und auch un-
sere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer klar
definiert. Es kommt vor allem auf die professionelle
Qualifikation und die gesellschaftliche Integrationsfä-
higkeit der Migranten an.
Wir Liberalen freuen uns natürlich, wenn die Grünen
ähnliche Forderungen erheben. Wir halten auch eine EU-
weite Diskussion über die Zuwanderung von Hochqualifi-
zierten und Fachkräften für begrüßenswert. Die konkreten
Maßnahmen dafür müssen allerdings in den Mitglied-
staaten und nicht in Brüssel erarbeitet werden, da die spe-
zifischen Bedingungen der Arbeitsmärkte und vor allem
auch der sozialen Sicherungssysteme zu stark divergie-
ren. Hier ist die Bundesregierung für die Steuerung des
Zuzugs nach Deutschland dringend gefordert. Sie hat bis-
her versäumt, ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen.
Wir sind auf die gesteuerte Zuwanderung von Hoch-
qualifizierten und Fachkräften angewiesen. Deutschland
droht, den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu verlie-
ren. Es wird Zeit, endlich alten ideologischen Ballast
über Bord zu werfen und sich modernen Konzepten zu-
zuwenden. Die FDP kann und will die Bundesregierung
aus dieser Verantwortung nicht entlassen.
Deutschland ist Nettozahler in der EU. Die Grünen
verlangen mit ihrer Forderung im Ergebnis, dass der
deutsche Steuerzahler nicht nur für die Integrationskos-
ten der Zuwanderer nach Deutschland, sondern auch für
die der Zuwanderer in andere europäische Staaten auf-
kommt.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag auch den Ausbau
der europäischen Antidiskriminierungsregeln. Schon die
existierenden sind eine unsägliche Gängelung der Bür-
gerinnen und Bürger. Sie versprechen Gleichberechti-
gung, die rechtlich bereits besteht, und schaffen Büro-
kratie und Bevormundung.
Wer den Ruf Europas als bürokratisches Monster bei
den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes weiter rui-
nieren will, soll nur munter weiter solche Forderungen
23344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
stellen. Der positive Duktus im Grünen-Antrag zur zir-
kulären Migration wundert mich. Zirkuläre Migration,
wie sie von Innenminister Schäuble propagiert wird, ist
eine Fortsetzung der Gastarbeiterpolitik, die Integration
verhindert hat.
Es ist natürlich nicht falsch, EU-weit bestimmte As-
pekte der Einwanderungspolitik abzustimmen. So war
die Verabschiedung der Rückführungsrichtlinie eine
Vorgabe, die in die richtige Richtung ging; denn sie hat
Mindeststandards in der EU geschaffen. So ist die Dauer
der Abschiebehaft nunmehr endlich auch in allen EU-
Staaten begrenzt. Dies ist eindeutig zu begrüßen, und es
hat mich schon gewundert, warum die Grünen im Euro-
paparlament sich hier verweigerten.
Das aber thematisiert der vorliegende Antrag aus
nachvollziehbaren Gründen leider nicht. Stattdessen re-
det er einer „signifikanten Liberalisierung der Aufent-
haltsregeln“ das Wort und fordert EU-Mittel zur Einglie-
derung von Migrantinnen und Migranten. Integration
kann aber nicht von Brüssel aus gesteuert werden, son-
dern erfolgt vor Ort, individuell.
Steuern heißt, Zuwanderung gegebenenfalls auch zu
verhindern, wenn unsere Interessenlage das gebietet. Un-
sere Interessen aber zu bestimmen, das nimmt uns nie-
mand ab, auch Europa nicht. Umgekehrt bedeutet Zuwan-
derung zu steuern aber eben auch, Zuwanderung
zuzulassen. Mit klaren Kriterien können wir die Willkom-
menskultur schaffen, die wir brauchen, um Hochqualifi-
zierte und Fachkräfte aus dem Ausland für Deutschland
zu gewinnen.
Eine moderne Zuwanderungssteuerung braucht kei-
nen europäischen Wasserkopf, sondern eine klare Ent-
scheidung der deutschen Regierung. Diese Entscheidung
ist mehr als überfällig.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Männer und Frauen
suchen sich nicht aus, wo sie geboren werden. Doch sie
sollten das Recht haben, zu wählen, wo sie leben wollen.
Und das gilt gerade für Menschen, deren Existenz durch
Hunger, Durst, Krankheiten und Krieg bedroht ist.
Statt aber die Ursachen für Flucht und erzwungene
Migration zu bekämpfen, werden leider die Menschen
bekämpft. Statt ihre Verantwortung für die auf dem Tri-
kont bestehenden Situationen zu übernehmen, wälzt
auch die EU im großen Maßstab die ökonomischen, so-
zialen und ökologischen Kosten ihres Entwicklungsmo-
dells auf diese Länder ab. Vom Schengen-Abkommen
bis zum Dublin-Abkommen, von der EU-Agentur für die
Koordinierung der Kontrollen an den Außengrenzen,
FRONTEX, bis zu den beiden umfassenden Datenban-
ken Schengener Informationssystem, SIS, und VISA-In-
formations-System, VIS, vom geschlossenen Aufnahme-
lager, den Abschiebungen und den Abwehrmethoden an
den Grenzen bis zur Unterdrückung in den Metropolen:
Europa beweist, dass es Flucht und Migration als ein
Problem begreift, dem mit Grenzüberwachung und Re-
pression begegnet werden muss. Die bisherigen Höhe-
punkte menschenverachtender EU-Migrationspolitik sind
die sogenannte Rückführungsrichtlinie – eine inhumane
Abschiebungsrichtlinie und Direktive der Schande – und
der „Pakt für Einwanderung und Asyl“.
Gerade Letzterer verdeutlicht den neokolonialistischen
Stil seitens der EU gerade gegenüber afrikanischen Staa-
ten. Im Zentrum des Paktes steht die Kombination einer
verstärkten Aufrüstung an den Außengrenzen, die Ein-
bindung von Transitstaaten in die Flüchtlingsabwehr, die
Neuauflage des „Gastarbeitermodells“ im Gewande der
„zirkulären Migration“ und der Abschluss sogenannter
Mobilitätspartnerschaften. Die Erfüllung der von der EU
vorgegebenen Bedingungen, zum Beispiel der Abschluss
von Rückübernahmeabkommen und die Verhinderung
der Flucht nach Europa durch schärfere Grenzkontrol-
len, wird mit der vagen Aussicht auf einen besseren Zu-
gang seiner Bürgerinnen und Bürger zur EU gekauft.
Auf diese Weise kann in Abhängigkeit vom jeweiligen
Bedarf auf dem europäischen bzw. deutschen Arbeits-
markt auf Arbeitskräfte aus Drittstaaten zurückgegriffen
werden. Gleichzeitig weiß man sich aber auf der siche-
ren Seite, diese dann auch wieder „loszuwerden“, wenn
sie nicht mehr gebraucht werden. Darüber hinaus wird
die Aufgabe der Flüchtlingsabwehr aus der EU verla-
gert, und mittels der in Gegenleistung dann auch noch
„selbstlos“ zur Verfügung gestellten Mittel zur Entwick-
lungszusammenarbeit werden die Märkte für deutsche
bzw. EU-Produkte geöffnet. So sieht der, wie es Herr
Grindel von der CDU/CSU-Fraktion in der ersten Le-
sung so nett formulierte, „entwicklungshilfepolitische
Ansatz“ aus, der mit dem Instrument „zirkuläre Migra-
tion“ verfolgt wird. Es geht um geo- und militärstrategi-
sche, energie- bzw. rohstoffpolitische oder ökonomische
Eigeninteressen, um Flüchtlingsabwehr und Auslese von
Fachkräften und Hochqualifizierten für den „globalen
Standortwettbewerb“.
Genau diesen Zusammenhang lässt der Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen weitgehend unberücksichtigt,
wenn sie „zirkuläre Migration“ und sogenannte Punkte-
migration im Grundsatz mitträgt. Bei den Vorschlägen
zur Arbeitsmigration bleibt unklar, wie die Forderung, es
solle legale und dauerhafte Einwanderungsmöglichkei-
ten auch für nicht hochqualifizierte Migrantinnen und
Migranten geben, konkret umgesetzt werden soll. Der
Vorschlag eines „Punktesystems“ ist im Gegenteil ganz
klar einseitig an den Interessen der Nationalstaaten aus-
gerichtet. Er führt zur Selektion nach Nützlichkeitskrite-
rien. So wie die Linke es ablehnt, Kopfnoten zu vertei-
len, lehnen wir es ab, Menschen nach Punkten zu
bewerten.
Zwar sollen Fluchtursachen bekämpft werden, doch
es gibt keine Kritik an der Militär-, Außen- und Freihan-
delspolitik der EU. Unklar bleibt auch, wie die Bekämp-
fung eigentlich konkret geschehen soll.
Auch die Aufgabe und Arbeit von FRONTEX, die
eine möglichst lückenlose Abschottung vor unerwünsch-
ter Migration organisieren soll, wird weder klar benannt
noch grundsätzlich infrage gestellt. Die Forderung nach
mehr parlamentarischer Kontrolle von FRONTEX und
neuen Dokumentationspflichten greift viel zu kurz. Die
Linke fordert die Abschaffung von FRONTEX und nicht
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23345
(A) (C)
(B) (D)
die parlamentarische Kontrolle, wie es Bündnis 90/Die
Grünen tun.
Hinsichtlich der Dublin-II-Verordnung werden ledig-
lich Forderungen gestellt, wie sie jetzt auch von der EU-
Kommission vorgeschlagen wurden. Dies geht zwar in
eine richtige Richtung, aber die Linke fordert, dass sich
Asylsuchende ihr Zufluchtsland in der EU selbst aussu-
chen können müssen.
Die Forderung nach einer Korrektur der Rückfüh-
rungsrichtlinie – insbesondere im Hinblick auf die Inge-
wahrsamnahme von Minderjährigen ist aus unserer Sicht
viel zu zurückhaltend formuliert und spart wesentliche
Kritikpunkte an der menschenrechtswidrigen Abschie-
bungsrichtlinie aus. Das betrifft unter anderem die Mög-
lichkeit einer Inhaftierung zur Sicherung einer Abschie-
bung bis zu 18 Monaten.
Schließlich bleiben in dem Antrag auch mehrere As-
pekte ausgespart, etwa Legalisierungsmöglichkeiten für
Illegalisierte.
Die Linke steht für eine grundlegend neu ausgerich-
tete europäische Migrations-, Flüchtlings- und Integra-
tionspolitik, eine, die sich nicht nach den Verwertungsin-
teressen des Kapitals richtet. Wir wollen eine Migra-
tions- und Integrationspolitik, deren Maßstab der Mensch
ist, eine Migrations- und Integrationspolitik, die sich für
die Verknüpfung von Menschen- und Arbeitnehmerrech-
ten starkmacht.
Die Linke will, dass „Entwicklungszusammenarbeit“
nicht in ausbeuterischer Absicht instrumentalisiert wird
bzw. vom „Wohlverhalten“ der Länder bei Öffnung ihrer
Ökonomien, bei Rückübernahmen und Grenzüberwa-
chung abhängt.
Wir fordern, dass der Schutz von Flüchtlingen in den
Mittelpunkt gestellt wird. Das bedeutet für uns Linke die
Achtung des Refoulement-Verbots, die Aufnahme be-
sonders schutzbedürftiger Flüchtlinge (Resettlement), den
Verzicht auf Regelungen „sicherer Drittstaaten“, dass
Flüchtlingen die Wahl ihres Zufluchtslandes überlassen
wird sowie Illegalisierten Legalisierungsmöglichkeiten
eingeräumt und deren Kämpfe gegen ausbeuterische Ar-
beitsbedingungen unterstützt werden.
Das sind für uns Schritte hin zu einer menschen-
freundlich fundierten europäischen Migrationspolitik.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beinhaltet we-
der solche Schritte noch eine grundsätzliche Kritik an
dem bestehenden Migrationsregime. Stattdessen wird
auf eine etwas moderatere Verwertungspolitik abgeho-
ben. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Heute ist für 120 Menschen ein ganz besonderer Tag.
Heute vor einer Woche sind die ersten der 2 500 iraki-
schen Flüchtlinge auf dem Flughafen Hannover gelan-
det, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen; ein
Neuanfang mit der Hoffnung, endlich wieder in Sicher-
heit zu leben, frei von Gewalt und Verfolgung.
Dass die EU-Staaten rund 10 000 schutzbedürftige
Flüchtlinge aus dem Irak im Rahmen des Resettlement-
Programms aufnehmen werden, ist ein wichtiger und
längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Doch
der Weg dahin war steinig: Lange wurde im Rat der eu-
ropäischen Innen- und Justizminister über die Aufnahme
der Iraker nur geredet. Innenminister Schäuble hielt an
der Vorstellung fest, dass Deutschland nur christliche
Iraker aufnehmen solle. Die Christen im Irak sind als re-
ligiöse Minderheit einer besonderen Bedrohung ausge-
setzt. Für uns Grüne ist aber klar, dass neben den Chris-
ten auch andere schutzbedürftige Menschen nach
Deutschland kommen können müssen.
Bei den irakischen Flüchtlingen hat die EU lange ge-
braucht, um endlich ihre gemeinsame Verantwortung ge-
genüber Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten
wahrzunehmen. Die europäischen Innen- und Justizmi-
nister drücken sich aber weiter vor wichtigen Entschei-
dungen im Sinne von Humanität und Menschenrechten,
zum Beispiel wenn es darum geht, endlich verbindliche
Leitlinien für die Einsätze der europäischen Grenz-
schutzagentur FRONTEX zu verabschieden.
Die humanitäre Lage an den Außengrenzen der EU ist
unerträglich. Im vergangenen Jahr sind 1 502 Menschen
bei dem verzweifelten Versuch ertrunken, die Küsten der
Europäischen Union zu erreichen. Es kann nicht länger
der Fall sein, dass im Umgang mit sogenannten Boots-
flüchtlingen rechtliche Grauzonen bestehen und die Mit-
gliedstaaten versuchen, sich aus der Verantwortung zu
stehlen. Wir Grünen wollen, dass das Refoulement-Ver-
bot aus Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonven-
tion und der Genfer Konvention auch auf hoher See Gel-
tung hat und aufgegriffene Schiffbrüchige auf das
Territorium des flaggeführenden oder des nächstgelege-
nen Mitgliedstaats gebracht werden. Dort muss dann
entschieden werden, wer schutzbedürftig ist und wer
rückgeführt werden soll.
Auch eine einheitliche Auslegung des internationalen
Seerechts durch die EU-Mitgliedstaaten muss gewähr-
leistet sein, so bei der Definition von Seenot. Die Ver-
handlungen über die Leitlinien sind im vergangenen
Sommer an der Blockadehaltung einiger Mitgliedstaaten
gescheitert. Das darf diesmal nicht passieren.
Weitere entscheidende Punkte sind Transparenz und
parlamentarische Kontrolle. Die gemeinsamen verbind-
lichen Leitlinien werden nun im vollkommen intranspa-
renten Komitologie-Verfahren verhandelt. Leider konn-
ten wir Parlamentarier schon während der ersten
Verhandlungsrunde die Positionen der Mitgliedstaaten
nicht nachzuvollziehen. Doch bei der Dringlichkeit des
Themas muss die Bundesregierung den Bundestag end-
lich informieren. Genauso gilt immer noch unsere For-
derung nach einer parlamentarischen Kontrolle von
FRONTEX durch die nationalen Parlamente und das Eu-
ropäische Parlament. Das Budget von FRONTEX setzt
seinen Höhenflug fort, während die verbindlichen Leitli-
nien noch immer nicht verabschiedet sind. Dies macht
erneut deutlich, dass diese Agentur nicht frei von parla-
mentarischer Aufsicht agieren kann. Dafür müssen auch
die europäischen Innenministerinnen und Innenminister
als Verantwortliche sorgen.
23346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
Ich habe von der Ankunft der irakischen Flüchtlinge
gesprochen, was eine erfreuliche Nachricht ist. Gleich-
zeitig erreichen uns tagtäglich weniger erfreuliche Nach-
richten. Nicht nur sterben leider immer noch Menschen
während ihrer Flucht in schiffbrüchigen Booten nach
Europa. Wer profitiert, sind kriminelle Schlepper. Auch
erreichten uns Nachrichten über Aufstände in Flücht-
lingslagern in Italien und Malta. Diese Lager sind voll-
kommen überbelegt und die Lebensbedingungen dort
menschenunwürdig. Darauf hat neulich erst die Hilfsor-
ganisation „Ärzte ohne Grenzen“ aufmerksam gemacht.
Wir Grüne fordern, dass Verfahren, Praktiken und Stan-
dards für die Anerkennung von Flüchtlingen und Asyl
sowie bei der Unterbringung von Asylbewerbern und
Flüchtlingen in allen EU-Staaten gelten müssen. Die Er-
richtung eines europäischen Unterstützungsbüros für
Asylfragen, welches die Europäische Kommission vor-
schlägt, kann die Chance bieten, dass sich die Standards
zum Schutz von Flüchtlingen endlich auf hohem Niveau
angleichen. Malta hat sich um den Sitz dieses Büro be-
worben. Doch der Sitz des europäischen Asylbüros ver-
pflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen, bestehende
Vorgaben umzusetzen und die Hausaufgaben in Sachen
Asyl und Flüchtlingsschutz zu erledigen.
Innenminister Schäuble kann die Hilferufe der Innen-
minister von Malta, Italien, Griechenland und Zypern
nach mehr Unterstützung im Bereich der irregulären Mi-
gration nicht länger ignorieren. Wir Grüne fordern end-
lich eine solidarische innereuropäische Verteilung von
asylsuchenden Personen und eine verbesserte und faire
Aufteilung der finanziellen Kosten zwischen den Mit-
gliedstaaten. Mit enormer Skepsis betrachten wir Grüne
die zunehmenden Abkommen mit Drittstaaten, seien es
Rückübernahmeabkommen oder sei es die sogenannte
Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei FRONTEX-Einsät-
zen. Sie dürfen für die EU kein Instrument sein, die Ver-
antwortung abzuwälzen, und müssen strengen humanitä-
ren und menschenrechtlichen Standards genügen.
Der Innenminister spricht viel über illegale Migration.
Legale Migration wird aus der Debatte meistens ausge-
klammert. Wir werden die Situation an den Außengren-
zen aber nur lösen können, wenn wir mehr Möglichkei-
ten der legalen Migration zulassen. Die EU muss neue
legale Wege der Einwanderung, insbesondere der dauer-
haften Einwanderung, ermöglichen, sowohl für hochqua-
lifizierte Einwanderer als auch für nicht hochqualifi-
zierte. Die europäische Blue-Card, wie sie ursprünglich
von der Europäischen Kommission vorgestellt wurde,
wäre ein erster guter Schritt gewesen, um Europa für die
Zuwanderung von Hochqualifizierten attraktiv zu ma-
chen. Das, was von der Blue-Card nach zähen Verhand-
lungen im Rat und unter dem Druck von Innenminister
Schäuble noch übrig blieb, ist für die EU und den von der
CDU/CSU nominierten Kommissionspräsidenten Barroso
kein großer Wurf mehr. Einerseits loben Sie Barroso, an-
dererseits haben Sie mit der Blue-Card eines seiner er-
klärten Vorzeigeprojekte kastriert.
Der Innenminister hat noch eine Chance, Offenheit
und Europaaffinität zu beweisen. Die Kommission will
noch vor den Wahlen zum Europäischen Parlament den
Richtlinienentwurf über die Einreise- und Aufenthalts-
bestimmungen von Saisonarbeitern vorschlagen. Eine
solche europäische Regelung ist wichtig. Sie bietet Sai-
sonarbeitern eine legale Möglichkeit der Einreise und
des befristeten Aufenthaltes, sodass sich hoffentlich we-
niger Menschen gezwungen fühlen, mithilfe von krimi-
nellen Schlepperbanden in die EU zu gelangen. Zudem
werden Saisonarbeiter in vielen europäischen Staaten
dringend benötigt. Ich bin gespannt, ob Herr Schäuble
und seine Kollegen für solch einen Vorschlag reif sind.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Zivildienstgesetzes und
anderer Gesetze (Drittes Zivildienstgesetzände-
rungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 19)
Markus Grübel (CDU/CSU): Jahr für Jahr leisten
90 000 junge Männer in Deutschland Zivildienst. Sie ar-
beiten in Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Ju-
gendhäusern, Kliniken und betreuen pflegebedürftige
Menschen. In diesen sozialen Diensten steckt ein großes
Potenzial für die Gesellschaft. Junge Männer arbeiten in
Bereichen, mit denen sie teilweise im späteren Leben
nicht mehr eng in Berührung kommen. Sie erlangen so-
ziale Kompetenzen, die für andere Berufe von großer
Bedeutung sind. Es ist gut und richtig, dass junge Men-
schen, auch wenn sie technische Berufe erlernen oder
später studieren, mit sozialen Arbeiten intensiv in Be-
rührung kommen.
Wir haben uns nun über ein Jahr mit der Weiterent-
wicklung des Zivildienstes befasst. Als Berichterstatter
meiner Fraktion – ich denke bei den anderen Bericht-
erstattern war es genauso – habe ich eine Vielzahl von
Gesprächen mit den Verbänden geführt. Manchmal war
die gleiche Organisation sogar zwei- oder dreimal in
meinem Büro. Wir haben uns intensiv mit den Proble-
men auseinandergesetzt und auch die Interessen der Pra-
xis berücksichtigt und diskutiert, sodass ich heute sagen
kann: Es gab einen lebhaften Diskurs und Meinungsaus-
tausch zwischen der Politik und den Interessen- und
Fachorganisationen im Bereich des Zivildienstes. Ich
denke, das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen.
Leider konnte bei der „freiwilligen Verlängerung“ keine
Einigung mit dem Koalitionspartner erreicht werden.
Die Zivildienstleistenden stellen für die Gesellschaft
ein großes Potenzial dar. Wir möchten die jungen Men-
schen, die diesen Dienst leisten, in ihrer Persönlichkeits-
entwicklung und beim Qualifikationserwerb unterstützen
bzw. die fachlichen und persönlichen Kompetenzen der
Zivildienstleistenden weiter ausbauen und stärken.
Ebenso möchten wir mit dem Gesetz erreichen, dass die
Zivildienstleistenden, das in den Einsatzstellen erwor-
bene Wissen auch theoretisch vertiefen können. Dies soll
insbesondere durch ein zusätzliches einwöchiges Semi-
nar zur Förderung der persönlichen und sozialen Kompe-
tenzen erreicht werden. Außerdem sieht der Gesetzent-
wurf einen einheitlichen verbindlichen Informationstag
zu Dienstbeginn und, soweit erforderlich, ein viertätiges
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23347
(A) (C)
(B) (D)
Seminar zu speziellen Fachthemen vor. Er bietet darüber
hinaus optional die Möglichkeit eines zusätzlichen
dienstlichen Erfahrungsaustauschs zur Reflexion.
Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass je-
der Zivildienstleistende ein obligatorisches qualifiziertes
Dienstzeugnis erhält, welches den Inhalt des Dienstes,
Tätigkeit und Leistung des Dienstleistenden sowie die
während des Zivildienstes erworbenen Kompetenzen für
den weiteren beruflichen Lebensweg umfasst. Schon
heute kann ein qualifiziertes Dienstzeugnis auf Antrag
des Dienstleistenden von den Dienststellen ausgestellt
werden. Es hat sich als Grundlage für die Anerkennung
des Zivildienstes als berufliche Qualifikationsvorausset-
zung bewährt.
Neu eingeführt wird eine Berichtspflicht des bzw. der
Bundesbeauftragten für den Zivildienst gegenüber dem
Deutschen Bundestag, analog zum Bericht des Wehrbe-
auftragten. Der Tätigkeitsbericht soll regelmäßig über
die Lage und die Entwicklungen im Zivildienst infor-
mieren. Damit wird auch eine regelmäßige Evaluierung
des Gesetzes gewährleistet. Zudem wird gesetzlich ab-
gesichert, dass sich die Dienstleistenden zukünftig mit
Anregungen und Beschwerden direkt an den Zivildienst-
beauftragten wenden können, ohne dienstliche Nachteile
befürchten zu müssen. Bislang wurde nicht bekannt, zu
welchen Ergebnissen dies geführt hat, da es im Gegen-
satz zum Bericht des Wehrbeauftragten keine Veröffent-
lichungspflicht gibt.
Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf Folgeände-
rungen, Änderungen aufgrund höchstrichterlicher Recht-
sprechung bzw. redaktionelle Anpassungen, insbesondere
zur geschlechtergerechten Fassung, im Zivildienst-, Kriegs-
dienstverweigerungs-, Zivildienstvertrauensmann-, Wehr-
pflicht- und Arbeitsplatzschutzgesetz.
Zudem haben wir eine Lösung gefunden, die in Fällen
eines Freiwilligen Jahres nach § 14 c des Zivildienstge-
setzes eine Umsatzsteuerpflicht weitgehend vermeidet.
Die Regelung in § 11 Abs. 2 des Jugendfreiwilligendien-
stegesetzes ist auch mit § 14 c des Zivildienstgesetzes
vereinbar, sodass entsprechende Verträge auch für den
Freiwilligendienst anerkannter Kriegsdienstverweigerer
geschlossen werden können.
Das Bundesamt für den Zivildienst hat durch einen
Erlass – also eine außergesetzliche Regelung – alle Trä-
ger des FSJ und des FÖJ darüber informiert, dass für den
Freiwilligendienst anerkannter Kriegsdienstverweigerer
Verträge nach § 11 Abs. 1 und 2 JFDG möglich sind und
bezuschusst werden. Der Bundesarbeitskreis FSJ hat für
die Träger diese Lösung ausdrücklich begrüßt. Deshalb
haben wir auch nicht die vom Bundesrat geforderte ge-
setzliche Regelung aufgegriffen, denn diese ist nicht not-
wendig, um das Ziel, nämlich die Vermeidung der Um-
satzsteuer, zu erreichen.
Leider konnte keine gesetzliche Grundlage für die frei-
willige Verlängerung des Zivildienstes geschaffen wer-
den. Dies bedauere ich sehr – zumal es auch beim Koali-
tionspartner durchaus Kollegen gab, die dieser Regelung
offen gegenüber standen. Wir als Unionsfraktion hätten
den Zivildienstleistenden gerne die Möglichkeit eröffnet,
entsprechend der für Wehrdienstleistende geltenden Re-
gelungen den Zivildienst freiwillig zu verlängern und
während dieser Phase einen abgesicherten sozialen Status
zu haben. Die Praxis behilft sich hier teilweise mit Prak-
tikumsverträgen, teilweise mit geringfügiger Beschäfti-
gung oder anderen Lösungen. Zudem haben die Verbände
und die Betroffenen selbst die freiwillige Verlängerung
überwiegend begrüßt. Dies belegen auch durchgeführte
Umfragen.
Ich persönlich halte diese Regelung weiter für not-
wendig und sinnvoll; aber wo es ein 1., 2. und 3. Zivil-
dienstgesetzänderungsgesetz gab bzw. gibt, wird es in
der nächsten oder übernächsten Wahlperiode auch ein
4. Zivildienstgesetzänderungsgesetz geben, da bin ich
mir ganz sicher. Vielleicht ergibt sich dann eine politi-
sche Konstellation, die eine solche Regelung durchset-
zen kann.
Trotz allem möchte ich darauf verweisen, dass es uns
gelungen ist, den Zivildienst als Lerndienst weiter aus-
zugestalten. Ich denke, da sind wir uns alle weitgehend
einig, außer den Fraktionen, die den Zivildienst als
Pflichtdienst kategorisch ablehnen und ihn, wie den
Wehrdienst, am liebsten sofort abschaffen würden. Lei-
der haben sie keinen konstruktiven Beitrag geleistet.
Stattdessen haben Bündnis 90/Die Grünen Forderungen
der Zentralstelle KDV wortgleich in einen Antrag ge-
schrieben und sich somit zum Erfüllungsgehilfen eines
nur schwer erträglichen politischen Manövers der KDV
machen lassen. Die FDP hat „kurz vor knapp“ noch ei-
nen Entschließungsantrag eingebracht, der irreführend
und falsch ist. Zentrales Anliegen des Gesetzentwurf ist
die Ausgestaltung des Zivildienstes als Lerndienst und
nichts anderes. Sie suggerieren etwas vollkommen ande-
res und wollen über diese Schiene Argumente für die
Abschaffung des Wehrdienstes liefern. Ihnen scheint
entgangen zu sein, dass dies hier überhaupt nicht zur De-
batte steht. Im Übrigen bin ich gespannt, ob Ihr Frak-
tionsvorsitzender Westerwelle nach der nächsten Bun-
destagswahl in einer möglichen Koalition mit der Union
wirklich Außenminister wird und ob er auch dann die
Wehrpflicht zur Disposition stellt. Die Antwort können
sie sich ja selbst geben!
Die Anhörung am 17. Dezember 2008 hat gezeigt,
dass der Gesetzentwurf nicht perfekt ist und Änderungen
notwendig sind. Wir haben diese Kritik und die Anre-
gungen seitens der Praxis in die politische Debatte auf-
genommen und gezeigt, dass wir lernfähig sind.
Ein wesentlicher Kritikpunkt vonseiten der Praxis be-
zog sich auf die unverbindliche Regelung bei der Se-
minarteilnahme im Bereich sozialer Kompetenzen. Es
wurde befürchtet, dass dadurch die Ausgestaltung des
Zivildienstes als Lerndienst nicht ausreichend gewähr-
leistet werde. Einhellig wurde mehr Verbindlichkeit ge-
fordert. Die Gestaltung des Zivildienstes als Lerndienst
fördert sowohl die sozialen als auch die persönlichen
Kompetenzen des Zivildienstleistenden. In diesen neuen
Seminaren sollen die im Dienstalltag erworbenen Kom-
petenzen identifiziert, reflektiert und gesichert werden.
Aber: Seminare zur Förderung sozialer Kompetenzen
kosten Geld.
23348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
Im ursprünglichen Arbeitsentwurf zum 3. ZDGÄndG
vom 28. Februar 2008 waren diese Seminare als ver-
pflichtend vorgesehen. Mit der Folge, dass dies ab 2011
circa 13,5 Millionen Euro Mehrkosten verursacht hätte.
Weder im Zivildiensthaushalt noch im BMFSFJ-Ge-
samthaushalt kann eine solche Summe eingespart wer-
den. Auch der Finanzminister hat zusätzliche Finanzmit-
tel verweigert. Dies hatte zur Folge, dass im jetzigen
Gesetzentwurf, Drucksache 16/10995, eine schwammige
Formulierung gewählt wurde. Die Formulierung „sind
die Dienstpflichtigen berechtigt …“ – § 25 b Abs. 2 Satz 1,
3. ZDGÄndG – enthält keine verbindliche Vorgabe.
Aus zivildienstpolitischer Sicht ist diese Regelung je-
doch unbefriedigend. Zentrales Ziel der Zivildienstno-
velle ist ja gerade die Ausgestaltung des Zivildienstes als
Lerndienst. Wenn die wichtigen Seminare zur Weiterent-
wicklung sozialer Kompetenzen unverbindlich geregelt
werden, wird dieses Ziel konterkariert; darüber waren
wir schnell mit dem Koalitionspartner einig. Ich bin
froh, dass wir über einen Änderungsantrag mehr Ver-
bindlichkeit ins Gesetz schreiben konnten und dass ab
2011 die Seminare zur Vertiefung der im Dienst erwor-
benen persönlichen und sozialen Kompetenzen verbind-
lich vorgesehen sind. Auch mit der Konsequenz, dass
dies den Bund circa 13,5 Millionen Euro zusätzlich kos-
ten wird.
Uns war klar, dass eine Einigung mit den Haushältern
schwierig wird; denn gerade die Haushaltskonsolidie-
rung ist ein wichtiges politisches Ziel. Aber man kann
natürlich auch nicht überall sparen. Die Konjunkturpa-
kete I und II zeigen, dass der Staat in besonderen Aus-
nahmesituationen auch den Geldhahn aufdrehen und zu-
sätzliche Gelder bereitstellen muss. Ich bin daher den
Haushältern sehr dankbar, dass sie den jährlichen Mehr-
ausgaben ab 2011 keine Steine in den Weg gelegt haben
und damit auch einen großen Beitrag zur Aus- und Fort-
bildung der Zivildienstleistenden tätigen. Nur durch die
Unterstützung der Haushaltspolitiker konnte unser zivil-
dienstpolitisches Anliegen umgesetzt werden.
Der Zivildienst ist eindeutig ein Erfolgsmodell und für
jeden jungen Mann auch eine persönliche Bereicherung.
Zudem trägt der Zivildienst wesentlich zur Berufsfin-
dung und Berufsorientierung bei. Mit der weiteren Aus-
gestaltung zum Lerndienst – dem Erwerb von Schlüssel-
qualifikationen im Dienst selbst sowie der weiteren
qualitativen Verbesserung von Lehrgängen – wird der Zi-
vildienst noch attraktiver für die jungen Menschen.
Die Zivildienstnovelle ist auch ein Baustein zur För-
derung von bürgerschaftlichem Engagement. Im Gegen-
satz zu den Freiwilligendiensten, wie dem Freiwilligen
Sozialen Jahr oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr,
ist der Zivildienst ein Wehrersatzdienst und damit ein
Pflichtdienst. Dennoch gibt es zwischen den beiden
Dienstarten eine Menge von Berührungspunkten und
Gemeinsamkeiten, die im Bericht der Kommission „Im-
pulse der Zivilgesellschaft“ ausführlich dargestellt wer-
den. Die zentrale Forderung des Berichts wird nun mit
der Novelle umgesetzt: die Ausgestaltung des Zivil-
dienstes als Lerndienst. Wir sind damit auch dem Auf-
trag aus dem Koalitionsvertrag vom November 2005
nachgekommen und haben eine Fachdiskussion, die
schon in der letzten Legislaturperiode mit der bereits ge-
nannten Arbeitsgruppe „Impulse für die Zivilgesell-
schaft“ begonnen hatte und mit mehreren Fachkonferen-
zen fortgeführt wurde, zu einem guten Ende geführt.
Sönke Rix (SPD): „Auch ein langer Weg beginnt mit
dem ersten Schritt“. Diese Weisheit von Laotse ist inzwi-
schen über 2 600 Jahre alt. Er muss damals schon etwas
vom Dritten Zivildienstgesetzänderungsgesetz geahnt
haben.
Der erste Schritt fand im Koalitionsvertrag von No-
vember 2005 statt. Zwischen SPD und CDU wurde be-
schlossen, dass der Zivildienst zu einem Lerndienst aus-
gebaut werden soll. Die Koalition war sich einig, dass
der Zivildienst schon immer ein Lerndienst war. Aller-
dings konnte der Zivildienstleistende bisher nur schwer
nachweisen, ob und was er während des Zivildienstes
gelernt hatte.
In den vergangenen drei Jahren gab es auf dem Weg
zu diesem Gesetzentwurf viele Schritte. Es gab Schritte
nach vorn und auch ein paar Schritte wieder zurück.
Ideen wurden geboren und aufgeschrieben, Initiativen,
wie die freiwillige Verlängerung des Zivildienstes, ge-
startet und – zum Glück – wieder fallengelassen. Erst im
November 2008 gab es dazu den Gesetzentwurf der
Bundesregierung, über den wir heute in abschließender
Beratung reden.
Obwohl es eine lange Reise war, die die Berichterstat-
ter zu diesem Gesetz miteinander im Jahr 2005 angetre-
ten haben, sind wir nie aus dem Tritt gekommen. Bei
manchen versagte höchstens kurzzeitig das Navigations-
gerät. Aber heute stehen wir hier und präsentieren einen
Gesetzentwurf mit einem ergänzenden Änderungsantrag.
Zentrale Elemente im vorliegenden Gesetzentwurf
sind die Neuregelungen für eine verpflichtende Lehr-
gangsteilnahme der Zivildienstleistenden, das Recht auf
ein qualifiziertes Dienstzeugnis und die neu geschaffene
Berichtspflicht des Bundesbeauftragten für den Zivil-
dienst. Was in dieser Legislaturperiode nie zur Debatte
stand, war die Zukunft des Zivildienstes.
Der Zivildienst ist ein Pflichtdienst, und trotzdem soll
dieser Dienst sowohl dem jungen Mann als auch der Ge-
sellschaft nutzen. Es geht nicht um das sture Ableisten
des Dienstes. Vielmehr nehmen die Zivildienstleistenden
auch etwas mit. Sie haben neue Eindrücke, sie lernen
neue Menschen kennen. Sie kommen in ein völlig neues
soziales Umfeld. Sie üben Tätigkeiten aus, die völlig neu
für sie sind. Das geht nur durch Lernen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sah dafür
Folgendes vor: einen verpflichtenden eintägigen Lehr-
gang über die Rechte und Pflichten des Zivildienstleis-
tenden, einen viertägigen Lehrgang zur politischen Bil-
dung und einen einwöchigen fachlichen Lehrgang,
dessen Verpflichtung allerdings von der Art der Tätigkeit
des Zivildienstleistenden abhängig ist. Die Teilnahme an
einem dreitägigen Reflexionsseminar sowie an einem
einwöchigen Kurs zur Stärkung sozialer Kompetenzen
sollten freiwillig sein. Das hätte dazu geführt, dass es Zi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23349
(A) (C)
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vildienstleistende gegeben hätte, die während ihrer
Dienstzeit an keiner einzigen Lernveranstaltung teilge-
nommen hätten.
Aber: Kein Zivildienstleistender sollte seinen Dienst
ohne mindestens einen Lernteil beenden. Auch das Bun-
desamt für den Zivildienst hat in seinen ersten Eckpunk-
ten diesem Gedanken Rechnung getragen. Wir haben
uns darum zusammen mit dem Koalitionspartner auf den
vorliegenden Änderungsantrag geeinigt. In einem ge-
staffelten Verfahren soll ein einwöchiges Seminar zur
Vertiefung der im Dienst erworbenen persönlichen und
sozialen Kompetenzen ab 2011 verpflichtend für alle Zi-
vildienstleistenden stattfinden. In diesem Seminar lernt
jeder Zivildienstleistende Verhaltensweisen, die er in
seinem neuen Umfeld gegenüber den Kollegen, den an-
deren Zivildienstleistenden aber auch den mittelbar oder
unmittelbar zu pflegenden oder zu betreuenden Men-
schen anwenden kann. Wir wollen, dass alle Zivildienst-
leistenden an diesen Kursen teilnehmen, denn auch wer
in seinem Zivildienst nur hausmeisterähnliche Aufgaben
erfüllt, wird zum Beispiel mit Bewohnern eines Heimes,
Kindern in Tageseinrichtungen oder auch Kranken in ei-
nem Krankenhaus in Kontakt kommen. Schon ab 2010
sollen die Zivildienstleistenden das Recht haben, an die-
sen Kursen teilzunehmen. Ich wünsche mir, dass sie
schon dann regen Gebrauch davon machen.
Für uns in der SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Wir
begrüßen den rechtlichen Anspruch auf noch mehr Qua-
lifizierung, Reflexion und Fortbildung. Mit dieser Ände-
rung haben wir ein gutes Gesetz geschaffen, dass dem
Ziel „Zivildienst als Lerndienst“ gerecht wird, was uns
auch die Fachleute während der Anhörung im Dezember
bestätigt haben.
Ausdrücklich begrüßen wir, dass jetzt den Zivil-
dienstleistenden ein qualifiziertes Dienstzeugnis ausge-
stellt wird. Sie können es für ihre berufliche Zukunft
nutzen und die erworbenen Fähigkeiten bei zukünftigen
Arbeitgebern nachweisen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Weiterent-
wicklung des Zivildienstes zu einem formalen Lern-
dienst – informell war er das natürlich schon immer –
nicht nur den jungen Männern zugutekommt. Auch die
Gesellschaft profitiert von den Qualifikationen, die die
Zivildienstleistenden während ihres Dienstes erwerben.
Auch vor diesem Hintergrund ist die Weiterentwicklung
wichtig und richtig.
Ein Wort zum Schluss noch zu der sogenannten frei-
willigen Verlängerung, über die lange diskutiert wurde.
Ich begrüße ausdrücklich, dass diese angedachte Rege-
lung nicht im Gesetzentwurf erwähnt wird. Wir als SPD
haben nach Diskussionen deutlich gemacht, dass wir
dieses Instrument nicht wollen und auch nicht brauchen.
Zum einen würde diese Regelung zu einer Konkurrenz
zwischen Freiwilligem Sozialen Jahr und Zivildienst
führen. Zum anderen wollten wir den Zivildienst durch
eine freiwillige Verlängerung nicht verstetigen. Und was
viele vergessen: Die Kosten der freiwilligen Verlänge-
rung wären auf den Träger oder die Einsatzstelle zuge-
kommen.
Wenn ein Zivildienstleistender jedoch Zeit zu über-
brücken hat, weil sein Studium erst in einigen Monaten
beginnt, ist eine Verlängerung heute schon möglich. Die
Zivildienstleistenden werden dann von ihrer Einsatz-
stelle für drei oder mehr Monate angestellt.
„Man kommt ja nicht ans Ziel, weil man vom Ziel ge-
träumt hat. Sondern man kommt zum Ziel, weil man den
Weg dahin gegangen ist.“, sagte schon Helmut Schmidt.
Das haben wir getan.
Ina Lenke (FDP): 2008 gab es circa 460 000 Muste-
rungsverfahren und 200 000 Ausmusterungen. Als ich
1998 als neue Abgeordnete in den Deutschen Bundestag
einzog, wurden noch rund 160 000 Grundwehrdienstleis-
tende einberufen, im Jahre 2008 waren es noch rund nur
68 000, hierin inbegriffen sind sehr viele, die während der
ersten Monate wieder nach Hause geschickt wurden und
sogar die freiwillig länger dienenden Wehrdienstleisten-
den, die wesentlich höhere Bezüge als den normalen
Wehrsold erhalten. Im Zivildienst haben wir die gleiche
Situation: 1998 gab es rund 129 00 Einberufungen, 2008
waren es noch 85 000 Einberufungen. Wenn – bei etwa
gleich großen Jahrgängen – jährlich über 140 000 junge
Männer weniger der Wehrpflicht nachkommen, kann
schon bei oberflächlicher Betrachtung irgendwas nicht
mehr stimmen. Wenn Zivildienstleistende, die nach dem
Grundgesetz nur einen Ersatzdienst für die Wehrpflicht
leisten, mittlerweile wesentlich mehr sind als die Grund-
wehrdienstleistenden, ist das gesamte System aus den
Fugen geraten.
Ursprünglich wurde der Entwurf des vorliegenden
3. ZDGÄndG seitens der Bundesregierung initiiert, um
den sogenannten „Freiwillig verlängerten Zivildienst“ zu
installieren, was zu noch mehr Ungerechtigkeiten geführt
und die Zivildienstleistenden gegenüber den Grund-
wehrdienstleistenden deutlich schlechter gestellt hätte –
ein Vorhaben, das daher von der Mehrheit des Deutschen
Bundestages abgelehnt wird, also selbst in der Großen
Koalition letztendlich wegen des Widerstandes in der
SPD keine Mehrheit fand.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist also lediglich eine
Rumpffassung des eigentlich geplanten Gesetzes. Dies
wurde besonders in der Anhörung deutlich, in der vor allem
darüber diskutiert wurde, was aus dem Gesetz gestrichen
wurde und in der die Sachverständigen immer wieder
mit der Frage nach der zeitlichen Verlängerungsoption
konfrontiert wurden.
Statt weiterhin, trotz des Scheiterns dieser Verlänge-
rungsoption, diese Überlegungen zu verfolgen, sollte das
Ministerium mehr über die fast unbekannte Möglichkeit,
den Zivildienst in zeitlich getrennten Abschnitten – 6 plus
3 Monate – abzuleisten, informieren. Der richtige Ansatz,
die zeitliche Lücke zwischen dem Ende des neunmonatigen
Zivildienstes und dem Beginn einer Ausbildung über-
brücken zu können, ist bereits heute möglich. Im Zivil-
dienstgesetz regelt der § 24 Abs. 2 ZDG die Möglichkeit
des abschnittsweisen Zivildienstes, wovon der erste
Abschnitt also 6 Monate dauert. Hiermit können bereits
heute Wartezeiten, zum Beispiel bei Aufnahme eines
Studiums, weitgehend vermieden werden, wenn alle
23350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
Beteiligten über den Ablauf und die Organisation eine
Einigung erzielen. Die Aufteilung muss allerdings heute
bereits im Einberufungsbescheid festgelegt werden, eine
spätere einvernehmliche Lösung ist nicht möglich. Die
FDP hat hierzu einen Entschließungsantrag vorgelegt,
um aufzuzeigen, dass bereits heute eine Schließung die-
ser Zeitlücke möglich ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf schafft es weder den
Zivildienst zu einem Lerndienst auszubauen noch die
mögliche zeitliche Kluft zwischen Beendigung des Zivil-
dienstes und der Aufnahme eines Studiums oder einer
anderen Ausbildung zu schließen.
Der Änderungsantrag der Koalition hat den Entwurf
verbessert, aber die Änderungen sind unzureichend, um
von einem Lerndienst sprechen zu können.
Dass durch den Änderungsantrag der Koalition der
Art. 4 Nr. 3 des ZDÄndG gestrichen wurde, ist zwar zu
begrüßen, dass diese Regelung aber überhaupt den Weg
durchs Kabinett und die Zustimmung der zuständigen
Ministerin fand, ist skandalös.
Die gestrichene Änderung hätte die heutige Rechtsstel-
lung des Zivildienstleistenden quasi auf den Kopf gestellt
und hätte weitere Nachteile für Pflichtdienstleistende ein-
geführt.
Bisher können Zivildienstleistende, wenn sich während
des Zivildienstes eine vorübergehende Dienstuntauglich-
keit einstellt, die über das Ende der Wehrpflicht hinaus
andauerte, nur auf ihren Antrag hin entlassen werden.
Stellen diese keinen Antrag, geht der Dienst planmäßig
und unter Beibehaltung der Geld- und Sachbezüge zu
Ende, ohne dass aktiv am Dienst teilgenommen werden
darf. Diese Regelung gibt Planungssicherheit für die Wehr-
pflichtigen wie für Arbeit- und Ausbildungsplatzgeber.
Insbesondere wird aber die Wehrpflicht zusammenhängend
abgeleistet und spätere Einberufungen sind nicht mehr
möglich. Die beabsichtigte Änderung hätte ermöglicht,
bei neu eintretenden oder durch die Wehrpflicht verur-
sachten gesundheitlichen Einschränkungen, die zu einer
vorübergehenden Dienstuntauglichkeit führen, die über das
planmäßige Dienstende hinaus andauern, die Entlassung
auch gegen den Willen des Wehrpflichtigen auszusprechen.
Die spätere Wiederherstellung der Dienstfähigkeit hätte
zur erneuten Einberufung für die noch offene Grund-
wehrdienstzeit geführt.
Die betroffenen Wehrpflichtigen hätten nicht nur
Nachteile durch ihre gesundheitlichen Einschränkungen,
sondern sie wären zusätzlich belastet worden, weil ihnen
zugemutet worden wäre, ihre gesamte Ausbildungs-,
Berufs- und Lebensplanung auf eine zweite Einberufung
abzustellen.
Dieses Beispiel zeigt exemplarisch die Qualität des ge-
samten Gesetzesvorhabens. Dass es der Bundesregierung
nicht um die Einführung eines Lerndienstes geht, sondern
mit ein paar Begriffen gespielt wird, die sich gut anhören
und deren politische Vermarktung einfach erscheint, liegt
leider auf der Hand. So sieht der Bundeshaushalt 2009
eine Absenkung der Lehrgangskosten von 33,68 Millionen
Euro (2008) auf 30,68 Millionen Euro (2009) vor. Gleich-
zeitig soll die Zahl der Einberufungen von 85 000 auf
88 700 angehoben werden. Mehr Einberufungen hätten bei
einer gleichbleibenden Seminarquote zwangsläufig ein
Aufstocken der Haushaltsmittel zur Folge. Es geschieht
aber das genaue Gegenteil, die Zahl der Einberufungen
steigt und gleichzeitig werden die Haushaltsmittel für
Lehrgänge verringert. Deutlicher kann die Bundesregie-
rung es nicht zeigen: Dieses Gesetz dient ausschließlich
der Augenwischerei!
Elke Reinke (DIE LINKE): Wieder einmal zeigt
sich: Die Bundesregierung tut sich schwer, den Zivil-
dienst von Grunde auf zu verbessern. Der Änderungsan-
trag der Koalitionsfraktionen bringt auch nur leichte, zö-
gerliche Korrekturen. Am Ende werden wir aber
trotzdem wieder den gerne verwendeten Satz hören:
„Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.“ Aber wo
ist das Ziel?
Das Ziel der Fraktion Die Linke ist hingegen eindeu-
tig: Wir sind für die Abschaffung der Wehrpflicht und al-
ler Zwangsdienste. Die Wehrpflicht ist ein erheblicher
Eingriff in die Grundrechte und Lebensplanungen junger
Männer. Sie ist ein Auslaufmodell und wird für die Lan-
desverteidigung nicht gebraucht. Wir sind daher für die
Umwandlung des Zivildienstes, der als Ersatzdienst Be-
standteil der Wehrpflicht ist.
Durch freiwerdende Mittel müssen die Jugendfreiwil-
ligendienste gestärkt werden: Es ist eine echte Offensive
für sozial abgesicherte, regulär bezahlte und mitbestim-
mungsrelevante Dienste nötig. Die Zahl der Freiwilli-
gendienstplätze muss mindestens verdoppelt werden, da-
mit alle jungen Menschen, die einen Freiwilligendienst
leisten wollen, das auch tun können. Die freiwilligen
Dienste müssen zudem als Lern- und Bildungsdienste
hohen qualitativen Anforderungen genügen. Solange wir
noch die Wehrpflicht haben, wünsche ich mir das natür-
lich auch für den Zivildienst. Dies bleibt aber leider ein
frommer Wunsch, denn es gibt unter anderem folgende
drei Problemfelder:
Ein Problem bleibt die Wehrungerechtigkeit. Für die
Bundesregierung ist der Zivildienst anscheinend immer
noch das ungeliebte Kind der Wehrpflicht. Der Ersatz-
dienst ist inzwischen längst Regeldienst. Und die Wehr-
ungerechtigkeit würde sich ohne die Kriegsdienstver-
weigerer noch viel deutlicher zeigen. Die Möglichkeit,
als Kriegsdienstverweigerer zum Zivildienst einberufen
zu werden, ist nämlich wesentlich höher als die, zur
Bundeswehr einberufen zu werden.
Der Linken ist wichtig, dass die jungen Männer nicht
in einem Zustand der Ungewissheit gehalten werden. Sie
dürfen nicht in ihrer Lebensgestaltung verunsichert wer-
den, weil sie nicht wissen, ob und wann der Staat mit der
Wehrpflicht zuschlägt. Welch geringe Bedeutung die
Bundesregierung dem Zivildienst beimisst, zeigt sich
auch an Folgendem:
Anders als für die Grundwehrdienstleistenden haben
„Zivis“ keinen Vertreter im Bundestag, der sich für ihre
Anliegen einsetzt und dessen Jahresberichte dort sogar
diskutiert werden müssen. Stattdessen wird der Beauf-
tragte für den Zivildienst von der Bundesregierung ein-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23351
(A) (C)
(B) (D)
gesetzt. Hier wäre ein Umdenken in Richtung Mitbe-
stimmung dringend geboten.
Die Wehrpflicht behindert zweitens die Ausbildungs-
und Berufschancen junger Männer. Durch dieses Gesetz
entstehen für die Wehrpflichtigen Nachteile auf dem
Arbeitsmarkt, da auch § 2 des Arbeitsplatzschutzgeset-
zes geändert werden soll. Wehrpflichtige haben in der
Vergangenheit zu Recht stets darauf verwiesen, dass Ar-
beitgeber die Verlängerung eines befristeten Arbeitsver-
hältnisses oder die Übernahme der Wehrpflichtigen ab-
lehnen, wenn die Ableistung des Wehr- oder
Zivildienstes bevorsteht. Wenn am Ende des Zwangs-
dienstes dann der Arbeitsplatz weg ist, ist das nicht das
Problem der Bundesregierung.
Die Linke kann nicht hinnehmen, dass so mit der be-
ruflichen Zukunft junger Menschen gespielt wird. Wir
werden hier um Verbesserungen kämpfen. Schließlich
bereitet es mir Sorgen, dass mit Zivildienstleistenden
verstärkt sozialversicherungspflichtige reguläre Arbeits-
plätze besetzt und damit ersetzt werden. Der Ersatz-
dienst ist nicht arbeitsmarktneutral, wie ursprünglich
vorgesehen: Zivildienstleistende übernehmen oft Tätig-
keiten, die im Grunde von ausgebildeten Fachkräften
ausgeübt werden müssen. Und sie werden außerdem von
der Zivildienststelle wegen der geringeren Lohnkosten
bevorzugt eingestellt. So tragen „Zivis“ unabsichtlich
zur Verdrängung von regulären Arbeitsplätzen bei.
Die Linke will die Arbeit zum Beispiel in der Alten-
betreuung, Kinderbetreuung sowie im Gesundheits- und
Pflegebereich anders organisieren: Wir brauchen hier
vor allem gut ausgebildete und qualifizierte, wenigstens
nach gesetzlichem Mindestlohn bezahlte Fachkräfte,
nicht Zivildienstleistende als Nothilfsmaßnahme. Wir
wollen einen öffentlich finanzierten Beschäftigungssek-
tor, aber keinen Zivildienst zum Minimaltarif.
Der Gesetzentwurf führt insgesamt nicht zu einer zu-
kunftsfähigen Entwicklung des Zivildienstes. Natürlich
begrüßt die Linke, dass sich die Mehrheit der jungen
Männer für einen zivilen sozialen Dienst und nicht für
den Kriegsdienst entscheidet. Sie dürfen jedoch für ihre
gesellschaftlich wertvolle, anerkannte Arbeit nicht auch
noch benachteiligt werden.
Über alledem steht aber unsere Forderung: Die Wehr-
pflicht muss weg! Zum einen, weil die Linke eine Frie-
denspartei ist, die sich den Menschenrechten und dem
Völkerrecht eng verbunden fühlt. Zum anderen, wie ge-
sagt, weil die Wehrpflicht die Ausbildungs- und Berufs-
chancen beeinträchtigt.
Unsere Gesellschaft braucht engagierte und gut aus-
gebildete junge Menschen. Anstatt dieses Potenzial in
einem Zwangsdienst zu verheizen, wäre es dringend er-
forderlich, allen jungen Menschen einen ungehinderten
Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen und gleichzei-
tig Freiwilligendienste wirklich zu fördern.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das im
Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbarte Ziel,
den Zivildienst zum Lerndienst umzugestalten, wird mit
dem vorgelegten Gesetzentwurf verfehlt. Zwar ist es ein
kleiner Fortschritt, dass die Zivildienstleistenden in Zu-
kunft nach ihrer Tätigkeit den Anspruch auf ein qualifi-
ziertes Zeugnis haben, in dem ihre Kompetenzen doku-
mentiert werden. Viel wichtiger wäre es jedoch gewesen,
eine angemessene Zahl an Bildungstagen für alle Zivil-
dienstleistenden tatsächlich verbindlich zu ermöglichen.
Die diesbezüglichen Änderungen der Koalitionsfraktio-
nen im Gesetzgebungsverfahren sind unzulänglich, denn
eine bloße Berechtigung zur Teilnahme an Seminaren
reicht nicht aus. Die Verpflichtung, an einem Seminar zu
speziellen Fachthemen teilzunehmen, wird durch die
Formulierung „soweit dies erforderlich ist“ aufgeweicht
und ad absurdum geführt. Für viele Zivildienstleistende
gilt damit weiterhin das Prinzip „learning by doing“.
Dies wird ihren verantwortungsvollen Aufgaben absolut
nicht gerecht!
Zentrale Probleme des Zivildienstes werden in die-
sem Dritten Änderungsgesetz von der Koalition nicht
angegangen. Angesichts der Schließung von Zivildienst-
schulen und einer Kürzung der Mittel für Lehrgänge bei
gleichzeitig mehr Zivildienstleistenden, kann nicht von
einer Umgestaltung zum Lerndienst gesprochen werden.
Es ist bezeichnend, dass erst kurz vor dem Ende Ihrer
Regierungszeit eine Gesetzesänderung beschlossen
wird, bei der es mehr als zweifelhaft ist, dass sie tatsäch-
lich zu spürbaren Verbesserungen im Alltag der Zivil-
dienstleistenden führt.
Der angebliche „Lerndienst“ wird von Ihnen auch da-
durch konterkariert, dass Sie im aktuellen Haushaltsjahr
2009 die Mittel für Vorhaben zur Ausgestaltung des Zi-
vildienstes als Lerndienst von 750 000 Euro auf 350 000
Euro mehr als halbiert haben. Das ist kein Signal für ei-
nen zivildienstpolitischen Aufbruch, sondern für Ab-
bruch gewesen.
Nicht zuletzt haben Sie in Ihrem Änderungsgesetz die
Forderung von Verbänden nicht aufgegriffen, die frie-
densethische Profilierung des Zivildienstes voranzutrei-
ben und Lerninhalte wie „konstruktive Konfliktlösung“
als Aufgabenstellung zu benennen.
Unseren Änderungsantrag, Ungleichbehandlungen
von Wehrpflichtigen und Zivildienstleistenden bei der
Teilnahme an Musterungsuntersuchungen zu beseitigen,
haben Sie im Ausschuss abgelehnt, ohne auch nur ein
einziges Gegenargument zu nennen. Ich appelliere an
Sie: Hören Sie endlich auf, den Gleichbehandlungs-
grundsatz mit Füßen zu treten! Erfinden Sie nicht immer
neue Ausflüchte bei den Untauglichkeitszahlen, und las-
sen Sie nicht erst Gerichte entscheiden, dass es mit der
ungerechten Einberufungspraxis so nicht weitergehen
kann! Erst gestern hat das Kölner Verwaltungsgericht er-
klärt, dass es die geltende Einberufungspraxis und die
mit ihr verbundene Wehrungerechtigkeit als verfas-
sungswidrig beurteilt, und hat eine entsprechende Rich-
tervorlage an das Bundesverfassungsgericht weitergege-
ben. Sie haben in dieser Legislaturperiode die eklatante
Wehrungerechtigkeit weiter verschlimmert und benach-
teiligen dabei insbesondere die Kriegsdienstverweigerer
und damit die Zivildienstleistenden.
Durch die Uneinigkeit der Regierungskoalition wurde
das Zivildienstgesetz deutlich verzögert. Hauptgrund
23352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
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war die von der Union und Ministerin von der Leyen ge-
wollte optionale Dienstverlängerung, die das ungerechte
System der Wehrpflicht weiter zementiert hätte. Erst auf
massiven Druck haben Sie dieses unsinnige Instrument,
das reguläre Arbeitsplätze hätte gefährden können, wie-
der aus Ihrem Gesetzentwurf gestrichen. Traurig, aber
wahr: Diese Nichtänderung ist das Beste an Ihrem Ge-
setz. Warum die FDP dieser „alten Kamelle“ nun einen
eigenen Entschließungsantrag widmet, ist wenig ver-
ständlich. An den weiterhin bestehenden und entschei-
denden Schwachpunkten des vorgelegten Gesetzes geht
sie damit vorbei.
Die heutige Verabschiedung des Gesetzes dokumen-
tiert aber auch, dass die Koalition am Dogma der Wehr-
pflicht und dem von ihr abgeleiteten Zivildienst festhält.
Dies ist im europäischen Vergleich strukturkonservativ,
rückwärtsgewandt und sicherheitspolitisch unnötig!
Unsere grünen Alternativen zu dieser Politik sind
klar: ein Ausstieg aus der Wehrpflicht und die Konver-
sion des Zivildienstes, eine Verdoppelung der Freiwilli-
gendienstplätze und keine sozialen Pflichtdienste sowie
parallel die Umwandlung der Bundeswehr in eine Frei-
willigenarmee mit einem freiwilligen Kurzdienst für
junge Männer und Frauen. Neben diesen mittelfristigen
Zielen müssen kurzfristig die Möglichkeiten zum Ersatz
des Pflichtdienstes durch Freiwilligendienste dringend
ausgeweitet werden.
Anstatt alte Strukturen zu zementieren, brauchen wir
schnellstmöglich einen massiven Ausbau der Jugendfrei-
willigendienste nach klaren und transparenten Qualitäts-
standards. Hier gibt es ein riesiges Potenzial von engage-
mentbereiten Jugendlichen, die nur darauf warten, sich
einbringen zu können. Als Grüne haben wir entspre-
chende Vorschläge zu Konzeption und Finanzierung ge-
macht.
Notwendig ist jetzt der Mut zu klaren Entscheidungen
und richtigen Prioritätensetzungen. Ich hoffe, dass sich
in diesem Parlament bald die Mehrheit für Freiwilligkeit
statt Zwang entscheidet und es dann keine mutlosen Ge-
setze zur Fortführung von Pflichtdiensten mehr gibt.
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend: Am 10. April 1961 traten die ersten Kriegsdienst-
verweigerer ihren Wehrersatzdienst an; in diesem Jahr
werden mehr als 85 000 junge Männer ihren Zivildienst
leisten. Das ist etwa jeder vierte junge Mann eines Jahr-
gangs.
Gegenstand dieses Gesetzentwurfs und dieser Aus-
sprache ist nicht die allgemeine Wehrpflicht. Solange es
diese gibt und solange junge Männer von ihrem Grund-
recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch machen,
so lange gibt es den Zivildienst. Und so lange ist es un-
sere gemeinsame Aufgabe, diesen Dienst so gut wie
möglich zu gestalten.
Leider gibt es Wehrpflichtgegner, die meinen, ihrem
Ziel zu dienen, wenn sie den Zivildienst kritisieren oder
gar verteufeln. Ich wende mich entschieden gegen diese
Stellvertreterkämpfe, die vor allem dem Engagement der
Zivildienstleistenden Unrecht tun. Junge Männer geben
im Zivildienst heute neun Monate ihres Lebens für un-
sere Gesellschaft, leisten ihren Beitrag für mehr
Menschlichkeit. Sie erleben die tägliche Praxis sozialer
Probleme und menschliches Leid häufig zum ersten Mal.
Dies ist für ihren späteren Lebens- und Berufsweg prä-
gend. Ihre Werte, Einstellungen und Schlüsselqualifika-
tionen entwickeln und verändern sich in diesen neun
Monaten. Der Zivildienst ist daher eine besondere so-
zial- und jugendpolitische Chance für unsere Gesell-
schaft. Deshalb ist es unsere Pflicht, diese neun Monate
Lerndienst weiterzuentwickeln. Das Dritte Zivildienst-
gesetzänderungsgesetz wird den rechtlichen Rahmen da-
für schaffen.
Zum Dienstbeginn wird es für jeden Zivildienstleis-
tenden einen besonderen Informationstag über Rechte
und Pflichten, über Geld- und Sachbezüge geben. Da-
rüber hinaus soll selbstverständlich jeder Zivildienstleis-
tende weiterhin an einem Seminar zur politischen Bil-
dung sowie jeder Zivildienstleistende mit fachlich
anspruchsvoller Tätigkeit weiterhin an einem Seminar
zu fachspezifischen Fragen teilnehmen. In einem neuen
einwöchigen Seminar zur Vertiefung der persönlichen
und sozialen Kompetenzen sollen die im Dienst erwor-
benen Schlüsselqualifikationen und -kompetenzen für
die Zukunft der jungen Männer bewusst gemacht und
gesichert werden. Ferner wollen wir die Gelegenheit zur
Reflexion der Erlebnisse im Dienst schaffen. Dies ist vor
allem für die Zivildienstleistenden, die mit menschli-
chem Leid konfrontiert werden, eine wertvolle und not-
wendige Unterstützung.
Den Dienst und die dort erworbenen Kompetenzen je-
des Zivildienstleistenden wollen wir, insbesondere für
die berufliche Zukunft, in einem qualifizierten Dienst-
zeugnis für alle sichern.
In der Praxis bewährt hat sich, dass der Bundesbeauf-
tragte für den Zivildienst für jeden Zivildienstleistenden
ohne Verpflichtung zur Einhaltung des Dienstwegs quasi
als Ombudsmann zur Verfügung steht und sich um seine
Sorgen und Probleme kümmern kann. Das wollen wir
gesetzlich klarstellen. Für sein persönliches und uner-
müdliches Engagement möchte ich hier dem Bundesbe-
auftragten, Herrn Dr. Jens Kreuter, besonders danken.
Außerdem soll der Bundesbeauftragte für den Zivil-
dienst künftig in einem ausführlichen Bericht über die
Entwicklung und Lage im Zivildienst Rechenschaft ab-
legen.
Dies wird für uns alle von großem Interesse sein;
denn allein die Zahlen im Zivildienst sind beeindru-
ckend: Über 2,5 Millionen junge Männer haben seit
1961 Zivildienst geleistet. Im Jahr 2007 haben wir eine
Trendwende erreicht. Seitdem steigen die Zahlen wieder.
Zusammen mit den Ersatzdiensten, insbesondere den
Friedensdiensten im Ausland, erfüllen Jahr für Jahr mehr
als 90 000 anerkannte Kriegsdienstverweigerer ihre Zi-
vildienstpflicht.
In den unterschiedlichsten Institutionen sind Zivil-
dienstleistende anzutreffen: in Krankenhäusern, in
geschützten Werkstätten, integrativen Schulen, Alten-
pflegeeinrichtungen und bei der individuellen Schwerst-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23353
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behindertenbetreuung, aber auch bei Bahnhofsmissionen,
in der Kultur, im sozialen Sport oder im Umweltschutz.
Ein neueres Einsatzgebiet sind Kindertagesstätten, in de-
nen Zivildienstleistende als männliche Bezugspersonen
für unsere Kinder mehr als willkommen sind.
Ebenso bedeutend ist, dass viele junge Männer zum
ersten Mal soziale Felder unserer Gesellschaft erleben;
Felder, die immer noch in ihrer Beschäftigungsstruktur
weiblich dominiert sind. Erste Ergebnisse unseres der-
zeit laufenden Forschungsprojekts bestätigen dies ein-
drucksvoll: Aus Sicht der Zivildienststellen entwickeln
sich die Kompetenzen der jungen Männer im Zivildienst
weiter. Insbesondere im Bereich der sozialen Kompeten-
zen sehen über 90 Prozent der Zivildienststellen positive
Entwicklungen bei den Zivildienstleistenden. Mehr als
die Hälfte der Zivildienststellen wurde von den For-
schern als „eher lernfeldaktiv“ bewertet. Bereits jetzt ge-
staltet eine große Anzahl von Einsatzstellen das Lernfeld
Zivildienst aktiv.
Die Bundesregierung hat so zum richtigen Zeitpunkt
einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Zivildienst auf
dieser tragfähigen Grundlage als Lerndienst weiter ge-
stalten wird.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Stärkung des europäi-
schen Haischutzes (Zusatztagesordnungspunkt 7)
Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Wir beraten heute die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Stärkung des eu-
ropäischen Haischutzes“. Um es vorwegzunehmen: Ich
stimme der Beschlussempfehlung zu, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Bevor ich dies im Detail erläutere, möchte ich mich
zunächst dem Thema etwas genauer zuwenden, um das
es in diesem Antrag geht. Denkt man an einen Hai, dann
hat man in Anlehnung an berühmte Filme oft das Bild
eines angsteinflößenden und für Menschen gefährlichen
Tieres vor Augen. Die Realität jedoch sieht anders aus.
Haie sind in der Regel scheue und vorsichtige Fische.
Menschen gehören jedoch nicht zu ihrem Beuteschema.
Pro Jahr gibt es nur ungefähr 100 Hai-Unfälle, von de-
nen fünf bis 15 tödlich enden. Diese sind zwar sehr tra-
gisch, aber in der Relation zu den vielen Millionen Men-
schen, die jedes Jahr Aktivitäten im Wasser ausüben, ist
das eine sehr geringe Zahl. Generell gelten nur 44 der
500 Haiarten als gelegentliche Angreifer.
Im Gegensatz zu seinem schlechten Image ist der Hai
vielmehr ein wichtiger Teil des maritim-biologischen
Gleichgewichtes. Denn die Haie gehören zu den ältesten
Tieren der Welt – schon vor den Dinosauriern schwam-
men sie durch die Meere. Noch heute besteht eine große
Artenvielfalt von über 500 verschiedenen Haiarten. Haie
leben in nahezu allen Gewässern auf der Welt. Sie neh-
men eine Schlüsselrolle ein. Da sie häufig schwache und
kranke Tiere fressen, tragen sie so zur Gesunderhaltung
der Beutetierbestände bei. Da sich die Meeresökosys-
teme über Millionen von Jahren als Ganzes entwickelt
haben, kommt jeder Art eine wichtige Funktion zu.
Wenn ein Beutegreifer im Nahrungsnetz verschwindet,
kann es zur starken Vermehrung der Beutetiere kommen,
und das Gleichgewicht gerät ins Wanken.
Ungemach droht dem Hai vonseiten der Menschen.
Wir stellen heute für den Hai eine viel größere Gefahr
dar, als sie es für uns je waren. Haie sind nicht nur als
Einzeltier, sondern in ihrer ganzen Spezies bedroht. Wie
eine Studie aus dem Jahr 2003 zeigt, wurden die Hai-
bestände im nordwestlichen Atlantik in den letzten
16 Jahren durchschnittlich um die Hälfte reduziert. Be-
sonders stark betroffen sind einige große Arten: Der Ti-
gerhai büßte 65 Prozent, der Weiße Hai 79 Prozent und
der Hammerhai gar 89 Prozent seiner Bestände ein!
Auch in Europa sind die Haie von diesem Niedergang
nicht verschont: Von den 116 verschiedenen in den Ge-
wässern der Europäischen Union lebenden Haiarten sind
zahlreiche vom Aussterben bedroht. So gelten bereits ein
Viertel der bei uns lebenden Haiarten als stark gefährdet
oder vom Aussterben bedroht – weitere 20 Prozent sind
gefährdet. Vom Dornhai ist beispielsweise nur noch 5
Prozent seines ursprünglichen Bestandes vorhanden.
Hauptsächliche Ursache dafür ist die starke Befi-
schung des Haies. Seit 1984 ist die weltweite Fang-
menge um ein Drittel auf 800 000 Tonnen pro Jahr ge-
stiegen. In der EU wurden 100 000 Tonnen gefangen.
Als Beispiel sei an dieser Stelle nur an die Schillerlocke
erinnert – eine Delikatesse in Deutschland. Diese wird
aus dem Bauchlappen des Dornhais gewonnen. Damit
tragen auch die Verbraucher in unserem Land maßgeb-
lich zu dessen Dezimierung bei. Mittlerweile hat der Ap-
petit der Europäer dazu geführt, dass der Dornhai nur
noch außerhalb von europäischen Gewässern gefangen
werden kann. Daneben verenden unzählige Haie als Bei-
fang auf der Suche nach Thunfisch und Marlin. Des Wei-
teren werden Haie gezielt für pharmazeutische Produkte
und zur Gewinnung der Haihaut für Lederprodukte aller
Art gejagt. Schließlich bedrohen auch gewisse Sportfi-
scher den Hai, für die die Haikiefer begehrte Trophäen
sind. Besonders grausam ist die Fangmethode, um an die
Haifischflossen zu gelangen, das sogenannte „Finning“.
Die Flossen gelten als beliebte Delikatesse, und der Han-
del damit gilt als besonders lukrativ. Den Haien werden
beim „Finning“ die Flossen abgeschnitten und die Tiere
lebend ins Wasser zurückgeworfen, wo sie dann elendig
verenden. Die Flossen machen nur 14 Prozent des Kör-
pers aus, bringen auf dem internationalen Markt aber
wesentlich mehr als das Fleisch. Erschwerend kommt
hinzu, dass die Haie nur sehr langsam wachsen und des-
halb eine längere Zeit für ihre Geschlechtsreife benöti-
gen. Einige Haiarten erzeugen erst nach 15 oder bis zu
30 Jahren Nachkommen und sind deshalb besonders an-
fällig für Überfischung.
Angesichts der dramatischen Situation der Hai-
bestände hat die Europäische Union bereits seit 2003
eine Reihe von Regelungen zur Erhaltung und nachhalti-
gen Bewirtschaftung von Haibeständen erlassen. Dazu
23354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
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gehören die Festsetzung von Gesamtfangmengen und
Quoten, die Finningverordnung, die Verordnung über
das Management von Tiefseefischerei sowie ein Fang-
verbot für Riesenhai und Weißen Hai. Seit 2005 wurden
zudem immer strengere Regelungen zum Schutze des
Dornhaies und des Heringshaies erlassen. Konnte zu-
nächst noch unkontrolliert Jagd auf beide Arten gemacht
werden, hat sich dies nun geändert. So ist der gezielte
Fang verboten und lediglich der Beifang erlaubt. Aber
auch hier wurden die Quoten kontinuierlich zum Schutz
der Tiere gesenkt.
Mit dem am 5. Februar 2009 von der EU-Kommis-
sion vorgelegten Haiaktionsplan sollen nun Ratsbe-
schlüsse zu zusammenhängenden Maßnahmen zum Schutz
und Wiederaufbau sowie zur Sicherstellung einer nach-
haltigen Bewirtschaftung von Haien innerhalb der EU
vorbereitet werden. Dabei sollen die bereits genannten
Regelungen zusammen mit weiteren Maßnahmen in ei-
nem schlüssigen und zielführenden gemeinschaftsweiten
Plan zum Schutz der Haie zusammengeführt werden.
Auch wenn man nun kritisieren kann, dass es lange ge-
dauert hat, bis sich die EU mit dem Schutz der Haie in-
tensiv befasst hat, ist es nicht zuletzt dem Druck
Deutschlands zu verdanken, dass dies nun geschehen ist.
Ein großer Erfolg, wie ich finde. Vor allem für die in den
Gewässern der EU lebenden Haiarten!
Dieser EU-Haiaktionsplan enthält nun kurz gesagt
Regelungen zur besseren Erforschung der Haibestände,
der Rolle der Haie im Ökosystem, verfolgt das Ziel einer
nachhaltigen Haifischerei, einer Regulierung der Bei-
fänge und einer Verschärfung des Verbotes des Abtren-
nens von Haifischflossen. Die endgültigen Schlussfolge-
rungen des Agrar- und Fischereirates sind für Ende April
zu erwarten.
Hier setzt auch der Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen an, die den Aktionsplan als in Teilen zu vage
kritisiert. Die Bundesregierung soll sich daher für die zü-
gige Konkretisierung und Umsetzung der Ziele des EU-
Haifischaktionsplans einsetzen. Angesichts der Dezi-
mierung der Haifischbestände sei ein besonderer Schutz
– insbesondere der bereits gefährdeten Arten – dringend
erforderlich. Die Bundesregierung solle sich daher dafür
stark machen, im Rahmen der Umsetzung des EU-Hai-
aktionsplans, die Fang- und Beifanghöchstgrenzen für
alle Haiarten zu reduzieren und für gefährdete Arten auf
null herabzusetzen, sich auf internationaler Ebene kon-
sequent für den Schutz gefährdeter Haie einzusetzen und
Ausnahmeregelungen des EU-weiten Finningverbotes
zu beenden und dies auch zu kontrollieren.
Diesen Antrag habe ich mit Interesse zur Kenntnis ge-
nommen, muss aber im Ergebnis feststellen, dass er
nicht notwendig ist, da die Bundesregierung bereits auf
allen Feldern, die der Antrag anspricht, aktiv geworden
ist – und dies auch mit Erfolg. Lassen Sie mich das et-
was genauer ausführen, wobei ich eines besonders beto-
nen möchte: Wir setzen uns nachdrücklich für eine nach-
haltige Fischerei von Haien und einen verstärkten Schutz
von gefährdeten Haiarten ein. Deshalb begrüßen wir den
EU-Haiaktionsplan ausdrücklich. Damit dieser erfolg-
reich sein kann, kommt es auf eine konsequente und un-
verzügliche Umsetzung an – nicht ohne Grund setzt sich
die Bundesregierung daher seit langem für eine zügige
Erarbeitung des Aktionsplanes und die Verabschiedung
klarer Ratsbeschlüsse in Brüssel ein.
Dabei kommt folgenden Punkten besondere Bedeu-
tung zu: So gilt es zunächst einmal, die Datenlage zu
verbessern, damit man am Ende auch genau weiß, wo-
rüber man eigentlich redet. Ohne genaue Angaben über
den Bestand einzelner Haiarten ist es nur sehr schwer
möglich, sinnvolle und zielführende artspezifische Re-
gelungen zu deren Schutz und Bewirtschaftung zu fin-
den. Zudem gilt bei allen Maßnahmen zu beachten, dass
Haie nur über niedrige Reproduktionsraten verfügen und
von einer Überfischung daher besonders betroffen sind.
Auch die wichtige Bedeutung der Haie für das Ökosys-
tem muss berücksichtigt werden. In diesem Zusammen-
hang ist auch die Vermeidung von Beifängen besonders
wichtig. Hier müssen technische Lösungen gefunden
werden, damit diese Tiere nicht mehr oder weniger zu-
fällig in den Netzen der Fischer landen. Dies kann man
sich angesichts der angespannten Bestandssituation nicht
länger leisten. Wenn es doch zu unerwünschten Beifän-
gen kommt, muss auch klar geregelt sein, in welchem
Zustand der Hai sein muss, damit man ihn wieder zurück
ins Wasser werfen kann, ohne ihn vorsätzlich an Bord
des Schiffes oder im Wasser verenden zu lassen.
Abschließend ist auch – wie von Abgeordneten der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert – die soge-
nannte Finningverordnung zu verbessern. Hier gibt es
ganz klare Defizite, sodass nach wie vor noch viel zu
vielen Tieren nach dem Fang die Flossen abgeschnitten
werden. Die Bundesregierung wird sich für eine unver-
zügliche Überarbeitung dieser Verordnung einsetzen, um
diesen tierquälerischen Methoden einen Riegel vorzu-
schieben. Hier habe ich einen klaren Standpunkt: Ohne
einen vernünftigen Grund darf man kein Tier töten. Eine
Verwendung von nur 15 Prozent der Tiere für die
menschliche Ernährung ist sicherlich kein solcher
Grund. Diesem Anspruch muss die überarbeitete Fin-
ningverordnung gerecht werden.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Bundesregie-
rung setzt sich bereits sehr engagiert und erfolgreich für
den Schutz der Haie ein. Und dies nicht nur im Rahmen
der Verhandlungen zum Haiaktionsplan auf europäischer
Ebene. Auch auf internationaler Ebene nutzt die Regie-
rung zahlreiche Organisationen und Abkommen, um den
Schutz von Haibeständen sicherzustellen. Als Beispiel
sei nur einmal die Vertragstaatenkonferenzen des Bonner
Übereinkommens zum Schutz wandernder, wild leben-
der Tierarten erwähnt. Hier hat man sich erfolgreich für
die Aufnahme des Dorn- und Heringshais eingesetzt.
Gleiches soll bei dem Washingtoner Artenschutzüber-
einkommens wiederholt werden.
Zusammenfassend lautet mein Petitum deshalb: Ers-
tens. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
wegen fehlender gegenwärtiger Notwendigkeit, auf-
grund der bereits großen Anstrengungen der Bundesre-
gierung im Rahmen des Haischutzes, abzulehnen. Zwei-
tens. Zudem kündige ich bereits heute an, dass wir das
Thema Anfang Mai erneut im Ausschuss beraten wer-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23355
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den, um uns über die endgültigen Ergebnisse des Haiak-
tionsplanes zu informieren.
Wir tragen eine große Verantwortung für unsere Mit-
geschöpfe, denn sie bereichern nicht nur unser Leben,
sie ermöglichen es erst. Deshalb profitieren vom Schutz
der Haie nicht nur die Tiere, sondern auch wir selbst.
Holger Ortel (SPD): Mit dem am 5. Februar von der
Kommission verabschiedeten Haiaktionsplan kommt
endlich mehr Bewegung in das Vorhaben des Schutzes
gefährdeter Haibestände in Gewässern inner- und außer-
halb der Gemeinschaft. Die Bemühungen gingen zu-
nächst schleppend voran. Sie nehmen nun aber an Fahrt
auf. Es gilt, einige gefährdete Bestände effektiv zu
schützen, was jedoch vor dem Hintergrund unterschied-
licher Interessen in der Gemeinschaft eine komplexe
Aufgabe darstellt.
Für Haie gilt, was für alle Meeresbewohner gilt: Sind
sie gefährdet, brauchen sie unseren Schutz. Ich möchte
an dieser Stelle betonen, dass von den im Antrag aufge-
führten 130 Arten einige Bestände in bedrohlichem Zu-
stand befinden. Deshalb begrüßen wir den Haiaktions-
plan und die Bemühungen der Bundesregierung, diesen
Plan zügig umzusetzen. Was die konkrete Umsetzung
des Plans allerdings anbelangt, bleibt der Antrag doch
weitestgehend unkonkret. Ich hätte mir schon ein wenig
mehr erhofft als die Forderung nach der zügigen Kon-
kretisierung und Umsetzung. Ihr Antrag sagt nichts über
Ihre Vorstellungen über konkrete Maßnahmen aus. Da-
mit machen sie es sich zu einfach. Eine gezielte, nach-
haltige Bewirtschaftung der Haibestände ist kompliziert.
Wie ja bekannt ist, werden die meisten Haie als Beifänge
angelandet, in der Tiefseefischerei, der demersalen wie
auch der pelagischen Fischerei. Die gemischten Fische-
reien, vor allem die demersalen, so zu regeln, dass Bei-
fänge vermieden werden können, ist eine komplexe Auf-
gabe. In einigen Teilen der Tiefsee existiert ein
Stellnetzverbot, durch das Tiefseehaie geschont werden.
Ein Verbot kann aber nicht überall Anwendung finden.
Für eine nachhaltige Befischung unter Schonung der
Haifischbestände bedarf es der Erforschung und Ent-
wicklung fangtechnischer Methoden, die es ermögli-
chen, andere Fischarten zu befischen, ohne dass gleich-
zeitig Haie als Beifänge ins Netz gehen. Die Selektivität
der Fangtechniken muss mit dem Ziel einer Verringe-
rung des Beifangs von Haien erhöht werden.
Doch dazu braucht es auch eine fundierte wissen-
schaftliche Basis. Die Rolle der Haie als Predatoren im
Ökosystem ist bislang nur ansatzweise bekannt. Diese
muss noch wesentlich mehr erforscht werden. Der ICES
oder andere wissenschaftliche Einrichtungen können es
gar nicht leisten, von jetzt auf gleich die Bestände der
wichtigsten Haibestände zu schätzen, sodass auch Maß-
nahmen zur Erhaltung der Bestände nur sukzessive ein-
geführt werden können. Und mit der Bestandsschätzung
wäre ja erst ein Anfang gemacht.
Den im Februar vorgelegten Haiaktionsplan begrüßen
wir ausdrücklich. Die Bemühungen um die Haie inner-
und außerhalb der Gemeinschaftsgewässer gingen bis-
lang verhalten voran. Deutschland hat kein Interesse an
einer langsamen Umsetzung des Haiaktionsplanes. Die
Bundesregierung konnte für ihr Vorhaben, den Dornhai
auf der 14. CITES-Konferenz in Anhang II listen zu las-
sen, keine Mehrheit gewinnen. Aber sie hat bereits ange-
kündigt, es auf der nächsten Konferenz im Jahr 2010 er-
neut zu versuchen.
Im Agrar- und Fischereirat im Dezember 2008 hat
sich die Bundesregierung bereits für ein Verbot der ge-
zielten Fischerei auf Dornhai in Gemeinschaftsgewäs-
sern eingesetzt. Der Rat konnte sich aber nicht dafür ent-
scheiden. Die Bundesregierung hat allerdings eine
Mehrheit für ein Verbot der Fischerei auf Dornhai ab
dem Jahr 2010 finden können. Ich kann versichern: Die
Bundesregierung wird sich hier auch für die Einhaltung
dieses Verbotes stark machen und darüber hinaus für Er-
haltungsmaßnahmen des Heringshais einsetzen.
Der Antrag der Grünen geht leider gar nicht auf die
Gewässer außerhalb der Gemeinschaft ein, in denen die
Mitgliedstaaten Haie gezielt oder als Beifänge fangen.
Auch darauf findet der Haiaktionsplan Anwendung. Bei
der Bewirtschaftung dieser Bestände kann die Gemein-
schaft auf die Nachhaltigkeit hinwirken. In einer Reihe
von regionalen Fischereiorganisationen ist die Gemein-
schaft Mitglied. Ich möchte die Bundesregierung auffor-
dern, auch in diesen Organisationen, wie zum Beispiel
NEAFC oder NAFO, die Bemühungen für eine Verbes-
serung der Datenlage und für angemessene Bewirtschaf-
tungsmaßnahmen weiterhin zu unterstützen. Hier zeigt
sich, dass die verschiedenen Bestände nicht alle in
schlechtem Zustand sind. Ein großes Handelsunterneh-
men, Vorreiter im Vertrieb ökozertifizierter Produkte, hat
die Schillerlocke, die aus dem Bauchlappen des Dorn-
hais hergestellt wird, wieder in sein Sortiment aufgenom-
men. Es lässt sogar den Dornhai im Nordwestatlantik zer-
tifizieren. Eine gezielte Betrachtung der verschiedenen
Bestände, auf die der Haiaktionsplan abzielt, ist also an-
gebracht.
Abschließend möchte ich auf den letzten Punkt des
Antrages, die Aufklärung und Information der Bevölke-
rung über mögliche gesundheitsschädigende Auswirkun-
gen des Verzehrs von Haifleisch, eingehen. Die Bundes-
regierung ist sowohl auf dem Gebiet der Forschung wie
auch auf dem Gebiet der Aufklärung und Information
der Bevölkerung aktiv. Die Bundesregierung verfügt
über gute Kenntnisse zur Belastung von Haifischfleisch
mit toxischen Substanzen wie beispielsweise Methyl-
quecksilber. Die zuständigen Bundesländer prüfen risi-
koorientiert und anhand von Stichproben, ob die gelten-
den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen eingehalten
werden. Angesichts eines durchschnittlichen Pro-Kopf-
Verbrauchs von bis zu 15,7 Gramm tut die Bundesregie-
rung das ihr Mögliche, um die Bevölkerung vor den
möglichen Gefahren des Verzehrs von Haiprodukten zu
warnen. Im Übrigen ist der Verbrauch in Deutschland
seit Jahren rückläufig.
Ich denke, das Grundanliegen dieses Antrages wird in
allen Fraktionen positiv gesehen. Aber worauf die Bun-
desregierung festgelegt werden soll, ist eine Mischung
aus Maßnahmen, die sie bereits ergriffen hat, und Maß-
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nahmen, die keineswegs praktikabel sind. Dabei sollte
Ihnen doch bekannt sein, dass sich die Bundesregierung
nachdrücklich für ein verantwortungsvolles Manage-
ment von Haifischereien und für einen verstärkten
Schutz gefährdeter Haiarten einsetzt. Jeder will einen
angemessenen Schutz für gefährdete Meerestiere, aber
mit undifferenziertem Aktionismus und ungenauer Da-
tenlage werden wir diesen Schutz nicht erreichen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Haie sind fas-
zinierende Tiere. Der Hai gehört mit den Rochen und
Seekatzen zu den Knorpelfischen. Weltweit umfasst
diese Fischgruppe über 1 000 verschiedene Arten. In den
EU-Gewässern lassen sich insgesamt 118 unterschied-
liche Arten nachweisen.
Bei vielen Menschen verursachen Haie eher Angst
und Schrecken als Interesse. Durch Kinofilme wie „Der
weiße Hai“ wird das negative Image der Haie als men-
schenfressende Killer weiter verstärkt – ganz zu Un-
recht, denn es gibt nur wenige Beweise für die viel-
zitierte Gefährlichkeit der Haie. Unsere Angst vor dem
Mythos Hai ist auf die generelle menschliche Furcht vor
dem Unbekannten, dazu in dem uns fremden Element
Wasser, zurückzuführen.
Mittlerweile sind viele Haiarten in ihrem Bestand be-
droht. Der Anfang des Jahres vorgestellte EU-Aktions-
plan für die „Erhaltung und Bewirtschaftung der Hai-
bestände“ führt den Rückgang der Haipopulationen
primär auf die spezifischen biologischen Merkmale der
Haie sowie auf eine unregulierte und zu intensive Befi-
schung zurück. Weltweit ist der legale Haifischfang zwi-
schen 1984 und 2004 von 600 000 auf 840 000 Tonnen
im Jahr angestiegen. Hinzu kommen schätzungsweise
circa 13 Millionen Haie, die pro Jahr als ungewollter
Beifang in der Fischerei verenden. Wegen ihres biolo-
gisch bedingten geringen Reproduktionspotenzials kön-
nen sich die Haibestände nur schwer von Überfischung
oder anderen negativen Entwicklungen erholen.
Die derzeit in der EU gültigen Fanggrenzen für den
Hai und die bestehenden Schutzbestimmungen gelten
nur für wenige Arten und sind häufig entgegen den wis-
senschaftlichen Empfehlungen des Internationalen Rates
für Meeresforschung, I-CES, erfolgt; sie sind zumeist zu
hoch. Im Nordostatlantik sind bereits ein Drittel aller
Haiarten vom Aussterben bedroht und auf der Roten
Liste der bedrohten Arten der Weltnaturschutzunion,
IUCN, zu finden. Deutschland hat sich bereits in der
Vergangenheit in der Diskussion um den Haiaktionsplan
für den Schutz der Haie eingesetzt. Unser Land hat in
den letzten Jahren mehrere Artenschutzinitiativen, wie
Anträge beim Washingtoner Artenschutzübereinkom-
men, CITES, für Dorn- und Heringshai sowie die Auf-
nahme von Hai- und Rochenarten auf die Liste der ge-
fährdeten Arten bei der Oslo-Paris Konvention, OSPAR,
eingebracht.
Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich im Rahmen
der Umsetzung des EU-Haiaktionsplanes für die Redu-
zierung der Fanghöchstgrenzen für Haiarten, besonders
für die in den EU-Gewässern gefährdeten Arten wie
Dorn- und Heringshai, ein. Anders als in den EU-Ge-
wässern hat sich die Bestandssituation des Dornhais vor
der Westküste der USA, Nordostpazifik, in den vergan-
genen Jahren deutlich verbessert. Der Bestand ist hier
mittlerweile wieder so gut, dass die offiziellen Fangquo-
ten für die Jahre 2007 und 2008 erhöht werden konnten.
Die Dornhai-Populationen um Südafrika und im Südpa-
zifik um Australien und Neuseeland herum werden nach
Angaben der IUCN-Roten-Liste als „nicht gefährdet“
eingestuft. Für die Zukunft bietet sich bezogen auf den
Dornhai noch eine weitere Alternative: Es gibt derzeit
vielversprechende Bestrebungen, den Dornhai als erste
Haiart durch den Marine Stewardship Council, MSC,
zertifizieren zu lassen. Nach jetziger Planung, wird diese
MSC-Zertifizierung bereits Ende 2009 ihren Abschluss
gefunden haben. Wir befürworten eine Zertifizierung
durch den MSC, weil dadurch die nachhaltige Bewirt-
schaftung von Dornhaibeständen gesichert wird. Das
heißt, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher auch
künftig nicht völlig auf den Genuss der beliebten Schil-
lerlocken verzichten müssen. Als Schillerlocken werden
die geräucherten Bauchlappen des Dornhais bezeichnet.
Aus Sicht der FDP ist von besonderer Bedeutung,
dass im EU-Aktionsplan ein umfassendes Verbot des
Finnings EU-weit implementiert wird. Nur durch eine
solche Maßnahme kann sichergestellt werden, dass diese
tierschutzwidrige Praxis endlich beendet wird. Beim so-
genannten Finning werden den Fischen die Flossen ab-
geschnitten, und die oft noch lebenden Tiere werden an-
schließend ins Meer zurückgeworfen. Die gewonnenen
Haifischflossen werden als beliebte Delikatesse zumeist
auf dem asiatischen Markt vertrieben; sie finden sich
aber auch auf den Speisekarten vieler europäischer Res-
taurants wieder.
Die FDP setzt sich in diesem Bereich für die von Fi-
schereiwissenschaftlern schon seit langem geforderte
Hai-Ganzkörperanlandung im Hafen ein – nur so kann
gewährleistet werden, dass kein Finning praktiziert wird.
Ein weiteres Ziel muss nach unserer Auffassung sein,
auf internationaler Ebene konsequent für eine Verbesse-
rung des Schutzes gefährdeter Haiarten einzutreten. Die
Verminderung von Haifisch-Beifängen im Bereich der
Industriefischerei ist hierfür eine geeignete Maßnahme.
Die FDP hatte bereits in der vergangenen Legislatur-
periode in ihrer Initiative: „Industrieller Fischfang in
Nord- und Ostsee“, Bundestagsdrucksache 15/1447, ge-
fordert, die Industriefischerei in den EU-Gewässern ein-
zuschränken. Weder die rot-grüne noch die jetzige Bun-
desregierung haben in diesem Bereich bislang etwas
unternommen.
Die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gestellte
Forderung zur stärkeren Kontrolle und Überwachung
von Fischtrawlern der EU-Fangflotte verkennt, dass be-
reits heute umfangreiche Überwachungsmaßnahmen er-
folgen. Eine zusätzliche Verschärfung der Kontrollen in
der Fischerei führt zu weiterem bürokratischen Aufwand
und ist für die Fischer nicht mehr hinnehmbar. Trotzdem
stimmt die FDP-Bundestagsfraktion dem vorliegenden
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu. Wir wollen, dass
der EU-Haiaktionsplan zügig konkretisiert und umge-
setzt und das jeglichem Tierschutz widersprechende Fin-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23357
(A) (C)
(B) (D)
ning beendet wird. Die Einschätzung der Großen Koali-
tion, es sei schon alles getan worden, teilen wir nicht.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Die Linke
unterstützt ausdrücklich den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen zur Stärkung des europäischen Hai-
schutzes. Knorpelfische, zu denen der Hai gehört, zählen
zu den ältesten Lebewesen. Ihr Alter wird auf mehr als
400 Millionen Jahre geschätzt. Gegenüber anderen
Fischarten zeichnen sie sich durch ein sehr langsames
Wachstum und ein spätes Einsetzen der Geschlechtsreife
aus. Beim Dornhai zum Beispiel setzt die Geschlechts-
reife erst mit etwa 25 Jahren ein. Die Fortpflanzungsrate
ist vergleichsweise niedrig.
Das alles führt dazu, dass Haie besonders empfindlich
auf Fischerei reagieren. Bestandsverluste sind kaum aus-
zugleichen. Daraus folgt, dass Maßnahmen zur Erhal-
tung der Bestände langfristig angelegt werden und einer
strengen Kontrolle unterliegen müssen, so Haifischex-
pertin Diane E. Notwendig. Artenspezifische Fangme-
thoden sowie die weltweite Ächtung der grausamsten
Methode der Haitötung, des „Finnings“ – hier werden
nach dem Fang die Flossen abgetrennt; anschließend
wird der Hai wieder ins Meer geworfen, wo er elend zu-
grunde geht – sind erforderlich.
Im Hinblick auf artenspezifische Fangmethoden sind
vor allem solche zu fördern, die ungewünschten Beifang
weitgehend verhindern. Täglich werden Hunderte Ton-
nen Beifang über Bord gekippt. Beifang kann man fol-
gendermaßen illustrieren: Man nimmt eine Tüte Smar-
ties, sucht sich die roten heraus und wirft den Rest weg.
Dem Meer zurückgegebener Beifang hat zumeist eine
schlechte Überlebenschance.
Mit dem EU-Haiaktionsplan sollen der Erhalt und die
Bewirtschaftung der Haifischbestände streng reguliert
werden. Darüber hinaus ist vorgesehen, die Bevölkerung
über die Gesundheitsgefahren beim Verzehr von
Haifleisch aufzuklären. Bei Stichprobenuntersuchungen,
auch in Deutschland, wurden Konzentrationen von Me-
thylquecksilber festgestellt, die deutlich über dem
Grenzwert lagen. In einem vom Sharkprojekt initiierten
Forschungsprojekt – vergleiche „Unterwasser“ 10/05 –
wurde zudem auf die gesundheitlichen Folgen aufmerk-
sam gemacht.
Zur Stärkung des Haifischschutzes fordert die Linke:
Erstens dürfen Haifische und Kadaver innerhalb der EU
zur besseren Finningkontrolle nicht mehr getrennt entla-
den werden, um Kontrolle zu ermöglichen, zweitens for-
dern wir das Ganzkörperanlandungsgebot – Verhältnis
zwischen Flossen und Kadavern zur Finningkontrolle –,
drittens die Entwicklung und Umsetzung eines ökosys-
temrelevanten europäischen Aktionsplanes für Haie mit
Fangbegrenzungen nach wissenschaftlicher Maßgabe,
viertens den Schutz der von der Ausrottung bedrohten
Haiarten – Aufnahme in den Anhang II des Washingto-
ner Artenschutzabkommens CITES, fünftens die Reduk-
tion der Beifangmengen in der Fischerei – Änderungen
der Fischereitechniken – die Reduktion der Überkapazi-
täten der europäischen Fischfangflotten und das Verbot
der Grundschleppnetzfischerei, sechstens die wissen-
schaftliche Erfassung der existierenden Haibestände,
siebtens fordern wir die Erfassung und zentralisierte
Sammlung von Daten über den Handel mit Haien, ach-
tens eine verbraucherschutzrelevante Informationspoli-
tik und Transparenz über giftige Inhaltsstoffe, die beim
Verzehr von Raubfischarten zwangsläufig aufgenommen
werden, und neuntens die Errichtung großflächiger Mee-
resschutzgebiete.
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Entgegen weitverbreiteter Vorstellungen, Haie
kämen bei uns nicht vor, leben etwa 130 verschiedene
Hai-, Rochen- und Chimärenarten in den EU-Gewäs-
sern. Deren Bestände wurden in den letzten Jahren stark
dezimiert. Gründe dafür sind hauptsächlich die nicht
nachhaltige Fischerei und die gestiegene Nachfrage nach
Haiprodukten, insbesondere nach Haiflossen im asiatischen
Raum. Haie werden nicht nur als Beifang angelandet,
sondern seit Mitte der 80er-Jahre auch verstärkt gezielt
gejagt.
Haie aber sind gegenüber Überfischung besonders
empfindlich, da die meisten Haiarten sehr langsam
wachsen, sehr alt werden und nur wenige Nachkommen
haben. Laut Weltnaturschutzunion, IUCN, ist rund ein
Drittel der Haiarten in den europäischen Gewässern vom
Aussterben bedroht. Zudem gibt es einen deutlichen all-
gemeinen Rückgang der Haipopulationen.
Neben der negativen Auswirkung der Dezimierung
der Haibestände auf die Haiarten selbst kann diese auch
sehr ernste Folgen für das gesamte Meeresökosystem sowie
die Fischereiwirtschaft haben. Haie stehen im Meeresöko-
system an der Spitze der Nahrungspyramide, sie tragen
zur Gesunderhaltung der Beutetierbestände bei und haben
daher eine wichtige Funktion. Ein stärkerer Schutz der
Haie – insbesondere der bereits gefährdeten – ist daher
dringend erforderlich.
Am 5. Februar hat die EU-Kommission einen Aktions-
plan zur Erhaltung und Bewirtschaftung der Haibestände
in europäischen Gewässern – den sogenannten Haiaktions-
plan – vorgelegt. Wir begrüßen diesen Schritt der EU-
Kommission sehr, da der Aktionsplan gute Vorschläge
für Maßnahmen enthält, um unter anderem Haibestände
und -fischereien sowie die Rolle der Haiarten im Öko-
system besser zu erforschen, eine nachhaltigere, gezielte
Haifischerei durchzusetzen und Beifänge zu regulieren
und eine strengere Überwachung des Finningverbots zu
erzielen.
Teilweise sind die Vorschläge im EU-Haiaktionsplan je-
doch sehr vage gehalten, weswegen die Phase der Imple-
mentierung der vorgeschlagenen Maßnahmen und die Um-
setzung des Aktionsplans nun entscheidend sein werden.
Bereits am 24. und 25. April soll auf der Ratssitzung
über den Aktionsplan entschieden werden. Daher for-
dern wir die Bundesregierung auf, sich bei dieser Rats-
sitzung im Sinne des Haischutzes für eine konsequente
und zügige Verabschiedung und Umsetzung des EU-Hai-
aktionsplans einzusetzen und bereits im Vorfeld konkrete
Maßnahmen zu erarbeiten.
23358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
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Konkret fordern wir die Einführung einer obligatori-
schen Meldepflicht der Haifänge und Beifänge von Haien
für die EU-Mitgliedstaaten, um die Situation der Bestände
besser erfassen zu können, die Fang- und Beifanghöchst-
grenzen für alle Haiarten zu reduzieren und für gefährdete
Haiarten wie Dornhai oder Heringshai auf Null herabzu-
setzen, die Schließung der Ausnahmeregelungen und
Schlupflöcher des EU-weiten Finningverbots und stärkere
Kontrollen an Bord der Fischtrawler zur Überwachung
des Verbots und die Aufklärung und Information der Be-
völkerung über mögliche gesundheitsschädigende Aus-
wirkungen des Verzehrs von Haifleisch zu verstärken.
Auch in Deutschland wird Haifleisch – unter anderem in
Form von Haisteaks oder vor allem unter dem Namen
Schillerlocke – konsumiert. Doch der Verzehr kann nega-
tive Folgen für die Gesundheit haben, da Haifleisch stark
mit toxischen Substanzen wie Methylquecksilber belastet
ist, welches von der WHO als möglicher Krebsauslöser
geführt wird.
Es ist höchste Zeit, den Haischutz auf europäischer
Ebene voranzutreiben. Der Aktionsplan der EU-Kom-
mission muss daher zügig und konsequent umgesetzt
werden. Im Sinne eines konsequenten Verbraucherschutzes
ist darüber hinaus die Aufklärung über mögliche gesund-
heitliche Risiken durch den Verzehr von Haiprodukten
dringend erforderlich. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag
zuzustimmen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vorschrif-
ten der Zahlungsdiensterichtlinie (Zahlungs-
diensteumsetzungsgesetz) (Zusatztagesordnungs-
punkt 8)
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Wir fassen
heute den Beschluss über das Zahlungsdiensteumset-
zungsgesetz (ZAG). Welche Ziele verfolgen wir damit?
Zum einen die gebotene Umsetzung der europäischen
Zahlungsdiensterichtlinie. Inhaltlich geht es um eine an-
gemessene Aufsicht über den Zahlungsverkehr, um mehr
Wettbewerb im Binnenmarkt und mehr Nutzen für Kun-
den und Anbieter. In den vergangenen Wochen haben
wir in großer Detailarbeit eine Vielzahl von Änderungen
gegenüber dem Regierungsentwurf vorgenommen.
Diese Detailarbeit hat sich auch in ergänzenden Hinwei-
sen im Ausschussbericht fortgesetzt. Herauszustellen
sind sicher folgende Punkte: Wir stärken die Aufsicht
nochmals deutlich. Dies ist wichtig unter dem Eindruck
der Finanzmarktkrise. Dafür führen wir Monatsausweise
für Zahlungsinstitute ein, damit Behörden schnellen Zu-
gang zu Informationen haben. Und wir stellen klar, dass
Eigenkapital in Institutsgruppen nicht mehrfach genutzt
werden kann. Wir können darüber hinaus auch davon
ausgehen, dass im sogenannten Abrechnungsverkehr
keine Aufsichtslücken bestehen. Wir stärken den Wett-
bewerb erheblich. Und hierauf lege ich für die CSU be-
sonderen Wert. So gibt es jetzt einen klaren Hinweis auf
die Zuständigkeit der Kartellbehörden im Gesetz. Dies
ist wichtig, falls Zahlungsdienstleistern der Zugang zu
Zahlungssystemen verwehrt werden sollte. Die Bundes-
regierung soll zudem prüfen, ob die gefundene Regelung
ihr Ziel effektiv erfüllt. Es erfolgt eine deutliche Beto-
nung des freien Marktzugangs ohne Diskriminierung,
vor allem auch für grenzüberschreitende Tätigkeiten.
Wir grenzen ein, wem gegenüber Teilnehmer an Zah-
lungssystemen interne Daten offenlegen müssen. Dies
hätte sonst zur Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen
führen können. Von den Maßnahmen profitieren insbe-
sondere kleine und neue Unternehmen – und selbstver-
ständlich der Kunde. Wir haben beträchtlich entbürokra-
tisiert. So ist nun klargestellt, dass nur die jeweils
strengeren Anforderungen gelten, wenn im ZAG und
KWG parallele Regelungen vorhanden sind. Münzgeld-
handling soll in der Regel nicht unter eine Aufsicht fal-
len. Zahlungen innerhalb von Konzernen oder Verbund-
gruppen sind nicht erfasst. Damit haben wir auch ein
einhelliges Petitum von Bundesrat und Zentralem Kredit-
ausschuss aufgenommen. Automatisch erteilte Erlaub-
nisse für Zahlungsdienstleistungen sollen darüber hinaus
einfach und unbürokratisch zurückgegeben werden kön-
nen.
Nach dem Jahressteuergesetz 2009 waren eine Reihe
von Folgeänderungen im Kreditwesengesetz notwendig
geworden, die wir jetzt umgesetzt haben. Für einige Un-
ternehmen, zum Beispiel Acquirer im Kreditkartenge-
schäft, ist von besonderer Bedeutung auch die Korrektur
eines Schreibfehlers in der Zahlungsdiensterichtlinie, so-
weit dies national möglich ist. Formal korrekt kann dies
zwar nur auf EU-Ebene erfolgen. Wir haben aber im Be-
richt klargestellt, dass die Behörden ihre Verwaltungs-
praxis anpassen sollen. Kein Unternehmen soll wegen
eines Schreibfehlers der EU Nachteile erleiden.
Auch aus Verbrauchersicht ist das ZAG ein großer
Schritt nach vorne. Einige sehen zwar die Gefahr von re-
volvierenden Krediten und Überschuldung der Verbrau-
cher. Diese Befürchtung teile ich aber nicht. Das deut-
sche Kreditkartensystem ist einfach nicht mit dem
angelsächsischen System vergleichbar. Außerdem hätte
eine von der Richtlinie abweichende Regelung dem „Eu-
ropäischen Pass“ widersprochen. Dieser setzt voraus,
dass Zahlungsdienste in allen EU-Ländern nach den
gleichen Bedingungen angeboten werden können. Zu-
dem wird im ZAG nur der aufsichtsrechtliche Teil der
Richtlinie umgesetzt. Weitergehende Überlegungen zum
Verbraucherschutz sollten daher im Verfahren zum zivil-
rechtlichen Teil angesprochen werden; denn dort geht es
um das Verhältnis von Kunde zu Zahlungsdienstleister.
Aber auch im Rahmen des ZAG haben wir viel für den
Verbraucherschutz getan. Es gibt nun klare Anforderun-
gen an Zahlungsinstitute, zum Beispiel bezüglich der
Eigenmittelanforderungen. Wir haben die Regelungen
auch für andere Sicherungsmaßnahmen im Sinne der
Verbraucher ausgeschöpft, anders als in anderen Län-
dern. Ein Beispiel: Es gibt eine strikte insolvenzrecht-
liche Absicherung von Kundengeldern bei Zahlungs-
instituten. Dies ist der Ersatz für die fehlende
Einlagensicherung. Deshalb müssen Kundengelder auf
Treuhandkonten verwaltet oder von Banken oder Versi-
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cherungen garantiert werden. Dies gilt in Deutschland
auch unterhalb der Summe von 600 Euro. Vor allem aber
wird der Verbraucher von mehr Wettbewerb, mehr
Transparenz im einheitlichen europäischen Markt und
klaren Zuständigkeiten der Aufsicht profitieren.
Ein besonderer Punkt war die Frage der Änderung des
Informationsfreiheitsgesetzes. Dabei geht es um eine
Abwägung der Informationsinteressen der Bürger mit
dem öffentlichen Interesse an einer funktionierenden
Aufsicht. Der Bundesrat hat den Wunsch geäußert, eine
sogenannte Bereichsausnahme für die Finanzaufsicht in
das IFG aufzunehmen und so die Aufsicht zu stärken.
Diese ist auch auf vertrauliche Informationen angewie-
sen. Das gilt auch für die internationale Zusammenarbeit
mit anderen Behörden. Andererseits ist das Informa-
tionsrecht der Bürger wichtig, gerade in Zeiten der Fi-
nanzmarktkrise. Der Punkt war auch in der Anhörung
sehr umstritten. Vor diesem Hintergrund haben Gesprä-
che innerhalb und zwischen den Fraktionen ergeben,
dass noch offene Fragen und weiterer Diskussionsbedarf
bestehen. Wir ändern deshalb das IFG im Rahmen des
ZAG nicht. Insgesamt lautet das Fazit: Wir haben unsere
Ziele erreicht. Der Aufsichtsteil der Zahlungsdienste-
richtlinie ist umgesetzt, die Aufsicht über Zahlungsinsti-
tute gestärkt. Wir haben mehr Wettbewerb durch freien
Marktzugang für Zahlungsinstitute. Dadurch erzielen
wir mehr Nutzen für Kunden und Anbieter bei gleichzei-
tig hohem Niveau des Verbraucherschutzes. Das Stim-
mungsbild gibt dieser Einschätzung Recht. Die betroffe-
nen Verbände sind zufrieden, im Ausschuss hat auch die
Opposition vielen Punkten zugestimmt. Und in einer
produktiven Zusammenarbeit mit der SPD konnten wir
unsere Verbesserungsvorschläge zielstrebig umsetzen.
Martin Gerster (SPD): Wir haben die letzte Sitzungs-
woche vor Ostern. Lassen sich mich deshalb einen gewag-
ten Vergleich anstellen. Ich möchte das „Zahlungsdienste-
umsetzungsgesetz“, das wir heute beschließen wollen,
einmal mit einem Osternest vergleichen: Das Gesetz ist
rund, die Inhalte stimmen, und das Gesamtwerk stößt all-
gemein auf große Zustimmung. Zunächst galt es aber,
ein unschönes Kuckucksei zu entfernen, das dem Gesetz
untergeschmuggelt werden sollte. Ein Ei, das – so meine
Wahrnehmung – mehr Schlagzeilen produziert hat, als
der eigentliche Entwurf, um den es heute gehen soll.
Ich spreche vom durch den Freistaat Bayern angestoße-
nen Versuch, den Gesetzentwurf als Vehikel zu nutzen,
um das Informationsfreiheitsgesetz aufzuweichen. Ge-
fordert wurde nicht mehr und nicht weniger als eine
Bereichsausnahme für alle im Sektor Finanzaufsicht täti-
gen Behörden und öffentlichen Stellen. Ich hatte diesen
hochproblematischen Punkt ja bereits in meiner Rede
zur ersten Lesung angesprochen und meine Skepsis
gegenüber allen Plänen ausgedrückt, Hand an das IFG
zu legen. Umso mehr freue ich mich, dass sich alle Frak-
tionen des Hauses mittlerweile auf dieser Linie versam-
melt haben, ohne sich vor den Karren ihrer Parteifreunde
in der bayerischen Landesregierung spannen zu lassen.
Dem Kollegen Uhl stimme ich jedenfalls vollkommen
zu, dass diese Bundesratsinitiative zumindest „politisch
instinktlos“ ist – wenn nicht Schlimmeres.
Für uns Sozialdemokraten steht fest: Am Recht der
Bürgerinnen und Bürger auf Informationen aus der
Verwaltung wird nicht gerüttelt – auch wenn es für die
betroffenen Behörden unbequem sein mag. Es wäre aber
auch naiv zu ignorieren, dass es tatsächlich Versuche
gibt, das Informationsfreiheitsgesetz gezielt zu miss-
brauchen. Beispielsweise um sich Auskünfte über
Geschäftsgeheimnisse Dritter zu beschaffen. Die damit
verbundenen Gefahren müssen wir ernst nehmen und an
das Verantwortungsgefühl jener appellieren, die glauben,
sich solcher Manöver bedienen zu müssen.
Machen wir uns klar: Die aktuelle Krise der Finanz-
märkte stellt ein Umfeld dar, in dem schon kleinste In-
diskretionen zur Situation von Banken und Unternehmen
kritische Konsequenzen haben können. Dennoch ist und
bleibt die Informationsfreiheit ein zentrales Bürgerrecht,
an dem wir aus Prinzip festhalten.
Ich will aber nicht darüber sprechen, was wir – aus
gutem Grund – nicht machen, sondern den eigentlichen
Inhalten des Zahlungsdiensteumsetzungsgesetzes zu ihrem
Recht verhelfen. Die können sich nämlich, wie ich
meine, durchaus sehen lassen:
Mit dem Gesetz setzen wir die aufsichtsrechtlichen
Vorgaben der EU-Zahlungsdiensterichtlinie eins zu eins
in nationales Recht um – eine wichtige Weichenstellung
für die Etablierung eines gemeinsamen europäischen
Zahlungsraums. Den Hauptteil des Entwurfs bildet das
sogenannte Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz, ZAG. Damit
wird unter anderem ein Rechtsrahmen für die neu zu eta-
blierende Kategorie der Zahlungsinstitute geschaffen, die
bislang keinem harmonisierten Aufsichtsregime in der
Europäischen Union unterworfen waren. Zudem werden
Zahlungsinstitute zukünftig einer Solvenzaufsicht durch
die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht un-
terliegen. Damit sollen eine laufende Aufsicht über diese
Zahlungsinstitute sichergestellt und für den Kunden im
Falle einer Zahlungsunfähigkeit bestehende Ausfallrisi-
ken minimiert werden. Wir schaffen also mit dem Gesetz
Strukturen für alle Zahlungsinstitute, die wie bei Banken
über die Einhaltung der entsprechenden Sicherungsmaß-
nahmen und -regeln wachen. Somit wird das Aufsichtsge-
fälle behoben, das sonst zwischen Kreditinstituten und im
Sinne der Richtlinie als Zahlungsinstituten definierten Un-
ternehmen bestehen bliebe.
Wie uns die Anhörung vom 11. Februar bestätigt hat,
liegen wir mit dem Gesetz richtig. So stießen die Pläne
zur Richtlinienumsetzung bei den geladenen Sachverstän-
digen und Verbänden auf breite Zustimmung. Dort wo es
Bedenken gab, konnten wir sie weitestgehend ausräumen:
Das betraf zum einen Fälle, in denen Unklarheiten be-
standen, ob und inwiefern Zahlungsdienstleister unter
den Anwendungsbereich und die Aufsichtsregelungen
des ZAG fallen würden. Zum anderen ging es um die
Vermeidung unnötiger Doppelaufsichten und bürokrati-
scher Belastungen für die entsprechenden Unternehmen.
Zu guter Letzt will ich noch erwähnen, dass uns daran
gelegen war, die notwendige Einbindung der jeweils
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zuständigen Kartellbehörden auch im Gesetz zu betonen.
Schließlich wollen wir mit der Umsetzung der Richtlinie
Markteintrittsbarrieren abbauen und gleiche Wettbewerbs-
bedingungen im europäischen Binnenmarkt schaffen.
Doch auch hier braucht der Markt einen klaren ord-
nungspolitischen Rahmen.
Gerade auf europäischer Ebene sehe ich gegenwärtig
noch Nachholbedarf, wenn es darum geht, die Kräfte des
Marktes im Sinne der Menschen zu zügeln. Das hat sich
auch im Zuge der Verhandlungen um die Zahlungsdienste-
richtlinie gezeigt.
In diesem Zusammenhang darf ich das Engagement der
Bundesregierung loben, die die Zeichen der Zeit erkannt
und sich hier klar auf der Seite der Marktregulierung und
des Verbraucherschutzes positioniert hat. So wurde die von
anderen Ländern gewollte Aufweichung der aufsichts-
rechtlichen Anforderungen an das Kreditkartengeschäft in
vielen Punkten erfolgreich verhindert. Beispielsweise
konnte erreicht werden, dass bei von Zahlungsinstituten
ausgegebenen Karten Kredite innerhalb von 12 Monaten
zurückgeführt werden müssen. Das mag dem einen oder
anderen nicht kurz genug sein. Aber es ist ein Schritt und
sollte ausreichen, um Probleme vermeiden, wie wir sie
bei überschuldeten Kreditkartennutzern aus den USA
kennen.
Auf diese Gefahren hinzuweisen, wie es Professor
Reifner in der Anhörung getan hat, ist sicherlich ver-
dienstvoll, wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es
sich bei den in Deutschland üblichen Kreditkarten in der
Regel um sogenannte Debit-Karten handelt, die monats-
weise vom normalen Girokonto abgerechnet werden. Ich
sehe deshalb auch nach der Umsetzung der Richtlinie
nicht, dass uns amerikanische Verhältnisse ins Haus stehen.
Überdies muss ich an dieser Stelle auf eines hinwei-
sen: Das Gesetz, über das wir hier beraten, stellt nur ei-
nen Teil der Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie
dar. Die zivilrechtlichen Regelungen, die das Verhältnis
zwischen Zahlungsinstituten und Kunden regeln, werden
in einem separaten Gesetzgebungsverfahren behandelt.
Federführend ist hier der Rechtsausschuss. Ich empfehle
deshalb grundsätzlich, die entsprechenden Sachfragen
im Rahmen dieses Teils der Richtlinienumsetzung zu
klären.
Was die Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vor-
schriften der Zahlungsdiensterichtlinie angeht, lautet
mein Fazit: Als deutscher Gesetzgeber können wir diese
Vollharmonisierung in voller Harmonie zu einem guten
Abschluss bringen.
Frank Schäffler (FDP): Die FDP-Fraktion stimmt
dem vorliegenden Gesetzentwurf zu, da es sich im Wesent-
lichen um eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie
handelt. Ob es in Einzelpunkten zu Wettbewerbsverzer-
rungen oder Doppelaufsichten kommt, müssen wir bei der
Gesetzesanwendung weiterhin im Auge behalten.
Wesentlicher Diskussionspunkt im Rahmen der Ge-
setzesberatung war eine vom Bundesrat vorgeschlagene
Einschränkung des Informationsfreiheitsgesetzes. Der
Bundesratsinitiative Bayerns hatten übrigens elf Bundes-
länder, unter anderem Hamburg, zugestimmt. Wir haben
als FDP-Fraktion bereits zu Beginn der Beratungen im
Finanzausschuss deutlich gemacht, dass wir diese Ein-
schränkung ablehnen.
Um die Lehren aus der Finanzkrise zu ziehen, muss
auch transparent gemacht werden, wie die Bankenauf-
sicht im Einzelfall gehandelt hat. Um diesen Punkt auch
politisch vernünftig aufarbeiten zu können, dürfen die
Akten nicht verschlossen bleiben. Daneben bekennen wir
uns natürlich zum Ziel einer effektiven Finanzaufsicht.
Wenn schützenswerte Daten von Unternehmen betroffen
sind, müssen diese im Einzelfall vertraulich bleiben.
Das Informationsfreiheitsgesetz enthält eine Reihe
von Ausnahmen zum Schutz öffentlicher und privater
Belange. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind gene-
rell geschützt, und eine entsprechende Beauskunftung
nach dem Informationsfreiheitsgesetz erfolgt nicht, wenn
solche Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse dadurch ver-
letzt werden könnten. Darauf hat der Bundesbeauftragte
für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in der
Anhörung ausdrücklich hingewiesen. Da somit auch die
Interessen der Finanzinstitute berücksichtigt werden,
lehnen wir eine Einschränkung der berechtigten Infor-
mationsansprüche der Bürger ab.
Das vorliegende Gesetzgebungsverfahren ist nur der
aufsichtsrechtliche Teil der nationalen Umsetzung der
Single Euro Payments Area, SEPA. Wir sollten auch in
den anderen Bereichen der SEPA-Umsetzung möglichst
unbürokratische Verfahren wählen. Der einheitliche
Euro-Zahlungsverkehrsraum, der der deutschen Kredit-
wirtschaft erhebliche Anstrengungen abverlangt, muss
für Bürger und Unternehmen so attraktiv wie möglich
gestaltet werden, damit die SEPA-Produkte auch ange-
nommen werden. Um die kritische Masse bei der SEPA-
Nutzung zu erreichen, muss auch die öffentliche Hand
SEPA aktiv nutzen. Über 50 Prozent des Zahlungsver-
kehrs in Deutschland erfolgen durch die öffentliche Hand.
Deshalb ist die Beteiligung der öffentlichen Hand an dem
politisch gewollten Projekt SEPA eine Grundvorausset-
zung für eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Ich will meine Aus-
führungen unter die Überschrift stellen: Gestaltungs-
spielräume nutzen: Verantwortungsvolle Kreditvergabe
statt Überschuldung und Wucher. Wenn EU-Richtlinien
in nationales Recht umgesetzt werden, gibt es immer
Gestaltungsspielräume. Gerade bei der Zahlungsdienste-
richtlinie kommt es darauf an, diese zu nutzen. Nur so
können wir Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer schüt-
zen. Daher lege ich mein Hauptaugenmerk auf eben
diese Spielräume, die im Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung leider noch ungenutzt sind.
Die EU-Richtlinie sieht vor, den europäischen Zahlungs-
verkehr zu vereinheitlichen. Dazu zählt, auch Institute ohne
Bankerlaubnis zum Zahlungs- und Kreditgeschäft zuzu-
lassen. Konkret: Mobilfunkbetreiber, Kreditkartenanbie-
ter und Einzelhandelsunternehmen können bald Geldge-
schäfte abwickeln, ohne mit einer zugelassenen Bank
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23361
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zusammenzuarbeiten. Da klingeln sicherlich bei vielen
die Alarmglocken, was das für den Verbraucherschutz
oder die Finanzstabilität bedeutet. Die Alarmglocken
läuten völlig zu Recht und hoffentlich auch im Bundes-
tag laut genug.
Der Sinn der Richtlinie besteht darin, den Zahlungs-
verkehr zu vereinheitlichen – nicht mehr und nicht weni-
ger. Genau da können und müssen wir ansetzen. Auf
genau dieses Ziel müssen wir die Freigabe von Kreditge-
schäften beschränken. Und in der Tat: Die Richtlinie
überlässt es dem nationalen Gesetzgeber, die Grenzen ab-
zustecken – zwischen Zahlungsverkehr einerseits und
weiterreichender Kreditvergabe andererseits. Weil genau
dieser Spielraum im vorliegenden Gesetzentwurf nicht
sinnvoll genutzt wird, hat die Linke im Finanzausschuss
noch auf Änderungen gedrungen. Unser entsprechender
Änderungsantrag ist aber leider – ich würde sogar sagen:
gegen besseres Wissen – abgelehnt worden.
Wir haben eine Änderung von § 2 Abs. 3 zur exakte-
ren Definition des Erlaubnisvorbehalts vorgeschlagen.
Die von uns vorgeschlagene Formulierung hätte eine
klare einschränkende Definition zu dem Verhältnis von
Zahlungsvorgang und Kreditgewährung dargestellt. Sie
hätte einerseits Gewähr dafür geboten, dass den Notwen-
digkeiten des Zahlungsverkehrs Rechnung getragen wird,
und andererseits die Gefahr der Überschuldung durch
Kreditkartenkredite weitgehend gebannt. Dabei haben
wir auch der von der Bundesregierung vorgetragenen
Auffassung widersprochen, dass der Schutz vor Wucher
und Überschuldung ausschließlich zivilrechtlich, nicht
aber aufsichtsrechtlich bewerkstelligt werden könne.
Es geht uns darum, klar zu definieren und einzugren-
zen, welche Kreditgeschäfte ohne Bankzulassung getä-
tigt werden dürfen. Der Gesetzesentwurf der Bundesre-
gierung hingegen überlässt das der freien Gestaltung der
Anbieter. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn
Nicht-Banken weiterhin unentgeltlich Kurzkredite ver-
geben – etwa beim Kauf eines Kühlschranks, eines Fern-
sehers oder einer Musikanlage. Was jedoch nicht den
Bach hinuntergehen darf, sondern was wir stärken müs-
sen, ist eine verantwortungsvolle Kreditvergabe. Wir
lehnen es daher ausdrücklich ab, dass Nicht-Banken per
Barabhebung am Automaten Kredite verkaufen dürfen.
Hochgradig tückisch sind auch Geschäfte mit Kreditkar-
ten, deren Zinsen sich danach richten, wann jede ein-
zelne Zahlung erfolgt: Es reicht dann nicht, den ausste-
henden Gesamtbetrag im Blick zu haben. Vielmehr muss
man jede einzelne Zahlung im Kopf behalten. Denn vom
Zeitpunkt jeder Zahlung hängt ab, wie hoch und wie
lange der Teilbetrag verzinst wird. Die fehlende Trans-
parenz birgt die Gefahr, sich zu überschulden oder
schlicht mehr zu zahlen als nötig. Schuldnerberatungen
aus den USA und Großbritannien verweisen auf eine
Vielzahl von Fällen, in denen sich aus Zinseszinsen er-
drückende Überschuldungssysteme entwickelt haben.
Wir fordern: Kreditverträge müssen transparent sein.
Und die Kreditvergabe muss über die gesamte Laufzeit
fair erfolgen. Dafür tritt die Linke ein. Wir wollen, dass
entgeltliche Ratenkredite von über zwölf Monaten nur
durch reguläre Banken vergeben werden. Reguläre Ban-
ken unterliegen im Gegensatz zu anderen Anbietern der
regulären Bankaufsicht.
Auch brauchen Kreditnehmerinnen und Kreditneh-
mer wirksame Mittel, um ihre Rechte zu vertreten.
Ebenso wie Verbraucherschutzorganisationen halten wir
es deshalb für dringend geboten, die Informationsfreiheit
zu wahren. Das heißt: Beweise, die der Finanzaufsicht
vorliegen, müssen auch den Beschwerdeführern zugäng-
lich sein.
Die europäische Richtlinie bietet diese Spielräume.
Es ist unsere Aufgabe, sie zu nutzen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir Grünen befürworten grundsätzlich den europäischen
Zahlungsverkehr. Es entspricht der Lebenswirklichkeit
vieler Menschen, zwischen den EU-Staaten zu pendeln
und ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr eindeutig in ei-
nem Staat zu haben. Es macht Sinn, wenn innerhalb der
EU einheitliche Regeln in diesem Bereich herrschen.
Die Staatengemeinschaft hat hier ganz klar die Rege-
lungskompetenz. Das vorliegende Gesetz setzt die ent-
sprechenden EU-Richtlinien in deutsches Recht um. In
dem Gesetz geht es primär um den Marktzugang der An-
bieter und um aufsichtsrechtliche Fragen. Zivilrechtliche
Aspekte werden in einem eigenen Gesetz behandelt.
Trotz der grundsätzlichen Zustimmung zur Idee des
europäischen Zahlungsverkehrs wird die Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen gegen das Gesetz stimmen.
Hauptgrund dafür ist, dass die Belange der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher im Gesetz zu wenig berücksich-
tig wurden und die Bundesregierung mit ihrer Gesetzes-
vorlage hinter dem Spielraum zurückgeblieben ist, den
die EU-Richtlinie geboten hätte.
Während der Beratungen im Bundesrat hat die bayeri-
sche Landesregierung – unter Beteiligung der selbster-
nannten Bürgerrechtspartei FDP – einen Änderungsvor-
schlag eingebracht, der die Bestimmungen des
Informationsfreiheitsgesetzes, IFG, stark beschnitten
hätten. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie hat das
nichts zu tun, aber CSU und FDP wollten sich offen-
sichtlich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, die In-
formationsrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber
der Finanzaufsicht zu beschneiden. Dabei sind im IFG
ohnehin schon zahlreiche Ausnahmen vorgesehen, die
die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen der Finanzun-
ternehmen sichern. Die Anhörung und die Debatte im
Finanzausschuss haben gezeigt, dass eine Einschrän-
kung des IFG unnötig ist und die Informationsrecht der
Bürgerinnen und Bürger unverhältnismäßig einge-
schränkt hätte. Ich bin froh, dass sich CSU und FDP mit
ihrem Ansinnen nicht durchsetzen konnten.
Die Bundesregierung hat den Spielraum der Richtli-
nie nicht zugunsten der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher genutzt. Es geht um Haftungsfragen bei EC- oder
Kreditkarten. Bisher war der Selbstbehalt auf 150 Euro
unbesehen weiterer Umstände beschränkt. Das ist nun
aufgehoben. Der Verbraucher muss nachweisen, dass er
23362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
(A) (C)
(B) (D)
nicht in der Lage war, die Zahlungskarte sperren zu las-
sen. Das ist unter Umständen nur schwer zu leisten, um-
ständlich und offenbart wenig Zutrauen in die Redlich-
keit der Kundinnen und Kunden.
Überschuldung ist in Deutschland wahrscheinlich das
gesellschaftliche Problem, das am wenigsten Aufmerk-
samkeit erfährt. Sehr lange versuchen Menschen mit
Zahlungsschwierigkeiten diese zu verschleiern. Der
Nachbar, die Familie, die Kollegen sollen nichts merken.
Da wir uns aktuell mitten in einer schweren Rezession
befinden und die Arbeitslosenzahlen weiter nach oben
gehen werden, wird es auch zu mehr Überschuldungen
kommen. Dieser Zustand tritt dann ein, wenn Menschen
ihre laufenden finanziellen Verpflichtungen nicht mehr
aus ihrem regelmäßigen Einkommen bedienen können.
Das ZAG bietet neuen Anbietern von Finanzdienst-
leistungen einen leichteren Marktzugang. Ihre Geschäfts-
praxis konzentriert sich auf das Kreditkartengeschäft. In
Deutschland ist es bisher üblich, dass Kreditkarten Zah-
lungsaufträge sammeln und dann in einem Vorgang ab-
rechnen. Im angelsächsischen Raum haben Kreditkarten
eine echte Kreditfunktion. Dabei werden häufig beste-
hende mit neuen Krediten beglichen. Das Problem ist,
dass der ausstehende Gesamtbetrag keine Auskunft über
die Struktur der Verschuldung gibt, da Fristen zu beach-
ten sind. Es droht durch diese Unübersichtlichkeit Über-
schuldung leichter einzutreten.
Hier wären mehr Informationspflichten und Transpa-
renz gefordert – gerade vor dem Hintergrund der Kredit-
kartenverschuldung in den USA und Großbritannien, die
Millionen Menschen in die Überschuldung treibt, wäre
es gut gewesen, eine vorsichtige Regelung zu finden, die
die Verbraucherinnen und Verbraucher besser schützt.
Genauso mit den Bestimmungen zum Abrechungszeit-
raum: 12 Monate sind dafür in der Richtlinie vorgese-
hen, was zu noch mehr Unübersichtlichkeit beiträgt. Der
Abrechnungszeitraum hätte auf vier Monate beschränkt
werden müssen.
Wir befürchten also, dass hier der Weg für neue Fehl-
entwicklungen am Finanzmarkt beschritten wird.
214. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11