Anlage 9
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21937
        (A) )
        (B) )
        bestimmte menschliche Organe (inkl. 16521/08
        (Tagesordnungspunkt 14)Burkhardt
        ADD 1 und 16521/08 ADD 2) (ADD 1 in Eng-
        lisch)
        KOM(2008) 818 endg.; Ratsdok. 16521/08
        (Drucksachen 16/11517 Nr. A.30, 16/11781)
        Maurer, Ulrich DIE LINKE 29.01.2009
        Mogg, Ursula SPD 29.01.2009**
        Müller-Sönksen, FDP 29.01.2009
        Anlage 1
        Liste der entschuldigt
        *
        **
        A
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Aigner, Ilse CDU/CSU 29.01.2009
        Barthle, Norbert CDU/CSU 29.01.2009
        Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        29.01.2009
        Bellmann, Veronika CDU/CSU 29.01.2009
        Binder, Karin DIE LINKE 29.01.2009
        Brüning, Monika CDU/CSU 29.01.2009
        Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 29.01.2009
        Caspers-Merk, Marion SPD 29.01.2009
        Deittert, Hubert CDU/CSU 29.01.2009*
        Ehrmann, Siegmund SPD 29.01.2009
        Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 29.01.2009*
        Freitag, Dagmar SPD 29.01.2009
        Gradistanac, Renate SPD 29.01.2009
        Hauer, Nina SPD 29.01.2009
        Heller, Uda Carmen
        Freia
        CDU/CSU 29.01.2009
        Hirsch, Cornelia DIE LINKE 29.01.2009
        Jung (Karlsruhe),
        Johannes
        SPD 29.01.2009
        Dr. Kolb, Heinrich L. FDP 29.01.2009
        Kolbow, Walter SPD 29.01.2009
        Kopp, Gudrun FDP 29.01.2009
        Kurth (Quedlinburg),
        Undine
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        29.01.2009
        Dr. Lamers (Heidelberg),
        Karl A.
        CDU/CSU 29.01.2009
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        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        en Abgeordneten
        für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung des Europarates
        für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung der NATO
        nlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
        zur Beratung der Beschlussempfehlung: Vor-
        schlag für eine Richtlinie des Europäischen Par-
        laments und des Rates über Qualitäts- und
        Sicherheitsstandards für zur Transplantation
        aumann, Kersten DIE LINKE 29.01.2009
        itzsche, Henry fraktionslos 29.01.2009
        oll, Michaela CDU/CSU 29.01.2009
        aula, Heinz SPD 29.01.2009
        flug, Johannes SPD 29.01.2009
        aidel, Hans CDU/CSU 22.01.2009
        chäffler, Frank FDP 29.01.2009
        r. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 29.01.2009
        chily, Otto SPD 29.01.2009
        r. Spielmann, Margrit SPD 29.01.2009
        trothmann, Lena CDU/CSU 29.01.2009
        r. Tabillion, Rainer SPD 29.01.2009
        auss, Jörg SPD 29.01.2009
        r. Westerwelle, Guido FDP 29.01.2009
        immer (Neuss), Willy CDU/CSU 29.01.2009
        r. Wodarg, Wolfgang SPD 29.01.2009*
        apf, Uta SPD 29.01.2009
        bgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        21938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
        (B) )
        Die vorliegende Beschlussempfehlung zum Vorschlag
        für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
        Rates über Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zur
        Transplantation bestimmte menschliche Organe werde
        ich und wird meine Fraktion Die Linke ablehnen.
        Wir entscheiden heute – ohne Debatte – über die Sub-
        sidiaritätsprüfung, die im Rahmen eines Testlaufs auf
        Anregung der Konferenz der Ausschüsse für Gemein-
        schafts- und Europaangelegenheiten der Parlamente der
        Europäischen Union, COSAC, stattfindet; ein komple-
        xes und vielen sicherlich noch nicht vertrautes Verfah-
        ren, das wir in den vergangenen Wochen intensiv in den
        beteiligten Ausschüssen des Deutschen Bundestages be-
        raten haben. Nicht weniger komplex ist der gewählte
        Gegenstand des Testlaufs, der Vorschlag der Europäi-
        schen Kommission für eine Richtlinie über Qualitäts-
        und Sicherheitsstandards für zur Transplantation be-
        stimmte menschliche Organe.
        Das Thema Organspende und -transplantation ist ein
        sehr sensibles Thema. Denn es bedeutet, sich mit den
        großen Fragen Leben und Tod auseinanderzusetzen.
        Viele Menschen schrecken bei diesem Gedanken erst
        einmal zurück. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die
        Bereitschaft, einen Organspendeausweis auszufüllen,
        von einer Reihe von Faktoren abhängt. Ein ganz ent-
        scheidender Faktor ist das Vertrauen der Menschen in
        das Gesundheitssystem. Eine zunehmende Ökonomisie-
        rung des Gesundheitssystems, wie wir sie gegenwärtig
        erleben, schafft kein Vertrauen. Die Europäische Kom-
        mission will nun mit ihrem Richtlinienvorschlag über
        Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zur Transplanta-
        tion bestimmte menschliche Organe einen klaren
        Rechtsrahmen für die Organspende und -transplantation
        in der Europäischen Union schaffen. Nach Ansicht der
        Kommission bestehen zwischen den Mitgliedsländern
        große Unterschiede hinsichtlich der Qualitäts- und Si-
        cherheitsanforderungen. Einheitliche Qualitäts- und Si-
        cherheitsstandards könnten – so die Kommission weiter –
        den grenzüberschreitenden Austausch von Organen be-
        fördern.
        Trotz meiner Ablehnung der Beschlussempfehlung
        begrüße ich dieses Anliegen. Heute geht es jedoch nicht
        um die inhaltliche Beratung der Vorlage, sondern um die
        Frage, ob der Grundsatz der gemeinschaftlichen Subsi-
        diarität gewahrt ist. Dahinter verbirgt sich die Frage
        nach der Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten
        zwischen dem europäischen Gesetzgeber und dem Deut-
        schen Bundestag. Die Prüfung des Subsidiaritätsprinzips
        erfolgt anhand von zwei Fragen: Können die Ziele des
        Vorhabens ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaa-
        ten erreicht werden oder können die Ziele des EU-Vor-
        habens wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen bes-
        ser auf EU-Gemeinschaftsebene verwirklicht werden?
        Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil ich
        Bedenken hinsichtlich der Einhaltung des Grundsatzes
        der Subsidiarität habe. Diese Bedenken gibt es nicht hin-
        sichtlich der Schaffung europaweiter Mindeststandards
        für Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen bei zur
        Transplantation bestimmter Organe, aber hinsichtlich
        der Frage, ob hierfür umfangreiche detaillierte institutio-
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        elle Regelungen auf europäischer Ebene geschaffen
        erden müssen.
        Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil wir
        und hier meine ich den Bundestag in Gänze – nicht
        issen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ge-
        ahrt bleibt, denn dazu müssten wir einen Vergleich al-
        er Vorschriften in den einzelnen EU-Mitgliedsländern
        u den vorliegenden Regelungsgegenständen haben.
        och die Kommission macht noch nicht einmal die er-
        orderlichen Angaben, um überhaupt prüfen zu können,
        b die voraussichtlichen finanziellen und administrati-
        en Belastungen für die Mitgliedstaaten in einem ange-
        essenen Verhältnis zu dem erwarteten Nutzen stehen.
        Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil die
        inke ein friedliches und soziales Europa will und den
        eg der europäischen Integration weitergehen möchte.
        as gelingt aber nicht mit einer Absenkung höherer
        tandards, und das gelingt nicht, wenn wir die Möglich-
        eiten zur Subsidiaritätskontrolle bei Richtlinien wie
        ieser nicht ernsthaft nutzen.
        nlage 3
        Erklärung
        des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
        die Beschlussempfehlung: Für eine erleichterte
        Anerkennung von im Ausland erworbenen
        Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen (Ta-
        gesordnungspunkt 9)
        Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die
        rünen, dass unser Votum „Enthaltung“ lautet.
        nlage 4
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: Zehn Jahre aner-
        kannte Regional- und Minderheitensprachen in
        Deutschland. Schutz – Förderung – Perspekti-
        ven (Tagesordnungspunkt 10)
        Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        edder mol – veel to selten – sünd de Regional- un
        innerheitensproken vun uns Land anseggt op uns
        agesordnung. Fröher, bi mi bi´t Huus in Grotefehn in
        stfreesland, worr hochdüütsch snackt.
        Ik heff Plattdüütsch vun de annern Kinner in´t Dörp
        ehrt. Ik sülvst bün keen professionellen, ober en passio-
        eerten Plattsnacker. Mien Computer jedenfalls, as ik
        or an’t Schrieven weer, hett dat allens rot anstreken mit
        ien Rechtschreibautomatik, all de plattdüütschen Wöör
        efullen em nich.
        Plattsnacken hett een Barg Vördeele: Man kriggt en
        nnere Stimmung bi´t Snacken. Man föhlt, dat man
        rgendwie tosomen höört mit de, de ok platt snackt. Man
        öhlt ok, dat de Soken ut uns moderne Welt, de sik nur
        wor op Platt utdrücken loot, villich gor nich de wich-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21939
        (A) )
        (B) )
        tigsten sünd. De gröttste Vördeel is ober, dat man sik in
        alle Fründschap Soken an’n Kopp smieten kann, de op
        Hochdüütsch de reinste Beleidigung weern. Dor is de
        fründliche Peter Harry ok mol en echten Nordstrander
        „Dickkopp“. Villicht is dat in de Politik mennigmol rich-
        tig, wenn man dor Plattdüütsch snacken deit. Villicht
        schullen wi de Swattbrotthemen wie Föderalismus-
        reform un Huusholt mol op Platt besnacken. Ik glööv,
        dor kunn en Masse klorer warrn.
        Bi en poor Kollegen vun dit Hooge Huus un bi en Deel
        vun de Lüüd in´t Land is villicht en beten dörenanner
        komen, dat dat en grote Ünerscheed twüschen de Regio-
        nalsprook Plattdüütsch un de Minnerheitensproken vun
        uns Land – Däänsch, Freesch, Sorbisch un Romanes –
        gifft. Plattdüütsch is keen Sprook vun en nationale Minner-
        heit, dat is en in ganz Norddüütschland wiet verbreete
        Regionalsprook – un de Minschen, de Platt snackt, sünd
        keen eegen Gruppe so as de Minnerheiten. Op de anner
        Siet gifft dat natürlich ok en Masse Soken, de bi Platt,
        Deensch, Freesch, Sorbisch un Romanes gliek sünd. Frö-
        her geef dat mol en Konkurrenz twüschen Platt, Däänsch,
        Freesch, Sorbisch un Romanes. Obers dor sünd wi al lang
        vun weg. Dörum dörf dat ok keen Gegeneenanner-
        Utspeelen vun de Sproken op de politische oder finan-
        zielle Ebene geben.
        Hüüt is de „Druck“ vun dat Hoochdüütsche so groot
        worrn, dat alle annern Sproken vun uns Land dat swoor
        hebbt. De Europäische Charta för de Regional- oder
        Minnerheitensproken, de siet den 1. Januar 1999 als
        Bundesgesetz in Kraft is, is en ganz wichtigen Punkt.
        Ik bedank mi bi de Grote Koalition för den geschmei-
        digen Andrag. De Kollegen und Kolleginnen hebbt al
        dorop henwiest, dat wi mit de Verpflichtungen vun de
        Charta noch nich ganz liekvör sünd. Dat seht wi von de
        Grönen jüstso.
        All wedder en Bericht – goot meent is noch lang nich
        goot mookt. Un wat wi in dissen Bericht höört: „Keen
        Minsch deit so veel för de Minnerheitensproken as düsse
        Bundesregierung“. Tominnst mit de Tung, kösten dörf
        dat nämlich nix!
        Af un an schullen wir uns överleggen, wat wi vun de
        Politik noch moken köönt, un af und an köönt wi ok en
        beten mehr doon. Ik glööv, dat is ganz wichtig, dormit
        wi unse Identität un unse Kultur fastholen doot. Wi sünd
        uns all enig, dat de Minnerheitensproken en wichtigen
        Deel vun de Kultur un Identität in Düütschland sünd.
        Minnerheitensproken sünd nich blots Folklore, nich blot
        wat Lustiges. Wer sik mol de Möhg mookt un to´n
        Bispill Klaus Groth op Platt lesen deit, siene olen platt-
        düütschen Gedichten un Geschichten, de weet, woveel
        Kultur und Tradition in Minnerheitensproken binnen is.
        Wo weer dat denn, wenn sik all Bundesländer mol mit
        en poor vernünftige Lüüd an een Disch setten un endlich
        mol festlegen deen, wat denn nu würklich passieren
        schall. So wat nennt man auf Hochdüütsch „Konzept“.
        Een Spraak leevt nur, wenn se sproken warrt, wenn de
        Lüüd se dagdächlich bruukt. Un dat warrt, wenn man dat
        ehrlich bekieken deit, jümmer ringer. Wi mookt uns Sor-
        gen, dat de Minnerheitensproken jümmer wieder torüch
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        oht, dat jümmer weniger Lüüd de Minnerheitensproken
        nackt.
        De Medien kunnen dor veel bi moken, jüst, wenn dat
        ´t Radio un Fernsehn nich jümmer blooß Programm för
        le Lüüd geef. In de Volkssproken kann man ok sülvst-
        ewusst un frech en Programm för junge Lüüd moken.
        enn de Volkssproken en Tokunft hebben schüllt, denn
        utt se för junge Lüüd wat bedüden. Wenn wi as Bundes-
        ag blooß alle poor Johr mol Platt snackt, bringt dat nich
        eel.
        Insofern is dat nootwennig, dat wi uns buten bedankt,
        ämlich bi dejenigen in de Kinnergoorns, in de Scholen,
        n de Hoochscholen un ok bi vele, vele, de sik ehrenamt-
        ich dormit beschäftigt. Ik will mi ok bi all de Minschen
        edanken, de helpt, de Minnerheitensproken to erholen.
        issen Dank slütt sik mien Fraktion vull an. Velen
        ank! Loot Se uns all tosomen dorför sorgen, dat de
        innerheitensproken ok tokünftig leevt.
        Un dat mehr un nich weniger Lüüd seggt: „Ik snack
        latt“, „Jeg taler dansk“, „Ik snaak frasch“, „Me rakrau
        omnes“
        Velen Dank för’t Tohören!
        nlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        des Zivilschutzgesetzes (Zivilschutzgesetz-
        änderungsgesetz – ZSGÄndG)
        – der Beschlussempfehlung zu dem Antrag:
        Bevölkerungsschutzsystem reformieren –
        Zuständigkeiten klar regeln
        (Tagesordnungspunkt 12 a und b)
        Petra Pau (DIE LINKE): In dem Gesetz, das heute
        erabschiedet werden soll, geht es um einen besseren Zi-
        ilschutz. Damit ist der Schutz ziviler Objekte und
        essourcen im Verteidigungsfall gemeint. Beim Kata-
        trophenschutz wiederum geht es um Unwetter,
        ochwasser, Erdbeben und dergleichen, also um nicht
        ilitärische Bedrohungen. Diese Unterscheidung sei vo-
        ausgeschickt.
        Nun soll beides, der Zivil- und der Katastrophen-
        chutz, besser koordiniert werden. Auch das klingt ver-
        ünftig. Aber genau da lauern auch Konflikte, mindes-
        ens zwei. Denn zum einen droht eine Vermengung
        iviler und militärischer Komponenten. Und zweitens
        eht es um die Frage, welche Kompetenzen den Ländern
        nd welche dem Bund zustehen.
        Beide möglichen Konflikte sind wiederum aus dreier-
        ei Sicht interessant. Erstens: Das Grundgesetz trennt
        charf zwischen militärischen und zivilen Instrumenten.
        afür gibt es historische, politische und sachliche
        ründe. Die Linke hält sie nach wie vor für richtig. Oder
        nders gesagt: Wir werden sofort hellhörig, wenn diese
        renzen angetastet werden.
        21940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
        (B) )
        Zweitens: Der Bund maßt sich gern Kompetenzen an,
        die eigentlich in der Hoheit der Länder liegen. Das war
        unter Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) so, und
        das ist unter Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble
        (CDU) nicht anders. Sie werden daher meine Skepsis
        verstehen, wenn nun CDU/CSU und SPD gemeinsam
        ans Werk gehen.
        Drittens: Bundesinnenminister Schäuble hat mehr-
        fach erklärt, dass er eine neue Sicherheitsarchitektur an-
        strebt. Sein Vorbild sind die USA, also ein zentralisti-
        scher Sicherheitsapparat mit nahezu unbegrenzten und
        undurchschaubaren Befugnissen. Das will Die Linke
        ausdrücklich nicht – nicht in großen, aber auch nicht in
        kleinen Schritten.
        Nun hatten wir in den Fachausschüssen des Bundesta-
        ges sechs Wochen lang Zeit, den Gesetzestext auf seine
        guten und auf seine möglicherweise tückischen Seiten zu
        prüfen. Zuletzt taten wir es gestern im Innenausschuss.
        Die Fachkolleginnen und -kollegen werden sich an
        meine sachlichen Fragen erinnern. Die Antworten der
        Vertreter des Bundesinnenministeriums konnten leider
        drei Bedenken der Linksfraktion nicht entkräften. Ers-
        tens hegen wir Zweifel, ob das neue Gesetz zum Zivil-
        schutz wirklich mit dem Grundgesetz übereinstimmt.
        Ähnliche Zweifel hegten Abgeordnete der FDP und von
        Bündnis 90/Die Grünen. Zweitens konnten unsere Be-
        fürchtungen nicht ausgeräumt werden, dass es sich hier-
        bei auch um eine Einstiegsdroge für den Einsatz der
        Bundeswehr im Inneren handelt. Ich räume ein: Der Ge-
        setzestext weist dies nicht vordergründig aus. Aber wir
        alle kennen die Absicht des Bundesinnenministers, ge-
        nau dies zu tun, auf welchen Wegen auch immer.
        Drittens hat Die Linke Bedenken zum Datenschutz.
        Sage bitte niemand, die seien übertrieben. Wir erleben
        einen Datenskandal nach dem anderen, und der Staat
        mischt kräftig mit. Auch dieses Gesetz ermächtigt dazu,
        neue Daten zu erheben. Das kann sinnvoll sein. Das
        kann aber auch gefährlich sein, zumal: Auch Daten-
        schutz ist Zivilschutz.
        Sie merken an meiner moderaten Abwägung, dass ich
        unentschlossen bin. Natur- und andere Katastrophen
        müssen so effektiv wie möglich gemeistert werden. Da-
        rauf haben alle Bürgerinnen und Bürger einen unbe-
        streitbaren Anspruch, zumal wir leider davon ausgehen
        müssen, dass die aktuelle Nichtklimapolitik weitere Na-
        turkatastrophen befördert. Aber es wäre unredlich, die
        Sorge vor oder das Unglück nach solchen Katastrophen
        politisch zu missbrauchen. Ich habe ihnen eingangs die
        Gründe für meine Skepsis erläutert. Weder die CDU/
        CSU noch die SPD, auch nicht das Innenministerium ha-
        ben meine Zweifel ausgeräumt.
        Die Linke wird sich daher bei der Abstimmung ent-
        halten.
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): 60 Jahre Grundgesetz ist in diesem Jahr An-
        lass für zahlreiche Feierlichkeiten. Vieles, was sich die
        Väter und Mütter unseres Grundgesetzes 1949 ausge-
        dacht haben, hat sich bewährt und sollte bewahrt und
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        erteidigt werden. Der Föderalismus ist die bewährte
        rundordnung unseres Staates, auch wir wollen grund-
        ätzlich daran festhalten. Die Föderalismusreformkom-
        ission I hat die Aufgabenverteilung zwischen Bund
        nd Ländern in einigen Bereichen neu justiert. Die
        weidrittelmehrheit dieses Hauses und des Bundesrates
        at nach Auffassung der Grünen hier die falschen Wei-
        hen gestellt. Dem Bund jegliche Verantwortung für die
        ildung zu nehmen, war eine krasse Fehlentscheidung.
        ie gleichzeitige Handlungsunfähigkeit der Großen
        oalition beim Thema Bevölkerungsschutz bleibt für
        ich unverständlich. Hier gibt es in der Verfassung
        ealen Veränderungsbedarf, und ich unterstütze aus-
        rücklich die Forderungen des Bundesrechnungshofes,
        ie Finanzierung im Bereich des Bevölkerungsschutzes
        uf eine verfassungsrechtlich tragende Grundlage zu
        tellen. Ich benutze hier bewusst den Begriff des Bevöl-
        erungsschutzes, weil es mein Ziel bleibt, ein einheitli-
        hes, modernes Bevölkerungsschutzgesetz zu schaffen.
        ie Trennung zwischen Katastrophenschutz und Zivil-
        chutz ist nicht mehr sachgerecht und wird den Risiken,
        enen wir heute und in Zukunft ausgesetzt sind, nicht
        ehr gerecht.
        Die geltende Verfassung geht davon aus, dass die
        uständigkeit der Länder bei der Gefahrenabwehr im
        atastrophenfall liegt und die Verteidigung und Kriegs-
        olgenbeseitigung Aufgabe des Bundes ist. Die Wirk-
        ichkeit heute sieht anders aus. Wir müssen uns heute auf
        roßschadenslagen wie Pandemien oder Stromausfall
        instellen, die länderübergreifend sind, und gleichzeitig
        st die Wahrscheinlichkeit, dass Kriegsfolgen überwun-
        en werden müssen, eher gering geworden. Nicht klar
        rfasst wird die Zuständigkeit bei einem Terroranschlag,
        er weder Kriegsfolge noch Katastrophe im klassischen
        inne ist.
        Warum also kann sich die Politik nicht auf den ein-
        eitlichen Begriff des Bevölkerungsschutzes verständi-
        en und die Aufgabenwahrnehmung und Finanzierung
        er Ressourcen klar regeln?
        Was die Große Koalition hier heute als Gesetzentwurf
        räsentiert, das ist ein wenig überzeugender Kompro-
        iss zwischen Bund und Ländern. Wir begrüßen durch-
        us, dass zentrale Koordinierungsmaßnahmen auf den
        und übertragen wurden, dass gemeinsame Standards
        ür die Aus- und Fortbildung entwickelt werden sollen
        der der Bund die beratende Funktion beim Schutz kriti-
        cher Infrastrukturen hat. Aber das reicht nicht. Es bleibt
        ei einem Wirrwarr an Zuständigkeiten und Verantwort-
        ichkeiten, es gibt weder eine einheitliche Struktur für
        eitstellen noch für Führungsstrukturen, und bei länder-
        bergreifenden Großschadensfällen muss der Bund zu-
        chauen und geduldig auf Hilferufe aus den Ländern
        arten. Das ist in meinen Augen gefährlicher Unsinn
        nd bedeutet im Ernstfall, dass wir für den Schutz der
        evölkerung nicht optimal aufgestellt sind.
        Die Länder sind schon heute nicht in der Lage, ihre
        ufgaben, an denen sie kleben, auch zu finanzieren. Der
        atastrophenschutz ist in allen Bereichen unterfinan-
        iert, das gilt für die Notfallmedizin genauso wie für die
        ivilen Rettungsdienste oder die Feuerwehren. Sie erfin-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21941
        (A) )
        (B) )
        den hier das Konstrukt des „Zivilschutz-Doppelnutzen-
        Konzepts“, dass kaschieren soll, dass der Bund zwar be-
        zahlt, aber nichts zu sagen hat. Das ist inhaltlich falsch
        und es wird dem Grundsatz der Haushaltsklarheit und
        Haushaltswahrheit nicht gerecht. Ich bin ausdrücklich
        dafür, dass sich der Bund an der Finanzierung von
        Feuerwehrautos beteiligt, aber bitte auf einer klaren
        Grundlage der Aufgabendefinition. Zivilschutz ist als
        Bundesaufgabe weitgehend weggefallen, es ist daher ab-
        surd, hier in einem Gesetz eine „Zivilschutz-Doppelnut-
        zung“ einzuführen. Nein, wir brauchen ein einheitliches
        Bevölkerungsschutzgesetz, und dafür müssen wir das
        Grundgesetz ändern.
        Nicht geregelt wird in dem Gesetzentwurf, wie die
        Bevölkerung auf mögliche Schadensereignisse ausrei-
        chend vorbereitet werden soll und wie die Selbsthilfe ge-
        stärkt werden kann. Nach der Privatisierung der kriti-
        schen Infrastrukturen muss auch die Verantwortung der
        Wirtschaft in diesem Bereich neu definiert werden; die
        alten Sicherstellungsgesetze reichen hier nicht aus. Aber
        an so schwierige Fragen traut sich die Große Koalition
        nicht heran, und es bleibt einmal mehr bei einem kleinen
        Reförmchen.
        Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Anmerkungen
        zum Gesetzentwurf der FDP machen. Inhaltlich stimmen
        wir Ihrem Entwurf zu, es steht viel Richtiges drin. Genau
        wie wir fordern Sie die Aufhebung der Trennung von
        Katastrophenschutz und Zivilschutz. Aber wie ehrlich ist
        hier Ihr Antrag? Die Länder, die am meisten auf der
        Bremse stehen, sind von der FDP mitregierte Länder.
        Ein modernes Bevölkerungsschutzgesetz scheitert an
        Niedersachsen, Bayern und Hessen, und mir ist keine
        Initiative der FDP bekannt, die Blockadehaltung der
        Länder zu lockern. Sie stellen hier als FDP-Bundestags-
        fraktion richtige Forderungen auf, gleichzeitig verhin-
        dert die FDP in den Ländern die Durchsetzung, das ist
        wenig glaubwürdig.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung der Beschlussempfehlung: V-Leute
        in der NPD abschalten (Tagesordnungspunkt 15)
        Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Schluss mit der demokratiefeindlichen NPD! Dieser
        Wunsch eint unser demokratisches Parlament. Für die
        Linksfraktion heißt der Weg dorthin: Sofortiger Abzug
        aller V-Leute und Einleitung eines NPD-Verbotsverfah-
        rens! Aber kann das hochkomplexe, gesellschaftlich fest
        verankerte Problem Rechtsextremismus mit einer derart
        eindimensionalen Lösung behoben werden? Sicher
        nicht.
        Die Arbeit der V-Leute gilt als umstritten. Jeder siebte
        NPD-Funktionär bezieht Geld vom Verfassungsschutz.
        Offensichtlich ist, dass solche Mitarbeiter bzw. Infor-
        manten nicht immer mit der nötigen Sorgfalt ausgewählt
        wurden. Da sind auch „braune Schafe“ dabei. Mehrfach
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        am es zu Fällen, in denen V-Leute mit rechtsextremen
        riminellen kollaborierten. Nazi-Aktivitäten wurden mit
        eld vom Nachrichtendienst finanziert. Informationen
        lossen nicht nur in die gewünschte Richtung. Vielmehr
        arnten V-Leute ihre rechtsextremen Kumpane auch vor
        olizeilichen Fahndungen. Dies ist nicht Sinn der Sache.
        nsofern teile ich die Kritik der Linksfraktion.
        Doch darf die Antwort des Staates auf derartige Miss-
        tände lauten: Keine Überwachung mehr? Das wäre dop-
        elt fahrlässig: Zum einen müssen wir über NPD-interne
        achenschaften und Vorhaben unterrichtet sein. Zum
        nderen ist der Staat verpflichtet, aus Schutzgründen die
        nonymität der V-Leute zu wahren.
        Bringt aber der Einsatz von V-Leuten in den Füh-
        ungsetagen der NPD das gewünschte Ergebnis? Da tut
        ich einiger Änderungsbedarf auf. Der Verfassungs-
        chutz muss künftig seine Informanten professioneller
        uf ihre Eignung prüfen. Straftaten dürfen nicht durch
        taatliche Behörden billigend in Kauf genommen wer-
        en. Die zuständigen Gremien auf Bund- und Länder-
        bene haben ihre Kontrollfunktionen gewissenhafter und
        onsequenter auszuüben. Auch die Kooperation bei der
        erwertung gewonnener Informationen verläuft sehr un-
        efriedigend. Die Innenministerkonferenz muss hierbei
        hre Bemühungen intensivieren. All diese Umsetzungs-
        robleme zeigen: Nicht die V-Leute verhindern Erfolge
        m Kampf gegen Rechtsextremismus und NPD, son-
        ern Uneinigkeiten und fehlende Kontinuität im demo-
        ratischen Spektrum. Wir brauchen eine abgestimmte,
        achhaltige Strategie, die vor allem auf Prävention setzt.
        azu gehört ganz maßgeblich die offensive Auseinan-
        ersetzung mit rechtsextremen Ideologien. Denn diese
        ilden den Nährboden, auf dem schließlich Wahlerfolge
        er NPD oder rechte Gewalt gedeihen können. Wir wis-
        en, dass ein NPD-Verbot – das ja das Ziel eines V-Leute-
        bzugs wäre – keinen positiven Einfluss hätte auf rassis-
        isches Denken, Antisemitismus, Ängste vor angeblicher
        Überfremdung“ oder Abneigungen gegen andere Kul-
        uren und Lebensweisen. Doch hier muss unser konzep-
        ioneller Ansatz liegen.
        Die Debatte um V-Leute und NPD-Verbotsverfahren
        ingegen führt seit Jahren zu nichts. Wenn sie überhaupt
        rüchte bringt, dann unerwünschte: nämlich jedes Mal
        ine Bestätigung für das ultrarechte Lager, dass die de-
        okratischen Kräfte sich nicht einig werden.
        Fragen wir uns stattdessen: Was braucht unsere Be-
        ölkerung, um sich in der Demokratie zu Hause zu füh-
        en? Wie können wir Vielfalt und Toleranz attraktiv
        arstellen? Welche drängenden Probleme müssen die de-
        okratischen Parteien lösen, damit die Nazis keine An-
        atzpunkte für ihre Propaganda finden? Solche Debatten
        ohnen sich, ganz besonders im sogenannten Superwahl-
        ahr 2009.
        Wenn wir alle uns derartigen Fragen erfolgreich stel-
        en, können wir die NPD gemeinsam schachmatt setzen
        hne Verbot – indem wir sie als unwählbar, inakzeptabel
        nd überflüssig entlarven.
        21942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
        (B) )
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Europäische Ar-
        beitszeitrichtlinie – Hohen Arbeitnehmerschutz
        EU-weit sicherstellen (Zusatztagesordnungs-
        punkt 6)
        Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute debattieren
        wir über den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Euro-
        päische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen Arbeitnehmerschutz
        EU-weit sicherstellen“. Darin geht es kurz zusammen-
        gefasst um Folgendes: Die Richtlinie 2003/88/EG zur
        Arbeitszeitgestaltung soll geändert werden. Derzeit for-
        mulieren auf EU-Ebene die Mitgliedstaaten die Position
        des Ministerrates für weitere Verhandlungen. Dabei setzt
        sich die Bundesregierung dafür ein, dass eine wöchentliche
        durchschnittliche Höchstarbeitszeit durch Tarifvertrag
        oder, wenn kein Tarifvertrag vorliegt und keine Perso-
        nalvertretung besteht, durch einzelvertragliche Regelung
        überschritten werden darf. Meine Damen und Herren
        von Bündnis 90/Die Grünen, wie könnte man in Zeiten
        der Weltwirtschaftskrise eine andere Position vertreten?
        Im Rat wurde im Juni ein Kompromiss errungen, der
        zwei essentielle Bedürfnisse vereint. Zum einen wird ein
        angemessenes europaweites Schutzniveau bei der Arbeits-
        zeit festlegt. Die Richtlinie sorgt mit einer Regelarbeits-
        zeit von 48 Wochenstunden dafür, dass Wettbewerb nicht
        auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
        mer ausgetragen wird. Sie ist ein wichtiger Baustein für
        ein soziales Europa. Zum anderen wird an der notwendi-
        gen Flexibilität der Arbeitskräfte, die in unserer globali-
        sierten Welt unabkömmlich ist, festgehalten. Damit meine
        ich die Regelung des Opt-outs, wonach im Bedarfsfall von
        der gesetzlich vorgesehenen wöchentlichen Höchstarbeits-
        zeit mit Zustimmung des Arbeitnehmers abgewichen
        werden kann.
        Sofern Sie uns vorwerfen, wir würden Arbeitnehmer-
        belange nicht ausreichend würdigen, ja sogar ein Wort-
        bruch der Regierung liege vor, weil ein hoher sozialer
        Schutz für Arbeitnehmer nicht garantiert werde, ist dies
        schlichtweg falsch. Denn zum Schutze der Arbeitnehmer
        sieht der Gemeinsame Standpunkt des Rates wesentlich
        strengere Voraussetzungen für das Opt-out vor, als sie
        bisher in den Mitgliedstaaten praktiziert wurden. Diese
        wichtigen Verbesserungen im Sinne der Arbeitnehmer
        begrüße ich sehr.
        Ich möchte Ihnen kurz in Erinnerung rufen, dass im
        Gemeinsamen Standpunkt, hinter dem wir auch heute
        noch stehen, erstmals eine absolute Höchstgrenze für die
        Wochenarbeitszeit festgelegt wurde. Dies bedeutet eine
        Reduzierung um 23 Prozent im Vergleich zur heute theo-
        retisch möglichen absoluten Obergrenze.
        Außerdem gilt die Zustimmung des Arbeitnehmers
        zum Opt-out nur noch für höchstens ein Jahr, und diese
        Zustimmung darf nicht gleichzeitig mit dem Abschluss
        des Arbeitsvertrages eingeholt werden. Darüber hinaus
        kann jeder Arbeitnehmer seine Erklärung innerhalb der
        ersten sechs Monate ihrer Geltung zurücknehmen, und
        zwar mit sofortiger Wirkung. Danach besteht diese
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        ption immer noch mit einer Frist von maximal zwei
        onaten. Ich frage Sie: Ist das arbeitnehmerunfreund-
        ich? Mit Sicherheit nicht! Und genau das ist der Grund,
        arum wir daran festhalten, dass unter diesen strengen
        oraussetzungen auch weiterhin die Möglichkeit des
        pt-outs bestehen soll.
        Eine funktionierende Wirtschaft setzt voraus, dass auf
        achfrage reagiert wird. Flexibilität aufseiten des Arbeit-
        ebers und Arbeitnehmers ist gefordert. In meinen Augen
        st es mehr als begrüßens- und unterstützenswert, wenn
        ich ein Arbeitnehmer aus freien Stücken, zum Beispiel
        us der Motivation des Zusatzverdienstes heraus, hierzu
        ereit erklärt. Warum sollen wir hier also Einschnitte
        achen? Selbst der Marburger Bund akzeptiert im
        rundsatz die Notwendigkeit, durch tarifvertragliche
        egelungen bzw. durch Vereinbarungen der Sozialpartner
        on der gesetzlich vorgesehenen wöchentlichen Höchst-
        rbeitszeit unter strengen Voraussetzungen Abweichungen
        orzusehen. Dies sicherlich auch, weil das neue Opt-out
        m Vergleich zur bestehenden Regelung eine deutliche
        erbesserung im Sinne des Gesundheitsschutzes der
        rzte vorsieht.
        Nach dem Gemeinsamen Standpunkt kann durch Tarif-
        ertrag oder Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern
        zw. durch Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Ar-
        eitnehmer von der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von
        8 Stunden abgewichen werden. Stillschweigende Aus-
        eutung sieht anders aus. Trauen Sie, werte Damen und
        erren von Bündnis 90/Die Grünen, den Arbeitnehmer-
        ertretungen so wenig zu?
        Ich möchte betonen, dass, bezogen auf einen Drei-
        onatszeitraum, grundsätzlich höchstens 65 Stunden
        ochenarbeitszeit vereinbart werden können. Etwaigem
        issbrauch ist damit ein Riegel vorgeschoben. Machen
        ie sich bitte klar: Es handelt sich hier nicht um eine ein-
        eitige Regelung zulasten der Arbeitnehmer. Es geht uns
        erade nicht darum, die Arbeitgeberposition zu stärken.
        Es ist ein Stück wirtschaftliche Realität, dass insbeson-
        ere im Krankenhausbereich regelmäßig 48 Wochenstun-
        en überschritten werden. Durch die Opt-out-Lösung
        ird dem Ganzen der rechtliche Rahmen verliehen, den
        s verdient: Dem Arbeitnehmer wird ein Recht in die
        and gegeben, von dem er – aus welchen Erwägungen
        uch immer – Gebrauch machen kann, aber nicht muss.
        eine Position wird gestärkt, nicht geschwächt. Neben-
        ei bemerkt: Nach der bisherigen Regelung waren hier
        heoretisch bis zu 78 Stunden Wochenarbeitszeit mög-
        ich. Die neue Opt-out-Regelung ist also aus der Sicht
        er Ärzte eine Verbesserung des Status quo.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
        rünen, auch wir sind für den Grundsatz, dass Bereit-
        chaftszeit inklusive der inaktiven Zeiten als Arbeitszeit
        ngerechnet wird. Die Arbeitszeitrichtlinie muss deut-
        ich klarstellen, dass die geleistete Arbeit während der
        ereitschaftszeit genauso wertgeschätzt wird wie die re-
        uläre Arbeitszeit.
        Das deutsche Arbeitszeitgesetz sieht derzeit vor, dass
        ie gesamte Bereitschaftsdienstzeit als Arbeitszeit zu wer-
        n ist. Allerdings kann tarifvertraglich die wöchentliche
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21943
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        Höchstarbeitszeit verlängert werden. So soll es bleiben.
        Denn wir brauchen Flexibilität, um den unterschiedlichen
        Interessen von verschiedenen Berufsgruppen gerecht zu
        werden. Wird die inaktive Zeit als Arbeitszeit angese-
        hen, dann muss es die Möglichkeit geben, dass einzelne
        Berufsgruppen tarifvertraglich von der wöchentlichen
        Höchstarbeitszeit abweichen und ihre inaktiven Zeiten
        besonders gewichtet werden.
        Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Arbeitszeit-
        richtlinie für die verschiedensten Berufe und nicht nur
        für Ärzte gilt. Es muss der Tatsache Rechnung getragen
        werden, dass Bereitschaftsdienste – beispielsweise bei
        den Feuerwehrleuten, die im Gegensatz zum Arzt ihren
        24-Stunden-Dienst regelmäßig mit Schlafen und Freizeit-
        aktivitäten ausfüllen können – eine unterschiedliche Belas-
        tung der Arbeitnehmer nach sich ziehen. Dabei – und das
        möchte ich deutlich herausstellen – soll die inaktive Zeit
        nicht als Ruhezeit eingeordnet werden. Wir wollen ge-
        rade nicht die Situation, dass zum Beispiel ein Arzt nach
        seiner regulären Schicht Bereitschaftsdienst leistet und
        morgens erneut zum Dienst antreten muss. Dies darf in
        keinem Mitgliedstaat möglich sein.
        Natürlich müssen wir wichtige Rahmenbedingungen
        für einen höheren Schutz der Arbeitnehmer schaffen.
        Dazu gehören auch die Begrenzung der Wochenarbeits-
        zeit und einheitliche Begriffsdefinitionen. Auf der
        Grundlage dieser Rahmenbedingungen müssen die
        Tarifvertragsparteien der einzelnen Berufsgruppen in
        den Mitgliedstaaten aber auch die Möglichkeit erhalten,
        Regelungen zu treffen, die den spezifischen Interessen
        der Arbeitnehmer vor Ort sowie allen anderen Beteilig-
        ten Rechnung tragen.
        Die Möglichkeit der nationalen Abweichung von der
        wöchentlichen Höchstarbeitszeit durch die Tarifvertrags-
        parteien ist derzeit in Deutschland für Klinikärzte,
        Feuerwehrleute, Sozialarbeiter und Polizisten gängig
        und bewährt. In unserem Land haben die Tarifpartner
        immer praxisgerechte Tarifverträge ausgehandelt. Diese
        Tarifautonomie muss bleiben, da sie vor Ort für sach-
        gerechte Lösungen sorgt. Nur das ist ein sachgerechter
        Kompromiss. Die Stärkung der Verantwortung der Sozial-
        partner ist eine wichtige Errungenschaft, die wir fördern
        und nicht beschneiden sollten.
        Ist es in den heutigen Zeiten der Weltwirtschaftskrise
        nicht dringend notwendig, Europa und damit auch den
        Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken? Hierzu ge-
        hört nun einmal Flexibilität, die der Markt und damit
        auch die Arbeitskräfte beweisen müssen. Sie haben
        recht, dies darf nicht zulasten der Arbeitnehmer gehen.
        Aber das tut es auch nicht. Denn die Bedingungen, die
        wir vorsehen, sind arbeitnehmerfreundlich. Es sind Er-
        rungenschaften, von denen Arbeitnehmer und Arbeit-
        geber gleichsam profitieren. Ich frage Sie, werte Damen
        und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, warum wollen
        Sie diese unter dem Deckmantel des Arbeitnehmerschut-
        zes zunichtemachen? Wie wollen Sie den Standort
        Deutschland attraktiv halten? Ihr Antrag ist mehr als
        kurzsichtig.
        Abschließend ist es mir wichtig, deutlich zu machen,
        dass die Folgen unserer Entscheidungen Millionen von
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        rbeitnehmern in Europa aus den unterschiedlichsten
        erufsgruppen betreffen. Haben Sie schon einmal darüber
        achgedacht, was mit den Bereichen des Brandschutzes,
        er technischen Hilfeleistung und des Rettungsdienstes
        assiert, sollten Sie sich mit Ihrem Antrag durchsetzen?
        in Wegfall der Opt-out-Möglichkeit würde an den
        eisten Standorten unvermeidbar zu einer Unterbeset-
        ung der Feuerwehren führen, da ausgebildete Feuer-
        ehrangehörige jetzt und auch in Zukunft nicht auf dem
        rbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Flächendeckender
        randschutz wäre nicht mehr gewährleistet. Und hier
        ürde auch keine Übergangszeit von drei Jahren die
        ituation ändern. Der Wegfall von Bereitschaftsdiensten
        ürde auch das Aus für alle deutschen SOS-Kinderdörfer
        edeuten, was nicht in unserem Interesse liegen kann.
        Kurzum, es geht uns nicht darum, bestehende Rechte
        er Arbeitnehmer auszuhöhlen. Vielmehr werden Ansprü-
        he festgeschrieben und Rechtsgrundlagen geschaffen.
        ie Abschaffung des Opt-outs würde mehr Menschen in
        ie Schattenwirtschaft treiben, wo sie völlig ungeschützt
        ären. In einer funktionierenden Wirtschaft müssen die
        rbeitnehmer auch die Möglichkeit haben, Überstunden
        u machen.
        Wir dürfen auf der europäischen Ebene keine Vor-
        chriften verabschieden, die den Tarifvertragsparteien
        ine solche Lösung verwehren. Ihre Berufsvertreter in
        en Verbänden kennen die Situation am besten und kön-
        en tarifvertraglich auf sie zugeschnittene Vereinbarun-
        en treffen. Ein tarifvertragliches Opt-out ermöglicht
        assgenaue Lösungen vor Ort, und genau das sollte bei
        er Überarbeitung der Arbeitszeitrichtlinie im Vordergrund
        tehen. Flexibilität ist großzuschreiben, wobei unsere
        ösung die Belange der Arbeitnehmer und der Wirt-
        chaft in bestmöglicher Weise zusammenführt.
        Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag von
        ündnis 90/Die Grünen ab: Die Möglichkeit des Opt-
        uts muss, und zwar unabhängig von einer dreijährigen
        bergangszeit, bestehen bleiben.
        Josip Juratovic (SPD): Regeln zur Arbeitszeit und
        u den Arbeitsbedingungen sind eine wesentliche Säule
        es Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenschutzes. Ein
        oziales Europa braucht klare und verbindliche Stan-
        ards gerade auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
        ehmer. Seit 2004 gibt es intensive Bemühungen der
        U-Kommission, sich auf eine Änderung der Arbeits-
        eitrichtlinie zu verständigen.
        Die Richtlinie enthält Mindeststandards für die Ar-
        eitszeitgestaltung, die in allen EU-Mitgliedstaaten gel-
        en soll. Der Kompromiss der EU-Arbeits- und Sozial-
        inister zur Arbeitszeit 2008 eröffnet nach Ansicht des
        uropäischen Parlaments den Einstieg in die 60-Stun-
        en-Woche und darüber hinaus für alle Beschäftigten,
        ofern entsprechende Tarifvereinbarungen getroffen
        erden. Zudem soll nach dem Vorschlag des EU-Minis-
        errats der inaktive Teil des Bereitschaftsdienstes nicht
        ehr als Arbeitszeit gewertet werden. Auch hier sagt das
        uropäische Parlament, dass der gesamte Bereitschafts-
        ienst einschließlich der inaktiven Zeit als Arbeitszeit
        nzusehen ist.
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        Das Europäische Parlament befürchtet darüber hinaus,
        dass die Regelung sich nicht nur auf Bereitschaftsdienste
        beschränkt wird. Für Bereitschaftsdienste wären 65 Stun-
        den und mehr möglich. Das Europäische Parlament
        stimmte in seiner Sitzung am 17. Dezember letzten Jahres
        dafür, nationale Ausnahmeregelungen bei der Arbeits-
        zeitrichtlinie zu verbieten und eine EU-weite Höchstwo-
        chenarbeitszeit von 48 Stunden durchzusetzen. Damit
        stellte sich das Europäische Parlament gegen den Vor-
        schlag des EU-Ministerrates, nach dem in der Arbeits-
        zeitrichtlinie unter anderem nationale Ausnahmen – die
        sogenannten Opt-outs – und damit eine höhere Wochen-
        arbeitszeit zugelassen sind.
        Aufgrund der Entscheidung des EU-Parlaments
        wurde das Vermittlungsverfahren eingeleitet. Noch diese
        Woche tagt der informelle Rat, um zu prüfen, welche
        Position die Mitgliedstaaten einnehmen. Des Weiteren
        werden bis zum Vermittlungsausschuss Anfang Februar
        weitere Verhandlungen zwischen Parlament, Rat und
        Kommission geführt werden, um einen Kompromiss zu
        erzielen. Wer bis heute nicht wusste, warum er an der
        Europawahl teilnehmen soll, der erkennt spätestens jetzt
        die Bedeutung des Europäischen Parlaments.
        Wir Sozialdemokraten sehen in der Arbeitszeitrichtli-
        nie einen wichtigen Baustein für das soziale Europa. Die
        Regeln zur Arbeitszeit tragen dazu bei, Sicherheit und
        Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu gewährleisten.
        Mindeststandards verhindern zudem Wettbewerbsver-
        zerrungen. Die Beschäftigten brauchen einen regulierten
        Arbeitszeitrahmen, wie wir ihn bereits im nationalen Ar-
        beitszeitgesetz Ende 2003 festgelegt haben. Wir haben
        die notwendigen Änderungen infolge des EuGH-Urteils
        zum Bereitschaftsdienst bereits umgesetzt. Arbeitsbe-
        reitschaft und Bereitschaftsdienst werden national insge-
        samt als Arbeitszeit gewertet. Dies ist nicht nur national
        richtig.
        Die Tarifvertragsparteien haben nach unserer gesetzli-
        chen Regelung Gestaltungsspielräume. Sie können in ei-
        nem abgestuften Modell auf tarifvertraglicher Grundlage
        längere Arbeitszeiten vereinbaren. Diese Rahmenbedin-
        gungen sind wichtige Voraussetzungen, um die Ein-
        haltung von Arbeitszeit zu kontrollieren, auch für
        Betriebsräte, die im Rahmen der Mitbestimmung die Ar-
        beitszeitinteressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
        nehmer durchsetzen wollen.
        Eine Absenkung des Schutzniveaus für Arbeitnehmer
        und Arbeitnehmerinnen ist nicht zielführend. Die Richt-
        linie wurde ursprünglich geschaffen, um Gesundheit und
        Sicherheit der Arbeitnehmer zu schützen. Hier dürfen
        keine Abstriche gemacht werden. Eine Verschlechterung
        durch eine europäische Festlegung wäre mit dem Gedan-
        ken des Arbeitsschutzes aus unserer Sicht nicht verein-
        bar.
        Anlass für die Revision der Arbeitszeitrichtlinie wa-
        ren vor allem zwei Dinge: Erstens steht das nationale Ar-
        beitszeitrecht vieler Mitgliedstaaten im Widerspruch zu
        den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes. Der Eu-
        ropäische Gerichtshof hat festgelegt, dass Bereitschafts-
        zeit als Arbeitszeit zu werten ist. Zweitens sieht der
        Kommissionsbeschluss ein vertragliches Opt-out vor.
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        iese Klausel erlaubt es den Arbeitsvertragsparteien – also
        em einzelnen Unternehmen und dem einzelnen Arbeit-
        ehmer –, wichtige Vorschriften des Arbeitnehmerschut-
        es arbeitsvertraglich außer Kraft zu setzen. Dies ist in
        er Praxis problematisch, da wir die geforderte Freiwil-
        igkeit des Arbeitnehmers infrage stellen.
        Der Kompromiss des Ministerrates zur Arbeitszeit-
        ichtlinie aus dem Juni 2008 wird auch vom Europäi-
        chen Gewerkschaftsbund heftig kritisiert, insbesondere,
        ass künftig inaktive Bereitschaftszeit nicht mehr als Ar-
        eitszeit gelten soll, außer wenn nationale Gesetze oder
        arifverträge das Gegenteil bestimmen. Ebenso ist für
        en Europäischen Gewerkschaftsbund inakzeptabel,
        ass der Ausgleichszeitraum bei Arbeitszeitverlängerun-
        en auf zwölf Monate ausgedehnt werden kann.
        Heftig kritisiert wird auch die Einschränkung des so-
        enannten individuellen Opt-out, der Arbeitszeitverlän-
        erung ohne Zeitausgleich bei individueller Zustim-
        ung. Mit den von EU-Kommission und Ministerrat
        estgelegten Änderungen besteht die Gefahr, dass auch
        ational die Dienstzeiten, zum Beispiel im Gesundheits-
        ereich, wieder infrage gestellt werden. Die Einführung
        iner neuen Zeitkategorie, wonach sogenannte inaktive
        eiten des Bereitschaftsdienstes nicht als Arbeitszeit ge-
        ertet werden, lehnen wir ab. Dies widerspricht nicht
        ur der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
        it der beabsichtigten Änderung würde die Tür zu sehr
        angen Dienstzeiten, zum Beispiel im Gesundheitsbe-
        eich, geöffnet.
        Die Einführung einer neuen Zeitkategorie, wonach
        ogenannte inaktive Zeiten des Bereitschaftsdienstes
        icht als Arbeitszeit gewertet werden, ist in der Tat abzu-
        ehnen. Sie widerspricht der einschlägigen Rechtspre-
        hung des Europäischen Gerichtshofes, in der festge-
        tellt wurde, dass Bereitschaftsdienst in vollem Umfang
        rbeitszeit ist, weil der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber
        ur Verfügung steht. Wer die Praxis kennt und den
        achtdienst im Krankenhaus einmal miterlebt hat, der
        eiß, dass eine Aufteilung in aktive und inaktive Phasen
        öllig realitätsfremd ist.
        Wir brauchen aber nicht längere, sondern kürzere Ar-
        eitszeiten und eine faire Verteilung der Arbeit. Die Ver-
        bschiedung einer solchen Richtlinie würde jene Urteile
        es EuGH aushebeln, die bisher zugunsten der Arbeit-
        ehmer und Arbeitnehmerinnen ausfielen. Unstreitig ist,
        ass die Auswirkungen der angestrebten Änderungen
        er Arbeitszeit in den einzelnen EU-Staaten durchaus
        nterschiedlich bewertet werden. Für einige Staaten
        äre dies die Verpflichtung, national erstmalig Mindest-
        tandards im Bereich der Arbeitszeit festzulegen. Wie
        ei allen Richtlinien, die soziale Mindeststandards den
        ationalstaaten vorgeben, dürfen diese Mindestbedin-
        ungen national nicht unterschritten werden. Das heißt
        mgekehrt, kein Mitgliedstaat wäre dazu verpflichtet,
        eine besseren Standards aufzugeben.
        So bin ich sehr froh, dass in Deutschland das Arbeits-
        eitgesetz seit 2004 dank Rot-Grün nicht mehr zwischen
        rbeitszeit und Bereitschaftsdienstzeit unterscheidet.
        as bedeutet, dass die Bereitschaftsdienstzeit in Gänze
        ls Arbeitszeit gewertet wird, und zwar unabhängig da-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21945
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        von, wie die Inanspruchnahme während des Bereit-
        schaftsdienstes verläuft. Gleichzeitig wurden engere
        Grenzen für die zulässige tägliche und wöchentliche
        Höchstarbeitszeit gezogen. Diese Regelungen haben
        sich in Deutschland bewährt. Deswegen müssen wir
        diese beibehalten und uns dafür einsetzen, dass die EU-
        Standards deutsche Standards nicht gefährden.
        Auch mit der geänderten Arbeitszeitrichtlinie kann es
        daher bei uns dabei bleiben, dass in Deutschland – an-
        ders als in anderen Ländern Europas – Bereitschafts-
        dienst als Arbeitszeit gilt. Wichtig ist für uns auch, dass
        mit der Richtlinie Mitgliedstaaten aufgefordert werden,
        auf die Sozialpartner einzuwirken, dass diese die bessere
        Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern.
        Nachdem wir uns bereits in einem sensiblen Abstim-
        mungsprozess auf EU-Ebene befinden, lehnen wir den
        Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab.
        Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. Der Antrag ist
        ein typischer Antrag der Grünen, geschrieben in der Ma-
        nier der Gutmenschen, frei nach dem Motto: Wir, die
        Grünen, wissen, was für die Arbeitnehmerinnen und Ar-
        beitnehmer von Großbritannien bis Zypern am besten
        ist. Daher fordert die Fraktion der Grünen, die Opt-out-
        Option bei der durchschnittlichen wöchentlichen Ar-
        beitszeit europaweit abzuschaffen und eine für alle Mit-
        gliedstaaten verbindliche Höchstarbeitszeit von 48 Stun-
        den pro Woche einzuführen.
        Man sollte aber nicht ignorieren, dass die Gegeben-
        heiten in den 27 Mitgliedstaaten der EU unterschiedlich
        sind und folgerichtig auch unterschiedliche Bedürfnisse
        und Anforderungen bestehen. Abgesehen davon ent-
        spricht die Forderung der Grünen auch gar nicht den
        Wünschen der Betroffenen, denn die Realität sieht defi-
        nitiv anders aus: In einer von der Financial Times 2006
        durchgeführten Umfrage sprachen sich rund 65 Prozent
        der Deutschen gegen eine gesetzliche Beschränkung der
        Arbeitszeit aus. Viele Menschen möchten vielleicht über
        einen bestimmten Zeitraum Überstunden leisten, um ent-
        weder später einen längeren Urlaub zu realisieren oder
        weil sie schlicht auf den finanziellen Zuverdienst ange-
        wiesen sind.
        Zweitens. Zum Antrag ist weiter anzumerken, dass in
        Deutschland bereits zum 1. Januar 2004 das Arbeitszeit-
        gesetz dahin gehend geändert wurde, dass Bereitschafts-
        dienst in vollem Umfang Arbeitszeit ist. Aus guten
        Gründen hat der deutsche Gesetzgeber aber daran festge-
        halten, dass bei Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereit-
        schaft die Möglichkeit einer Verlängerung der wöchent-
        lichen Arbeitszeit über durchschnittlich 48 Stunden
        hinaus besteht. Voraussetzung hierfür ist, dass dieses so-
        genannte Opt-out in einem Tarifvertrag zugelassen wird
        und der Arbeitnehmer dem zustimmt. Auch in Zukunft
        muss es Aufgabe der zuständigen Tarifparteien bleiben,
        eine optimale Lösung für den jeweils betroffenen Sektor
        zu finden. Dies ist sinnvoll und erforderlich, da die Be-
        lastungen durch den Bereitschaftsdienst je nach Branche
        stark variieren.
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        Drittens. Die FDP ist der Ansicht, dass es aus Grün-
        en der Subsidiarität den Mitgliedstaaten überlassen
        leiben soll, wie die Arbeitszeiten mit – und zwischen –
        en Tarifparteien ausgehandelt werden. Es ist nicht sinn-
        oll, auf europäischer Ebene branchenübergreifend euro-
        aweite Regelungen festzuschreiben. Viel sinnvoller ist
        s, auf die nationalen Unterschiede einzugehen und eine
        pt-out-Option beizubehalten. Arbeitszeitmodelle las-
        en sich nicht bis ins Detail europaweit regeln.
        Viertens. Was die Bereitschaftsdienste anbelangt, so
        urde im Arbeitszeitgesetz geregelt, dass Bereitschafts-
        ienst in vollem Umfang Arbeitszeit ist. Die FDP tritt
        ber dafür ein, zwischen inaktivem und aktivem Bereit-
        chaftsdienst zu unterscheiden. Die sogenannte inaktive
        eit im Bereitschaftsdienst – der Zeitraum, in dem der
        eschäftigte nicht zu tatsächlicher Arbeitsleistung he-
        angezogen wird – soll demnach nicht zur Arbeitszeit
        ählen, es sei denn, nationales Recht oder Tarifverträge
        estimmen etwas anderes. Besonders im Hinblick auf
        ie Situation von medizinischem Personal ist somit eine
        alance hergestellt zwischen Aufrechterhaltung medizi-
        ischer Versorgung einerseits und Verhinderung einer
        eiteren Kostenexplosion andererseits. Dabei muss es
        us Gründen der Subsidiarität den Mitgliedstaaten über-
        assen bleiben, wie sie je nach Branche und Beruf den
        ereitschaftsdienst organisieren und seine aktiven und
        naktiven Bestandteile vergüten. Eine einheitliche euro-
        äische Festlegung würde den Besonderheiten der ein-
        elnen Sektoren nicht gerecht werden. Hier sollten Sie
        en Realitäten ins Auge sehen.
        Fünftens. Zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass ge-
        ade die nationalen Parlamente und die Fraktionen sich
        üten sollten, dem wuchernden Dschungel EU noch wei-
        ere Aufgaben zu übereignen, die tatsächlich eher natio-
        ale Angelegenheiten bzw. Angelegenheiten der Tarif-
        arteien sind. Das Ergebnis wird eine wachsende
        uropaverdrossenheit sein. Auch hier gilt: Weniger ist
        ehr.
        Gerd Andres (SPD), ehemaliger Parl. Staatssekretär
        m deutschen Arbeitsministerium, äußerte am 8. Novem-
        er 2006 bei euractiv, dass das Opt-out weiterhin als
        öglichkeit bestehen sollte, und fügte hinzu, dass das
        oziale Europa nicht verschwinden werde, wenn Aus-
        ahmen erlaubt würden.
        Werner Dreibus (DIE LINKE): Wir reden heute
        ber die Änderung der Europäischen Arbeitszeitrichtli-
        ie und damit über den verbindlichen Rahmen, den wir
        er Gestaltung der Arbeitszeit in allen 27 Mitgliedstaa-
        en der Europäischen Union in Zukunft setzen wollen.
        Schauen wir uns die bestehende EU-Arbeitszeitricht-
        inie einmal an. Sie begrenzt die maximale durchschnitt-
        iche Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden und setzt damit
        ür viele Menschen einen sozialen Mindeststandard.
        och dieser Standard bietet nur einen ziemlich löchrigen
        chutz. Denn bereits jetzt kann die Arbeitszeit in einer
        inzigen Woche auf bis zu 78 Stunden und unter be-
        timmten Bedingungen sogar auf 89 Stunden ausgewei-
        et werden. Per Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag
        st es möglich, den Bezugszeitraum zur Messung der
        21946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
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        durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von drei auf zwölf
        Monate auszudehnen. Hinzu kommt: Beschäftigte kön-
        nen durch eine „freiwillige“ schriftliche Erklärung ein-
        willigen, auf die Begrenzung der wöchentlichen Höchst-
        arbeitszeit auf 48 Stunden ganz zu verzichten. Neben
        diesem individuellen Opt-out ist auch ein Opt-out per
        Tarifvertrag möglich. Genutzt wird diese Ausnahmere-
        gelung in Deutschland zum Beispiel im Gesundheitswe-
        sen mit der Folge, dass die durchschnittliche Wochenar-
        beitszeit von Krankenhausärzten derzeit bei circa
        70 Stunden liegt. Eine Änderung der bestehenden EU-
        Arbeitszeitrichtlinie ist also schon im Sinne eines besse-
        ren Schutzes nicht nur der Arbeitnehmerinnen und Ar-
        beitnehmer dringend geboten.
        Doch die EU-Arbeits- und Sozialminister und allen
        voran die Große Koalition vertreten nicht die Interessen
        der Beschäftigten, sondern die der Unternehmen. Die
        Bundesregierung hat gemeinsam mit der britischen Re-
        gierung durchgesetzt, dass der Entwurf des EU-Minis-
        terrates das Opt-out weiterhin vorsieht – gegen den Wi-
        derstand von Frankreich, Spanien, Italien, Belgien,
        Griechenland, Zypern und des Europäischen Parlaments,
        die die Abschaffung der Regelung forderten und fordern.
        Geplant ist außerdem eine generelle Flexibilisierung der
        Jahresarbeitszeit durch Gesetz oder einfache Verwal-
        tungsvorschrift. Die Regierungen könnten so das Inte-
        resse der Unternehmen an einer weiteren Flexibilisie-
        rung der Arbeitszeiten noch leichter durchsetzen. Auf
        Gewerkschaften bräuchten sie keine Rücksicht nehmen.
        Arbeitszeiten von bis zu 78 Stunden in der Woche und
        eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 13 Stunden sollen so
        künftig möglich sein.
        Doch damit nicht genug: Die Neuregelung der Bereit-
        schaftszeiten, bei der – entgegen der Urteile des Euro-
        päischen Gerichtshofes – nicht mehr die gesamte Zeit als
        Arbeitszeit gewertet werden soll, hätte zur Folge, dass
        die tatsächliche Arbeitszeitbelastung zum Beispiel von
        Ärzten noch deutlich höher als 78 Wochenstunden sein
        könnte.
        Diese arbeitnehmerfeindliche Arbeitzeitspolitik der
        EU-Arbeitsminister unter Federführung der Bundesrepu-
        blik Deutschland ist ein Skandal. Sie gefährdet die Ge-
        sundheit und Sicherheit der Beschäftigten und erschwert
        selbst eine kurzfristige verlässliche Lebensplanung. Fa-
        milie und Beruf lassen sich so immer schlechter verein-
        baren. Wir wenden uns deshalb strikt gegen jede weitere
        Aufweichung der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie und
        fordern die sofortige Abschaffung des Opt-outs und die
        Anerkennung des gesamten Bereitschaftsdienstes als Ar-
        beitszeit. Darüber hinaus fordern wir die Bundesregie-
        rung auf, sich für einen neuen EU-Arbeitszeitstandard
        einzusetzen, der den Interessen der Beschäftigten wirk-
        lich gerecht wird. Wir wollen die maximal erlaubte Wo-
        chenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden reduzieren und
        die vorhandene Arbeit gerechter verteilen. Die Mehrheit
        der Bevölkerung in den 15 alten EU-Mitgliedstaaten
        wünscht deutlich kürzere Wochenarbeitszeiten, im
        Durchschnitt 34,5 Stunden. Die tatsächliche wöchentli-
        che Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten lag im Jahr
        2006 in den 27 Staaten der EU jedoch bei 39,9 Stunden.
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        Arbeitszeitverkürzung ist angesichts der schweren Wirt-
        chaftskrise – auch der IWF warnt jetzt vor der schwersten
        ezession seit dem Zweiten Weltkrieg und prognostiziert
        ür die Eurozone ein Minus von 2,0 Prozent – eine abso-
        te ökonomische Notwendigkeit. Kollektive Arbeitszeit-
        erkürzung wirkt beschäftigungssichernd. Die Bundes-
        gentur für Arbeit und das Deutsche Institut für
        irtschaftsforschung errechneten für den Zeitraum von
        985 bis 1998 zwischen 700 000 bis 1 Million zusätzli-
        her Arbeitsplätze durch Arbeitszeitverkürzung allein in
        eutschland. Wollen die Regierungen ein deutliches An-
        teigen der Arbeitslosigkeit wirklich verhindern und der
        irtschaftskrise offensiv begegnen, dann kommen sie
        m eine sofortige deutliche Arbeitszeitverkürzung in der
        U nicht herum.
        Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        U ist nicht allein ein wirtschaftliches Projekt. In letzter
        eit werden immer häufiger die Rufe nach einem sozia-
        en Europa laut. Dies unterstützen wir. Wir sind der Auf-
        assung, dass die Freiheiten des Binnenmarktes durch
        oziale Rechte und Grundrechte klar begrenzt werden
        üssen.
        Derzeit wird in Brüssel über einen ganz konkreten
        esetzesvorschlag verhandelt, der dazu beitragen
        önnte, dass Europa sozialer gestaltet wird. Dabei han-
        elt es sich um die EU-Arbeitszeitrichtlinie. In dieser
        ichtlinie soll eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von
        m Durchschnitt 48 Stunden festgelegt werden. Darüber
        inaus soll geklärt werden, ob und in welchem Maße die
        ereitschaftszeit als Arbeitszeit angerechnet werden
        oll. Der Europäische Gerichtshof ist schon in einigen
        rteilen zu dem Schluss gekommen, dass Bereitschafts-
        eit als Arbeitszeit angerechnet werden sollte.
        Die Arbeitsminister der EU-Mitgliedstaaten haben
        ich im Sommer auf einen faulen Kompromiss zur Ar-
        eitszeitrichtlinie geeinigt, mit dem sie in die Verhand-
        ungen mit dem Europäischen Parlament gehen wollen.
        ür diesen faulen Kompromiss setzt sich vor allem die
        undesregierung vehement ein. Die Bundesregierung
        das heißt in diesem Fall der zuständige Arbeitsminister
        laf Scholz – ist der Auffassung, dass den Arbeitnehme-
        innen und Arbeitsnehmern auch höhere Arbeitszeiten
        ugemutet werden können. Herr Scholz vertritt die Posi-
        ion, dass auch durchschnittliche Wochenarbeitszeiten
        on 60 Stunden und mehr kein Problem sind. Bereit-
        chaftszeiten sollen nicht als Arbeitszeit anerkannt wer-
        en. Außerdem will Herr Scholz eine Ausnahmeklausel
        urchsetzen. Dieses sogenannte Opt-out besagt, dass die
        inzelnen Mitgliedstaaten frei entscheiden können, ob
        ie die Regeln zur Höchstarbeitszeit akzeptieren. Schon
        etzt wenden 14 Mitgliedstaaten ein Opt-out an. Eine
        inheitliche europaweite Regelung wird damit obsolet.
        o kann man ein soziales Europa für alle nicht gestalten.
        Mich interessiert, wie Herr Scholz seinen sozialdemo-
        ratischen Kolleginnen und Kollegen und auch den Ge-
        erkschaften seine Position erklären will. Die sozialde-
        okratischen Abgeordneten im Europäischen Parlament
        aben den Kompromiss im Ministerrat als „Schlag ins
        esicht aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ be-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21947
        (A) )
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        zeichnet. Vor allem aufgrund des Engagements der Grü-
        nen-Fraktion im Europäischen Parlament konnte dort
        eine breite Mehrheit gegen die Ausnahmeklausel und für
        durchschnittliche Höchstarbeitszeiten von 48 Stunden
        gefunden werden. Kritiker der Arbeitszeitrichtlinie be-
        haupten, dass die Arbeitszeiten in ein starres Korsett ge-
        steckt werden sollen. Dies ist nicht wahr. Es handelt sich
        um eine durchschnittliche Berechnung über einen Zeit-
        raum von mehreren Monaten. Höhere Arbeitszeiten zu
        Stoßzeiten bleiben weiter möglich. Auch für die Berech-
        nung der inaktiven Bereitschaftszeiten, die von vielen
        Krankenhausbetreibern kritisch gesehen wird, hat das
        Europäische Parlament einen gangbaren Kompromiss
        gefunden.
        Wir unterstützen die Position der Grünen-Fraktion
        und des Europäischen Parlaments. Vernünftige Höchst-
        arbeitszeiten dienen dem Gesundheitsschutz der
        Beschäftigten. Überarbeitete und übermüdete Arbeitneh-
        merinnen und Arbeitnehmer können Fehler mit weitrei-
        chenden Auswirkungen machen. Aber nicht nur deshalb
        setzen wir uns für eine Begrenzung der Arbeitszeiten
        ein. Reduzierte und flexible Konzepte der Arbeitszeitge-
        staltung können darüber hinaus die Erwerbsarbeitslosig-
        keit bekämpfen und auch einen Beitrag zur Vereinbarkeit
        von Familie und Beruf leisten.
        Die Position des Arbeitsministers Olaf Scholz ist ein
        Skandal. So lässt sich kein soziales Europa aufbauen. So
        kann man das Vertrauen der Arbeitnehmerinnen und Ar-
        beitnehmer nicht gewinnen. Deshalb fordern wir die
        Bundesregierung auf, in den entscheidenden Verhand-
        lungen auf EU-Ebene durchzusetzen, dass die Opt-out-
        Option bei der durchschnittlichen wöchentlichen Ar-
        beitszeit abgeschafft wird. Sie soll sich für eine verbind-
        liche durchschnittliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden
        pro Woche einsetzen. Außerdem soll sie durchsetzen,
        dass aktive und inaktive Bereitschaftszeiten als Arbeits-
        zeit angesehen werden. Wenn diese Punkte durchgesetzt
        werden, sind wir einem sozialen Europa einen Schritt
        näher gekommen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Versorgung für
        Geschiedene aus den neuen Bundesländern ver-
        bessern (Zusatztagesordnungspunkt 7)
        Maria Michalk (CDU/CSU): In guten und in schlech-
        ten Zeiten zusammenzuhalten – dieses Versprechen hält
        in unserem irdischen Leben nicht immer. Wer vertraut,
        geht immer auch ein Risiko ein. Dieses Risiko zu mini-
        mieren und die Folgen gleichberechtigt zu verteilen, das
        ist ein hoher Anspruch, dem sich unser Rechtsstaat stellt.
        Und trotzdem erfahren wir immer wieder von Konstella-
        tionen persönlicher Schicksale, die im sozialen Siche-
        rungsnetz keine hundertprozentige Befriedung erfahren.
        Von solchen persönlichen Schicksalen geschiedener
        Frauen aus der DDR 20 Jahre nach dem Fall der Mauer
        zu erfahren, macht uns nach wie vor betroffen.
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        Im Wissen um die rechtliche Situation und die Konse-
        uenzen einer Scheidung in der DDR haben die Frauen
        er Trennung mehr oder weniger einvernehmlich zuge-
        timmt. An die Teilung der Anwartschaften haben aber
        ohl die wenigsten in diesem Augenblick gedacht. Frei-
        ich ist die Annahme nicht falsch, dass Frauen überpro-
        ortional gleichzeitig außerhäuslicher Arbeit nachgingen
        nd Familienarbeit machten. Aber die niedrigen Löhne,
        um Beispiel im Gesundheitswesen, bewirken nach heu-
        igem Recht eine Kumulierung ungünstiger Faktoren.
        Der zur DDR-Zeit nicht vorhandene Versorgungsaus-
        leich nach heutigem Muster bewirkt tatsächliche und
        efühlte Ungerechtigkeiten, denen sich auch die CDU/
        SU-Bundestagsfraktion in Arbeitsgruppen, Anfragen
        nd öffentlichen Diskussionen seit vielen Jahren stellt.
        mmer ist auch deutlich geworden, dass nicht alle Unge-
        echtigkeiten der damaligen Zeit vollständig abgewendet
        erden können. Der Prozess der Suche nach einer Lö-
        ung ist intensiv geführt worden.
        Die Hoffnung, eine akzeptable und tragfähige Lösung
        u finden, hat sich verringert, als uns das Ergebnis der
        nterministeriellen Arbeitsgruppe noch unter der rot-grü-
        en Bundesregierung bekannt wurde. Auch mit Mitteln
        es Rentenrechts könne die Situation nur teilweise gelöst
        erden, denn die seit 1977 nur noch als Übergangsrecht
        xistierende Geschiedenenwitwenrente würde nur rund
        0 Prozent der geschiedenen Frauen betreffen. Als Argu-
        ent für die Nichteinbeziehung der vor 1992 geschiede-
        en Frauen in den Versorgungsausgleich greift vor allem
        as Rückwirkungsverbot und die damit verbundenen
        erfassungsrechtlichen Bedenken. Der von einer Belas-
        ung Betroffene – das ist der geschiedene Mann – kann
        ich laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes auf Ver-
        rauensschutz berufen.
        Da der Versorgungsausgleich nicht möglich ist, wurde
        ie Berücksichtigung im Rentenrecht geprüft. Darauf
        ezieht sich auch der vorliegende Antrag.
        Betroffene Frauen haben auch den Klageweg be-
        chritten – ohne Erfolg. Zum Teil wurden die Verfas-
        ungsbeschwerden gar nicht angenommen. Es betrifft
        twa 500 000 geschiedene Frauen. Deren Situation ist
        ns nicht gleich. Auch der Bundesrat hat sich mehrfach
        er Sache angenommen.
        Der heute vorliegende Antrag konzentriert sich auf
        rauen, die ihre Erwerbsbiografie wegen Kindererzie-
        ung unterbrochen haben. Es soll eine individuelle Er-
        ragsrechnung erstellt werden. Die Behauptung, dass der
        erwaltungsaufwand gering sei, kann nicht nachvollzo-
        en werden. Außerdem wird hier eine Trennung der
        ruppe der geschiedenen Frauen vorgenommen, die bis-
        er für ihre Anliegen gemeinsam eingetreten sind. Eine
        ahl, um wie viele aus der Gruppe es sich handelt, wird
        icht genannt. Auch die Kosten wurden nicht näher spe-
        ifiziert. Da vorgeschlagen wird, die Finanzierung aus
        em Steueraufkommen zu tragen, muss die Allgemein-
        eit auch dezidiert die Kosten kennen. Insofern sollte der
        ntrag nachgebessert werden.
        Meine Darlegungen sollen verdeutlichen, dass wir die
        estehende Problemstellung nach wie vor als ein sehr
        21948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
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        sensibles Thema betrachten, weil es hier auch um die
        Würde der Betroffenen geht. Bisher ist in den Beratun-
        gen keine akzeptable Lösung gefunden worden. Das ver-
        treten wir auch ehrlich gegenüber den Betroffenen. Ob
        im Rahmen der generellen Novelle zum Versorgungs-
        ausgleich eine pauschale Regelung möglich ist, werden
        die kommenden Beratungen zeigen.
        Gregor Amann (SPD): Der heute zu beratende An-
        trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat als Thema
        die Versorgung für Geschiedene aus den neuen Bundes-
        ländern. Es geht um Geschiedene in den neuen Bundes-
        ländern, die sich vor 1992 trennten; sie sind von der Teil-
        habe an den Rentenanwartschaften ihrer früheren Gatten
        ausgeschlossen. Eine Frau aus der alten Bundesrepublik,
        deren Ehe vor 1977 geschieden wurde, kann Geschiede-
        nenwitwenrente beziehen, wenn ihr geschiedener Ehe-
        mann ihr vor seinem Tod Unterhalt gezahlt hat. Eine
        Frau aus der ehemaligen DDR, deren Ehe ebenfalls vor
        1977 geschieden wurde, hat hingegen keinen Anspruch
        auf Geschiedenenwitwenrente, auch dann nicht, wenn
        ihr Mann gerichtlich dazu verurteilt wurde.
        Vor diesem Hintergrund wird in dem vorliegenden
        Antrag gefordert: Erstens. Herbeiführung einer Rege-
        lung zugunsten von Frauen, die vor 1992 in den neuen
        Bundesländern geschieden wurden und die wegen Kin-
        dererziehung ihre Erwerbsarbeit unterbrochen oder ein-
        geschränkt haben. Zweitens. In Anlehnung an den Ver-
        sorgungsausgleich sollen die individuellen Ansprüche
        der Frauen aus der Ehezeit ermittelt, halbiert und ihrem
        Rentenkonto für die Ehezeit gutgeschrieben werden.
        Drittens. Dieser Versorgungsausgleich soll aus Steuer-
        mitteln finanziert werden, da ein rückwirkender Versor-
        gungsausgleich zulasten des geschiedenen Ehepartners
        rechtlich nicht möglich ist.
        Nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch, SGB VI,
        kann geschiedenen Ehegatten, die vor dem 1. Juli 1977
        in den alten Bundesländern geschieden wurden, unter
        bestimmten – eng begrenzten – Voraussetzungen eine
        Geschiedenenwitwenrente gewährt werden. Bei danach
        Geschiedenen kommt die Gewährung einer solchen
        Rente nicht mehr in Betracht, weil mit dem Ersten Ehe-
        rechtsreformgesetz ab diesem Zeitpunkt der Versor-
        gungsausgleich eingeführt wurde. Bei der Überleitung
        des bundesdeutschen Rentenrechts auf die neuen Bun-
        desländer wurden keine Geschiedenenwitwenrenten für
        Frauen vorgesehen, die vor Einführung des Versorgungs-
        ausgleichs im Jahre 1992 in den neuen Bundesländern
        geschieden wurden. Grund dafür ist, dass Geschiedenen-
        witwenrenten – wie alle Hinterbliebenenrenten – Unter-
        haltsersatzfunktion haben.
        Voraussetzung für die Gewährung einer solchen
        Rente ist deshalb das Bestehen eines grundsätzlichen
        Unterhaltsanspruchs der geschiedenen Frau bzw. die tat-
        sächliche Unterhaltszahlung des geschiedenen Mannes
        vor seinem Tod. Das Familienrecht der ehemaligen DDR
        sah jedoch Unterhaltsansprüche der geschiedenen Frau
        regelmäßig nicht vor. Wenn aber vor dem Tod des ge-
        schiedenen Ehemannes kein Unterhaltsanspruch bestand
        und auch tatsächlich kein Unterhalt geleistet wurde,
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        ann kann nach dem Tod des geschiedenen Ehemannes
        uch keine Unterhaltsersatzleistung – Geschiedenenwit-
        enrente – gewährt werden. Die Einführung einer Ge-
        chiedenenwitwenversorgung konnte daher in den neuen
        undesländern nicht greifen.
        Viele der in den neuen Bundesländern hiervon Betrof-
        enen gehen davon aus, dass praktisch jede vor dem
        . Juli 1977 in den alten Bundesländern geschiedene
        rau für den Fall des Versterbens ihres geschiedenen
        hemannes eine Geschiedenenwitwenrente aus der ge-
        etzlichen Rentenversicherung erhält. Diese Einschät-
        ung ist aber unzutreffend. Die Zugangsvoraussetzungen
        aben dazu geführt, dass lediglich ein verschwindend
        eringer Teil der geschiedenen Frauen in den alten
        undesländern – etwa 4 Prozent der potenziell Infrage-
        ommenden – in den Genuss einer Geschiedenenwit-
        enrente kam. Häufig hing es von Zufälligkeiten, zum
        eispiel dem Todesdatum des geschiedenen Ehemannes,
        b, ob eine geschiedene Frau einen Anspruch auf diese
        eistung hatte. Die Geschiedenenversorgung in den al-
        en Bundesländern hatte sich daher als sozialpolitisch
        nbefriedigend erwiesen. Dies war auch der Grund da-
        ür, dass die Geschiedenenwitwenversorgung 1977
        urch den Versorgungsausgleich abgelöst wurde.
        Für die neuen Bundesländer ist das Recht des Versor-
        ungsausgleichs nach den Regelungen des Einigungs-
        ertrags 1992 in Kraft getreten. Es findet nur auf Schei-
        ungen Anwendung, die nach seinem Inkrafttreten
        rfolgten. Der Versorgungsausgleich beruht auf dem Ge-
        anken, dass in der Ehezeit erworbene Versorgungs-
        echte, zum Beispiel in der Rentenversicherung, das Er-
        ebnis einer partnerschaftlichen Lebensleistung der
        heleute sind. Bei der Scheidung der Ehe sollen beide
        artner zu gleichen Teilen daran teilhaben. Der Ehegatte,
        er in der Ehe nicht oder nicht voll erwerbstätig gewesen
        st – in der Regel die Ehefrau – und deshalb keine oder
        ur geringere Versorgungsanrechte als der andere erwor-
        en hat, hat bei Auflösung der Ehe einen Ausgleichsan-
        pruch. Die Frage, ob diese Regelung auch auf Fälle der
        ergangenheit erstreckt werden könnte, ist eingehend
        eprüft worden; der Gesetzgeber hat sie – nicht zuletzt
        us verfassungsrechtlichen Gründen – schließlich ver-
        eint.
        Für diese Entscheidung waren im Wesentlichen Ge-
        ichtspunkte des Vertrauensschutzes und des verfas-
        ungsrechtlichen Rückwirkungsverbots maßgebend. Der
        ersorgungsausgleich bewirkt eine Verteilung des Al-
        ersvorsorgevermögens zwischen den Ehegatten, ohne
        ass Drittmittel, etwa der gesetzlichen Rentenversiche-
        ung, in Anspruch genommen werden. Der Versorgungs-
        rhöhung des einen früheren Ehegatten steht immer eine
        ersorgungsminderung des anderen früheren Ehegatten
        egenüber, die diesem nicht in unzumutbarer Weise auf-
        rlegt werden darf. Das Rückwirkungsverbot, das aus
        em Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes resultiert, be-
        nhaltet das Prinzip, dass staatliches Handeln vorherseh-
        ar und berechenbar sein muss. Deshalb dürfen belas-
        ende Gesetze und darauf beruhende Verwaltungsakte in
        er Regel nicht auf einen vor Gesetzesverkündung lie-
        enden Zeitpunkt zurückwirken. Echte Rückwirkung,
        ie nachträglich belastend in abgewickelte, der Vergan-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21949
        (A) )
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        genheit angehörende Tatbestände eingreift – dies wäre
        im Falle einer rückwirkenden Einführung des Versor-
        gungsausgleichs im Hinblick auf den ausgleichspflichti-
        gen früheren Ehegatten geschehen –, ist grundsätzlich
        unzulässig. Daher kam es nicht zur Einführung des Ver-
        sorgungsausgleichs für Scheidungen vor 1992 in der
        ehemaligen DDR.
        Die in der Vergangenheit durch die unterschiedliche
        Entwicklung der Rechtssysteme entstandenen Unter-
        schiede im Bereich der unterhaltsrechtlichen Beziehun-
        gen von geschiedenen Ehegatten zueinander ließen sich
        nicht rückwirkend beseitigen. Auch nachfolgende Über-
        prüfungen führten zu keinem anderen Ergebnis. Alle –
        auch die im Rahmen der interministeriellen Arbeits-
        gruppe – diskutierten Möglichkeiten waren mit erhebli-
        chen verfassungsrechtlichen Risiken verbunden. Des-
        halb lassen sich die Anliegen dieses Personenkreises mit
        Mitteln des Rentenrechts nicht lösen. So ist es nicht
        möglich, wenn es nachträglich, also für einen bereits
        zeitlich abgeschlossenen Tatbestand, für einen der Betei-
        ligten zu einer Belastung führt, mit der zum Zeitpunkt
        der Scheidung nicht zu rechnen war. In der DDR war
        zum Zeitpunkt der Scheidung klar, dass kein Unterhalt
        für den jeweils anderen zu erbringen ist.
        Das hatte möglicherweise einen freieren Umgang mit
        der beiderseitigen Auflösung der Ehe zur Folge: Ein
        Mann konnte sich scheiden lassen, ohne den finanziellen
        Aspekt gewichten zu müssen, denn eine Ehefrau war
        nicht vom Mann abhängig. Eine Erwerbsbiografie einer
        arbeitenden Frau in den neuen Bundesländern wies bis
        zur Wiedervereinigung nur selten Lücken auf, denn die
        Erwerbstätigenrate der Frauen in der DDR war sehr
        hoch. Zweitens waren Frauen nicht gezwungen, aus
        Gründen der Kindererziehung zu Hause zu bleiben, da in
        ausreichendem Maße Kinderbetreuungsplätze zur Verfü-
        gung standen.
        Eine Frau, die aus Gründen der Kindererziehung zu
        Hause blieb, war eher eine theoretische Erscheinung als
        eine wirkliche, denn dazu waren überdurchschnittliche
        Einkommen vonnöten. Diese hohen Entgelte waren aber
        seltene Blumen im volkseigenen Garten. So gab es die
        Orchideengruppe Hausfrau nur sehr begrenzt. Vielleicht
        als Frau eines Professors oder eines Chefarztes. Es war
        ein begrenzter privilegierter Kreis. So hatten Frauen
        keine wirkliche Wahlmöglichkeit zwischen beruflicher
        Karriere und Kindererziehung.
        Frauen in der DDR wussten, dass sie nach dem Tod
        ihres Ehegatten in der Regel gut abgesichert sein wer-
        den, wenn die Ehe bis zum Tod des Gatten hielt. Aller-
        dings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die
        Frauen überwiegend gut gebildet und so durchaus in der
        Lage waren, ihren Unterhalt selbst zu erwirtschaften. Im
        Übrigen blieb immer noch die oft genutzte Möglichkeit
        der persönlichen Trennung, wenn nicht eine gerichtliche
        Scheidung erfolgen sollte. So blieben viele auch nach ei-
        ner gescheiterten Ehe verheiratet und bewahrten sich die
        Ansprüche aus der gemeinsamen Ehezeit.
        Nehmen wir an, der vorliegende Antrag würde be-
        schlossen. Da stellt sich die Gerechtigkeitsfrage neu, und
        zwar für eine erheblich größere Gruppe in den westli-
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        hen Bundesländern. Die Frauen in den neuen Bundes-
        ändern bekämen aus Steuermitteln einen individuell er-
        ittelten Ausgleich. Aber warum wollen Sie eine
        rmittlung individueller Ansprüche, wenn überhaupt
        ein echter Versorgungsausgleich durchgeführt wird, da
        ie betroffenen Männer gar nicht zur Abgabe ihrer Ren-
        enansprüche verpflichtet werden können? Für die ge-
        chiedenen Männer ergeben sich aufgrund der darge-
        tellten Rechtsprechung keine finanziellen Einbußen, da
        ie nicht gesetzlich verpflichtet werden können, Unter-
        alt zu zahlen, da bei der Scheidung der Ehe ja nicht auf
        nterhalt entschieden wurde. Für die betroffene und im
        ntrag ins Auge gefasste Gruppe entstünde eine Win-
        in-Situation.
        Aber wo Gewinner sind, sind auch Verlierer, denn
        as ist mit den geschiedenen Ehegatten in den alten
        undesländern? Sie bezahlen den Ausgleich, denn sie
        ind gesetzlich dazu angehalten, Unterhalt zu zahlen.
        enn aber Frauen in den neuen Bundesländern nach-
        räglich in den Genuss der Vorteile eines Versorgungs-
        usgleichs kommen, ohne dass die betroffenen Exehe-
        änner dafür Ansprüche abgeben müssen, dann entsteht
        ine neue Ungerechtigkeit, nämlich eine Ungleichbe-
        andlung von Geschiedenen in den alten Bundesländern
        n einer vergleichbaren Situation. Die Wahrheit ist doch:
        icht jedes rentenrechtliche Problem des Übergangs von
        er DDR zur BRD lässt sich durch eine Gesetzesinitia-
        ive beheben. Häufig produziert der Versuch nur wieder
        eue Ungerechtigkeiten.
        Hinzufügen möchte ich, dass ich den 1977 eingeführ-
        en Versorgungsausgleich für Geschiedene für sinnvoll
        rachte, denn es ist wichtig, dass Frauen – und auch
        änner – die Möglichkeit haben, ihre Kinder individuell
        u betreuen und zu begleiten – wenn sie denn wollen.
        ichtig ist, dass es eine echte Wahlmöglichkeit zwi-
        chen Beruf und Familie gibt. Hier hat die DDR im Üb-
        igen völlig versagt, Frauen mussten in der Regel arbei-
        en gehen, nicht zuletzt, da die Gehälter und Löhne viel
        u gering waren, als dass ein Einzelner die Familie hätte
        rnähren können.
        Nur am Rande bemerkt: Auch in der Bundesrepublik
        uss noch viel für die Wahlmöglichkeit zwischen Beruf
        nd Karriere unternommen werden; denn noch fehlt es
        n guten und ausreichenden Betreuungsplätzen. Oft sind
        rauen gezwungen, ihre Karriere nach hinten zu ver-
        chieben oder gar aufzugeben, da sie noch zu wenige
        etreuungseinrichtungen vorfinden, wo sie ihr Kind
        zw. ihre Kinder in guter Obhut wissen, wenn sie arbei-
        en wollen. Ihre Freiheit, frei zu wählen, ist auch noch
        tark eingeschränkt.
        Die bundesrepublikanische Rentenversicherung kann
        icht alle Fehler des DDR-Rentensystems oder -Fami-
        ienrechts korrigieren. Es gibt Probleme des Rentenüber-
        angs von der DDR zu unserem System, die sich heute,
        achträglich, nicht im Rahmen unseres Rentensystems
        ereinigen lassen. Das System der DDR hat vier Jahr-
        ehnte ökonomisch, politisch, sozial, aber auch im Ren-
        enrecht versagt. Hier müssen wir den betroffenen Men-
        chen helfen. Aber unser Rentenversicherungssystem
        äre überfordert, wenn ihm alleine diese Aufgabe auf-
        21950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
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        gebürdet würde. Für die Menschen, die über keine aus-
        reichende Rente oder Altersvorsorge verfügen, hat die
        rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2003 die Grundsi-
        cherung eingeführt. Dies war ein großer sozialpolitischer
        Fortschritt.
        Wir lehnen Ihren Antrag ab, da er nur eine Scheinlö-
        sung bietet, die zu neuen Ungerechtigkeiten führt.
        Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. Die Schaffung
        und Herstellung von Gerechtigkeit bzw. eines gerechten
        Ausgleichs war das Ziel auch bei der sogenannten Ren-
        tenüberleitung im Rahmen der deutschen Wiedervereini-
        gung. Aufgrund der unterschiedlichen Rechtsgrundsätze
        war das nicht einfach. Dies wird niemand ernsthaft be-
        streiten wollen. Ungerechtigkeiten – und seien es nur
        „gefühlte“ – waren nicht auszuschließen. Dies besonders
        deswegen, weil im Zuge der Überleitung der nach DDR-
        Recht bestehenden Rentenanwartschaften in das SGB VI
        sehr stark auf den Grundsatz der Beitragsäquivalenz ab-
        gestellt wurde, die tatsächliche Entrichtung von Beiträ-
        gen also eine zentrale Rolle spielte.
        Zu den Gruppen von Versicherten, die sich durch die
        Vorgehensweise bei der Rentenüberleitung nachteilig
        betroffen fühlen, gehört die Gruppe der rund 400 000 zu
        DDR-Zeiten geschiedenen Frauen. Diese sehen sich ge-
        genüber Geschiedenen in den alten Ländern dadurch
        schlechter gestellt, dass es nach DDR-Recht keinen Ver-
        sorgungsausgleich gab. Zwar waren Frauen in der DDR
        selbst regelmäßig mit langen Versicherungszeiten be-
        rufstätig, was naturgemäß das Volumen des zu erwarten-
        den individuellen Versorgungsausgleiches von vornhe-
        rein eher verringert. Zahlreiche Frauen haben aber
        schlechter bezahlte Tätigkeiten als ihre Ehemänner aus-
        geübt, manche unterbrachen auch ihre Berufstätigkeit,
        um sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen, sodass
        ein gewisses Ausgleichsinteresse gleichwohl besteht.
        Hinzu kommt, dass das Recht des Versorgungsausglei-
        ches nicht unmittelbar mit der Wiedervereinigung 1990
        angeglichen wurde, sondern erst 1992.
        Zweitens. Der Antrag der Grünen ist zur Lösung der
        vorbeschriebenen Probleme nicht geeignet. Es wird eine
        Untergruppe aus dem Kreis der betroffenen Frauen he-
        rausgegriffen, und diese wird im Vergleich zu den ande-
        ren bessergestellt. Die Beschränkung des Ausgleiches
        auf Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Er-
        ziehung von Kindern unterbrochen oder eingeschränkt
        haben, erscheint willkürlich und entgegen der Selbstein-
        schätzung der Grünen verfassungsrechtlich bedenklich.
        Es ist vollkommen klar, dass eine solche Lösung nicht
        aus Beitragsmitteln finanziert werden kann. Aber auch
        die Finanzierung des Ausgleichs aus Steuermitteln, weil
        ein rückwirkender Versorgungsausgleich zulasten des
        geschiedenen Ehepartners nach so langer Zeit natürlich
        rechtlich nicht mehr möglich ist, erscheint fragwürdig.
        Es ist nicht gerecht, eine speziell definierte Gruppe ge-
        genüber den anderen Betroffenen zu bevorzugen. Es
        stellen sich neue Fragen: Wie lange muss die Erwerbstä-
        tigkeit unterbrochen worden sein? Dürfen geschiedene
        Frauen, die Kinder bekommen, ihre Erwerbstätigkeit
        aber nicht unterbrochen haben, außen vor gelassen wer-
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        en? Alles in allem wirkt der Antrag der Grünen eher
        ie ein Schnellschuss und nicht wie eine ausgereifte, ge-
        echte und machbare Lösung.
        Drittens. Die FDP-Bundestagsfraktion hat zur Besei-
        igung der Schlechterstellung einzelner Versicherten-
        ruppen schon vor einiger Zeit einen eigenen Antrag
        Faires Nachversicherungsangebot zur Vereinheitli-
        hung des Rentenrechts in Ost und West“ in den Deut-
        chen Bundestag eingebracht, Drucksache 16/11236. Er
        erücksichtigt die Beitragsäquivalenz und enthält das
        ngebot einer nachträglichen Entrichtung von Beiträ-
        en, die in ihrer Höhe an dem auszurichten sind, was zu
        DR-Zeiten zur Erlangung eines vergleichbaren An-
        pruchs hätte aufgewendet werden müssen. Selbst wenn
        ine Verzinsung der so ermittelten Beiträge vorgenom-
        en würde, dürfte ein solches Angebot auf ein hohes In-
        eresse treffen und eine attraktive Verzinsung der nach-
        uentrichtenden Beiträge gewährleistet sein. Auf diesem
        ege sollen auch die in der DDR Geschiedenen die ein-
        alige Möglichkeit erhalten, durch die nachträgliche
        ntrichtung von freiwilligen Beiträgen ihren heutigen
        entenanspruch zu erhöhen.
        Die Lösung der FDP-Bundestagsfraktion vermeidet
        illkür und erreicht damit größtmögliche Gerechtigkeit.
        ie erscheint uns als der bessere Weg. Ein entsprechen-
        er Antrag ist bereits im Deutschen Bundestag einge-
        racht. Er wird in Kürze im Deutschen Bundestag in ers-
        er Lesung behandelt werden. Im Zuge der angestrebten
        nhörung können beide Anträge auf ihre Problemange-
        essenheit untersucht werden. Wir sehen dem mit Inte-
        esse entgegen.
        Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Endlich, so
        öchte ich den Einbringerinnen und Einbringern dieses
        ntrags zurufen, wagt sich mal jemand offiziell aus der
        Deckung“. Seit Jahren macht meine Fraktion mit eige-
        en Anträgen auf die vielen Unzulänglichkeiten auf-
        erksam, die bei der Überleitung der Alterssicherungs-
        nsprüche aus DDR-Zeiten ins bundesdeutsche Recht
        it dem RÜG/AAÜG 1991 entstanden. Zumeist erfuh-
        en unsere Initiativen keine bzw. nur ablehnende Reak-
        ionen bei den anderen Fraktionen. Nun packt die Frak-
        ion Bündnis 90/Die Grünen einen eigenen Antrag mit
        inem Detailproblem zu unseren Vorschlägen dazu. Ich
        erte das auch als Erfolg der Betroffenen, die unermüd-
        ich auf Politikerinnen und Politiker zugehen, um eine
        esetzliche Lösung ihres Problems einzufordern.
        Aber leider, liebe Einbringerinnen und Einbringer,
        springen“ Sie sehr kurz mit Ihrem Vorschlag. Wie die
        berschrift verspricht, wollen Sie die Alterssicherung
        on in der DDR Geschiedenen „verbessern“ – eine Lö-
        ung der Problematik insgesamt ist das aber nicht. Sie
        ollen nur diejenigen Geschiedenen berücksichtigen,
        ie wegen Kindererziehung ihre Erwerbsarbeit unterbro-
        hen oder eingeschränkt haben. Sicher ist das eine Pro-
        lemgruppe, aber das Leben ist und war auch in der
        DR vielfältiger. Und dieses vielfältige Leben war auch
        entenrechtlich abgedeckt. So haben viele Frauen, insbe-
        ondere die inzwischen Hochbetagten, erst die Kinder
        roßgezogen, zwischendurch gearbeitet, dann irgend-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21951
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        wann die eigenen Eltern gepflegt, dann vielleicht noch
        die Schwiegereltern. Viele haben das getan, um dem
        Mann für die Karriere „den Rücken“ frei zu halten.
        Wenn dann eine Scheidung kam, war das bitter, aber für
        das Alter waren diese Frauen – nach DDR-Maßstäben –
        abgesichert; denn in der DDR wurde eine Rente vorran-
        gig nach Versicherungsjahren ermittelt. Diese konnten
        auch mit einer geringen freiwilligen Beitragszahlung er-
        reicht werden. Die Höhe des beitragspflichtigen Ein-
        kommens spielte für die Rentenermittlung eine unterge-
        ordnete Rolle.
        Wenn im Gegenzug dazu nach Bundesrecht das bei-
        tragspflichtige Einkommen die entscheidende Rolle für
        die Alterssicherung spielt, muss über fiktive Einkom-
        mensanrechnung nachgedacht werden. Da bietet sich bei
        den Geschiedenen ein fiktiver steuerfinanzierter Versor-
        gungsausgleich an – so auch einer unserer Vorschläge.
        Aber wir sollten diese Möglichkeit für alle Geschiede-
        nen schaffen, die sich durch die jetzige Überleitungsre-
        gelung beschwert fühlen – so unser Appell. Denn es ist
        so, dass die jetzt gewählte Regelung, nämlich gar nichts
        zu tun, für viele Frauen finanzielle Härten bringt, was
        sozialpolitisch nicht haltbar ist. Und aus rechtspoliti-
        scher Sicht wird hier höchst bedenklich mit dem Vertrau-
        ensschutz umgegangen. Deshalb wäre ich froh, wenn
        nun auch die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen ak-
        tiv würden, damit wir endlich – 20 Jahre nach der Her-
        stellung der staatlichen deutschen Einheit – ein Stück-
        chen mehr für die soziale Einheit tun können.
        Um das zu erreichen, müsste nicht nur die Problema-
        tik der Geschiedenen angepackt werden, sondern die Ge-
        samtheit der Überführungslücken, das vielfältige Versor-
        gungsunrecht und der Missbrauch des Rentenrechts als
        politisches Strafrecht. Vorschläge dazu liegen mit den
        17 Anträgen der Linksfraktion vor, die im parlamentari-
        schen Verfahren sind. Lassen Sie uns ohne ideologische
        Scheuklappen gemeinsam nach Lösungen suchen und
        diese auch finden!
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Seit 1992 beschäftigen sich die Fraktionen im
        Deutschen Bundestag mit Briefen und Petitionen von
        Frauen, die vor 1992 in der DDR geschieden wurden und
        die heute wie damals auf eine rechtliche Gleichbehandlung
        mit geschiedenen Frauen in der alten Bundesrepublik
        pochen. Inzwischen beklagen die geschiedenen Frauen,
        sie seien weder in der DDR noch in der Bundesrepublik
        in ihrer Lage ernst genommen worden. Viele der Frauen,
        mit denen ich gesprochen habe, äußern die Vermutung,
        eine Lösung scheitere an dem fehlenden Willen dazu.
        Die Bundesregierung behauptet bis heute, es bestehe
        kein Handlungsbedarf, weil die Frauen in der DDR auch
        dann, wenn sie Kinder erzogen hatten, erwerbstätig sein
        konnten und damit genügend eigene Rentenanwartschaften
        erworben haben. In der Antwort der Bundesregierung
        auf unsere Kleine Anfrage zu den geschiedenen Frauen in
        den neuen Ländern wird außerdem damit argumentiert,
        dass diese Frauen eine monatliche Rente von durch-
        schnittlich 832 Euro hätten. Daraus wird geschlossen, dass
        kein besonderer Handlungsbedarf bestehe. Tatsächlich ist
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        s aber so, dass 37 Prozent der in der DDR geschiedenen
        rauen ein Nettoalterseinkommen zwischen 500 bis
        50 Euro beziehen, weitere drei Prozent liegen noch
        arunter. In den alten Bundesländern sind dies nur
        8 Prozent. So der Alterssicherungsbericht 2008. Das
        ällt auf, denn die Rente von Frauen in den neuen
        ändern ist üblicherweise höher als in den alten Bundes-
        ändern.
        Auch wir haben länger gebraucht, um diesen Antrag
        inbringen zu können. In der Bundesrepublik ist der Ver-
        orgungsausgleich bereits 1977 eingeführt worden. Für
        ie Geschiedenen in den neuen Bundesländern greift der
        ersorgungsausgleich erst seit 1992. Ein rückwirkender
        ersorgungsausgleich zulasten des geschiedenen Mannes
        st aber – aus Gründen des Vertrauensschutzes – nach
        eutschem Recht nicht möglich. Er würde das verfas-
        ungsrechtliche Rückwirkungsverbot verletzen. Auch der
        etitionsausschuss des Bundestages hatte die Bundes-
        egierung erfolglos um eine Lösung ersucht. Eine inner-
        inisterielle Arbeitsgruppe blieb ebenso ohne Ergebnis.
        Den in der DDR geschiedenen Frauen bleibt auch
        ine Witwenrente verwehrt, weil das DDR-Recht keine
        nterhaltspflicht zwischen den Eheleuten vorsah. Dass
        eide Instrumente im Unterschied zum Westen nicht
        ngewendet werden, nährt bei den Geschiedenen das
        efühl, Bürgerinnen zweiter Klasse zu sein.
        Wir schlagen in unserem Antrag einen fiktiven Ver-
        orgungsausgleich vor, der geschiedene Frauen begüns-
        igt, die zugunsten der Erziehung ihrer Kinder ihre Er-
        erbsarbeit unterbrechen mussten und die deshalb nur
        eringe Rentenansprüche aufbauen konnten. Dazu wer-
        en die Rentenansprüche der Frauen halbiert. Zusätzlich
        rhalten die Frauen die Hälfte eines durchschnittlichen
        ännlichen Verdienstes für die Dauer der Ehe aus Steu-
        rmitteln hinzu, weil es rechtlich nicht möglich ist, den
        usgleich bei den geschiedenen Männern nachträglich
        urchzuführen. Die Rentenansprüche der Frauen werden
        abei individuell ermittelt. Die andere Hälfte des durch-
        chnittlichen versicherten Einkommens wird durch den
        esetzgeber festgelegt. Dies mindert den dafür erforder-
        ichen Verwaltungsaufwand. Zudem werden im Gegen-
        ug Grundsicherungskosten eingespart.
        Die von den Bündnisgrünen vorgeschlagene Lösung
        st verfassungsrechtlich unproblematisch und schließt
        ine seit Jahren bestehende Gerechtigkeitslücke.
        Die Gründe, warum sich die Menschen in den neuen
        undesländern gegenüber den alten Bundesländern be-
        achteiligt fühlen, sind vielfältig. Dass sich die in der
        DR geschiedenen Frauen in beiden deutschen Syste-
        en ungerecht behandelt sehen und sich als Deutsche
        inderen Rechts empfinden, ist tragisch, aber nach
        wanzig Jahren erfolgloser Auseinandersetzung durch-
        us nachvollziehbar.
        Ich hoffe auf den fraktionsübergreifenden Zuspruch
        u unserem Antrag. Wir haben einen unbürokratischen
        nd verfassungsrechtlich gangbaren Ansatz gewählt, der
        ie konkreten Lebens- und Einkommensverhältnisse der
        eschiedenen Ostdeutschen berücksichtigt und ihnen einen
        ngemessenen Ausgleich für die erlittenen Einbußen bei
        21952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
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        der Alterssicherung aus Steuermitteln zuerkennt. Wir
        schließen damit eine Gerechtigkeitslücke und bitten um
        Zustimmung zu unserem Antrag.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Experimente zur
        Meeresdüngung dürfen marine Ökosysteme
        nicht belasten (Zusatztagesordnungspunkt 8)
        Michael Kretschmer (CDU/CSU): Der Forschungs-
        standort Deutschland lebt von Exzellenz, Vertrauen und
        Kooperationsbereitschaft. Was wir in der Debatte um
        das deutsch-indische Meeresforschungsexperiment
        LOHAFEX erlebt haben, war nicht nur eine auf puren
        Behauptungen aufgebaute, sondern auch eine höchst
        schädliche Diskussion für die Glaubwürdigkeit, Verläss-
        lichkeit und Professionalität ebendieses, unseres For-
        schungsstandorts, und das ohne jede Not. Auch die
        durch das Umweltministerium erzwungene Verzögerung
        des Forschungsexperiments hat das Experiment gefähr-
        det.
        Ich danke in diesem Zusammenhang Frau Bundes-
        ministerin Schavan für ihr rasches Handeln und die Frei-
        gabe des Experiments. Und ich danke dem Alfred-
        Wegener-Institut für die schnelle und transparente Infor-
        mationspolitik. Bei der in der vergangenen Woche kurz-
        fristig anberaumten Informationsveranstaltung wurde je-
        dem die Möglichkeit eingeräumt, Fragen zu stellen.
        Diese wurden professionell und verständlich beantwor-
        tet. Mich hat es aber auch nachdenklich gestimmt, dass
        erfahrene und ihrer Verantwortung für die Umwelt be-
        wusste Forscher – deren Lebenswerk es ist, für die Er-
        haltung und den Schutz unserer Umwelt zu forschen –
        von jungen Umweltaktivisten angegriffen werden. Um-
        weltschutz und Forschung sind zwei sich ergänzende
        und nicht zwei sich bekämpfende Faktoren.
        Der Profilierungsversuch durch das Umweltministe-
        rium ging zulasten einer sachlichen Diskussion und zu-
        lasten der Forschung.
        In dieser Debatte wurden mehrere Punkte vermengt,
        die klar voneinander getrennt dargestellt werden müssen.
        Es geht um die rechtliche Komponente. Es geht um na-
        turwissenschaftliche Fragestellungen, die Umweltver-
        träglichkeit. Es geht um die Ziele und um die im Vorfeld
        erlangten Informationen über das Experiment. Die ver-
        schiedenen zum Vorhaben eingeholten Gutachten unab-
        hängiger, international anerkannter Institutionen und
        Wissenschaftler haben die rechtliche und naturwissen-
        schaftliche Seite beleuchtet.
        Sie haben klargestellt: Das Vorhaben steht im Ein-
        klang mit völkerrechtlichen Vorgaben, hier dem interna-
        tionalen Seerecht. In ihm wird die Forschungsfreiheit
        auf hoher See nicht nur garantiert. Es wird sogar zur For-
        schung zum Schutz der marinen Umwelt aufgerufen.
        Auch die Anforderungen aus den Beschlüssen der Kon-
        ferenz zur Biodiversität, CBD, und der Londoner Kon-
        vention sind erfüllt. Die darin geforderte Kleinräumig-
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        eit des Versuchsgebiets ist gegeben. Sie liegt hier mit
        irca 20 km Durchmesser deutlich unter den Empfehlun-
        en der Intergovernmental Oceanographic Commission,
        OC, und der UNESCO für Eisendüngungsexperimente.
        ie Beschränkung des Experimentes auf „coastal
        aters“ ist im Untersuchungsgebiet erfüllt, da es Plank-
        onarten aus Küstengewässern aufweist.
        Was den Umweltaspekt angeht, kann klar gesagt wer-
        en: Hier wird ein natürlicher Prozess simuliert. Das
        erwendete Eisensulfat wurde auf die kleinstmögliche
        enge beschränkt. Die dadurch verursachte Erhöhung
        er Eisenkonzentration im Wasser entspricht der natürli-
        hen Eisenkonzentration in benachbarten Küstengebie-
        en oder beim Schmelzen von Eisbergen. Die durch die
        ingebrachte Menge an Eisen erzeugte Algenentwick-
        ung wird im Bereich der natürlichen Blüte liegen. Und
        ach Auflösung des mit Eisen gedüngten Wirbels wer-
        en durch die hohe Verdünnung keine messbaren Verän-
        erungen vorliegen. Das Experiment dient der Grundla-
        enforschung. Es soll erforscht werden, was nach dem
        bsterben der Algen geschieht, in welchem Umfang
        iese in die Tiefsee absinken und in welchem Umfang
        ie von Zooplankton und Walen gefressen werden, ehe
        ie absinken.
        Bleibt mir als letzter Punkt noch das vom Umwelt-
        inisterium aufgegriffene Thema: Wer wusste wann von
        er Durchführung des Experiments? Ich mag hier gar
        icht viele Worte verlieren. Wie gestern in der Sitzung
        es Forschungsausschusses deutlich wurde, waren alle
        arteien gut und von Anfang an über das Experiment in-
        ormiert. Allein schon der Vertragsschluss zwischen un-
        erer Bundeskanzlerin Merkel und dem indischen Pre-
        ierminister Singh im Jahr 2007 wurde medienwirksam
        ufgenommen. Mir fehlt hier jegliches Verständnis,
        enn eventuell vorhandene und selbst verschuldete In-
        ormationsdefizite im Umweltministerium dazu führen,
        ass der Forschungsstandort Deutschland Schaden
        immt. Die Verzögerung des Experiments durch dieses
        erhalten ist schädlich für Deutschland und in keiner
        eise akzeptabel.
        Ich wünsche nun dem Alfred-Wegener-Institut und
        einen internationalen Partnern einen reibungslosen und
        rfolgreichen Verlauf des Experiments.
        Ingbert Liebing (CDU/CSU): Seit einiger Zeit spaltet
        as LOHAFEX-Forschungsexperiment öffentlichkeits-
        irksam die politischen Gemüter. In den vergangenen
        agen war vermehrt viel Widersprüchliches über das
        eutsch-indische Vorhaben in der Presse zu lesen. Dem
        ufmerksamen Leser ist auch nicht entgangen, dass zwei
        undesministerien hier sehr unterschiedliche Auffassun-
        en vertreten.
        Worum geht es? Ich möchte versuchen, die Sachlage
        u erläutern.
        Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeres-
        orschung führt momentan in Kooperation mit indischen
        artnern ein Experiment zur Eisendüngung im Südatlan-
        ik durch. Dabei sollen circa 20 Tonnen flüssiger Eisen-
        ulfatdünger in einem circa 300 Quadratkilometer gro-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21953
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        ßen Seegebiet nördlich von Südgeorgien vom deutschen
        Forschungsschiff „Polarstern“ ausgebracht werden, um
        dessen Wirkung auf die Algenproduktion und die damit
        verbundene Erhöhung des CO2-Bindungs und -Senkpoten-
        zials zu untersuchen. Die „Polarstern“ ist am 7. Januar
        2009 von Kapstadt aus ins Untersuchungsgebiet ausge-
        laufen.
        Die 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über
        die biologische Vielfalt unter deutschem Vorsitz hatte
        im Mai 2008 in Bonn den Beschluss gefasst, dass die
        Regierungen sicherstellen mögen, „dass mit Ausnahme
        kleinmaßstäblicher wissenschaftlicher Forschungsstudien
        innerhalb von Küstengewässern keine Aktivitäten zur
        Düngung der Ozeane stattfinden.“
        Die Grünen wenden in ihrem Antrag nun ein, dass das
        LOHAFEX-Experiment gegen diese Kriterien verstoße.
        Auch das Bundesumweltministerium hat diese Kritik
        erhoben – genauso wie manche Umweltorganisationen.
        Gerade wegen dieser Kritik hatte das zuständige Bundes-
        forschungsministerium sehr kurzfristig eine Begutachtung
        des Experiments durch international renommierte Wissen-
        schaftler veranlasst. Neben der sorgfältigen Prüfung des
        Alfred-Wegener-Instituts selber haben das IFM-GEOMAR,
        ein in höchstem Maße anerkanntes Institut für Meeres-
        wissenschaften an der Universität Kiel, sowie das British
        Antarctic Survey, ein in der Welt führendes Umwelt-
        forschungsinstitut, dem Projekt seine ökologische Unbe-
        denklichkeit bescheinigt. Dies war ein verantwortungs-
        voller Schritt. Die Ergebnisse dieser Gutachten sind
        eindeutig.
        Mit der zum Einsatz kommenden Menge an Eisensulfat
        wurde die kleinstmögliche Menge gewählt, um in einem
        in sich geschlossenen Wasserwirbel wissenschaftlich
        belastbare Ergebnisse zu erzielen. Außerdem liegt die
        Größe des Arbeitsgebiets mit 17 mal 17 Kilometern
        deutlich unter den Empfehlungen der UNESCO, die für
        solche Experimente 200 mal 200 Kilometer empfiehlt.
        Wissenschaftlich macht ein solches Experiment in
        Küstennähe keinerlei Sinn, denn dort sind die Eisen-
        gehalte natürlicherweise schon so hoch, dass man dort
        den gewünschten Effekt gar nicht beobachten könnte.
        Tatsächlich ist unter „Küstengewässern“ sinnvollerweise
        ein ökosystemarer Zusammenhang zu verstehen, der ge-
        nau hier gegeben ist, wie die Gutachter bestätigt haben.
        In jeglicher Hinsicht stellen die Gutachten fest, dass das
        Vorhaben auf hoher See im Südatlantik unter Umwelt-
        gesichtspunkten nicht nur unbedenklich ist, sondern auch
        im Einklang mit völkerrechtlichen Vorgaben steht.
        Die grundsätzlichen Bedenken gegen Eisendüngung
        mit dem Ziel, in großem kommerziellen Maßstab CO2 in
        den Meeren zu binden, sind begründet, die Beschlüsse
        der CBD-Konferenz berechtigt. Aber wir wissen auch,
        dass es andere Länder gibt, die genau diese Zielsetzung
        verfolgten. Dem können wir nur entgegentreten, wenn
        wir diese Position auch mit Fakten untermauern können.
        Das können wir nur mit fundierten Forschungserkennt-
        nissen. Sie dienen dem besseren Verständnis der ökosys-
        temaren Zusammenhänge möglicher Eisendüngungen im
        Zusammenhang mit dem Klimawandel. Genau dies ist
        auch der Grund, weshalb die Resolution der London-
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        onvention von Oktober 2008 und der Beschluss der
        onvention über die biologische Vielfalt von Mai 2008
        eitere Forschung fordern. LOHAFEX soll einen Bei-
        rag zum besseren Verständnis der Rolle der Ozeane im
        lobalen Kohlenstoffkreislauf liefern. Die Ergebnisse
        ieser Grundlagenforschung werden dazu beitragen, die in
        ternationalen Konventionen erwähnten Wissenslücken
        u schließen.
        Das Moratorium verbietet zu Recht die kommerzielle
        zeandüngung. Von einem kommerziellen Ansatz kann
        ber hier keinerlei Rede sein. Ganz im Gegenteil! Es ist
        u vermuten, dass der Algenteppich algenfressende
        ikroben, Kleintiere und Wale anlockt und somit ein
        bsinken der Algen verhindert wird. Dies wäre sogar
        ine wissenschaftliche Stütze gegen kommerzielle Ei-
        endüngung: Die Erwartungen einer nachhaltigen CO2-
        indung würden nicht erfüllt werden, mögliche Risiken
        ugleich klarer belegbar sein.
        Der Antrag der Grünen fordert, Experimente zur Mee-
        esdüngung dürften marine Ökosysteme nicht belasten.
        as ist für uns eine Selbstverständlichkeit! Sie formulieren
        nforderungen an wissenschaftliche Experimente, die
        ier gewährleistet sind: Das LOHAFEX-Experiment ist
        echtlich nicht zu beanstanden, ökologisch unbedenklich
        nd wissenschaftlich verantwortlich vorbereitet. Deshalb
        ibt es auch keinen Raum mehr für Kritik an dem Experi-
        ent. Genauso wenig ist es in Ordnung, mit dem Antrag
        er Grünen den Eindruck zu erwecken, es wären genau
        iese Grundsätze nicht eingehalten. Kritische Anmerkun-
        en müssen aber auch an die Adresse des Bundesumwelt-
        inisters gerichtet werden.
        Es ist Januar 2009, nachdem die „Polarstern“ – nach
        ierjähriger Vorbereitung – mit allen Wissenschaftlern
        n Bord ausgelaufen war, protestierte plötzlich das Bun-
        esumweltministerium gegen das Experiment. Es be-
        lagte, nicht rechtzeitig über das Experiment informiert
        orden zu sein – und das, nachdem das Umweltbundes-
        mt, das ja der Kontrolle des BMU unterliegt, vorher be-
        eits seit längerem informiert war und keine Veranlas-
        ung gesehen hatte, einen Stopp zu veranlassen. Erst als
        inzelne Umweltgruppen öffentlich protestierten, schlug
        ich der Umweltminister auf die Seite der Kritiker.
        Ganz offensichtlich ist Minister Gabriel leichtfertig
        ffentlichen Erklärungen von Verbänden hinterherge-
        annt, ohne den Sachverhalt sorgfältig zu recherchieren.
        nverständlich bleibt mir, weshalb der Bundesumwelt-
        inister hier Forderungen erhoben hat, ohne auch nur
        inmal mit dem durchführenden Alfred-Wegener-Institut
        ontakt aufzunehmen. Ich bin der Meinung, dass etwas
        ehr Sorgfalt in der Sache der Diskussion über das
        orschungsprojekt LOHAFEX gut getan hätte. Es ist
        edauerlich, welcher Eindruck hier in der Öffentlichkeit
        rzeugt wurde. Wir sollten auch nicht vergessen, dass es
        ich bei dem derzeit laufenden Projekt nicht um das erste
        ieser Art handelt. Das AWI hat bereits in den Jahren 2000
        nd 2004 Eisendüngungsexperimente durchgeführt – zu
        eiten der rot-grünen Regierung. Damals schien das nie-
        anden aufzuregen. Für mich ist allerdings besonders
        nverständlich, dass der Bundesumweltminister auch
        ach Vorlage der Gutachten von renommierten Instituten
        21954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
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        seine Kritik aufrechterhält. Dafür gibt es erst recht nach
        der vorliegenden Information überhaupt keine sachliche
        Basis.
        Meines Erachtens geht es bei der ganzen Diskussion in
        erster Linie um schlichte Versäumnisse und vorschnelle,
        unüberlegte Reaktionen des Bundesumweltministeriums.
        Ich bedauere dies, weil dies ein schlechtes Licht auf die
        von mir unterstützte Bundesregierung wirft. Dafür trägt
        der Umweltminister die Verantwortung. Umso mehr be-
        grüße ich, dass die Forschungsministerin Annette Schavan
        verantwortungsbewusst gehandelt, offene Fragen geklärt
        und dem Forschungsprojekt grünes Licht gegeben hat.
        Ich bin gespannt auf die Ergebnisse von LOHAFEX und
        freue mich darauf, dann noch einmal mit Ihnen über die-
        ses Thema diskutieren zu können – auf der Basis guter
        wissenschaftlicher Erkenntnisse.
        Heinz Schmitt (Landau) (SPD): Es geht heute um
        Klimaschutz, es geht um biologische Vielfalt, es geht um
        „Düngung“ der Meere. Wir debattieren heute über den
        Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Experimente zur
        Meeresdüngung dürfen marine Ökosysteme nicht belas-
        ten“. Eine Forderung, der ich zustimme. Denn bei den
        Planungen zu dem angesprochenen Experiment Dün-
        gung, um Algen zum Wachstum anzuregen und damit
        CO2 im Wasser zu binden, wurde offenbar zu sehr an den
        Klimaschutz gedacht, weniger an die biologische Viel-
        falt.
        Dieser Zielkonflikt – Klimaschutz oder Schutz der
        Biodiversität – zeigt sich nicht zum ersten Mal. In den
        Ministerien, sogar bei den Umweltverbänden, auch bei
        uns Politikern ist dieser Zielkonflikt immer wieder zu
        beobachten. Dennoch dürfte es diesen Gegensatz eigent-
        lich nicht geben. Denn Klimaschutz und Schutz der Viel-
        falt des Lebens sind gleichrangige, sind bedeutsame
        Ziele. Unser Land hat sich international verpflichtet,
        beide gleichermaßen umzusetzen.
        Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeres-
        forschung hat für das eigene Experiment eine Bewertung
        vorgelegt und die Ergebnisse an das Bundesministerium
        für Forschung und Technologie gemeldet. Danach bringt
        das Experiment keine schädlichen Auswirkungen auf die
        Meeresumwelt. Diese Bewertung bezieht sich allerdings
        lediglich auf die erwarteten chemischen Reaktionen und
        die Entwicklung des Planktons. Eine Abschätzung der
        Folgen für höhere Tier- und Pflanzenarten und auf sen-
        sible Tiefseeregionen ist nach meinen Informationen
        aufgrund der großen Wissenslücken gerade, was die
        Tiefsee betrifft, nicht möglich. Zumindest ein Restrisiko
        für diesen Bereich der biologischen Vielfalt kann nicht
        ausgeschlossen werden.
        Im Nachhinein kann man sagen: Es wäre schon wün-
        schenswert gewesen, wenn sich die betroffenen Ministe-
        rien bei diesem Experiment von Anfang an besser abge-
        stimmt hätten und den Schutz der Biodiversität und
        ökologische Zusammenhänge stärker „mitgedacht“ hät-
        ten. Die Direktorin des Alfred-Wegener-Insitituts sieht
        ebenfalls erheblichen Verbesserungsbedarf, was den
        Austausch betrifft. Es ist daher erfreulich, dass alle be-
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        eiligten Kreise dieses Problem erkannt haben und sich
        ünftig besser untereinander abstimmen wollen.
        Für die SPD-Bundestagsfraktion will ich klarstellen:
        ine kommerzielle Nutzung der Eisendüngung als CO2-
        unker lehnen wir ab. Ich freue mich, dass dies auch
        om Alfred-Wegener-Institut, von Frau Ministerin
        chavan und ebenfalls von Minister Sigmar Gabriel so
        esehen wird. Der kommerzielle Einsatz der Eisendün-
        ung hätte in dieser Größenordnung erhebliche negative
        uswirkungen auf die Vielfalt des Lebens im Meer. Sie
        äre darüber hinaus eine Abkehr von einer vorsorgen-
        en Klimapolitik. Eine dauerhafte Lösung zur Reduzie-
        ung von Kohlendioxid ist das Einsparen von Energie,
        ind eine bessere Energieeffizienz und der Ausbau von
        rneuerbaren Energien. Dies haben wir bereits in der
        ergangenheit entschlossen angepackt, und wir haben
        uch für die Zukunft die Weichen richtig gestellt.
        Wir würden daher sehr begrüßen, wenn sich die Bun-
        esregierung bei den weiteren Verhandlung der Konven-
        ion über die biologische Vielfalt, aber auch bei anderen
        nternationalen Abkommen für ein Verbot der Eisendün-
        ung in allen Weltmeeren einsetzen würde. Somit hätten
        ie Versuche des Institutes der „Polarstern“ auch einen
        achhaltigen Nutzen.
        René Röspel (SPD): Eigentlich ist es verrückt. Da
        ibt es ein anerkanntes Forschungsinstitut, das auch im
        ereich Klimaforschung arbeitet. Es bereitet über Jahre
        in internationales Experiment vor und informiert die
        otwendigen Stellen. Mit dem Auslaufen des For-
        chungsschiffes zum Ort des Experiments bricht aber
        lötzlich eine Protestwelle von Umweltverbänden los.
        as Experiment wird kurzfristig gestoppt, und externe
        utachten werden eingeholt. Diese werden von den bei-
        en zuständigen Ministerien unterschiedlich bewertet.
        m Ende darf das Forschungsschiff aber seine Fahrt
        ortsetzen und das Experiment durchführen.
        Man kann die ganze Diskussion um LOHAFEX auch
        ositiv sehen. Es zeigt, wie wichtig die gesellschaftliche
        iskussion um die Forschungskonzepte ist, insbeson-
        ere wenn es sich dabei um eine öffentlich geförderte
        inrichtung wie beim Alfred-Wegener-Institut, AWI,
        andelt. Gut ist auch, dass Umweltverbände ein waches
        uge haben. Und wichtig ist auch, dass Kritik und An-
        erkungen der Umweltverbände von der Politik sehr
        ohl gehört werden und man auch darauf reagiert.
        Die Kritik der Umweltverbände war so gravierend,
        ass es richtig war, das Experiment zunächst zu stoppen
        nd externe Gutachten anzufordern. Denn Biodiversität
        st, wie die Grünen richtig in Ihrem Antrag fordern, na-
        ürlich eine Querschnittsaufgabe, die alle angeht. Aller-
        ings muss auch klar gesagt werden, dass es sich bei der
        m Rahmen von LOHAFEX durchgeführten begrenzten
        isendüngung um Grundlagenforschung handelt und
        icht, wie einige Medienberichte suggerieren, um den
        instieg in die kommerzielle großflächige Eisendüngung
        er Ozeane.
        Wir haben als SPD grundsätzlich Vertrauen in verant-
        ortungsbewusstes Handeln unserer Wissenschaftlerin-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21955
        (A) )
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        nen und Wissenschaftler. Dieses Vertrauen ist auch in
        diesem Fall in den letzten Tagen durch Gespräche bestä-
        tigt worden. Wir finden es auch gut, dass Umweltver-
        bände und Umweltministerium wachsam sind. Das hat
        zu einer klärenden Diskussion geführt, die ich mir aller-
        dings schon vor Beginn des Experiments gewünscht
        hätte, damit Differenzen nicht auf dem Rücken der Wis-
        senschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgetragen wer-
        den. Begrüßenswert ist die schnelle Reaktion der Leite-
        rin des Alfred-Wegener-Instituts, Frau Professor Lochte,
        die kalibrierten Daten schnellstmöglich und transparent
        ins Internet stellen zu wollen und nach Ende des Experi-
        ments eine öffentliche Tagung zu organisieren.
        Für die SPD ist wichtig: Auch Grundlagenforschung
        darf nicht zu Umweltschäden führen. Und auch Grundla-
        genforschung muss internationale Verträge einhalten und
        darf nicht gegen geltendes Recht verstoßen.
        Die Befürchtung, es könne zu Umweltschäden größe-
        ren Ausmaßes kommen, ist ausgeräumt worden. Sie
        bleibt bestehen für Eisendüngung in größerem Maßstab;
        für LOHAFEX aber sind die ökologischen Risiken als
        sehr gering anzusehen. Es ist aber Aufgabe der Wissen-
        schaft, noch besser als bisher ungeklärte Fragen, zum
        Beispiel was toxische Algen anbelangt, auch in die Vor-
        bereitung solcher Experimente einzubeziehen und zu un-
        tersuchen.
        Für uns ist mindestens genauso wichtig, dass
        LOHAFEX nicht gegen das VN-Übereinkommen über
        die biologische Vielfalt, CBD, verstößt und damit nicht
        völkerrechtswidrig ist. Da es offenbar unterschiedliche
        Interpretationen der Beschlüsse der 9. Vertragsstaaten-
        konferenz zum Beispiel hinsichtlich „coastal waters“
        gibt, erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie in
        den nächsten Verhandlungen der Vertragsstaatenkonfe-
        renz wie auch auf Ebene der London Convention und
        des London Protocol auf eine Klärung möglicher Inter-
        pretationsspielräume zugunsten des Umwelt- und Kli-
        maschutzes drängt.
        Zu Beginn der Diskussion war aber auch klar, dass
        eine endgültige Entscheidung über LOHAFEX am
        Montag dieser Woche fallen musste. Eine weitere Ver-
        schiebung ließ der Zeitplan für das Experiment nicht zu.
        Wir halten die Fortführung des Experimentes für ge-
        rechtfertigt, weil es sich um Grundlagenforschung han-
        delt und die externen Gutachten zu dem Schluss gekom-
        men sind, dass weder eine Umweltgefährdung noch ein
        Verstoß gegen internationales Recht vorliegt, sondern
        LOHAFEX sogar zu einem besseren Verständnis der
        Abläufe des Ökosystems Meer und des Kohlenstoff-
        kreislaufes beitragen kann.
        Ausdrücklich möchte ich für die SPD klarstellen: Ers-
        tens. Die CBD ist und bleibt für uns rechtlich und vor al-
        lem politisch verbindlich. Zweitens. Eine kommerzielle
        oder großflächige Eisendüngung der Meere zum Zwecke
        des Klimaschutzes scheint uns nicht sinnvoll, sondern
        sogar kontraproduktiv zu sein. Wir lehnen sie daher ab.
        Erlauben Sie mir eine letzte Anmerkung zum Antrag
        der Grünen, der uns gestern erreichte: Viele Aussagen
        teilen wir und können sie unterstreichen. Aber eine Ant-
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        ort bleiben die Grünen schuldig: Sind Sie denn nun für
        der gegen den Stopp der „Polarstern“-Expedition?
        Angelika Brunkhorst (FDP): Wie kann es sein,
        ass ein Experiment, das seit 2005 geplant wird und für
        as die entsprechenden Verträge im Jahr 2007 geschlos-
        en wurden, im Januar 2009, nachdem die „Polarstern“
        ereits zu ihrer Forschungsfahrt ausgelaufen ist, derart
        urzfristig durch das Bundesumweltministerium infrage
        estellt wird? Der Versuch des Umweltministeriums, ein
        enehmigtes Forschungsprojekt der „Polarstern“, das
        udem noch Erkenntnisse über klimarelevante Vorgänge
        ringen soll, unmittelbar vor dessen Beginn zu verhin-
        ern, ist ein eklatanter Eingriff in die Forschungsfreiheit
        nd nicht hinnehmbar. Die Wirkung des kurzfristigen
        wangsstopps auf unsere indischen Kooperationspartner
        ürfte fatal sein. Die sogenannte Große Koalition aus
        DU/CSU und SPD macht sich in der Wissenschafts-
        zene lächerlich.
        Man wundert sich auch über den Umgang der Bun-
        esregierung untereinander. Es scheint, die Koalitions-
        raktionen übernähmen die Rolle der Opposition gleich
        it. Das kannte man bislang nur von der CSU aus Bayern.
        uch wenn man in einer Koalition unterschiedlicher
        einung sein kann, irgendwann muss man sich einigen
        nd zu einem Ergebnis kommen. Es wird ja wohl niemand
        rnsthaft behaupten, das Umweltministerium habe von
        em Experiment erst im Januar dieses Jahres erfahren. Es
        ann und darf nicht sein, dass Umwelt- und Forschungs-
        inisterium derart unkoordiniert und letztlich gegenläufig
        gieren. Wenn man die Pressemitteilung aus dem Bundes-
        orschungsministerium vom 26. Januar 2009 liest, kann
        an zu dem Schluss gelangen, dass das Motto von Frau
        chavan ist: Mir doch egal, was Gabriel meint. Dieses
        orgehen wirft ein katastrophales Licht auf die Zusam-
        enarbeit innerhalb der Bundesregierung und damit auf
        ie Bundesregierung insgesamt.
        Aber anscheinend ist nicht nur bei der Kommunikation
        ach innen, sondern auch nach außen einiges schiefge-
        aufen. Man muss die Bedenken der Umweltschützer
        rnst nehmen. Sie befürchten, das Experiment, obzwar
        s sich um Grundlagenforschung handele, bereite den
        eg für die kommerzielle Eisendüngung bzw. sei der
        instieg in ein Geo-Engineering. Wenn man liest, Ziel
        es Versuches sei es letztlich, „Erkenntnisse darüber zu
        ewinnen, ob die ‚Eisendüngung‘ ein gangbarer und vor
        llem ökologisch rechtfertigbarer Weg zur Reduktion
        es Kohlendioxids in der Atmosphäre sein könnte“,
        der wenn am Experiment beteiligte Wissenschaftler
        es Alfred-Wegener-Instituts im Spiegel zitiert werden,
        ass die Einwände der Kritiker weggefegt würden,
        wenn unsere Ohnmacht gegenüber dem Klimawandel
        ichtbar wird“, dann verwundert es nicht, dass Umwelt-
        chützer hellhörig werden. Man hätte sie früher infor-
        ieren und über die Planungen aufklären sollen. Sowohl
        MU als auch BMBF haben glaubhaft erklärt, dass eine
        ommerzielle Eisendüngung der Ozeane keinen Beitrag
        um Klimaschutz leisten kann und wird. Hierüber
        errschte Einigkeit.
        21956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        (A) )
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        Aufgrund der Informationsveranstaltung des Alfred-
        Wegener-Instituts, des Berichts der Bundesregierung im
        Forschungsausschuss diese Woche und nach Auswertung
        der vorliegenden Gutachten kommt die FDP zu dem
        Schluss, dass das Experiment, bei dem eine punktuelle,
        nicht großflächige Ausbringung von Eisensulfat innerhalb
        eines geschlossenen Wirbels im antarktischen Zirkum-
        polarstrom erfolgen soll, auch unter Berücksichtigung
        des Aspekts des Meeresumweltschutzes durchgeführt
        werden kann.
        Ich erwarte, dass die Bundesregierung dem Deutschen
        Bundestag nach Durchführung des Experiments über die
        Ergebnisse berichtet. Neben der Klimafrage interessieren
        mich als Umweltpolitikerin besonders die Auswirkungen
        auf das Ökosystem insgesamt. Das Experiment soll
        schließlich auch darüber Erkenntnisse bringen, welchen
        Einfluss die Einbringung von Eisensulfat auf das Algen-
        wachstum hat und welche Meeresorganismen von diesem
        Nahrungsangebot profitieren, das heißt, wie sich das
        Plankton und in der Folge der Krill entwickeln. Da Krill
        die Hauptnahrung von antarktischen Pinguinen, Robben
        und Walen ist, können diese Tiere möglicherweise profi-
        tieren.
        Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Das Experiment
        LOHAFEX zu Effekten des Eiseneintrags auf maritime
        Ökosysteme und den Kohlenstoffkreislauf, aber auch die
        Debatte darüber sind schon jetzt ein Lehrstück. Wir kön-
        nen etwas lernen über das Verhältnis von Klima- und
        Umweltschutz, über die Beziehungen zwischen For-
        schung und Politik, die sich beide ihrer gesellschaftli-
        chen und ökologischen Verantwortung zu stellen haben,
        aber auch über klassisches Missmanagement der Bun-
        desregierung in einem sehr sensiblen Bereich deutscher
        Forschungs- und Umweltpolitik.
        Der Streit um LOHAFEX entzündete sich, als Um-
        weltverbände im Dezember vergangenen Jahres gegen
        die Durchführung des Experiments protestierten. Das
        Umweltministerium will erst im November 2008 – so
        die Aussage von Staatssekretär Müller – überhaupt da-
        von erfahren haben. Hier fragt man sich jedoch: Was ist
        da falsch gelaufen? Seit 2005 wird der Versuch vorberei-
        tet und hat einen langen Vorlauf inklusive Begutach-
        tungs- und Genehmigungsverfahren durch mehrere wis-
        senschaftliche Kommissionen. Auch Expertinnen und
        Experten des Umweltbundesamtes waren beteiligt. Im
        Jahr 2007 wurde die Kooperationsvereinbarung zwi-
        schen den beteiligten Instituten in Anwesenheit der Bun-
        deskanzlerin unterzeichnet. Und Ihnen, lieber Herr Um-
        weltminister Gabriel, fällt ein gutes Jahr später, zufällig
        im Vorwahlkampf, auf, dass LOHAFEX vielleicht Ihre
        Glaubwürdigkeit als Umweltschützer beeinträchtigen
        könnte? Und wieso haben Sie erst insistiert, als das
        Schiff bereits ausgelaufen war?
        Unverständlich ist jedoch auch, wieso das For-
        schungsministerium in einem so sensiblen Bereich nicht
        von selbst auf die Idee kommt, die Vereinbarkeit eines
        international angelegten Großprojektes mit Umwelt-
        schutzvereinbarungen wie der Bonner UN-Konvention
        zur Biodiversität vorab prüfen zu lassen. Unser Land
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        ann es sich aus Sicht der Linken nicht leisten, die er-
        eichten Fortschritte bei der globalen Ablehnung von
        eo-Engineering durch eigene Nachlässigkeit und Un-
        ufmerksamkeit zu gefährden.
        Die am Experiment beteiligten Wissenschaftlerinnen
        nd Wissenschaftler selbst müssen zudem dafür sorgen,
        ass ihre Reputation nicht gefährdet wird. Und da sind
        ie früheren Äußerungen der Projektleitung von
        OHAFEX, die die Machbarkeit von flächendeckender
        isendüngung zum Zweck der CO2-Speicherung am
        eeresboden in Aussicht stellen, wenig hilfreich. Wäh-
        end die Leitung des Alfred-Wegener-Instituts in über-
        eugender Weise ihrer Verantwortung für Transparenz
        achkommt, sollten die durchführenden Forscherinnen
        nd Forscher bei der Erarbeitung ihres Forschungsde-
        igns ökologische und gesellschaftliche Folgen einer
        utzung des erarbeiteten Wissens mit bedenken. Dazu
        ehört etwa, dass die Auswirkungen des Eiseneintrags
        uf die sensiblen maritimen Ökosysteme in ihrer Ganz-
        eit auf weitere Tier- und Pflanzenarten im Meer unter-
        ucht werden. Auch Grundlagenforschung – und um die
        andelt es sich bei LOHAFEX – findet nicht in einem
        nteressenfreien Raum statt. Diese Interessen müssen
        orscherinnen und Forscher berücksichtigen.
        Die Debatte um das Experiment hat – das begrüßen
        ir – dazu geführt, dass die beteiligten Bundesministe-
        ien, aber auch die Fraktionen des Bundestages aus-
        rücklich ihre Ablehnung von Meeresdüngung zum
        weck der Klimagestaltung bekräftigen. Wir sind in die-
        em Hause gemeinsam der Auffassung, dass in Überein-
        timmung mit der Bonner Konvention zur Biodiversität,
        em Protokoll über die Verhütung der Meeresverschmut-
        ung der Londoner Konvention der Internationalen See-
        chifffahrtsorgansiation sowie dem Weltklimarat die
        O2-Abscheidung durch künstlich vermehrtes Algen-
        achstum kein nachhaltiger Weg zum Klimaschutz ist.
        rst recht muss eine kommerzielle Meeresdüngung zum
        weck des Zertifikatehandels international geächtet und
        ies durch verbindliche Regelwerke festgeschrieben
        erden.
        Die Ergebnisse von LOHAFEX können zur Legitima-
        ion dieser Ächtung einen entscheidenden Beitrag lie-
        ern. Auch aus diesem Grund steht nicht die rechtliche
        ewertung des Experiments für uns im Vordergrund,
        ondern die politische.
        LOHAFEX untersucht die Rolle des Eisens im Koh-
        enstoffkreislauf zwischen Ozean und Atmosphäre und
        tellt Daten für die Beantwortung mehrerer komplexer
        ragestellungen zur Verfügung. Das Experiment selbst
        ient dem besseren Verständnis des Wandels der ökolo-
        ischen und klimatischen Systeme. Diese Art der For-
        chung wird in den genannten internationalen Vereinba-
        ungen eindeutig begrüßt. Alle vorliegenden Gutachten,
        uch das des Bundesamtes für Naturschutz, belegen eine
        kologische Unbedenklichkeit dieses im kleinen Maß-
        tab stattfindenden Experiments. Für Die Linke hat die
        orschungsfreiheit, deren Ergebnisse einen aufklärenden
        iskurs zum Klimaschutz erst ermöglichen, einen hohen
        tellenwert.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21957
        (A) )
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        Abschließend noch ein Wort zu dem Antrag der Grü-
        nen: In Ihrem Antrag steht nichts Falsches, sondern viele
        zutreffende Feststellungen und allgemeine, aber nicht
        weniger richtige Forderungen. Deswegen werden wir
        auch zustimmen. Leider sind Sie doch ein wenig der
        Versuchung erlegen, schnell mit einem fertigen Produkt
        auf der Wahlkampfbühne aufzutreten, anstatt den Ver-
        lauf der Debatte und die verschiedenen Gutachten abzu-
        warten. Dass Sie sich nun innerfraktionell in der Ein-
        schätzung von LOHAFEX doch nicht mehr einig sind,
        zeigt einmal mehr, dass allen Seiten weniger Profilie-
        rung und mehr Verständigung über die gemeinsam zu er-
        reichenden Ziele in Forschungs- wie Umweltpolitik gut-
        getan hätte.
        Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Noch zum Abschluss der 9. Vertragsstaaten-
        konferenz des Übereinkommens über die biologische
        Vielfalt vor nicht einmal acht Monaten in Bonn hat der
        Vorsitzende dieser Vertragsstaatenkonferenz, Bun-
        desumweltminister Sigmar Gabriel, den Aufbruch hin
        zum Schutz der biologischen Vielfalt prophezeit. Dass
        der Meeresschutz endlich eine wichtigere Rolle spielen
        sollte, wurde besonders hervorgehoben.
        Als eines dieser Aufbruchsignale wurde die klare
        Stellungnahme der Vertragsstaaten gegen „Aktivitäten
        zur künstlichen Düngung von Meeresgebieten mit dem
        Ziel der CO2-Bindung“ gewertet. Der Grund sei – so der
        Minister in seiner Pressemitteilung –, dass Wissenschaft-
        ler starke negative Auswirkungen auf die Meeresumwelt
        befürchteten, und viele Wissenschaftler bezweifeln auch
        den vermuteten positiven Effekt künstlicher Düngung
        auf das Klima. Insofern waren alle, die Fragen des Bio-
        diversitätsschutzes ernst nehmen, mehr als verwundert,
        als sie erfuhren, dass das Bundesforschungsministerium
        in diesen Tagen ein Forschungsexperiment zur Ozean-
        düngung genehmigt hatte. Ich zolle dem Bundesumwelt-
        minister Respekt, dass er sich diesem Vorhaben entge-
        gengestellt hat.
        Aus Sicht der Umweltpolitiker meiner Fraktion ver-
        stößt dieses Experiment eindeutig gegen den politischen
        Willen, den die Bundesregierung mit ihrer Unterschrift
        unter das Moratorium geäußert hat. Dass uns nun von
        der Bundesforschungsministerin beauftragte Juristen er-
        klären, dass dieses Moratorium rechtlich nicht bindend
        sei, weil nicht in nationales Recht umgesetzt – das sind
        Winkelzüge, die Advokaten alle Ehre machen, die aber
        nichts daran ändern, dass die Bundesregierung auf der
        Vertragsstaatenkonferenz anders gesprochen hat, als sie
        jetzt handelt. Und das ist ein Skandal.
        Wir Umweltpolitiker sind der Überzeugung, dass bei
        weitem nicht alle Bedenken gegen das LOHAFEX-Ex-
        periment des Alfred-Wegener-Instituts in Bezug auf die
        biologische Vielfalt und die Intaktheit der marinen Öko-
        systeme ausgeräumt sind. Das Bundesumweltamt für
        Naturschutz hat festgehalten, dass die Risikobewertung
        lückenhaft ist und das Experiment dem CBD-Beschluss
        zur Ozeandüngung widerspricht. Die politische Bot-
        schaft, die in die Welt geht, ist verheerend: Als derzei-
        tige CBD-Präsidentschaft unterwirft sich die Bundes-
        regierung nicht den von ihr mitgetragenen Beschlüssen
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        er CBD. Im Zweifelsfall also hat der Biodiversitäts-
        chutz hintanzustehen. Damit verliert Deutschland in
        iesem Bereich seine Vorbildwirkung und Glaubwürdig-
        eit. Die Freigabe des LOHAFEX-Experiments durch
        ie Bundesregierung ist ein Affront für die deutsche und
        nternationale Politik zum Erhalt der biologischen Viel-
        alt.
        Die Umweltpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen be-
        ennen sich zur Konvention über die biologische Viel-
        alt. Forschung findet ihre Grenzen auch in den
        eschlüssen, Mandaten und Arbeitsaufträgen dieses
        bereinkommens. Der dramatische Verlust an biologi-
        cher Vielfalt stellt uns vor sehr komplexe Herausforde-
        ungen, die wir nur als internationale Staatengemein-
        chaft gemeinsam bewältigen können. Mit ihrer Haltung
        nd ihrer Argumentation konterkariert die Bundesregie-
        ung die Bemühungen zur konsequenten Umsetzung der
        BD-Beschlüsse auch auf anderen Gebieten. Das ist
        irklich und wahrhaftig ein Trauerspiel.
        Auf seiner Abschlussrede auf der COP 9 versicherte
        inister Gabriel: „Wir werden alles in unserer Kraft Ste-
        ende tun, damit die Entscheidungen der 9. Vertragsstaa-
        enkonferenz umfassend und rechtzeitig umgesetzt wer-
        en.“ Dieses Versprechen wurde nun gebrochen. Wir
        ordern die Bundesregierung auf, dafür Sorge zu tragen,
        ass zukünftig nur Forschungsprojekte gefördert wer-
        en, die die Beschlüsse der CBD konsequent einhalten.
        Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn
        ngagierte Klimaforscher und Umweltverbände sich
        ber ein Forschungsexperiment streiten, kann das nie-
        anden erfreuen, schon gar nicht aus grüner Sicht. Den
        orwurf, LOHAFEX verstoße gegen das CBD-Morato-
        ium über Eisendüngung, darf man in der Tat nicht auf
        ie leichte Schulter nehmen, denn dieses Abkommen
        ar ein großer Fortschritt, um Geo-Engineering mit un-
        bsehbaren Folgen und kommerzielle Projekte der Ei-
        endüngung international zu stoppen. Und es ist sehr gut,
        ass in dieser Debatte alle, auch die Forscher des AWI
        nd die verschiedenen politischen Parteien, unterstri-
        hen haben, dass sie an diesem Stopp festhalten wollen.
        Die CBD argumentiert aber auch gerade damit, dass
        an über die Wirkung von Eisen im Ökosystem der
        eere viel zu wenig weiß, und erlaubt deshalb aus-
        rücklich legitime Grundlagenforschung und formuliert
        afür Kriterien. Das Gleiche gilt übrigens auch für das
        nternationale Seerecht, die London Convention und das
        ondon Protocol. Grundlagenforschung wird auch hier
        icht verboten, sondern die Regeln über die Forschung
        ollen weiterentwickelt werden. Es wurden im Oktober
        orschriften für die Übergangszeit formuliert. Um gesi-
        herte Erkenntnisse in diesem Bereich zu erlangen, ist
        egitime Grundlagenforschung geradezu unumgänglich,
        nd es spricht alles dafür, dass diese lieber von unabhän-
        igen staatlichen Einrichtungen durchgeführt werden
        ollte als von privaten Interessengruppen.
        Es hat jetzt ein Peer-Review-Verfahren stattgefunden
        it verschiedenen naturwissenschaftlichen und rechtli-
        hen Gutachten unabhängiger wissenschaftlichen Ein-
        ichtungen und Institute. Die eingeholten Gutachten
        21958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
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        kommen zu dem Ergebnis, dass die Risikobewertung
        durch das AWI und den indischen Partner bestätigt wird,
        das Experiment ökologisch unbedenklich sei und nicht
        gegen internationale Abkommen verstoße. Ich finde es
        ausgesprochen unbefriedigend, dass sich die Bundes-
        regierung nicht zu einer gemeinsamen Bewertung der
        Lage und der Gutachten hat durchringen können. Wäh-
        rend alle anderen Beteiligten deutlich gemacht haben,
        dass das CBD-Moratorium nicht infrage gestellt werden
        soll und Geo-Engineering nach wie vor abgelehnt wird,
        drängt sich der Eindruck auf, beide beteiligten Ministe-
        rien versuchen nun, aus dem Konflikt Wahlkampfmuni-
        tion zu sammeln.
        Die Regierung ist ein Beitrag zur Versachlichung der
        Diskussion schuldig geblieben. Dies wäre aber bitter nö-
        tig angesichts der Hausforderungen, vor denen wir beim
        Klima- und Umweltschutz stehen, zum Beispiel auch ge-
        rade in der Arktis. Deshalb kommt es darauf an, dass
        Klima- und Meeresforscherinnen und -forscher mit Um-
        weltverbänden den offenen Dialog intensivieren. Die
        Regierung hat mit eigenen Versäumnissen in der Kom-
        munikation zwischen Forschungs- und Umweltministe-
        rium die unglückliche Frontstellung um das Projekt
        LOHAFEX befördert. Bleibt zu hoffen, dass die Regie-
        rung hier ihrer Verantwortung in Zukunft eher und bes-
        ser gerecht wird.
        202. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9