Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21717
(A) (C)
(B) (D)
nen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AEntG)
(Drucksache 16/1048616/11669)Paula, Heinz SPD 22.01.2009
– zum Entwurf eines Gesetzes über zwingende
Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend
entsandte und für regelmäßig im Inland be-
schäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin-
Nitzsche, Henry fraktionslos 22.01.2009
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.01.2009
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Dr. Addicks, Karl FDP 22.01.2009
Ahrendt, Christian FDP 22.01.2009
Dr. Akgün, Lale SPD 22.01.2009
Annen, Niels SPD 22.01.2009
Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.01.2009
Bodewig, Kurt SPD 22.01.2009*
Brüderle, Rainer FDP 22.01.2009
Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 22.01.2009
Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 22.01.2009
Dreibus, Werner DIE LINKE 22.01.2009
Ehrmann, Siegmund SPD 22.01.2009
Ernst, Klaus DIE LINKE 22.01.2009
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 22.01.2009
Gloser, Günter SPD 22.01.2009
Granold, Ute CDU/CSU 22.01.2009
Großmann, Achim SPD 22.01.2009
Hauer, Nina SPD 22.01.2009
Hempelmann, Rolf SPD 22.01.2009
Hinz (Essen), Petra SPD 22.01.2009
Dr. Jahr, Peter CDU/CSU 22.01.2009
Kurth (Quedlinburg),
Undine
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.01.2009
Dr. Lamers (Heidelberg),
Karl A.
CDU/CSU 22.01.2009**
Lösekrug-Möller,
Gabriele
SPD 22.01.2009
Meinhardt, Patrick FDP 22.01.2009
Mücke, Jan FDP 22.01.2009
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
** für die Teilnahme an der Jahrestagung der Ostseeparlamentarier-
konferenz
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung:
– zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Än-
derung des Gesetzes über die Festsetzung
von Mindestarbeitsbedingungen (Drucksa-
che 16/10485)
Raab, Daniela CDU/CSU 22.01.2009
Raidel, Hans CDU/CSU 22.01.2009
Reiche (Potsdam),
Katherina
CDU/CSU 22.01.2009
Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 22.01.2009
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 22.01.2009
Schily, Otto SPD 22.01.2009
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 22.01.2009
Dr. Stinner, Rainer FDP 22.01.2009
Strothmann, Lena CDU/CSU 22.01.2009
Dr. Struck, Peter SPD 22.01.2009
Tauss, Jörg SPD 22.01.2009
Teuchner, Jella SPD 22.01.2009
Thießen, Jörn SPD 22.01.2009
Thönnes, Franz SPD 22.01.2009***
Veit, Rüdiger SPD 22.01.2009
Dr. Wend, Rainer SPD 22.01.2009
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
21718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
– zur Beschlussempfehlung: Für einen sozial
gerechten Mindestlohn in Deutschland
(Drucksachen 16/1878, 16/11669)
(Tagesordnungspunkt 12 a und b)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Ich stimme beiden
Gesetzentwürfen der Bundesregierung nicht zu. Denn
auch nach sorgfältiger Abwägung des Für und Wider
habe ich schwerwiegende rechtliche und politische Be-
denken sowohl im Hinblick auf die grundsätzlichen Wir-
kungen beider Gesetzentwürfe als auch auf die hand-
werkliche Umsetzung.
Es ist zwar zuzubilligen, dass im Vergleich zu den ur-
sprünglichen Vorstellungen des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales erhebliche Verbesserungen erreicht
werden konnten. Hier ist aus meiner Sicht insbesondere
zu nennen, dass auf der Grundlage des AEntG nur bun-
desweite Tarifverträge erstreckt werden dürfen, dass laut
MiArbG der Hauptausschuss die Einführung von Min-
destarbeitsentgelten nur beschließen darf, wenn er so-
ziale Verwerfungen in einer Branche feststellt, dass
durch das MiArbG ausschließlich Mindestentgelte und
nicht auch sonstige Arbeitsbedingungen festgesetzt wer-
den können, dass die Vereinbarung tarifvertraglicher
Ausschlussfristen im AEntG und im MiArbG möglich
bleibt und dass es eines gemeinsamen Antrages beider
Tarifvertragsparteien bedarf. Diese Änderungen beseiti-
gen aber nicht meine grundsätzliche Befürchtung, dass
die grundgesetzlich verankerte Tarifautonomie durch
beide Gesetzentwürfe geschwächt wird. Es bleibt die
Kernfrage: Tarifautonomie, quo vadis? Diese muss ich
für mich negativ beantworten. Denn aus meiner Sicht
werden durch die beiden Gesetzentwürfe die Vorausset-
zungen dafür eröffnet, Tarifverträge durch eine staatliche
Lohnfestsetzung zu verdrängen. Es wird ein Tarifnach-
rang geschaffen. Darin sehe ich eine Aushöhlung der Ta-
rifautonomie und damit eines Eckpfeilers der sozialen
Marktwirtschaft.
Bei dieser Tarifautonomie handelt es sich nicht um
eine Floskel, sondern um ein hohes Verfassungsgut, das
aus gutem Grund seit Gründung der Bundesrepublik
Deutschland geschützt wird. Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz
garantiert die Koalitionsfreiheit, das heißt die Freiheit,
eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirt-
schaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten, ihr fern-
zubleiben oder sie zu verlassen. Sie begründet das Recht
der Tarifparteien, Tarifverträge frei von staatlichen Ein-
griffen abzuschließen. Diese Regelungsbefugnis er-
streckt sich insbesondere auf das Arbeitsentgelt und die
anderen materiellen Arbeitsbedingungen. Die von Ge-
werkschaften und Arbeitgebern verhandelten Tarifver-
träge haben immer Vorrang vor staatlich festgesetzten
Löhnen und Arbeitsbedingungen – bislang.
Dieser Tarifvorrang ist bisher gesetzlich festgeschrie-
ben. Durch beide Gesetzentwürfe wird diese gesetzliche
Lage in ihr Gegenteil verkehrt. Zukünftig können staat-
lich verordnete Löhne Tarifvertrage außer Kraft setzen.
Dies kommt insbesondere in der Neuformulierung
des Mindestarbeitsbedingungengesetzes zum Ausdruck.
So bestimmt § 2 Abs. 3 des bisherigen MiArbG: „Tarif-
vertragliche Bestimmungen gehen den Mindestarbeits-
bedingungen vor.“ Dieser klare und eindeutige
Tarifvorrang wird in dem Gesetzentwurf zum Mindestar-
beitsbedingungenänderungsgesetz gestrichen und durch
eine stark einschränkende Übergangsregelung ersetzt.
Danach sollen zukünftig nur Tarifverträge, die vor dem
16. Juli 2008 bestanden, und deren Folgetarifverträge
vorrangig sein. Diese Regelung nimmt Tarifregelungen
per se den Vorrang, die später entstehen, wie zum Bei-
spiel bei neuen Branchen oder Tariflandschaften. Im
Übrigen kann der Abschluss eines Folgetarifvertrages je-
derzeit einseitig von einer Tarifvertragspartei verhindert
werden. Auch der Bundesrat hat deshalb zu Recht in sei-
ner Stellungnahme die Beibehaltung eines absoluten Ta-
rifvorrangs im MiArbG gefordert. Dieser Forderung ist
bedauerlicherweise nicht Rechnung getragen worden,
sodass ein Tarifnachrang geschaffen wird.
Dies gilt auch für den Gesetzentwurf zum Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz. Laut § 1 Abs. 3 a des bisher gelten-
den AEntG kann eine Rechtsverordnung nach diesem
Gesetz nur für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Ar-
beitnehmer Anwendung finden. Dieser Tarifvorrang
wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf zum AEntG
beseitigt. Die Rechtsverordnung nach dem AEntG soll
zukünftig Vorrang vor Tarifverträgen haben. Sie unter-
wirft alle, auch die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, den
Festsetzungen der Rechtsverordnung, die an einen ande-
ren, abweichenden Tarifvertrag gebunden sind. Es wird
damit die Möglichkeit eröffnet, bestehende Tarifsstruk-
turen zu verdrängen, mithin ein Tarifnachrang einge-
führt.
Tarifautonomie, quo vadis? Das Recht, dass Gewerk-
schaften und Arbeitgeberverbände, frei von politischen
Diktaten und staatlicher Einflussnahme für ihre freiwilli-
gen Mitglieder eigenverantwortlich und auf gleicher Au-
genhöhe Mindestarbeitsbedingungen vereinbaren, wird
ohne Not und sachliche Rechtfertigung ausgehöhlt.
Diese besteht nur dann, wenn ein nachgewiesenes öf-
fentliches Interesse besteht, wie beispielsweise die Ver-
hinderung von sozialen Verwerfungen durch Lohndum-
ping ausländischer Entsendearbeitnehmer. In diesen
Fällen haben Branchenmindestlöhne ihren berechtigten
Sinn. Deshalb ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
1996 geschaffen worden. Es hat das Ziel, den deutschen
Arbeitsmarkt vor Billigkonkurrenz aus dem Ausland zu
schützen.
Diese Zielsetzung befürworte ich uneingeschränkt,
sofern seine bisherigen Voraussetzungen vorliegen. Es
müssen eine Entsendeproblematik vorliegen und ein Ta-
rifvertrag mit einer mindestens 50-prozentigen Tarifbin-
dung vorliegen. Dies war bei dem Gebäudereinigerhand-
werk der Fall, bei der Ausweitung auf die Branche der
Briefdienstleistungen schon nicht mehr. Der Branchen-
primus hat das Gesetz instrumentalisiert, inländischen
Wettbewerb zu verhindern. Die Folgen zeigen sich vor
Ort. Private Wettbewerber mussten aufgeben, Arbeits-
plätze gingen verloren. Der verbleibende Monopolist
schließt Filialen und zieht sich insbesondere aus der Flä-
che zurück. Die Rechnung zahlen Verbraucher und Ar-
beitnehmer.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21719
(A) (C)
(B) (D)
Branchenmindestlöhne haben trotz dieses Sündenfalls
ihren Sinn, wenn soziale Verwerfungen durch Entsende-
arbeitnehmer nachgewiesen sind und in diesen Branchen
Tarifverträge mit einer mindestens 50-prozentigen Tarif-
bindung gelten. Dazu stehe ich uneingeschränkt. Die
Baubranche ist ein solches positives Beispiel. Die 1996
geschaffenen Voraussetzungen haben sich insoweit be-
währt. Diese sind jedoch bei einigen der Branchen, die
jetzt in das AEntG aufgenommen werden sollen, nicht
gegeben. So liegt im Fall der Aus- und Weiterbildungs-
branche die Tarifbindung unter 50 Prozent. Und im Fall
der Großwäschereien sowie des Wach- und Sicherheits-
gewerbes weicht die gesetzliche Branchendefinition
vom Geltungsbereich des zugrunde gelegten Mindest-
lohntarifvertrages ab.
Gute Arbeit muss anständig bezahlt werden. Ich
glaube aber wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes
daran, dass die Tarifvertragsparteien besser als der Staat
in der Lage sind, die angemessenen Regelungen zu tref-
fen. Dieses Vermögen wird ihnen abgesprochen, auch
durch die vorgesehene Differenzierung nach Art der Tä-
tigkeit und damit der Erstreckung mehrerer Lohngrup-
pen.
Beide Gesetzentwürfe sehen vor, dass nach Art der
Tätigkeiten (Berufe), nach Regionen und dem Kriterium
„gelernt – ungelernt“ differenziert werden kann. Die Er-
streckung mehrerer Lohngruppen ermöglicht faktisch
die Erstreckung umfangreicher horizontaler Lohngitter.
Ein Branchenmindestlohn im eigentlichen Sinne ist bei
einer solchen Erstreckung nicht mehr gegeben. Nur das
unterste Entgelt in einer Branche und in einer Region
kann ein Mindestentgelt sein. Eine staatliche Festlegung
ganzer Lohngitter verletzt die Tarifautonomie, die den
Tarifvertragsparteien die Festlegung eines tätigkeits-
adäquaten Entgelts zu Recht vorbehält. Ein so weitge-
hender staatlicher Eingriff ist auch sozialpolitisch nicht
gerechtfertigt, da soziale Verwerfungen in höheren
Lohngruppen ausgeschlossen sind. Es ist deshalb auch
kein anderes Land bekannt, in welchem der Staat im
Rahmen von Mindestlöhnen eine solche Differenzierung
vornehmen würde. Die Möglichkeit der Erstreckung
mehrerer Lohngruppen lädt zudem dazu ein, Anträge auf
Erstreckung eines Tarifvertrages zum bloßen Zweck der
Verhinderung von Wettbewerb zu stellen und damit zu
instrumentalisieren. Auch dies hat das unrühmliche Bei-
spiel des Postmindestlohnes deutlich gezeigt.
Durch beide Gesetzentwürfe wird die Möglichkeit er-
öffnet, dass sich der Staat mehr und mehr in die Lohnfin-
dung einmischt. Genau dies wollten die Mütter und Vä-
ter des Grundgesetzes verhindern. Ich könnte weitere
rechtliche und politische Bedenken anführen. Bereits die
vorgenannten sind für mich persönlich jedoch so
schwerwiegend, dass ich den heute zur Abstimmung ste-
henden Gesetzentwürfen nicht zustimmen kann.
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Die funktionie-
rende Tarifautonomie ist seit Jahrzehnten eine der zen-
tralen Säulen der sozialen Marktwirtschaft in Deutsch-
land. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für unser
erfolgreiches wirtschaftliches und gesellschaftliches
Ordnungsmodell genießt sie zu Recht hohen Verfas-
sungsrang und hat zwei Seiten. Die positive Koalitions-
freiheit gibt Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften
das Recht, frei von politischen Diktaten und staatlicher
Einflussnahme für ihre freiwilligen Mitglieder eigenver-
antwortlich und auf gleicher Augenhöhe Mindestarbeits-
bedingungen zu vereinbaren. Die negative Koalitions-
freiheit sichert zugleich das Recht von Arbeitnehmern
und Arbeitgebern, nicht Mitglied einer Koalitionspartei
zu sein.
Fast zwanzig Jahre lang habe ich in der Vergangenheit
als Unternehmer und als gewählter Arbeitgebervertreter
in herausgehobener Stellung selbst aktiv tarifpolitische
Verantwortung wahrnehmen dürfen. Aus dieser intensi-
ven persönlichen Erfahrung konnte ich die Vorzüge
deutscher Tarifautonomie für Beschäftigte und Unter-
nehmen selbst hautnah erleben.
Nach sorgfältiger Abwägung kann ich den vorliegen-
den beiden Branchenmindestlohngesetzentwürfen des-
halb nicht zustimmen. Denn sie gefährden meines Er-
achtens die funktionierende deutsche Tarifautonomie
ohne Not und sachliche Rechtfertigung, weil sie nicht in
ausreichendem Maße sicherstellen, dass auch künftig
Tarifverträge grundsätzlich Vorrang vor staatlich festge-
setzten Mindestlöhnen genießen bzw. dass fremdbe-
stimmte Tarifverträge oder Arbeitsbedingungen tatsäch-
lich nur ausnahmsweise bei einem nachgewiesenen
erheblichen Öffentlichen Interesse wie beispielsweise
der Verhinderung von sozialen Verwerfungen durch
Lohndumping ausländischer Entsendearbeitnehmer auf
nicht Tarifgebundene erstreckt werden.
Darum habe ich auch verfassungsrechtliche Beden-
ken.
Zugleich bergen die Gesetzentwürfe die große Ge-
fahr, dass die unabdingbare Verhandlungssymmetrie von
Gewerkschaften und Arbeitgebern empfindlich gestört
wird und dass im Falle von Tarifkonkurrenz einseitig in
eine pluralistische Tariflandschaft eingegriffen werden
kann. Auch habe ich insbesondere nach den jüngsten Er-
fahrungen des Postmindestlohns begründete wirtschafts-
und beschäftigungspolitische Zweifel, ob bei allen der
nun in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufgenomme-
nen Branchen hierfür eine tatsächliche Notwendigkeit
besteht. Vielmehr fürchte ich, dass die Verfahren beider
Gesetze zur Abschottung von Märkten und Verhinde-
rung fairen Wettbewerbs instrumentalisiert werden kön-
nen. Die Zeche hierfür zahlen am Ende vor allem der
Mittelstand, die Beschäftigten und Verbraucher.
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Die funktio-
nierende Tarifautonomie ist seit Jahrzehnten eine der
zentralen Säulen der sozialen Marktwirtschaft in
Deutschland. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für
unser erfolgreiches wirtschaftliches und gesellschaftli-
ches Ordnungsmodell genießt sie zu Recht hohen Ver-
fassungsrang. Sie drückt sich in zweifacher Weise aus:
Die positive Koalitionsfreiheit gibt Arbeitgeberverbän-
den und Gewerkschaften das Recht, frei von politischen
21720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
Diktaten und staatlicher Einflussnahme für ihre freiwil-
ligen Mitglieder eigenverantwortlich und auf gleicher
Augenhöhe Mindestarbeitsbedingungen zu vereinbaren.
Die negative Koalitionsfreiheit sichert das Recht von Ar-
beitnehmern und Arbeitgebern, nicht Mitglied einer
Koalitionspartei zu sein.
Der Erhalt der Tarifautonomie war Grundlage meiner
intensiven Mitarbeit in den beiden Koalitionsarbeits-
gruppen „Arbeitsmarkt“ und „AEntG – Branchenerwei-
terung“. Dabei stand ich einer Regelung auf Branchen-
basis grundsätzlich positiv gegenüber und habe die in
der Arbeitsgruppe der Koalition besprochenen Be-
schlüsse zu Mindestlöhnen in fünf Branchen auch mitge-
tragen. Allerdings kam für mich von Anfang an nur eine
Lösung in Betracht, die den Vorrang von Tarifverträgen
vor staatlicher Lohnfestsetzung unangetastet lässt. Tarif-
verträge dürfen nicht durch staatliches Handeln gebro-
chen werden. Dieser Grundsatz wird durch die beiden
Gesetzesvorlagen verletzt. Im MiArbG wird der klare
und eindeutige Tarifvorrang in § 8 Abs. 2 gestrichen und
durch eine sehr einschränkende Übergangsregelung er-
setzt. Im neuen § 7 des AEntG soll die Rechtsverord-
nung künftig Vorrang vor Tarifverträgen haben und un-
terwirft auch die Arbeitgeber und Arbeitnehmer den
Festsetzungen der Rechtsverordnung, die an einen ande-
ren, abweichenden Tarifvertrag gebunden sind.
Staatliche Lohnfestlegungen müssen die absolute
Ausnahme bleiben. Sie lassen sich schon aus verfas-
sungsrechtlichen Gründen nur dann rechtfertigen, wenn
nachgewiesenermaßen ein erhebliches öffentliches Inte-
resse besteht. Dies ist beispielsweise bei der Verhinde-
rung sozialer Verwerfungen durch Lohndumping auslän-
discher Entsendearbeitnehmer der Fall. Mit den beiden
Gesetzentwürfen kann eine Entwicklung in Gang gesetzt
werden, die die Verhandlungssymmetrie von Gewerk-
schaften und Arbeitgebern empfindlich stört und zu ei-
ner Schwächung der Tarifautonomie in Deutschland füh-
ren kann.
Aus den genannten Gründen kann ich den beiden Ge-
setzesvorlagen nicht zustimmen.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Die Tarifautono-
mie ist eine tragende Säule der sozialen Marktwirtschaft
in Deutschland. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung
für unser erfolgreiches wirtschaftliches und gesellschaft-
liches Ordnungsmodell genießt sie zu Recht hohen Ver-
fassungsrang. Die zu beschließenden Gesetzesänderun-
gen geben Löhnen, die durch Rechtsverordnung
festgesetzt werden, mithin diesen Ministerentscheidun-
gen Vorrang vor den Einigungen der Tarifparteien. Als
Ökonom sehe ich diese Problematik im Kontext der wei-
ter gehenden wirtschaftlichen Problematik von Mindest-
löhnen, die der Markträumung im Wege stehen und mit-
hin Arbeitsplätze im unteren Leistungssegment kosten.
Mir liegt daran, im Rahmen dieser Erklärung klarzu-
stellen, dass ich den heute zu treffenden Beschluss für
falsch halte. Gleichzeitig beuge ich mich aber der Mehr-
heitsmeinung der Fraktion, insbesondere weil ich das
umfangreiche Potential sehe, gegenteilige Entscheidun-
gen in Wahlkampagnen zu instrumentalisieren.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Lockerung des
Verbots wiederholter Befristungen
– Antrag: Befristete Arbeitsverhältnisse be-
grenzen, unbefristete Beschäftigung stärken
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Was verbinden Sie
mit dem Bild des Hahnenkampfes? Die Altsprachler un-
ter Ihnen werden an die Antike erinnert. Schon bei Julius
Cäsar ist in „De bello gallico“ vom Kampf der Hähne
die Rede. Die Tierfreunde unter uns wissen darum, dass
Hahnenkämpfe eine Tierquälerei darstellen und deshalb
verboten sind. Die Freunde der Poesie sehen die meta-
phorische Bedeutung, die für eine Auseinandersetzung
zwischen zwei geltungsbewussten Kontrahenten um
Einfluss und Status steht.
Und ich? Ich denke an die Fraktionen der Linken und
der FDP, jedenfalls in der heutigen Debatte. Denn Sie
befehden sich wie das liebe Federvieh, in diesem Fall
aufgehängt an der Frage einer Änderung des Teilzeit-
und Befristungsgesetzes. Dieses Gesetz eröffnet derzeit
die Möglichkeit des Abschlusses von befristeten Verträ-
gen. Ein solcher ist zulässig, wenn ein sachlicher Grund
vorliegt. Diese Gründe sind eng abgegrenzt. So können
unter anderem öffentliche Arbeitgeber befristete Arbeits-
verträge abschließen, wenn der Arbeitnehmer aus Haus-
haltsmitteln vergütet wird, die haushaltsrechtlich für eine
befristete Betätigung bestimmt sind, und der Arbeitnehmer
entsprechend beschäftigt wird. Eine frühere Beschäftigung
bei demselben Arbeitgeber ist hierbei kein Hinderungs-
grund.
Das Gesetz gestattet auch die Befristung ohne sachli-
chen Grund bis zur Dauer von zwei Jahren mit einer
höchstens dreimaligen Verlängerung innerhalb dieser
Frist. Eine Befristung ist dann unzulässig, wenn mit
demselben Arbeitgeber zuvor ein befristetes oder unbe-
fristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat.
Hier betreten nun unsere Kontrahenten die Arena.
Ihre Forderungen könnten gegensätzlicher nicht sein.
Nach dem Willen der Fraktion der FDP soll die Mög-
lichkeit einer sachgrundlosen Befristung nahezu unbe-
schränkt ausgeweitet, nach dem Willen der Fraktion der
Linken ersatzlos gestrichen werden. Die Lektüre beider
Anträge offenbart eine sehr einseitige Weltsicht nach
dem Motto „Schwarz-Weiß“. Eine solche Sichtweise ist
einfach. Sie wird nur nicht der Realität gerecht. Denn
dort geht es um Betroffene, deren Interessen aus jeweils
legitimen Gründen abweichen.
Ein unbefristeter Vertrag ist aus Sicht eines Arbeit-
nehmers natürlich einem befristeten vorzuziehen. Denn
er gibt größere Beschäftigungssicherheit und damit auch
persönliche Sicherheit. Zwar kann auch ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis durch Kündigung beendet werden. Das
Ende ist ihm aber nicht schon von Beginn an eigen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21721
(A) (C)
(B) (D)
Arbeitgeber sind dagegen eher zögerlich, sich in allen
Fällen unbefristet zu binden. Denn eine Anpassung zum
Beispiel an konjunkturelle Veränderungen, wie wir sie
jetzt erleben, ist damit nur noch eingeschränkt möglich.
Sie stellen deshalb tendenziell weniger Arbeitnehmer ein,
wenn sie generell gezwungen sind, unbefristete Arbeits-
verträge abzuschließen.
Deshalb muss innerhalb des rechtlichen Rahmens
eine Abwägung zwischen dem legitimen Wunsch nach
Absicherung und der Beschäftigungswirkung vorgenom-
men werden. Im Teilzeit- und Befristungsgesetz sind
diese unterschiedlichen Interessen von Arbeitnehmern
einerseits und Arbeitgebern andererseits miteinander in
Einklang gebracht worden. Der Gesetzgeber hat beiden
Interessen Rechnung getragen. Eine solche Interessenab-
wägung findet in der Arena unserer beiden Antragsteller
nicht statt. Beide schreiben sich lediglich die Interessen
jeweils eines der Beteiligten auf das Gefieder; Verzei-
hung: die Fahne. Und so prallen in der heutigen Debatte
die Gegensätze aufeinander.
Die Fraktion der FDP fordert, ein Verbot wiederholter
Beschäftigung vor Ablauf von drei Monaten einzuführen
und damit die Befristungsmöglichkeiten nahezu unbe-
schränkt auszuweiten. Damit soll zwar vermeintlich den
Interessen von Unternehmen Rechnung getragen werden,
nicht jedoch von Arbeitnehmern. Denn eine solche grund-
sätzliche Ausweitung birgt die Gefahr, dass die befristete
Beschäftigung zum Dauerzustand wird. Aus diesem
Grund muss die Möglichkeit der sachgrundlos befristeten
Arbeitsverträge zum Schutz der Arbeitnehmer beschränkt
werden.
Die Fraktion der Linken will dagegen mit ihrer Forde-
rung nach einer ersatzlosen Streichung der sachgrund-
losen Befristung vermeintlich Arbeitnehmer schützen.
Vermeintlich. Denn was sich auf den ersten Blick als
Schutzmaßnahme darstellt, entpuppt sich bei genauerer
Betrachtung als Bumerang. Befristete Arbeitsverträge
sind besser als keine Arbeitsplätze. Und das wäre die
Konsequenz, wenn es Arbeitgebern gänzlich verboten
wäre, flexibel auf die Entwicklungen am Markt zu re-
agieren. Ihre Forderung würde dazu führen, dass Arbeit-
geber eher weniger Arbeitnehmer beschäftigen und in
florierenden Zeiten Mengen an Überstunden anhäufen
lassen, anstelle in diesen guten Zeiten mehr Arbeitneh-
mer zu beschäftigen. Diese Arbeitnehmer erhalten mit
ihrem befristeten Arbeitsvertrag eine Chance. Diese
Chancen würden die Linken vernichten. Die seinerzeit
rot-grüne Bundesregierung hat es in der Antwort auf
eine Kleine Anfrage der FDP am 16. Februar 2005 wie
folgt formuliert:
Die Regelung des § 14 Abs. 2 Teilzeit- und Befris-
tungsgesetz gibt Arbeitgebern, die sich zunächst
nicht zu unbefristeten Einstellungen entschließen
können, die Möglichkeit, bis zur Dauer von zwei
Jahren befristete Arbeitsverträge abzuschließen, die
nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt
sein müssen. Das ist vor allem eine beschäftigungs-
politisch sinnvolle Alternative zur Überstundenarbeit.
Zugleich bekommen Arbeitssuchende die Gelegen-
heit, wieder im Berufsleben Fuß zu fassen, ihre
Eignung und Leistungsfähigkeit zu beweisen und
damit ihre Chancen auf eine unbefristete Weiterbe-
schäftigung zu verbessern.
Meine Damen und Herren von den Linken und der
FDP, eine Interessenabwägung liegt Ihren Anträgen nicht
zugrunde. Es geht Ihnen also offensichtlich nicht um die
Sache, sondern allein um Einfluss und Status – wie eben
bei einem Hahnenkampf. Wir befinden uns jedoch nicht in
einer Arena, sondern im wirklichen Leben. Und dem wer-
den Sie mit Ihren Anträgen nicht gerecht, die wir, die Mit-
glieder der CDU/CSU-Fraktion, ablehnen werden.
Schwarz-Weiß-Malerei ist mit uns nicht zu machen.
Wir stellen uns der Realität. Diese zeigt das Bild, dass
sich eine Anzahl von Betrieben und Unternehmen in-
folge der internationalen Finanzmarktkrise aktuell in
wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden. Diese sehen
sich laut einer Analyse des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages momentan nicht in der Lage, Mit-
arbeiter am Ende ihres befristeten Arbeitsvertrages fest
einzustellen. Der DIHK schlägt deshalb vor, zumindest
für eine Übergangszeit eine Verlängerung von sach-
grundlosen Befristungen über den Zeitraum von zwei
Jahren zu ermöglichen. Die Möglichkeit, befristete Ver-
träge nochmals sachgrundlos um zwei Jahre zu verlän-
gern, sollte nach diesem Vorschlag zumindest für die
Jahre 2009 und 2010 eingeführt werden.
Der DIHK weist auch darauf hin, dass sich die derzei-
tige Regelung, wonach eine sachgrundlose Befristung
beim selben Unternehmen nur einmal im Erwerbsleben
möglich ist, in der aktuellen Situation als problematisch
erweisen könnte. Denn wenn heute aufgrund einer
schwachen Auftragssituation ein Mitarbeiter am Ende
eines befristeten Vertrages nicht weiter beschäftigt wer-
den könne, könnte dieser Mitarbeiter zu einem späteren
Zeitpunkt nicht mehr erneut befristet eingestellt werden,
wenn sich Silberstreifen am Horizont zeigen würden. Da
aber angesichts der Tiefe der Krise auch am Beginn der
Erholungsphase noch Vorsicht bei Festeinstellungen vor-
herrschen dürfte, könnte diese Regelung den Wiederauf-
bau von Beschäftigung erschweren. Wohlgemerkt: Der
DIHK fordert keine unbeschränkte Ausweitung wie die
FDP.
Ich finde, dass wir beide Vorschläge gemeinsam ernst-
haft prüfen sollten. Die Bundesregierung hat sich zu
Recht die Beschäftigungssicherheit als wichtiges Ziel des
Stabilitätspaktes gesetzt. Sollte mit den vorgeschlagenen
Regelungen Arbeitslosigkeit – übrigens auch daraus resul-
tierende Transferleistungen – vermieden werden können,
sollten wir diese ohne ideologische Scheuklappen be-
handeln. Meine Damen und Herren von den Linken,
liebe Kollegen aus der FDP, leider haben Sie diese ideo-
logischen Scheuklappen nicht abgelegt. Wir werden des-
halb die vorliegenden Anträge ablehnen, nach denen nun
wirklich kein Hahn kräht.
Josip Juratovic (SPD): Wir debattieren heute über
Anträge von der FDP und der Linken zum Thema befris-
tete Arbeitsverhältnisse. Die FDP möchte sachgrundlos
befristete Arbeitsverhältnisse häufiger ermöglichen, die
Linke möchte sie abschaffen und begründete Befristun-
21722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
gen erschweren. Schon diese Bandbreite zeigt, dass es
vernünftig ist, hier zurzeit keine Änderungen herbeizu-
führen.
Welche Motive hatte der Gesetzgeber, befristete Ar-
beitsverträge zu gestatten? Befristete Arbeitsverträge er-
möglichen den Unternehmern, flexibel auf schwankende
und unsichere Auftragslagen zu reagieren. Befristete Ar-
beitsverhältnisse sind eine sinnvolle Alternative zu
Überstunden und zur Auslagerung von Aufträgen. Für
Arbeitnehmer sind sie zudem eine Chance für einen Ein-
stieg in ein längeres Arbeitsverhältnis. Im Jahr 2006
wurden 45 Prozent aller Abgänger aus Befristung in
demselben Betrieb übernommen. Befristete Arbeitsver-
träge sind also eine Brücke zur Dauerbeschäftigung.
Natürlich sehe ich auch die Nachteile dieser Arbeits-
verhältnisse. Es ist der Wunsch jeder Arbeitnehmerin
und jedes Arbeitnehmers, eine Daueranstellung zu erhal-
ten. Denn häufig sind befristete Arbeitsverhältnisse
schlechter entlohnt. Außerdem erhalten Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnis-
sen viel seltener die Möglichkeit zur Teilnahme an Wei-
terbildungsmaßnahmen.
Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag der FDP ab, weil
befristete Arbeitsverträge die Ausnahme und unbefris-
tete Beschäftigung der Normalfall bleiben müssen. Die
FDP schlägt vor, dass die sachgrundlose Befristung nach
einer kurzen dreimonatigen Unterbrechung wiederholt
zulässig ist. Dies hätte eine erhebliche Ausweitung be-
fristeter Arbeitsverhältnisse zur Folge, und das wollen
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land nicht. Außerdem würde dadurch die Arbeitslosen-
versicherung belastet, da die dreimonatige Unterbre-
chung wohl hauptsächlich durch die Zahlung von Ar-
beitslosengeld überbrückt wird. Das vom Unternehmer
zu tragende Risiko schwankender Auftragslagen würde
weitgehend auf den Arbeitnehmer und die Arbeitslosen-
versicherung abgewälzt. Würden wir dem Antrag zu-
stimmen, so würden wir wieder eine Kette befristeter
Arbeitsverhältnisse zulassen. Nach drei Monaten Pause
wäre dann wieder eine bis zu zwei Jahre befristete An-
stellung beim gleichen Arbeitgeber zulässig. Warum
sollte ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer dann noch un-
befristet einstellen? Kurzum: Der Antrag der FDP ist
nicht zu Ende gedacht und ist eine Gefahr für die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer.
Auch der Antrag der Linken fordert Änderungen im
Teilzeit- und Befristungsgesetz. Nur wollen die Linken
die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Ar-
beitsverträgen. Weiter wollen sie befristete Arbeitsver-
träge erschweren und den Arbeitgeber verpflichten,
befristet Beschäftigte unbefristet weiterzubeschäftigen.
Diese generelle Pflicht zur Weiterbeschäftigung befristet
Beschäftigter auf unbefristeten Stellen wäre aber ein
Eingriff in die unternehmerische Freiheit, die im Grund-
gesetz garantiert ist. Im Einzelfall kann heute schon der
Betriebsrat darauf Einfluss nehmen, dass ein gleich ge-
eigneter befristet Beschäftigter eine zu besetzende unbe-
fristete Stelle erhält. Aus meiner langjährigen Erfahrung
als Betriebsrat weiß ich, dass dies auch genutzt wird.
Unser politisches Ziel muss es sein, die Rahmenbedin-
gungen so zu gestalten, dass die Menschen in sichere
Beschäftigung kommen, und zwar aufgrund ihrer per-
sönlichen Fähigkeiten und Qualifikation und nicht durch
politische Zwangsverordnung.
Die Begründung des Antrags der Linken macht ein-
mal mehr deutlich: Glaube keiner Statistik, die du nicht
selber verfälscht hast. Der von den Linken beklagte An-
stieg befristeter Beschäftigung ist nämlich nahezu aus-
schließlich auf eine veränderte Erfassungsmethodik seit
2005 zurückzuführen. Die SPD-Fraktion will Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer schützen und gleichzeitig
die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen ermöglichen.
Deswegen lehnen wir die Anträge von der FDP und der
Linken ab.
Anette Kramme (SPD): „Allen Menschen Recht ge-
tan, ist eine Kunst, die niemand kann“ – weiß der Volks-
mund seit langem. Angesichts der vorliegenden konträ-
ren Anträge wird er wohl wieder einmal Recht behalten.
Die Linke will die Möglichkeiten zur Befristung von
Arbeitsverhältnissen massiv begrenzen. Die FDP will
die Möglichkeiten zur Befristung von Arbeitsverhältnis-
sen massiv ausweiten. Was ist in solchen Fällen die beste
Lösung? Das zu tun, wovon man selbst überzeugt ist, um
wenigstens mit sich selbst im Reinen zu sein.
Wir Sozialdemokraten setzen uns in dieser Frage tra-
ditionell für möglichst ausgewogene Regelungen ein.
Unser Ziel ist in erster Linie die unbefristete und sozial
abgesicherte Arbeit. Dies ist wichtig für die Lebenspla-
nung der Menschen. Wer sich von Job zu Job hangelt,
kann bestimmte Projekte im Leben nur schwer angehen.
Die Familienplanung wird oft hintenangestellt, größere
Anschaffungen werden meist nicht gewagt, oder man
bekommt kaum Kredite bewilligt, etc. Studien belegen
zudem, dass befristet Beschäftigte oft schlechter bezahlt
werden und sich seltener weiterbilden.
Wir wollen deshalb einen Ausgleich schaffen zwi-
schen dem Schutz der Arbeitnehmer einerseits und ande-
rerseits dem Bedürfnis der Unternehmen, auf Markt-
schwankungen mit etwas Flexibilität zu reagieren.
Deshalb haben wir uns 2001 bei der Auflage des Teil-
zeit- und Befristungsgesetzes für eine maßvolle Begren-
zung von Befristungen entschieden. Das TzBfG regelt in
§ 14 Abs. 1, wann ein sachlicher Grund zur Befristung
vorliegt. Acht zulässige Sachgründe werden beispielhaft
genannt. § 14 Abs. 2 eröffnet zudem die Möglichkeit zur
sachgrundlosen Befristung eines Arbeitsvertrags, im-
merhin bis zu maximal zwei Jahren.
Letzteres kann man wie Sie, liebe Kollegen von der
Linkspartei, durchaus kritisch sehen. Persönlich bin auch
ich der Meinung, dass sich jede vereinbarte Befristung
sachlich erklären lassen sollte. Das ist übrigens auch Po-
sition der SPD-Fraktion. Ihre Forderung hingegen, ver-
ehrte Kollegen der FDP, die sachgrundlose Befristung
auszuweiten, halte ich für verfehlt!
Schon 2001, als wir das Teilzeit- und Befristungsrecht
schufen, existierte die von Ihnen vorgeschlagene Rege-
lung im Beschäftigungsförderungsgesetz. Wir haben uns
damals bewusst dagegen entschieden, sie ins TzBfG auf-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21723
(A) (C)
(B) (D)
zunehmen. Denn sie schützt gerade nicht vor Kettenbe-
fristungen, wie Sie behaupten. In der Praxis liefe Ihr
Vorschlag darauf hinaus, dass ein Arbeitnehmer befristet
beschäftigt ist, dann drei Monate arbeitslos bleibt, um
anschließend neu befristet eingestellt zu werden. Die
Kosten für die Überbrückung müsste die Arbeitslosen-
versicherung tragen. Das ist nun gerade nicht das Ziel.
Im Übrigen ist Ihre Darstellung vom armen Hascherl,
das nicht auf eine befristete Stelle eingestellt werden
könne, sobald es nur einen einzigen Tag als Student im
gleichen Unternehmen gejobbt hatte, polemisch und
zum Teil einfach falsch. Weder Ausbildung noch Be-
triebspraktika von Studenten gelten als Arbeitsverhältnis
im Sinne des TzBfG. Die Betroffenen können also nach
dem Ende ihrer Ausbildung oder ihres Jobs durchaus
sachgrundlos befristet eingestellt werden. Etwas anderes
gilt zwar für sogenannte Werkstudenten oder Ferienjob-
ber, bei denen die entgeltliche Arbeitsleistung im Vor-
dergrund steht. Die können später tatsächlich nicht mehr
auf eine sachgrundlos befristete Stelle eingestellt wer-
den. Doch ich gehe fest davon aus, dass jeder Arbeitge-
ber, der einen Ex-Werkstudenten oder Ex-Ferienjobber
weiterbeschäftigen möchte, einen Sachgrund für die Be-
fristung findet. § 14 Abs. 1 TzBfG bietet Möglichkeiten.
Eine Befristung ist zum Beispiel möglich, wenn sie im
Anschluss an eine Ausbildung oder ein Studium erfolgt
– Nr. 2 – oder zur Erprobung dient – Nr. 5 –.
Die geforderten Änderungen der FDP sind aus meiner
Sicht nicht nur unnötig für den dargestellten Fall. Sie
wären auch ein falsches arbeitsmarktpolitisches Signal.
Deshalb empfehlen wir die Ablehnung des Antrags.
Es spricht einiges dafür, sachgrundlose Befristungen
künftig auszuschließen. Das steht sogar im Koalitions-
vertrag. Wie wärs, liebe Kollegen von der Union? Wol-
len wir das noch mal anpacken? Nachdem wir uns jetzt
schon so friedlich auf Mindestlöhne und Entsendegesetz
geeinigt haben?
Es ist auch überlegenswert, Arbeitgeber dazu zu ver-
pflichten, einen befristet Beschäftigten zu übernehmen,
sobald eine entsprechende unbefristete Stelle frei wird.
Zum Teil funktioniert das schon heute dank des Be-
triebsverfassungsgesetzes – § 99 Abs. 2 Nr. 3 –. Ein Be-
triebsrat kann die Zustimmung zur Einstellung auf einen
unbefristeten Arbeitsplatz verweigern, wenn ein gleich
geeigneter befristet Beschäftigter nicht berücksichtigt
wurde.
Die Verabschiedung von AEntG und MiArbG heute
war ein Erfolg für die Arbeitnehmer in den Niedriglohn-
branchen. Damit haben wir einen wichtigen Punkt aus
dem Koalitionsvertrag erfüllt. Die Abschaffung sach-
grundloser Befristungen wäre ein weiterer Etappensieg
im Rennen um Arbeitnehmerrechte und Koalitionstreue.
Liebe Kollegen der Union, geben Sie Ihrem Herzen ei-
nen Stoß.
Dirk Niebel (FDP): Die Finanzkrise ist auf dem Ar-
beitsmarkt angekommen. Und auch die nahe Zukunft
sieht trüb aus. Zwar sinkt das Arbeitskräfteangebot aus
demografischen Gründen, aber schon in zwei Jahren
werden nach den Prognosen wieder 4 Millionen Men-
schen arbeitslos sein. Deshalb müssen wir jetzt alle
Möglichkeiten nutzen, um Beschäftigung zu stabilisie-
ren. Die Zahl der Kurzarbeiter ist überdurchschnittlich
gestiegen. Mit dem Kurzarbeitergeld können Unterneh-
men, die konjunkturbedingt in Schwierigkeiten geraten
sind, ihre Mitarbeiter bis 18 Monate halten, ohne ihnen
kündigen zu müssen. Das zeigt doch, dass Unternehmen
sehr großes Interesse an ihrem eingearbeiteten, qualifi-
zierten Personal haben und Instrumente brauchen, die ih-
nen bei veränderter Auftragslage Flexibilität ermögli-
chen.
Unser Gesetzentwurf ist ein effektives Instrument für
mehr Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt. Es ist keine
Satire, sondern Realität, dass derzeit ein Arbeitnehmer
nicht auf eine sachgrundlos befristete Stelle eingestellt
werden kann, wenn er als Student bei diesem Unterneh-
men schon einmal befristet beschäftigt war. Sie werden
mir doch zustimmen, dass es besser ist, befristet in Ar-
beit zu sein als unbefristet arbeitslos bleiben zu müssen.
Im Übrigen werden zum Beispiel im öffentlichen Dienst
aus Haushaltsgründen kaum noch Dauerarbeitsverhält-
nisse angeboten. Damit verschlechtern sich die Chancen
für diejenigen weiter, die schon einmal bei einer Ge-
bietskörperschaft befristet beschäftigt waren. In meinem
Wahlkreis ist die Universität Heidelberg der größte Ar-
beitgeber, also das Land Baden-Württemberg. Wer als
Studierender einmal befristet an der Uni beschäftigt war,
kann lebenslänglich nicht mehr auf eine befristete Stelle
beim Land hoffen. Das ist doch schizophren.
Eine befristete sachgrundlose Beschäftigung darf der-
zeit höchstens zwei Jahre dauern. Die Möglichkeit sach-
grundloser Befristung von Arbeitsverträgen ermöglicht
Arbeitsuchenden, insbesondere denen, die länger ar-
beitslos waren, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Sie
können ihre Leistungsfähigkeit beweisen und damit ihre
Chancen auf Weiterbeschäftigung verbessern.
Derzeit wird eine sachgrundlose Befristung ausge-
schlossen, wenn mit dem Arbeitnehmer früher schon ein
befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestan-
den hat. Das führt zu einer Vielzahl von Problemen und
hat insbesondere für ältere Arbeitnehmer große Nach-
teile. Welches Unternehmen hat noch Personalunterla-
gen von vor zwanzig Jahren? Wer nicht gegen dieses Ge-
setz verstoßen will, muss frühere Beschäftigungszeiten
durch mühsame Prozeduren ausfindig machen. Dabei
besteht bei Frauen und Männern die Möglichkeit, dass
sie unter einem anderen Namen schon einmal beschäftigt
waren, wenn sie durch Heirat ihren Nachnamen geändert
haben.
Es ist an der Zeit, diese lebenslange Beschäftigungs-
sperre aufzuheben. Wir sind auch gegen Kettenarbeits-
verhältnisse. Die können wir mit einem Beschäftigungs-
verbot beim ehemaligen Arbeitgeber für eine Frist von
drei Monaten verhindern. Drei Monate reichen völlig
aus. Das ist die bessere Alternative zu einem lebenslan-
gen Arbeitsverbot. Damit haben diejenigen, um die es
hier geht, wenigstens eine Chance, eine Zeit lang be-
schäftigt zu werden und nicht dauerhaft in der Arbeitslo-
sigkeit bleiben zu müssen.
21724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
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(B) (D)
Die aktive Arbeitsmarktpolitik der schwarz-roten Re-
gierung war genauso wenig erfolgreich wie die Arbeits-
marktpolitik der rot-grünen Regierung. Die eine Regie-
rung hat formal abgewirtschaftet, die andere faktisch. Es
ist Zeit für einen Politikwechsel, und den gibt es nur mit
uns, mit der FDP, in den Ländern wie im Bund. Arbeit
muss billiger werden. Steuern und Sozialabgaben müs-
sen gesenkt werden. Und den Bürgerinnen und Bürgern
muss mehr vom Bruttoverdienst bleiben.
Kornelia Möller (DIE LINKE): Deutschland auf dem
Weg zum Land der prekären Arbeitsverhältnisse! Das
galt bereits während des Aufschwungs, und es gilt be-
sonders in Zeiten von Rezession und Wirtschaftskrise.
Deshalb kommt unser Antrag zur Begrenzung befristeter
Arbeitsverhältnisse zum richtigen Zeitpunkt auf die Ta-
gesordnung. Denn wir müssen jetzt handeln.
Weit über 80 Prozent aller Beschäftigten halten ein
unbefristetes Arbeitsverhältnis für einen Bestandteil gu-
ter Arbeit. 80 Prozent! Die Realität hingegen sieht ganz
anders aus: Bereits 2006 hatten wir mehr als 4,6 Millio-
nen befristet Beschäftigte – neben 600 000 Leiharbeite-
rinnen und Leiharbeitern, 6,75 Millionen geringfügig
Beschäftigten und 4,5 Millionen sozialversicherungs-
pflichtigen Teilzeitarbeiterinnen und Teilzeitarbeitern,
die alle ebenfalls zur wachsenden Zahl prekär Beschäf-
tigter zählen. Tendenz steigend.
Die Linke betrachtet nicht nur mit Sorge, dass ein
wachsender Anteil befristeter Beschäftigung das Ar-
mutsrisiko erhöht, welches heute bereits viele Vollzeit-
jobs charakterisiert; siehe JAB-Studie. Befristete
Beschäftigung trägt vor allem dazu bei, Langzeitarbeits-
losigkeit zu verfestigen. Denn aus betriebswirtschaftli-
chen Erwägungen investieren Unternehmen eben nicht
in befristet Beschäftigte, gehen Weiterbildungs-, Qualifi-
zierungs- und andere Personalentwicklungsmaßnahmen
meist an ihnen vorbei. Und daran werden auch die voll-
mundig angekündigten Qualifizierungsprogramme der
Koalition wenig ändern, von denen sich der Arbeits-
minister bereits wieder Vollbeschäftigung verspricht.
Befristete Beschäftigung ist generell mit der Tendenz
beruflichen Kompetenzmangels bzw. -verlusts verbun-
den. Befristete Beschäftigung schränkt den Kündigungs-
schutz ein, benachteiligt besonders jüngere Menschen
und Frauen, verhindert Ansprüche, die aus der Dauer der
Betriebszugehörigkeit resultieren, und sie steht einer
Entscheidung Jüngerer für Familie und Kinder entgegen,
weil die aktuellen Regelungen zum Schutze von Mutter-
und Elternschaft keine Sicherheit bei befristetem Ar-
beitsverhältnis gewährleisten.
All das ist bekannt und weitgehend auch wissen-
schaftlich untermauert, ebenso wie die Ursachen, die den
Druck auf zunehmend schlechtere Arbeit ständig erhö-
hen. Die Ursachen sind im hohen Sockel der Langzeit-
arbeitslosigkeit und natürlich in der Angst vor Hartz IV
zu sehen, in der Angst vor gesellschaftlichem Absturz
und großer Armut, vor Diskriminierung und Willkür.
Wer Erwerbslose in zwei Klassen einteilt, der hat den
Konkurrenzdruck unter den Erwerbslosen und zwischen
ihnen sowie denen, die noch beschäftigt sind, so ver-
schärft, dass die Schwelle, jede noch so schlechte Arbeit
anzunehmen, immer tiefer rutscht. Getreu dem jedem
Humanismus hohnsprechenden Slogan „Jede Arbeit ist
besser als keine“.
Auch deshalb fordern wir: Hartz IV muss weg. Dann
wird es auch leichter, die Zahl befristeter Arbeitsverhält-
nisse wieder einzuschränken, wie es unser Antrag vor-
sieht. Wenn Sie Ihre Ankündigungen einer umfassenden
Qualifizierungsoffensive ernst meinen, dann stimmen
Sie unserem Antrag auf Einschränkung befristeter Ar-
beitsverhältnisse zu. Denn Unternehmen werden vorran-
gig in die Weiterbildung ihrer unbefristet beschäftigten
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen investieren.
Nun zu Ihnen, Herr Arbeitsminister Olaf Scholz:
Hören Sie auf, den Menschen das Märchen von der Voll-
beschäftigung vorzugaukeln! Ihre Regierung ist nicht
einmal in der Lage, die selbst gesetzten Ziele bei den Ar-
beitsmarktprogrämmchen „Jobperspektive“ und „Kom-
munalkombi“ umzusetzen. Optimismus zu verbreiten
und sich der Lächerlichkeit preiszugeben, sind zwei un-
terschiedliche Dinge. Und Ihre absurde Vorstellung von
Vollbeschäftigung dient höchstens als Vorlage für neue
Manipulationen der Arbeitsmarktstatistik. Wir würden
es sehr begrüßen, wenn Sie als Arbeitsminister für aus-
reichende Beschäftigung mit voller Bezahlung sorgen
würden. Nehmen Sie endlich die Ausweitung öffentlich
geförderter Beschäftigung in Ihr Konjunkturprogramm
auf! Stattdessen haben Sie den Schutzschirm für diejeni-
gen, die ihn am dringendsten benötigen, die Langzeit-
arbeitslosen, fahrlässig in die Ecke gestellt. Da stellen
Sie auf der einen Seite 480 Milliarden für die Banken
bereit und reduzieren auf der anderen Seite trotz Rezes-
sion und Entlassungswellen die Beiträge zur Arbeitslo-
senversicherung auf 2,8 Prozent.
Sie blockieren so die finanziellen Mittel für solche
wertvollen Initiativen wie in Berlin. Hier kämpfen enga-
gierte Frauen und Männer im Senat und in den Bezirken
um neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im
Rahmen eines öffentlich geförderten Beschäftigungs-
sektors. Das ist ein Kampf um gute Arbeit, den Sie,
meine Damen und Herren Koalitionäre, über das Fest-
halten an getrennten Rechtskreisen und mit dem Redu-
zieren der Mittel für die Arbeitsmarktpolitik verhindern.
Spannen Sie endlich den Schutzschirm auf für die Bür-
gerinnen und Bürger, stellen Sie endlich die Menschen
in den Mittelpunkt!
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die FDP spricht in ihrem Antrag ein Problem an, für das
tatsächlich eine unkomplizierte Lösung gefunden wer-
den sollte. Wer jemals in einem Unternehmen oder in ei-
ner Behörde zum Beispiel als Student befristet oder auch
unbefristet gearbeitet hat, hat, wenn in diesem Unterneh-
men später wieder eine sachgrundlos befristete Stelle an-
geboten wird, keine Chance auf diesen Job. Es gilt in
diesem Falle ein Wiedereinstellungsverbot, und zwar le-
benslang. Dadurch können den Betroffenen Praxiserfah-
rungen zum Beispiel während der Ausbildung zum
Nachteil gereichen: Sie knüpfen Kontakte, um hinterher
vor verschlossenen Türen zu stehen. Gleiches gilt für
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21725
(A) (C)
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Arbeitnehmer, die nach einer Phase der Arbeitslosigkeit
einen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben suchen und den
bei einem vorherigen Arbeitgeber finden könnten.
Auch wir Grünen glauben, dass der lebenslange Aus-
schluss nicht notwendig ist, um unerwünschte sach-
grundlose Kettenarbeitsverträge zu verhindern. Ob eine
Wartefrist von drei Monaten eine angemessene Dauer
ist, um diese Kettenverträge auszuschließen, sollten wir
während der Beratungen im Ausschuss jedoch noch dis-
kutieren; wir haben bislang eine Frist von sechs Monaten
für sinnvoll gehalten.
Diametral entgegengesetzt zum Antrag der FDP sind
die Forderungen der Linken. Die Linke fordert unter an-
derem, die sogenannte sachgrundlose Befristung ganz
abzuschaffen, und darüber hinaus die Einschränkung be-
fristeter Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.
Die geforderte Abschaffung der sachgrundlosen Be-
fristung ist aus meiner Sicht aber ein Stochern im Nebel.
Sie wissen genauso wenig wie ich, wie häufig und mit
welcher Intention Verträge sachgrundlos befristet wer-
den. Die Vermutung, ein Verbot würde schon die Richti-
gen treffen, kann aber nicht zielführend sein. Es gibt
eben Fälle, in denen eine befristete Beschäftigung nicht
nach den geltenden Sachgründen gerechtfertigt werden
kann. Gäbe es die sachgrundlose Befristung in diesen
Fällen nicht, wäre in den allermeisten Fällen die Konse-
quenz, dass diese Stellen überhaupt nicht angeboten
würden.
Denken Sie zum Beispiel an Existenzgründer und
Existenzgründerinnen sowie kleine Unternehmen, die
ihre Aktivitäten ausweiten, aber nicht sicher sein kön-
nen, dass ihr Erfolg von Dauer ist. Das sind typische
Konstellationen, die mit großer unternehmerischer Unsi-
cherheit verbunden sind. Da ist es natürlich naheliegend
und sinnvoll, zusätzliche Mitarbeiter zunächst einmal
befristet einzustellen, um bei zurückgehenden Aufträgen
reagieren zu können. Müsste der Unternehmer oder die
Unternehmerin in einer solchen Situation die Verantwor-
tung für ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis ein-
gehen, würden er oder sie auf den Versuch einer Expan-
sion in den meisten Fällen wohl verzichten. Das Risiko
wäre einfach zu hoch.
Allerdings sehe ich ebenso wie die Linke mit großem
Unbehagen den hohen Anteil befristeter Beschäftigung
zum Beispiel im öffentlichen Dienst. Geradezu skanda-
lös ist zum Beispiel die Praxis einiger Länder, Lehrer als
befristete Saisonarbeiter zu beschäftigen und in den
Sommerferien zulasten der Bundesagentur für Arbeit auf
die Straße zu setzen. Hinzu kommt, dass insbesondere
im öffentlichen Dienst die Chancen von befristet Be-
schäftigten auf eine unbefristete Stelle schlecht sind: Nur
etwa jedem Vierten gelingt binnen drei Jahren der Über-
gang auf einen unbefristeten Arbeitsplatz. In anderen
Branchen sieht das ganz anders aus, beispielsweise im
produzierenden Gewerbe oder bei distributiven Dienst-
leistungen.
Befristete Beschäftigung kann ein wichtiges Instru-
ment sein, um den Arbeitsmarkt insbesondere für Be-
rufseinsteiger zugänglicher zu machen. Die Begleitfor-
schung zeigt, dass dies in vielen Branchen eine
dauerhafte Perspektive eröffnet. Das ist aber – und das
sehe ich auch – nicht überall der Fall, und das sollten wir
ändern. Die Ausschussberatungen bringen uns diesem
Ziel hoffentlich näher.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung: Infra-
struktur und Marketing für den Wassertouris-
mus in Deutschland verbessern (Tagesord-
nungspunkt 19)
Renate Blank (CDU/CSU): Ideale Segelwinde, ge-
mütliche Häfen, lange Sandstrände, idyllische Buchten
– ich sehe hier schon einige sehnsuchtsvolle Blicke –,
aber nein, ich rede jetzt nicht von einer romantischen
Südseeinsel, sondern von der Ostsee, einem der schöns-
ten Segelreviere der Welt. Ja, das Wassersportland
Deutschland, es ist vielfältig, hält Überraschungen bereit
und liegt im Trend.
„Das vornehmste Element ist das Wasser“; das wussten
schon die alten Griechen – Pindar, etwa um 518 bis 442
v. Chr., altgriechischer Lyriker, Komponist. Deutschland
bietet in der Tat „vornehmste“ Bedingungen für den
Wassersport: Ein Wasserstraßennetz von 10 000 Kilome-
tern Länge, rund 2 400 Kilometer Küste und 18 Inseln
sowie eine der größten und schönsten zusammenhängen-
den Gewässerlandschaften Europas in Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern bilden einen einzigartigen
Standortvorteil für Deutschland. 800 Fahrgastschiffe mit
200 000 Plätzen bieten Fahrten auf Flüssen und Seen an,
und 750 000 Sport- und Freizeitboote garantieren indi-
viduelle Entdeckungen. Acht der 13 deutschen Na-
tionalparks, die direkt am Wasser liegen oder große
Wasserflächen einschließen, sind ideale Gebiete für
Wattwanderungen, Vogelbeobachtungen, Radtouren
oder Kanuwanderungen. Auch Süddeutschland bietet
viele und interessante Wassersportmöglichkeiten. Zahl-
reiche Städte an Küsten, Seen, Kanälen oder Flüssen la-
den zu kulturellen Erlebnissen ein. Keine Frage:
Deutschland ist ein sehr interessantes Wassersport- und
Urlaubsrevier. Leider sind die vielfältigen Möglichkei-
ten, mit denen das Wasser touristisch genutzt werden
kann, noch lange nicht ausgeschöpft.
Eine große Stärke im internationalen Wettbewerb sind
dabei unsere zentrale Lage in Europa und die guten Ver-
kehrsanbindungen. Kurz gesagt: Die natürlichen geogra-
fischen Besonderheiten in Deutschland machen das
Wasser zum Ursprung für touristisch vielfältige Mög-
lichkeiten in Deutschland. 2007 haben wir ja bereits den
Antrag „Attraktivität des Wassertourismus und des Was-
sersports stärken“ verabschiedet, um diesen Positivtrend
zu verstärken. Der damalige Beschluss beinhaltete zahl-
reiche Vorschläge zur Förderung und Verbesserung des
Wassersports in Deutschland.
Unser jetziger Antrag soll diese Maßnahmen ergän-
zen und flankieren bzw. eine ins Stocken geratene Um-
21726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
setzung aktivieren. Der Charterboottourismus verzeich-
net zum Beispiel besonders hohe Zuwächse, wobei als
wesentliche Voraussetzung für ein Wachstum des Char-
terboottourismus die Schaffung von gebietsübergreifen-
den Einwegfahrten gilt. Die hohen Zuwächse sind unter
anderem auch dadurch entstanden, dass nach vielen Jah-
ren des Zögerns die Möglichkeit geschaffen wurde, ein
Boot zu mieten, um auf Kanälen und Flüssen – natürlich
nicht auf dem Rhein – zu schippern, ohne einen Boots-
führerschein zu besitzen. Für Wasserwanderer, Motor-
bootfahrer und die Fahrgastschifffahrt müssen neue
Routen erschlossen werden. Die Sport- und Wasser-
sportwirtschaftsverbände sollen zukünftig verstärkt bei
diesbezüglichen Planungen beteiligt werden und ihre
praktischen Kenntnisse einbringen.
Engpässe bei der Befahrbarkeit von Wasserwegen be-
hindern den Wassertourismus. Hier könnte das Konjunk-
turprogramm II helfen. Um auch eine optimale Nutzung
zu erreichen, ist der sportbootgerechte Ausbau von War-
testellen durch Anlegestege eine wichtige Vorausset-
zung.
Die Aufstellung einheitlicher Piktogramme erleichtert
die Nutzung wassersportlicher Einrichtungen für deut-
sche und ausländische Wassersportler. In unserem An-
trag wird deshalb vorgeschlagen, diese flächendeckend
und für alle Wassersportarten einzusetzen. Bereits vor-
handene Informationsangebote sollen zu einem bundes-
weiten Marketingkonzept zusammengeführt werden,
und eine Broschüre sowie ein nutzergerechtes Internet-
portal sollen den Wassersport endlich auch bundesweit
präsentieren. Auch Genehmigungsverfahren können
mithilfe einer Koordinierungsstelle erleichtert werden.
Bei diesen Verfahren brauchen wir aber dringend eine
Verschlankung. Dringend muss auch über Bürokratieab-
bau nachgedacht werden.
Deshalb fordern wir das Ministerium auf, alle Betei-
ligten, Verbände und Vereine, auch den ADAC an einen
Tisch zu holen, um unbürokratische Lösungen für alle
Wassersportarten zu finden. Ein solcher Termin sollte
bald zustande kommen, damit vielleicht noch in diesem
Jahr mit Aktivitäten begonnen werden kann, damit die
Bürgerinnen und Bürger touristische Angebote in
Deutschland nutzen können.
Die grenzenlose Freiheit auf dem Wasser, sie ist in
Deutschland allzu oft nicht gegeben, stattdessen Regu-
lierungswut allerorten. Allein auf Bundesebene mischen
fünf Ministerien mit. Die Zahl der nachrangigen Behör-
den, die in irgendeiner Form direkt oder indirekt Ein-
fluss auf den Segelsport nehmen, ist enorm: 60 an der
Zahl laut Zeitschrift Yacht 2005. Hinzu kommen die
Ämter der Länder bis hin zu den regionalen Verkehrsres-
sorts. Kompetenzgerangel und Streit um Zuständigkeiten
sind da keine Seltenheit.
Zu Beginn der Legislaturperiode ist man ja schon auf
diese Probleme zum Thema Wassersport und Tourismus
gestoßen; leider wurden die Hindernisse nicht so ganz
beachtet. Mir fällt hierzu auch das Thema Bootsführer-
scheine ein. Zum Beispiel: Wenn jemand den Bootsfüh-
rerschein macht, anschließend dann den Segelschein und
später den Küstensegelschein usw., wird immer wieder
Grundwissen abgefragt. Das wäre nicht nötig; hier
könnte Zeit gespart und Bürokratie abgebaut werden.
Wir brauchen also eine komplette Überarbeitung des
deutschen Führerscheinsystems unter Berücksichtigung
der Fahrtgebiete und Bootstypen sowie die Überarbei-
tung der Prüfungsfragenkataloge. Deshalb begrüße ich
die Ankündigung des Verkehrsministers, die Moderni-
sierung der Sportbootführerscheine voranzutreiben.
Oder das Thema Sicherheit: Ich befürworte im
Grundsatz die Forderung der Verbände nach verlässli-
chen Unfallstatistiken und gemeinsame Kampagnen zur
Schaffung eines Sicherheitsbewusstseins im Sportboot-
bereich, aber auch die Entwicklung von Qualitätsstan-
dards für die Ausbildung der Weiterentwicklung prakti-
scher Prüfungsteile, die Bindung der Mindestausrüstung
auch an das Fahrtgebiet, die Änderung der Trinkwasser-
verordnung und die Schaffung eines einheitlichen Sport-
schifffahrtrechts. Über eine Kennzeichnungspflicht muss
noch diskutiert werden.
Aber natürlich kann niemand, auch wenn wir einiges
ändern, deshalb rosige Zukunftsaussichten für den Was-
sertourismus verkünden. Auch der Tourismus muss sich
in Schlechtwetterzeiten auf wirtschaftliche Krisen ein-
stellen. Unstrittig ist aber: Der Tourismus ist eine der
Leitökonomien der Zukunft. Der Wassertourismus rückt
dabei zunehmend in den Fokus.
Ich bin froh, dass nach der ersten großen bundesweiten
Grundlagenuntersuchung zum Wassertourismus 2003, et-
lichen Studien auf Landes- und kommunaler Ebene,
mehreren Anläufen und Anträgen nun die Große Koali-
tion dieses Thema ausführlich würdigt und Handlungs-
empfehlungen ausspricht. Um aber im sich verschärfen-
den nationalen und internationalen Wettbewerb bestehen
zu können, müssen wir die sich bietenden wassertouristi-
schen Potenziale verstärkt nutzen und den hohen Erwar-
tungen der Gäste an das Angebot und die Dienstleis-
tungsqualität gerecht werden. Hier soll der nun heute
vorliegende Antrag den Grundstein für weitere gezielte
Maßnahmen für dieses lukrative und deutschlandweit
wachsende Marktsegment legen.
Die Handlungsfelder zur Stärkung des Wassertouris-
mus in unserem Antrag lassen sich kurz zusammenfas-
sen in Stärkung der Infrastruktur für den Wassertouris-
mus, Schaffung neuer wassertouristischer Angebote,
begleitende Maßnahmen zur Stärkung des Wassertouris-
mus, Steigerung der Qualität der wassertouristischen
Angebote, verbessertes Marketing.
Wassertourismus ist für alle Bundesländer ein Thema,
wobei allerdings die Bedeutung dieses Marktsegmentes
nicht zuletzt aufgrund ungleicher naturräumlicher Vo-
raussetzungen sehr unterschiedlich ist. Während für die
norddeutschen Bundesländer ein klarer Schwerpunkt
beim Wassertourismus liegt, ist dieser für die anderen
Bundesländer ein Teilsegment des gesamttouristischen
Angebotes, das mehr oder weniger stark ausgefüllt und
bedient wird.
Zu den infrastrukturellen Basisangeboten auf und am
Wasser gehören qualitativ gut ausgebaute Anlegestellen
und Wasserwanderrastplätze. Deutschlandweit kenn-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21727
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zeichnen zurzeit über 260 „Gelbe Wellen“ Anlegemög-
lichkeiten und signalisieren dem Wassertouristen und
Wassersportler ein „Herzliches Willkommen“. Allein
Schleswig-Holstein bietet seinen Gästen rund 250 Sport-
boothäfen mit über 30 000 Liegeplätzen. Rund 30 Sport-
boothäfen und Marinas, hauptsächlich in Mecklenburg-
Vorpommern, sind bislang mit den „Blauen Sternen“
ausgezeichnet worden. Sie sind Vorreiter, sichern Quali-
tätsstandards, bauen ihre bestehenden Angebote aus und
geben dem Verbraucher bessere Vergleichsmöglichkei-
ten des Infrastruktur- und Serviceangebots.
Bei aller Freude über das Wachstum im Wassertouris-
mus: Es muss uns gelingen, weitere Marktanteile zu ge-
winnen. Um dieses Ziel zu erreichen, setzen wir auf eine
vielfältige Strategie. Wir brauchen eine verbesserte
Imagepflege, Internationalität, Innovation, Individuali-
sierung, Investitionsfreundlichkeit, Kooperation und
Qualität.
Ein Paket aus Rücksichtnahme gehört aber auch an
Bord jedes Freizeitkapitäns. „Das Wasser ist ein freund-
liches Element für den, der damit bekannt ist und es zu
behandeln weiß“, stellte bereits Johann Wolfgang von
Goethe fest. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass durch die
richtige Behandlung von Struktur und Marketing der
Wassertourismus in Deutschland profitiert.
Unser Antrag hat zweifellos das Zeug dazu. Ich sage
daher „Leinen los!“ und bitte um Zustimmung.
Annette Faße (SPD): Das Jahr 2008 war für den
Wassertourismus ein gutes Jahr! Zwei Anträge sind im
letzten Jahr entstanden, den zweiten mit dem Titel „In-
frastruktur und Marketing für den Wassertourismus ver-
bessern“ werden wir heute verabschieden. Wenn es ge-
lingt, die Forderungen im vorliegenden Antrag zügig
umzusetzen, kann auch das Jahr 2009 ein wirklich gutes
Jahr für die Wassersportler werden.
Wassersport hat sich zum Breitensport entwickelt,
den Wasseraffinen geht es um körperliche Fitness, um
den Ausgleich von Bewegungsmangel und den Spaß am
Sport und dem Erleben von Natur pur. Eines ist dabei
klar, meine Damen und Herren: die Potenziale des Was-
sertourismus sind nicht ausgeschöpft! Diese Feststellung
war der Anlass und Auslöser zu zwei Anträgen im Deut-
schen Bundestag, die beide den Wassertourismus zum
Gegenstand haben.
Der zweite Antrag ist im Verkehrsausschuss mit den
Stimmen der Koalition und bei Zustimmung von FDP
und Linken angenommen worden. Darüber freue ich
mich, und es zeigt, dass wir parteiübergreifend die Chan-
cen des Wassertourismus verbessern möchten. Allen Ur-
laubern, ob aus Deutschland, Europa oder weltweit,
möchten wir unser Land von der schönsten Seite präsen-
tieren. Der Wassersport und Wassertourismus bietet uns
dabei zahlreiche Möglichkeiten, die wir nutzen müssen.
Wir stehen im Wettbewerb mit anderen Destinationen
des Wassertourismus. Segeln, Surfen, Kanu fahren oder
Motorbootsport: Das sind Perlen, die wir auch entspre-
chend präsentieren müssen.
Der Tourismus insgesamt ist ein wichtiger Wirt-
schaftsfaktor in Deutschland. Zwar sagt die Deutsche
Zentrale für Tourismus für 2009 eine Abschwächung des
Wachstums im weltweiten Tourismus von 2 bis 3 Pro-
zent im letzten Jahr auf 0 bis 2 Prozent in 2009 voraus,
dennoch stehen wir weltweit an vierter Stelle der belieb-
testen Urlaubsziele, ein Wachstum bis zu 2 Prozent ist
für das Reiseland Deutschland möglich. Deutschland
hält damit einen Weltmarktanteil von 6 Prozent an allen
Auslandsreisen. 75 Prozent der Incoming-Reisen kom-
men aus Europa. Beim Inlandstourismus sind wir stark
und bleiben es auch. In den ersten zehn Monaten des
letzten Jahres verzeichneten wir im Deutschlandtouris-
mus ein Plus von 3 Prozent. Allein in Deutschland exis-
tieren 2,8 Millionen nicht exportierbare, an den Mittel-
stand gebundene Arbeitsplätze im Tourismus.
Schaut man sich genauer an, unter welchen Bedin-
gungen der Tourismus in der Zukunft wachsen muss,
dann wird klar: Der Wassertourismus kann dabei gewin-
nen. Die Deutsche Zentrale für Tourismus stellt dazu
fest: Jeder dritte Bundesbürger verbringt seine Hauptur-
laubsreise in Deutschland. Deutschland liegt im Trend
bei den Deutschen. Die Zahl der längeren innerdeut-
schen Urlaubsreisen ab vier Nächten verstetigt sich.
Durch die sich ändernden klimatischen Bedingungen ge-
winnen Alternativen zum klassischen Skiurlaub an Be-
deutung. Das weltweite Deutschland-Image wird in Zu-
kunft stärker vom Image des Reiselandes Deutschland
geprägt. Die Wachstumsdynamik kommt aus dem Aus-
land; auch darauf müssen wir im Bereich Wassertouris-
mus reagieren. Beispielsweise brauchen wir flächende-
ckend international verständliche Beschilderungen.
Tourismus muss sich insgesamt stärker international
orientieren und in das Auslandsmarketing und Bildung
investieren. Bund und Länder sollten dies unterstützen.
Ein stärkeres Augenmerk sollten wir auf die Nutzung al-
ler Vertriebswege richten. Das Internet nimmt eine wich-
tige Rolle ein: 46 Prozent der Europäer beispielsweise
informieren sich und buchen im Internet. Stichwort:
Look and book! Wir müssen die Chancen des demogra-
fischen Wandels nutzen. Hier ist natürlich auch die Wirt-
schaft gefragt, ihre Angebote auf älter werdende
Touristen auszurichten. Weltweiter Klimawandel: Kli-
mawandel erzeugt verstärkte Nachfrage nach sanftem
Tourismus. Gerade hier kann der Wassertourismus punk-
ten. Der Wassertourismus als sanfte, an den intakten Ge-
gebenheiten der Natur orientierte Form des Reisens hat
noch starkes Wachstumspotenzial. Die DZT bezeichnet
diese Form des Erholungstourismus als „Megatrend Ge-
sundheit“ und plant bereits die Verstärkung ihrer Marke-
tingaktivitäten in diesem Segment. Sportliche Aktivitä-
ten im Urlaub werden immer beliebter, Wassersport
bietet dabei die ideale Bandbreite von Natur, Sport und
dem Bedürfnis, nachhaltig Urlaub zu machen, also die
Umwelt dabei zu schonen. Tourismus besitzt eine beson-
dere wirtschaftliche Bedeutung für die neuen Länder.
Dort befinden sich einige der schönsten Wassersportge-
biete, eine Chance für die betreffenden Regionen. Nach
einer Mitgliederumfrage des ADAC (2008) sind allein in
Deutschland 1,8 Millionen der 16 Millionen Mitglieder
aktive Skipper, also Bootsführer in der Freizeitschiff-
21728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
fahrt, die insbesondere in deutschen Revieren unterwegs
sind.
Der Bundesverband Wassersport stellt außerdem fest,
dass circa 500 000 Wassersportler in Deutschland Boots-
eigner sind. Sie besitzen Segeljollen, Segeljachten, Mo-
toryachten oder offene Sportboote. 400 000 Boote sind
allein auf deutschen Gewässern unterwegs.
Der demografische Wandel macht sich bereits be-
merkbar. Rund 80 Prozent der Bootseigner sind zwi-
schen 40 und 70 Jahre alt. Am häufigsten sind Bootseig-
ner in der Altersgruppe von 60 bis 64 Jahren. Die
Verbände gehen davon aus, dass dies eine Folge des
Booms der Freizeitschifffahrt in den 70er-Jahren ist. Das
Interesse am eigenen Boot sinkt seitdem kontinuierlich
mit den jüngeren Jahrgängen. Junge Familien beispiels-
weise sollten als Zielgruppe verstärkt angesprochen wer-
den. Das ist ein weiterer Indikator dafür, dass wir und
natürlich auch die Verbände, die Industrie und die Län-
der selbst neue Zielgruppen für den Wassersport begeis-
tern müssen.
Um mehr Menschen für den Wassersport zu gewin-
nen, müssen einige Rahmenbedingungen vereinfacht
werden. Wir haben bereits im letzten Jahr herausgearbei-
tet, dass wir ein großes Problem sehr zügig lösen müs-
sen: Das sind die Prüfungen, die notwendig sind, um
Sportbootscheine zu erwerben. Sie sind theorielastig und
mit Lernstoff überlastet. Der Anreiz, sich in diesen Lern-
marathon zu begeben, um überhaupt in den Sport
einsteigen zu können, ist nicht groß. Immer wieder errei-
chen uns E-Mails und Briefe von aktiven Wassersport-
lern oder solchen, die es werden wollen und die den Sinn
nicht verstehen, warum sie die Antworten auf 593 Fra-
gen auswendig lernen müssen, um mit ihrer kleinen Se-
geljolle auf der Havel zu segeln. Ich habe mir die Prü-
fungsfragen auf elwis.de angesehen, mit Rock’n’Roll hat
das wirklich gar nichts zu tun, was man dort zu sehen be-
kommt.
Es gibt Fragen, die sind aus meiner Sicht nicht nötig.
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Welche Anforderungen
muss der Führer eines Segelboots auf den Binnenschiff-
fahrtsstraßen erfüllen? Antwort: Er soll körperlich und
geistig und fachlich geeignet sein. Oder: Wie ist die Ein-
satzfähigkeit eines Feuerlöschers zu gewährleisten?
Durch Einhaltung der Wartungsintervalle und durch das
„Sich-vertraut-machen mit der Handhabung“. Zu
Deutsch: Gebrauchsanleitung lesen.
Deshalb haben wir im ersten Antrag beschlossen, dass
die theoretische Prüfung überarbeitet und von praxisfer-
nen Fragen befreit werden muss. Gleichzeitig wird die
praktische Prüfung ausgebaut. Die einzelnen Führer-
scheine werden besser aufeinander abgestimmt und auf
Multiple-Choice-Verfahren umgestellt. Die Vorarbeiten
hierzu laufen im Verkehrsministerium unter Mitarbeit
der Verbände, und nächstes Jahr sollen die neuen Prü-
fungen abgenommen werden. Das ist ein guter Erfolg für
den Wassersport, der sich auch positiv auf den Wasser-
tourismus auswirken wird.
Ein ganz besonderes Segment im Wassersport bietet
ein enormes Potenzial: die führerscheinfreien Charter-
boote, die nach einer Einweisung auf besonderen Gebie-
ten an Touristen vergeben werden dürfen. Die Wasser-
tourismus Initiative Nordbrandenburg (WIN AG) hat
sich dieser Urlaubsform besonders angenommen. Die
WIN AG hat bereits einige Gebiete für die führerschein-
freien Bootsfahrten eingerichtet und plant die Erweite-
rung der Fahrmöglichkeiten. Bedingung für die Realisie-
rung ist, dass eine Anschubfinanzierung des Bundes für
die Übertragung von Bundeswasserstraßen an Länder
und Kommunen möglich ist. Dieser Durchbruch ist uns
ebenfalls nach langen Verhandlungen gelungen. Die
Möglichkeit der Übertragung von Wasserstraßen mit ei-
ner finanziellen Unterstützung durch den Bund hat es
vorher nicht gegeben und ist für den Wassersport eine
riesige Chance.
Wichtige Voraussetzung für den Wassersport und den
-tourismus sind durchgängig befahrbare Wasserwege-
netze und die Beseitigung von Engpässen. Der Charter-
boottourismus ist besonders auf die Erweiterung gebiets-
übergreifender Einwegfahrten angewiesen. Schleusen,
Bootsrutschen und -schleppen dürfen nicht zu einem Na-
delöhr in der Infrastruktur werden. Die stetig wachsende
Nutzung der Wassersportgebiete führt unweigerlich zu
Engpässen an einigen Schleusen und mehrstündigen
Wartezeiten in der Saison. Hier müssen wir Verbesserun-
gen erzielen: Durch den Einsatz von Saisonkräften und
die Erweiterung der Öffnungszeiten an Sportbootschleu-
sen könnten Wartezeiten vermieden werden. Die Sport-
und Wassersportverbände sollen stärker an Infrastruktur-
planungen beteiligt werden, im Kontakt mit der Praxis
können Maßnahmen effizienter geplant werden. Warte-
stellen sollen sportbootgerecht und umweltverträglich
ausgebaut werden, zum Beispiel durch Anlegestege und
Laufrohre.
Für viele Maßnahmen im Bereich Wassersport sind
zahlreiche Genehmigungen erforderlich. Die landseiti-
gen Genehmigungsverfahren sollten so koordiniert wer-
den, dass nur ein Ansprechpartner aufgesucht werden
muss. Generell müssen Möglichkeiten geprüft werden,
wie zusätzliche Ressourcen erschlossen und bessere or-
ganisatorische Strukturen geschaffen werden können.
Ein weiterer wesentlicher Punkt ist das Marketing;
ich habe es schon angesprochen. Das Marketing im Was-
sertourismus muss verbessert werden. Printbroschüren
sollten verstärkt Gäste aus dem Ausland informieren und
auf die Angebote in Deutschland aufmerksam machen.
Dabei sollen wassertouristische und landseitige Ange-
bote stärker verknüpft werden. Die DZT bestätigt, dass
ein erfolgreiches Marketing Deutschland im Tourismus
voranbringen wird.
Vorhandene Informationsangebote sollten daher zu ei-
nem bundesweiten Marketingkonzept zusammengeführt
werden, das die Deutsche Zentrale für Tourismus in ei-
ner Werbeaktion präsentieren oder in einer Broschüre
zusammenfassen soll. Einheitliche Piktogramme sind
mit ihrer Bildsprache besonders hilfreich für ausländi-
sche Touristen. Sie sollten daher flächendeckend einge-
setzt werden. Das gut sichtbare Symbol der gelben Welle
ermöglicht ein gutes Erkennen der Anlegemöglichkeit
und gibt Auskunft über Ausstattung des Anlegers und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21729
(A) (C)
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des Hafens, über touristische Einrichtungen und Sehens-
würdigkeiten. Die gelbe Welle sollte in Kombination mit
den Informationssymbolen ebenfalls flächendeckend
eingesetzt werden. Das „Blaue Sterne“-System zur bun-
deseinheitlichen Klassifizierung von Sportboothäfen in
Bezug auf Service, Komfort und Sicherheit kann die
Touristen ebenfalls bei der Auswahl ihrer Aufenthalte
unterstützen.
Neben der besseren Beschilderung müssen die Aus-
und Weiterbildungsangebote im Tourismus vermehrt ge-
nutzt werden. Speziell im Wassertourismus müssen sich
die Anbieter und Mitarbeiter hohen Anforderungen stel-
len, sie müssen optimale Touren planen und Informatio-
nen häufig in einer Fremdsprache weitergeben können.
Investitionen in Bildungsmaßnahmen sind Investitionen
in die Zukunft der Unternehmen. Zum Marketing soll in-
nerhalb eines Jahres ein Bericht vorgelegt werden, der
ein Maßnahmenprogramm zum Wassersport enthält.
Eine gute Vermarktungsstrategie, aber auch die Zu-
sammenarbeit aller Beteiligten ist nötig, um die Men-
schen an und in das Wasser zu bringen. Deshalb sollten
zukünftig Bund, Länder und Kommunen verstärkt mit
allen Verbänden zusammenarbeiten und sie in neue Pro-
jekte und Entwicklungen einbeziehen. Alte Zöpfe dürfen
auch mal abgeschnitten und neue Arbeitsformen einge-
führt werden. Ich bin sicher, meine Damen und Herren,
so werden wir den Wassertourismus in Deutschland er-
folgreich voranbringen!
Patrick Döring (FDP): Ich freue mich, dass wir
heute gemeinsam einen Antrag beschließen können, der
für die Zukunft des Wassersports und des Wassertouris-
mus in Deutschland einiges hoffen lässt. Ich kann mich
noch gut an die Debatten und Diskussionen erinnern, die
wir an diesem Ort vor nicht langer Zeit zur Deregulie-
rung und Erleichterung der Sport- und Freizeitschifffahrt
geführt haben. Seinerzeit stand die FDP recht alleine in
dem Bemühen, weitere Hürden für den Wassersport zu
verhindern. Der von der Koalition vorgelegte Antrag
und die Äußerungen des Ministers in den letzten Tagen
lassen allerdings erkennen, dass gute und richtige Argu-
mente auch vor der Regierung nicht Halt machen.
Es bleibt weiterhin einiges zu tun, damit der Wasser-
sport auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in
Deutschland eine Zukunft hat. Dabei gilt es nicht nur,
die Infrastrukturen auszubauen, zu verbessern und zu
erhalten. Wir müssen vor allem auch die Zugangshürden
senken, um jüngere Generationen an diesen Sport heran-
zuführen. Denn – das lassen die Zahlen deutlich erken-
nen – wenn der Anteil an jüngeren Einsteigern in die
Freizeitschifffahrt in den kommenden Jahren nicht deut-
lich erhöht wird, ist damit zu rechnen, dass sich die Zahl
der Bootseigner in den nächsten zwanzig Jahren halbiert.
Um den, wie die Koalition in ihrem Antrag zu Recht
herausstellt, bedeutsamen Markt und die damit verbun-
denen Arbeitsplätze vor allem auch in strukturschwa-
chen Regionen zu erhalten, müssen die Einstiegshürden
dringend gesenkt werden. Ich begrüße es deshalb
ausdrücklich, wenn Minister Tiefensee in diesen Tagen
eine Reform der Sportbootführerscheinprüfung ankün-
digt, die deutlich schlanker und praxisnäher aussehen
soll. Ich werde sehr aufmerksam beobachten, ob das,
was am Ende herauskommt, auch dieser Zielsetzung ent-
spricht. Denn wir haben bei dieser Regierung ja leider
immer wieder erleben müssen, dass der Inhalt nicht hielt,
was die Verpackung versprach.
Die Reform der Prüfungsordnung darf in keinem Fall
zu einer Mogelpackung werden. Die Verunsicherung
und Skepsis bei den Wassersportlern ist durch Fehler der
Vergangenheit bereits immens. Ich erinnere nur etwa an
die Regierungspläne zur Einführung einer Kennzeich-
nungspflicht auf See oder das aktuelle Desaster bei den
Funkzeugnissen. Es ist geradezu unglaublich, wie die
Koalition hier in den letzten Jahren Ansehen und Ver-
trauen verspielt hat. Das war alles andere als Werbung
für den Wassersport.
Auch für die betroffenen Unternehmen hat das Hin
und Her des Ministeriums bei der Zulassung britischer
Funklizenzen nicht zu verachtende Folgen. Seit nunmehr
über einem Jahr verlangt Ihr Haus, Minister Tiefensee,
dass deutsche Inhaber der britischen Lizenz eine Zusatz-
prüfung machen müssen. Aber trotz dieser langen Frist
gibt es diese Prüfung nicht. Sie wird verlangt, kann aber
nicht abgelegt werden. Mit Verlaub, das ist ein sehr
schlechter Witz. Mittlerweile sind Hunderte Menschen
betroffen. Und dabei ist auch noch höchst zweifelhaft,
ob die Position der Regierung internationalen Abkommen
entspricht, an die wir gebunden sind. Da liegt also noch
einiges im Argen, das sie in Ihrem Antrag nicht einmal
erwähnen, geschweige denn lösen.
Ich will allerdings gerne einräumen, dass diese Pro-
blematik nicht die Stoßrichtung ihrer Initiative ist. Und
so sehr ich es für ein Versäumnis halte, dass sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, sich dieser Dinge nicht end-
lich annehmen und dem Ministerium klar und deutlich
Weisung geben, dass in einer sicheren Sportart wie dem
Wassersport im Zweifel in jedem Fall der Deregulierung
Vorzug gegeben werden sollte, so sehr ich dies auch bedau-
ere, so sind die von Ihnen hier vorgelegten Forderungen
doch richtig und begrüßenswert. Die Verbesserung und
Koordinierung des Marketings, die bessere Beschilderung
und der touristische Ausbau von Wasserwegen, die Er-
leichterung von Genehmigungsverfahren, die Verbesse-
rung der Situation an den Schleusen, das ist alles richtig.
Allerdings möchte ich gleichzeitig noch einmal war-
nend darauf hinweisen, dass es nicht reichen wird, mehr
für den Wassersport zu werben und die Situation auf den
Wasserwegen etwas zu verbessern. Denn die Nachfrage
bei Neueinsteigern wird in der gegenwärtigen Situation
auch weiterhin viel zu oft und viel zu schnell erlöschen,
sobald diese des finanziellen und vor allem auch zeitli-
chen Aufwandes gewahr werden, dessen es in Deutschland
bedarf, um ein Sportboot führen zu dürfen. Vieles von
dem, was Sie heute zu tun gewillt sind, wird verpuffen,
wenn Sie nicht auch diese Hürde für den Einstieg schnell
und entschieden senken.
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Die Koalition
konstatiert einen erhöhten Bedarf an Geldern für Infra-
struktur und Marketing im Wassertourismus und im
21730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
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Wassersport. Es ist gut und richtig, dass der Binnentou-
rismus in den letzten Jahren gewachsen ist. Es ist auch
ökologisch begrüßenswert, wenn Menschen vermehrt
die vielfältigen Reize deutscher Regionen erkunden,
statt Fernreisen zu unternehmen. In Zeiten der Wirt-
schaftskrise wird sich dieser Trend zur inländischen Er-
holung voraussichtlich noch weiter verstärken.
Wollen wir die Attraktivität unserer Gewässer für
Freizeit und Erholung steigern, so ist es unerlässlich, die
Bedürfnisse insbesondere jener besonders zu beachten,
die aus den unterschiedlichsten Gründen häufig kaum
andere als inländische Erholungsmöglichkeiten nutzen
können. Hierzu gehören auch insbesondere mobilitäts-
eingeschränkte Personen. Wenn man sich vor Augen
hält, dass nur zwei Bootsanleger der Fahrgastschifffahrt
in Berlin barrierefrei sind und nur ein Schiff, so wird
überdeutlich, wie viel da noch zu tun bleibt.
Bei steigendem Nutzungsgrad der Wassersport- und
Wassertourismusgebiete müssen wir aber auch verbind-
liche Regeln reklamieren, um Risiken für Mensch und
Umwelt zu minimieren. Der Schutz sensibler Uferzonen
ist genauso sicherzustellen wie das möglichst gefahrlose
Miteinander der verschiedenen Gewässernutzer. Dass
dann, im Antrag versteckt, auch gleich die Vereinfachun-
gen bei Ausbildung und Erwerb eines Sportbootführer-
scheins vorgeschlagen werden, ist nicht ganz redlich.
Denn nur bei „geeigneten Gewässern“ sollte auch die
führerscheinfreie Führung bestimmter Kategorien von
Sportbooten zugelassen werden.
Damit die Risiken besser eingeschätzt werden kön-
nen, ist eine Unfallstatistik, die Unfälle mit Freizeitboo-
ten erfasst, aus unserer Sicht dringend notwendig. Die
Fraktion Die Linke unterstützt die Förderung von Sport
und Tourismus in Deutschland, auch auf dem Wasser.
Wir alle wissen aber auch, dass Freizeitkapitäne zuwei-
len mit ihren Booten überfordert sind. Schließlich sind
Wasserstraßen auch Wege für den Gütertransport mit al-
len daraus resultierenden Unfallgefahren.
Ein weiterer Aspekt im Antrag fiel mir besonders auf.
Es wird beschrieben, dass es an vielen, insbesondere au-
tomatisierten Schleusen im Sommer durch die Freizeit-
schifffahrt zu Problemen und zu überlangen Wartezeiten
kommt. Die Unerfahrenheit vieler Freizeitschiffer ist ein
Grund. Eine weitere Ursache ist aber auch – das ist eben-
falls im Antrag zu lesen – der Personalabbau in den ver-
gangen Jahren. Wo niemand mit Erfahrung an der
Schleuse steht, um Boote einzuweisen, kommt es zu
Engpässen. Das Thema Personal an Schleusen ist ein
Beispiel dafür, wie sehr der Stellenabbau im öffentlichen
Bereich zu Serviceeinschränkungen und Reibungsver-
lusten führt.
Gerade im Freizeitbereich könnten neue, sinnvolle
Arbeitsplätze geschaffen werden, mit denen die Attrakti-
vität des Angebots gesteigert wird, der Service für die
Nutzer verbessert wird, der Verkehrsdurchlauf beschleu-
nigt wird und bei Problemen kompetente Partner um
Hilfe gebeten werden können. Dabei muss Sorge dafür
getragen werden, dass diese Saisonarbeitskräfte auch im
Winter beschäftigt werden. Wenn ich mir die Schleusen-
und Hafenanlagen in meinem Wahlkreis anschaue, stellt
das aber bei entsprechenden Qualifizierungsmaßnahmen
für das Personal kein Problem dar. Arbeit ist genug da.
Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gehören
auch zu einem ganzheitlichen Tourismuskonzept. Aussa-
gen der Koalition dazu vermissen wir. Deshalb enthält
sich die Fraktion Die Linke bei der Abstimmung über
den Antrag, der durchaus in vielen Punkten in die rich-
tige Richtung geht.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Alle Jahre wieder ist der Wassertourismus Thema im
Bundestag, unter Rot-Grün im Jahr 2004 erstmals. Aller-
dings, meine Damen und Herren, wie Sie sich denken
können mit einem anderen Schwerpunkt. Damals war
der Schwerpunkt ein naturverträglicher Ausbau des
Wassertourismus. Unsere gemeinsame Priorität damals
war eine Entwicklung des Wassertourismus, die die Natur
schützt und erhält.
Denn was ist die große Attraktivität des Wassertouris-
mus und des Wassersportes? Es ist ja gerade der Reiz,
dass er so naturnah betrieben wird und eine besondere
Freizeitmöglichkeit ist, die Natur und sportliche Betäti-
gung verbindet. Darum ist es besonders wichtig, den
weiteren Ausbau der Wassertourismusinfrastruktur na-
turverträglich zu gestalten. Auf Länderebene haben wir
einige hervorragende Beispiele von integrierten Schutz-
und Nutzungskonzepten, die verbindliche Regeln für das
Befahren festlegen, um sensible Gewässer zu schonen
und zu erhalten.
Aber dieser Antrag zeigt deutlich das umweltpolitische
Profil der Koalitionsfraktionen. Das ist nämlich über-
haupt nicht vorhanden. Das Wort „Naturschutz“ taucht
hier überhaupt nicht mehr auf. Einzig beim Ausbau von
Anlegestellen oder Ähnlichem finden sie die Umwelt-
verträglichkeit noch erwähnenswert. Wortwörtlich blei-
ben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
beim Wassertourismus auf Ihren stinkenden Motorboo-
ten sitzen. Kein Wort in Ihrem Antrag über Angler,
Paddler oder neue Antriebstechnologien für Sportboote
und Fahrgastschifffahrt sowie den notwendigen Rückbau
von überdimensionierten Schifffahrtsanlagen. Nichts als
gähnende inhaltliche Leere bezüglich Marketing und In-
frastrukturausbau. Zur Krönung fordern sie noch: 1-Euro-
Jobber an den Schleusen. Denn seien wir ehrlich: Darauf
läuft Ihre Forderung nach Saisonarbeitskräften doch hi-
naus.
Schließlich haben Sie noch vergessen zu erwähnen,
welche große tourismuspolitische Leistung Sie im letz-
ten Jahr für den Wassertourismus erbracht haben: Rot-
Schwarz hat die Mehrwertsteuerermäßigung für die Aus-
flugsdampfer, die uns hier in Berlin die Luft verpesten,
eingeführt. Gratuliere! Von den Preisnachlässen der
Schifffahrtsunternehmen haben sicher alle Touristen und
Berliner im letzten Jahr profitiert.
Wassertourismus braucht mehr als nur die wassertou-
ristische Infrastruktur. Wichtigste Voraussetzung ist eine
intakte Umwelt und eine interessante Kulturlandschaft.
Aber bleiben wir bei Ihrem Wunsch nach touristischer
Infrastruktur. Auch hier ist Ihr politischer Horizont et-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21731
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(B) (D)
was verengt. Wassertouristische Infrastruktur geht über
Anlegestellen, Schleusen oder Häfen hinaus. Sie muss
auch die Erreichbarkeit der Anleger vom Land aus be-
inhalten. Da gibt es auch bundespolitisch noch viel zu
tun.
Wir Grünen sehen es als Aufgabe des Bundes, endlich
einen nationalen Wasserwanderwegeplan analog zum
nationalen Radwegeplan auf den Weg zu bringen. Hier
gibt es seit Jahren Absichtserklärungen. Aber es passiert
nichts.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Tarifflucht verhin-
dern – Geltung des Günstigkeitsprinzips bei Be-
triebsübergängen nach § 613 a BGB sicherstel-
len (Tagesordnungspunkt 20)
Matthäus Strebl (CDU/CSU): Bei dem hier vorlie-
genden Antrag lautet die Überschrift, kurz wiedergege-
ben: Tarifflucht verhindern. Das ist tatsächlich ein Ziel,
das es anzustreben gilt. Allerdings ist der Vorschlag der
Fraktion Die Linke ungeeignet, dieses Ziel zu erreichen.
Sie erklären in Ihrem Antrag, dass die Unternehmen
mit „gesellschaftsrechtlichen Winkelzügen“ Tarifdum-
ping betreiben. Das spricht für Ihre Fantasie bei der
Wortwahl. Weit weniger Fantasie bringen Sie aber bei
den Inhalten dieses Antrags zustande.
Der § 613 a BGB regelt den Schutz von Beschäftigten
bei Betriebsübergängen, und zwar von Beschäftigten die
individuell Regelungen per Arbeitsvertrag getroffen ha-
ben. Diese Menschen müssen davor geschützt werden,
dass bei einer Betriebsübernahme der neue Arbeitgeber
willkürlich die Arbeitsbedingungen zuungunsten des Be-
schäftigten neu regelt. In diesen Fällen ist das Günstig-
keitsprinzip anzuwenden. Beim Günstigkeitsvergleich
ist immer auf das individuelle Interesse des einzelnen
Arbeitnehmers abzustellen. Gesamtinteressen einer Be-
legschaft sind nicht maßgeblich. Das ist der Schutz, den
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen, und
das ist der Schutz, der den Beschäftigten in § 613 a für
ein Jahr garantiert wird.
Anders ist das bei bestehenden Tarifverträgen mit ent-
sprechender Tarifbindung. Tarifverträge regeln kollektiv
die Arbeitsbedingungen und den erforderlichen Schutz
der Beschäftigten. Den erforderlichen besonderen
Schutz genießen Tarifverträge über das Tarifvertragsge-
setz und die Rechtsprechung. Aber nicht nur das spricht
gegen eine Erfassung durch den § 613 a, sondern im
Grundgesetz ist die Koalitionsfreiheit garantiert. Daher
ist der Gesetzgeber bei allen Regelungen, die er trifft,
angehalten, diesen Grundsatz zu beachten. Schon allein
deshalb gibt es erhebliche rechtliche Bedenken im Hin-
blick auf ein Aushebeln der Koalitionsfreiheit.
In Ihrem Gesetzesentwurf, meine Damen und Herren
der Linksfraktion, geht es um den inhaltlichen Vergleich
zweier oder mehrerer Kollektivregelungen. Tarifverträge
sind jedoch nach ständiger Rechtsprechung einer In-
haltskontrolle entzogen, wie ihnen eigentlich bekannt
sein sollte. Eine inhaltliche Bewertung eines Tarifvertra-
ges, wie von Ihnen angestrebt, würde daher einer Zensur
von Tarifarbeit gleichkommen. In dem Punkt wider-
spricht der Antrag übrigens sich selbst.
Was wäre zum Beispiel, wenn sich bei diesem Ver-
gleich herausstellt, dass eine kleine Gruppe von Be-
schäftigten mit dem neuen Tarifvertrag bessergestellt
wird? Soll dann das Günstigkeitsprinzip wieder nur indi-
viduell gelten, wie es der § 613 a vorschreibt. Aus dem
Grund schließt das Bürgerliche Gesetzbuch Tarifver-
träge aus. In der ständigen Rechtsprechung wird das
Günstigkeitsprinzip bei Differenzen zwischen zwei oder
mehr Tarifverträgen genau deshalb nicht angewandt. Ha-
ben Sie sich im Übrigen auch einmal Gedanken darüber
gemacht, was eine Anwendung des § 613 a in Ihrem
Sinne für Kosten aufwirft? Kosten, die mit Sicherheit
durch Arbeitsplatzvernichtung wieder eingespart wer-
den. Und genau das schlagen Sie in Ihrem Antrag vor.
Was Tarifverträge angeht, gilt Ähnliches für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, so wünschenswert
Gewerkschaftsmitgliedschaften sind. Denn diese sind
Voraussetzung für die Anwendung des § 613 a in Bezug
auf die Tarifbindung. Sie zwingen mit einer Ausweitung
des § 613 a BGB den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern Tarifverträge auf, ob sie es nun wollen oder
nicht. Die Pflichtmitgliedschaft in Gewerkschaften,
meine Damen und Herren der Linksfraktion, gab es und
gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Aber
vielleicht ist das ein Ziel ihres Antrages?
Aus den genannten Gründen lässt der § 613 a BGB zu
Recht die Anwendung des Günstigkeitsprinzips, bezo-
gen auf Tarifverträge, nicht zu. Dies hat das Bundesar-
beitsgericht mit seinem Urteil vom 11. Mai 2005 bestä-
tigt.
Ich möchte auch unmissverständlich zum Ausdruck
bringen, dass die Vertrags- und besonders die Koaliti-
onsfreiheit nicht umsonst zu den Grundpfeilern der Bun-
desrepublik Deutschland gehören. Tarifverträge haben
nicht nur einen rechtlich fundierten Hintergrund, son-
dern auch inhaltliche. Es sind die Tarifvertragsparteien,
die zuverlässig einschätzen können, was den Unterneh-
men und den Beschäftigten zuzumuten ist. Denn die Re-
gelungen eines Tarifvertrages sind auf die besonderen
wirtschaftlichen Erfordernisse einer Branche oder Re-
gion ausgerichtet. Unsere Gewerkschaften tragen, zuver-
lässig und handlungsfähig, dieser Aufgabe im Interesse
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Rechnung.
Oder will die Fraktion Die Linke allen Ernstes behaup-
ten, dass die in ihrer Antragsbegründung genannten Ver-
tragpartner Deutsche Telekom und Verdi Lohndumping
betreiben? Damit stoßen sie mit Sicherheit nicht auf die
Zustimmung eines Teiles ihrer Parteimitglieder.
In den allgemeinen Diskussionen zu den Entwicklun-
gen und Veränderungen in der Arbeitswelt darf man hier
Europa nicht aus den Augen verlieren. Auch da spielt
der Arbeitnehmerschutz eine herausragende Rolle. Das
haben wir im Zusammenhang mit dem Arbeitnehmer-
Entsendegesetz erfahren. Nur unter Berücksichtigung
21732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
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gesamteuropäischer Belange sind Arbeitnehmerschutz-
gesetze möglich. Wie wir wissen, bekommen wir immer
wieder Urteile des Europäischen Gerichtshofs, die uns
veranlassen, nationales Recht anzupassen. Aber gerade
in Bezug auf den § 613 a BGB hat der EuGH festge-
stellt, dass die deutsche Regelung die Koalitionsfreiheit
besonders schützt. Diesbezüglich sollten wir den § 613 a
auf keinen Fall aufs Spiel setzen, indem wir jetzt etwas
hineininterpretieren.
Es bleibt lediglich zu überlegen, ob man den Günstig-
keitsvergleich bei verschiedenen Methoden zur Rege-
lung von Arbeitsbedingungen anwenden kann, beispiels-
weise wenn ein Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag mit
einer Betriebsvereinbarung des übernehmenden Betrie-
bes kollidiert. Hier könnte es möglicherweise erforder-
lich sein, durch klare Definition Missbrauch und Willkür
gegenüber den Beschäftigten zu vermeiden.
Zum Abschluss möchte ich klarstellen: Die Beschäftig-
ten sind bei Betriebsübergängen durch den § 613 a indivi-
duell vor Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen
ausreichend geschützt. Wenn bei einer Betriebsüber-
nahme zwei oder mehr Tarifverträge gelten, wird es
rechtlich sehr bedenklich. Dem steht hauptsächlich das
Grundgesetz mit der Garantie zur Koalitionsfreiheit ent-
gegen. Hier sind die Gewerkschaften in der Verantwor-
tung, ihre Mitglieder vor Ungerechtigkeiten zu schützen.
Es gibt daher keine Veranlassung, den § 613 a BGB in
Bezug auf Tarifverträge um die Anwendung des Güns-
tigkeitsprinzip auszuweiten. Im Gegenteil, die Auswei-
tung würde unweigerlich zu rechtlichen Diskussionen
führen.
Außerdem haben wir vom Europäischen Gerichtshof
die Bestätigung, dass § 613 a BGB den europäischen
Anforderungen genügt. Die Bundesrepublik Deutsch-
land würde sich keinen Gefallen tun, das Gesetz zu än-
dern.
Die Fraktion Die Linke sollte von ihrer Linie abkeh-
ren, alles staatlich regeln zu wollen. Das vermittelt viel-
leicht den Eindruck, sie sei die Partei der Gerechtigkeit,
was aber nicht zutrifft. Bei genauer Prüfung ergibt sich
sehr schnell, dass Unsicherheiten das Ergebnis sind.
Deshalb empfehle ich, den vorliegenden Antrag mit
ablehnender Tendenz zur Prüfung an den Ausschuss zu
überweisen.
Andreas Steppuhn (SPD): Tarifflucht bei Betriebs-
übergängen verhindern, so fasse ich den Titel dieses An-
trages der Linken, den wir hier heute beraten, einmal
kurz zusammen. Sicherlich, das hört sich natürlich im
ersten Moment gut an, keine Frage. Doch gestatten Sie
mir einen Blick hinter die Kulissen, um diese Forderung
einmal genauer zu beleuchten. Das, was sich in der
Wirklichkeit dahinter verbirgt, möchte ich Ihnen darlegen.
Denn so einfach, wie Sie hier Ihre Forderungen wieder
einmal aufmachen, ist es in der Praxis einfach nicht. Das
kann ich Ihnen als langjähriger Gewerkschafter, der oft
mit diesem Thema zu tun hat, sagen.
Sie fordern mit Ihrem Antrag die Änderung des § 613 a
Abs. 1 BGB, konkret: dass bei einem Betriebsübergang
und einer Unternehmensumwandlung die bisherigen Tarif-
regelungen auch dann weitergelten sollen, wenn die bei
dem neuen Unternehmer geltende Tarifregelung schlech-
ter ist. Oder anders ausgedrückt: Das gesetzlich geltende
Ablöseprinzip soll, wenn es nach Ihrem Willen ginge, von
einem Günstigkeitsprinzip ersetzt werden. Sicherlich, ich
kann in Ansätzen die Motivation Ihrer Forderung nach-
vollziehen. Dennoch muss man hier genau hinsehen und
ein paar andere Aspekte beachten.
Es ist richtig, dass der § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB
eine Ausnahme vom Günstigkeitsprinzip aufweist. Diese
soll aber nicht, wie Sie es darlegen, zur Benachteiligung
für die Arbeitnehmer führen. Denn ebenfalls ist in
§ 613 a Abs. 1 Satz 2 bis 4 auch der Schutz der Arbeit-
nehmer enthalten. Denn hier wird auch dargelegt, dem
Arbeitnehmer beim Betriebsübergang die bisherigen Ar-
beitsbedingungen zu erhalten und sie zu wahren. Um es
kurz zu sagen: Die Rechtsstellung des Arbeitnehmers soll
durch den Betriebsübergang weder verschlechtert noch
verbessert werden. Nur für den Fall, dass er durch den
Betriebsübergang den Schutz eines Tarifvertrages ver-
liert, soll er durch § 613 a Abs. 1 geschützt werden.
Beim Übergang von einem Tarifvertrag in einen ande-
ren Tarifvertrag jedoch ist dieses Schutzbedürfnis nicht
gegeben, und der Gesetzgeber geht hier zu Recht von der
„qualitativen Gleichwertigkeit aller Tarifverträge“ im
Rechtssinne aus. Würden die gemäß § 613 a Abs. 1
Satz 2 BGB zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses gewor-
denen Kollektivregelungen resistent gegen eine Ände-
rung durch eine andere Kollektivregelung, so würde man
dem § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB einen überzogenen
Schutzzweck zubilligen. Der Arbeitnehmer stünde dann
im Fall des Betriebsübergangs besser da als ohne Be-
triebsübergang. Dies würde nicht dem Sinne des Geset-
zes entsprechen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nach dem Verlust eines Tarifvertrages zu schützen, son-
dern vielmehr eine Bewertung und Auswahl einzelner
Tarifverträge zur Folge haben. Da bei Rechtsnormen
gleichen Ranges jedoch das Ordnungs- bzw. Ablösungs-
prinzip gilt, tritt der neue Tarifvertrag an die Stelle des
alten, sodass ein weiteres Schutzbedürfnis für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer faktisch nicht gege-
ben ist. Im Übrigen entspricht die Regelung des § 613 a
Abs. 1 BGB auch den Vorgaben der EG-Betriebsüber-
gangsrichtlinie.
Hier das Günstigkeitsprinzip einzuführen, funktioniert
zudem schlicht nicht. Denn das Günstigkeitsprinzip gilt
nicht im Verhältnis zwischen den verschiedenen Tarifver-
tragsparteien. Es greift dann ein, wenn eine individuelle
arbeitsvertragliche Regelung für den Arbeitnehmer objek-
tiv günstiger ist als die entsprechende Regelung im Tarif-
vertrag. Damit soll dem Arbeitnehmer ermöglicht werden,
bessere als die gesetzlichen oder kollektiven Arbeits-
bedingungen zu vereinbaren.
Im Übrigen vergessen Sie das in Deutschland veran-
kerte Recht der Tarifautonomie, die es den Tarifvertrags-
parteien, also den Gewerkschaften und den Arbeitgebern,
ermöglicht, Tarifverträge abzuschließen. Hier wollen wir
nicht eingreifen. Grundsätzlich ist die Festlegung von
Arbeitsentgelten und anderen Arbeitsbedingungen Sache
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21733
(A) (C)
(B) (D)
der Tarifvertragsparteien. Ihnen obliegt es, in Fällen des
Übergangs von Arbeitnehmern in Unternehmen mit un-
günstigeren tariflichen Entlohnungs- und Arbeitsbedin-
gungen Übergangsregelungen durchzusetzen, Verschlech-
terungen auszuschließen bzw. abzumildern. Dies durch
die Sinnentstellung bestehender Gesetze auf den Gesetz-
geber zu übertragen, halte ich für nicht angemessen.
Ein Beispiel – Sie haben es in Ihrem Antrag ja auch auf-
gegriffen –: Die Deutsche Telekom AG und die Tarifaus-
einandersetzungen aus dem Jahr 2007. Eine kurze
Anmerkung hierzu meinerseits. Tarifpartner war hier
Verdi. Verdi hatte seinerzeit eine Übergangsregelung für
die Arbeitnehmer ausgehandelt und durchgesetzt, die in
die T-Service-Gesellschaften wechselten. Es ist richtig,
dass in den T-Service-Gesellschaften ein um 6,5 Prozent
abgesenktes Gehalt galt. Jedoch hatte Verdi diese Redu-
zierung des Gehaltes über einen Zeitraum von 42 Mona-
ten durch Ausgleichszahlungen, die stufenweise erfolgen,
abgemildert. Konkret lautet die Vereinbarung: 100 Pro-
zent in den ersten 18 Monaten, im folgenden Jahr zu
66 Prozent und im letzten Jahr zu 33 Prozent. Nun,
meine Damen und Herren, Sie sehen, so, wie Sie es hier
in Ihrem Antrag darstellen, war es schlichtweg nicht.
Die derzeitige Konjunkturkrise macht uns aber deutlich:
Tarifverträge müssen flexibel sein können. Es muss auch
gewährleistet sein, dass durch Tarifverträge die Arbeitsbe-
dingungen entsprechend angepasst werden können. Die
geltende gesetzliche Regelung ist eben nicht darauf aus-
gerichtet – so wie Sie es unterstellen –, es den Unterneh-
men so günstig und einfach wie möglich zu machen, die
Arbeitnehmer in Lohndumping zu treiben. Vielmehr soll
mit der gesetzlichen Regelung zum Beispiel bei Über-
nahmen oder in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine
arbeitsplatzerhaltende Sanierung von Unternehmen mög-
lich sein, damit eine schlechte wirtschaftliche Lage eben
nicht in Kündigungs- und Entlassungswellen ausartet.
Deshalb hat der Gesetzgeber auch unter anderem diese
Regelung geschaffen.
Doch hier möchte ich noch einen anderen sehr wichtigen
Punkt mit in den Zusammenhang einbringen: Mindest-
löhne. Das Thema bietet sich an, um Ihnen noch einmal
deutlich zu machen, wie wichtig Mindestlöhne für die
Menschen sind. Ich spreche dabei nicht von Dumping-
mindestlöhnen, sondern von Mindestlöhnen, von denen
die Menschen auch gut und auskömmlich leben können,
von Mindestlöhnen, die ihre Arbeit angemessen wider-
spiegeln, von Mindestlöhnen, die eine Tarifflucht von
vornherein ausschließen, weil sie existieren und nicht
gedrückt werden können, weil sie die Tarifflucht obsolet
machen. Als SPD und SPD-Bundestagsfraktion kämpfen
wir, und zwar nicht erst seit heute, für die Einführung
von flächendeckenden Mindestlöhnen in Deutschland.
Erst heute sind wir hier einen wichtigen Schritt weiter-
gekommen
Wir haben es geschafft. Wir haben uns in der Koalition
durchgesetzt. Wir haben das Arbeitnehmerentsende-
gesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz gegen
die Bestrebungen der Union reformiert. Wir haben beide
Gesetze heute beschlossen. Damit werden weitere sechs
Branchen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufge-
nommen. Ein weiterer und wichtiger Schritt in unserem
Kampf für einen flächendeckenden Mindestlohn für alle
Bereiche. Ein Wettlauf um niedrige Löhne und schlech-
tere Arbeitsbedingungen führt eben nicht zu mehr
Beschäftigung. Vielmehr schwächen niedrige Löhne die
Kaufkraft und die Binnenkonjunktur.
Gleichzeitig gehören für uns sowohl die Tarifautonomie
als auch die Mitbestimmung im Betrieb und in den Un-
ternehmen zu den Fundamenten unseres Sozialstaates.
Sie sorgen für einen fairen Interessenausgleich zwischen
Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Dies, meine Damen und
Herren, war immer auch ein Vorteil für den Standort
Deutschland: sichere Arbeitnehmerrechte und gute soziale
Standards.
Heinz-Peter Haustein (FDP): Der hier zu beratende
Antrag der Fraktion Die Linke fordert, das sogenannte
Ablösungsprinzip bei Betriebsübergängen durch das
Günstigkeitsprinzip zu ersetzen. Nach derzeitiger
Rechtslage tritt bei Betriebsübergängen der neue Be-
triebsinhaber in die Rechte und Pflichten der bestehen-
den Arbeitsverhältnisse ein. Sind diese Rechte und
Pflichten durch die Rechtsnorm eines Tarifvertrages
oder einer Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie
Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Arbeits-
nehmer und dem neuen Inhaber. Vor Ablauf eines Jahres
nach dem Betriebsübergang dürfen die Regelungen nicht
zum Nachteil der Arbeitnehmer geändert werden. Die
Ausnahme von dieser Regelung ist das Ablösungsprin-
zip. Es besagt, die Rechte und Pflichten werden nicht In-
halt des neuen Arbeitsverhältnisses, sofern sie bei dem
neuen Betriebsinhaber durch einen anderen Tarifvertrag
oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt
sind. Soweit die jetzige Rechtslage.
Die Linke möchte nun § 613 a BGB dergestalt än-
dern, dass eine Schlechterstellung von Arbeitnehmern
bei Betriebsübergängen aufgrund des Wechsels in einen
anderen Tarifvertrag oder eine andere Betriebsvereinba-
rung beim neuen Inhaber nicht mehr möglich ist. Entlar-
vend ist in dem Zusammenhang die Begründung des
Antrages. Ich möchte zwei Stellen zitieren: „Durch Auf-
spaltung, Ausgründung, … schaffen Unternehmen Kon-
stellationen, die es … erlauben, zum Zwecke der Ge-
winnsteigerung … große Teile der Belegschaft
schlechter zu stellen.“ Und: „Um dieses Ziel der Ver-
schlechterung der Konditionen“ – gemeint sind die Ver-
schlechterungen für die Arbeitnehmer – „zu erreichen, …“
Hierin offenbart sich die Denkart der Linken: Dem Un-
ternehmer geht es nach Auffassung der Linken nur um
Gewinnsteigerung und um sein Ziel, die Arbeitnehmer-
schaft auszuquetschen.
Sie führen immer noch Ihren Klassenkampf wie zu
Zeiten der Industrialisierung. Leider ist auch Ihre Argu-
mentation ungefähr so zeitgemäß wie die Dampfma-
schine. Sie blenden einfach die Realitäten der sozialen
Marktwirtschaft aus und wollen nicht zur Kenntnis neh-
men, dass Wirtschaft in Zeiten von Globalisierung und
weltweitem Wettbewerb mit seinen Zwängen und Not-
wendigkeiten etwas komplizierter ist als die Tauschwirt-
schaft. Der Kapitalist auf der einen, der ausgebeutete Ar-
21734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
beitnehmer auf der anderen Seite – das ist nicht mehr die
Rollenverteilung. Grenzüberschreitend und weltweit tä-
tige Unternehmen im globalen Wettbewerb sind heute
die Realität. Dass auch schlicht die Fortführung des Be-
triebes das Ziel des Unternehmers sein kann, müssten
Sie erst einmal zur Kenntnis nehmen. Und dass das Ziel
der Fortführung des Betriebes mitunter in wirtschaftlich
schwierigen Situationen eine Aufgabe ist, die uns allen
etwas abverlangt, wäre die zweite wichtige Feststellung.
Wenn man berücksichtigt, dass es wirtschaftlich
schwierige Zeiten geben kann, in denen Flexibilität ver-
langt ist und es die Alternative Konkurs des Unterneh-
mens oder Anpassung der Arbeitnehmerschaft an die Si-
tuation unter Inkaufnahme einer Schlechterstellung gibt,
kann doch die Konsequenz für uns nicht sein, dass wir
eine solche Schlechterstellung von vornherein ausschlie-
ßen. Die Folgen sind klar: Das Unternehmen muss
schließen, weil es dem Wettbewerb nicht mehr gewach-
sen ist. Die Menschen verlieren ihre Beschäftigung. Die
Ausgaben steigend mit der Arbeitslosigkeit. Dem gegen-
über stehen zusätzlich Einnahmeausfälle durch ausblei-
bende Steuern; denn wer arbeitslos ist, kann auch keine
Steuern zahlen.
Wenn aber dies die Folgen des Antrags der Linken
und der Forderung nach Geltung des Günstigkeitsprin-
zips sind, dann brauchen wir einen anderen Begriff. Ich
bin nämlich der festen Überzeugung, dass das, was die
Linken wollen, nicht „günstig“ ist, und zwar für keinen:
nicht für die betroffenen Menschen, die arbeitslos wer-
den, nicht für den Staat und nicht für die Steuerzahler.
Völlig außer Acht gelassen wird bei der Argumenta-
tion des Antrages auch der Aspekt, dass die aktuelle
Rechtslage dem Zweck der Vereinheitlichung von Rege-
lungen in einem Betrieb dient. Sonst fordern die Linken
bei jeder Gelegenheit einheitliche Regelungen und glei-
che Bedingungen. Hier ist nun von dem Argument keine
Rede mehr.
Wir brauchen daher eine Neudefinition des Günstig-
keitsprinzips. Nicht nur eine Beibehaltung des Status
quo kann je nach Fallkonstellation die günstigste Variante
sein. Eine Schlechterstellung bei Arbeitszeit oder Lohn
kann, wenn die Alternative die Arbeitslosigkeit ist, eine
sehr attraktive Möglichkeit sein, weil es bedeutet, dass
die Menschen überhaupt Arbeit haben.
Mit dem Verständnis der Linken davon, was gut für
die Menschen ist – wie es auch im vorliegenden Antrag
wieder zum Ausdruck kommt –, wird nichts zum Wohle
der Menschen geregelt.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Banker als Verursa-
cher der Finanz- und Wirtschaftskrise bekommen von
dieser schwarz-roten Bundesregierung Milliarden Euro
hinterhergeworfen. Nicht etwa zweckgebunden zur kre-
ditgebundenen Sicherung der Wirtschaft, nein, um mit
ihrer spekulativen Politik fortzufahren. Wer leidet am
schwersten unter den Folgen diese Politik? Die Bürge-
rinnen und Bürger, die ohnehin schon wenig zum Leben
haben, die Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher, die
Niedriglohnempfänger und die Rentnerinnen und Rent-
ner und nicht zuletzt unsere Kinder. Die Krise ist aber
nicht auf das Versagen einer Gruppe von Managern zu-
rückzuführen, sie ist dem System des Kapitalismus im-
manent. Krisen gehören zu seinem Zyklus, und das stän-
dige Mahnen seitens unserer Fraktion, rechtzeitig
aufzuwachen, bleibt erfolglos.
Die Regierung rettet mit ihren Paketen das System
und zwingt die Bürgerinnen und Bürger zum Mittun.
Bezeichnend ist, dass Hunderttausende Leiharbeiter
und -arbeiterinnen sowie Teilzeitjobber – diejenigen, die
am stärksten von Arbeitslosigkeit bedroht sind – außen
vor bleiben. Für sie wird der mit der Agenda 2010 aus-
gebaute Niedriglohnsektor zur Falle. Und sie haben
nichts von den vereinbarten Regeln zur Kurzarbeit. Da
viele von ihnen nur kurzzeitige Beschäftigungen haben,
können sie oftmals nicht einmal Arbeitslosengeld bean-
spruchen, sondern sie fallen gleich in Hartz IV. Den Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Gewerk-
schaften wird Lohnzurückhaltung empfohlen, um den
Konsolidierungsprozess nicht zu gefährden. Die Leihar-
beit ist massiv von betriebsbedingten Kündigungen be-
troffen, und die Zahl der Anträge auf Kurzarbeit hat bei
der Bundesagentur für Arbeit bereits im Dezember mas-
siv zugenommen.
Soziale Verantwortung ist für Großunternehmen, wie
beispielsweise die Deutsche Telekom AG, ein Fremd-
wort. Ende 2007 bzw. Anfang 2008 hat das Unterneh-
men ohne wirtschaftliche Not und lediglich zur Steige-
rung seiner Gewinne mehrere Callcenter mit Tausenden
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an private Callcenter-
Betreiber verkauft, so unter anderem der Verkauf von
VCS, Vivento Customer Services, an Arvato Services,
Bertelsmann Konzern. Dabei geht es um elf Standorte
mit 1 950 Beschäftigten. In etwa der gleichen Größen-
ordnung wurde auch an Walter Services verkauft, und
der letzte Deal war mit D & S Europe mit circa 500 Be-
schäftigten.
Es erfolgt ein Betriebsübergang nach § 613 a BGB
von einem tarifierten Unternehmen – VCS/Deutsche Te-
lekom – zu einem nicht tarifierten Unternehmen oder ei-
nem Unternehmen mit einem schlechteren Tarifvertrag.
In diesem Zusammenhang erfolgt eine Sicherung der
bisherigen Konditionen nur bis Ende 2008 bzw. bis zum
Ende der Frist nach § 613 a BGB. Nach Aussage von Ar-
vato/Bertelsmann beträgt das durchschnittliche Jahres-
einkommen der ehemaligen VCS-Beschäftigten
36 000 Euro. Das bedeutet bereits ab 1. Januar 2009
wird das Jahreseinkommen um circa ein Drittel gekürzt
und soll dann weiter nach Ablauf von fünf Jahren auf die
1 224 Euro pro Monat bzw. 14 688 Euro pro Jahr absin-
ken. Damit entsteht eine Verdiensteinbuße von über
58 Prozent.
Darüber hinaus sollen die Arbeitsbedingungen ver-
schlechtert werden, die Wochenarbeitszeit von 38 Stun-
den auf 40 Stunden erhöht und der Urlaub um drei bis
vier Tage verkürzt und die Zuschläge für Feiertags-,
Nachtarbeit und Überstunden gesenkt werden. Erreicht
werden soll dies mittels individuell neu abgeschlossener
Arbeitsverträge oder neuer Betriebsvereinbarungen. Ta-
rifverhandlungen werden strikt abgelehnt: „haben sich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21735
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überholt und passen nicht zum Prinzip Bertelsmann“.
Um den Druck zu erhöhen, werden Einzelgespräche ge-
führt, oft mehrfach, und es wird teilweise mit Standort-
schließungen gedroht. Aus Angst vor dem Arbeitsplatz-
verlust und einem Absturz in Hartz IV haben bereits
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neue Ar-
beitsverträge unterschrieben, in denen eine kontinuierli-
che Verschlechterung ihrer Einkommens- und Arbeits-
verhältnisse einzelvertraglich festgeschrieben ist. Diese
Vorgehensweisen spielen sich so aber auch im Banken-
und Versicherungsgewerbe, aber vor allen Dingen auch
im Einzelhandel ab.
Es muss verhindert werden, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer so zum Spielball unternehmerischer
Entscheidungen werden. Dies ist in der heutigen Zeit
und unter den gegebenen Bedingungen nur möglich
durch gesetzliche Regeln, die gerade das von mir ge-
schilderte Vorgehen unmöglich machen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Immer wieder nutzen Unternehmen jede sich nur bie-
tende Möglichkeit, um ihre Gewinne auf Kosten der Be-
schäftigten zu steigern. Es werden so lange legale gesell-
schaftsrechtliche Kapriolen geschlagen, bis sich die
Taschen der Unternehmer ordentlich füllen; die Beschäf-
tigten müssen dafür dann den Gürtel enger schnallen.
Dabei wird auch nicht Halt gemacht vor Regelungen, die
eigentlich dazu gedacht waren, Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu schützen.
Dazu gehört auch § 613 a des Bürgerlichen Gesetzbu-
ches. Eigentlich sollen die Rechte der Beschäftigten über
diese Vorschrift bei einem Teilübergang oder bei einem
vollständigen Übergang des Betriebes an einen neuen
Eigentümer gewahrt bleiben. Der Paragraf bestimmt,
dass der neue Arbeitgeber in die Rechte und Pflichten
des Arbeitsverhältnisses eintritt. Wenn diese über einen
Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarungen geregelt wa-
ren, so werden sie Bestandteile des Arbeitsverhältnisses
bei dem neuen Arbeitgeber und dürfen frühestens nach
einem Jahr zum Nachteil der Beschäftigten geändert
werden. Es gibt aber auch davon eine Ausnahme: Wenn
es bei dem neuen Inhaber einen anderen Tarifvertrag
und/oder eine andere Betriebsvereinbarung gibt, dann
gelten die Regelungen des neuen Unternehmens auch
ohne Übergangsfrist und auch wenn die Beschäftigten
dadurch schlechter gestellt werden.
Festzustellen ist, dass Unternehmen den Paragrafen
missbrauchen, um die Löhne ihrer Beschäftigten zu drü-
cken. Dafür werden formal, ohne die tatsächlichen Be-
sitzverhältnisse zu verändern, Betriebsteile aus Unter-
nehmen so herausgelöst, dass schlechtere Tarifverträge
zur Geltung kommen. Die Beschäftigten sind die Leid-
tragenden: Die Arbeit bleibt die gleiche, aber der Lohn
sinkt. Das ist Lohndumping. Das Vorgehen des Telekom-
Konzerns ist hierfür ein unrühmliches Beispiel.
Es ist unsere Aufgabe, solche Schlupflöcher in den
Gesetzen zu schließen. Wir sind es den Beschäftigten
schuldig, dass gut gemeinte gesetzliche Regelungen
auch wirklich gute Wirkung zeigen. Wenn sich nun Re-
gelungslücken auftun, wenn es skrupellosen Rechts- und
Personalabteilungen gelingt, über die Gründung von
Tochtergesellschaften die bisher geltenden Tariflöhne
abzusenken, wenn das auch noch in Verbindung mit
Leiharbeit durch konzerninterne Arbeitnehmerüberlas-
sung geschieht und wenn wir das als Gesetzgeber alles
wissen, dann müssen wir handeln und das ändern.
Wie ein geänderter § 613 a aussehen muss, damit die
Beschäftigten bei Betriebsübergängen wirklich besser
geschützt sind, sollten wir im Ausschuss klären. Ich
hoffe, dass wir zu einer guten Lösung kommen; denn ich
gehe davon aus, dass auch Sie, meine Damen und Herren
aus den Regierungsfraktionen, ein Interesse daran haben,
die Missstände zu beheben, und sich von daher kon-
struktiv an der Ausschussberatung beteiligen werden.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Qualitätssicherung im Wissenschaftssystem
durch eine differenzierte Gleichstellungs-
politik vorantreiben
– Frauen auf dem Sprung in die Wissen-
schaftselite
– Gleichstellung in der Wissenschaft durch
Modernisierung der Nachwuchsförderung
und der Beschäftigungsverhältnisse herstel-
len
– Mehr Qualität und Exzellenz durch mehr
Chancengerechtigkeit und Gender-Perspek-
tiven in Wissenschaft und Forschung
– Gleichstellung und Genderkompetenz als
Erfolgsfaktor für mehr Qualität und Inno-
vation in der Wissenschaft
(Tagesordnungspunkt 21)
Anette Hübinger (CDU/CSU): Vor nunmehr über
100 Jahren wurde das Frauenstudium in Preußen zuge-
lassen, vor mehr als 90 Jahren wurde in Deutschland das
Frauenwahlrecht eingeführt, und vor über 50 Jahren ist
das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft getreten. Diese
Zeitpunkte stellen ohne Frage wichtige Zäsuren in der
deutschen Geschichte dar. In den folgenden Jahrzehnten
– vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts –
wurde in Fragen der Gleichstellung von Frauen und
Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen Deutsch-
lands sehr viel erreicht.
Trotz allen Fortschritts müssen wir aber auch heute
noch Schlagzeilen wie diese lesen: „Frauen verdienen
20 Prozent weniger“, „Schwangere haben schlechte Kar-
ten“ oder „Alleinerziehende Mütter haben es schwer am
Arbeitsmarkt“. Die Diskriminierung von Frauen berührt
auch in unserer heutigen modernen Welt noch sehr viele
gesellschaftliche Bereiche. Dieser Befund trifft leider
auch auf das deutsche Wissenschafts- und Forschungs-
system zu.
21736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
Mit dem heute zur Abstimmung vorgelegten Antrag
„Qualitätssicherung im Wissenschaftssystem durch eine
differenzierte Gleichstellungspolitik vorantreiben“ stellen
wir uns dieser Herausforderung. Die Lage von Frauen in
Hochschulen und außerhochschulischen Forschungsein-
richtungen lässt sowohl Licht als auch Schatten erken-
nen. Der aktuellste Bericht zur Thematik der Gemeinsamen
Wissenschaftskonferenz unterstreicht diese Einschätzung.
Aus ihm geht hervor, dass der Anteil von Frauen in Wis-
senschaft und Forschung zwar langsam, aber stetig wei-
ter wächst. In diesem Zusammenhang muss betont wer-
den, dass dieser Trend alle Qualifikationsstufen, also
auch die Leitungspositionen umfasst.
Der aktuelle Bericht „Chancengleichheit in Wissen-
schaft und Forschung“ der Gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz basiert auf den Jahren 2006, 2007 und
zeigt, dass im Jahr 2006 5 735 Frauen als Professorinnen
in Deutschland tätig waren. Dies entspricht einem Frauen-
anteil von 15,2 Prozent. Im Vergleich dazu mussten wir
im Jahr 1992 noch einen sehr geringen Anteil von 6,5 Pro-
zent attestieren. In den zurückliegenden Jahren konnte
somit die Zahl der Professorinnen mehr als verdoppelt
werden.
Mir ist bewusst, dass die aktuellen 15 Prozent Frauen-
anteil an Professuren im internationalen Vergleich noch
kein Ruhmesblatt darstellen. Aus meiner Sicht spricht
allerdings nichts dagegen – und mit den Maßnahmen der
Bundesregierung unterstützen wir dieses Ziel –, in den
nächsten Jahren ähnliche Steigerungsraten wie im Zeit-
raum von 1992 bis 2006 anzustreben. Damit können wir
schneller, als vielleicht vonseiten der Opposition ge-
dacht, zum internationalen Spitzenfeld aufschließen.
Des Weiteren geht aus dem Datenmaterial hervor,
dass knapp 50 Prozent der Studienanfänger Frauen sind,
der Frauenanteil an den Promotionen bei circa 40 Pro-
zent liegt und der Anteil an den Habilitationen immerhin
über 20 Prozent beträgt. Dies kann uns natürlich, gerade
was die Habilitationen und den Karriereschritt hin zur
Professur betrifft, nicht zufriedenstellen. Doch bei allem
noch nötigen Verbesserungsbedarf ist es ein solides Fun-
dament, auf dem wir aufbauen können. Entsprechend
fällt auch das Fazit der Gemeinsamen Wissenschafts-
konferenz im genannten Bericht aus: „Obwohl in fast al-
len Bereichen Verbesserungen zu verzeichnen sind, ver-
deutlicht das aktuelle Datenmaterial, dass das Ziel der
gleichberechtigten Teilhabe noch nicht erreicht ist. Es
gilt deshalb, die Bemühungen zu verstärken, damit sich
der Anteil von Frauen an qualifizierten Bildungsab-
schlüssen auch in einer steigenden Beteiligung von
Frauen an Entscheidungs- und Führungspositionen in
Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft fortsetzen
kann.“
Genau diese Maxime liegt unserem Antrag zugrunde.
Wir verstärken mit dem vorgelegten Antrag unsere Be-
mühungen auf dem Feld der Gleichstellungspolitik im
deutschen Wissenschafts- und Forschungssystem, und
dies lassen wir uns nicht kleinreden.
Bevor ich unsere Maßnahmen zusammenfassend vor-
stelle, möchte ich voranstellen, dass sich heute glückli-
cherweise die Einsicht durchgesetzt hat, dass starre Quo-
tenregelungen nicht das erwartete Allheilmittel sind, wie
von deren Befürwortern so oft behauptet.
Auch das sogenannte Kaskadenmodell ist mit Vor-
sicht zu betrachten. Natürlich ist es verlockend, als Be-
zugsgröße bei der Stellenbesetzung mindestens den glei-
chen Frauenanteil durchzusetzen, welchen die direkt
vorangegangene Qualifikationsstufe aufweist. Bei ge-
nauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass es sich hier
um eine – wie ich zugegeben muss – flexible Quote, aber
doch um eine Quote handelt. Ein solcher Ansatz verur-
sacht bei vielen Wissenschaftlerinnen und auch bei mir
Bauchschmerzen. Wir haben noch ausreichend viele,
sinnvolle gleichstellungspolitische Instrumente und
Maßnahmen im Köcher, und müssen nicht mit unnötigen
Zwängen drohen. Ich kann allerdings nicht abstreiten,
dass die Orientierung am Prinzip des Kaskadenmodells
in einigen Bereichen durchaus sinnvoll ist, und deshalb
verweisen wir auch in unserem Antrag darauf. Im Rah-
men von Selbstverpflichtungen oder Zielvereinbarungen
bietet die Ausrichtung an diesem Grundprinzip einen
praxisgerechten Bezugsrahmen.
Da die Ursachen der Diskriminierung von Frauen im
Wissenschafts- und Forschungssystem vielfältig sind,
fallen unsere Antworten entsprechend differenziert aus.
Die von uns vertretene breit gefächerte Gleichstellungs-
politik zielt deshalb akzentuiert auf folgende Schwer-
punkte ab: verbindliche Zielvereinbarungen im Rahmen
der Forschungs- und Institutionenförderung zu etablie-
ren – dies impliziert auch, bei Nichteinhaltung negative
Sanktionsmaßnahmen in Betracht zu ziehen –, Frauen
auf den Weg in Spitzenpositionen zu fördern, die aktive
Ansprache von Frauen zu verbessern und unterstützende
Coaching- und Mentoringprogramme weiter zu forcie-
ren, die Transparenz bei Beurteilungs- und Berufungs-
verfahren zu erhöhen, die Vereinbarkeit von Familie und
Karriere zu erleichtern und Frauen für wissenschaftliche
Fächer zu begeistern, in denen sie heute noch nicht aus-
reichend vertreten sind. Verwiesen sei an dieser Stelle
auf natur- und ingenieurwissenschaftlich ausgerichtete
Studiengänge.
Diese Ziele und Maßnahmen flankieren nicht zuletzt
die erfolgreich laufenden Programme der Bundesregie-
rung. Oft wird leider übersehen, welche Aktivitäten von-
seiten der Bundesregierung schon angestoßen wurden.
Um es Ihnen zu verdeutlichen, hier einige Beispiele: Zur
besseren Vereinbarkeit von Familie und beruflicher
Karriere wurde eine Kinderbetreuungskomponente im
BAföG eingeführt; es wurde die Möglichkeit eröffnet,
die Befristungszeit von Beschäftigungsverhältnissen an
Hochschulen von Müttern und Vätern um zwei Jahre pro
Kind zu verlängern, soweit im Zeitraum der Beschäfti-
gung Kinder unter 18 Jahren betreut werden; im Rahmen
des Professorinnenprogramms werden 200 Professuren
für Frauen über eine Laufzeit von fünf Jahren gefördert,
und zur vermehrten Gewinnung von jungen Frauen für
mathematische, ingenieur- und naturwissenschaftliche
Berufe wurde der Pakt für Frauen in MINT-Berufen ins
Leben gerufen. Diese Liste könnte mit den Maßnahmen
zur Frauenförderung im Rahmen der Exzellenzinitiative,
des Paktes für Forschung und Innovation, des Hoch-
schulpakts 2020 und der vielfältigen Berücksichtigung
von Genderaspekten in der Forschung erweitert werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21737
(A) (C)
(B) (D)
Es wird deutlich: Der Bund stellt sich seiner Verant-
wortung. Was mussten sich die Fraktionen der CDU/
CSU und SPD nicht alles seit der Veröffentlichung ihres
Antrages anhören. Angeblich hat uns ja der Mut verlas-
sen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir werden
auch in Zukunft stringent den Weg einer breit gefächer-
ten Gleichstellungspolitik verfolgen. Wir sind uns näm-
lich der Tatsache bewusst, dass es sich bei diesem wich-
tigen gesellschaftlichen Thema um einen fortlaufenden
Prozess handelt, und deshalb bleiben wir am Ball.
Der vorliegende Antrag ist ein weiterer Schritt auf
dem Weg zu einem Wissenschafts- und Forschungssys-
tem, in dem jeder, ob Frau oder Mann, mit gleichen
Chancen seinen Karriereweg meistern kann. Deshalb
bitte ich darum, dem vorliegenden Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD zuzustimmen.
Gesine Multhaupt (SPD): Gestatten Sie mir, mit ei-
nem Zitat von Dr. Karin Mölling, einer Wissenschaftle-
rin in der Schweiz, zu beginnen: „Die Frage, ob ich als
Frau mit einem hübschen Kleid unter meiner Schutzklei-
dung hier stehe oder als Mann die Versuchsreihen an-
lege, spielt inzwischen erfreulicherweise keine wirkliche
Rolle mehr. Es geht doch in erster Linie um die Ergeb-
nisse in der Forschung. Da wollen und da müssen wir
rasch Fortschritte machen, ganz unabhängig vom Ge-
schlecht.“ Karin Mölling ist Professorin an der Universi-
tät in Zürich. Als Virologin forscht sie an einem Pro-
gramm zur Bekämpfung von Aids.
Endlich – das lässt sich aus der Aussage der Professo-
rin heraushören – wird exzellente Wissenschaft nach
Leistung und ihren Ergebnissen beurteilt und hängt nicht
mehr vorwiegend vom Geschlecht ab. In der Frage der
Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft können
wir für die vergangenen Jahre also kleine Fortschritte
verbuchen.
Darüber hinaus macht sie mit ihrer Aussage Mut.
Frauen im Wissenschaftssystem ist es trotz aller Wider-
stände in den zurückliegenden Jahren gelungen, ein ge-
sundes und gewachsenes Selbstbewusstsein an den Tag
zu legen. Sie wissen um ihre Leistungen. Sie nehmen
selbstverständlich und selbstbewusst einen festen Platz
in Forschungseinrichtungen und an Universitäten ein.
Ob in der Physik oder Biologie, ob in der Quantenme-
chanik oder Mathematik, mit den Frauen in Forschung
und Wissenschaft geht es voran.
Die verschiedenen Initiativen und Bemühungen, die
wir Sozialdemokraten in den zehn Jahren unserer Regie-
rungsbeteiligung für Wissenschaftlerinnen an den Tag
gelegt haben, tragen somit Früchte. Schritt für Schritt
sind wir im Wissenschaftsbereich durch eine differen-
zierte Gleichstellungspolitik vorangekommen. Gemein-
sam haben wir in der Bundesregierung wegweisende Ge-
setzesvorhaben auf den Weg gebracht, von denen Frauen
in Wissenschaft und Forschung heute profitieren.
Ich will nur einige Beispiele nennen: Die Exzellenz-
initiative, der Pakt für Forschung und Innovation, die
Initiativen für mehr Frauen in den sogenannten MINT-
Berufen, Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von
wissenschaftlicher Tätigkeit und Kinderbetreuung und
auch die Stipendienförderung von Studierenden mit Kin-
dern gehören dazu. Besonders hervorheben möchte ich
das Professorinnenprogramm. Damit werden 200 zusätz-
liche Professuren für Frauen an insgesamt 79 Hochschu-
len und Universitäten möglich.
Das alles sind wichtige Etappen auf dem Weg zu einer
umfassenden Gleichstellung der Frauen in der Wissen-
schaft. Hier ist die sozialdemokratische Handschrift un-
verkennbar. Wir werden in diesen Anstrengungen wei-
termachen, damit der Anteil der Frauen in der
Wissenschaft vor allem auch in den für Frauen untypi-
schen Fachbereichen weiter wächst. Gemeinsam mit un-
serem Koalitionspartner konnten wir ein entsprechendes
Maßnahmenpaket auf die Beine stellen, das Karriere-
hemmnisse junger Frauen abbaut. Dazu gehört beispiels-
weise die noch immer nicht überzeugend geregelte Ver-
einbarkeit von Beruf und Familie.
Es ist unbestritten, dass die Bremsen auf der Karriere-
leiter für Frauen nicht individueller Natur sind, sondern
vor allem strukturelle Gründe haben. Beispielsweise ist
bekannt, dass viele der Berufungsverfahren viel zu lang
dauern. Sie bieten damit keinerlei Planungssicherheit,
die aber insbesondere Frauen brauchen, wenn sie zusätz-
lich Familie und Beruf miteinander in Einklang bringen
möchten. Professorin Magdalena Götz, die im Bereich
der Stammzellenforschung arbeitet, hat das einmal so
auf den Punkt gebracht: „Noch lassen sich Kinder und
Karriere für Wissenschaftlerinnen in Deutschland
schwer vereinbaren. Aus diesem Grund hängen viele
Frauen die Forschung an den Nagel, oder sie wandern
ins Ausland ab, wo es bessere Regelungen gibt.“ Um
hier der Abwanderung gegenzusteuern, ist also Hand-
lungsbedarf dringend geboten.
Weiter zählt zu den strukturellen Barrieren die Tatsa-
che, dass bei den Berufungsverfahren den Frauen eine
„notwendige Kultur der Ermutigung“ fehlt, wie das die
ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, Jutta
Limbach, genannt hat. Promotion, Habilitation und Be-
rufung auf eine Professorinnenstelle dauern für eine ver-
nünftige Karriere- und Lebensplanung viel zu lang. Der
Wissenschaftsrat hat errechnet, dass die durchschnittli-
che Dauer eines Berufungsverfahrens bei 14 Monaten an
Fachhochschulen und bei 20 Monaten an Universitäten
liegt. Der Gesamtprozess von der Ausschreibung bis zur
Anhörung und zum Berufungsverfahren dauert bis zu
2,7 Jahre. Das ist ein geradezu skandalöser Zeitraum, der
Planbarkeit unmöglich macht.
Zur nötigen Planbarkeit eines Berufs- und Karriere-
wegs gehört auch die Frage der Finanzierbarkeit. Damit
bin ich beim Stichwort der Studienfinanzierung. Wir So-
zialdemokraten sprechen uns aus gutem Grund gegen
Studiengebühren aus. Es gibt berechtigte Annahmen,
dass die Studiengebühren, die in einzelnen Bundeslän-
dern erhoben werden, Frauen von einer Wissenschafts-
laufbahn abschrecken. Leider konnten wir die Kollegen
von der Union nicht davon überzeugen, diese Forderung
in unserem Antrag mit aufzugreifen.
Besonders freue ich mich, dass verbindliche Zielver-
einbarungen und das sogenannte Kaskadenmodell für
unseren Koalitionspartner keine Fremdwörter mehr sind
und sich die Fraktion auf diese Position eingelassen hat.
Kaskadenmodell bedeutet, dass man sich bemüht, in ei-
21738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
ner unteren Qualifikationsebene einen bestimmten fest-
gelegten Anteil an Frauen zu erreichen, und dann das
Ziel verfolgt, in der nächsthöheren Hierarchiestufe die-
sen Anteil ebenfalls zu erreichen. Damit gelingt es, den
Frauenanteil vor allem in den Positionen zu steigern, wo
er ohne ein regulierendes Instrument dieser Art bisher
eher überproportional abnimmt.
Gleichzeitig machen wir mit diesem Vorhaben deut-
lich, dass wir Sozialdemokraten uns nicht auf reine Ab-
sichtserklärungen oder Freiwilligkeitsregelungen verlas-
sen. Wir streben verbindliche Zielvereinbarungen an und
scheuen uns auch nicht mehr, öffentliche Fördermittel an
positive Anreize zur Gleichstellung zu koppeln. Sollten
die festgeschriebenen Zielvereinbarungen nicht einge-
halten werden, sollten unserer Auffassung nach auch
Sanktionsmaßnahmen in Betracht gezogen werden.
Doch um Frauen in der Wissenschaft mit einer diffe-
renzierten Gleichstellungspolitik voranzubringen, gibt es
nicht nur die Große Koalition im Bund. Es lohnt sich
auch ein Blick in die Bundesländer. Die Länder sind oh-
nehin im Sinne des föderativen Systems wichtige Weg-
bereiter und teilweise auch Unterstützer auf dem Weg
zur Gleichstellung. In Brandenburg steht die bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Mittelpunkt der
Bemühungen, um junge Frauen für die Forschung zu in-
teressieren. In Bremen wird diskutiert, die Zahl der
Frauen in der sogenannten Post-doc-Phase zu erhöhen.
Das steigert dann auch mittelfristig den Anteil von Junior-
professorinnen und Professorinnen. In Berlin bildet die
Gleichstellung der Geschlechter in allen Lebensberei-
chen den zentralen Kern des politischen Selbstverständ-
nisses. Zur Gleichstellung in der Wissenschaft sollen
Controllinginstrumente genutzt werden, um den Anteil
der Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. Das sind
nur einige Beispiele, die dem Ziel dienen, die Gleichstel-
lungspolitik für Frauen in der Wissenschaft zügig voran-
zubringen.
Wir haben längst erkannt: Regulierende Maßnahmen
waren und sind unverzichtbar, um die Talente und Fähig-
keiten der Frauen innerhalb ganz unterschiedlicher Wis-
senschaftsfelder zur Entfaltung zu bringen. Das ist wichtig
für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Forschungseinrich-
tungen auf internationalem Parkett. Und das ist bedeut-
sam für unsere Wirtschaft, die in der Konkurrenz mit an-
deren Ländern zu bestehen hat. Wir können es uns nicht
leisten, die Fülle an Kreativität, Wissen und Ausdauer
nur zur Hälfte auszuschöpfen und Frauen nicht zum
Zuge kommenlassen. Allein in den Ingenieurswissen-
schaften werden nach Schätzungen des Bundesministe-
riums für Bildung und Forschung demnächst
85 000 kluge Köpfe fehlen. Soweit aber darf es nicht
kommen. Deshalb setzen wir uns mit allem Nachdruck
für Maßnahmen zu einer differenzierten Gleichstellungs-
politik im Wissenschaftsbereich ein, um dem Fachkräf-
temangel, dem demografischen Wandel und dem inter-
nationalen Wettbewerb kompetent begegnen zu können.
Wir Sozialdemokraten haben immer für die Rechte
der Frauen, ihre Chancen und Ansprüche auf der Grund-
lage des Gleichheitsgrundsatzes gekämpft. Ich erinnere
nur an das Frauenwahlrecht, an dessen historische Be-
deutung in diesen Tagen ja besonders erinnert wird. Wir
haben für Gleichstellungsgesetze und Quotenregelungen
gestritten, und wir werden auch weiterhin alle vorhande-
nen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Gleichstellung
der Frauen im Wissenschaftsbereich weiter voranzutrei-
ben.
Vor kurzem ist das Datenmaterial zu Frauen in Hoch-
schulen und Forschungseinrichtungen von der Gemein-
samen Wissenschaftskonferenz vorgelegt worden. Da-
raus geht hervor, dass sich der Anteil an Professorinnen
auf 15,2 Prozent gesteigert hat. Das entspricht einer Stei-
gerung von insgesamt 1,1 Prozent gegenüber dem Vor-
jahr. In unserem Antrag waren wir noch davon ausge-
gangen, dass der Anteil der Frauen an Professuren bei
13,6 Prozent liegt. Der leichte Anstieg ist kein Grund
zum Jubeln, aber ein kleiner Schritt voran. Daran erken-
nen wir, dass der stete Tropfen den Stein höhlt.
Ich stelle also fest: Die kontinuierlichen Bemühungen
unsererseits, aber auch die in den Ländern und an den
Hochschulen haben zu einer anwachsenden Teilhabe von
Frauen im akademischen Bereich geführt.
Die Maßnahmenbündel müssen weitergeführt und kon-
tinuierlich angewandt werden. Entscheidend sind – das
haben wir in unserem Antrag deutlich gemacht – posi-
tive Anreize für die Umsetzung von Gleichstellungszie-
len. Wir überlassen die Entwicklung der Gleichstellung
nicht ausschließlich dem guten Willen, schon gar nicht
dem Zufall. Wir machen uns wie bisher stark für passge-
naue Maßnahmen. Schon Marie Curie, die zweifache
Nobelpreisträgerin, hat erkannt, dass der Weg in die
Wissenschaft lang – und wie sie sagt – „nicht ohne Be-
schwer“ sei. Als sie nach intensiven Privatstudien 1891
eine Anstellung als Gouvernante aufgab, um ein Physik-
studium in Paris aufzunehmen, war sie als Frau – nicht
nur in ihrem Fach – eine absolute Ausnahmeerschei-
nung. Gut 100 Jahre später tragen wir mit unserem An-
trag dafür Sorge, dass hochbegabte Frauen wie sie keine
Ausnahmeerscheinungen bleiben. Sie werden mit ihren
spezifischen Qualifikationen und Fähigkeiten, mit ihren
innovativen Forschungsvorhaben gezielt gefördert wer-
den.
Die Professorin für Mathematik Olga Holtz von der
Universität Berlin hat mit Blick auf ihre Karrierelauf-
bahn jungen Wissenschaftlerinnen einmal den Rat gege-
ben, sie sollten keinesfalls auf Ermutigung von außen
warten. Wir Sozialdemokraten werden mit unserem An-
trag dafür sorgen, dass die Ermutigung selbstverständ-
lich wird.
Cornelia Pieper (FDP): Die gleichberechtigte Teil-
habe von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem ist
eine der grundlegenden Voraussetzungen dafür, dass
Deutschland auch in Zukunft seine Exzellenz und seinen
Wettbewerbsvorsprung in den konkurrierenden Wissen-
schafts- und Wirtschaftssystemen der Welt weiter halten
bzw. ausbauen kann. Doch wie gehen wir mit dieser Ein-
sicht um? Ich komme jedenfalls zu der Auffassung, dass
Staat und Gesellschaft ihrer Verantwortung für den wis-
senschaftlichen Nachwuchs insgesamt nicht in vollem
Umfang nachkommen.
Wir wissen doch alle: Unsere Gesellschaft kann sich
eine Zurückhaltung bei der Einbeziehung von Frauen im
Wissenschaftssystem einfach nicht mehr leisten. Darum
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21739
(A) (C)
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werbe ich an dieser Stelle noch einmal für den Antrag
der FDP-Bundestagsfraktion „Frauen auf dem Sprung in
die Wissenschaftselite“, in dem wir uns aus gutem Grund
für ein Kaskadenmodell – ich sage ausdrücklich: kein
Quotenmodell – ausgesprochen haben. Eine Kaskade be-
ginnt an der Spitze. Die Übertragung von Verantwortung
und Leitungsaufgaben an Frauen ist somit eine Führungs-
aufgabe ersten Ranges. Also muss sich die Einsicht auf
jeder Stufe der Kaskade durchsetzen, dass Frauen in dem
Maße beteiligt werden, wie es ihrem Anteil an der Vor-
stufe entspricht.
In einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz muss ein Kas-
kadensystem verankert werden. Sie, Frau Ministerin
Dr. Schavan, haben die Chance vertan, uns dieses Gesetz
vorzulegen. Die Zeit dafür ist reif, die Voraussetzungen
sind gegeben. Bereits vor über 15 Jahren hat die FDP-
Bundestagsfraktion die Forderung erhoben und auch
durchgesetzt, eine wirkliche Chancengleichheit für
Frauen in der Wissenschaft schrittweise durchzusetzen.
Die Probleme junger Wissenschaftlerinnen in der
Gesellschaft wurden seitdem zunehmend besser erkannt
und objektiv bestehende Hemmnisse zielgerichtet abge-
baut. Die von FDP-Bildungsministern ins Leben gerufe-
nen Hochschulsonderprogramme haben diesbezüglich
ihr Ziel nicht verfehlt. Seitdem hat sich viel getan. Seit
Beginn der 90er-Jahre hat sich der Anteil von Frauen,
die sich für eine wissenschaftliche Karriere entscheiden,
deutlich erhöht. Und es hat sich gezeigt: Es sind eben
nicht kurzlebige Kampagnen, die zum Erfolg führen. Die
Stellung der Frauen in Wissenschaft und Forschung zu
stärken, bedeutet zugleich, einen langen Atem zu haben.
Bund und Länder haben eine Vielzahl von gemeinsa-
men Aktivitäten unternommen, um die Verwirklichung
der gleichberechtigten Teilhabe von Mädchen und jun-
gen Frauen in Bildung und Wissenschaft zu fördern. Die
erzielten Ergebnisse zeigen eine beachtliche Trend-
wende zu mehr Gleichstellung in den verschiedenen
Qualifikationsstufen von Schulen, Hochschulen und
außerhochschulischen Forschungseinrichtungen. Mit dem
Erreichten können und dürfen wir uns nicht zufrieden-
geben. Trotz aller Anstrengungen ist es bis heute nicht
gelungen, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auf
allen Stufen des Wissenschaftssystems zu gewährleisten.
Auch heute noch sind Frauen in der wissenschaftlichen
Forschung unterrepräsentiert, und das nicht nur in der
öffentlichen Forschung und Lehre, nein, auch in den for-
schenden Unternehmen. Für die nächste Zeit gilt es
deshalb, die Bemühungen zu verstärken, damit sich der
stetig wachsende Anteil von Frauen mit qualifizierten
Bildungsabschlüssen in einer wirklich steigenden Einbe-
ziehung in Entscheidungs- und Führungspositionen in
Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft nachhaltig fort-
setzen kann.
Die Vorbereitung auf eine akademische Laufbahn
beginnt bereits in der Schule. Wenn wir ehrlich zu uns
selbst sind, dann gelangen wir sehr schnell zu der Ein-
sicht, dass bereits im Kindergarten und in der Schule mit
einer zielgerichteten Förderung von Mädchen und jun-
gen Frauen begonnen werden muss. Sehr früh muss ihr
Interesse gerade auch auf mathematische, natur- und
technikwissenschaftliche Disziplinen, den so genannten
MINT-Disziplinen, gelenkt werden. Der heute bereits
eingeschlagene Weg ist richtig, denn bei der Wahl des
Studienplatzes entscheiden sich heute junge Frauen im-
mer noch öfter als ihre männlichen Kommilitonen für die
geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Studien-
gänge.
Sie alle wissen, dass heute 52,7 Prozent der Schulab-
gänger mit Hochschulzugangsberechtigung junge Frauen
sind. Das hört sich gut an. Doch das sind nur rund
37 Prozent der Schulabsolventinnen eines Altersjahr-
gangs. Zum Vergleich: In Finnland sind das 93 Prozent;
in Norwegen 80 Prozent, in Italien 76 Prozent und im
OECD-Durchschnitt 68 Prozent.
Bei den Studienanfängern liegt der Anteil von Frauen
– Erstimmatrikulierte – mit 49 Prozent seit Jahren unter
der 50-Prozent-Marke. Vergleicht man die Ergebnisse
der Studienabschlüsse im Jahr 2004 mit den Studien-
anfängerzahlen fünf bis sechs Jahre zuvor, wird deutlich,
dass der Frauenanteil bei den Hochschulabschlüssen
nahezu identisch ist mit dem Frauenanteil bei den Erst-
immatrikulierten der Jahre 1997 bzw. 1998; der Anteil der
Frauen in dieser Qualifikationsphase ist also konstant.
Erfreulich ist, dass sich unter denen, die tatsächlich
am Ende ihres Studiums einen Hochschulabschluss er-
reichen, 49,6 Prozent Frauen sind. Deutlich besser noch
schlagen sich Frauen an den Universitäten. Dort erreich-
ten 54 Prozent einen akademischen Abschluss. Das sieht
in den anderen OECD-Staaten, wie Schweden mit
25 Prozent und Finnland mit 23 Prozent, ganz anders
aus. Übrigens, der OECD-Durchschnitt liegt bei nur
20 Prozent.
Ein entscheidender Schritt in einer Wissenschaftskar-
riere ist die Promotion. Der Anteil von Frauen, der heute
bei 39 Prozent liegt, stieg in den letzten 18 Jahren deut-
lich an. So weit, so gut. Der Teufel steckt aber bekannt-
lich im Detail. Wenn wir die Ursachen dafür ermitteln
wollen, warum heute noch relativ wenige Frauen Spit-
zenpositionen in der Forschung und Entwicklung beklei-
den, dann muss man sich die Qualifikationswege und die
Berufungen der letzten Jahre in Führungspositionen
schon etwas genauer anschauen.
In der Fächergruppe Ingenieurwissenschaften promo-
vierten mit einem Anteil von 11,3 Prozent die wenigsten
Frauen. In allen anderen Bereichen lag er bei über einem
Viertel, zum Beispiel 30,7 Prozent im Bereich Mathema-
tik, Naturwissenschaften. Bei den Rechts-, Wirtschafts-
und Sozialwissenschaften betrug der Frauenanteil an den
Promotionen 32,2 Prozent, in der Fächergruppe Sprach-
und Kulturwissenschaften 50,5 Prozent und in der Fächer-
gruppe Kunstwissenschaft 60 Prozent und 77,1 Prozent im
Bereich Veterinärmedizin.
Der Anteil der Frauen an den Habilitationen beträgt
heute 22,7 Prozent. Mit Blick auf die Fächergruppen
ergibt sich eine ähnliche Verteilung wie bei den Promo-
tionen, jedoch auf niedrigerem Niveau: Ingenieurwissen-
schaften 15,5 Prozent, Veterinärmedizin 38,1 Prozent,
Kunst, Kunstwissenschaft 25,7 Prozent, Sprach- und Kul-
turwissenschaften 35,2 Prozent.
Heute werden 13,6 Prozent der Professuren von
Frauen wahrgenommen. Positiv hervorzuheben ist, dass
die Anzahl der Professuren, die von Männern besetzt
21740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
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sind, über den genannten Zeitraum nahezu gleich blieb,
wohingegen sich die Anzahl der Professuren, die mit
Frauen besetzt sind, zwischen 1992 und 2004 mehr als
verdoppelt hat.
Wollen wir also die guten Ausgangspositionen für
eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in
unserer Gesellschaft nutzen, brauchen wir auch ein gut
ausfinanziertes Wissenschaftssystem und müssen ver-
hindern, dass Professorenstellen abgebaut werden. Was
wir brauchen, sind zusätzliche Professorenstellen und
vorzeitige Berufungen.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Berliner Physike-
rin und Soziologin Petra Lucht sagte kürzlich in einem
Interview, dass es wichtig sei, nicht die Frauen ändern zu
wollen, wenn man ihre Beteiligung in Wissenschaft und
Forschung fördern wolle. Diesem Satz kann ich uneinge-
schränkt zustimmen. Wer will, dass es mehr Ingenieurin-
nen, mehr Forscherinnen und auch mehr Hochschulleh-
rerinnen gibt, der muss die Bedingungen in den Blick
nehmen, die Frauen von einer wissenschaftlichen Karrie-
re abhalten, der muss das gesamte Qualifikations- und
Berufungssystem auf geschlechterbezogene Ausschluss-
mechanismen abklopfen.
Das fängt bereits vor dem Studium an. Befragungen
von Abiturientinnen und Abiturienten zeigen deutlich,
dass junge Frauen sensibler auf Studiengebühren und die
damit einhergehenden finanziellen Belastungen reagie-
ren als Männer. Selbst die andauernde Debatte darüber
verunsichert viele weibliche Studieninteressierte derart,
dass sie sich lieber auf den vermeintlich sicheren Weg
einer beruflichen Ausbildung begeben. Wenn wir also
wollen, dass sich Frauen verstärkt für ein Studium ent-
scheiden, dann müssen Studiengebühren tabu sein, so
wie das meine Partei von Anfang an gefordert hat. Lei-
der werden insbesondere solch soziale Sensibilitäten von
Frauen bei wissenschaftspolitischen Entscheidungen
kaum beachtet. Und natürlich haben Nachwuchswissen-
schaftlerinnen aufmerksam registriert, dass die Mitglie-
der der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht bereit
waren, verbindliche Gleichstellungsziele zu vereinbaren.
Männlich dominierte Gremien begreifen Geschlech-
tergerechtigkeit nach wie vor nicht als Chance, wissen-
schaftliche Leistungen von Frauen für Spitzenleistungen
zu mobilisieren. Wissenschaft gewinnt, wenn Frauen
nach ihren Ideen, Werten und Perspektiven forschen.
Frauen können sehr genau einschätzen, welche Einrich-
tungen offensiv unterstützen oder wo nach alten sozialen
Verhaltensgewohnheiten blockiert wird. Immer erzählen
Wissenschaftlerinnen haarsträubende Geschichten über
Reaktionen auf eine Schwangerschaft, über abwertende
Urteile männlicher Vorgesetzter oder über männlich do-
minierte Berufungskommissionen.
Gute Beispiele in der Gleichstellung gibt es längst,
auch in Deutschland. Im rot-rot regierten Land Berlin
gehört Gleichstellung zu den harten Kriterien der Mittel-
zuweisung an Hochschulen. Wer zu wenig tut, muss an
die anderen Hochschulen Geld abgeben. Zugleich för-
dert das Land individuell Berufungen von Frauen. Nicht
zuletzt werden interdisziplinäre Zentren mit genderwis-
senschaftlicher Prägung finanziell besonders unterstützt.
Diese Politik hat Berlin unangefochtenen auf den ersten
Platz im Gleichstellungsranking des Center of Excellent
Women in Sciences gebracht. Heute sind in Berlin
21,2 Prozent aller Professuren von Frauen besetzt; im
Bundesschnitt nur 16,2 Prozent.
Bleibt es bei der heutigen bundesweiten Entwick-
lungsgeschwindigkeit, würde es noch mindestens
35 Jahre dauern, bis Frauen und Männer gleichermaßen
in der Hochschullehre vertreten sind. Lediglich 0,3 Pro-
zent Wachstum ist auf der höchsten Stufe in den letzten
drei Jahren erzielt worden, und das nach jahrzehntelan-
gen Debatten. Dafür muss sich die Bundesregierung
wirklich schämen. Sie tut zu wenig und das Wenige
halbherzig. Sie legen ein Professorinnenprogramm auf
und vergeben Stipendien. Aber die frauenfeindlichen
Grundstrukturen im deutschen Wissenschaftssystem
bleiben nahezu unangetastet. Vor allem müssen endlich
die schlechten Beschäftigungsbedingungen im akademi-
schen Mittelbau abgeschafft werden. Trotz bester Befä-
higung bleiben viele Aspirantinnen auf dem langen Weg
zur Professur auf der Strecke. Die Praxis der ewigen Be-
fristungen muss beendet werden. Unbefristete Stellen
und damit verlässliche Perspektiven müssen finanziert
werden.
Das Idealbild des männlichen Gelehrten, der sich der
Wissenschaft weiht, ist von gestern. Moderne Wissen-
schaft ist kein Opfergang, der privat soziale Desaster
hervorbringt. Kompetenz in moderner Wissenschaft
wächst mit sozialer Verantwortung aus der Vereinbarkeit
von Beruf und Familie. Frau Ministerin, machen Sie es
doch wie Ihre Kollegin Frau von der Leyen. Setzen Sie
verbindlich Ziele. Sie können sie doch mit den For-
schungsorganisationen vereinbaren, sodass der Pakt für
Innovation und Forschung auch ein Pakt für Gleichstel-
lung wird. Verfehlen die Einrichtungen die Ziele in der
Frauenförderung, folgen schmerzliche finanzielle Einbu-
ßen.
Konsequent und systematisch müssen Blockaden für
Frauen abgebaut werden. Weibliche Potenziale, Werte
und Erfahrungen sind männlichen gleichrangig zu be-
werten. Wo, wenn nicht zuerst in Wissenschaft, Bildung
und Kultur, sollte Aufklärung auch Impulse für konkrete
Veränderungen setzen?
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beim
Thema Gleichberechtigung in Wissenschaft und For-
schung besteht eine augenfällige Diskrepanz zwischen
Anspruch und Wirklichkeit. Einerseits bestreitet heute
wohl niemand mehr, dass die Unterrepräsentanz von
Frauen und die Unterrepräsentanz von genderrelevanten
Studien im Wissenschaftssystem ein massives Problem
darstellen. Das Wissenschaftssystem ist durch hohe Ge-
rechtigkeits-, Qualitäts- und Innovationsdefizite gekenn-
zeichnet. Diese Einsicht hat dazu geführt, dass sich in-
zwischen alle größeren wissenschaftlichen Institutionen
und die Politik dem Ziel von mehr Chancengleichheit
rhetorisch verpflichtet fühlen. Andererseits hat die ver-
stärkte rhetorische Aufmerksamkeit für das Thema bis-
lang noch viel zu wenig entschlossenes Handeln für neue
Wege bei der Gleichberechtigung zur Folge. Aus diesem
Grund hat sich auch bis heute viel zu wenig an den
schlechten Karrierechancen für Wissenschaftlerinnen
oder auch der Situation der Genderforschung verändert.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21741
(A) (C)
(B) (D)
Es ist leider sogar so, dass die inzwischen breit etablierte
Gleichstellungsrhetorik wichtige Erkenntnisse verdeckt:
dass nämlich die bisherigen gleichstellungspolitischen
Instrumente Frauen zwar zu mehr Sichtbarkeit im Wis-
senschaftssystem verholfen haben, dass aber in den Spit-
zenpositionen nach wie vor nahezu geschlechtshomo-
gene Verhältnisse herrschen, und das, obwohl der
Frauenanteil auf den vorgelagerten Qualifikationsstufen
steigt.
Ganz offensichtlich reicht aber auch eine noch so mo-
dern vorgetragene Gleichstellungsrhetorik nicht aus, um
Ziele von mehr Chancengleichheit tatsächlich durchzu-
setzen. Auch der Antrag der Koalition krankt daran,
zwar einer modernen Gleichstellungsrhetorik das Wort
zu reden, insbesondere im Forderungsteil, aber davor zu-
rückzuschrecken, wenn es um die Festschreibung ver-
bindlicher Zielquoten geht. Die Vorschläge für eine bes-
sere Beteiligung von Frauen nehmen sich gleichwohl
sehr zahm aus. So werden die Länder lediglich aufgefor-
dert, zu prüfen, „inwieweit auf Basis des Kaskadenmo-
dells auf jeder Qualifikationsstufe Geschlechterausge-
wogenheit erreicht werden kann“. Offenbar hat hier eine
gewisse Arbeitsteilung zwischen SPD und CDU/CSU
eine Rolle gespielt: Während die SPD ihren Vorstellun-
gen in Gestalt einer modernen, ansprechenden Gleich-
stellungsrhetorik Ausdruck verleihen konnte, hat sich
die CDU/CSU dort, wo es auf die Schlussfolgerungen
aus ebendieser Gleichstellungsrhetorik angekommen
wäre, mit eher moderaten Forderungen durchgesetzt.
Damit bleibt der Antrag jedoch hinter den nötigen Erfor-
dernissen zurück.
Der Wissenschaftsrat hat in der Anhörung, die wir zu
dem Thema vor einem Jahr durchführten, klargemacht:
Wenn wir nicht deutlich zulegen beim Tempo, die Frau-
enanteile in Wissenschaft und Forschung zu erhöhen,
dann ist erst 2090 mit einem ausgewogenen Geschlech-
terverhältnis zu rechnen. Damit endlich deutlich mehr
Frauen am Wissenschaftssystem partizipieren, brauchen
wir eine entschieden stärkere Verbindlichkeit und Über-
prüfbarkeit in den qualitativen und quantitativen Ziel-
vorgaben. Das heißt, überall dort, wo der Bund Geldge-
ber ist oder als Mitglied in Aufsichtsräten oder
Kuratorien Einfluss auf wissenschaftliche Einrichtungen
und Forschungsvorhaben hat, muss er in Zukunft dafür
sorgen, überprüfbare qualitative und quantitative Vorga-
ben und Steigerungsquoten der Frauenanteile zu imple-
mentieren, durchzusetzen und zu kontrollieren. Er muss
ferner darauf hinwirken, dass überprüfbare Vorgaben
über konkrete Steigerungsquoten Eingang finden sowohl
in Ziel- und Leistungsvereinbarungen zwischen den
Ländern und wissenschaftlichen Einrichtungen als auch
in die forschungsbezogene Mittelvergabe. Flankiert wer-
den muss der Steigerungsprozess von Elementen der
Evaluation, Erfolgskontrolle und schnellen Reaktion,
wenn Ziele nicht erreicht werden.
Nun betont die Regierung in ihrem Antrag, sie sei hier
beispielsweise mit dem Professorinnenmodell auf dem
richtigen Weg. Doch genau das Professorinnenmodell
macht deutlich, dass gerade nicht dafür gesorgt wird,
mehr Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit der gleich-
stellungspolitischen Ziele durchzusetzen. Zwar bilden
beim Professorinnenmodell Gleichstellungskonzepte die
Grundlage für eine Förderung. Die einmal bewilligte
Förderung selber ist kurioserweise aber nicht an die Ein-
haltung der in den Konzepten dargelegten Ziele gekop-
pelt. Vielmehr, so teilt das Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung mit, sei eine „Überprüfung der
aufgeführten Ziele im Rahmen des Professorinnenmo-
dells nicht beabsichtigt“. Man gehe stattdessen davon
aus, dass die „genannten Ziele und geplanten Maßnah-
men auch realisiert“ würden.
Damit wird bei dem zentralen Programm der Koali-
tion für mehr Chancengleichheit der alte Fehler bisheri-
ger gleichstellungspolitischer Bemühungen wiederholt.
Genau dieses „Davon-ausgehen“ ist der Grund dafür,
warum gleichstellungspolitische Initiativen der Vergan-
genheit im Wissenschaftssystem bislang eben nicht den
Erfolg gebracht haben, den man sich erhofft hatte. Nam-
hafte Vertreter der wissenschaftlichen Gemeinschaft ar-
gumentieren unterdessen radikaler. Dass man bei der
Chancengleichheit nur mit sehr viel mehr Verbindlich-
keit vorankommt, diese Einsicht unterstützt nicht nur der
Wissenschaftsrat in seiner letzten Empfehlung für mehr
Chancengleichheit, sondern mittlerweile auch solche In-
stitutionen wie die Robert Bosch Stiftung. In einem Auf-
ruf, der aus dem dritten Wissenschaftsgespräch der Ro-
bert Bosch Stiftung hervorgegangen ist, fordern
namhafte Vertreterinnen aus der Wissenschaftsszene
eine 40-Prozent-Frauenquote für wissenschaftliche
Kommissionen, Gremien und Beiräte. Diese Quote soll
einklagbar sein und bei Missachtung mit Sanktionen ge-
ahndet werden können.
Es wäre zu hoffen, dass sich die Koalitionsfraktionen
dieser Sicht der Dinge endlich anschließen. Nach Lage
der Dinge wird uns das Thema in jedem Fall weiter be-
schäftigen, so lange, bis gleichberechtigte Verhältnisse
endlich Einzug ins Wissenschaftssystem gehalten haben.
Und das wird hoffentlich nicht erst 2090 der Fall sein.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Einheitliches Strom-
netz schaffen – Unabhängige Netzgesellschaft
gründen (Tagesordnungspunkt 22)
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Es wird Sie viel-
leicht überraschen, wenn ich einleitend sage: Die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat recht mit ihrer Problem-
beschreibung. Aber Sie beschreiben uns nichts Neues.
Die Regierung ist seit Jahren dabei, Abhilfe zu schaffen,
und wir sind derzeit auf einem guten Weg.
Fest steht, dass dauerhaft unregulierte Monopole wie
unsere Stromnetze in ihrem Erschließungsbereich volks-
wirtschaftlich unerwünscht sind. Aus der Wohlfahrtstheo-
rie ist den Ökonomen bekannt, dass die maximale Wohl-
fahrt auf Märkten nur dann erreicht wird, wenn der Preis
für ein Produkt den Grenzkosten entspricht, also den
Kosten, die durch die Produktion einer zusätzlichen Ein-
heit eines Produktes entstehen. Jede Abweichung des
Preises von den Grenzkosten verursacht Ineffizienzen
und führt somit zu Wohlfahrtsverlusten. Monopolisten
verlangen aufgrund ihrer Marktmacht gerade keine
21742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
(B) (D)
Grenzkostenpreise, sondern setzen Preise, die häufig
weit darüber liegen. Sie sichern sich so einen maximalen
Gewinn, der größer ist als unter Wettbewerb. Dem ste-
hen jedoch höhere Wohlfahrtsverluste aufseiten der
Konsumenten gegenüber, die – in unserem Fall – höhere
Strompreise als nötig zu zahlen haben. Im Ergebnis steht
ein Verlust an gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrt. Politi-
sches Gegensteuern ist gefragt.
Was kann aber der Staat in dieser Situation tun, um
diese Wohlfahrtsverluste zu verhindern oder zumindest
zu begrenzen? Bei einem natürlichen Monopol wie den
Stromnetzen ist diese Frage nicht frei von jedweder
Komplexität zu beantworten.
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten. Der Staat
könnte erstens das Angebot in diesem Markt selbst über-
nehmen. Dies entspräche mehr oder weniger dem Vor-
schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Auf die
Stromnetze übertragen hieße dies in aller Konsequenz,
die Netze zu verstaatlichen und durch den Staat zu be-
treiben. Für mich ist klar, dass in der Praxis staatliche
Unternehmen deutlich ineffizienter arbeiten als Privat-
unternehmen. Der Staat ist nicht der bessere Unterneh-
mer. Das sage ich auch angesichts der Finanzkrise und
der sich daraus ergebenden Veränderungen, die nicht
wünschenswert, aber unvermeidbar sind. Der Staat
müsste unstrittig die Stromkonzerne für den Verlust Ih-
res Eigentums angemessen entschädigen. Schließlich
handelt es sich hier um einen Eingriff in die grundge-
setzlich geschützten Eigentumsrechte von Unternehmen.
Ob der Staat das finanziell stemmen könnte, bleibt ange-
sichts der aktuellen finanzpolitischen Herausforderun-
gen fraglich. Kurzfristig orientierten Hedgefonds und
vergleichbaren spekulativen Anlegern wären Tür und
Tor geöffnet, sollten wir die Energiekonzerne zu einer
Veräußerung ihrer Netze zwingen. Wollen wir mit unse-
rer Energieversorgung derart spielen?
Die zweite wirtschaftstheoretische Möglichkeit be-
steht darin, regulierend in den Markt einzugreifen. Ver-
einfacht gesagt bedeutet dies, dass der Staat dem Mono-
polisten Preise oder Preisobergrenzen vorschreibt.
Nachteile dieser Methode bestehen erstens im administ-
rativen Aufwand der Regulierung, der mit zusätzlichen
Kosten verbunden ist. In Deutschland gibt es alleine
etwa 900 Stromnetzbetreiber, das heißt also 900 zu regu-
lierende regionale bzw. lokale Monopole. Hinzu kommt
zweitens die Informationsasymmetrie zwischen der re-
gulierenden Behörde und den Netzbetreibern. Denn
Letztere kennen ihre tatsächliche Kostenfunktion viel
besser als die Regulierungsbehörde und haben ein natür-
liches Interesse, ihre Kosten höher anzugeben, als diese
tatsächlich sind, weil sie auf dieser Basis höhere Preise
genehmigt bekommen können.
In der Praxis hat sich die Bundesregierung zunächst
für die Mammutaufgabe des zweiten Wegs entschieden:
die Bundesnetzagentur bzw. die Regulierungsbehörden
der Bundesländer – für Unternehmen mit weniger als
100 000 angeschlossenen Kunden – müssen auf der Basis
des Energiewirtschaftsgesetzes von 2005 alle Entgelte für
die Nutzung von Stromnetzen vorab genehmigen. In ei-
ner ersten Stufe sind dazu in allen Unternehmen Kosten-
prüfungen vorgenommen worden, auf deren Basis die
ersten Genehmigungen ergangen sind. Dabei sind die
Entgelte im Durchschnitt um etwa 10 bis 15 Prozent ge-
genüber dem vorherigen Niveau abgesenkt worden. In
der zweiten Stufe wird versucht, eine Art Wettbewerbs-
druck zu simulieren, indem die besten, das heißt die kos-
tengünstigsten Netzbetreiber als Benchmark für alle an-
deren dienen, die sich dann innerhalb eines bestimmten
Zeitraumes an dieses Niveau anpassen müssen. Für die
Preisgenehmigung ist dann nicht mehr das individuelle
Kostenniveau, sondern nur noch das eines vergleichba-
ren effizienten Unternehmens entscheidend.
Die gegenwärtig geltenden, weniger eingriffsintensi-
ven Entflechtungsvorgaben haben nur in unzureichen-
dem Maße zur Entwicklung eines funktionsfähigen
Wettbewerbs geführt. Hier stimme ich durchaus mit al-
len Antragstellern überein. Wir mussten in den vergan-
genen Monaten lernen, dass mit diesem Verfahren letzt-
lich kein hinreichend effizienter Markt etabliert werden
kann, was viele von uns bereits vermutet haben. Eine
staatliche Aufsicht oder Preiskontrolle kann nie so gut
arbeiten, dass sie den Informationsvorsprung der agie-
renden Unternehmen wettmachen könnte. Immer wieder
wurden auch negative Auswirkungen auf die Investi-
tionsbereitschaft der Netzbetreiber an die Wand gemalt.
Auch das halte ich für nachvollziehbar.
Aber wir wollen und können unsere Probleme lösen,
ohne in altbekannte Strukturen zurückzufallen und Ver-
staatlichungen voranzutreiben. Sie selbst loben in Ihrem
Antrag die Anreizregulierung als einen ersten Schritt in
die richtige Richtung. Ich verspreche Ihnen, die Regie-
rung und dabei führend unser Wirtschaftsminister
Michael Glos werden noch zahlreiche Schritte unter-
nehmen, bis dieses von Ihnen so trefflich beschriebene
Problem des natürlichen Monopols bei den Stromnet-
zen – auch zur Zufriedenheit der schlussendlich zur
Kasse gebetenen Stromkunden – gelöst ist.
Wir wollen uns bei einer Lösung jedoch an den
Grundpfeilern unserer Marktwirtschaft orientieren,
wenn wir die Voraussetzungen für ein effizientes und so-
mit kostengünstiges Netz schaffen. Um etwas klarzustel-
len: Wir sind für eine unabhängige Netzgesellschaft,
aber diese sollte nicht vom Staat aufoktroyiert, vor allem
aber nicht als Mitunternehmer kontrolliert und beein-
flusst werden. Wir möchten, dass sich die Konzerne aus
betriebswirtschaftlichen Überlegungen heraus für ein ge-
meinsames Vorgehen beim Betrieb und bei Investitionen
in die Stromnetze entscheiden. So abwegig, wie von Ih-
nen beschrieben, ist eine freiwillige Kooperation der
großen Unternehmen auch gar nicht. Von unterschiedli-
chen Experten werden die möglichen Ersparnisse eines
koordinierten Netzbetriebs mit dreistelligen Millionen-
beträgen beziffert.
Im Oktober letzten Jahres konnte unser Wirtschafts-
minister Glos den renommierten Manager Max Dietrich
Kley als Moderator für eine mögliche Netzgesellschaft
in Deutschland gewinnen. Er wird in vertraulichen Ge-
sprächen mit den Energieversorgungsunternehmen mög-
liche Optionen für die Gründung einer Stromnetzgesell-
schaft ausloten. Gleichzeitig wird er klären, wie die
Stromverbraucher entlastet werden könnten, wenn eine
Verständigung auf eine Laufzeitverlängerung für Kern-
kraftwerke zustande käme.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21743
(A) (C)
(B) (D)
Also: Wir sind auf einem guten Weg, Strom für un-
sere Verbraucherinnen und Verbraucher in naher Zukunft
zu fairen Preisen zur Verfügung zu stellen.
Rolf Hempelmann (SPD): Über die Eigentumsfrage
und die Organisation von Strom- und Gasnetzen sind wir
im Bundestag schon seit mehreren Jahren in der Diskus-
sion. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die No-
vellierung des Energiewirtschaftsgesetzes 2005 mit der
Schaffung der Regulierungsbehörden, Entflechtungsvor-
schriften für die integrierten Energiekonzerne sowie Re-
gelungen für einen diskriminierungsfreien Netzzugang.
Seither wurden zahlreiche Erfolge erreicht: Die Ent-
flechtungsvorschriften sind weitgehend umgesetzt; zwei
Runden Kostenregulierung haben zu einer Kostensen-
kung bei den beantragten Entgelten bei Strom- und Gas-
netzen um rund 4 Milliarden Euro geführt; seit Jahresan-
fang ist die Anreizregulierung in Kraft.
Im Juni 2007 ist darüber hinaus die Kraftwerks-Netz-
anschlussverordnung in Kraft getreten, die den vorrangi-
gen Anschluss neuer Kraftwerke an das Stromnetz re-
gelt. Bezeichnend ist, dass die Grünen diesen Umstand
in Ihrem Antrag, der immerhin mit Juni 2008 datiert ist,
geflissentlich übergehen. Der sichere und diskriminie-
rungsfreie Anschluss von Kraftwerken Dritter ist also
schon heute sichergestellt und wird auch in Zukunft
– ganz unabhängig von der Schaffung einer nationalen
Netzgesellschaft – eine Aufgabe von Politik und Regu-
lierungsbehörden bleiben.
Die EU-Kommission setzt – dies fordern die Grünen
auch mit diesem Antrag – weiterhin auf die hundertpro-
zentige eigentumsrechtliche Entflechtung der Energie-
versorgungsunternehmen von ihren Strom- oder Gasnet-
zen. Diese Forderung ist zweifelsohne sehr populär. Es
ist jedoch mehr als fraglich, ob eine eigentumsrechtliche
Entflechtung die noch bestehenden Probleme bei der
Schaffung von mehr Wettbewerb auf den Strom- und
Gasmärkten wirklich löst. Eine genaue Analyse des Im-
pact Assessments der EU-Kommission vom September
2007 zeigt, dass es keinen stichhaltigen Beweis dafür
gibt, dass eine eigentumsrechtliche Entflechtung von
Stromerzeugung und Stromnetzen beispielsweise zu
niedrigeren Netzentgelten oder weniger Diskriminierung
beim Netzzugang führt. Ein A.T.-Kearney-Gutachten
vom Januar 2008 hat ebenfalls bestätigt, dass ein Zusam-
menhang zwischen eigentumsrechtlicher Entflechtung
und dem Strompreisniveau, den Netzinvestitionen, dem
Kuppelstellenausbau, der Höhe der Netzentgelte sowie
der Zuverlässigkeit der Netze empirisch nicht belegbar
ist. Diese Auffassung wird im Übrigen auch von der
Bundesnetzagentur und der Monopolkommission geteilt.
Deshalb hat meine Fraktion den „Dritten Weg“, den
die Bundesregierung zusammen mit Frankreich und
sechs weiteren Staaten im Rahmen der Debatte des Drit-
ten EU-Binnenmarktpakets vorgeschlagen hat, aktiv be-
gleitet und mit daran gearbeitet, dass der Vorschlag eine
echte Alternative zur eigentumsrechtlichen Entflechtung
darstellt. Teilweise aus der Debatte um die eigentums-
rechtliche Entflechtung heraus, teilweise aber auch im
Zusammenhang mit einem parallel geführten Miss-
brauchsverfahren der EU-Kommission resultieren die
– nicht ganz freiwilligen – Verkaufsabsichten einiger
Stromkonzerne bezüglich ihrer Übertragungsnetze. Die
daraus resultierende veränderte Situation hat die politi-
sche Debatte noch einmal befördert.
Ich habe Bundeswirtschaftsministerium und Bundes-
regierung schon im Frühjahr und Sommer 2008 mehr-
fach – auch im Bundestag – aufgefordert, diese
veränderte Situation aufzugreifen und mit den Übertra-
gungsnetzbetreibern in einen konkreten Dialog über die
Chancen einer Netzgesellschaft einzusteigen. Es hat
dann etwas gedauert, aber seit Anfang Oktober 2008
führt nun Ex-BASF-Vorstand Max Dietrich Kley als
Moderator im Auftrag der Bundesregierung Gespräche
mit den Übertragungsnetzbetreibern.
Wegen der bekannten Verkaufsprozesse drängt die
Zeit. Die Aufgabe des Moderators muss darin bestehen,
einen Einigungsprozess zwischen den Energieversorgern
als derzeitige Eigentümer der Netze möglichst zügig her-
beizuführen und den Unternehmen aufzuzeigen, dass es
sowohl in ihrem eigenen Interesse als auch im Interesse
der Politik ist, schnell zu einer einvernehmlichen Lösung
bei der Neuordnung der Übertragungsnetze zu kommen.
Noch haben Energieversorger und Politik gemeinsam
die Möglichkeit, aktiv zu handeln, anstatt nur zu reagie-
ren.
Dennoch kann sich die Politik keine Schnellschüsse
erlauben. Es muss klar sein, dass eine Lösung gegen den
Willen der derzeitigen Eigentümer nicht denkbar ist.
Langwierige eigentumsrechtliche Auseinandersetzungen
wären zu befürchten. Ebenso ist nicht auszuschließen,
dass die dringend notwendigen Investitionen in den Um-
und Ausbau unserer Netze wegen so eines Rechtsstreits
nicht getätigt würden.
Ich sage klar und deutlich, dass wir als SPD-Fraktion
die Bestrebungen der Bundesregierung zur Schaffung ei-
ner Netzgesellschaft begrüßen. Da sind wir uns mit dem
Koalitionspartner einig. Vorrangig sollte so eine Netzge-
sellschaft privatwirtschaftlich organisiert werden. Eine
Beteiligung der öffentlichen Hand ist dabei zunächst ein-
mal nicht zwingend. Seit Jahren lassen wir uns auf den
Energiemärkten vom Grundsatz leiten, dass privatwirt-
schaftlich gehandelt wird, während die Regulierungsbe-
hörden im staatlichen Auftrag kontrollieren und regulie-
ren. Dies betrifft natürlich auch die Frage der
Berechnung und Anerkennung von Netzentgelten sowie
die Umsetzung der Anreizregulierung. Beides ist schon
jetzt Aufgabe von Netzbetreibern und Regulierungsbe-
hörden. Daran würde die Schaffung einer nationalen
Netzgesellschaft nichts verändern.
In diesem Zusammenhang gilt ganz unabhängig da-
von, ob sich die Netze in privatem, staatlichem oder ge-
mischtem Eigentum befinden, dass den Regulierungsbe-
hörden eine doppelte Aufgabe zukommt. Sie haben
einerseits den Auftrag, die Netzentgelte über die Regu-
lierung auf ein angemessenes Niveau zu bringen. Darü-
ber hinaus ist es allerdings auch ihre Aufgabe, angemes-
sene Rahmenbedingungen für Investitionen in die
notwendige Erneuerung sowie den Aus- und Umbau der
Netze zu schaffen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen
Finanz- und Wirtschaftskrise, in der der Staat Milliar-
densummen zur Stützung von Banken und Konjunktur in
die Hand nimmt, gilt heute stärker denn je, dass der Re-
21744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
(A) (C)
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gulierer dem Komplex Investitionen im Rahmen der
jetzt beginnenden Anreizregulierung ein besonderes Ge-
wicht einräumen muss.
Vor dem Hintergrund der Sicherung langfristiger In-
vestitionen in die Netze, insbesondere zur Flankierung
unserer energiepolitischen Ziele beim Ausbau erneuer-
barer Energien, der Kraft-Wärme-Kopplung oder der de-
zentralen Energieversorgung kann es sinnvoll sein, dass
sich der Staat – über die Rahmengesetzgebung hinaus –
an einer nationalen Netzgesellschaft beteiligt. Wir leh-
nen allerdings eine Netzgesellschaft ab, an der die öf-
fentliche Hand mehrheitlich beteiligt ist. Eher denken
wir an eine Minderheitsbeteiligung des Staates mit einer
Sperrminorität von 25,1 Prozent. Das ist spätestens seit
Anfang Januar öffentlich bekannt.
Bevor es allerdings dazu käme, wären noch zahlrei-
che Fragen zu klären, beispielsweise bezüglich der Kos-
ten so eines Engagements der öffentlichen Hand oder
wie sichergestellt werden kann, dass eine Miteigentü-
merschaft des Staates nicht mit den Kontroll- und Regu-
lierungsaufgaben der öffentlichen Hand kollidieren. Wie
auch die Grünen fordern wir schon seit längerer Zeit eine
möglichst breite Eigentümerstruktur bei einer nationalen
Netzgesellschaft.
Völlig unverständlich ist jedoch, warum die Grünen
in ihrem Antrag in- oder ausländischen Energieversor-
gungsunternehmen verbieten wollen, sich an einer Netz-
gesellschaft zu beteiligen. Dies würde – ganz im Sinne
der EU-Kommission – de facto einer eigentumsrechtli-
chen Entflechtung auf Übertragungsnetzebene entspre-
chen. Ich habe bereits ausgeführt, warum dieser Weg
– auch aus Sicht der Experten der Bundesnetzagentur –
nicht zielführend ist. Bei einer Netzgesellschaft kommt
es vielmehr darauf an, zusätzliche Eigentümer über die
bisherigen hinaus in eine Netzgesellschaft in einer Form
einzubinden, in der kein Eigentümer eine dominante
Größe erreichen kann. Ausländische Miteigentümer soll-
ten dabei genauso wenig ausgeschlossen werden wie die
Ausweitung des Netzes über nationale Grenzen hinaus.
Im Sinne einer zügigen Investition in die Netze ist
eine umfassende Lösung, die die derzeitigen Eigentümer
mit einbezieht, sicher schneller zu erreichen. Neben der
bereits erwähnten eigentumsrechtlichen Frage spielt da-
bei auch eine Rolle, dass das Netzgeschäft – bei allem
Misstrauen gegenüber den derzeitigen Übertragungs-
netzbetreibern – technisch höchst anspruchsvoll ist.
Daher sollte und kann auf das Expertenwissen der der-
zeitigen Übertragungsnetzbetreiber im Rahmen einer
Netzgesellschaft nicht verzichtet werden.
Abschließend möchte ich noch meine Ungeduld über
den Fortgang des Moderationsprozesses ausdrücken. Es
ist bisher nicht bekannt, inwieweit es dem Moderator in
den vergangenen knapp vier Monaten gelungen ist, Fort-
schritte zu erzielen. Da die Verkaufsprozesse bei Vatten-
fall Europe und Eon aber bereits weit vorangeschritten
sind, bleibt nicht mehr viel Zeit für ein aktives Handeln
der Politik.
Im Namen meiner Fraktion erwarte ich daher einen
zeitnahen Abschluss des Moderationsprozesses und
– daraus abgeleitet – konkrete Vorschläge der Bundes-
regierung zur Ausgestaltung einer Netzgesellschaft.
Gudrun Kopp (FDP): Der Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen gibt mir Gelegenheit, hier noch einmal ganz
deutlich zu sagen, dass wir von den Liberalen jede staat-
liche Beteiligung an einer deutschen Netzgesellschaft
ablehnen. Eine „vielfältige Eigentümerstruktur“, wie sie
sich die die Grünen vorstellen, wird das selbsterklärte
Ziel, „Monopolstrukturen zu vermeiden“, kein Stück näher
bringen. Monopolstrukturen liegen ja nicht begründet in
homogenen Eigentümerstrukturen, sondern in der Markt-
stellung eines Unternehmens oder einer Gesellschaft. Die
Energienetzwirtschaft kennt so gut wie keinen parallelen
Netzbau, weshalb dieser Sektor zu Recht als natürliches
Monopol bezeichnet wird. Natürliche Monopole tendieren
immer dazu, Kosten zu produzieren, völlig unabhängig
davon, wer dieses Monopol betreibt. Das wäre auch und
gerade bei einem öffentlichen Unternehmen nicht an-
ders. Und genau deshalb ist es unabdingbar, dass diese
Monopole staatlich reguliert werden. Dies geschieht in
Deutschland seit 2005 durch die Bundesnetzagentur. Es
gibt also bereits eine staatliche Kontrolle.
Eine Verstaatlichung von Energienetzen – sei es im
Übertragungsnetzbereich, im Verteilnetzbereich oder in
beiden – löst nicht ein einziges Problem, das wir heute
auf den Energiemärkten haben, es schafft lediglich neue.
So müsste zunächst einmal ein Enteignungsverfahren
durchgeführt werden für diejenigen Netze, die nicht frei-
willig veräußert werden. Dafür sieht unser Grundgesetz zu
Recht hohe Hürden vor, die zu überschreiten vermutlich
Jahre in Anspruch nehmen würde, in denen kein Cent in
den dringend notwendigen Ausbau der Netze investiert
würde. Auch bleibt unbeantwortet, woher das Geld für
eine solche Transaktion kommen soll. Soll der Bund, der
noch immer aufgrund einer verfehlten Haushaltspolitik
jedes Jahr neue Schulden aufnimmt, die Steuern erhöhen,
um diese Milliardenbeträge zusammenzubringen? Und
wenn ja, welche Steuern wollen Sie erhöhen?
Darüber hinaus bringen öffentliche Unternehmen im-
mer ganz spezifische Probleme mit sich, die jeder von
uns von seinen örtlichen Sparkassen oder Unternehmen
wie der Deutschen Post AG oder Telekom kennt.
Zunächst einmal werden diese Betriebe – das ist im
kommunalen Bereich deutlich zu erkennen – allzu gern
benutzt als Versorgungsposten für verdiente Partei-
freunde, die nach Parteienproporz eingesetzt werden –
nicht immer zum Vorteil der Unternehmen. Ferner wer-
den diese Unternehmen nicht selten mit sachfremden
Aufgaben überfrachtet.
Ich frage mich im Übrigen, welche Privatinvestoren
sich an einer Gesellschaft beteiligen werden, bei der sie per
Definition zu einer dauerhaften Minderheitsbeteiligung
verdammt sind und deren Gewinne zudem von vornhe-
rein erheblich eingeschränkt bleiben. Die Vielzahl der
Beschränkungen, die jeglichen marktwirtschaftlichen Re-
geln widersprechen, werden so eine Netzgesellschaft zu
einem hundertprozentig verstaatlichten Unternehmen ma-
chen. Ohne die Möglichkeit, mit angemessener Verzin-
sung die entsprechenden Gewinne zu generieren, ist eine
so ausgestaltete Netzgesellschaft prädestiniert, die ein-
gebrachten Steuergelder zu verpulvern.
Wir von der FDP setzen dagegen auf unsere Idee einer
unabhängigen deutschen „Netz AG“. An dieser „Netz AG“
können die gegenwärtigen Übertragungsnetzbetreiber ent-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21745
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sprechend dem Wert ihrer eingebrachten Netze anteils-
mäßig beteiligt werden. Das Verhältnis der „Netz AG“
zu den vier Eignern ist personell so auszugestalten, dass
Interessenkonflikte ausgeschlossen sind und die unterneh-
merische Selbstständigkeit der „Netz AG“ gewährleistet
bleibt. Bei dieser „Netz AG“ bleibt die volle Verantwor-
tung für Investitionen in das Netz, ebenso verbleiben alle
Einnahmen aus der Netznutzung bei der „Netz AG“. Die
Vorteile einer solchen Lösung sind: ein beachtlich redu-
ziertes Diskriminierungspotenzial für neue Anbieter im
Erzeugungsbereich und eine effizientere Entflechtung.
Auch der Netzausbau in Deutschland sowie Netzinvesti-
tionen könnten so in Form einer deutschlandweiten
Netzentwicklungsplanung erfolgen. Zudem könnten so
die vier bisher getrennt geführten Regelzonen zu einem
deutschlandweiten Regelenergiemarkt zusammengefasst
werden. Diese und weitere Synergieeffekte sind nur mit
einer unabhängigen „Netz AG“ ohne staatliche Beteili-
gung zu generieren. Als Kontrollinstrumente des Bundes
sind mit der Bundesnetzagentur und dem Bundeskartell-
amt bereits effiziente und schlagkräftige Instanzen
geschaffen, um Gefahren durch Machtkonzentrationen
zu beheben und Wettbewerb zu garantieren.
Unter dem Strich bleibt festzuhalten: Die Verstaatli-
chung von Produktionsmitteln kann kein Rezept für die
Zukunft sein. Daher lehnen wir von der FDP den Antrag
der Grünen ab.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die vier großen Energie-
konzerne in Deutschland nutzen ihre Monopolstellung
bei den Übertragungsnetzen konsequent für die eigene
Rendite aus. Sie treiben die Preise in die Höhe und si-
chern sich ihre Marktmacht auf Kosten der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher, auf Kosten der Umwelt und auf
Kosten der Energiesicherheit. Deshalb ist es dringend
notwendig, die Übertragungsnetze aus den Konzernen
herauszulösen. Die Bundesregierung spielt hier ein un-
rühmliches Spiel zugunsten der großen Konzerne. Die
Unterstützung von Global Playern ist ihr wichtiger als
der Verbraucher- und Umweltschutz.
Leider bleiben Sie, meine Damen und Herren von den
Grünen, mit Ihrem Antrag auf halben Weg stehen. Sie
wollen, wie Sie schreiben, um „Monopolstrukturen zu
vermeiden“, Private an einer neuen Netzgesellschaft be-
teiligen. Sie können bei der Frage des Netzbetriebes aber
Monopolstrukturen nicht vermeiden, da es sich schlicht-
weg um ein natürliches Monopol handelt.
Der Transport von Energie ist eine elementare Infra-
strukturaufgabe, ganz besonders in einer hoch entwi-
ckelten Industriegesellschaft. Niemand kann ohne Ener-
gie, Licht, Strom, Wärme am wirtschaftlichen oder
gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Der Strom muss
verlässlich in jeder Sekunde bereitgestellt werden kön-
nen. Er muss mit möglichst geringer Umweltzerstörung
und geringem Ressourcenverbrauch erzeugt und bereit-
gestellt werden. Und er muss bezahlbar sein. Da ist es
kontraproduktiv, private Investoren mit reinzuholen. Das
Interesse von privaten Investoren ist doch klar zu benen-
nen: die Erzielung einer möglichst hohen und sicheren
Kapitalrendite. Diese Gewinne müssen die Stromkun-
dinnen und -kunden bezahlen. Die sind als Kunden ge-
fangen und können nicht raus. Sie können weder zu ei-
nem anderen Netzbetreiber wechseln noch auf den
Bezug von Strom oder Gas verzichten.
Private Investoren richten ihre Geschäftspolitik nicht
an den Notwendigkeiten einer umweltschonenden Ener-
gieversorgung, an der langfristigen Erhaltung der Netze,
geschweige denn an anderen Zielen wie dem Erhalt quali-
fizierter Arbeitsplätze aus. Da nutzt es wenig, dass der
Anteil von privaten Investoren unter 50 Prozent liegen
soll. Dass die privaten Investoren ihre Ziele in einer öf-
fentlich-privaten Netzgesellschaft durchsetzen werden, da
können Sie sicher sein. Dazu brauchen sie keine Mehrheit
in dem Unternehmen. Selbst wenn Sie von den Grünen
aus ideologischen Gründen das nicht wollen: Die Strom-
netze gehören – genauso wie die Straßen und das Schie-
nennetz – in die öffentliche Hand. Die öffentliche Hand
kann die Ziele der sicheren und effizienten Stromversor-
gung mit den Zielen der sauberen und bezahlbaren Versor-
gung am besten vereinigen. Die Investitionsmittel für den
nötigen Ausbau und die Erneuerung der Netze können
weiterhin über die Nutzungsentgelte refinanziert werden.
Die öffentliche Hand muss aber keine höchstmögliche
Rendite mit den Netzen erzielen. Sie kann deshalb die
Preise senken. Und was am wichtigsten ist: Sie kann den
Netzbetrieb auf die energiepolitischen Ziele von Klima-
schutz und Atomausstieg ausrichten. Eine solche Netzge-
sellschaft für die Übertragungsnetze sollte von Bund,
Ländern und Gemeinden geführt werden. Dies würde die
Chance für mehr demokratische und gesellschaftliche
Kontrolle eröffnen, was nicht der Fall wäre, wenn der
Bund alleine agieren würde.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Strommarkt in Deutschland kommt nicht voran. Die
Preise steigen, erst vorgestern hat RWE erneut eine Er-
höhung um etwa 7 Prozent angekündigt. Rund 80 Pro-
zent der Stromerzeugung liegen in der Hand der vier
großen Konzerne, die damit auch das Geschehen an der
Strombörse diktieren und so die Preise nach oben trei-
ben. Und last, but not least sind die Stromübertragungs-
netze vollständig in der Hand der großen vier.
Diese Vormachtstellung muss gebrochen werden. Da-
rin sind wir uns einig mit der Europäischen Kommis-
sion, die bis zuletzt versucht hat, eine besitzrechtliche
Trennung von Netzbetrieb und Stromerzeugung auch in
Deutschland durchzusetzen. Das Vorhaben scheiterte,
wie wir mit Erschrecken feststellen mussten, am Wider-
stand der Bundesregierung, die sich in Brüssel auch in
der Frage der Stromnetze zum Vorkämpfer der Konzern-
interessen aufschwang – und sich damit kräftig bla-
mierte. Denn mitten in den Brüsseler Verhandlungen gab
der Eon-Konzern seinerzeit bekannt, sich von seinen
Stromnetzen trennen zu wollen. Ihm folgte inzwischen
auch Vattenfall Europe. Damit ergibt sich die vielleicht
einmalige Chance, in Deutschland den Betrieb der Über-
tragungsnetze neu zu organisieren zugunsten einer fairen
Marktentwicklung, zugunsten eines beschleunigten Aus-
baus erneuerbarer Energien und zugunsten der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher.
Der Bundeswirtschaftsminister bewegt sich in der
Netzfrage im Schneckentempo. Erst hat er für die Kon-
zerne gekämpft, jetzt, so wird er in den Medien zitiert,
glaubt er, dass wir um einen gemeinsamen Netzbetrieb
„nicht herumkommen“ werden. Ja, Herr Glos, dann han-
21746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
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deln sie jetzt und nicht erst in ferner Zukunft. Sorgen sie
dafür, dass es so schnell wie möglich eine bundesweite
Netzgesellschaft gibt! Wir Grünen haben dazu einen
ganz konkreten Antrag eingebracht. Für uns steht an ers-
ter Stelle, den Netzbetrieb neutral zu machen. Denn fai-
ren Wettbewerb kann es erst geben, wenn die Übertra-
gungsnetze nicht mehr von denen betrieben werden, die
den Strom erzeugen und verkaufen.
Wir schlagen deshalb eine Netzgesellschaft vor, die
mehrheitlich der öffentlichen Hand gehört. Wir wollen
keine Verstaatlichung, weil ein Netzmonopol in Staats-
hand nicht zu mehr Innovation und Verbraucherschutz
führt; das zeigen zahlreiche Beispiele, etwa Frankreich.
Wir wollen ein modernes Unternehmen, in dem Bund,
Länder und Kommunen die Mehrheit der Anteile halten
und private Investoren die Minderheit. Wir wollen vor
allem keine monopolartigen Besitzverhältnisse und wün-
schen daher einen breiten Streubesitz aus öffentlicher
und privater Beteiligung. Die Stromversorger aber gilt es
von der Netzgesellschaft auszuschließen. Wir dürfen
nicht länger den Bock zum Gärtner machen. Dazu ist die
Schaffung neutral betriebener Stromnetze zu wichtig für
die Zukunft unserer Energieversorgung.
Ein einheitliches Stromübertragungsnetz würde Strom-
kunden einen zweistelligen Millionenbetrag jährlich er-
sparen. Das hat die Bundesnetzagentur gerade errechnet.
Dann wäre Schluss mit dem undurchsichtigen Handel mit
Regelenergie, der den Konzernen die Chance bietet, Geld
von der einen in die andere Tasche zu wirtschaften – zu-
lasten vor allem von Ökostromanbietern und ihren Kun-
den. Ein neutrales Stromübertragungsnetz würde alle
Stromerzeuger gleich behandeln und die immer noch ekla-
tante Behinderung erneuerbarer Energien beim Netzan-
schluss beenden.
Ein neutrales Stromübertragungsnetz würde die drin-
gend benötigten Investitionen in den Neubau von Strom-
leitungen, aber auch von Stromspeichern und innovati-
ver Regeltechnik voranbringen. Wir müssen die Netze
jetzt fit machen für eine Zukunft, in der 30, 40 und per-
spektivisch 100 Prozent Strom aus erneuerbaren Quellen
stammt. Das ist mit den Oligopolisten von Eon, RWE &
Co. nicht zu machen. Die wollen vor allem ihre alten
AKW und ihre neuen Kohlekraftwerke ans Netz bringen
und so ihre marktbeherrschende Stellung auf Jahrzehnte
zementieren.
Die Zukunft der Stromnetze wird entscheiden, wie
wir unsere Energiezukunft gestalten. Nur ein neutrales
Stromübertragungsnetz in mehrheitlich öffentlicher
Hand mit Streubesitz kann fairen Wettbewerb und Vor-
fahrt für klimafreundlichen Strom sicherstellen sowie
eine Zementierung des Energiekartells der großen vier
verhindern. Wir dürfen die Chance, jetzt zukunftsfähige
Strukturen im Energiemarkt zu schaffen, nicht verpas-
sen. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu!
Anlage 8
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 853. Sitzung am 19. De-
zember 2008 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen
zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77
Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen:
– Gesetz über die Feststellung des Bundeshaus-
haltsplans für das Haushaltsjahr 2009 (Haus-
haltsgesetz 2009)
– Viertes Gesetz zur Änderung des Weingesetzes
– Düngegesetz
– Gesetz zur Einführung Unterstützter Beschäfti-
gung
– Zweites Gesetz zur Änderung des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
– Fünftes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch
– Achtes Gesetz zur Änderung des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
– Gesetz zur Modernisierung und Entbürokratisie-
rung des Steuerverfahrens (Steuerbürokratieab-
baugesetz)
– Gesetz zur Neuordnung und Modernisierung des
Bundesdienstrechts (Dienstrechtsneuordnungsge-
setz – DNeuG)
– Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsge-
setzes
– Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches
Historisches Museum“
– Fünftes Gesetz zur Änderung des Filmförde-
rungsgesetzes
– Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb
– Gesetz über den Zugang zu digitalen Geodaten
(Geodatenzugangsgesetz – GeoZG)
– Zweites Gesetz zur Änderung des Autobahnmaut-
gesetzes für schwere Nutzfahrzeuge
– Viertes Gesetz zur Änderung des Straßenver-
kehrsgesetzes
– Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgeset-
zes und zur Änderung des Gesetzes zur Änderung
der Anlagen 1 und 3 des ATP-Übereinkommens
– Gesetz zur Neufassung des Raumordnungsge-
setzes und zur Änderung anderer Vorschriften
(GeROG)
– Erstes Gesetz zur Änderung des Wohngeldgeset-
zes
– Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten
Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem
Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum
Übereinkommen der Vereinten Nationen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen
– Gesetz zu den Abkommen vom 26. Mai 2006 zwi-
schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Regierung der Sonderverwaltungs-
region Hongkong der Volksrepublik China über
die gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen und
über die Überstellung flüchtiger Straftäter
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009 21747
(A) (C)
(B) (D)
– Gesetz zu dem Vertrag vom 26. Februar 2008 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Polen über den Bau und die Instandhal-
tung von Grenzbrücken in der Bundesrepublik
Deutschland im Zuge von Schienenwegen des
Bundes, in der Republik Polen im Zuge von Eisen-
bahnstrecken mit staatlicher Bedeutung
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 25. Juli 2007
über die Beteiligung der Republik Bulgarien und
Rumäniens am Europäischen Wirtschaftsraum
– Gesetz zu den Protokollen vom 9. Juli 2008 zum
Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Repu-
blik Albanien und der Republik Kroatien
– Gesetz zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der
Zuwanderung Hochqualifizierter und zur Ände-
rung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen
(Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz)
– Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internatio-
nalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt
– Gesetz zur Förderung von Familien und haus-
haltsnahen Dienstleistungen (Familienleistungs-
gesetz – FamLeistG)
– Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingun-
gen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitrege-
lungen und zur Änderung anderer Gesetze
Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung
gefasst:
Der Bundesrat begrüßt, dass im Interesse der Portabi-
lität von Wertguthaben auch die Möglichkeit einer Über-
tragung auf die gesetzliche Rentenversicherung eröffnet
werden soll.
Im Hinblick auf die in Abhängigkeit von der festge-
setzten Wertgrenze zunächst zu erwartenden geringen
Fallzahlen von Übertragungen auf die Rentenversiche-
rung erscheint eine Ansiedlung der Zuständigkeit aus-
schließlich bei der Deutschen Rentenversicherung Bund
für einen befristeten Übergangszeitraum – wie auch vom
Bundesrat gefordert – sinnvoll.
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung jedoch
auf, die weitere Entwicklung zu den von der Deutschen
Rentenversicherung Bund verwalteten Wertguthaben zu
beobachten und die im Rahmen der Organisationsreform
der gesetzlichen Rentenversicherung gefundene Kompe-
tenzverteilung zwischen Regionalträgern und Bundesträ-
gern zu beachten.
Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Ausführung
der Gesetze grundsätzlich Ländersache ist und es den
Ländern obliegt, Aufgaben den Landesbehörden zuzu-
weisen.
– Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpoli-
tischen Instrumente
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie-
ßung gefasst:
Der Bundesrat bedauert, dass die Bundesregierung
den Vorschlag des Bundesrates, die ABM im Rechts-
kreis des SGB II nicht zu streichen, nicht aufgegriffen
hat, da damit insbesondere den Regionen mit einem ho-
hen Anteil an Langzeitarbeitslosen ein erprobtes und be-
währtes arbeitsmarktpolitisches Instrument nicht mehr
zur Verfügung steht.
Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf,
zumindest sicherzustellen, dass die Arbeitsgelegenheiten
in der Entgeltvariante – ebenso wie ABM – auch in ver-
gaberechtlich zulässiger Weise bei der Vergabe eines
öffentlichen Auftrags an ein Wirtschaftsunternehmen
durchgeführt werden können. Die Aufnahme einer ver-
traglichen Nebenbedingung, dass die Zuweisung geför-
derter Arbeitnehmer nicht diskriminierend ist, soll auch
künftig möglich sein, um die Wirtschaft in geförderte
Arbeit einzubeziehen.
Die Gesetzesbegründung der Bundesregierung zu
§ 16 d SGB II enthält lediglich die Bemerkung, dass im
Übrigen die Vorschriften zu den Arbeitsgelegenheiten
unverändert bleiben. Dagegen ist eine Klarstellung er-
forderlich, um Rechtssicherheit für die Zukunft zu schaf-
fen. Es soll ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet sein,
dass Arbeitslose, die in einer Arbeitsgelegenheit in der
Entgeltvariante beschäftigt sind, unmittelbar in die Aus-
führung öffentlicher Aufträge einbezogen werden kön-
nen. Solche sogenannten Vergabe-ABM haben sich we-
gen ihres engen Bezugs zur regionalen Infrastruktur in
Ostdeutschland besonders bewährt. Daher sollte die
Möglichkeit der Vergabe im Rechtskreis des SGB II bei
den vergleichbaren Arbeitsgelegenheiten in der Entgelt-
variante auch zulässig sein.
– Erstes Gesetz zur Änderung des Bundeseltern-
geld- und Elternzeitgesetzes
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie-
ßung gefasst:
Der Bundesrat hält die Vereinfachung des Elterngeld-
verfahrens im Interesse der Eltern und der mit dem Voll-
zug befassten Länder für besonders dringlich.
Notwendig ist insbesondere eine Vereinfachung der
Einkommensermittlung.
Der Bundesrat legte in seinem einstimmig beschlos-
senen Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Elterngeld-
vollzugs (Bundesratsdrucksache 225/08 (Beschluss)
vom 23. Mai 2008) entsprechende Vorschläge vor.
Auch der Bundesrechnungshof sprach in seinem Be-
richt nach § 88 Abs. 2 BHO über die Wirkungsweise und
Umsetzbarkeit der Regelungen nach dem Bundeseltern-
geld- und Elternzeitgesetz am 19. September 2008 die
Empfehlung aus, die Einkommensermittlung deutlich zu
vereinfachen.
Die Bundesregierung kündigte in ihrem im Oktober
2008 gemäß § 25 BEEG zu erstattenden Bericht in Ab-
stimmung mit den Ländern eine Prüfung von Vereinfa-
chungsmöglichkeiten an.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, unter Einbe-
ziehung des Gesetzentwurfs des Bundesrats alle Verein-
fachungsmöglichkeiten zu ergreifen und so schnell wie
möglich umzusetzen.
– Jahressteuergesetz 2009 (JStG 2009)
Der Bundesrat hat ferner die nachfolgende Entschlie-
ßung gefasst:
Durch das Jahressteuergesetz 2009 sollen die Rege-
lungen zur Umsatzsteuerbefreiung für ambulante und
(A) (C)
(B) (D)
stationäre Heilbehandlungsleistungen an die Terminolo-
gie der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie angepasst wer-
den. Grundsatz der Neuregelung war und ist, dass im
Krankenhausbereich Schlechterstellungen gegenüber dem
geltenden Recht nicht eintreten sollen. Inzwischen hat
sich jedoch gezeigt, dass einzelne Krankenhäuser ab
dem 1. Januar 2009 nicht mehr unter die Befreiungsvor-
schrift fallen, obwohl ihre Umsätze nach geltendem
Recht steuerfrei sind. Dies würde bei den betroffenen
Krankenhäusern zu einer erheblichen steuerlichen Mehr-
belastung führen und gegebenenfalls die dort vorhande-
nen Arbeitsplätze gefährden. Der Bundesrat fordert des-
halb die Bundesregierung auf, den Anwendungsbereich
der Steuerbefreiung in dieser Hinsicht zu prüfen und er-
forderlichenfalls durch geeignete Maßnahmen spätestens
im Rahmen des nächsten geeigneten Gesetzgebungsver-
fahrens rückwirkend sicherzustellen, dass dem Grund-
satz „Keine Schlechterstellung gegenüber dem Status-
quo“ Rechnung getragen wird.
Begründung:
Künftig werden Krankenhausbehandlungen insbeson-
dere von solchen Krankenhäusern von der Umsatzsteuer
befreit, die nach § 108 SGB V zugelassen sind. Darunter
fallen private Krankenhäuser insbesondere dann, wenn
sie einen Versorgungsvertrag mit den Landesverbänden
der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen
abgeschlossen haben. Nach geltendem Recht kann ein
Krankenhaus unter den Voraussetzungen des § 4 Nr. 16
Buchstabe b UStG in Verbindung mit § 67 Abs. 2 AO
mit seinen Umsätzen auch dann von der Umsatzsteuer
befreit sein, wenn es keinen Versorgungsvertrag abge-
schlossen hat. So können Krankenhäuser nach § 67
Abs. 2 AO steuerbegünstigt sein, wenn mindestens
40 vom Hundert der jährlichen Pflegetage auf Patienten
entfallen, bei denen für die Krankenhausleistungen kein
höheres Entgelt als nach der Bundespflegesatzverord-
nung berechnet wird. Die Fälle des § 67 Abs. 2 AO kön-
nen nach der Neuregelung nicht mehr unter die Steuer-
befreiungsvorschrift subsumiert werden.
Die Abgeordnete Kerstin Müller (Köln) hat darum
gebeten, bei dem Entwurf eines … Gesetzes zur Än-
derung des Gesetzes zur Vermeidung und Bewälti-
gung von Schwangerschaftskonflikten auf Drucksa-
che 16/11347 nachträglich in die Liste der Antragsteller
aufgenommen zu werden.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit-
geteilt, dass sie den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Festsetzung von
Mindestarbeitsbedingungen auf Drucksache 16/8757
und den Entwurf eines Gesetzes zur Gewährleistung
angemessener Arbeitsbedingungen für grenzüber-
schreitend entsandte und für regelmäßig im Inland
beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
(Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AEntG) auf Druck-
sache 16/8758 zurückzieht.
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2
der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
Innenausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht der Bundesregierung über die Fort-
schritte zur Entwicklung der verschiedenen Felder des
Geoinformationswesens im nationalen, europäischen
und internationalen Kontext
– Drucksachen 16/10080, 16/10285 Nr. 17 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand der Ab-
wicklung des Fonds für Wiedergutmachungsleistungen
an jüdische Verfolgte
– Stand 30. Juni 2008 –
– Drucksachen 16/10081, 16/10285 Nr. 18 –
Haushaltsausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapi-
tel 11 10 Titel 681 01
– Versorgungsbezüge für Beschädigte –
– Drucksachen 16/11169, 16/11306 Nr. 3 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapi-
tel 60 03 Titel 632 01
– Zahlungen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitie-
rungsgesetz –
– Drucksachen 16/11198, 16/11478 Nr. 1.4 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapi-
tel 12 25 Titel 893 01
– Prämien nach den Wohnungsbau-Prämiengesetz –
– Drucksachen 16/11368, 16/11478 Nr. 1.6 –
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Risikostruktur und strukturwandelbedingte Belastun-
gen der landwirtschaftlichen Krankenversicherung
– Drucksachen 16/10713, 16/10949 Nr. 5 –
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen auf
dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr
2006 und 2007
(Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2006/2007)
– Drucksachen 16/10230, 16/10949 Nr. 1 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tätigkeitsberichte 2006 und 2007 der Bundesnetzagen-
tur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und
Eisenbahnen für den Bereich Eisenbahnen gemäß § 14b
Abs. 4 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
und
Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksachen 16/10460, 16/10949 Nr. 2 –
21748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
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2, 0, T
22
200. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 22. Januar 2009
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8