19732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Berichtigungen
183. Sitzung, Seite 19530 (A), letzter Absatz: Der
vorletzte Satz ist wie folgt zu lesen: „Außerdem wissen
wir, dass die Erdverkabelung fünf- bis zehnmal so teuer
und der Nutzungszeitraum halb so lang wie bei der Frei-
leitung ist.“
183. Sitzung, Seite 19623 (D), erster Absatz, erster
Satz und dritter Absatz, zweiter Satz: Statt „prädikativ“
ist „prädiktiv“ zu lesen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19733
(A) (C)
(B) (D)
Die Maßnahmen der Bundesregierung gehen in die
richtige Richtung. Ohne einen liquiden Interbankenhandel
Rohde, Jörg FDP 17.10.2008
Wir sind spätestens seit der Lehman-Pleite an einem
Punkt, an dem staatliche Eingriffe im Rahmen des Kri-
senmanagements nicht nur sinnvoll, sondern auch unver-
zichtbar sind.
Multhaupt, Gesine SPD 17.10.2008
Otto (Frankfurt), Hans-
Joachim
FDP 17.10.2008
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Albach, Peter CDU/CSU 17.10.2008
Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
17.10.2008
Bierwirth, Petra SPD 17.10.2008
Bodewig, Kurt SPD 17.10.2008**
Brase, Willi SPD 17.10.2008
Dr. Däubler-Gmelin,
Herta
SPD 17.10.2008
Deittert, Hubert CDU/CSU 17.10.2008
Friedrich (Bayreuth),
Horst
FDP 17.10.2008
Gunkel, Wolfgang SPD 17.10.2008
Hänsel, Heike DIE LINKE 17.10.2008
Dr. Happach-Kasan,
Christel
FDP 17.10.2008
Heller, Uda Carmen
Freia
CDU/CSU 17.10.2008
Hempelmann, Rolf SPD 17.10.2008
Höfer, Gerd SPD 17.10.2008*
Kipping, Katja DIE LINKE 17.10.2008
Klimke, Jürgen CDU/CSU 17.10.2008
Leutheusser-
Schnarrenberger,
Sabine
FDP 17.10.2008
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
17.10.2008
Müller (Chemnitz),
Detlef
SPD 17.10.2008
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Omid Nouripour (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur
Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanz-
marktstabilisierungsgesetz – FMStG) (Zusatz-
tagesordnungspunkt 7)
Wir befinden uns in einer dramatisch einmaligen
Situation. Eine derartige Krise hat der Finanzmarkt seit
80 Jahren nicht erlebt. Seit über einem Jahr versuchen
die Notenbanken durch die regelmäßig wiederkehrende
Bereitstellung von Kapital, diese Krise zu verhindern.
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 17.10.2008
Schauerte, Hartmut CDU/CSU 17.10.2008
Dr. Scheer, Hermann SPD 17.10.2008
Schily, Otto SPD 17.10.2008
Schmidt (Nürnberg),
Renate
SPD 17.10.2008
Seehofer, Horst CDU/CSU 17.10.2008
Dr. Stadler, Max FDP 17.10.2008
Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
17.10.2008
Ulrich, Alexander DIE LINKE 17.10.2008
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 17.10.2008*
Zeil, Martin FDP 17.10.2008
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
19734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
ist kein funktionierender Finanzmarkt möglich. Ein
Funktionieren der Finanzwirtschaft ist wiederum zentral
für die Realwirtschaft. Die Realwirtschaft ist die Grund-
lage für die materielle Existenz des Menschen. Daher
haben die Grünen im Bundestag einer Fristverkürzung
des normalen parlamentarischen Verfahrens zugestimmt.
Es ist richtig, dass nun über ein Maßnahmenpaket im
Eilverfahren entschieden wird. Eine Untätigkeit des
Staates hätte in dieser Situation weitreichend negative
Konsequenzen für jeden Einzelnen.
Ich werde aus zwei Gründen dennoch gegen den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung stimmen. Erstens. Die
Mitwirkungsrechte des Parlaments werden erheblich be-
schnitten. Es entspricht nicht meiner Vorstellung des
Mandats, dass das Parlament nur informiert wird, wenn
es um Summen von 480 Milliarden Euro geht. Das Bud-
get ist das Königsrecht des Parlaments. Der Bundestag
muss daher auch weiterhin aktiv in zentrale Entschei-
dungen und Mittelverwendungen einbezogen werden.
Die Bundesregierung sollte heute keinen Blankoscheck
erhalten.
Zweitens. Wenn der Staat Bürgschaften an Banken
vergibt oder mit Kapital einsteigt, fordern wir, dass Auf-
lagen und Mitbestimmung durch den Staat nicht nur
möglich, sondern verbindlich sind. Es muss obligatori-
sche Regeln geben, damit die Bundesregierung sich
nicht von Bank zu Bank mit immer laxeren Vorhaben
durchmanövrieren kann. Diese zwingenden Regeln su-
che ich im vorliegenden Gesetzentwurf vergeblich. Statt-
dessen soll die Gegenleistung der Finanzinstitute ohne
Parlamentsbeteiligung auf Verordnungsweg geregelt
werden. Damit will die Bundesregierung einen weiteren
Blankoscheck.
Der Gesetzentwurf lässt viele zentrale Punkte offen.
Das ist in erster Linie dem Eilverfahren geschuldet. Das
Beispiel Amerika zeigt, dass dort nach der ersten Ableh-
nung des Finanzmarktstabilisierungspaketes durch das
Repräsentantenhaus mehr Zeit für Diskussion geschaf-
fen wurde und somit viele Fehler korrigiert werden
konnten. Die kurze, dadurch entstandene Verzögerung
hatte keine weitreichenden negativen Konsequenzen.
Das ist für mich ein weiterer Grund, warum ich den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung heute ablehne.
Wir haben uns im Haushaltsausschuss und Parlament
für alle diese Punkte intensiv eingesetzt. Leider sind wir
in den zentralen Aspekten an der Sturheit der Großen
Koalition gescheitert.
Mittel- und langfristig muss sich die Bundesregierung
vom reinen Krisenmanagement verabschieden. Wir ha-
ben wieder gelernt, dass es auf dem Finanzmarkt zu ei-
nem massiven Marktversagen kommt, wo das Zocken
mit undurchsichtigen Finanzprodukten unsere gesamte
Gesellschaft an den Abgrund stellen kann. Daher fordern
wir Regeln und massive Verbesserungen im Zusammen-
spiel von den Akteuren. Der Staat muss viel stärker als
bisher umfassende Zugänge zu Informationen über das
Geschehen auf den Märkten erhalten. Das derzeitige
Systemversagen zeigt: Wir brauchen neue Regeln. Die
Bundesregierung zeichnet sich aber auch in diesem Be-
reich durch Untätigkeit aus.
Anlage 3
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung eines Maß-
nahmenpakets zur Stabilisierung des Finanz-
marktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz –
FMStG) (Zusatztagesordnungspunkt 7)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Dem Finanz-
marktstabilisierungsgesetz (FMStG) kann ich nur des-
halb zustimmen, weil geschlossenes Handeln jetzt ein
Gebot der Stunde ist, um größeren Schaden von unserem
Vaterland abzuwenden. Dennoch muss ich ausdrücklich
darauf verweisen, dass der zur Abstimmung stehende
Gesetzentwurf nur sehr nebulöse Verordnungsermächti-
gungen hinsichtlich der Verantwortung bzw. der Eigen-
beteiligung der verantwortlichen Akteure der Finanz-
branche (Großaktionäre, Manager) enthält. Klare
Verpflichtungen, gegebenenfalls auch mit der ausgewie-
senen Möglichkeit zur Selbstverpflichtung, der für die
Krise Verantwortlichen sind leider nicht gesetzlich fi-
xiert.
Hier wäre zum Beispiel daran zu denken, dass die für
die Finanzmarktkrise verantwortlichen Entscheidungs-
träger verpflichtet werden, ihre Kenntnisse über die
volkswirtschaftlichen Zusammenhänge nationaler und
internationaler Finanzmarktströme in Form eines quasi
„Täter-Opfer-Ausgleichs“ den Bürgerinnen und Bür-
gern – den mithaftenden Steuerzahlern – zur Verfügung
stellen. So könnten sie sich zumindest aktiv an der Repa-
ratur des von ihnen verursachten Schadens beteiligen.
Zu den notwendigen klaren Verpflichtungen der Verant-
wortlichen hätten ebenso eindeutige Aussagen zur Be-
grenzung der Managergehälter, Boni oder Dividenden
gehört. In diesem Zusammenhang hätte ich erwartet,
dass die Krisenverantwortlichen eigeninitiativ ihre um-
fassende Bereitschaft zu vertrauensbildenden Maßnah-
men signalisiert hätten.
Mir ist klar, dass die Ermittlung der Schuldigen aus-
schließlich mit den Mitteln eines freiheitlichen, demo-
kratischen Rechtsstaates erfolgen darf. Dies ist juristisch
kompliziert, weil bislang einzigartig, und in jeglicher
Hinsicht zeitlich sehr aufwendig. Mir ist auch klar, dass
die gegenüber der Gesamtbevölkerung geringe Anzahl
der Krisenverantwortlichen unmöglich eine wirksame
Schadenswiedergutmachung betreiben kann.
Insofern wäre ein gesetzlich fixierter Eigenbetrag der
Finanzbranche zwar marginal, aber dennoch ein Betrag
von hohem politischem Symbolwert gewesen. Dieser Ei-
genbetrag wäre eine vertrauensbildende Maßnahme ge-
genüber der Gemeinschaft der Steuerzahler, durch die
die Einsicht und das Bekenntnis zu zukünftig verant-
wortlicherem Handeln ein Gesicht bekommen hätten.
Ich bedaure ausdrücklich, dass die Finanzbranche
sich diesbezüglich auffällig zurückhält. Die lässt leider
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19735
(A) (C)
(B) (D)
vermuten, dass wenig Einsicht besteht. Damit kann der
Anschein erweckt werden, dass eine gewisse Missach-
tung gegenüber den redlich arbeitenden Steuerzahlern
demonstriert wird, die die immense Last der Stabilisie-
rung der für eine funktionierende soziale Marktwirt-
schaft notwendigen Finanzwirtschaft schultern.
Michael Brand (CDU/CSU): Die Krise der Finanz-
märkte ist verursacht durch verantwortungslose Speku-
lanten, die viel mit Kapitalismus und nichts mehr mit
sozialer Marktwirtschaft zu tun haben. Dass Bundes-
regierung und Bundesländer in einer ungeheuren Kraft-
anstrengung nun wesentliche Schritte eingeleitet haben,
um diese Krise zu meistern, verdient Anerkennung und
Unterstützung im Sinne der Sparer und der Wirtschaft,
die dringend auf Kredite zur Finanzierung der Produk-
tion und Sicherung von Beschäftigung angewiesen ist.
Dass der einzelne Parlamentarier angesichts der unge-
heuren Komplexität und der Auswirkungen sich auf das
Wissen und die erkennbar gegebene Verantwortung von
Fachleuten aus Regierung und auch seriöser Experten
aus der Finanzwirtschaft verlassen muss, ist auch klar.
Durch meine Zustimmung zu diesem Maßnahmenpa-
ket gebe ich auch meinem Vertrauen Ausdruck, dass an-
gesichts der Krise die Menschen in unserem Land auf
allen Ebenen, von den kleinen Sparern bis zu den Fi-
nanzministern, gemeinsam diese Krise bewältigen.
Dies als nicht mit allen Fragen des Finanzmarktes
vertrauter Abgeordneter offen und ehrlich zu Protokoll
gegeben zu haben, ist mir wegen des Vertrauens der Bür-
gerinnen und Bürger in ihre gewählten Vertreter wichtig.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Ich kann
dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz nicht zustimmen.
Zwar sind Maßnahmen der Bundesregierung, um das
Vertrauen zwischen den Banken und Finanzinstituten
wieder herzustellen, überfällig. Mit den vorgelegten Re-
gelungen findet aber eine weitgehende Entmachtung des
Parlaments statt. Ein Regieren per Rechtsverordnung ist
für mich letztlich undemokratisch. Mit dem Gesetz wer-
den in der Vergangenheit erzielte Gewinne großer Aktio-
näre gerettet, ohne aber die Verursacher der Finanzkrise
angemessen an den Lasten zu beteiligen und zur Verant-
wortung zu ziehen. Mit einer Steuerpolitik zugunsten
von Finanzinvestoren, mit der Zulassung unter anderem
von Hedgefonds und Kreditverbriefungen tragen die
Große Koalition wie auch ihre rot-grüne Vorgänger-
regierung maßgeblich Mitschuld am Entstehen der ge-
genwärtigen tiefgreifenden Krise.
Mit dem Maßnahmenpaket wird nicht ausreichend
dafür gesorgt, die Spareinlagen und Einkommen der
Bürgerinnen und Bürger zu sichern sowie die Liquidität
und Auftragslage kleinerer und mittlerer Firmen zu ver-
bessern. Ohne ein begleitendes Konjunkturprogramm,
ohne deutliche Einkommenssteigerungen vor allem für
Geringverdiener, Langzeitarbeitslose und Familien wer-
den die finanzpolitischen Maßnahmen zu großen Teilen
ins Leere laufen und nur einen steigenden Schuldenberg
für spätere Generationen hinterlassen. Das Gesetz ist
eine Rechnung mit vielen Unbekannten, insbesondere
mit zusätzlichen und zukünftigen Belastungen für die
Haushalte des Bundes, der Länder und der Kommunen.
Dem kann und will ich nicht zustimmen.
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Hiermit er-
kläre ich, dass ich dem Gesetzentwurf zustimme, weil
ich die Auffassung teile, dass schnell vertrauensbildende
Maßnahmen ergriffen werden müssen. Ich lege jedoch
großen Wert auf die Feststellung, dass ich bedauere, dass
es nicht zu der in der Bundestagsdrucksache 16/10600
aufgezeigten Lösung mit der Operationsverantwortung
durch die Deutsche Bundesbank kommt. Angesichts der
weiten Verordnungsermächtigungen, die mit dem Gesetz
gegeben werden, und den Erfahrungen mit der Beteili-
gungshandhabung durch den Bundesfinanzminister hätte
ich es für richtiger empfunden, dass einerseits die Opera-
tionsverantwortung bei der Bundesbank gelegen hätte
und andererseits die in den Beratungen angedachten er-
höhten Kontrollrechte bei den Beteiligungen unmittelbar
mit dem Gesetzentwurf gleichzeitig umgesetzt worden
wären. So besteht die Gefahr, dass nach der Inkraftset-
zung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes die not-
wendigen Korrekturen und Kontrollen im Bereich der
Beteiligungsverwaltung auf der Strecke bleiben. Es darf
nicht zu einer Gewichtsverlagerung zwischen Parlament
und Regierung kommen. Dies muss durch besondere
Kontrollen wieder ausgeglichen werden.
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Die Dramatik der
internationalen Finanzmarktkrise erfordert sicherlich be-
sondere Maßnahmen, hinter denen andere Grundsätze
zurückstehen müssen. So lag der endgültige Text des
Gesetzentwurfes erst am Morgen der Beratung vor, was
grundsätzlich nicht hinnehmbar ist. Auch die fast voll-
ständige Delegation der Gesetzgebungsbefugnisse an
den Verordnungsgeber muss im Interesse des parlamen-
tarischen Systems ein Einzelfall bleiben. Schließlich
stecken in der Gesetzesmaterie zahlreiche ungeklärte
Fragen, wie etwa die Frage von Wettbewerbsverzerrun-
gen, wenn der Bund sich an einigen Banken beteiligt und
an anderen nicht; die Rolle des Bundes im operativen
Geschäft der Banken, an denen er sich beteiligt hat, und
die Frage, ob und wie eine eventuelle Bundesbeteiligung
rückabzuwickeln ist. Nur im Lichte der außerordentli-
chen, weltweiten Finanzkrise ist dieses Gesetzgebungs-
verfahren hinnehmbar.
Nicht hinnehmbar ist aber, dass im Gesetzestext ein
zentraler rechtsethischer Grundsatz unserer Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung völlig außer Acht gelassen
wird, nämlich der Grundsatz der Eigenverantwortung.
Unsere soziale Marktwirtschaft ermöglicht größtmögli-
che individuelle Erfolge, verlangt umgekehrt dann aber
auch das Einstehen für entstandene Verluste und Schä-
den. Eine Privatisierung von Gewinnen und Sozialisie-
rung von Verlusten ist damit unvereinbar und nimmt der
Marktwirtschaft die innere Rechtfertigung.
Das heute zur Verabschiedung anstehende Finanz-
marktstabilisierungsgesetz ignoriert das Prinzip der Ei-
genverantwortung vollständig und enthält in keiner ein-
zigen Passage einen Eigenbeitrag der Finanzbranche
insgesamt, der Aktionäre oder insbesondere des verant-
19736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
wortlichen Managements. Jedem Handwerker oder klei-
nen Unternehmer drohen bei Verlusten gerade auch
durch die Banken Vollstreckungsmaßnahmen oder gar
die Insolvenz, hier dagegen wird eine Branche, die in
den vergangenen Jahren überproportional verdient hat,
vollkommen verschont. Bloße Verordnungsermächti-
gungen in diese Richtung reichen nicht aus, zumal zu be-
fürchten ist, dass manch markiger Rede keinerlei Taten
folgen werden.
Möglich gewesen wäre es auch in der Eile des Ge-
setzgebungsverfahrens, festzulegen, mögliche Verluste
des Finanzmarktstabilisierungsfonds aus Rettungsmaß-
nahmen entweder auf die gesamte Finanzbranche oder
auf die Institute zu verteilen, die Leistungen des Fonds
in Anspruch genommen haben und in einigen Jahren
vielleicht wieder sehr erfolgreich wirtschaften werden,
so wie es der Finanzausschuss beschlossen hatte. Mög-
lich gewesen wäre es auch, wie in den USA (Emergency
Economic Stabilization Act of 2008, section 111) Vergü-
tungsstrukturen bei Unternehmen mit Bundesbeteiligung
und damit die Finanzierung des Steuerzahlers auf ein der
Öffentlichkeit vermittelbares Niveau zu begrenzen.
Da der Gesetzestext den für die innere Rechtfertigung
der sozialen Marktwirtschaft unerlässlichen Grundsatz
der Eigenverantwortung der Finanzbranche oder des
dortigen Managements vollkommen außer Acht lässt,
kann ich ihm trotz der grundsätzlichen Notwendigkeit
eines staatlichen Handelns nicht zustimmen und werde
mich enthalten.
Marina Schuster (FDP): Ich gebe dem von der Bun-
desregierung vorgelegten Finanzmarktstabilisierungsge-
setz – FMStG meine Zustimmung, sehe aber, zum Teil
zusätzlich zu den im Entschließungsantrag der FDP ge-
nannten Punkten, folgende Kritikpunkte:
Art. 1 § 7 (neu): Es bedarf keiner Obergrenze für die
Beteiligung des Fonds am Eigenkapital. Bei Bedarf
muss der Fonds auch das gesamte Eigenkapital befristet
übernehmen können. Die Alteigentümer können die An-
teile ja zurückerwerben.
Art. 1 § 6 (neu): Es wird ein „Entgelt in angemessener
Höhe“ für Garantien gefordert. In der Begründung heißt
es, das Entgelt solle 2 Prozent nicht unterschreiten. Hier
ist zu beachten, dass das Entgelt für den Fonds wenigs-
tens annähernd dem Wert der Risikoreduktion entspricht.
Dieser kann erheblich über 2 Prozent liegen. Also sollte
man Risikoklassen bilden und die Garantieprämien an
dem Umfang der Risikoreduktion ausrichten. Macht
man das nicht, besteht die Gefahr des Trittbrettfahrens.
Art. 1 § 12: Die Kosten für die Verwaltung trägt der
Bund. Die Kosten sollten meines Erachtens aber auch
die tragen, zu deren Gunsten der Fonds errichtet wird.
Das sind die Garantie- und Eigenkapitalnehmer. Das er-
fordert, dass die Prämien für Kapitalhilfe entsprechend
gestaltet werden.
Art. 2: Die Rechtsverordnungen sind nicht präzisiert;
folglich fehlen viele Details, die außerhalb der parla-
mentarischen Beratung bestimmt werden. Das müsste so
nicht sein. Man hätte die geplanten Grundzüge skizzie-
ren können.
Art. 2 § 3: Der Fonds sollte auch Mehrheitspositionen
einnehmen dürfen. Er hat es dann leichter, seine Ziele
durchzusetzen.
Art. 2 § 5: Hier wird dem Vorstand gestattet, Vorzugs-
aktien ohne Stimmrecht auszugeben. Das ist nicht sinn-
voll; der Fonds sollte prinzipiell nur Positionen einneh-
men, die ihn im Zweifel durchsetzungsstark machen. Es
gilt das Prinzip: Wer haftet, soll auch mitreden dürfen.
Art. 2 § 5 Abs. 5: Der Vorstand kann Aktien mit Ge-
winn- oder Liquidationsvorzügen ausgeben. Das ist
sinnvoll. Diese Vorzüge können entfallen, wenn die An-
teile an Dritte weiterverkauft werden. Das schmälert ih-
ren Wert; den Schaden hat der Fonds, den Vorteil haben
die Alteigentümer. Für diese Vermögensverschiebung
fehlt eine stichhaltige Begründung.
Art. 2, § 7: Nach § 3 bedarf die Kapitalerhöhung nicht
der Zustimmung der Hauptversammlung. In § 7 ist aller-
dings von der Zustimmung der Hauptversammlung die
Rede.
Art. 5: Änderung der Insolvenzordnung. Besonders
kritisch ist, dass man hier – wenn auch nur befristet – zu
dem alten Überschuldungsbegriff zurückkehrt, also zum
„weichen“ Begriff des BGH vor Inkrafttreten der InsO.
Gerade in der jetzigen Situation bräuchte man aber klare
Regelungen. Dies kann man erreichen, wenn die Bilan-
zierungsvorschriften für Financial Assets mit aktuell ge-
drückten Marktwerten angepasst werden. Dann nämlich
dürfen auf der Aktivseite Fortführungswerte aktiviert
werden. Dann also kann es bei der Interpretation von
§ 19 InsO bleiben. Wird dann Überschuldung erkennbar,
muss Eigenkapital zugeführt werden oder der Fonds
muss Garantien gegen Entgelt gewähren. Auf keinen
Fall sollte man Rechtsregeln, über die man 40 Jahre dis-
kutiert hat, aufweichen und bis zum Jahr 2011 außer
Kraft setzen.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Rolf Kramer, Gabriele
Lösekrug-Möller und Simone Violka (alle SPD)
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung eines Maß-
nahmenpakets zur Stabilisierung des Finanz-
marktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz –
FMStG) (Zusatztagesordnungspunkt 7)
In der Diskussion um die Ausgestaltung des Gesetzes
forderten die Abgeordneten der SPD und auch ich per-
sönlich eine Beteiligung der Finanzbranche an den even-
tuell auftretenden Defiziten. Ich halte es für gerechtfer-
tigt und auch gerecht, wenn nicht nur der Steuerzahler
für die zum Teil gravierenden Fehler der Kreditinstitute
aufkommen muss, auch wenn das größtenteils nur über
eine Bürgschaft erfolgt. Für diese Krise ist die Banken-
branche verantwortlich und muss dafür auch in Haftung
genommen werden. Leider verweigerte sich der Koali-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19737
(A) (C)
(B) (D)
tionspartner CDU/CSU dieser Forderung vehement. Die
Abgeordneten der CDU/CSU waren nicht bereit, diesen
Schritt mitzugehen. Sie stellen sich damit vor die Ban-
ken samt ihrer hoch bezahlten Manager und riskieren lie-
ber das Geld der Steuerzahler, als die Verursacher in
Mithaftung und persönliche Verantwortung zu nehmen.
Ich verurteile diese Haltung zutiefst, zumal viele
deutsche Anleger in den letzten Wochen durch Fehlbera-
tung und mangelnde Aufklärung bereits viel Geld verlo-
ren haben bzw. noch nicht wissen, ob sie zum Beispiel
im Falle der isländischen Kaupthing-Bank wieder zu-
mindest an einen Teil ihres Geldes kommen. Ich bin al-
lerdings zuversichtlich, dass auch hier zusammen mit
Island eine Lösung im Sinne der deutschen Anleger ge-
funden wird.
Die Menschen fordern zu Recht mehr persönliche
Haftung der Verantwortlichen. Eine Übernahme von
eventuellen Defiziten durch die Branche wäre aus mei-
ner Sicht ein erster Schritt gewesen, sich dieser Verant-
wortung zu stellen.
Wegen der ablehnenden Haltung der CDU/CSU in
dieser Frage musste ich mich entscheiden, ob ich dem
Gesetz in der jetzigen Form zustimmen kann. Diese Haf-
tungsfrage ist mir nach wie vor sehr wichtig, und ich be-
harre auch auf meiner Meinung und Forderung. Die
Banken und ihre Manager müssen zukünftig mehr in die
Pflicht genommen werden. Denn nur wer persönlich
mithaftet, wird zukünftig vorsichtiger agieren. Hohe
Bonizahlungen aufgrund von hohem Volumen und ho-
hem Risiko verleiten zu riskanten Anlageempfehlungen.
Das ist falsch.
Aufgrund der Ernsthaftigkeit des Themas, des Aus-
maßes der Finanzmarktkrise, der damit verbundenen
Gefahr des Zusammenbruchs des Bankensystems und
der nachhaltigen Schädigung der deutschen Wirtschaft
stimme ich trotz meiner nicht erfüllten Forderungen dem
Finanzmarktstabilisierungsgesetz heute zu. Eine Ableh-
nung und damit das Nichtzustandekommen des Finanz-
marktstabilisierungsgesetzes würden für die Sparerinnen
und Sparer, Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer, die
Wirtschaft und natürlich auch die Bankenbranche selber
ungeahnte negative Folgen haben. Das kann ich nicht
verantworten.
Auch wenn die oben genannten Punkte im vorliegen-
den Gesetz keine Berücksichtigung fanden, werde ich
alle meine Möglichkeiten nutzen, noch nachträglich eine
entsprechende Mithaftung durchzusetzen.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Alexander
Bonde, Dr. Harald Terpe, Krista Sager, Ute
Koczy, Anna Lührmann, Thilo Hoppe, Priska
Hinz (Herborn), Brigitte Pothmer, Kerstin
Andreae, Josef Philip Winkler, Ulrike Höfken,
Rainder Steenblock, Birgitt Bender und
Irmingard Schewe-Gerigk (alle BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung
eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des
Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsge-
setz – FMStG) (Zusatztagesordnungspunkt 7)
Wir befinden uns in einer historischen Situation. Es
gibt die größte Finanzmarktkrise seit 80 Jahren – und
eine weltweite ökonomische Krise steht uns wahrschein-
lich noch bevor. Diese außergewöhnliche Situation
macht sowohl bei den Notenbanken als auch bei Parla-
ment und Regierung außergewöhnliche staatliche Reak-
tionen notwendig, um eine weitere Zuspitzung der Krise
zu verhindern, deren Konsequenzen kaum absehbar sind.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist nach Art der Maßnah-
men sowie in deren Dimensionen eine solche außerge-
wöhnliche Reaktion, eine Notmaßnahme in schwieriger
Zeit. Sie abzulehnen bedarf auch dann, wenn eine Reihe
von Fragen im Beratungsprozess aufgrund der hohen
zeitlichen Dringlichkeit offengeblieben sind und in vie-
len Einzelfragen Bedenken bestehen, einer besonderen
Rechtfertigung.
Zur Verhinderung einer weiteren Verschärfung der Fi-
nanzkrise sind zurzeit vor allem zwei Dinge notwendig.
Erstens braucht es einen umfassenden Rettungsansatz,
der eine glaubwürdige Strategie der Rettung einzelner
Institute sowie eine Stabilisierung der Interbanken-
märkte umfasst. Geeignet dazu sind insbesondere eine
Zuführung von Kapital an Banken mit Liquiditäts- oder
Solvenzschwierigkeiten in Form von Teilverstaatlichun-
gen, wie sie zum Beispiel in Großbritannien vorgenom-
men wurden, eine Garantie für Geldmarktkredite in
Form von Bürgschaften sowie gegebenenfalls eine Über-
nahme sogenannter fauler (toxic) Assets durch den Staat.
Alle drei Maßnahmen sind Bestandteile des Pakets der
Bundesregierung. Zweitens muss dieser Rettungsansatz,
wie wir seit Monaten fordern, europäisch und internatio-
nal koordiniert erfolgen. Auch dies ist mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf erfüllt, nachdem die Bundesre-
gierung lange in völliger Fehleinschätzung der Situation
auf einen nationalen Alleingang setzte. Das heißt, vom
Grundsatz her unterstützen wir die Bundesregierung bei
ihrem Vorgehen.
Aus zwei Gründen stimmen wir aber gegen den Ge-
setzentwurf. Erstens. Im Gesetzentwurf stimmen zwar
die Überschriften. Wesentliche Punkte sind aber nicht
geregelt, zum Beispiel in welcher Form und unter wel-
chen Bedingungen die Rekapitalisierung stattfindet. Da-
mit bleiben chaotische und ungeeignete Einzelmaßnah-
men möglich, wie sie bisher das Krisenmanagement der
Bundesregierung gekennzeichnet haben. Ohne die Klä-
rung dieser und anderer Regeln ist die Wirkung des ge-
samten Rettungspakets aber gefährdet. Das ist auch ein
wesentlicher Grund, warum das 700-Milliarden-Dollar-
Paket der USA bisher noch keinen sichtbaren Effekt
hatte. Insbesondere wäre eine klare Festlegung erforder-
lich, dass die Rekapitalisierung in erster Linie durch
Teilverstaatlichung erfolgen und bei der Übernahme von
Anteilen auch das Stimmrecht ausgeübt werden soll.
Denn nur so kann sichergestellt werden, dass eine Ret-
tung langfristig erfolgreich ist und das Interesse der All-
gemeinheit gewahrt wird, die nun in hohem Maße zur
19738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
Übernahme von Risiken gezwungen ist. Im günstigsten
Fall – und wenn die Regelungen entsprechend getroffen
werden – ist es nämlich durchaus denkbar, dass der zu
gründende Fonds am Ende nur ein geringes Defizit hat
oder sogar ein Überschuss entsteht, weil die Anteile an
den Banken sowie die Wertpapiere an Wert gewinnen
und durch die Garantievergabe Einnahmen entstehen.
Zweitens. Der vorliegende Gesetzentwurf überträgt
die Verantwortung genau denjenigen, die nicht nur im
Vorfeld eine Vermeidung der Krise durch eine falsche
Politik versäumt, sondern auch seit Ausbruch der Krise
im Juni 2007 ein konsequentes und europaweit sowie
international abgestimmtes Gegensteuern mit dem Hin-
weis auf eine geringe Betroffenheit Deutschlands abge-
lehnt haben. Erst jetzt, viel zu spät, erfolgt ein europäisch
und international abgestimmtes Krisenmanagement. Erst
jetzt, nachdem bereits eine Reihe von einzelnen Ret-
tungsmaßnahmen in Deutschland umgesetzt wurde, ge-
hen Bund und Länder zu einem systematischen Ret-
tungsansatz über. Erst jetzt werden Änderungen in der
Finanzaufsicht in Aussicht gestellt, die von uns seit Mo-
naten gefordert werden. Die Klärung nahezu aller Um-
setzungspunkte soll durch Verordnungen des Finanz-
ministeriums und der Regierung geschehen, denen das
Parlament nicht mehr zustimmen muss, sodass der Ge-
setzgeber nicht die Möglichkeit hat, darauf noch ir-
gendeinen Einfluss zu nehmen. Aufgrund der genannten
und weiterer Fehler der Bundesregierung im Krisenma-
nagement sowie einer mangelhaften und teilweise wohl
falschen Information des Parlaments ist deutlich, dass
die Voraussetzungen für einen derart weitreichenden
Vertrauensvorschuss nicht gegeben sind. Diese Ent-
machtung des Parlaments zugunsten der schon bisher
nicht überzeugenden Krisenmanager ist angesichts eines
Volumens von nahezu 500 Milliarden Euro nicht hin-
nehmbar.
Bei aller Dringlichkeit der Maßnahmen: Wenn der
Bundestag heute ablehnt – das zeigt das Beispiel des US-
Kongresses, der erst einer zweiten, deutlich modifizier-
ten Fassung des Rettungsplans zustimmte –, bleibt Zeit,
um die genannten und zahlreiche andere Fehler zu korri-
gieren und dann mit einer verbesserten deutschen Um-
setzung an der international koordinierten Rettungs-
aktion teilzunehmen. Unsere Fraktion war dazu in den
vergangenen Tagen bereit. Diese Bereitschaft endet nicht
mit der heutigen Abstimmung. So problematisch eine
endgültige Ablehnung wäre, die heutige Ablehnung ist
es nicht.
Anlage 6
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Organisationsstrukturen in der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-OrgWG) (Tages-
ordnungspunkt 35 a)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Dem Gesetzent-
wurf zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen
in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-
OrgWG) werde ich zustimmen, obwohl ich gegen die
beabsichtigte Änderung des § 73 b des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB V) – hausarztzentrierte Versor-
gung – erhebliche verfassungs- und europarechtliche Be-
denken habe.
Als Einwendungen führe ich vor allem an, dass durch
diese neue gesetzliche Auslegung des § 73 b SGB V
nach meiner Auffassung gegen die negative Koalitions-
freiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, verstoßen wird, da Hausärzte
dann aus existenziellen Gründen gezwungen sein wer-
den, dem Hausärzteverband als Mitglied beizutreten
– nach der vorgesehenen Regelung ist der Hausärztever-
band nicht verpflichtet, Nichtmitglieder in den Vertrag
einzubeziehen –; dass mit der gesetzlichen Vorgabe einer
50-Prozent-Quorumsregelung das bisherige KV-Mono-
pol nur durch ein anderes ersetzt wird und somit ein
neues Kollektivvertragssystem geschaffen wird – dies
mit einem Schiedsamtsverfahren, mit dem eine Einigung
erzwungen werden kann –; dass die angestrebte bzw. be-
reits vorhandene Optimierung innerhalb der Versor-
gungsstrukturen unter Berücksichtigung der jeweiligen
regionalen Gegebenheiten konterkariert werden könnte
und dass diese gesetzliche Vorgabe nicht ausreichend be-
rücksichtigt, dass neben den Allgemeinmedizinern auch
Internisten, Kinderärzte und praktische Ärzte an der
hausärztlichen Versorgung beteiligt sind und nur einem
einzelnen Verband ein Sonderrecht in der medizinischen
Versorgung eingeräumt wird.
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Trotz meiner
nach wie vor vorhandenen Bedenken gegen den Gesund-
heitsfonds stimme ich dem Gesetz zur Weiterentwick-
lung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu, da ich der Meinung bin, dass
sich damit eine deutliche Verbesserung aller am System
Beteiligten ergeben wird.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Hans Georg Faust und
Dr. Rolf Koschorrek (beide CDU/CSU) zur na-
mentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Organisationsstrukturen in der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-OrgWG) (Tages-
ordnungspunkt 35 a)
Dem Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Orga-
nisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung (GKV-OrgWG) werde ich zustimmen, obwohl ich
gegen die beabsichtigte Änderung des § 73 b des Fünf-
ten Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) – hausarztzen-
trierte Versorgung – erhebliche verfassungs- und europa-
rechtliche Bedenken habe.
Als Einwendungen führe ich vor allem an, dass durch
diese neue gesetzliche Auslegung des § 73 b SGB V
nach meiner Auffassung gegen die negative Koalitions-
freiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, verstoßen wird, da Hausärzte
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19739
(A) (C)
(B) (D)
dann aus existenziellen Gründen gezwungen sein wer-
den, dem Hausärzteverband als Mitglied beizutreten
– nach der vorgesehenen Regelung ist der Hausärztever-
band nicht verpflichtet, Nichtmitglieder in den Vertrag
einzubeziehen –; dass diese Neuregelung gegen Verfas-
sungsrecht und europäisches Gemeinschaftsrecht
verstoßen und im Widerspruch zu der staatlichen Ge-
währleistungsverantwortung für die Sicherstellung der
vertragsärztlichen Versorgung durch Kassenärztliche
Vereinigungen stehen könnte; dass mit der gesetzlichen
Vorgabe einer 50-Prozent-Quorumsregelung das bishe-
rige KV-Monopol nur durch ein anderes ersetzt wird und
somit ein neues Kollektivvertragssystem geschaffen
wird – dies mit einem Schiedsamtsverfahren, mit dem
eine Einigung erzwungen werden kann –; dass die ange-
strebte bzw. bereits vorhandene Optimierung innerhalb
der Versorgungsstrukturen unter Berücksichtigung der
jeweiligen regionalen Gegebenheiten konterkariert wer-
den könnte und dass diese gesetzliche Vorgabe nicht aus-
reichend berücksichtigt, dass neben den Allgemeinmedi-
zinern auch Internisten, Kinderärzte und praktische
Ärzte an der hausärztlichen Versorgung beteiligt sind
und nur einem einzelnen Verband ein Sonderrecht in der
medizinischen Versorgung eingeräumt wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei-
sen, dass auch die Stellungnahme des Bundesministe-
riums der Justiz (BMJ) vom 19. Juni 2008 meine rechtli-
chen Bedenken bezüglich der Änderung des § 73 b
SGB V nicht auszuräumen vermag, da auch das BMJ auf
die Möglichkeit hinweist, dass die Vertragsfreiheit der
anderen potenziellen Vertragspartner verletzt sein
könnte. Des Weiteren werden meine verfassungsrechtli-
chen Bedenken hinsichtlich einer möglichen Verletzung
von Art. 12 Abs. 1 GG – Berufsausübungsfreiheit – und
Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG – Gleichbehandlungsgebot –
durch die Stellungnahme des BMJ nicht ausgeräumt.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Arbeitsmarktinstru-
mente auf effiziente Maßnahmen konzentrie-
ren (183. Sitzung, Tagesordnungspunkt 9)
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Die Große
Koalition hat in ihrer dreijährigen Amtszeit mehr Bewe-
gung in den Arbeitsmarkt gebracht, als Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der FDP, es uns jemals
zugetraut hätten. Die Arbeitslosenquote ist in unserer
bisherigen Amtszeit von 10,9 Prozent im November
2005 auf aktuell 7,4 Prozent gefallen. Damit ist der
Rückgang der Arbeitslosigkeit so groß wie seit Jahr-
zehnten nicht mehr.
Dazu haben wir den Beitragssatz zur Arbeitslosenver-
sicherung von 6,5 Prozent auf 3,0 Prozent ab Januar
2010 gesenkt und werden ihn für das Jahr 2009 sogar auf
2,8 Prozent senken. Damit sinkt der Beitragssatz auf das
Niveau von 1980 und entlastet die Beitragszahler allein
im kommenden Jahr um rund 4 Milliarden Euro. Wür-
den wir heute noch einen Beitragssatz von 6,5 Prozent
haben, hätten Arbeitgeber und Arbeitnehmer seit Beginn
der Senkung 30 Milliarden Euro mehr ausgegeben. Das
hätte alles nicht funktioniert, wenn die BA nicht streng
auf die Wirtschaftlichkeit der eingesetzten Arbeitsmarkt-
politik achten würden, wie Sie von der FDP es jetzt for-
dern.
Auf einzelne Punkte Ihres Antrages will ich dennoch
gerne eingehen. Sie fordern die Bundesregierung auf,
alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu überprüfen.
Vielleicht ist Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass die
Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzentwurf
mit diesem Inhalt kürzlich beschlossen hat.
Sie fordern, dass alle arbeitsmarktpolitischen Pro-
gramme öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Dazu
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass heute schon in al-
ler Regel nichts mehr ohne Ausschreibung läuft. Ich
halte das sogar für problematisch. Durch die Ausschrei-
bungspraxis der vergangenen Jahre mussten viele lokale
Bildungsträger aufgeben, weil sie dem Preiswettbewerb
nicht standhalten konnten. Nicht immer ist der Billigste
auch der Beste.
In Ihrem Antrag heißt es:
Alle arbeitsmarktpolitischen Programme sind stär-
ker nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und
Effizienz öffentlich auszuschreiben. Projektträger
müssen im Wettbewerb untereinander stehen.
Durch ständige Leistungsvergleiche ist der Quali-
tätswettbewerb zusätzlich zu verstärken.
Was glauben Sie eigentlich, nach welchem Prinzip die
BA derzeit arbeitet? Ich bringe Sie gern auf den neuesten
Stand der Dinge. Seit April 2007, also seit über einem
Jahr, gibt es den Prüfdienst Arbeitsmarktdienstleistun-
gen bei der BA, durch den eine Überprüfung der
Durchführungs- und Umsetzungsqualität von Arbeits-
marktdienstleistungen, die von Trägern erbracht werden,
erfolgt. Die Bundesagentur verfolgt mit dem Prüfdienst
Arbeitsmarktdienstleistungen unter anderem das Ziel,
neben der Verbesserung der jeweiligen Maßnahme auch
die Arbeitsmarktdienstleistungen weiterzuentwickeln.
Ich dachte immer, die FDP erhebt für sich den Anspruch,
ihrer Zeit voraus zu sein. Mit dem heutigen Antrag sind
Sie jedenfalls ein Jahr hinterher.
In Ihrem Antrag fordern Sie, dass die Zielgruppen-
orientierung verbessert werden muss. Das klingt zwar
gut; man muss aber auch wissen, was das bedeutet.
Wenn man die Instrumente auf einzelne Zielgruppen
ausrichtet, dann gibt es auch automatisch mehr Produkte.
Man kann das machen; dann gibt es aber auch keine
deutliche Reduzierung. Gleichzeitig üben Sie aber auch
Kritik an einzelnen Zielgruppenprogrammen, wie für Ju-
gendliche oder Menschen mit Vermittlungshemmnissen.
Das ist unglaubwürdig.
Sie fordern, dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ab-
geschafft werden sollen. Sie haben recht. Das machen
wir auch in unserem Gesetzentwurf. Die Hartz-Evalua-
tion hat in der Tat ergeben, dass ABM keine Brücke in
den ersten Arbeitsmarkt sind. Im Gegenteil: Sie verzö-
gern die Integration sogar. Allerdings ist das Volumen
heute schon unbedeutend. Es handelt sich gerade einmal
19740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
um 4 400 Fälle im gesamten Bundesgebiet. Sie kämpfen
hier auf einem Nebenkriegsschauplatz.
Sie möchten öffentlich finanzierte Beschäftigung auf
ein Mindestmaß beschränken. Man kann einen solchen
Beschäftigungssektor ja für ordnungspolitisch falsch
halten. Sozialpolitisch ist es jedenfalls richtig. Sie blei-
ben nämlich die Antwort auf die Frage schuldig: Was
machen wir denn mit denen, von denen wir annehmen
müssen, dass sie am ersten Arbeitsmarkt niemals inte-
griert werden könnten? Die BA geht davon aus, dass
etwa 400 000 Menschen in Deutschland so große und
verschiedene Vermittlungshemmnisse haben, dass eine
Integration nie gelingen wird. Mein christlich-soziales
Verständnis ist jedenfalls nicht zu sagen: Ihr kriegt die
Stütze, das muss reichen. Wir haben die Verantwortung,
auch diesen benachteiligten Bürgern unseres Landes
eine sinnstiftende Beschäftigung zu ermöglichen. Dazu
dient unter anderem der Kombilohn für Schwervermit-
telbare, den wir im letzten Jahr eingeführt haben.
Zu einer weiteren Forderung Ihres Antrages:
Private Arbeitsvermittlung soll stärker als bisher
die staatlichen Vermittlungsbemühungen ergänzen.
Von einem Wettbewerb um effiziente Arbeitsver-
mittlung profitieren alle Beteiligten.
Mit dieser Forderung scheinen Sie auf den Boden der
Tatsachen zurückgekehrt zu sein. Jedenfalls scheinen Sie
anzuerkennen, dass es eine staatliche Arbeitsvermittlung
geben soll. Bisher habe ich von Ihnen immer nur gehört,
dass die Bundesagentur für Arbeit aufgelöst werden soll.
Entweder haben Sie sich von dieser Forderung verab-
schiedet – dann sollten Sie das auch deutlich sagen –,
oder Sie haben einen alten Antrag der vergangenen
Wahlperiode in den Bundestag eingebracht, den keiner
mehr aktualisiert hat. Im Grundsatz gebe ich Ihnen recht:
Ein Wettbewerb von staatlicher und privater Arbeitsver-
mittlung kann nur gut für die Arbeitsuchenden und die
Unternehmen sein. Deshalb kooperiert die BA ja auch
heute schon in einigen Regionen mit privaten Arbeits-
vermittlern.
Es ist aber nicht so, dass in den vergangenen Jahren
überhaupt nichts passiert wäre. Ich darf Sie darauf hin-
weisen, dass wir das Überbrückungsgeld und die Ich-AG
abgeschafft haben und in dem Gründungszuschuss zu-
sammengefasst haben. Die Ausgaben für diesen Grün-
dungszuschuss sind heute schon geringer als beide ande-
ren zusammen.
An einer Stelle möchte ich Ihnen allerdings auch recht
geben. Das ist die Feststellung im ersten Absatz Ihres
Antrages, dass die derzeitige Anzahl der Förderinstru-
mente nicht mehr durchschaubar ist. Die Regelungs-
dichte wird weder von den Mitarbeitern noch den
Arbeitslosen noch den Unternehmen erfasst. Eine Neu-
ordnung ist daher dringend notwendig. Unwirksame In-
strumente müssen abgeschafft, erfolgreiche weiterentwi-
ckelt, gleichartige zusammengefasst und neue, wenn
notwendig, eingeführt werden.
Insgesamt bleiben die Vereinfachungsvorschläge für
die derzeit weit über 70 Arbeitsförderungsinstrumente in
der Tat unzureichend. Die Bundesagentur für Arbeit
hatte selbst einmal eine gründliche Reduzierung auf
5 wesentliche Instrumente vorgeschlagen, was ich
durchaus sympathisch fand. Das es so radikal nicht geht,
ist klar, aber mehr hätte es in dem Entwurf des Arbeits-
ministeriums schon sein können. Am Ende ist aber nicht
die Zahl entscheidend, sondern dass die Instrumente, die
es gibt, auch funktionieren.
Die Beitragszahler erwarten zu Recht, dass die Ziele
der Arbeitsförderung mit geringstem Aufwand und best-
möglicher Qualität und Wirkung erreicht werden. Die
Finanzmittel der Beitragszahler müssen also so einge-
setzt werden, dass sie den größtmöglichen Nutzen ent-
falten. Dies ist nur möglich, wenn wir einen Katalog mit
bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten schaffen.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Einsparungen ste-
hen nicht im Vordergrund der SGB-III-Reform. Mit ei-
ner Halbierung der Instrumente ist keine Halbierung der
Ausgaben verbunden. Wir sind gefordert, mit den finan-
ziellen Möglichkeiten, die wir heute haben, vor allem
denen zu helfen, bei denen der Aufschwung am Arbeits-
markt noch nicht angekommen ist. Im Vordergrund die-
ser Reform stehen Transparenz, Übersichtlichkeit, Ef-
fektivität und Effizienz. Entscheidend ist einzig und
allein: Was hilft den Betroffenen?
Die BA hat in den letzten Jahren große Anstrengun-
gen unternommen, um den Einsatz arbeitsmarktpoliti-
scher Instrumente unter dem Gesichtspunkt der Wirkung
und Wirtschaftlichkeit zu optimieren. Auf diesem Weg
werden wir sie auch weiter unterstützen. Das Gesetz zur
Neuordnung der arbeitsmarkt-politischen Instrumente
wird einen kleinen Teil dazu beitragen. Die Neuordnung
der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ist ein weiterer
Schritt auf dem Weg, die BA zu einem leistungsfähigen
Dienstleister am Arbeitsmarkt zu machen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Wohnungslosigkeit
vermeiden – Wohnungslose unterstützen –
SGB II überarbeiten (183. Sitzung, Tagesord-
nungspunkt 17)
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): In der Musik ist
der Dreiklang ein harmonisches Zusammenspiel. Hört
man den Titel des Antrages „Wohnungslosigkeit vermei-
den – Wohnungslose unterstützen – SGB II überarbei-
ten“ könnte man beim flüchtigen Hören eine inhaltliche
Harmonie vermuten. Doch der Text, den die Fraktion
Die Linke zu diesem Dreiklang liefert, ist extrem disso-
nant.
Beträgt der Wahrheitsgehalt des ersten Satzes Ihres
Antrages noch 100 Prozent, entsteht im Weiteren eher
der Eindruck, dass mit dem Gespenst des drohenden
Wohnungsverlustes Politik gemacht werden soll. Zurück
zum ersten Satz des Antrages. Ich zitiere: „Die Zahl der
Wohnungslosen ist in den letzten Jahren erfreulicher-
weise zurückgegangen.“ Dies, meine Damen und Her-
ren, ist zutreffend. Der Dritte Armuts- und Reichtumsbe-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19741
(A) (C)
(B) (D)
richt präzisiert, „Die Zahl der wohnungslosen Personen
lag nach Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe im
Jahr 2006 bei 254 000 und damit bei weniger als der
Hälfte gegenüber 1998 (530 000). Der aktuelle Rück-
gang der Wohnungslosigkeit betrifft insbesondere Fami-
lien. Gegenüber den Schätzungen von 2003 hat sich die
Zahl der wohnungslosen Kinder und Jugendlichen hal-
biert.
So, meine werten Kolleginnen und Kollegen, hätten
Sie natürlich Ihren Forderungskatalog nicht einleiten
können. Deshalb schüren Sie die Angst vor Wohnungs-
verlust und schlagen den Bogen von Wohnungslosen zu
Arbeitssuchenden.
Auf diesem Hintergrund platzieren Sie Ihre Forderun-
gen, von denen meines Erachtens keine wirklich neu ist.
Beginnen wir bei Erstens: Mietschulden. Sie verlangen
Mietschuldenübernahme im SGB II als Regelfall. Da-
rüber haben wir schon mehrfach diskutiert. Für die Si-
cherung der Unterkunft ist eine Übernahme von Miet-
schulden im Rahmen des Ermessens möglich, und damit
kann sehr wohl Wohnungslosigkeit abgewendet werden.
Weiter zu Zweitens: SGB II-Zahlung bei stationärem
Aufenthalt. Sie verlangen die komplette Streichung des
§ 7 Abs. 4 SGB II und schießen damit weit über ein
möglicherweise sinnvolles Ziel hinaus. Das Versagen
von Leistungen zur Grundsicherung von Arbeitssuchen-
den nach einem Aufenthalt in einer vollstationären Ein-
richtung von länger als sechs Monaten ist im SGB II ge-
regelt. Gesetzesbegründung und Kommentierung zeigen,
dass hier beispielsweise Altenheime oder Blindenheime
gemeint sind. Hier ist davon auszugehen, dass keine Er-
werbsfähigkeit vorliegt. Bei Wohnungslosen in stationä-
ren Einrichtungen kann durchaus Erwerbsfähigkeit ge-
geben sein. Deshalb ist diese zu prüfen. Sie können
davon ausgehen, dass eine entsprechende Rechtsspre-
chung ganz sicher weder von Parlament noch Bundes-
regierung missachtet wird. Daraus jedoch eine komplette
Streichung des Abs. 4 § 7 SGB II abzuleiten, ist unange-
messen.
Nun zu Drittens: Übernahme KdU und Umzugskos-
ten für unter 25-Jährige. Sie wollen einen Rechtsan-
spruch für alle – wir haben ihn aus guten Gründen einge-
schränkt. Ja, die Jugendlichen brauchen die Zustimmung
des Leistungsträgers und ja, sie bekommen sie auch,
wenn es erforderlich ist. Diese Einzelfallentscheidungen
im Rahmen des Ermessens sind nötig und durch Sozial-
gerichte überprüfbar. Das mussten wir lernen, weil die
ursprüngliche Lösung massive Mitnahmeeffekte hervor-
gerufen hatte.
Und nun zu Viertens: Sanktionen im Rahmen der
Leistungen Kosten zur Unterkunft. Dazu zitiere ich
gerne Schlegel/Völszke SGB II Kommentar zu § 31
Abs. 5 SBG II Randnummer 242:
3. Wiederholter Pflichtverstoß:
Bei einer wiederholten Pflichtverletzung nach
Abs. 1 oder 4 entfällt der gesamte Anspruch auf
ALG II … Es besteht somit bereits bei einer weite-
ren Obliegenheitsverletzung die Gefahr, dass Miet-
schulden auflaufen und infolge dessen Obdachlo-
sigkeit eintritt. Ohne eine Behausung dürfte die
Integration von jungen Hilfebedürftigen in den Ar-
beitsmarkt kaum gelingen. Auch wenn durch die
verschärfte Sanktionierung verhindert werden soll,
dass sich junge Menschen an ein Leben ohne Arbeit
gewöhnen, und deshalb eine besonders konsequente
Vorgehensweise angezeigt sein soll, muss im Zwei-
fel diese Zielsetzung der Vermeidung von Obdach-
losigkeit mit seinen schädlichen Folgen untergeord-
net werden. Die Gewöhnung an ein Leben auf der
Straße dürfte um einiges schädlicher und integra-
tionsfeindlicher sein, als die Gewöhnung an ein Le-
ben ohne Arbeit.
Deshalb ist bei drohender Obdachlosigkeit das dem
Leistungsträger zustehende Ermessen für die Ge-
währung von Leistungen der Unterkunft und Hei-
zung bei erklärtem zukünftigem Wohlverhalten in
der Regel auf 0 reduziert sein.
Und nun zu Fünftens: Von Gewalt betroffene Frauen
präventiv vor Wohnungsverlust schützen. Dazu fordern
Sie eine flächendeckende Hilfe und Beratungsinfrastruk-
tur. Ich empfehle Ihnen den Aktionsplan II der Bundes-
regierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen als
Lektüre.
Ich bedauere sehr, dass Sie mit diesem Antrag eher
Ängste schüren, als berechtigte Nachjustierungen zu for-
dern. Das haben weder jene verdient, die wohnungslos
sind, noch die, die unbegründet Sorge vor einem Verlust
jeglicher Unterkunft haben. Deshalb lehnen wir Ihren
Antrag ab.
Erlauben Sie mir abschließend eine Anmerkung: Ich
möchte an dieser Stelle all denen danken, die ehrenamt-
lich und hauptamtlich in der ganzen Bundesrepublik ihre
Zeit und ihr Können, ihre Hilfe und Unterstützung denen
zuteilwerden lassen, die in Deutschland wohnungslos
sind.
Vor ihrem Engagement habe ich großen Respekt und
wir alle sind ihnen Dank und Anerkennung schuldig, das
gilt bundesweit zum Beispiel für die Arbeitsgemein-
schaft der Wohnungslosenhilfe e.V. oder lokal für alle,
die in Hameln für das Obdachlosenfrühstück arbeiten,
die Sozialberatung machen und bei der Wiedereingliede-
rung helfen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung Unterstützter Beschäftigung
(183. Sitzung, Tagesordnungspunkt 22)
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): In diesem
Sommer endete für Yvonne die Schule. Sie besuchte eine
Förderschule. Sie wäre gerne in eine Integrationsschule
gegangen. Leider gab es keine. Nun ist sie in einem ein-
jährigen Berufsvorbereitungsprogramm. Sie hat einen
Wunsch: Sie möchte arbeiten gehen, selber Geld verdie-
nen, so wie ihre Freundin aus der Nachbarschaft. Wir
19742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
können uns mit ihr freuen, dass sie vielleicht von einem
neuen Förderinstrument profitieren wird. Gemeint ist die
„Unterstützte Beschäftigung“. Diese Unterstützte Be-
schäftigung ist Ausdruck moderner Behindertenpolitik.
So wie Yvonne sollen Menschen mit Behinderung für
sich entscheiden können, wo sie ihren Platz im Arbeits-
leben und in der Gesellschaft haben möchten.
Der heute eingebrachte Gesetzentwurf eröffnet
Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf eine
effektive Perspektive für eine Beschäftigung auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt. Ziel ist der Abschluss eines
Arbeitsvertrages, die Gründung eines sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses. Yvonne
hat erweiterte Leistungsansprüche auf individuelle be-
triebliche Qualifizierung im Rahmen Unterstützter Be-
schäftigung. Sie bekommt Hilfe beim Platzieren, also
der Suche nach einem Arbeitsplatz und sie hat Anspruch
auf unterstütztes Qualifizieren am Arbeitsplatz. Jetzt gilt
die neue Regel, erst Platzieren, dann Qualifizieren.
Mit diesem neuen Gesetz eröffnen wir jenen Men-
schen eine stärkere Teilhabe am Arbeitsleben, die zwar
aufgrund ihrer Behinderung mehr Starthilfe benötigen,
möglicherweise auch einer kontinuierlichen Betreuung
bedürfen, aber für die der umfassende Schutz eines
Werkstattarbeitsplatzes nicht erforderlich ist.
Seinen Lebensunterhalt verdienen, sein Leben in die
eigene Hand nehmen, das bedeutet, aus eigener Kraft
Unabhängigkeit und Selbstständigkeit zu erreichen.
Genau hier setzt Unterstützte Beschäftigung an. Es
wurde Zeit für diese Initiative. Sie findet breite Unter-
stützung nicht nur in der Koalition und in Fachkreisen,
sondern in der ganzen Gesellschaft.
Sicher wird dieser Entwurf auch dem Struckschen
Gesetz unterliegen und durch die parlamentarische Bera-
tung und die Anregungen der Experten im Rahmen der
geplanten Anhörung an Qualität gewinnen.
Für die SPD-Bundestagsfraktion ist die Unterstützte
Beschäftigung ein weiterer wichtiger Schritt der Ver-
wirklichung des Paradigmenwechsels in der Behinder-
tenpolitik.
Yvonne würde sagen, „Das leuchtet doch ein, erst
Platzieren, dann Qualifizieren. Im Alphabet kommt
schließlich auch P vor Q.“
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
das Verfahren des elektronischen Entgeltnach-
weises (ELENA-Verfahrensgesetz) (183. Sit-
zung, Tagesordnungspunkt 25)
Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. ELENA ist der
Kosename für einen elektronischen Einkommensnach-
weis. Er soll helfen, Bürokratie abzubauen. Vorerst,
wenn es um staatliche Sozialhilfen geht. Was später
kommt, gilt noch als Verschlusssache. Aber das „später“
wird kommen. Es wurde bereits angedeutet. Und was
dann kommt, kann alles andere als rosig sein.
Zweitens. Was ist des Pudels Kern? Die Einkommen
aller Bürgerinnen und Bürger sollen elektronisch erfasst
und zentral gespeichert werden. Für die meisten quasi
auf Vorrat. Spätestens bei den Wörtchen Vorrat und zen-
tral aber läuten alle Alarmglocken. Vorratsdatenspeiche-
rung ist inzwischen ja geradezu ein Synonym für dro-
hendes Unheil geworden.
Drittens. Vorerst soll der elektronische Einkommens-
nachweis in acht konkreten Fällen helfen, etwa beim Ar-
beitslosengeld I, beim Wohngeld oder beim Erziehungs-
geld. Die sogenannten Arbeitgeber brauchen keine
Papierbescheinigung mehr auszufüllen. Und die Ämter
erhalten über eine Zentrale einen schnelleren Zugang zu
allen relevanten Lohn- und Gehaltsdaten.
Viertens. Zugleich sagen Sachverständige: Diese mi-
nimale Anfangsvariante lohnt kaum den Aufwand. Der
rechne sich nur, wenn immer mehr, mindestens 45 An-
wendungen zusammenkommen. Perspektivisch werden
also immer mehr Behörden auf immer mehr Einkom-
mensdaten zugreifen können. Und die Bürgerinnen und
Bürger werden so immer gläserner.
Fünftens. Dasselbe politische Verfahren erleben wir
übrigens mit der elektronischen Gesundheitskarte. Auch
hier sagen die Experten: Ohne „Mehrwert“, ohne zusätz-
liche Daten und Nutzer wird sie ein Flop. Also geht es
um viel mehr, als bislang offiziell zugegeben wird. Auch
hier droht also die Gefahr, dass sich die schöne Helena
als böser Belzebub entpuppt.
Sechstens. Der Megatrend ist: Immer mehr Daten von
Bürgerinnen und Bürgern werden erfasst, gespeichert,
zentralisiert, vernetzt und zusammengeführt: Gesund-
heitsdaten, Sozialdaten, Verkehrsdaten, Bewegungsda-
ten, Kommunikationsdaten. Im günstigen Fall führt das
alles zu Datenpannen. Im schlimmeren Fall endet das al-
les in einer Totalüberwachung.
Siebtens. Spätestens nach den aktuellen Datenskanda-
len bei der Telekom und bei anderen wäre die einzig ver-
nünftige Reaktion: Stopp! Moratorium! Wir verordnen
uns alle eine Denkpause, und wir setzen alle Vorhaben
aus, die das Zeug dazu haben, aus dem Ruder zu laufen.
Aber so viel Vernunft ist derzeit weder bei der CDU/
CSU noch bei der SPD zu haben.
Achtens. Weit über 50 000 Bürgerinnen und Bürger
demonstrierten übrigens am 11. Oktober in Berlin genau
gegen diese politische Ignoranz. Deshalb wären alle Par-
teien gut beraten, wenn sie endlich zur Kenntnis näh-
men: Längst gibt es eine dritte große Konfliktlinie zwi-
schen der offiziellen Politik und den zunehmenden
Sorgen einer engagierten Gesellschaft.
Neuntens. Immer weniger Bürgerinnen und Bürger
sind bereit, die zunehmenden sozialen Ungerechtigkei-
ten als Zukunftsmodell zu akzeptieren. Immer weniger
lassen sich die Außenpolitik der Bundesrepublik als
Friedenspolitik verkaufen. Und immer weniger nehmen
es hin, dass ihre Bürgerrechte für eine vermeintliche Si-
cherheit getilgt werden.
Zehntens. Übrigens: Fragen Sie mal Klein- und Mit-
telständler, was diese von ELENA halten. Nichts. Denn
sie müssen ihre minimale Bürokratieentlastung mit er-
heblichen IT-Kosten erkaufen. Auch aus diesem Grund:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19743
(A) (C)
(B) (D)
Die Linke fordert ein Moratorium für alle datenschutz-
relevanten Vorhaben, die mehr Gefahren bergen als Nut-
zen. ELENA gehört dazu.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Menschenrechte in
der ASEAN-Staatengemeinschaft stärken
(183. Sitzung, Tagesordnungspunkt 26)
Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Wir bera-
ten heute abschließend den Koalitionsantrag „Men-
schenrechte in der ASEAN-Staatengemeinschaft stär-
ken“. Vor gut einem Jahr hat die Öffentlichkeit den
ASEAN-Gipfel in Singapur verfolgt. Die zehn Mitglied-
staaten haben eine Charta verabschiedet, in der sie sich
zur Stärkung von Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit
und guter Regierungsführung und zur Achtung der Men-
schenrechte verpflichten. Ich war sehr gespannt, welche
Entwicklung die Charta nehmen würde, denn schon
während des Gipfels sorgte Birma für Aufregung. Sie er-
innern sich vielleicht: Der UN-Gesandte Gambari sollte
über die Lage nach den Protesten berichten. Aber auf
Drängen Birmas wurde er wieder ausgeladen. Bisher ha-
ben sieben Staaten die Charta ratifiziert. Es fehlen noch
Thailand, Indonesien und die Philippinen. Möglicher-
weise werden diese Länder die Charta bis zum nächsten
Gipfel in Bangkok im Dezember 2008 ratifizieren. Die
Charta sieht die Einsetzung eines Menschenrechtsme-
chanismus vor. Mit welchen Befugnissen die neue Kom-
mission ausgestattet sein wird, ist noch immer unklar.
Notwendig ist, dass sie ein hinreichendes Mandat erhält
und effektiv zur Stärkung der Menschenrechte beitragen
kann. Aber schon innerhalb der ASEAN-Gemeinschaft
gibt es Länder, die nicht bereit sind, Menschenrechte zu
thematisieren und deshalb Zurückhaltung fordern. Es ist
nicht verwunderlich, dass dazu Birma, Kambodscha und
Vietnam gehören. Die Bundesregierung und der Deut-
sche Bundestag sind daran interessiert, bei der Ausge-
staltung des Menschenrechtsmechanismus Unterstüt-
zung zu leisten. Das Engagement der Bundesregierung
begrüßen wir daher ausdrücklich.
Dennoch sollten wir – wenn es um die Menschen-
rechte geht – nicht zu optimistisch sein. Die zehn Mit-
gliedstaaten der ASEAN könnten unterschiedlicher nicht
sein. Es gibt Länder, in denen die Menschenrechte im
Wesentlichen eingehalten werden. Und es gibt Staaten
wie Birma oder Kambodscha, in denen es Menschen-
rechtsverletzungen gibt. In Europa konnten sich durch
die regionale Zusammenarbeit Frieden, Stabilität und
Wohlstand entwickeln. Dieses europäische Modell stößt
beim ASEAN-Verbund auf reges Interesse. Wir reden
hier von einer Region, in der mehr als 500 Millionen
Menschen leben, die von unterschiedlichsten Kulturen,
Religionen, Staatsformen und Geschichten geprägt ist.
Der Integrationsprozess dieser Regionalgemeinschaft ist
ein gewaltiger Kraftakt, der sicher nur in einem mäßigen
Tempo voranschreiten kann. Denn – der ASEAN-Staa-
tenbund hat sich dem Konsensprinzip verpflichtet. Das
heißt, dass alle Entscheidungen einstimmig zu treffen
sind. Und es besteht nach wie vor das Prinzip der Nicht-
einmischung in die inneren Angelegenheiten. Beides
schränkt die Handlungsfähigkeit der ASEAN ein. Fast
ohnmächtig musste die Welt zusehen, als das Regime in
Birma seinem Volk nach dem Zyklon die Hilfe verwei-
gerte. Öffentliche Kritik hatte Birma von seinen Nach-
barn nicht zu befürchten. Letztlich ist es aber ein Erfolg
der „leisen Diplomatie“ ASEANs gewesen, die humani-
täre Notlage anzugehen. Die Menschenrechtslage jen-
seits des Wirbelsturmes hat sich seit den Protesten im
Herbst 2007 nicht verbessert. Eine Farce war das Verfas-
sungsreferendum, das die Machthaber trotz der Verwüs-
tung im Land durchführen ließen und anschließend einen
vollen Erfolg verkündeten. Es gibt zahllose politische
Gefangene. Ein Parlament und eine unabhängige Justiz
sind nicht vorhanden. Aung San Suu Kyi steht noch im-
mer unter Hausarrest. Ob die für 2010 angekündigten
Wahlen eine Änderung bringen, bezweifle ich. Die Be-
völkerung Birmas ist bitterarm. Besonders die ethni-
schen Minderheiten leiden unter den gravierenden Men-
schenrechtsverletzungen. In den letzten Tagen wurden
brutale Übergriffe der Militärs auf Flüchtlingslager an
der thailändischen Grenze gemeldet. Die Menschen ge-
hören überwiegend zur Gruppe der Karen. Wir fordern
die Bundesregierung auf, die ASEAN-Staaten weiterhin
beim Aufbau rechtsstaatlicher Systeme zu unterstützen.
Nur so kann gute Regierungsführung verwirklicht wer-
den. Funktionierende Gewaltenteilung ist unverzichtbar.
Machtmissbrauch, Korruption und Straflosigkeit müssen
beendet werden. Diese Themen gehören bei allen Ge-
sprächen – bilateral und im Rahmen des EU-ASEAN-
Dialoges – auf die Tagesordnung. Wir fordern die Bun-
desregierung auf, sich für die Einhaltung der Presse- und
Meinungsfreiheit in den ASEAN-Staaten einzusetzen.
Wir wissen, wie wichtig es ist, dass die Berichterstattung
der Medien und die Meinungsbildung ohne Zensur und
Angst vor Verfolgung bleiben. Ohne Zivilgesellschaft ist
kein Staat zu machen. Deutschland hat hier gute Erfah-
rungen gemacht und wird dafür weltweit anerkannt.
Deshalb braucht auch die Zivilgesellschaft in Südost-
asien die Möglichkeit, um am politischen Prozess teilha-
ben und Einfluss nehmen zu können.
Eine weitere wichtige Forderung unseres Antrags be-
zieht sich auf die grundlegenden Menschenrechtskon-
ventionen und deren Umsetzung. Insbesondere die
Kinderrechtskonvention und die Abkommen zu den
Frauenrechten möchte ich nennen. Menschenrechte sind
universell und unteilbar. Dennoch gibt es unendlich viel
Gewalt und Not, von der besonders häufig Frauen und
Kinder betroffen sind. Um geschlechtsspezifische Be-
nachteiligung und Gewalt zu beseitigen, müssen Struk-
turen geschaffen werden, die dem Schutz und der Stär-
kung von Frauen und Mädchen dienen. Wirtschaftliche
und politische Teilhabe sind die Voraussetzungen, um
Menschenrechtsverletzungen an Kindern, Frauen und
Minderheiten zu begegnen. Deshalb fordern wir die
Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass auch eth-
nische und religiöse Minderheiten anerkannt und nicht
länger diskriminiert werden. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen hat einen Änderungsantrag vorgelegt, der
sich dem Diskriminierungsschutz von homosexuellen
Menschen widmet. Als die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte 1948 verabschiedet wurde, war Homo-
sexualität ein großes Tabu und gesellschaftlich geächtet.
19744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
Die sexuelle Orientierung wurde weder in die Erklärung
von 1948 noch in die späteren Menschenrechtskonventi-
onen der Vereinten Nationen ausdrücklich als Schutzka-
tegorie aufgenommen. Dieses Manko dient bis heute
dazu, Lesben und Schwulen die vollen Menschenrechte
vorzuenthalten. Die sexuelle Orientierung ist aber ein
wesentlicher Aspekt der menschlichen Persönlichkeit.
Das Recht, diese Identität selbst zu finden und sie offen
zu leben, ist Kern des Menschenrechtsgedankens. Die
Auffassung, dass eine Diskriminierung aufgrund der
sexuellen Orientierung auch die bereits vorhandenen
Konventionen verletze, setzt sich immer mehr durch. Als
erstes Menschenrechtsorgan hat der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte diesem geänderten Be-
wusstsein Rechnung getragen. Auch der UN-Vertrags-
ausschuss für den Zivilpakt hat 1994 entschieden, dass
das Wort „Geschlecht“ in Art. 2 und 26 des Paktes die
„sexuelle Orientierung“ mit einschließt. Die Charta der
Grundrechte der Europäischen Union erwähnt erstmals
ausdrücklich die sexuelle Orientierung als schutzwürdi-
ges Merkmal. Der Vertrag von Amsterdam ermöglicht
Vorkehrungen, um Diskriminierung aufgrund der sexuel-
len Orientierung zu bekämpfen. Zum Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen: ich finde den Änderungs-
antrag inhaltlich richtig und unterstützenswert. Leider
hat ihn die Fraktion erst zehn Monate nachdem der An-
trag von CDU/CSU und SPD in den Deutschen Bundes-
tag eingebracht wurde, dem federführenden Ausschuss
vorgestellt. Daran entzündete sich eine Debatte um das
formale Vorgehen und nicht um die Sache. Ich habe in-
haltlich argumentiert und deutlich gemacht, dass die
Formalien die SPD nicht hindern, dem Änderungsantrag
zuzustimmen. Er entspricht dem Grundsatzprogramm
der SPD, den Vereinbarungen auf europäischer Ebene
und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Men-
schenrechtliche Grundsätze und Gesetze, die hier in
Deutschland gelten, sollten auch der Maßstab für bilate-
rale und multilaterale Gespräche und Verhandlungen
sein. Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung ent-
sprechend agiert und möchte sie auffordern, sich für die
Aufhebung strafrechtlicher Verbote der Homosexualität
in den ASEAN-Staaten einzusetzen.
Leider bin ich durch die Koalitionsvereinbarung an
ein übereinstimmendes Abstimmungsverhalten gebun-
den. Die Kolleginnen und Kollegen der Union konnten
sich aus formalen Gründen nicht dazu entschließen, dem
Antrag zuzustimmen. Ich finde das äußerst bedauerlich
und eigentlich auch grundlos, denn das Ansinnen des
Änderungsantrages steht in Einklang zu unserem Men-
schenrechtsverständnis.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Inoffizielle Stasi-
Mitarbeiter in Bundesministerien, Bundesbe-
hörden und im Bundestag enttarnen – Aufar-
beitung des Stasi-Unrechts stärken (Tagesord-
nungspunkt 36)
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Gestatten Sie
mir eine grundsätzliche Bemerkung vorweg, bevor ich
zu den einzelnen Forderungen des Antrages komme. Wir
teilen das Anliegen der FDP, die Aufarbeitung des Stasi-
unrechts, wie es im Titel des Antrages heißt, zu stärken.
Deshalb bin ich auch dankbar, dass wir Sozialdemokra-
ten es gemeinsam mit FDP, Grünen und CDU/CSU
geschafft haben, der Stasiunterlagenbehörde eine ver-
lässliche Perspektive zu geben, wie das in der Fort-
schreibung des Gedenkstättenkonzepts festgeschrieben
ist.
Ob der Antrag der FDP der richtige Weg ist, die Auf-
arbeitung des Stasiunrechts zu stärken, darüber wird al-
lerdings noch zu diskutieren sein. Bereits in der Einfüh-
rung des Antrages sind mir Fehler bzw. Unkorrektheiten
aufgefallen. Bei solch einem emotionalen Thema sollte
präzise formuliert werden. Die FDP spricht in ihrem An-
trag von 43 Bundestagsabgeordneten der 6. Legislatur-
periode, die als Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicher-
heitsdienstes registriert gewesen seien. Die BStU hat
mehrfach klargestellt, dass die Abgeordneten lediglich
auf IM-Vorgängen registriert waren. Im Erfassungssys-
tem der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) wurden
teilweise mehrere Personen auf einer Karte registriert.
Das konnten beispielsweise Zielpersonen oder Kontakt-
personen sein, die unwissentlich abgeschöpft wurden.
Das erklärt, warum auch sehr prominente Abgeordnete
unter den 43 sind. Wir Abgeordneten sollten tunlichst al-
les vermeiden, was den Anschein erweckt, dass es sich
bei den 43 um Informelle Mitarbeiter im Sinne des Stasi-
Unterlagen-Gesetzes gehandelt hätte. Wir sollten nicht
einen Verdacht befeuern, der auf unwahren Fakten be-
ruht. Nichts schadet dem ehrlichen und kritischen Um-
gang mit der Vergangenheit mehr als die Unkultur der
Verdächtigung.
In der Vorbemerkung des Antrages ist auch die Rede
davon, dass im Jahr 1989 „wenigstens 3 000 Inoffizielle
Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes in der Bundes-
republik aktiv waren“. Auch hier frage ich mich, woher
Sie die Zahl nehmen. Auf der Homepage der BStU heißt
es: „Schätzungen haben ergeben, dass rund 6 000 Bun-
desbürger und über 20 000 DDR-Bürger tatsächlich als
IM der HVA geführt wurden. Nur ein Teil davon – ca.
1 500 im Westen und 10 000 in der DDR – war 1989 noch
aktiv.“ Das sind halb so viele, wie im Antrag der FDP ge-
nannt. Die FDP scheint hier einem Mythos aufgesessen zu
sein. Es war einmal von 20 000 bis 50 000 Stasispitzeln in
der Bundesrepublik die Rede, was aber seit einiger Zeit
bereits widerlegt ist. Die FDP sollte vielleicht nicht im-
mer nur einen bestimmten Autor lesen, sondern auch die
einschlägige Literatur zum Thema studieren. Als Auto-
ren möchte ich Ihnen insbesondere Helmut Müller-
Enbergs und Georg Herbstritt empfehlen.
Der Mythos wurde befeuert, als die sogenannten Ro-
senholz-Dateien der BStU übergeben wurden. Mit zahl-
reichen Enthüllungen wurde gerechnet. Inzwischen ist
Ernüchterung eingetreten, denn es handelt sich bei den
Rosenholz-Dateien nur um ein Erfassungssystem; Glei-
ches gilt im Übrigen für SIRA, das im FDP-Antrag er-
wähnt wird. Die dazugehörigen Akten der HVA sind zu
großen Teilen Anfang 1990 vernichtet worden. Glückli-
cherweise konnten Akten in anderen Dienststellen ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19745
(A) (C)
(B) (D)
funden werden, aber insgesamt sind nur 10 Prozent der
Akten der HVA vorhanden.
Die Rosenholz-Dateien haben Anfang der 90er-Jahre
den Ermittlungsbehörden vorgelegen. In circa 3 000 Fäl-
len wurde gegen Bürger der alten Bundesrepublik wegen
Spionage für das MfS ermittelt. In über 360 Fällen führ-
ten die Ermittlungsverfahren zu Verurteilungen, davon
63 Haftstrafen. Deshalb schreibt die BStU zu den Rosen-
holz-Dateien: „Spektakuläre Enthüllungen über Perso-
nen des öffentlichen Lebens der früheren Bundesrepu-
blik sind dabei nicht zu erwarten. Das Agentennetz des
MfS, das Ende der achtziger Jahre im Westen existierte,
wurde durch die Ermittlungsbehörden der Bundesrepu-
blik schon weitgehend aufgedeckt.“ Joachim Lampe, der
als Bundesanwalt bei der Bundesanwaltschaft für die Er-
mittlungen der Westspionage des MfS zuständig war,
sagte bereits 1999: „Die Quellenlage erlaubt die Feststel-
lung, dass alle Agenten, die von den wichtigsten, in den
Strukturverfahren aufgeklärten Spionageeinrichtungen
des MfS geführt wurden, enttarnt sind.“
Sosehr ich das Ansinnen der FDP nachvollziehen
kann, halte ich die Forderungen vor diesem Hintergrund
für erstens nicht zielführend und zweitens für nicht reali-
sierbar; nicht zielführend, weil ich nicht sehe, welche
wirklich neuen Erkenntnisse gewonnen werden sollen,
nicht realisierbar, weil mit großer Wahrscheinlichkeit
der zu erwartende Erkenntnisgewinn in keinem Verhält-
nis zum notwendigen Aufwand steht. Eine Studie zu den
jetzigen Mitarbeitern der Bundesministerien in der von
der FDP gewünschten Form ist nach dem geltenden
Stasi-Unterlagen-Gesetz allein nicht möglich. Die Unter-
suchung zu den IM bei der Berliner Zeitung – um ein ak-
tuelles Beispiel zu nennen – ist nur möglich, weil alle
Redakteure damit einverstanden waren, eine Selbstaus-
kunft bei der BStU einzuholen. Wie soll das bei den vie-
len Tausenden Mitarbeitern der Bundesministerien mög-
lich sein? Eine durch den Arbeitgeber erzwungene
Verpflichtung zur Selbstauskunft haben wir bei der letz-
ten Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes verhin-
dert, der im Übrigen auch die FDP zugestimmt hat. Des-
halb lehnen wir auch Ihre Forderung nach einer erneuten
Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ab.
Ihre Forderung, die BStU durch „ausreichende Mittel
und organisatorische Umstrukturierungen in die Lage zu
versetzen, den Anteil der jährlich erschlossenen Akten
zu erhöhen und damit die tatsächliche Aufarbeitung zu
beschleunigen und qualitativ zu verbessern“, kann ich
hingegen sofort unterschreiben. Deshalb haben wir in
der Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts auch
festgehalten, dass die Struktur der BStU „zeitnah verän-
dert wird, um eine effizientere Arbeit trotz zurückgehen-
den Personalbestands gewährleisten zu können“.
Natürlich bedarf es der weiteren Erforschung der
Westarbeit des MfS. Aber ob die Vorschläge der FDP
dazu geeignet sind, die Erforschung zu verbessern, wage
ich zu bezweifeln. Darüber sollten wir im Ausschuss
aber weiter diskutieren.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Die eigenständige
Existenzsicherung von Stiefkindern sicherstel-
len – § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II reformieren (Ta-
gesordnungspunkt 37)
Karl Schiewerling (CDU/CSU): In der heutigen De-
batte geht es um die Einstandspflicht innerhalb einer Be-
darfsgemeinschaft für nicht leibliche Kinder. Hierzu gab
es eine Regelung vor und eine nach dem Fortentwick-
lungsgesetz.
Bevor das Fortentwicklungsgesetz in Kraft trat, ergab
sich aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II nicht
eindeutig, dass Einkommen des Partners innerhalb einer
Bedarfsgemeinschaft auch bei nicht leiblichen Kindern
zu berücksichtigen ist. Dies hatte zur Folge, dass bei
unverheirateten Partnern das Einkommen des nicht leib-
lichen Elternteils nicht auf den Bedarf des Stiefkindes
angerechnet wurde – im Gegensatz zu verheirateten
Partnern. In diesem Falle entstand nämlich zu dem nicht
leiblichen Kind eine Schwägerschaft, sodass entspre-
chend der Regelung des § 9 Abs. 5 SGB II vermutet
wurde, dass das nicht leibliche Kind vom Stiefelternteil
Leistungen erhält.
Nach damaligem Rechtsstand wurden somit verheira-
tete Partner gegenüber unverheirateten Partnern schlech-
ter gestellt. Mit der Änderung wurde klargestellt, dass
Einkommen auch auf den Bedarf nicht leiblicher Kinder
anzurechnen ist. Damit wurde die Schlechterstellung
von Ehen gegenüber nichtehelichen Partnerschaften auf-
gelöst. Das bedeutet heute, dass das Einkommen von
Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft für alle anderen
Mitglieder dieser Bedarfsgemeinschaft mit einzusetzen
ist, also auch des Partners für das Kind des anderen Part-
ners.
Diese Konstellation kann allerdings nur in den Fällen
eintreten, in denen der leibliche Vater erstens nicht in der
Bedarfsgemeinschaft lebt und zweitens nicht leistungs-
fähig und damit nicht in der Lage ist, Unterhalt zu zah-
len. Denn zunächst ist bei einem minderjährigen, unver-
heirateten Kind das Kindergeld als Einkommen des
Kindes zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist davon
auszugehen, dass ein Kind, dessen Eltern getrennt leben,
regelmäßig Unterhalt erhält. Wenn der Elternteil nicht
greifbar, aber leistungsfähig ist, hat der Träger der
Grundsicherung für Arbeitsuchende die Möglichkeit,
den Anspruch gemäß § 33 SGB II überzuleiten.
Wenn wir eine Gleichstellung von Stiefkindern mit
leiblichen Kindern haben wollen, dann nicht nur im
Steuer- und Kindergeldrecht, wo es bereits der Fall ist,
sondern auch im Sozialrecht. Und genau das haben wir
mit dem Fortentwicklungsgesetz gemacht. Da kann das
Sozialgericht Berlin viel bewerten. Eines kann es nicht:
Ob die Stiefkinderregelung verfassungswidrig ist oder
nicht, entscheidet letztendlich immer noch das Bundes-
verfassungsgericht. Und wenn sich das Sozialgericht
Berlin in seiner Sache so sicher ist, frage ich mich, wa-
19746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
rum es dann keine Vorlage beim Bundesverfassungsge-
richt eingereicht hat.
Ich sehe allerdings die Notwendigkeit, die Gleichstel-
lung von Stiefkindern mit leiblichen Kindern auch in den
anderen Bereichen der Sozialgesetzbücher sicherzustel-
len, zum Beispiel im Bereich der Rehabilitation bei der
Bemessung von Übergangsgeld.
Statt uns hier mit wenigen Einzelfällen zu beschäfti-
gen – denn in der Mehrheit der Fälle bleibt die Unter-
haltspflicht für Kinder bei getrennt lebenden Partnern
bestehen – sollten wir uns lieber darüber Gedanken ma-
chen, wie wir Menschen in sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse bringen. Statt andauernd das
SGB II so zu ändern, dass jedes Einzelschicksal darin
aufgefangen wird, vermisse ich vielmehr Anträge von
Ihnen, die aufzeigen, wie Sie Menschen in Arbeit brin-
gen wollen. Das ist zumindest unser Ausgangspunkt al-
ler Überlegungen. Um Langzeitarbeitslose, die oft viele
Vermittlungshemmnisse aufweisen, wieder in Arbeit zu
vermitteln, benötigen wir flexible Arbeitsmarktinstru-
mente.
Ich persönlich halte es für notwendig, die Instrumente
des SGB II und des SGB III zu entkoppeln, zumindest
aber vor den Instrumenten des SGB III einen Filter zu
setzen, der auf SGB-II-Tauglichkeit überprüft. Men-
schen, die viele Jahre nicht mehr im Arbeitsprozess stan-
den und verschiedene Vermittlungshemmnisse haben,
brauchen andere Hilfen als Menschen, die kurzzeitig ar-
beitslos werden. Folglich können auch nicht die Hilfe-
instrumente vom SGB III einfach so in den SGB-II-Be-
reich übertragen werden. Hier muss das Instrumentarium
entkoppelt und speziell für diese Zielgruppe entwickelt
werden. Wenn einzelne Instrumente für alle Erwerbs-
losen bundesweit gleich und detailliert festgelegt wer-
den, werden die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen
Menschen oft nicht erreicht, da ihre individuellen und
sozialen Bedarfslagen, die auch regional unterschiedlich
sind, nicht mehr berücksichtigt werden.
Wir werden uns im Rahmen der Reform der arbeits-
marktpolitischen Instrumente dafür einsetzen, dass die
Vermittler vor Ort eigenverantwortlich und flexibel im
Sinne der Langzeitarbeitslosen entscheiden können.
Darauf müssen wir unsere Kraft konzentrieren, damit
Menschen aus der Hilfebedürftigkeit herauskommen und
ihren Lebensunterhalt mit ihrer eigenen Hände- und
Kopfesarbeit bestreiten können.
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Eines der meist
debattierten und beratenen Themen in diesem Hohen
Hause ist das Thema Kinder und ihre Entwicklung und
Zukunft in diesem Land. Das zeigt uns, welchen heraus-
ragenden Stellenwert Kinder in unserer Gesellschaft ha-
ben. Wir Politiker haben eine große Verantwortung ge-
genüber unseren Kindern, denn wir entscheiden über die
Rahmenbedingungen für ihr Aufwachsen, ihre Entwick-
lung und ihre Chancen. Das sollte jedem hier bewusst
sein. Die SPD – als treibende Kraft in dieser Koalition
und zu Zeiten der rot-grünen Koalition – ist dieser Ver-
antwortung jederzeit gerecht geworden. Denn wir haben
schon früh erkannt: Wollen wir unseren Wohlstand si-
chern und unsere Demokratie stärken, brauchen wir ver-
antwortungsbewusste und selbstständige junge Men-
schen.
Lassen sie mich in diesem Zusammenhang ein paar
Worte zum Thema Kinderarmut sagen. Mir ist bewusst,
dass Kinderarmut sich in der Regel in Elternarmut grün-
det, hängt doch vom Geldbeutel so vieles ab. Aber es ist
nicht nur ein finanzielles Problem. Es ist vor allem ein
Problem fehlender Chancengerechtigkeit in der Bildung
und der gesellschaftlichen Teilhabe. Allein monetäre
Anreize lösen das Problem der Kinderarmut nicht. Wir
müssen andere Wege beschreiten. In unserem Lande hat
sich Gott sei Dank ein Umdenken in dieser Frage vollzo-
gen. Wir müssen in unsere Kinder, in unsere Zukunft in-
vestieren, investieren in Betreuung, Erziehung und Bil-
dung – mehr als bisher. Sie alle kennen die Debatten.
Mit dem Projekt der Förderung offener Ganztags-
schulen hat die rot-grüne Regierung schon in der letzten
Legislaturperiode einen Einstieg in ein gutes Programm
gemacht. Mit dem Elterngeld haben wir zur besseren
Vereinbarkeit von Familie und Beruf beigetragen. Und
bereits nach einem Jahr können wir sagen: Das Eltern-
geld kommt gut an. Wir haben mit dem Kinderzuschlag
und der Erhöhung des Wohngeldes weitere Leistungen
beschlossen, die zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit
und zur Existenzsicherung beitragen werden. Und nicht
zuletzt haben wir mit dem Kinderförderungsgesetz un-
sere Verantwortung gegenüber unseren Kindern unter-
mauert. Wir haben den Durchbruch bei der frühkindli-
chen Bildung und Betreuung geschafft und den
Rechtsanspruch ab eins durchgesetzt. Damit erhalten El-
tern in Deutschland die Garantie, tatsächlich einen Be-
treuungsplatz für ihr Kind zu bekommen.
Wir meinen es ernst, wenn es darum geht, unseren
Kindern und Jugendlichen beste Bedingungen zum Auf-
wachsen zu geben. Wir meinen es ernst, wenn es darum
geht, einen ganzheitlichen Ansatz zu schaffen, der Kin-
dern und Jugendlichen gleiche Chancen für Bildung und
Ausbildung einräumt. Natürlich ist der Weg dorthin
schwierig, aber wir haben erste wichtige Schritte getan.
Doch wie sieht es mit der Verantwortung bei Ihnen
aus, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion?
Jede Woche bringen Sie Anträge ein, die jeglichen ganz-
heitlichen Ansatz vermissen lassen. Mal soll an der
Stelle etwas verändert werden, mal an einer anderen,
je nachdem wie es gerade in die Stimmungslandschaft
unserer Gesellschaft passt. Doch einem so wichtigen
Meilenstein in der Familienpolitik wie dem Kinderförde-
rungsgesetz verweigerten Sie Ihre Zustimmung. Nehmen
Sie so Ihre Verantwortung wahr? Für mich ist das purer
Aktionismus.
Auch Ihr Antrag, den wir heute beraten, zeichnet die-
ses Bild der Flickschusterei, und ihre Begründung ist
zum Teil abenteuerlich. Mit der Neureglung des § 9
Abs. 2 Satz 2 SGB II ist keine – wie von Ihnen behauptet –
Unterhaltspflicht gegenüber Stiefkindern geschaffen
worden. Denn der Vater oder die Mutter ist unabhängig
von der faktischen Einkommenssituation der Kinder
weiterhin zur Unterhaltszahlung verpflichtet. Vielmehr
ist klargestellt worden, dass Einkommen und Vermögen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19747
(A) (C)
(B) (D)
von Lebenspartnern bei der Bedarfsermittlung aller zur
Bedarfsgemeinschaft zählenden Kinder berücksichtigt
werden müssen. Dazu zählen auch die nicht leiblichen
Kinder. In seinem Zwischenbericht vom 29. Juni 2005
hatte der Ombudsrat dazu keine Bedenken geäußert.
Und noch etwas wurde klargestellt: die Ungleichbe-
handlung von verheirateten Partnern und nicht verheira-
teten Partnern. Ein Stiefelternteil, der mit dem leiblichen
Elternteil verheiratet ist, ist rechtlich gesehen mit seinem
Stiefkind verschwägert. Und nach § 9 Abs. 5 SGB II be-
steht die gesetzliche Vermutung, nach der Verwandte
und Verschwägerte im Rahmen einer Haushaltsgemein-
schaft gegenseitig Leistungen zur Bestreitung des Le-
bensunterhalts erbringen. Mit anderen Worten: Die Fa-
milie steht dafür ein.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein staat-
liches Fürsorgesystem, bei dem der Nachranggrundsatz
gilt. Das bedeutet, dass Hilfesuchende nur Leistungen
erhalten, wenn sie wirklich hilfebedürftig sind. Die
Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen sind
Grundprinzipien des Leistungsbezuges im SGB II. Ein-
kommen und Vermögen sind Ausdruck der eigenen Leis-
tungsfähigkeit und daher zu berücksichtigen. Das ist
auch eine Frage der Gerechtigkeit.
Wir nehmen die Existenzsicherung von Kindern ernst.
Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt. Wir sollten stän-
dig überprüfen, ob Maßnahmen, die wir damals be-
schlossen haben, heute noch richtig und wirksam sind.
Mehr Kindergeld oder ein höherer Kinderfreibetrag, eine
bessere steuerliche Absetzbarkeit von Haushaltshilfen,
ein geringerer Arbeitslosenbeitrag und mehr Wohngeld,
all das sind Maßnahmen, mit denen wir auf aktuelle Ent-
wicklungen reagieren.
Ich schließe Weiteres nicht aus, denn die Zeit bleibt
nicht stehen: Demnächst erwarten wir den Existenzmini-
mumbericht der Bundesregierung. Ich rate uns, diesen in
die Entscheidungsfindung über die Absicherung von
Kindern einzubeziehen. Lassen Sie uns die Ergebnisse
abwarten und dann zielorientiert handeln! Das hilft unse-
ren Kindern eher als purer Aktionismus.
Heinz-Peter Haustein (FDP): Die Linke fordert in
dem hier zur Debatte stehenden Antrag, eine mit dem
SGB-II-Fortentwicklungsgesetz im Jahr 2006 von der
Großen Koalition vorgenommene Gesetzesänderung zu-
rückzunehmen.
Die seit dem 1. August 2006 geltende Regelung des
§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II sieht vor, dass das Vermögen
und Einkommen des nicht leiblichen Elternteiles Be-
rücksichtigung finden müssen bei der Leistungsberech-
nung des mit in der Bedarfsgemeinschaft lebenden
Kindes des Partners. Bis zum SGB-II-Fortentwicklungs-
gesetz waren Einkommen und Vermögen des neuen Part-
ners von Kindesmutter oder -vater unerheblich für die
Bedarfsberechnung des Kindes.
Die Linke führt aus, es bestehe mit der Regelung aus
dem Jahr 2006 eine Unterhaltspflicht, die im bürgerli-
chen Recht nicht vorgesehen sei. Als problematisch wird
gesehen, dass hier ein Einkommenszufluss zum Kind an-
gerechnet werde, ohne dass darauf Rücksicht genommen
werde, ob und inwieweit der Vermögenszufluss tatsäch-
lich stattfinde. Falls dem nicht leiblichen Kind die Un-
terstützung verweigert würde, habe dieses keinerlei
Möglichkeit, seinen Bedarf zu decken, denn zivilrechtli-
che Ansprüche bestünden nicht.
Die Erweiterung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II um den
Passus „und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden
Partners“ begründete die Koalition 2006 wie folgt:
Der bisherige Wortlaut … macht nicht hinreichend
deutlich, dass Einkommen innerhalb einer Bedarfs-
gemeinschaft auch auf den Bedarf nicht leiblicher
Kinder anzurechnen ist. Dies hat zur Folge, dass bei
nicht miteinander verheirateten Partnern das Ein-
kommen des nicht leiblichen Elternteils nicht auf
den Bedarf eines nicht leiblichen Kindes angerech-
net wird. Bei verheirateten Paaren entsteht dagegen
zum nicht leiblichen Kind eine Schwägerschaft, so
dass entsprechend der Regelung des § 9 (5) SGB II
vermutet wird, dass das nicht leibliche Kind vom
Stiefelternteil Leistungen erhält. Nach derzeitigem
Rechtsstand werden daher verheiratete Partner ge-
genüber unverheirateten Partnern schlechter ge-
stellt. Mit der Änderung wird daher klargestellt,
dass – auch entsprechend der ursprünglichen Ab-
sicht des Gesetzgebers – Einkommen innerhalb ei-
ner Bedarfsgemeinschaft in beiden Fallgestaltungen
auf den Bedarf eines nicht leiblichen Kindes anzu-
rechnen ist und damit die Schlechterstellung von
Ehen gegenüber nichtehelichen Partnerschaften
aufgelöst wird.
Die mit der Neuregelung bislang befassten Sozialge-
richte kommen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit,
teils nach summarischer Prüfung, zu unterschiedlichen
Ergebnissen. Insofern teilt die FDP die Einschätzung aus
der Begründung des vorliegenden Antrags, dass hier
über das Sozialrecht gleichsam eine neue Unterhalts-
pflicht geschaffen wird, die es zivilrechtlich nicht gibt.
Die FDP hat diese Fragen schon letztes Jahr aufge-
griffen. Wir haben Mitte November vergangenen Jahres
diesbezüglich eine Anfrage an die Bundesregierung ge-
richtet, weil wir es für notwendig hielten, uns zunächst
ein präzises Bild von der Situation zu verschaffen. Wir
fragten, in wie vielen Fällen die als Stiefelternregelung
bezeichnete Neuregelung seit ihrer Einführung zur An-
wendung gekommen ist, in welcher Höhe dadurch Aus-
gaben für Leistungen nach dem SGB II gespart wurden
und in wie vielen Fällen mitursächlich für die Inan-
spruchnahme des Lebenspartners war, dass der getrennt
lebende Elternteil seiner gesetzlichen Unterhaltsver-
pflichtung nicht nachkam bzw. welcher finanzielle An-
teil auf diese Fallkonstellationen entfällt. Die Antwort,
die uns die Bundesregierung am 19. November aus dem
BMAS zukommen ließ, lässt sich zusammenfassend auf
den Satz bringen: Wir haben keine Ahnung. Die familiä-
ren Verwandtschaftsbeziehungen von in Bedarfsgemein-
schaften lebenden Kindern zu den Eltern bzw. Stiefeltern
würden nicht erhoben, hieß es lapidar aus dem Ministe-
rium. Ein Problembewusstsein der schwarz-roten Bun-
desregierung oder gar die Absicht, die Lage zu hinterfra-
19748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
gen und gegebenenfalls zu Veränderungen zu kommen,
ließ die Antwort nicht erkennen.
Sofern aber nicht näherungsweise präzise Zahlen vor-
liegen und wir uns ein Bild von der Lage machen kön-
nen, ist es nicht dienlich, neue Gesetzesänderungen zu
beschließen. Zur Begründung für eine gesetzliche Neu-
regelung gehört zunächst eine genaue Vorstellung von
dem zu korrigierenden Missstand. Nach Auffassung der
FDP-Fraktion muss hier zunächst die Bundesregierung
Antworten auf die offenen Fragen liefern, bevor wir in
diesem Hause über Änderungen des Gesetzes beraten.
Mit einem herzlichen Glückauf aus dem Erzgebirge.
Katja Kipping (DIE LINKE): Durch das SGB-II-
Fortentwicklungsgesetz ist § 9 Abs. 2 Satz 2 des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch in einer nicht zu akzeptieren-
den Weise verändert worden. Denn seit dem 1. August
2006 ist bei Kindern nunmehr das Einkommen und Ver-
mögen von Personen, die mit einem Elternteil eine Be-
darfsgemeinschaft bilden, zu berücksichtigen. Durch
diese Regelung ist die Existenzsicherung von Stiefkin-
dern in einer verfassungswidrigen Weise gefährdet wor-
den. Das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums
aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit
dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 GG wird für das Stief-
kind oder die Stiefkinder gebrochen.
Das sieht unter anderem auch das Sozialgericht Berlin
so. Es hat in seinen Ausführungen zum Inhalt des Sozial-
staatsprinzips betont (SG Berlin S 103 AS 10869/06 ER
vom 8. Januar 2007), – ich zitiere –:
Das Gebot dieses Sicherungsauftrags (Anmerkung:
aus dem Sozialstaatsgebot) wird durch § 9 Abs. 2
Satz 2 SGB II nicht mehr verfassungskonform um-
gesetzt, weil die Regelung allein die schematische
Anrechnung von Einkommen zum Inhalt hat, ohne
dass darauf Rücksicht genommen wird, ob das
Existenzminimum des jeweiligen Kindes tatsäch-
lich durch entsprechenden Einkommenszufluss
durch den Stiefpartner gesichert ist. Soweit tatsäch-
lich die Versorgung auf dem Niveau, das dem ver-
fassungsrechtlichen Existenzminimum entspricht,
verweigert wird, stehen dem Kind keinerlei Mög-
lichkeiten zur Verfügung, zu einer tatsächlichen
Deckung seines Bedarfs zu gelangen. Durch diese
Regelung überschreitet der Gesetzgeber den ihm
zustehenden weiten Gestaltungsspielraum. Schließ-
lich ist die Regelung auch nicht einer verfassungs-
konformen Auslegung zugänglich.
Die Antragstellerinnen verweisen zunächst zutref-
fend darauf, dass dem Kind ein zivilrechtlicher Un-
terhaltsanspruch gegen den neuen Partner seines El-
ternteils nicht zusteht. Dem Kind steht auch kein
anderer Weg offen, eine tatsächliche Bedarfsde-
ckung im Falle der Weigerung der Leistung durch
den Partner, wie Herr C. sie hier erklärt hat, zu er-
reichen. Insoweit unterscheidet sich die Lage des
Kindes von der eines Partners in der (früher so be-
zeichneten) eheähnlichen Lebensgemeinschaft,
weshalb die Anerkennung der Einkommensanrech-
nung zwischen den Partnern selbst kein Argument
für die Erstreckung auf die nicht leiblichen Kinder
ist. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für
die dem Kind insoweit verweigerte Sicherung des
Existenzminimums ist der Kammer nicht ersicht-
lich.
Diesem Ergebnis kann nicht entgegen gehalten
werden, dass das Elternteil sich im Interesse des
Kindes von dem Partner trennen kann, um so wie-
der einen staatlichen Leistungsanspruch zu begrün-
den. Ein solcher mittelbarer Zwang, der in seiner
Intensität hinter einem unmittelbaren Eingriff nicht
zurückbleibt, zur Beendigung einer Beziehung
würde das allgemeine Persönlichkeitsrecht des
Art. 2 Abs. 1 GG des Elternteils beeinträchtigen,
ohne dass dies verfassungsrechtlich gerechtfertigt
wäre. Es bestehen bereits Zweifel, ob ein solcher
Regelungsmechanismus geeignet wäre, die Ziele
des Gesetzgebers zu erreichen. Ausweislich der
parlamentarischen Beratungsunterlagen war die Er-
zielung von Einsparungen ein wesentliches Ziel des
Gesetzgebers.
Die Beendigung von Partnerschaften aufgrund der
Einbeziehung von Kindern in die Einkommensan-
rechnung in sogenannten Patchworkfamilien würde
dazu führen, dass sowohl Kinder als auch einkom-
menslose Elternteile Leistungsansprüche erwerben
würden. Hiermit wären zwingend Mehrkosten für
einen Teil der Leistungsberechtigten verbunden.
Selbst wenn man insoweit dem Gesetzgeber hin-
sichtlich der tatsächlichen Auswirkungen eine Ein-
schätzungsprärogative zugesteht, ist die Erzielung
von Einsparungen als Rechtfertigung einer Unter-
schreitung des Existenzminimums eines Kindes un-
geeignet.
Zudem ist eine solche Unterhaltspflicht im bürgerli-
chen Recht laut § 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs
nicht vorgesehen. Das Sozialrecht konstituiert also mit
der Regelung de facto eine neue Unterhaltspflicht. Ich
habe erhebliche Bedenken, ob die neue Fassung des § 9
Abs. 2 Satz 2 SGB II mit dem grundgesetzlichen Exis-
tenzsicherungsauftrag nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbin-
dung mit dem Sozialstaatsgebot (Art. 20 GG) vereinbar
ist. Die neue Regelung legt schematisch fest, dass das
Einkommen und Vermögen des Stiefelternteils anzu-
rechnen ist, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob und
inwieweit ein Einkommenszufluss tatsächlich stattfin-
det; sie konstruiert es also nur. Soweit eine Unterstüt-
zung dem Stiefkind faktisch verweigert wird, stehen
dem Kind keinerlei Möglichkeiten zur Verfügung, zu ei-
ner tatsächlichen Deckung seines Bedarfs zu gelangen,
denn zivilrechtliche Ansprüche gegenüber dem Stief-
elternteil bestehen nicht. Die sozialrechtlichen Ansprü-
che werden aber mit Verweis auf den Stiefelternteil ver-
weigert. Das Kind hat auch keine Möglichkeit, die
Bedarfsgemeinschaft zu verlassen und dadurch einen ei-
genständigen Sicherungsanspruch zu begründen. Damit
ist der Auftrag zur Sicherstellung des Existenzmini-
mums für das betroffene Stiefkind gefährdet.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19749
(A) (C)
(B) (D)
Aber auch für verheiratete Partner hat die Neurege-
lung durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz eine
nicht akzeptable Änderung gebracht. Rechtlich gesehen
geht der Stiefelternteil mit der Heirat eine Schwäger-
schaft mit dem Kind des Partners oder der Partnerin ein.
Der verheiratete neue Partner begründet mit dem Stief-
kind eine Haushaltsgemeinschaft nach § 9 Abs. 5
SGB II. Für eine Haushaltsgemeinschaft wird aber nun
vermutet, dass eine Unterstützung des bedürftigen Mit-
glieds, also in der Regel des Kindes, der Haushaltsge-
meinschaft stattfindet. Mit der Neuregelung wurde die
Möglichkeit der Widerlegung der Vermutung abge-
schafft. Auch in diesem Fall gilt die oben aufgeführte
Bewertung als verfassungswidrig, weil dem Kind bei
Verweigerung einer Unterstützung keine Möglichkeit of-
fensteht, den eigenen Bedarf zu decken. Darüber hinaus
gibt es bei einer Eingliederung in eine Bedarfsgemein-
schaft – im Gegensatz zum Unterhaltsrecht – keinen
Selbstbehalt beziehungsweise keinen Freibetrag für den
Einkommenbeziehenden; das sind zumeist die Väter.
Aus diesen Darstellungen ist unschwer zu erkennen,
dass faktisch ein „Familienzerstörungsgesetz“ geschaf-
fen wurde, welches zudem Betroffene auch noch in die
Verschuldung treibt. Auch haben Familien berichtet,
dass sich nach der Einführung des Fortentwicklungsge-
setzes bei Ihnen vor Ort betroffene Familien zusammen-
gefunden haben. Aktuell ist die Lage so, dass schon ein
Teil dieser Familien aus Deutschland ausgewandert ist,
weil sie angesichts der hiesigen Bedingungen keine
Hoffnungen mehr auf eine Zukunft in Deutschland ha-
ben.
Das ist für uns nicht akzeptabel. Die Neuregelung des
§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II, nach der Einkommen und Ver-
mögen der Stiefeltern bei der Bedarfsberechnung des
Kindes zu berücksichtigen sind, muss daher so schnell
wie möglich zurückgenommen werden, bevor das Bun-
desverfassungsgericht sie als verfassungswidrig verwer-
fen wird. Stattdessen gilt es, eine eigenständige Exis-
tenzsicherung von Stiefkindern zu sichern.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
von der Großen Koalition mit dem sogenannten SGB-II-
Fortentwicklungsgesetz im Jahre 2006 eingeführte Stief-
kindregelung, mit der unverheiratete Partner und Stief-
elternteile faktisch zur Unterhaltspflicht der Kinder ihrer
Partner herangezogen werden, ist nicht zeitgemäß und
stigmatisiert die betroffenen Kinder. Das Wort Stiefkind
ist auch heute noch negativ besetzt. Tief im Bewusstsein
verankert ist, dass Stiefkinder über Jahrhunderte ein
Schattendasein in der Familie und Gesellschaft geführt
haben. Dabei sollte das Schicksal eines „Aschenputtels“
in einer modernen individualisierten Gesellschaft, in der
Patchworkfamilien eher die Regel als die Ausnahme
sind, der Vergangenheit angehören. Mit gutem Grund
sieht das Zivilrecht deshalb auch keine Unterhaltspflicht
des Stiefelternteils vor, es sei denn, das Kind wird adop-
tiert.
Um so weniger ist auch sachlich nachzuvollziehen,
dass die große Koalition diese Kinder und jungen Er-
wachsenen über das Sozialrecht bis zum Alter von
25 Jahren zum Bittsteller beim Stiefelternteil oder gar
beim nichtehelichen Partner macht. Diese sozialrechtli-
che Sonderregelung widerspricht dem Gleichbehand-
lungsgrundsatz und ist deshalb auch im höchsten Maße
verfassungsrechtlich bedenklich.
Wir Grüne wollen es nicht dem Bundesverfassungsge-
richt überlassen, zu entscheiden, ob die Begründung ei-
nes Unterhaltsanspruches des Stiefelternteiles durch die
Hintertür auf sozialrechtlichem Wege zulässig ist. Wir
haben diese Regelung schon zum Zeitpunkt ihrer Einfüh-
rung durch die Große Koalition in unserem Antrag vom
4. April 2006 „Hartz IV weiterentwickeln – Existenzsi-
chernd, individuell, passgenau“ (Drucksache 16/1124)
kritisiert. Wir fordern nach wie vor, dass in eheähnlichen
Gemeinschaften Lebensgefährtinnen und Lebensgefähr-
ten nicht gezwungen werden dürfen, ihr Einkommen für
den Bedarf der Kinder der Partnerinnen und Partner ein-
zusetzen, wenn es nicht die gemeinsamen sind. Auch
wenn ein Ehepartner Kinder in eine Ehe einbringt, darf
dies nicht zu einem sozialrechtlichen Unterhaltsanspruch
führen, der über den zivilrechtlichen Anspruch hinaus-
geht.
Diese Regelung stigmatisiert nicht nur die betroffenen
Kinder, sie ist auch nicht wirtschaftlich. Denn sie verhin-
dert, dass einkommensschwache Partner mit Kindern zu-
sammenziehen, wenn Ansprüche auf Sozialleistungen
bestehen, obwohl sie gemeinsam – auch für den Sozial-
leistungsträger – kostengünstiger haushalten könnten.
Anlage 15
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 848. Sitzung am 10. Ok-
tober 2008 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz zu-
zustimmen:
– Gesetz zu dem Abkommen vom 7. Dezember 2004
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und dem Schweizerischen Bundesrat
zum Vertrag vom 23. November 1964 über die
Einbeziehung der Gemeinde Büsingen am Hoch-
rhein in das schweizerische Zollgebiet über die
Erhebung und die Ausrichtung eines Anteils der
von der Schweiz in ihrem Staatsgebiet und im Ge-
biet der Gemeinde Büsingen am Hochrhein erho-
benen leistungsabhängigen Schwerverkehrsab-
gabe (LSVA-Abkommen Büsingen)
Der Bundesrat hat in seiner 849. Sitzung am 17. Ok-
tober 2008 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz zu-
zustimmen:
– Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets
zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanz-
marktstabilisierungsgesetz – FMStG)
Die Fraktion DIE LINKE hat mitgeteilt, dass sie den
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes auf Drucksache 16/7534
und den Antrag Liberalisierung des Briefmarktes
stoppen – Sozial- und Lohndumping verhindern auf
Drucksache 16/7528 zurückziehen.
19750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
(A) (C)
(B) (D)
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit-
geteilt, dass sie den Antrag Endlager Asse sofort dem
Betreiber entziehen und unter atomrechtliche Bun-
desaufsicht stellen auf Drucksache 16/9809 und den
Antrag Alternativen zum Heim schaffen – Ambulante
Angebote für Menschen mit Behinderungen weiter-
entwickeln und ausbauen auf Drucksache 16/1644 zu-
rückziehen.
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2
der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
Auswärtiger Ausschuss
– Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik
Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates
Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
parates vom 1. bis 5. Oktober 2007 in Straßburg und
Debatte der Erweiterten Parlamentarischen Versamm-
lung über die Aktivitäten der OECD am 3. Oktober
2007
– Drucksachen 16/9048, 16/9517 Nr. 1.1 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse ihrer
Bemühungen um die Weiterentwicklung der politischen
und ökonomischen Gesamtstrategie für die Balkanstaa-
ten und ganz Südosteuropa (Berichtszeitraum 1. Januar
2007 bis 10. März 2008)
– Drucksachen 16/9176, 16/9391 Nr. 1.4 –
– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Ver-
sammlung der Westeuropäischen Union/Interparlamentari-
sche Europäische Versammlung für Sicherheit und Vertei-
digung (WEU V/IEVSV)
Tagung der Versammlung vom 4. bis 6. Juni 2007 in
Paris
– Drucksachen 16/9221, 16/9837 Nr. 1 –
Haushaltsausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapi-
tel 1702 Titel 685 02
– Zuweisung an die Conterganstiftung für behinderte
Menschen –
– Drucksachen 16/8732, 16/10285 Nr. 1 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
Einwilligung in eine überplanmäßige Verpflichtungs-
ermächtigung bei Kapitel 1225 Titel 661 07
– Förderung von Maßnahmen zur energetischen Ge-
bäudesanierung „CO2-Gebäudesanierungsprogramm“
der KfW Förderbank –
– Drucksachen 16/10163, 16/10285 Nr. 22 –
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tätigkeitsberichte 2006/2007 der Bundesnetzagentur
für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und
Eisenbahnen gemäß § 121 Abs. 1 des Telekommunika-
tionsgesetzes und § 47 Abs. 1 des Postgesetzes
und
Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 121
Abs. 2 des Telekommunikationsgesetzes und gemäß § 44
Abs. 1 des Postgesetzes i. V. m. § 81 Abs. 3 des Telekom-
munikationsgesetzes a. F.
– Drucksachen 16/7700, 16/8123 Nr. 1.1 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tätigkeitsberichte 2006/2007 der Bundesnetzagentur
für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und
Eisenbahnen gemäß § 121 Abs. 1 des Telekommunika-
tionsgesetzes und § 47 Abs. 1 des Postgesetzes
und
Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 121
Abs. 2 des Telekommunikationsgesetzes und gemäß
§ 44 Abs. 1 des Postgesetzes i. V. m. § 81 Abs. 3 des Tele-
kommunikationsgesetzes a. F.
– Drucksache 16/7700 –
Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksachen 16/10146, 16/10285 Nr. 21 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tätigkeitsbericht 2005 bis 2007 der Bundesnetzagentur
für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und
Eisenbahnen
und
Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksache 16/9000 –
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
rung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für
den Zeitraum 2008 bis 2011
– Drucksachen 16/9213, 16/9691 –
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand des Aus-
baus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertages-
betreuung für Kinder unter drei Jahren 2007
– Drucksache 16/6100 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand des Aus-
baus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertages-
betreuung für Kinder unter drei Jahren für das Be-
richtsjahr 2007
– Drucksachen 16/9049, 16/9391 Nr. 1.2 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
ner Beratung abgesehen hat.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008 19751
(A) (C)
(B) (D)
Auswärtiger Ausschuss
Drucksache 16/9693 Nr. A.1
EuB-EP 1690; P6_TA-PROV(2008)0119
Drucksache 16/9693 Nr. A.2
EuB-EP 1703; P6_TA-PROV(2008)0173
Innenausschuss
Drucksache 16/7817 Nr. A.22
Ratsdokument 15802/07
Drucksache 16/7905 Nr. A.4
Ratsdokument 16239/07
Drucksache 16/8983 Nr. A.3
Ratsdokument 7350/08
Drucksache 16/10286 Nr. A.9
Ratsdokument 11017/08
Drucksache 16/10286 Nr. A.10
Ratsdokument 11022/08
Drucksache 16/10286 Nr. A.11
Ratsdokument 11494/08
Finanzausschuss
Drucksache 16/9693 Nr. A.4
Ratsdokument 9113/08
Drucksache 16/9693 Nr. A.5
Ratsdokument 9192/08
Drucksache 16/9693 Nr. A.6
Ratsdokument 9384/08
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Drucksache 16/8815 Nr. A.18
Ratsdokument 7296/08
Drucksache 16/9693 Nr. A.9
Ratsdokument 9632/08
Drucksache 16/9867 Nr. A.3
Ratsdokument 10108/08
Ausschuss für Gesundheit
Drucksache 16/8983 Nr. A.16
Ratsdokument 7529/08
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Drucksache 16/9169 Nr. A.14
Ratsdokument 8288/08
Drucksache 16/9169 Nr. A.15
Ratsdokument 8289/08
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Drucksache 16/6865 Nr. 1.17
Ratsdokument 13236/07
184. Sitzung
Berlin, Freitag, den 17. Oktober 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15