Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19579
(A) )
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Präsenz der internationalen Staatengemeinschaft wärenAndreas
Ich stimme mit Ja, denn wir haben eine Verpflichtung
insbesondere gegenüber jenen Afghaninnen und Afgha-
nen einzulösen, die sich entschieden haben, sich am Auf-
bau des Landes zu beteiligen. Ohne die militärische
Schily, Otto SPD 16.10.2008
Schmidt (Mülheim), CDU/CSU 16.10.2008
Anlage 1
Liste der entschuldigt
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Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Albach, Peter CDU/CSU 16.10.2008
Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 16.10.2008
Bodewig, Kurt SPD 16.10.2008**
Dr. Däubler-Gmelin,
Herta
SPD 16.10.2008
Friedrich (Bayreuth),
Horst
FDP 16.10.2008
Gloser, Günter SPD 16.10.2008
Gruß, Miriam FDP 16.10.2008
Gunkel, Wolfgang SPD 16.10.2008
Hänsel, Heike DIE LINKE 16.10.2008
Heller, Uda Carmen
Freia
CDU/CSU 16.10.2008
Hempelmann, Rolf SPD 16.10.2008
Höfer, Gerd SPD 16.10.2008*
Dr. Keskin, Hakki DIE LINKE 16.10.2008*
Leutheusser-
Schnarrenberger,
Sabine
FDP 16.10.2008
Lintner, Eduard CDU/CSU 16.10.2008*
Mast, Katja SPD 16.10.2008
Parr, Detlef FDP 16.10.2008
Reichel, Maik SPD 16.10.2008
Rohde, Jörg FDP 16.10.2008
Roth (Heringen),
Michael
SPD 16.10.2008
Dr. Scheer, Hermann SPD 16.10.2008
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Anlagen zum Stenografischen Bericht
en Abgeordneten
für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
nlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag der Bundes-
regierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaff-
neter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der
Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
truppe in Afghanistan (International Security
Assistance Force, ISAF) unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolution 1386
(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-
solution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN): Ich stimme mit Ja, weil sich 40 Staaten ver-
flichtet haben, im Rahmen eines völkerrechtlich abge-
icherten Mandats dem durch 30 Jahre Krieg zerstörten
and beim Wiederaufbau zu helfen. Diese Aufgabe ist
och nicht abgeschlossen.
Ich stimme mit Ja, weil ein ziviler Aufbau des Landes
hne Schutz durch Polizei und Militär unmöglich ist und
ie afghanische Regierung die öffentliche Sicherheit
och nicht mit eigenen Kräften gewährleisten kann.
eehofer, Horst CDU/CSU 16.10.2008
r. Stadler, Max FDP 16.10.2008
taffelt, Grietje BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16.10.2008
töckel, Rolf SPD 16.10.2008
r. Wodarg, Wolfgang SPD 16.10.2008*
eil, Martin FDP 16.10.2008
bgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
19580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
diese Menschen großen Gefahren für Leib und Leben
ausgesetzt.
Ich stimme mit ja, weil das Versprechen „Wir lassen
euch nicht irn Stich“ auch in Zeiten von Rückschlägen
ohne jeden Zweifel gelten muss.
Ich stimme mit Ja, weil jede Frau, die ihre Burka ab-
gelegt hat und in den Schulen unterrichtet, jede Frau, die
wieder im Gesundheitswesen arbeitet, jede Frau, die
wieder als Richterin oder Krankenschwester den Men-
schen beiseitesteht, bei einer Rückkehr der Taliban von
diesen als Kollaborateurin behandelt und brutalen Stra-
fen ausgesetzt würde.
Ich stimme mit Ja, weil, wie von Mitgliedern des
Bundestags berichtet wird, vielen Frauen die nackte
Angst in den Augen steht, wenn sie an eine mögliche
Rückkehr der Taliban an die Macht denken.
Ich stimme mit Ja, weil nach meiner Überzeugung die
schwierige Aufbauarbeit von zivilen Initiativen und die
humanitäre Hilfe für die Bevölkerung ohne den Schutz
von ISAF undenkbar ist und weil sich selbst Menschen-
rechtsorganisationen wie Human Rights Watch für eine
Zustimmung für das Mandat aussprechen.
Ich stimme mit Ja, weil der Weg, den dieses geschun-
dene Land und seine Menschen vor sich haben, um nach
Jahren der Unterdrückung, nach Schulverboten, Zerstö-
rung der Universitäten und brutaler Gewalt gegen An-
dersdenkende demokratische Institutionen aufzubauen
und die Menschenwürde zu sichern, Zeit und einen lan-
gen Atem braucht.
Ich stimme mit Ja, weil auch Deutschland seinen Teil
zu einer Mission beisteuern muss, die mit Gefahren für
die beteiligten Soldaten aller Länder verbunden ist. Die
Afghanistan-Mission kann nur als abgestimmte interna-
tionale Anstrengung erfolgreich sein, die eine faire Tei-
lung der Lasten erfordert. Ein einseitiger Rückzug der
Bundesrepublik würde sowohl die afghanische Bevölke-
rung wie den Zusammenhalt der internationalen Ge-
meinschaft gefährden.
Ich stimme mit Ja, weil die Taliban alles daransetzen,
die Bevölkerungen der westlichen Demokratien so zu
verunsichern, dass ihre Regierungen letztlich keine Sol-
daten mehr zu schicken bereit sind. Ein Abrücken von
relevanten Teilen des Bundestags vom ISAF-Mandat
könnte von den Taliban als erster Erfolg dieser Verunsi-
cherungsstrategie benutzt werden und ihnen die Bot-
schaft in die Hände spielen, dass der Abzug von ISAF
demnächst kommen werde.
Ich stimme mit Ja, obwohl ich mir bewusst bin, dass
in Afghanistan viele politische und militärische Fehler
gemacht worden sind und weiter gemacht werden, die
den Erfolg dieses Einsatzes gefährden. So halte ich die
Luftangriffe, die von der amerikanischen Armee im
Rahmen des OEF-Mandats durchgeführt werden und im-
mer wieder Zivilisten das Leben kosten, für verheerend
angesichts der Notwendigkeit, die Unterstützung der
afghanischen Bevölkerung im Kampf gegen den Terro-
rismus zu gewinnen. Stattdessen brauchen wir ein ein-
heitliches Mandat der internationalen Friedenstruppen,
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erstärkte Anstrengungen bei der Ausbildung der afgha-
ischen Sicherheitskräfte und eine besser koordinierte
trategie für den zivilen Aufbau.
Ich stimme trotz dieser Kritik an der bisherigen Af-
hanistan-Strategie mit Ja, weil ein vorzeitiger Rückzug
er internationalen Truppen nicht weniger, sondern mehr
ivile Opfer zur Folge haben würde. Wie viele Frauen
ind unter der Herrschaft der Taliban allein bei der Ge-
urt ihrer Kinder gestorben, weil es keine Möglichkeit
es Kaiserschnitts, keine Antibiotika, ja nicht einmal
auberes Wasser gab. Der Terror, der heute wieder gegen
enschen ausgeübt wird, die sich der Zusammenarbeit
it den Taliban verweigern, zeigt, was auf dem Spiel
teht.
Ich stimme mit Ja, weil das Ziel, die Sicherheit
fghanistans durch die legitimen staatlichen Strukturen
elbst zu gewährleisten, durch einen vorzeitigen Abzug
er ISAF-Truppen nicht gefördert, sondern unmöglich
emacht wird.
Ich stimme mit Ja, weil ich der tiefen Überzeugung
in, dass wir im 21. Jahrhundert nicht mehr in national-
taatlichen Grenzen denken dürfen. Es gibt eine
Responsibility to Protect“, eine Verpflichtung zum Bei-
tand für Menschen, die verfolgt, vertrieben und gequält
erden, die nicht an den Grenzen des eigenen Landes
ndet. Das wird nicht immer und überall möglich sein –
ber wo es möglich ist, müssen wir uns dieser men-
chenrechtlichen Verpflichtung stellen.
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Zunächst ist fest-
ustellen, dass ich nur unter großem Vorbehalt der Fort-
etzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
räfte in Afghanistan (ISAF) zustimme.
Die Aussage „Keine Entwicklung ohne Sicherheit
nd keine Sicherheit ohne Entwicklung“ beschreibt die
erzeitige Situation in Afghanistan nur grundsätzlich,
ch sehe durchaus die Fortschritte, insbesondere im Nor-
en des Landes, hinsichtlich der Entwicklung stabiler
trukturen in den Bereichen Bildungs-, Gesundheits-
nd Gleichstellungspolitik. Ebenso sehe ich aber auch,
ass bezüglich der eigenen Sicherheitsstrukturen keine
ortschritte in der Stabilität erreicht wurden, eher Rück-
chritte zu verzeichnen sind.
Der Terrorismus und der Partisanenkampf der Taliban
eiten sich aus. Gleiches gilt für den Abbau der Balance
wischen verschiedenen Volksgruppen und den Paschtu-
en in dem Vielvölkerstaat Afghanistan. Der Drogen-
nbau wird weiter expansiv betrieben und kann durch
ie Preispolitik der westlichen Welt auf dem Agrarmarkt
urchaus als „bewaffnete Marktpflege“ bezeichnet wer-
en. Ferner kritisiere ich in diesem Zusammenhang die
ehr offensichtliche vorrangige geostrategische Ausrich-
ung Amerikas, die die Gefahr einer Ausdehnung des be-
affneten Kampfes und das Abdriften in einen Regio-
alkrieg mit der Atommacht Pakistan befürchten lässt.
Dem ist nur mit einer Unterstellung der Anti-Terror-
peration Enduring Freedom (OEF) unter UN-Mandat
u begegnen, die die Nachbarstaaten China, Pakistan
nd Indien in eine Lösungssuche einbindet. Deshalb ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19581
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(B) )
das ISAF-Mandat mit dem OEF-Mandat verbunden zu
betrachten.
Zur gemeinsamen Lösung des Konfliktes gehört für
mich eine stärkere Ausrichtung der „Hilfe zur Selbst-
hilfe“ beim Aufbau eigener afghanischer Sicherheits-
strukturen, weg von der hauptsächlich militärischen hin
zu einer stärkeren humanitären Ausrichtung. Insofern ist
ein Konzept für ein baldiges Ausstiegsszenario, ver-
gleichbar mit dem der Briten, Kanadier oder Niederlän-
der, dringend erforderlich. Dass die politische Diskus-
sion darüber nunmehr in Gang gekommen ist, begrüße
ich sehr.
Nur unter der Bedingung, dass eine solche stringen-
tere Konzeption über den Aufbau eigener nationaler Si-
cherheitsstrukturen in Afghanistan, mit dem Ziel des
baldigen Abzugs ausländischer Streitkräfte, vorangetrie-
ben wird, stimme ich der Fortsetzung des Einsatzes letzt-
malig zu.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Ich habe heute noch-
mals mit großen Bedenken dem ISAF-Antrag der Bun-
desregierung zugestimmt, weil ich davon überzeugt bin,
dass ein abrupter Abzug der Bundeswehr aus Afghanis-
tan wegen unserer Zusagen an die afghanische Bevölke-
rung und ihre Regierung und gegenüber den Menschen
in Afghanistan nicht zu verantworten ist.
Bevor ich allerdings einer weiteren Verlängerung des
ISAF-Mandats in Afghanistan künftig zustimmen
werde, erwarte ich, dass die Bundesregierung sich dafür
einsetzt, ISAF einer UN-Führung zu unterstellen, alle
militärischen Operationen im Rahmen des ISAF-Man-
dats strikt an völkerrechtlichen Normen auszurichten
und dem Schutz der Zivilbevölkerung absoluten Vorrang
einzuräumen. Ich erwarte zudem, das Volumen der Not-
und Entwicklungshilfe für Afghanistan deutlich und im
Verhältnis zu den Militärausgaben zu erhöhen und insbe-
sondere die Anstrengungen zum Aufbau der afghani-
schen Armee, afghanischen Polizei und insbesondere
auch der afghanischen Justiz massiv auszuweiten. Letzt-
lich erwarte ich von der Bundesregierung bis zu einer
nächsten Verlängerung eines ISAF-Mandats für Afgha-
nistan die Entwicklung einer realistischen Exit-Strategie
für diese militärische Intervention, wobei ich davon aus-
gehe, dass unsere militärische Hilfe und militärische Un-
terstützung beim zivilen Wiederaufbau Afghanistans al-
lerspätestens im Jahre 2015 zu beenden ist bzw. beendet
ist.
Dr. Axel Berg (SPD): Die Entscheidung, die Entsen-
dung von RECCE-Tornados in die Mandatsverlängerung
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe
(ISAF) zu integrieren, bringt mich nicht nur in ein Di-
lemma, wie ich es bereits in meiner Erklärung nach § 31
GO Deutscher Bundestag vom 12. Oktober 2008 ge-
schildert habe, sondern macht es mir leider auch unmög-
lich, dem vorliegenden Antrag der Bundesregierung
heute zuzustimmen.
Den Einsatz von ISAF halte ich zum jetzigen Zeit-
punkt zwar nach wie vor für wichtig und richtig. Die
ISAF soll eine friedliche, politische Entwicklung Afgha-
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istans gewährleisten und die Regierung Afghanistans
ei ihrer Aufgabe, für Sicherheit, Recht und Ordnung im
anzen Land zu sorgen, unterstützen. Auch beim Wie-
eraufbau Afghanistans hat ISAF Erfolge vorzuweisen.
ies bestätigen selbst namhafte Entwicklungshilfeorga-
isationen, die vor Ort den zivilen Wiederaufbau voran-
reiben.
Dabei ist es aber entscheidend, dass ISAF klar abge-
renzt werden kann von der Operation Enduring Free-
om (OEF), die die Bekämpfung des internationalen
errorismus zum Ziel hat und die ich auch weiterhin aus
ahlreichen Gründen – wie in meiner Erklärung nach
31 GO Deutscher Bundestag vom 15. November 2007
usführlich dargelegt – ausdrücklich ablehne. Diese Ab-
renzung ist aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ge-
eben.
Die Entsendung von RECCE-Tornados habe ich be-
eits vor der ersten Abstimmung darüber im Deutschen
undestag für falsch und gefährlich gehalten und dem
ntrag der Bundesregierung dementsprechend bereits
m März 2007 meine Stimme verweigert. Meine damals
eäußerten Befürchtungen, die ich ausführlich in meiner
rklärung nach § 31 GO Deutscher Bundestag vom
. März 2007 dargelegt habe, haben sich meines Erach-
ens leider alle bestätigt.
So hat der Einsatz der Tornados dazu geführt, dass die
insatzbedingungen – insbesondere hinsichtlich der Zu-
ammenarbeit zwischen ISAF und OEF – immer weni-
er zu trennen sind und die Trennung der beiden
insätze auch der Bevölkerung immer weniger zu ver-
itteln ist.
Zusätzlich sehe ich auch meine Zweifel an der Pro-
lematik des Nutzens der Tornados im Sinne ihrer Auf-
abenbestimmung bei weitem nicht ausgeräumt, denn
uch die präzisere Aufklärung durch Tornados kann das
ohe Risiko ziviler Opfer offensichtlich nicht entschei-
end reduzieren. Der Einsatz deutscher Tornados ist für
ich damit kein Beitrag zur Stabilisierung der Lage in
fghanistan. Die Tornado-Entsendung hat Afghanistan
nsgesamt nicht sicherer gemacht, sondern eher weiter
estabilisiert.
Durch die unklare Trennung von ISAF und OEF ist
icht nur die Arbeit von ISAF gefährdet, sondern insbe-
ondere auch der zivile Wiederaufbau, der der entschei-
ende Schlüssel für Frieden in Afghanistan ist.
Hier teile ich ausdrücklich die Meinung vom Verband
ntwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisa-
ionen e. V. (VENRO), dass die internationale Hilfe und
nterstützung bei der Friedenssicherung nur gelingen
ann, wenn parallel zum Staatsaufbau („state building“)
uch der zivilgesellschaftiiche Aufbau vorangetrieben
ird.
Aus diesen Gründen unterstütze ich ausdrücklich die
orderung, dass eine Abkehr vom Primat des Militäri-
chen hin zu einer weiteren Stärkung der Zivilgesell-
chaft und einer konsequenten Fortsetzung der sinnvol-
en Wiederaufbauhilfe sich auch in der Bereitstellung
on Finanzmitteln widerspiegeln muss. Dies ist aber
19582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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meines Erachtens nach bisher nicht ausreichend gesche-
hen.
Deshalb sind für mich persönlich die Konsequenzen:
Deutschland sollte unverzüglich aus OEF aussteigen und
sich ernsthaft und massiv auf internationaler Ebene dafür
einsetzen, OEF endlich zu beenden. Der Tornado-Ein-
satz sollte unverzüglich beendet werden. Die finanziel-
len Mittel für den zivilen Wiederaufbau müssen signifi-
kant erhöht werden.
Nur, wenn diese Forderungen umgesetzt werden,
kann ISAF ihr Mandat wirklich effektiv ausfüllen. So-
lange dies aber nicht geschieht, kann ich dem vorliegen-
den Antrag nicht zustimmen, da er in dieser Form mei-
nes Erachtens nicht für mehr Sicherheit in Afghanistan
sorgen kann.
Ich sehe die Arbeit der ISAF durch den vorliegenden
Antrag eher gefährdet, da er durch den Einsatz der Tor-
nados die unzureichende Abgrenzung von ISAF und
OEF noch verstärkt und somit den zivilen Wiederaufbau
– den ISAF nicht nur durch den Schutz der Bevölkerung,
sondern auch der in Afghanistan tätigen Organisationen
unterstützen soll – ernsthaft gefährdet.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ich
stimme dem Antrag nicht zu, da ich ihn verfassungs-
rechtlich für fragwürdig, ethisch für nicht gerechtfertigt
und politisch für falsch halte. Diese Auffassung habe ich
bereits in den vergangenen sieben Jahren vertreten und
fühle mich durch die zunehmende Radikalisierung in
diesem Land darin bestärkt. Es fehlt nicht an militäri-
schen Begründungen für den Auslandseinsatz unserer
Soldaten in Afghanistan, sondern an politischen Per-
spektiven. Wenn jetzt sogar Oberbefehlshaber der Streit-
kräfte den Erfolg der Verbündeten in diesem Land
grundsätzlich in Frage stellen, ist endgültig ein Kurs-
wechsel nötig. Ich bin für einen schrittweisen Abzug.
Als vor sieben Jahren die Regierung Gerhard Schrö-
der/Joschka Fischer im Kampf gegen den Terrorismus
den Bundestag um Zustimmung zum Auslandseinsatz
der Bundeswehr aufforderte, habe ich bereits mit „Nein“
gestimmt – aus verfassungsrechtlichen, historischen und
moralischen Gründen. Jetzt, sieben Jahre später, ist die
Afghanistan-Mission fragwürdiger denn je, obwohl al-
lein die Bundesrepublik sich mit über 3 Milliarden Euro
seit 2001 hier engagiert hat. Die Sicherheitslage für un-
sere Soldaten hat sich dramatisch verschlechtert. Afgha-
nistan ist weiter eines der größten Opium-Anbaugebiete
der Welt geblieben. Es ist nicht gelungen, die Taliban
wirklich zu schwächen. Im Gegenteil, sie weichen in das
pakistanische Grenzgebiet aus und neue, unübersehbare
Risiken entstehen. Es hat schon viel zu viele Opfer gege-
ben – aus unserem Land wie aus denen der Verbündeten.
Besonders im Süden des Landes, wo die Amerikaner
gegen die Taliban kämpfen, werden die Soldaten nicht
als Befreier sondern als Besatzer empfunden. Erste Län-
der wie die Niederlande und Kanada haben ihren Abzug
bereits beschlossen. Weitere Verbündete erwägen den
Ausstieg. Auch die Bundesregierung ist gut beraten,
nicht nur auf die Erhöhung des Kontingents um
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000 Soldaten zu setzen, sondern gleichzeitig auf eine
usstiegsstrategie. Die afghanische Regierung kann und
uss mehr Eigenverantwortung übernehmen. Sie und
lle Verbündeten sind jetzt aufgefordert, zu einer politi-
chen Antwort zu kommen.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
en Antrag der deutschen Bundesregierung auf Fortset-
ung der Beteiligung der Bundeswehr an der internatio-
alen Sicherheitsunterstützungstruppe lehne ich ab.
Es ist wieder ein Jahr vergangen, sicherlich nicht ge-
ug, um ein seit Jahrzehnten gequältes Land wie Afgha-
istan dauerhaft zu stabilisieren, aber doch ausreichend,
m zu überprüfen, ob wir den im letzten Herbst be-
chworenen Zielen durch den militärischen Einsatz we-
igstens ein Stück näher gekommen sind und ob die Er-
olge den Preis rechtfertigen; immerhin haben seitdem
uch deutsche Soldaten dort ihr Leben gelassen, von den
inanziellen Belastungen gar nicht zu sprechen. Die Bi-
anz ist ernüchternd: Die Situation der afghanischen Be-
ölkerung hat sich kaum verändert. Der als vergleichs-
eise friedlich geltende Norden wird immer öfter Ziel
on Terroranschlägen. Nach wie vor steht die schwache
egierung unter dem Einfluss von skrupellosen War-
ords und Kriegsgewinnlern, und die USA versuchen im-
er weniger zu verschleiern, dass es ihnen nicht um den
iederaufbau des Landes geht, dafür aber um die
urchsetzung ihrer ureigensten Interessen.
Selbst dort, wo Verbesserungen spürbar sind, ist es
nbewiesen, ob sie wegen oder trotz der ISAF-Präsenz
tattfinden und ob diese Verbesserungen nicht durch an-
ere, nichtmilitärische Maßnahmen schneller vorange-
rieben würden. Fest steht, die Menschen in Afghanistan
ind kriegsmüde, und die Stimmung dort richtet sich im-
er stärker gegen alles Militärische, egal welche Uni-
orm die Soldaten tragen.
Alle Forderungen nach einem Strategiewechsel sind
isher politisch nicht umgesetzt worden. Im Mai dieses
ahres haben sich über 3 000 Stammesvertreter, Intellek-
uelle und Politiker aus allen Teilen Afghanistans zu ei-
er nationalen Friedens-Jirga zusammengeschlossen. Sie
erden unterstützt von einer Vielzahl von deutschen
riedensinitiativen, unter anderem auch der Aachener
riedenspreis e. V., und haben eine gemeinsame Erklä-
ung zu Afghanistan herausgegeben. Meiner Meinung
ach sollte es politisches Ziel sein, diese Bewegung auf-
unehmen, zu stärken und in die weiteren Verhandlun-
en und Friedensbemühungen einzubeziehen. Das ist
eine Vorstellung einer verantwortungsvollen Wieder-
ufbaupolitik, in deren Fokus eine dauerhafte Stabilisie-
ung Afghanistans steht.
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ch lehne den Antrag der Bundesregierung auf Fortset-
ung der Beteiligung der Bundeswehr an der internatio-
alen Sicherheitsunterstützungstruppe ab.
Der Einsatz in Afghanistan wurde vor sieben Jahren
egonnen, um die Verantwortlichen für die Anschläge
om 11. September 2001 der Gerechtigkeit zuzuführen.
eit Jahren zielt die militärische Gewalt der ausländi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19583
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schen Truppen genau auf eine Vernichtung des Wider-
standes im Land. Die Ergebnisse dieser Strategie sind
verheerend.
Die Sicherheitslage in Afghanistan wird von Jahr zu
Jahr schlechter, obwohl seit Beginn des Krieges die Zahl
der eingesetzten NATO-Soldaten auf circa 65 000 deut-
lich angehoben wurde. Die rücksichtslose Kriegsführung
vor allem der US-Truppen schürt Racheakte und An-
schläge und ist damit nicht nur unverantwortlich, son-
dern auch kontraproduktiv. Die Zahl der Opfer bei An-
schlägen und beim Anti-Terrorkrieg steigt dramatisch.
Im Jahr 2008 sind bisher über 3 000 Menschen getötet
worden, davon mehr als 1 000 Zivilisten, viele Frauen
und Kinder. Tausende wurden verwundet und verstüm-
melt. ACBAR, eine Dachorganisation von 100 Hilfs-
organisationen, gibt an, dass der Sommer 2008 der bis-
her verlustreichste seit 2001 war. Die Zahlen der Opfer
sind dabei um circa 40 Prozent gestiegen. Fast die Hälfte
der zivilen Opfer fällt der US-Luftkriegsführung zum
Opfer. Die Zahl zerstörter Gebäude und Versorgungsein-
richtungen übersteigt häufig die der wieder aufgebauten.
Ein Ende dieser Eskalation des Krieges ist nicht in
Sicht; ganz im Gegenteil. Gemeinsam mit der Kriegs-
führung führt sie selbst dazu, dass die, die bekämpft wer-
den sollen, immer stärker werden. Die zunehmende Ge-
walt ist eine entscheidende Ursache dafür, dass der Hass
gegen die ausländischen Truppen wächst und sich immer
mehr am Krieg gegen diese beteiligen. Politische und
humanitäre Ziele werden dadurch immer schwerer er-
reichbar. Der britische Botschafter Cowper-Coles hat lei-
der recht, wenn er sagt, die ausländischen Truppen in
Afghanistan seien „Teil des Problems, nicht der Lö-
sung.“
Die Regierung hat im letzten Jahr versprochen, dass
sich die Sicherheitsstrategie in Afghanistan ändern wird.
Dieses Versprechen eines Strategiewechsels ist ohne
Umsetzung geblieben, im Gegenteil, man will das deut-
sche Truppenkontingent nur erhöhen. Trotz anderer Be-
hauptungen bleiben die zivilen Anstrengungen weit hin-
ter den militärischen zurück. Während nicht einmal die
zugesagten 50 Polizeiausbilder nach Afghanistan ge-
schickt werden, wird die Zahl der Soldatinnen und Sol-
daten von 3 500 auf 4 500 erhöht. Die Kosten alleine
dieses Mandates für 14 Monate betragen 688 Millionen
Euro, während die Ausgaben für den zivilen Aufbau ge-
rade einmal etwa ein Viertel davon ausmachen.
Es ist aus unserer Sicht unklug und unverantwortlich,
einfach so weiterzumachen. Die Gewaltspirale kann
durch immer mehr Soldatinnen und Soldaten und militä-
rische Mittel nicht durchbrochen werden. Gerade asym-
metrische Kriege sind militärisch nicht zu gewinnen,
und eine Alternative zur Eskalation der Gewalt ist längst
überfällig. Die Grünen sind sich der Verantwortung der
Bundesrepublik Deutschland für die Menschen in Af-
ghanistan bewusst. Die afghanische Bevölkerung hilft
seit Jahren mit, dort einen funktionierenden Staat aufzu-
bauen, und wäre durch einen Rückfall des Landes an die
Taliban massiv gefährdet. Gerade im Bewusstsein dieser
Verantwortung treten wir entschieden für einen Politik-
wechsel ein.
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Ich halte fest: Die bisherige Strategie ist gescheitert,
ie schadet und verschärft den Krieg. Ein Wechsel der
trategie – weg vom Militärischen, hin zum Zivilen – ist
icht in Sicht.
Deshalb lehne ich den Antrag der Bundesregierung
b.
Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Mehrfach habe ich in
er Vergangenheit meine Zustimmung zum Afghanis-
aneinsatz der Bundeswehr mit der Forderung nach ei-
em Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Stabilisie-
ung und zum Wiederaufbau des Landes verbunden. Es
st ein großes Ärgernis, dass dieses Konzept bis heute
icht vorliegt. Ebenso wenig können wir nicht einmal
nsatzweise ein mögliches Ende des Militäreinsatzes de-
inieren. Ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass
in tragfähiges Konzept auch den Abzug der Angehöri-
en der Bundeswehr regelt. Deshalb setze ich mich für
in abgestimmtes Gesamtkonzept der ISAF-Staaten ein.
as ist angesichts der sich ständig verändernden Lage in
fghanistan dringend erforderlich.
Ich fordere deshalb an dieser Stelle erneut ein solches
onzept ein und kündige hiermit an, einer weiteren
andatsverlängerung letztmalig zustimmen zu können.
Meine Zustimmung zum heutigen Antrag fällt mir
eute besonders schwer, und sie geschieht ausschließlich
n der Überzeugung, unsere Soldaten im Auslandsein-
atz nicht im Stich lassen zu können. Ich weiß darum,
ie wichtig es für die Soldaten ist, unsere Unterstützung
n der Heimat zu haben.
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Der heute zur Be-
chlussfassung im Deutschen Bundestag anstehenden
eschlussempfehlung und dem Bericht des Auswärtigen
usschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur
ortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
treitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-
eitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) kann
ch aus den folgenden Gründen nicht zustimmen:
Erstens. Ähnlich wie im Irak gelingt es dem Westen
ffenbar nicht, ein demokratisches Staatswesen aufzu-
auen und die Menschen innerlich dafür zu gewinnen.
ielmehr hat sich die Sicherheitslage offenbar weiter
erschlechtert, und zwar auch in Gebieten, die bisher als
elativ sicher galten. Die westliche Aufbauhilfe soll an
roßen Teilen der Bevölkerung vorbeigehen und Armut,
orruption und Hoffnungslosigkeit zunehmen.
Zweitens. Die zunehmende Militarisierung führt zu
iner wachsenden Anzahl von unschuldigen Opfern un-
er der Zivilbevölkerung, hauptsächlich durch Luft-
ngriffe. Mittlerweile dürfte bei solchen sogenannten
ollateralschäden eine vielfache Anzahl an unschuldi-
en(!) Menschen getötet worden sein wie bei den
chrecklichen Terrorangriffen vom 11. September 2001
uf New York, die Ausgangspunkt unseres Engagements
aren. Auch auf mehrfache Nachfragen war der Bun-
esverteidigungsminister nicht bereit, mir Angaben zu
ivilen Opfern in Afghanistan zu machen. Mit jedem un-
19584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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schuldig getöteten Zivilisten bekämpfen wir nicht den
Terror, sondern schaffen diesem neuen Zulauf.
Drittens. Ein realistisches Konzept des Westens für
Afghanistan vermag ich derzeit nicht zu erkennen. Vor
diesem Hintergrund kann ich es nicht verantworten,
deutsche Soldaten in einen lebensgefährlichen Einsatz
zu schicken. Wir brauchen vielmehr eine Grundsatz-
debatte darüber, wie die Bundesrepublik Deutschland
und der Westen insgesamt den Terror bekämpfen und
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan auf-
bauen können.
Jürgen Koppelin (FDP): Wie bisher werde ich ei-
nem Mandat für den Einsatz der Bundeswehr in Afgha-
nistan nicht zustimmen.
Ich halte es für völlig unrealistisch, dass die Bundes-
wehr und ihre Partner Afghanistan von den Taliban be-
freien können. Ständig wird auch über neue militärische
Strategien für den Einsatz gesprochen, doch der Konflikt
ist mit militärischen Mitteln nicht zu lösen. Leider lässt
auch die Zusammenarbeit im zivilen Aufbau keine
Koordination durch die Bundesregierung erkennen.
Doch auch im militärischen Bereich sind erhebliche
Mängel deutlich geworden.
Der Einsatz der KSK seit mehreren Jahren in Afgha-
nistan war völlig überflüssig und hätte längst durch das
Bundesministerium der Verteidigung gestoppt werden
müssen. Es wird dringend Zeit, dass die Bundesregie-
rung klare Perspektiven für die Beendigung des Einsat-
zes in absehbarer Zeit aufzeigt. Die Menschen in Afgha-
nistan müssen endlich wieder Klarheit haben, dass sie
nicht in einem besetzten Land leben.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bun-
desregierung hat es auch in diesem Jahr versäumt, den
von uns Grünen dringend angemahnten militärischen
und zivilen Strategiewechsel umzusetzen. Halbherzige
Maßnahmen, kein ausreichendes Engagement zur Ver-
besserung der Situation und vor allem keine wirkliche
Umsetzung der Prämisse „Zivil vor Militär“ bewegen
mich, dieses Mal mit Nein zu stimmen. Ein „Weiter so“,
wie es der Antrag der Bundesregierung impliziert, ist die
falsche Reaktion auf die Realität in Afghanistan.
Die Situation in Afghanistan hat sich seit der letzten
Abstimmung im Deutschen Bundestag kontinuierlich
weiter verschlechtert. Die Bevölkerung erlebt trotz eini-
ger Verbesserungen ihrer Lebenssituation in Bereichen
wie Gesundheit, Wasser und Energie, dass Anschläge
und Übergriffe durch die Taliban und andere militante
Gruppen zugenommen haben und die Lage im Land im-
mer instabiler wird. Die Erfolge des Aufbaus sind damit
gefährdet, ja es sind sogar Rückschläge zu verzeichnen.
Und diese Rückschläge haben Ursachen:
Zum einen liegen sie darin, dass die internationale
Gebergemeinschaft die Fehler der ersten Jahre (zum Bei-
spiel mangelnde Abstimmung, Vernachlässigung der
Landwirtschaft, falsche Mittelverwendung) in den letz-
ten Jahren nicht durch massive Gegenmaßnahmen über-
wunden hat, Polizei- und Justizaufbau weiterhin nur un-
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ureichend vorangetrieben werden und immer noch
eine politische, wirtschaftliche und finanzielle Bünde-
ung aller Kräfte vollzogen wird, damit tatsächlich die
fghanische Seite so früh wie möglich zur Übernahme
olitischer Eigenverantwortung befähigt wird. Zum an-
eren ist zu beklagen, dass die militärischen Operationen
nter OEF (Operation Enduring Freedom) fortgeführt
erden. Damit wird letztlich der von den Vereinten
ationen legitimierte Auftrag von ISAF zur Sicherung
es Friedens konterkariert. Weiterhin findet der von mir
bgelehnte Tornadoeinsatz seine Fortsetzung.
Als Entwicklungspolitikerin setze ich mich dafür ein,
fghanistan und seine Menschen auf den Weg in Eigen-
erantwortung und Frieden zu begleiten. Dazu bedarf es
iner langjährigen, intensiven und lernfähigen Zusam-
enarbeit. Nur langsam und zögerlich hat sich die Bun-
esregierung dazu drängen lassen, in Deutschland mit
ehr Informationen über die entwicklungspolitischen
aßnahmen und die Situation in Afghanistan für Unter-
tützung zu werben. Zu langsam und spärlich bleibt die
rhöhung der Mittel für den zivilen Aufbau. Zu gering
leibt die Einsicht, Fehler gemacht zu haben. Es fehlt ein
irklicher Strategiewechsel, der auch der deutschen Be-
ölkerung Mut macht und Verständnis dafür weckt, die
chwierige Situation in Afghanistan positiv zu begleiten.
ie Kritik am eingeschlagenen Weg verhallt bislang.
uch deswegen steht mein Entschluss, vor diesem Hin-
ergrund mit Nein zu stimmen.
Doch es gilt eines klarzustellen. Da es Gruppen der
aliban in der Region (Afghanistan/Pakistan) gibt, die
icht davor zurückschrecken, mit Gewalt und Terror
ieder an die Macht kommen zu wollen, braucht es die
ach Kapitel VII VN-Charta mandatierte ISAF-Schutz-
ruppe. Ich bin ausdrücklich nicht der Meinung, dass
eutschland sich von dem Ziel des Aufbaus Afghanis-
ans verabschieden soll. Auch einen sofortigen Abzug
on ISAF halte ich für falsch. Und dies wird auch aus
fghanistan heraus nicht gefordert. Ich unterstreiche die
otwendigkeit, dass der afghanische Aufbau- und Frie-
ensprozess noch immer durch ISAF abzusichern ist.
nsere grünen Aufrufe für eine Veränderung der Strate-
ie hin zu einem durch und durch zivilen Ansatz, der die
ilitärischen Fehlleistungen beendet, sind jedoch von
er Bundesregierung nicht gehört worden. Mit meiner
nthaltung vom 12. Oktober 2007 wollte ich signalisie-
en, dass die zivilen Ziele Priorität erhalten müssen. Das
st jedoch bis heute nicht der Fall. Daher will ich aus der
pposition heraus meine Kritik am falschen Weg der
undesregierung mit einem Nein verstärken.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
ehne den Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung
er Beteiligung der Bundeswehr an dem Einsatz der In-
ernationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-
istan ab.
Ich stelle fest: In Afghanistan gibt es zwei gegenläu-
ige Entwicklungstendenzen. Es ist einerseits unbestreit-
ar, dass es Aufbauerfolge in Afghanistan gibt. Die Zahl
er Schülerinnen hat sich vervielfacht, der Zugang zur
esundheitsversorgung hat sich verbessert und die Infra-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19585
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struktur wird nach und nach aufgebaut. Zur Ermögli-
chung und Absicherung dieser Fortschritte hat die Bun-
deswehr durchaus einen wichtigen Beitrag geleistet, der
auch in Zukunft notwendig sein wird.
Andererseits ist offenkundig, dass es eine negative,
destruktive Dynamik gibt, die zurzeit deutlich größer ist
als die positive. Fragile Staatlichkeit, anhaltende Armut,
Korruption und Drogenkriminalität im Süden Afghanis-
tans bilden den Hintergrund für disparate Strukturen der
kriminellen Gewalt und des religiös motivierten Terrors.
Die militärische Bekämpfung der diversen aufständi-
schen Gruppen, die keineswegs alle unter der Sammel-
bezeichnung „Terroristen“ zusammengefasst werden
können, hat im letzten Jahr zunehmend zivile Opfer ge-
fordert. Insbesondere im Süden und Osten des Landes
nährt der sogenannte Antiterrorkampf der US-Streit-
kräfte die Unzufriedenheit und Wut der Bevölkerung.
Der Krieg gegen den Terror diskreditiert und konterka-
riert in weiten Teilen des Landes die Wiederaufbauhilfen
der internationalen Gemeinschaft. Der asymmetrische
Krieg gegen amorphe, schwer fassbare Mördergruppen
ist mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen und treibt
unter der Inkaufnahme hoher Zahlen ziviler Opfer den
diversen gewalttätigen Gruppen neue Mitglieder zu. Ein
Wechsel der militärlastigen Strategie ist vor diesem Hin-
tergrund überfällig und meine Fraktion, Bündnis 90/Die
Grünen, hat diesen im vergangenen Jahr immer wieder
gefordert. Alle Anträge, die von meiner Fraktion mit der
Forderung nach einem Kurswechsel eingebracht wur-
den, sind von den Koalitionsfraktionen SPD und CDU/
CSU abgelehnt worden, obwohl sie in den Reihen vieler
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen
durchaus zustimmend kommentiert wurden und obwohl
sie dem Vernehmen nach auch von Seiten der Bundes-
wehr begrüßt worden waren.
Angesichts dessen kann ich nicht hinnehmen, dass die
Bundesregierung in ihrem Antrag an den Deutschen
Bundestag keinerlei kritische Würdigung der ambivalen-
ten Lage in Afghanistan vornimmt. Die Bundesregie-
rung unterlässt jede Kritik am völlig unverhältnismäßig
geführten Krieg – ja sie ist nicht einmal zu einer diplo-
matisch verklausulierten Problematisierung der US-
Kriegsführung in der Lage. Die Bundesregierung deutet
nicht einmal im Ansatz die Notwendigkeit eines Kurs-
wechsels an und beschönigt selbstzufrieden die Situation
im Land, obwohl nach Auffassung aller Afghanistanex-
perten eine Verschlechterung der Sicherheitslage droht.
Natürlich kann der negative Trend in Afghanistan
nicht allein von deutscher Seite gestoppt und umgekehrt
werden; hierzu bedarf es ganz besonderer Anstrengun-
gen auf afghanischer, auf internationaler und auf deut-
scher Seite. Zur Mandatsverlängerung des deutschen
ISAF-Einsatzes hätte die Bundesregierung die große
Chance – wenn nicht die Pflicht – gehabt, ein Zeichen
zur Trendumkehr zu setzen. Dies ist nicht geschehen.
Lediglich kleine Verbesserungen sind bei der Aufsto-
ckung der Mittel zum zivilen Aufbau zu verzeichnen. Ei-
nem Antrag, der den politischen Willen zur Trend-
umkehr durch einen Kurswechsel hätte erkennen lassen,
hätte ich zugestimmt. So aber bleibt angesichts des tau-
ben Festhaltens an einer offensichtlich gescheiterten
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trategie nur, den Antrag der Bundesregierung abzuleh-
en.
Mir ist völlig bewusst, dass ich mich mit meinem
Nein“ zu diesem Antrag dem Vorwurf aussetze, ich
ürde die Afghanen „im Stich lassen“. Mit dieser Erklä-
ung will ich deshalb auch deutlich klarstellen, dass ich
m Grundsatz ein weiteres Engagement der Bundeswehr
m Rahmen der internationalen Gemeinschaft in Afgha-
istan für unverzichtbar halte und keinesfalls einen so-
ortigen Abzug der internationalen Truppen fordere. Die
bsicherung des Prozesses zur Bildung von Staatlich-
eit, von zivilen Strukturen und von wirtschaftlicher Un-
bhängigkeit wird noch für längere Zeit von nichtafgha-
ischen Militär- und Polizeikräften abhängen. Doch
hne eine klare Transformation dieser Absicherung hin
u einem vorwiegend zivilen Aufbauprojekt droht eine
skalierende Gewaltdynamik.
Daher komme ich anhand des konkret vorliegenden
ntrags der Bundesregierung zu meinem Entschluss,
iesen zurückzuweisen, ohne das Ziel einer Aufbau-
nstrengung für Afghanistan und einer Friedenskonsoli-
ierung aus den Augen zu verlieren.
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Ich habe bereits
n der Vergangenheit meine Zustimmung zum Afghanis-
an-Einsatz der Bundeswehr mit der Forderung nach ei-
em Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Stabilisie-
ung und zum Wiederaufbau des Landes verbunden. Es
st ein großes Ärgernis, dass dieses Konzept bis heute
icht vorliegt. Ebenso wenig können wir nicht einmal
nsatzweise ein mögliches Ende des Militäreinsatzes de-
inieren. Ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass
in tragfähiges Konzept auch den Abzug der Angehöri-
en der Bundeswehr regelt. Deshalb setze ich mich für
in abgestimmtes Gesamtkonzept der ISAF-Staaten ein.
as ist angesichts der sich ständig verändernden Lage in
fghanistan dringend erforderlich.
Meine Zustimmung zum Antrag fällt mir heute be-
onders schwer. Sie geschieht ausschließlich in der
berzeugung, unsere Soldaten im Auslandseinsatz nicht
m Stich lassen zu können. Ich weiß, wie wichtig es für
ie Soldaten ist, Unterstützung in der Heimat zu haben.
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ach reiflicher Überlegung habe ich mich dazu ent-
chlossen, dem Antrag der Bundesregierung zur Beteili-
ung von deutschen Soldatinnen und Soldaten an der
SAF-Schutztruppe in Afghanistan nochmals zuzustim-
en. Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen,
eil ich viel Kritik an der Afghanistan-Politik der Bun-
esregierung und anderer NATO-Partner habe.
Dennoch musste ich mich auch als Oppositionspoliti-
erin in dieser konkreten Bundestagsabstimmung der
rage stellen, ob die Situation in Afghanistan mit diesem
eutschen Militärbeitrag oder mit einem Abzug der Bun-
eswehr besser würde. Weder die Umsetzung des ge-
amten ISAF-Mandates durch die NATO, die Operation
nduring Freedom (OEF) noch das Afghanistan-Kon-
ept der Bundesregierung standen heute zur Abstim-
ung. Vielmehr ging es ausschließlich um den deut-
19586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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schen Beitrag zur ISAF, vor allem im Norden des
Landes. Ich bin der Auffassung, dass dieser fortgesetzt
werden muss, weil er sinnvoll und elementar wichtig für
die Menschen in Afghanistan und den zivilen Aufbau ist.
Gleichzeitig teile ich aber auch die Analyse, dass sich
die Situation in Afghanistan seit der letzten Abstimmung
über den deutschen ISAF-Beitrag nicht verbessert hat.
Vor allem die Sicherheitslage verschlimmert sich in allen
Teilen des Landes. Angriffe der Aufständischen auf die
Zivilbevölkerung und Soldaten nehmen zu und fordern
viele unschuldige Opfer. Aber auch die verstärkten Luft-
angriffe vor allem der US-amerikanischen Streitkräfte
kosten viele Zivilisten das Leben. Außerdem verliert die
internationale Gemeinschaft durch diese aggressive Poli-
tik immer mehr die Unterstützung von weiten Teilen der
afghanischen Bevölkerung.
Jenseits der konkreten Abstimmung heute im Bundes-
tag ist daher ein Kurswechsel der Bundesregierung
– aber mehr noch der anderen NATO-Partner – dringend
geboten. Statt auf Luftangriffe muss auf Verhandlungen
gesetzt werden, statt auf eine Ausweitung der militäri-
schen Bekämpfung der Drogenbauern auf die Schaffung
von wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven. Die
zivile Hilfe und der Polizeiaufbau müssen dringend aus-
geweitet werden und der Bevölkerung in allen Provinzen
zugutekommen. Die Bundesregierung muss sich unter
anderem dafür einsetzen, dass der OEF-Einsatz beendet
wird, gegen den Drogenanbau mit anderen Mitteln vor-
gegangen wird und intensivere Verhandlungen sowohl
mit afghanischen Oppositionellen als auch regionalen
Nachbarn geführt werden.
Diese dringend notwendigen Strategieveränderungen
können jedoch nur das Ergebnis von multilateralen Ver-
handlungen nicht zuletzt auch mit den Afghaninnen und
Afghanen selber sein und lassen sich nicht unilateral
durch Bundestagsbeschluss bestimmen. Auf internatio-
naler Ebene muss die Bundesregierung Kritik – vor al-
lem an dem kontraproduktiven militärischen Vorgehen
der NATO-Partner – deutlicher einbringen.
Um ein Signal zu setzen, dass ein Kurswechsel drin-
gend notwendig ist, hätte ich mich bei der heutigen Ab-
stimmung auch enthalten können, wie viele andere grüne
MdBs. Dieses habe ich auch ernsthaft erwogen und mir
die Entscheidung für eine Zustimmung nicht leicht ge-
macht. Schlussendlich kann ich es aber vor meinem Ge-
wissen nicht verantworten, die Entscheidung über den
Auslandseinsatz von deutschen Soldaten anhand von
taktischen Überlegungen wie dem Signal der Kritik an
der allgemeinen Afghanistan-Politik zu fällen. Aus-
schlaggebend für mich ist der Inhalt des zur Abstim-
mung stehenden Mandates. Diesem muss ich zustim-
men, denn selbst wenn alle oben aufgeführten
Änderungen an der Afghanistan-Politik vorgenommen
werden würden, müsste es einen deutschen ISAF-Bei-
trag in dieser Größenordnung und Ausgestaltung geben,
um den zivilen Aufbau militärisch abzusichern.
Denn ich stelle mir immer die Frage: Was wäre, wenn
alle so abstimmen würden wie ich? Würde der Deutsche
Bundestag einer Verlängerung des ISAF-Mandats nicht
zustimmen, müsste Deutschland sich unilateral sofort
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us der Gesamtverantwortung eines UN-mandatierten
insatzes zurückziehen. Das kann ich bei aller Kritik als
ertreterin einer multilateralen Außenpolitik nicht ernst-
aft fordern. Wenn alle ISAF-Soldaten kurzfristig abge-
ogen werden würden, würde das Ausmaß des Bürger-
rieges deutlich eskalieren. Damit würden wir vor allem
ie Leben derjenigen aufs Spiel setzen, die momentan an
iner demokratischen Ordnung für Afghanistan arbeiten.
ann würden wir nicht mehr über eine Ausweitung der
ivilen Hilfen diskutieren, sondern über den Abzug der
nternationalen NGOs aus Sicherheitsgründen.
Insbesondere vor dem Hintergrund der US-Wahlen im
ovember und der afghanischen Wahlen nächstes Jahr
esteht noch Hoffnung für eine friedliche Zukunft
fghanistans. Deshalb dürfen wir die Afghaninnen und
fghanen jetzt nicht im Stich lassen.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
em Bundestag vorliegende Mandat zu ISAF als UN-
andatierter international getragener Einsatz regelt zen-
rale Bereiche einer militärischen Absicherung des zivi-
en Aufbaus. Für die Bundeswehr bedeutet das konkret
ie Unterstützung der afghanischen Regierung bei der
ufrechterhaltung der Sicherheit und die Sicherung der
n der Stabilisierung und am Wiederaufbau beteiligten
kteure sowohl der afghanischen Organisationen als
uch der internationalen Hilfsorganisationen.
Neben der Absicherung des zivilen Aufbaus kommt
SAF in den nächsten 14 Monaten noch eine weitere
ufgabe zu. Sie soll die Absicherung der afghanischen
räsidenten-, Provinz- und Parlamentswahlen im nächs-
en Jahr gewährleisten. Dies und die zusätzlichen Aufga-
en, die die Bundeswehr bei der Ausbildung der afgha-
ischen Sicherheitskräfte leisten soll, rechtfertigt die
ufstockung des deutschen Kontingents. Der militäri-
che Beitrag, der in Afghanistan geleistet wird, kann je-
och immer nur die Absicherung des humanitären Wie-
eraufbaus bedeuten. Es bleibt die Forderung nach
inem Strategiewechsel, nach einer zivilen Offensive für
fghanistan.
Der deutsche Beitrag für die zivile Hilfe wurde auf
70 Millionen Euro aufgestockt. Das ist zwar ein Schritt
n die richtige Richtung, reicht aber nicht aus. Deutsch-
and und seine internationalen Partner müssen sowohl
en Umfang der Hilfe ausweiten als auch die Koordinie-
ung ihres zivilen Engagements verbessern, damit die
ilfe bei den Menschen in Afghanistan auch wirklich
nkommt. Besonders in den ländlichen Regionen ist
och viel zu tun. Die Mohnbauern brauchen glaubwür-
ige Alternativangebote zum Drogenanbau, und das
hema Korruption muss engagierter angegangen wer-
en.
Leider hat sich in weiten Teilen des Landes die Si-
herheitslage im Vergleich zu 2007 verschlechtert. Be-
onders erschütternd ist die gestiegene Zahl ziviler Op-
er, die nicht zuletzt den militärischen Alleingängen der
ündnispartner zuzuschreiben ist. Das bedeutet: Die
ölkerrechtswidrige Operation Enduring Freedom
OEF) muss sofort beendet werden. Künftig soll nur
SAF in Afghanistan aktiv sein, denn diese Mission ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19587
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mit einem klaren UN-Mandat ausgestattet und hat den
Auftrag, im ganzen Land die zivilen Aufbauprojekte zu
schützen und zu unterstützen.
Trotz aller Probleme: Der Afghanistan-Einsatz der in-
ternationalen Gemeinschaft hat seit 2001 deutliche Ver-
besserungen in Afghanistan bewirkt. Heute gibt es in
Afghanistan ein Parlament, eine Verfassung, eine Regie-
rung und eine Verwaltung.
Das Pro-Kopf-Einkommen im Land hat sich seit 2001
verdreifacht. Die Quote der schulpflichtigen Kinder, die
tatsächlich die Schule besuchen, hat sich verfünffacht;
sie liegt jetzt bei 50 Prozent, ein Drittel davon sind Mäd-
chen. 85 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Ba-
sisgesundheitsdiensten, und die Kindersterblichkeit ging
nach Angaben von UN-Organisationen um 25 Prozent
zurück, während die Lebenserwartung über den gesam-
ten Zeitraum gestiegen ist. Die Hälfte der Provinzen ist
mittlerweile frei von Drogenanbau. Die Städte Kabul,
Herat und Mazar-i-Sharif haben sich sehr positiv entwi-
ckelt.
Auch der Aufbau der afghanischen Armee (ANA)
geht besser voran als erwartet. Und auch wenn Presse-
meldungen manchmal einen gegenteiligen Eindruck er-
zeugen, ist Afghanistan nicht in einem flächendecken-
den Bürgerkrieg versunken. Rund 90 Prozent der
Sicherheitsvorfälle finden in den Süd- und Ostprovinzen
statt. Als besonders hoch gilt die Bedrohungslage heute
in 90 – und damit in knapp einem Viertel – der 400 Dis-
trikte Afghanistans. In weniger bedrohten Gegenden
geht der Wiederaufbau unterdessen weiter voran.
Ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt, ist die
Situation der Frauen in Afghanistan. Unter dem Taliban-
Regime seit Mitte der 90er-Jahre waren Frauen vom öf-
fentlichen Leben gänzlich ausgeschlossen, ihre Men-
schenrechtssituation war schrecklich. Mittlerweile haben
Frauen in Afghanistan wieder die Möglichkeit, am öf-
fentlichen Leben teilzunehmen; einige von ihnen sitzen
sogar im Parlament. Außerdem haben etwa 35 Prozent
der Mädchen einen Zugang zu Bildung. Trotzdem müs-
sen die Anstrengungen auch in diesem Bereich noch
deutlich ausgebaut werden.
Wie die Mehrheit der grünen Partei, ihrer Anhänger-
schaft und der grünen Bundestagsfraktion bin ich über-
zeugt, dass der zivile Aufbau und die politische Stabili-
sierung Afghanistans derzeit nicht ohne militärischen
Schutz möglich sind.
Ein sofortiger Rückzug von ISAF würde bedeuten,
das afghanische Volk und die zivilen Helferinnen und
Helfer vor Ort im Stich zu lassen und einen Rückfall des
Landes in einen Bürgerkrieg in Kauf zu nehmen. Die
deutsche ISAF-Beteiligung ist gerade auf afghanischer
Seite immer noch besonders hoch angesehen und ge-
wünscht; sie ist weiterhin unverzichtbar. Ein zügiger
Abzug des drittstärksten ISAF-Kontingents hätte wahr-
scheinlich eine Kettenreaktion zur Folge. Eine Beendi-
gung des militärischen Engagements Deutschlands
würde den gesamten Wiederaufbau und die Stabilisie-
rung Afghanistans infrage stellen.
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Es ist gut, dass das Parlament entscheidet, welchen
eitrag Deutschland in den weltweiten Krisenregionen
eistet und ob deutsche Soldatinnen und Soldaten ins
usland geschickt werden. Ich weiß, dass die Mehrheit
ür das Mandat auch ohne meine Stimme ausreichen
ürde, möchte aber bei einer Entscheidung solcher
ragweite so abstimmen, als käme es auf meine Stimme
n. Mit meinem Ja zu ISAF möchte ich ausdrücken, dass
ündnis 90/Die Grünen und ich ganz persönlich in Soli-
arität und Verantwortung zu Afghanistan stehen und die
ivilgesellschaft nicht durch Exit-Signale entmutigen.
ch möchte zeigen, dass wir hinter den Tausenden
rauen und Männern stehen, die sei es als zivile Aufbau-
elferinnen und -helfer oder in Uniform unter extremen
elastungen gute Arbeit geleistet haben.
Deshalb kann ich dem ISAF Mandat meine Zustim-
ung nicht verweigern.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
eit Beginn des deutschen Einsatzes in Afghanistan en-
agieren sich Bündnis 90/Die Grünen für den zivilen
ufbau, eine Stabilisierung der Sicherheitslage, die Ein-
altung der Menschenrechte und einen nachhaltigen, de-
okratischen Institutionenaufbau in Afghanistan.
Der Aufbauprozess kommt voran, jedoch viel zu
angsam. Es wurden Erfolge erzielt: Das Pro-Kopf-Ein-
ommen stieg in Afghanistan seit 2001 um das dreifa-
he, Frauen in Afghanistan können heute vielerorts am
ffentlichen Leben und den Bildungsstrukturen im Land
artizipieren, beim Drogenanbau ist erstmals seit Jahren
ine sinkende Tendenz zu beobachten. Doch diese Er-
olge sind bei weitem nicht ausreichend.
Unser Ziel ist es, den Stabilisierungs- und Aufbaupro-
ess so bald als möglich in afghanische Hände zu über-
eben und so die internationale Militärpräsenz überflüs-
ig zu machen. Doch davon sind wir in Afghanistan
eider noch weit entfernt. Aufbau und Ausbildung der af-
hanischen Armee und der Polizei hinken den Planun-
en hinterher. Sie müssten deutlich intensiviert werden.
Die Sicherheitslage im Land ist heute sehr fragil. Die
ahl der zivilen Opfer steigt weiter an, die Zahl der An-
chläge der Taliban und oppositioneller militärischer
räfte war seit 2001 nicht so hoch wie heute. Selbst im
islang vergleichsweise ruhigen Norden Afghanistans ist
ie Lage instabiler geworden.
Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung setzt
or allem auf ein „Weiter so“ und bietet keine Lösungen
ür die dringender werdenden Probleme. Die Entwick-
ung zeigt, dass in Afghanistan schwere Fehler gemacht
erden und das Engagment für den zivilen Aufbau wei-
erhin nur halbherzig ist.
Dabei werden schwerwiegende Defizite offensicht-
ich:
Erstens. Der ausbleibende Strategiewechsel seitens
er Bundesregierung und der internationalen Gemein-
chaft.
Wir brauchen deutlich mehr ziviles Engagement in
fghanistan. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, da-
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für spürbar mehr finanzielle Mittel bereitzustellen. An-
kündigungen reichen hierbei nicht aus, dem müssen
Taten folgen. Meine Fraktion hat vor einem Jahr mindes-
tens eine Verdopplung der von der Bundesregierung zur
Verfügung gestellten Mittel für den zivilen Aufbau ge-
fordert. Dies hat die Bundesregierung nicht berücksich-
tigt.
Zweitens. Die Fortsetzung der kontraproduktiven und
mittlerweile völkerrechtswidrigen Operation Enduring
Freedom.
Das militärisch unverantwortliche und mittlerweile
auch völkerrechtswidrige Vorgehen insbesondere von
OEF-Truppen hat in der Bevölkerung von Afghanistan
ein wachsendes Misstrauen gegen die internationalen
Truppen erzeugt. Auch ISAF, deren Aufgabe die Absi-
cherung und Unterstützung des Wiederaufbaus ist, wird
für dieses destruktive Vorgehen immer wieder in Mithaf-
tung gezogen.
Drittens. Die unzureichende Informationspolitik der
Bundesregierung.
Wenn es um Afghanistan geht, zeigt sich die Bundes-
regierung schmallippig. Beispielhaft dafür ist, dass das
Bundeskabinett den ISAF-Mandatstext erst wenige
Stunden vor der Einbringung in den Bundestag verab-
schiedete und veröffentlichte. Dieses Vorgehen knüpft
nahtlos an Kommunikationsdefizite der letzten Jahre an.
Diese Defizite sind unverantwortlich. Trotzdem gilt
es heute zu bewerten, was als Abstimmungsgrundlage
vorgelegt wurde. Dabei handelt es sich um das Mandat
für die weitere Beteiligung der Bundeswehr an der
ISAF-Mission – nicht weniger und nicht mehr. Bei mei-
nem Besuch Anfang September in Afghanistan konnte
ich mit vielen Akteuren aus der afghanischen Zivilge-
sellschaft ebenso wie aus der internationalen Gemein-
schaft sprechen. Vor allem Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter von Hilfsorganisationen machten mir deutlich,
dass ein Abzug der ISAF-Truppen katastrophale Folgen
für die Bevölkerung, den Wiederaufbau und die Versor-
gungssituation im Land hätte. Kurz: Die meisten Nicht-
regierungsorganisationen müssten ihre Arbeit einstellen.
Das bisher Erreichte wäre verloren.
Vor diesem Hintergrund bin ich der Überzeugung,
dass eine Fortsetzung der Bundeswehrbeteiligung an der
von den Vereinten Nationen mandatierten und von der
NATO geführten ISAF-Schutztruppe für die Sicherung
des Aufbaus in Afghanistan weiterhin notwendig und
unverzichtbar ist. Die Anhebung der Mandatsobergrenze
von 3 500 auf 4 500 Soldatinnen und Soldaten ist ange-
sichts der bevorstehenden Präsidenten-, Provinz- und
Parlamentswahlen, der erforderlichen Flexibilität und
dem Ziel, die afghanische Armeeausbildung schneller
voranzubringen, nachvollziehbar.
Hinsichtlich des Einsatzes der RECCE-Aufklärungs-
tornados hat es im Verlauf des vergangenen Jahres keine
Hinweise darauf gegeben, dass sie widerrechtlich Ein-
sätzen von OEF zugearbeitet haben. Aber auch die von
Verteidigungsminister Franz Josef Jung prophezeite Ab-
nahme der Zahl der zivilen Opfer haben die Tornados
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icht bewirkt. Mit dem vorgelegten Mandat ist ihr Ein-
atz weiterhin den Auflagen des ISAF-Mandates unter-
orfen. Wir werden auch in Zukunft die Einhaltung der
andatsrestriktionen kritisch begleiten.
Ich stimme der Verlängerung des ISAF-Mandates der
undeswehr zu, obwohl die Bundesregierung wesentli-
he Weichenstellungen für einen Strategiewechsel in der
fghanistanpolitik bislang verweigert hat. Heute geht es
arum, den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
enauso wie den Menschen in Afghanistan zu signalisie-
en, dass die Mitglieder des deutschen Parlaments ihr
ngagement für Freiheit und Selbstbestimmung weiter
nterstützen. An anderer Stelle wird es darum gehen, ein
tärkeres ziviles Engagement der Bundesrepublik, bei-
pielsweise beim Stabilitätspakt und in der Entwick-
ungszusammenarbeit, einzufordern.
Meine Zustimmung zur Verlängerung des Mandats
er Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten ist eine Ge-
issensentscheidung. Sie basiert auf den Eindrücken
nd Gesprächen während meiner Reise nach Afghanis-
an im September dieses Jahres, persönlichen Erfahrun-
en und dem Wunsch, den Menschen in Afghanistan
icht den Eindruck zu vermitteln, dass sich die deut-
chen Partner aus der Unterstützung der Stabilisierung
nd des Wiederaufbaus schrittweise verabschieden.
Maria Michalk (CDU/CSU): Der Einsatz der Interna-
ionalen Gemeinschaft für Afghanistan, und damit der
insatz der Bundeswehr beruht unverändert auf dem
iel, Afghanistan in einem sehr schwierigen Umfeld zu
tabilisieren und aufzubauen. Wir helfen der afghani-
chen Bevölkerung, ihre Lebensbedingungen zu stabili-
ieren, zu verbessern und abzusichern, damit die Taliban
hre Schreckensherrschaft nicht erneut in Afghanistan
ufbauen können. Unser Afghanistan-Engagement liegt
nverkennbar im deutschen Interesse Trotz der Fort-
chritte im Bildungsbereich, beim Aufbau der Justiz und
er Drogenbekämpfung sind unakzeptable Defizite, un-
er anderem durch Korruption, sichtbar. Unsere Hilfe
um Beispiel beim Aufbau eines rechtstaatlich arbeiten-
en Beamten-, Polizei-und Justizapparates soll die Re-
ierung, letztlich auch die Bevölkerung, in die Lage
ersetzen, einen demokratischen Staat aufzubauen, der
elbst für seine Sicherheit sorgen kann. Unser Einsatz in
fghanistan kann nicht von Dauer sein, aber neue Be-
rohungen erfordern eine Anpassung der Sicherheits-
olitik. Ich unterstütze politisch die Verlängerung und
ufstockung des ISAF-Mandats. Ich erwarte jedoch,
ass die verantwortungsvolle und realistische Möglich-
eit für die Rückkehr unserer Soldatinnen und Soldaten
us der Sorge der Bevölkerung heraus in Abstimmung
er internationalen Gemeinschaft geprüft, beachtet und
etztendlich umgesetzt wird.
Wolfgang Spanier (SPD): Die Fortsetzung der Be-
eiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein-
atz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe
ISAF) in Afghanistan unterstütze ich grundsätzlich
ach wie vor. 37 Staaten beteiligen sich an der ISAF-
ission im Auftrag der Vereinten Nationen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19589
(A) )
(B) )
Die Aufbauhilfe durch die Bundeswehr im Norden
Afghanistans halte ich aus humanitären und politischen
Gründen für einen wichtigen Einsatz. Das ISAF-Mandat
beinhaltet das Recht der Soldaten auf Selbstverteidi-
gung. Militärische Gewalt ist auch dann zulässig, wenn
es darum geht, die Regierung und die Menschen in Af-
ghanistan zu schützen. Ziel ist die militärische Sicherung
des Wiederaufbaus.
Der Wiederaufbau Afghanistans zeigt Erfolge. Positiv
zu bewerten ist, dass Deutschland die finanziellen Hilfen
von 80 Millionen Euro auf 140 Millionen Euro aufge-
stockt hat. Allerdings sollte die zivile Aufbauhilfe noch
deutlicher Vorrang vor dem militärischen Einsatz haben.
Ein Rückzug der Bundeswehr aus ISAF würde den
Wiederaufbau des Landes zunichte machen, die Men-
schen in Afghanistan im Stich lassen, das Land ins
Chaos stürzen, terroristischen Gruppen wieder freie
Hand geben.
Die bisher getrennten Bundestagsmandate für ISAF
sowie den Tornadoeinsatz werden in einem Mandat zu-
sammengeführt.
Nach wie vor kann ich dem Einsatz deutscher Aufklä-
rungsflugzeuge in Afghanistan nicht zustimmen. Die
Aufklärungsflugzeuge dienen nicht nur dem Schutz der
Bundeswehr im Norden Afghanistans. Mit dem geplan-
ten Einsatz von deutschen Tornados der Bundeswehr
engagiert sich die Bundeswehr beim Kriegseinsatz im
Süden Afghanistans im Rahmen der Operation Enduring
Freedom. Die Ergebnisse der Luftaufklärung können
auch militärischen Einsätzen dienen. Damit werden
deutsche Soldaten in Kampfhandlungen einbezogen, auf
deren Planung und Durchführung sie keinerlei Einfluss
haben.
Weil beide Mandate im Antrag der Bundesregierung
in einem Mandat zusammengeführt werden, kann ich
dem Antrag nicht zustimmen.
In der Gesamtwürdigung des Antrags der Bundes-
regierung enthalte ich mich der Stimme.
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Ich mache es mir
grundsätzlich nicht leicht, Auslandseinsätzen unserer
Bundeswehr zuzustimmen, handelt es sich doch um Ein-
griffe außerhalb unseres Staatsgebiets, die zudem nicht
abstrakt, sondern mit dem Einsatz von Soldatinnen und
Soldaten verbunden sind. Unsere Bemühungen müssen
dabei stets auch darauf gerichtet sein, unsere Soldatin-
nen und Soldaten schnellstmöglich sobald ihre Aufgaben
im Einsatz abgeschlossen sind, ihr Auftrag erfüllt wurde,
wieder zurückholen zu können. Ihre Sicherheit vor Ort
sowie die jederzeit sichere Rückholoption müssen best-
möglich gewährleistet sein.
Das gilt auch für den Einsatz in Afghanistan. Dort
müssen die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage
versetzt werden, selbst für staatliche Sicherheit zu sor-
gen bzw. Taliban und al-Qaida erfolgreich bekämpfen zu
können. Ein vorzeitiger Abzug der ISAF würde dieses
Ziel gefährden. Afghanistan würde wieder in die Hände
militanter Islamisten geraten und dadurch erneut zur Ba-
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is und zum Sprungbrett für den internationalen Terroris-
us werden. Dann wären Europa und damit auch die
eutsche Bevölkerung wieder direkt bedroht.
Ein erklärtes Ziel dieser Fundamentalisten ist die Er-
ichtung eines Staates, in dem jeder Nichtmuslime als
Ungläubiger“ gilt, der der Verfolgung anheim fällt, in
em es beispielsweise auch faktisch keine Frauenrechte
ibt. Dieses Ziel soll ausdrücklich mit Gewalt erreicht
erden.
Diese bekannten Absichten und die konkreten welt-
eiten Terroranschläge der letzten Jahre vor Augen
ngagieren sich über vierzig Nationen militärisch in
fghanistan. Sie wissen, dass sie dadurch auch ihre eige-
en Bevölkerungen schützen. Wer leichtfertig oder aus
opulistischen Gründen einen sofortigen Abzug der
eutschen Truppen aus Afghanistan fordert, gefährdet
as Leben unserer Bürgerinnen und Bürger im Lande.
Wir haben die Aufklärung verstärkt und alle techni-
chen Voraussetzungen geschaffen, damit unsere Solda-
innen und Soldaten ihren Auftrag gut erfüllen können.
ir erhöhen nochmals unseren Beitrag zum zivilen Wie-
eraufbau. Wir legen in Afghanistan einen noch größe-
en Schwerpunkt auf die Ausbildung der afghanischen
treitkräfte und Polizisten.
Nach alledem stimme ich dem vorliegenden Antrag
er Bundesregierung zu, da das Ziel richtig ist, der Auf-
rag nicht in Gänze erfüllt ist, es keine Alternativen gibt,
nd nur dieses Mandat in der vorliegenden Form die Si-
herheit der Truppe vor Ort und die sichere Rückhol-
ption bestmöglich gewährleistet.
nlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Kerstin Andreae, Cornelia
Behm, Hans-Josef Fell, Priska Hinz (Herborn)
und Dr. Thea Dückert (alle BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über
die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein-
satz der Internationalen Sicherheitsunterstüt-
zungstruppe in Afghanistan (International
Security Assistance Force, ISAF) unter Füh-
rung der NATO auf Grundlage der Resolution
1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt
Resolution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a)
Heute stimmt der Deutsche Bundestag über die Ver-
ängerung der von den Vereinten Nationen mandatierten
nternationalen Sicherheitsunterstützung (ISAF) ab.
Der begonnene – und leider stockende – zivile Wie-
eraufbau in Afghanistan ist unerlässlich. Viele Ziele
urden jedoch noch nicht erreicht, viele Projekte sind
ns Stocken geraten. Dennoch ist die Situation im Land
eute – trotz aller Rückschläge – in zentralen Bereichen
esser als 2001 unter der Taliban-Herrschaft. Rechtliche
tandards wurden etabliert, Grundlagen für staatliche In-
19590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
stitutionen geschaffen und große Fortschritte im Ge-
sundheits- und Bildungsbereich gemacht. Dies beschei-
nigen auch viele Gesprächspartner aus der afghanischen
Zivilgesellschaft. Nicht zuletzt hat sich vielerorts die Le-
benssituation von Frauen und jungen Mädchen verbes-
sert.
Wie viele Afghaninnen und Afghanen, aber auch vor
Ort tätige Hilfsorganisationen und NGOs sind wir der
Auffassung, dass eine internationale Sicherheitspräsenz
und damit eine militärische Absicherung des zivilen
Wiederaufbaus erforderlich ist. Die deutsche ISAF-Be-
teiligung ist gerade auf afghanischer Seite immer noch
besonders gut angesehen und gewünscht, sie ist weiter-
hin unverzichtbar. Dramatisch ist allerdings, dass die Si-
cherheitslage vor Ort schwieriger geworden ist und dass
es mehr zivile Opfer auf Seiten der afghanischen Bevöl-
kerung zu beklagen gibt. Insofern ist es nicht verwunder-
lich, dass die Bevölkerung zunehmend frustriert über die
als langsam empfundenen Fortschritte beim Wiederauf-
bau und das Agieren der eigenen – oft als korrupt wahr-
genommenen – Regierung ist.
Nun stehen wir in der Bundesrepublik als Parlamenta-
rier wieder vor der Frage, ob wir der Verlängerung des
ISAF-Mandats zustimmen.
Uns stehen drei Abstimmungsvarianten (Ja, Nein,
Enthaltung) zur Verfügung. Wir sind als freie Abgeord-
nete keinem imperativen Mandat verpflichtet, möchten
in der Abwägung und Entscheidungsfindung aber unter-
schiedlichste Aspekte berücksichtigen. Diese sind die
Position unserer Partei, die der deutschen Bevölkerung,
aber auch die der afghanischen Bevölkerung.
Sollten wir dem Mandat die Zustimmung verweigern
und mit „Nein“ stimmen, dann würde dies in der Konse-
quenz den sofortigen Abzug des Militärs aus Afghanis-
tan bedeuten. Wir können dies nicht verantworten.
Vor allem für die Menschen in Afghanistan wäre ein
„Nein“ ein falsches Zeichen. Wir haben eine Verpflich-
tung insbesondere gegenüber jenen vielen Afghaninnen
und Afghanen, die sich entschieden haben, sich am Auf-
bau des Landes zu beteiligen. Ohne die militärische Prä-
senz der internationalen Staatengemeinschaft wären
diese Menschen großen Gefahren für Leib und Leben
ausgesetzt. Mariam Notten, afghanische Soziologin und
jüngste Trägerin des taz-Panther-Preises, warnt für die-
sen Fall vor einem „Blutbad unvorstellbaren Ausmaßes.
Wenn heute die internationalen Truppen abzögen, wür-
den Taliban und Al-Qaida innerhalb von etwa einer
Woche wieder die Macht erobern. Zuerst würden jene
Hunderttausende Landsleute ermordet, die sich in den
letzten Jahren um den Wiederaufbau ihres Landes und
der Zivilbevölkerung bemüht haben. Dann würden
Frauen und Mädchen ins Visier genommen (…).“
(Publik-Forum 19/2008).
Es ist aber klar festzuhalten, dass eines der zentralen
Probleme der internationalen Gemeinschaft das Neben-
einander von zwei Missionen (ISAF und OEF) ist, damit
weder eine insgesamt abgestimmte internationale Strate-
gie vorliegt, noch eine deutliche Fokussierung auf den
zivilen Wiederaufbau gegeben ist. Seit langem fordert
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ie Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen ei-
en Strategiewechsel in Afghanistan, wie wir ihn in
ahlreichen Anträgen und Initiativen formuliert haben.
m Zentrum stehen für uns eine Beendigung der kontra-
roduktiven OEF-Mission in Afghanistan und Pakistan
nd der opferreichen militärischen Gegnerbekämpfung,
ine massive Aufstockung und Verbesserung der Quali-
ät des zivilen Aufbaus, ein entschiedenes Eintreten für
ie Menschenrechte in Afghanistan und eine regionale
trategie zur Befriedung Afghanistans sowie der Aufbau
iner wirtschaftlichen Perspektive, um dem Drogenan-
au Einhalt zu gebieten.
Dieser Strategiewechsel hat nur in sehr kleinen
chritten stattgefunden. Das ist dramatisch und spätes-
ens nach den Präsidentschaftswahlen in Amerika nicht
änger hinnehmbar. Wir hoffen, dass ein Wechsel in
merika insgesamt zu einer Veränderung der Strategie
eim Einsatz in Afghanistan führt und dass diese Chance
ann auch ergriffen und seitens der Bundesregierung
ingefordert wird.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschieden,
n der jetzigen Situation nochmals für die Verlängerung
es ISAF-Mandats zu stimmen. Eine Enthaltung wäre
ür uns keine klare Positionierung. Schließlich müssen
ir uns auch immer die Frage stellen, was wäre, wenn
as gesamte Parlament entscheiden würde wie wir.
Unser Abstimmungsverhalten ist wahrlich keine
eichte Entscheidung, und wir sind uns bewusst, dass wir
ei der Frage militärischer Einsätze immer auch über das
eben anderer Menschen entscheiden. Aber die Realität
wingt uns, anzuerkennen, dass wir dies auch tun, wenn
ir uns gegen einen Militäreinsatz entscheiden.
nlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Jerzy Montag,
Elisabeth Scharfenberg und Christine Scheel
(alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur nament-
lichen Abstimmung über die Beschlussempfeh-
lung zu dem Antrag der Bundesregierung:
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz der Inter-
nationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan (International Security Assistance
Force, ISAF) unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolution 1386 (2001) und fol-
gender Resolutionen, zuletzt Resolution 1833
(2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio-
nen (Tagesordnungspunkt 6 a)
Der seit sieben Jahren militärisch abgesicherte Wie-
eraufbauprozess in Afghanistan hat für die Lebenssi-
uation der Afghaninnen und Afghanen in vielen Berei-
hen große Fortschritte ermöglicht. Dazu zählen unter
nderem Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungs-
ereich und beim Aufbau der öffentlichen und wirt-
chaftlichen Infrastruktur des Landes. Dazu zählt auch,
ass in Afghanistan im kommenden Jahr die zweiten de-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19591
(A) )
(B) )
mokratischen Wahlen stattfinden werden. Dennoch kom-
men die Erfolge leider längst nicht bei allen Menschen
an. Noch immer ist kein klarer Strategiewechsel erkenn-
bar, der die Hauptanstrengungen auf den zivilen Aufbau
des Landes verstärkt.
Zudem hat sich das Nebeneinander von ISAF und den
Militäraktionen der OEF als kontraproduktiv erwiesen
und die Akzeptanz von ISAF in der Zivilbevölkerung
geschwächt.
Noch immer stehen Kosten und Folgen der militäri-
schen Einsätze in keinem angemessenen Verhältnis zu
denen für einen zivilen Aufbau des Landes.
Wir dürfen die Menschen in Afghanistan mit ihren
Hoffnungen für bessere Lebensverhältnisse nicht im
Stich lassen, deswegen halte ich es unabhängig von der
geschilderten Entwicklung für unverantwortlich, sich für
den sofortigen Abzug der internationalen Sicherheitsun-
terstützungstruppe in Afghanistan auszusprechen.
Der Wiederaufbauprozess wird insbesondere durch
das Erstarken der Taliban und anderer bewaffneter Grup-
pen in den paschtunischen Gebieten behindert. Terroris-
tische Anschläge und bewaffnete Kampfhandlungen
haben im vergangenen Jahr zugenommen, auch in Pakis-
tan. Infolgedessen ist die Zahl der Opfer unter der Zivil-
bevölkerung erheblich gestiegen. Bisher haben weder
die afghanische Regierung noch die internationalen Ein-
satzkräfte eine Strategie gefunden, wie der logistische
und praktische Nachschub für terroristische Angriffe un-
terbunden werden kann. Deswegen ist das Vertrauen in
die afghanische Regierung und die internationale Staa-
tengemeinschaft, dass sie den Taliban und anderen mili-
tanten oppositionellen Kräften Einhalt gebieten können,
gesunken.
Allein mit einer glaubwürdigen zivilen Aufbaustrate-
gie, die militärisch gegen Angriffe von außen abgesi-
chert ist, können Voraussetzungen geschaffen werden,
die es ermöglichen, einen Stufenplan für die Verantwor-
tungsübergabe an die afghanische Regierung auszuarbei-
ten. Die internationale Gemeinschaft ist sich weitgehend
einig, dass die internationale Militärpräsenz zeitlich be-
fristet sein soll; also muss sie sich auch aktiv dafür ein-
setzen, dass die Voraussetzungen für einen Abzug ge-
schaffen werden. Mir fehlt es an den internationalen
Anstrengungen, den zivilen Aufbau des Landes so vo-
ranzutreiben, dass terroristischen Angriffen der Boden
für ihre Unterstützung durch die Bevölkerung entzogen
wird.
Da ich mich aus humanitären Gründen weder für ei-
nen Sofortabzug der bewaffneten deutschen Streitkräfte
aus Afghanistan aussprechen kann, noch mit dem Antrag
der Bundesregierung für eine Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte einverstanden
bin, weil es an einem durchgreifenden Strategiewechsel
für den verstärkten zivilen Aufbau in Afghanistan fehlt,
werde ich dem Antrag der Bundesregierung nicht zu-
stimmen, sondern mich enthalten.
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nlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Monika
Lazar, Winfried Herrmann, Hans-Christian
Ströbele, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Harald Terpe
und Peter Hettlich (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) zur namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bun-
desregierung: Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
truppe in Afghanistan (International Security
Assistance Force, ISAF) unter Führung der
NATO auf der Grundlage der Resolution 1386
(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Reso-
lution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a)
Den Antrag der deutschen Bundesregierung auf Fort-
etzung der Beteiligung der Bundeswehr an der interna-
ionalen Sicherheitsunterstützungstruppe lehnen wir ab.
Die Sicherheitslage in Afghanistan wird von Jahr zu
ahr schlechter. Die Zahl der Opfer bei Anschlägen und
eim Antiterrorkrieg steigt dramatisch. Im Jahr 2008
ind bisher über 3 000 Menschen getötet worden, dabei
ehr als 1 000 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kin-
er. Tausende wurden verwundet und verstümmelt. Fast
ie Hälfte der zivilen Opfer fällt der US-Luftkriegsfüh-
ung zum Opfer. ACBAR, eine Dachorganisation von
00 Hilfsorganisationen, gibt an, dass der Sommer 2008
er bisher verlustreichste war seit 2001. Die Zerstörun-
en von Gebäuden und Versorgungseinrichtungen über-
teigen häufig den Wiederaufbau.
Der Krieg wurde vor sieben Jahren begonnen, um die
erantwortlichen für die Anschläge vom 11. September
n den USA der Gerechtigkeit zuzuführen, so die UN-
esolution vom Herbst 2001. Sie rechtfertigt nicht einen
rieg gegen die Taliban für einen Regimewechsel oder
ur Aufstands- und Widerstandsbekämpfung in Afgha-
istan. Seit Jahren zielt jedoch die militärische Gewalt
er ausländischen Truppen auf die Vernichtung der Tali-
an und des Widerstandes im Land. Die Ergebnisse die-
er Strategie sind verheerend. Die rücksichtslose Antiter-
orbekämpfung vor allem der US-Truppen schürt und
egitimiert Racheakte und Anschläge; sie ist nicht nur
nverantwortlich, sondern auch kontraproduktiv. Dem-
ntsprechend hat sich die Sicherheitslage seit 2004 noch-
als deutlich verschlechtert, obwohl seit Beginn des
rieges die Zahl der eingesetzten Nato-Soldaten auf
irca 65 000 deutlich angehoben wurde.
Ein Ende der Eskalation des Krieges ist nicht in Sicht,
anz im Gegenteil. Gerade auch als Folge der Eskalation
nd Kriegsführung werden diejenigen, die bekämpft
erden sollen, immer stärker. Die zunehmende Gewalt
es Krieges ist die Hauptursache dafür, dass der Hass ge-
en die ausländischen Truppen wächst und sich immer
ehr am Krieg gegen diese beteiligen. Politische und
umanitäre Ziele werden unerreichbar. Der britische
19592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
Botschafter Cowper-Coles hat leider recht, wenn er sagt,
die ausländischen Truppen in Afghanistan seien „Teil
des Problems, nicht der Lösung.“ Die Gewaltspirale
kann aber durch immer mehr Soldatinnen und Soldaten
und militärische Mittel nicht durchbrochen werden. Ge-
rade asymmetrische Kriege können militärisch nicht ge-
wonnen werden.
Es ist aus unserer Sicht unklug und unverantwortlich,
einfach so weiterzumachen. Überfällig ist es, eine Alter-
native zur Eskalation der Gewalt zu entwickeln. Not-
wendig ist ein verantwortbarer militärischer Rückzug in
kalkulierten Schritten. Doch alle Forderungen nach ei-
nem Strategiewechsel sind ohne Umsetzung geblieben,
im Gegenteil, die Bundesregierung will das deutsche
Truppenkontingent nur erhöhen. Trotz gegenteiliger Be-
hauptungen bleiben die zivilen Anstrengungen weit hin-
ter den militärischen zurück. Während nicht einmal die
zugesagten 50 Polizeiausbilder nach Afghanistan ge-
schickt werden, wird die Zahl der Soldatinnen und Sol-
daten von 3 500 auf 4 500 erhöht. Die Kosten alleine
dieses Mandates für 14 Monate betragen 688 Millionen,
während die Ausgaben für den zivilen Aufbau gerade
mal etwa ein Viertel davon ausmachen.
Wir halten fest: Die bisherige Strategie ist gescheitert,
sie schadet und verschärft den Krieg. Ein Wechsel der
Strategie – weg vom Militärischen, hin zum Zivilen – ist
nicht in Sicht.
Deshalb lehnen wir den Antrag der Bundesregierung
ab.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Claudia
Roth (Augsburg), Kerstin Müller (Köln), Bär-
bel Höhn, Britta Haßelmann, Kai Gehring,
Thilo Hoppe, Rainder Steenblock, Katrin Gö-
ring-Eckardt, Wolfgang Wieland, Volker Beck
(Köln) und Ulrike Höfken (alle BÜND-NIS 90/
DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag
der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem
Einsatz der Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis-
tan (International Security Assistance Force,
ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage
der Resolution 1386 (2001) und folgender Reso-
lutionen, zuletzt Resolution 1833 (2008) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
ordnungspunkt 6 a)
Zum siebten Mal entscheidet der Bundestag über die
Fortsetzung der Bundeswehrbeteiligung an der Interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF in
Afghanistan. Wir Abgeordnete haben zu prüfen, ob die-
ser von den Vereinten Nationen mandatierte Einsatz sei-
nem Auftrag gemäß zur Gewaltminderung und zu einem
sicheren Umfeld für den Aufbau des von mehr als
20 Jahren Krieg zerstörten Landes beiträgt, ob der Ein-
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atz weiterhin aussichtsreich und angesichts der Opfer
erantwortbar ist.
Die Prüfung wird erschwert dadurch, dass die Ent-
icklung in den verschiedenen Landesteilen und die
insatzrealität in den Regionen sehr unterschiedlich sind
nd ihre realitätsnahe Wahrnehmung durch oft pauschale
fghanistan-Bilder verzerrt wird.
Wenn die Bundeswehr in Afghanistan als Besatzungs-
ruppe agieren würde, wenn der Aufbau gescheitert
äre, dann wäre ein zügiger Truppenabzug das Gebot
er Stunde und ein Nein zum Antrag der Bundesregie-
ung die notwendige Konsequenz.
Doch dem ist nicht so. Gerade nördlich des Hindu-
usch, wo die Bundesrepublik besondere Verantwortung
rägt, sind Aufbaufortschritte unverkennbar: in der Ge-
undheitsversorgung, in der Trinkwasser- und Stromver-
orgung, im Schulwesen. Wenig bekannt ist, dass seit
006 der Mohnanbau in den Nordprovinzen praktisch
uf null ging.
Hier treten die internationalen ISAF-Soldaten unver-
ndert als Unterstützungstruppe auf. Sie sind bei der
ehrheit der Bevölkerung immer noch gut angesehen
nd gewünscht. Trotz vermehrter Anschläge bleiben sie
esonnen und lassen sich nicht zum Krieg gegen die Mi-
itanten verführen.
Die ISAF-Truppen kurzfristig abzuziehen, hätte eine
chnelle Explosion der Gewalt und einen Destabilisie-
ungsschub Richtung Pakistan zur Folge. Das sagen ein-
ütig und eindringlich gerade Vertreterinnen und Vertre-
er der demokratischen afghanischen Zivilgesellschaft,
enen wir Grüne uns seit Jahren besonders verbunden
ühlen.
Insofern ist die Fortsetzung der deutschen ISAF-Be-
eiligung notwendig und unverzichtbar. Die Tornados
ragen mit ihren Aufklärungsfotos zwar auch zur Auf-
auabsicherung bei. Leider unterstützen sie aber auch in-
irekt eine Art der militärischen Gegnerbekämpfung, die
ir ablehnen. Insbesondere der von der Bundesregie-
ung versprochene Beitrag zur Reduzierung von Zivil-
pfern ist angesichts gestiegener Opferzahlen nicht er-
ennbar.
Die Anhebung der Kontingentsobergrenze ist mit ver-
ehrter Ausbildungshilfe, der Wahlabsicherung im
ächsten Jahr und mehr Flexibilität plausibel begründet.
ie bedeutet nicht eine zunehmende Verstrickung in den
rieg in anderen Landesteilen.
Zugleich sehen wir mit großer Beunruhigung, wie
ich seit zwei Jahren die Sicherheitslage in Afghanistan
assiv verschlechtert, wie der Krieg in Teile des Südens
nd Ostens zurückgekehrt ist, wie Anschläge, Luft-
ngriffe und Zivilopfer zunehmen. Damit wachsen
weifel an der Wirksamkeit und Verantwortbarkeit des
insatzes insgesamt.
Angesichts dieser Abwärtsspirale bedarf es ganz be-
onderer Anstrengungen, um die negative Dynamik zu
toppen und umzukehren. Seit zwei Jahren drängen die
rünen und viele andere auf einen Strategiewechsel und
ine Aufbauoffensive.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19593
(A) )
(B) )
Wie verhält sich dazu die Bundesregierung?
Im Antrag der Bundesregierung und insbesondere ih-
ren Publikationen werden unbestreitbare positive Ent-
wicklungen unzulässig verallgemeinert, werden die
Negativentwicklungen weitgehend ausgeklammert, wird
die Lage beschönigt. Auch nach sieben Jahren Afghanis-
tan-Engagement verweigert die Bundesregierung eine
ehrliche Bestandsaufnahme.
In der NATO kneift die Bundesregierung vor der Klä-
rung des strategischen Dissens zwischen Primat der mili-
tärischen Terrorbekämpfung und Aufbauabsicherung,
wodurch die Friedenskonsolidierung hintertrieben wird.
Die im Einzelnen guten deutschen Aufbauanstren-
gungen werden nur nachjustiert, aber nicht an den wach-
senden Herausforderungen ausgerichtet. Die Bundes-
regierung hat keinen Plan, was sie mittelfristig in ihrem
Hauptverantwortungsbereich erreichen und an Ressour-
cen mobilisieren will.
Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat seit dem
letzten Herbst zehn konstruktive Anträge in den Bundes-
tag eingebracht, um Druck zu machen für Kurswechsel
und Aufbauoffensive. Trotz durchweg positiver Reaktio-
nen aus den Reihen der Koalition wurden alle Anträge
abgelehnt – nur, weil sie von der Opposition kamen.
Seit Monaten forderten die Grünen, aber auch der
Bundeswehrverband und viele Afghanistan-Experten in
Zivil und Uniform die Bundesregierung auf, im Bundes-
tag ein umfassendes Mandat zur Abstimmung zu stellen,
in dem auch zentrale Ziele, Schritte und Ressourcen des
zivilen Aufbaus verbindlich festgelegt werden. Das wäre
ein glaubwürdiges Zeichen dafür gewesen, energisch
den Aufbaurückstand anzugehen. Auch diese Chance
ließ die Bundesregierung ungenutzt.
Gerade weil wir den Erfolg des internationalen und
deutschen Afghanistan-Engagements für dringend not-
wendig halten und wollen, sind wir so beunruhigt über
die Selbstzufriedenheit und Halbherzigkeit der Afgha-
nistan-Politik der Bundesregierung. Sie untergräbt damit
mittelfristig den Sinn des Einsatzes und den Sinn des
Engagements der vielen guten Fachleute vor Ort, die aus
Deutschland dorthin entsandt wurden, der Diplomaten
und Soldaten, der Entwicklungshelfer und Polizisten.
Über diese schweren politischen Versäumnisse kön-
nen wir nicht hinwegsehen. Deshalb ist für uns der An-
trag der Bundesregierung nicht zustimmungsfähig.
Zugleich sind wir uns der Wirkung öffentlicher Bot-
schaften gerade von Mandatsentscheidungen in Deutsch-
land und in Afghanistan sehr bewusst.
Unsere Kritik an der Politik der Bundesregierung
würde auch ein Nein begründen. Allerdings beinhaltet
ein Nein unserer Auffassung nach das große Risiko,
nicht als Kritik an der Politik der Bundesregierung ver-
standen, sondern als Signal zum schnellen Abzug und
aus „Flucht aus der Verantwortung“ missverstanden zu
werden. Beides wollen wir ausdrücklich nicht. Wir wol-
len auch nicht die Fehlinterpretation, als wollten wir den
Tausenden die „rote Karte“ zeigen, die von Bundestag
und Bundesregierung dorthin geschickt wurden und dort
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nter hohen Belastungen und Risiken insgesamt hervor-
agende Arbeit leisten.
Deshalb werden wir uns der Stimme enthalten. Das ist
ein Ausdruck von Unentschiedenheit, sondern ein
arnsignal wie das Gelblicht der Ampel:
Wir stehen zu unserer Verantwortung für Afghanistan,
ür seine Menschen und die internationale VN-Gemein-
chaft, für die Fortsetzung des deutschen ISAF-Beitra-
es.
Wir distanzieren uns dabei von dem Ruf nach Sofort-
bzug einerseits, von der halbherzigen Politik der Bun-
esregierung andererseits.
Wir stehen für Kurswechsel und Aufbauoffensive.
ir setzen uns ein für realitätstüchtige und ehrgeizige
ufbauschritte, die eine Perspektive für einen verant-
ortbaren Truppenabzug eröffnen.
Wir lassen die von mehr als 20 Kriegsjahren geschun-
enen Menschen in Afghanistan nicht im Stich. Um das
urchzuhalten, reichen aber Bekenntnisse nicht aus. Da-
ür bedarf es einer strategisch klaren, energischen Politik
nd größerer Kraftanstrengungen.
nlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags Arbeitsmarktinstru-
mente auf effiziente Maßnahmen konzentrie-
ren (Tagesordnungspunkt 9)
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Das Wichtigste
uerst: Die Forderungen des FDP-Antrags vom 7. Mai
008 sind überholt. Schon drei Wochen später, am
6. Mai 2008, lag der Referentenentwurf der Bundes-
egierung zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpoliti-
chen Instrumente vor. Anfang Oktober passierte er das
abinett, und wir werden ihn im November beraten und
ern mit Ihnen von der FDP gemeinsam verabschieden.
as Gesetz soll mit Jahresbeginn 2009 in Kraft treten.
Das Gesetz setzt die Politik des Forderns und För-
erns in den Arbeitsmarktreformen fort. Es wird Sie
icht überraschen, dass der Gesetzentwurf schlüssiger,
ifferenzierter und damit zielführender als der vorlie-
ende Antrag der FDP ist. Der ist damit nicht nur in den
esentlichen Punkten als erledigt zu betrachten. Er ist
uch dort, wo er widersprüchlich ist, beispielsweise
mehr öffentliche Ausschreibung vs. freie Förderung“,
bzulehnen.
Haben Sie von der FDP vor kurzem im Plenum noch
ritisiert, dass die Förderinstrumente der Agentur für Ar-
eit so unübersichtlich seien, dass sie nicht einmal zah-
enmäßig zu erfassen sind, so zeigt der Antrag: Sie ha-
en gezählt, vielleicht ein bisschen zu eifrig, denn Sie
ommen auf eine Zahl von 70 Förderinstrumenten. Wir
ommen auf 52! Wie auch immer: Sie kritisieren diesen
aßnahmenkatalog zu Recht als zu umfangreich. Wir
uch! Genau dieses Problem löst nun unser Gesetz, dem
19594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
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Sie deshalb sicher viel Sympathie entgegenbringen. Was
regeln wir?
Mehr Entscheidungsspielraum für die Vermittler. Sie
bekommen mit dem neuen Vermittlungsbudget ein In-
strument, das viele Einzelvorschriften ersetzt. Sie ent-
scheiden freier, was für die Person, die vor ihnen sitzt,
notwendig ist, um in Arbeit zu kommen. Das stärkt
Handlungsspielräume im Einzelfall, maßgeschneiderte
Angebote werden möglich.
Vergeblich habe ich in Ihrem Antrag nach einer Lö-
sung gesucht für Menschen, denen die Eintrittskarte für
den Arbeitsmarkt fehlt. Es sind die ohne Schulabschluss.
Von den ca. 3 Millionen Arbeitslosen sind insgesamt
circa 500 000 ohne Schulabschluss, die meisten von ih-
nen sind Langzeitarbeitslose. Was noch schlimmer ist:
Jährlich verlassen mehr als 70 000 junge Menschen die
Schule in Deutschland ohne einen Abschluss. Leider
müssen wir damit der Schulpolitik unserer Bundesländer
ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Das ist nicht ausrei-
chend, das ist sogar schlechter als mangelhaft, das ist
einfach ungenügend. Unser Gesetz gibt ihnen die
Chance, ihren Schulabschluss nachzuholen. Sie bekom-
men ein Recht darauf, ihre persönliche Eintrittskarte zu
erarbeiten. Denn die beste vorsorgende Arbeitsmarktpo-
litik ist gute Bildungspolitik.
Neben dem fehlenden Schulabschluss sind man-
gelnde Deutschkenntnisse die größte Hürde, um erfolg-
reich in Beruf und Weiterbildung zu sein. Deshalb wer-
den wir auch die Sprachförderung als Regelinstrument
einführen.
Wir wollen auch weiterhin Innovation in den Regio-
nen ermöglichen. Deshalb wird es die Möglichkeit zur
freien Förderung im Rahmen des SGB II geben. Ich ma-
che keinen Hehl daraus, dass mir der derzeitig geplante
Budgetanteil dafür noch zu gering ist. Ich stelle fest:
Auch hier gibt es tendenziell Übereinstimmung mit dem
FDP-Antrag.
Doch zurück zur Reduzierung der Instrumente: Ja,
auch die große Koalition räumt an dieser Stelle auf.
Künftig soll es nur noch 30 Förderinstrumente geben.
Damit kann flexibler, unbürokratischer und individueller
in Arbeit vermittelt werden. Besonders das Vermitt-
lungsbudget ist ein Sprung nach vorne für die Menschen.
Es stärkt die Entscheidungsfreiheit der Vermittler vor
Ort: Hier sind neun Instrumente zusammengefasst, die
bisher einzeln bewilligt werden mussten – wie zum Bei-
spiel Bewerbungs- und Umzugskosten. Mit dem
Entwurf wird die Vermittlung als Kernbereich der Ar-
beitsmarktpolitik gestärkt und entbürokratisiert. Lokale
Handlungsräume werden gestärkt. Die Arbeitsvermittler
vor Ort können freier und bedarfsgerechter, individueller
und gezielter helfen.
Wirksame Instrumente werden weiterentwickelt. Un-
wirksame werden abgeschafft. Ich kann mir gar nicht
vorstellen, dass irgendjemand in diesem Haus dieser
Veränderung nicht zustimmen könnte.
Das ist eben nicht mehr „Konfektionsware von der
Stange, Ärmel zu lang und Hose zu kurz“, sondern maß-
geschneiderte Hilfe. Das verlangt hohe Professionalität,
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eshalb legen wir Wert auf ordentliche Arbeitsbedingun-
en für Vermittler. In den nächsten drei Jahren wollen
ir insgesamt mehr als 9 000 feste Stellen für Vermitt-
ungsarbeit zusätzlich bereitstellen. Dass wir bei diesem
chritt keine Zustimmung der Liberalen erwarten, wer-
en Sie verstehen. Wesentliches Ziel unserer vorsorgen-
en Arbeitsmarktpolitik ist es, das Risiko der Arbeitslo-
igkeit zu verringern.
Bildung und Qualifizierung stehen deshalb im Mittel-
unkt. Start und Neustart zu ermöglichen ist unsere
flicht dem Einzelnen gegenüber, genauso wie die Soli-
argemeinschaft der Beitragszahler vorsorgende Ar-
eitsmarktpolitik erwarten kann.
Wir sorgen für Effizienz in der Arbeitsvermittlung –
nd dies noch klarer und zielgenauer, als es Ihr Antrag
ahelegt.
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geht
s darum, dass Arbeitssuchenden motiviert ein Neustart
elingt. Wir stärken die Kultur der Zweiten Chance. Da-
it legen wir einen weiteren Grundstein für Erfolge auf
em Arbeitsmarkt.
Ein altes chinesisches Sprichwort – und es könnte
uch ein sozialdemokratisches sein – besagt:
Um für ein Jahr zu planen, pflanze Reis, um für ein
Jahrzehnt zu planen, pflanze Bäume – um für ein
Jahrhundert zu planen, bilde Menschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auch
enn wir Ihren Antrag ablehnen, lassen Sie uns für die
enschen gemeinsam langfristig planen!
Dirk Niebel (FDP): Die Bundesregierung hat nichts
azu beigetragen, dass die Arbeitslosenzahlen im Sep-
ember auf den niedrigsten Stand seit 16 Jahren gefallen
ind. Und entgegen einiger optimistischer Prognosen,
ass die Zahl auch unter drei Millionen fallen könnte,
echnen wir eher damit, dass die Finanzkrise und der ab-
ehbare Konjunkturabschwung wieder zu steigenden Ar-
eitslosenzahlen führen werden. Das wurde auch vorges-
ern durch die Prognose der Wirtschaftsinstitute
estätigt.
Noch immer ist die Sockelarbeitslosigkeit, die Zahl
er Langzeitarbeitslosen und der älteren Arbeitslosen
och. Die gute Arbeitsmarktlage ist an den ALG-II-
mpfängern vorbeigegangen. Ihre Situation hat sich
icht wesentlich verbessert. Eine schnellere Vermittlung
n Beschäftigung hat nicht stattgefunden. Das Personal
st mit Verwaltungs- statt Vermittlungsaufgaben befasst.
eder wurden neue Sozialversicherungspflichtige
rbeitsplätze für Geringqualifizierte und Langzeit-
rbeitslose geschaffen, noch wurden die Anreize zur Ar-
eitsaufnahme attraktiv gesetzt. Statt einen geregelten
iedriglohnsektor einzuführen, der auch diesen Men-
chen die Chance auf Beschäftigung gibt, werden wei-
ere Arbeitsplätze durch die geplante Einführung von
lächendeckenden Mindestlöhnen gefährdet. Mindest-
öhne werden Arbeitsplätze in die Schwarzarbeit ver-
rängen und dadurch die Chancen von Langzeitarbeits-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19595
(A) )
(B) )
losen verschlechtern. Wir haben schon heute morgen
ausführlich darüber debattiert.
Das arbeitsmarktpolitische Programm der schwarz-
roten Koalition, sofern man überhaupt von einem Pro-
gramm sprechen kann, zeigt Aktionismus auf den fal-
schen Feldern. Ja, es wurden Arbeitsplätze geschaffen.
Zum Beispiel an den Sozialgerichten, um der wachsen-
den Flut an Klagen von ALG-II-Empfängern begegnen
zu können. Und vor allem bei der Bundesagentur für Ar-
beit, damit die Anträge per Hand schneller bearbeitet
werden konnten. Die Gesetze wurden nämlich schneller
geändert, als die Programmierer ihre Software anpassen
konnten. Dazu muss man allerdings sagen, dass nur Lö-
cher geflickt wurden, ohne das Netz so zu sanieren, wie
es notwendig gewesen wäre.
Arbeitsminister Olaf Scholz hat jetzt auch endlich sei-
nen Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarkt-
politischen Maßnahmen vorgelegt. Von einer Halbierung
der Zahl der Förderinstrumente war die Rede gewesen.
Das ist ihm nicht gelungen. Das wundert uns aber nicht.
Selbst die Bundesregierung weiß nicht, über wie viele
Maßnahmen die aktive Arbeitsmarktpolitik verfügt. Ich
zitiere aus der Antwort auf unsere Kleine Anfrage,
Drucksache 16/10048: „Für die Zählung der Instrumente
bzw. Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gibt es
in Deutschland kein zwischen den unterschiedlichen Ak-
teuren bei der Bundesagentur für Arbeit, der Bundesre-
gierung und der Wissenschaft gemeinsam festgelegtes
Konzept.“
Nun soll es 27 Einzelpositionen weniger geben, 5 In-
strumente werden neu geschaffen, zum Beispiel Vermitt-
lungsbudgets und Experimentierbudgets. Nichts wirk-
lich Neues. Und er will weitere 1 900 Stellen für
Vermittler einrichten, und 9 700 befristet eingestellte
Vermittler sollen Dauerarbeitsverträge erhalten – trotz
der aktuell rückgängigen Arbeitslosenzahlen. Er rechnet
schon mit konjukturell schwierigen Zeiten.
Und nur am Rande: Auch der geplante Rechtsan-
spruch auf einen Hauptschulabschluss ist nur ein Pla-
cebo und hilft den Arbeitsuchenden nicht weiter.
Deutschland braucht eine Weiterbildungsoffensive mit
einem Sofortprogramm zur Qualifizierung von Men-
schen ohne Schulabschluss. Durch den Rechtsanspruch
wird die Qualität des Hauptschulabschlusses nicht er-
höht und erhält schon gar nicht die Wertschätzung, die er
verdient. Die SPD hat ihre Glaubwürdigkeit weiter be-
schädigt. Den Rechtsanspruch auf einen Hauptschulab-
schluss hat sie durchgesetzt und in den Ländern fordert
sie die Abschaffung der Hauptschule.
Vom Aufschwung haben Kurzzeitarbeitslose überpro-
portional profitiert. 70 Prozent der Erwerbslosen sind
immer noch ALG-II-Empfänger. In den rund 80 Arbeits-
förderungsinstrumenten sind fast 1,5 Millionen Men-
schen geparkt, die deshalb in der offiziellen Arbeitslo-
senstatistik gar nicht auftauchen. Darunter sind viele
Maßnahmen, die nicht zur Integration in den ersten Ar-
beitsmarkt beitragen, aber von der Solidargemeinschaft
teuer bezahlt werden. Jeder Euro, der für unbrauchbare
Maßnahmen ausgegeben wird, fehlt zum Beispiel für die
Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung.
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iedrigere Steuern und Abgaben sind ein wichtiger Bei-
rag zur Arbeitsplatzsicherung und tragen zur Schaffung
euer Arbeitsplätze bei.
Einige Maßnahmen hätten wegen erwiesener Untaug-
ichkeit schon längst aus dem Katalog gestrichen werden
önnen. Diese Geldverschwendung geht zulasten der
olidargemeinschaft, die schwarz-rote Koalition hat sie
u verantworten. Der schon seit Januar 2006 vorliegende
valuierungsbericht der Bundesregierung „Die Wirk-
amkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“
ur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der Kom-
ission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“
atte schon zahlreiche Vorgaben geliefert. So ist schon
änger bekannt, dass Beschäftigte in Arbeitsbeschaf-
ungsmaßnahmen (ABM) aufgrund dieser Tätigkeit
päter als vergleichbare andere Arbeitslose ihre Arbeits-
osigkeit durch eine Integration in Erwerbsarbeit beende-
en.
Mit einer Vielzahl von Erlassen, Richtlinien und Ver-
rdnungen wird versucht, Einzelfallgerechtigkeit herzu-
tellen, ohne Berücksichtigung des Verwaltungsauf-
ands und der damit verbundenen Kosten. Auch der
om Kabinett gebilligte Gesetzentwurf des Bundesar-
eitsministers bleibt durch faule Kompromisse und halb-
erzige Reformen weit hinter den Notwendigkeiten zu-
ück.
Die Evaluation von arbeitsmarktpolitischen Maßnah-
en ist eine Daueraufgabe. Die FDP hat schon vor Jah-
en die Entrümpelung der arbeitsmarktpolitischen Maß-
ahmen gefordert. Arbeitsmarktpolitik ist nur dann
ffektiv und effizient, wenn es gelingt, mit möglichst ge-
ingem Mitteleinsatz Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder
öglichst rasch durch Integration in den ersten Arbeits-
arkt zu beenden. Alle arbeitsmarktpolitischen Maß-
ahmen sind dringend auf Umfang, Wirksamkeit und Ef-
izienz zu überprüfen und das Förderinstrumentarium
uf Maßnahmen zu begrenzen, die zu einer Integration
n den ersten Arbeitsmarkt führen. Die Förderinstru-
ente sind möglichst unbürokratisch auszugestalten.
Der Maßnahmenkatalog kann deutlich reduziert wer-
en, ohne dass dadurch Einbußen bei der Arbeitsvermitt-
ung zu befürchten sind. Die arbeitsmarktpolitischen
aßnahmen können in wenigen Kategorien zusammen-
efasst werden. Alle Programme müssen strikt nach
rinzipien der Effizienz öffentlich ausgeschrieben wer-
en. Der zuständige Träger muss nach pflichtgemäßem
rmessen flexibel, effektiv und am Einzelfall orientiert
ntscheiden können. Diese beiden Prinzipien liegen im
nteresse der Beitrags- und Steuerzahler.
Um das Ziel einer Eingliederung in den ersten Ar-
eitsmarkt zu erreichen, muss die Zielgruppenorientie-
ung bei den Arbeitsmarktinstrumenten deutlich verbes-
ert werden. Die Maßnahmen sollten sich ausschließlich
uf die Arbeitslosen mit den gravierendsten Risikomerk-
alen beschränken. Gleichzeitig müssen die Maßnah-
en Gelegenheit zur praxisnahen Qualifizierung bieten.
hre Laufzeiten müssen verkürzt werden. Auch darf
ährend der Maßnahmen die Vermittlungsberatung und
rbeitsplatzsuche nicht eingestellt werden.
19596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
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Die sogenannte freie Förderung für eigene, selbst
konzipierte Maßnahmen muss erweitert werden. Die zu-
ständigen Akteure sollen weitere Entscheidungsbefug-
nisse, aber auch mehr Verantwortung für den Maßnah-
meneinsatz und dessen Wirkung bekommen. Damit
werden die Innovationsfähigkeit in der Arbeitsmarktpo-
litik und der Wettbewerb unter den verantwortlichen
Trägern gefördert. Darüber hinaus sollen die Träger der
Grundsicherung vor Ort Maßnahmen an den individuel-
len Voraussetzungen der Langzeitarbeitslosen und den
örtlichen Gegebenheiten ausrichten können, wenn die
Instrumente des SGB III nicht passen.
Formen öffentlich subventionierter Beschäftigung
wie 1-Euro-Jobs müssen auf ein Mindestmaß beschränkt
werden. Sie dürfen nur der Wiedererlangung not-
wendiger Arbeitstugenden und einer Überprüfung der
Leistungsbereitschaft dienen. Die private Arbeitsver-
mittlung soll stärker als bisher die staatlichen Vermitt-
lungsbemühungen ergänzen. Sie ist in der Lage, eine
effiziente, den Ansprüchen eines modernen Arbeits-
marktes gerecht werdende Vermittlungsdienstleistung zu
erbringen.
Die Vermittlungsgutscheine müssen marktgerecht
ausgestaltet werden. So soll ein Anspruch ab dem ersten
Tag der Arbeitslosigkeit bestehen und die Gültigkeit
über die gesamte Dauer der Arbeitslosigkeit gehen. Ihre
Einsatzmöglichkeiten werden flexibel ausgestaltet. Die
aktuelle Ausgestaltung der Vermittlungsgutscheine bie-
tet zu wenig Anreiz und hat sich in der Praxis als nicht
flexibel genug erwiesen. Die Festlegung einer absoluten,
nicht am Einkommen orientierten Höchstprämie bedeu-
tet faktisch eine Regulierung des Preises für eine Ver-
mittlung und wirkt wettbewerbsverzerrend. Qualifika-
tion, Erwerbsbiografie und Vermittlungshemmnisse
werden durch diese Festprämie praktisch nicht berück-
sichtigt. Vermittlungsleistungen müssen zu Marktpreisen
angeboten werden können.
Die Entrümpelung ist wichtig, damit unsere Beitrags-
und Steuermittel nur für effektive Maßnahmen ausgege-
ben werden und die Arbeitsuchenden von diesen Maß-
nahmen auch profitieren können. Darüber hinaus muss
auch das Chaos bei der Betreuung von Langzeitarbeits-
losen durch Arbeitsagenturen, Kommunen und Arbeits-
gemeinschaften beseitigt werden. Wir wollen, dass alle
Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern betreut und be-
raten werden, weil die Kommunen besser auf indivi-
duelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt
reagieren können. In dieser Auffassung werden wir von
vielen Optionskommunen unterstützt, die erfolgreich am
Arbeitsmarkt agieren. Nur die Bundesregierung weigert
sich, die Leistung der Optionskommunen anzuerkennen.
Kornelia Möller (DIE LINKE): Opel geht in Kurzar-
beit, die Auftragslage in der Autozulieferindustrie ist
dramatisch – und Sie, liebe FDP-Kollegen, wollen die
Stellschraube für Erwerbslose noch anziehen. Wer jetzt
bei der Arbeitsmarktpolitik einspart, hat keine Ahnung
davon was die Menschen in diesem Land brauchen.
Was heute Not tut, sind Ideen und Vorschläge, um den
realwirtschaftlichen Auswirkungen der katastrophalen
Finanzkrise entgegenzusteuern, die sich abzeichnet.
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Sehen Sie sich um! Opel habe ich genannt, .auch
MW ist betroffen. Zulieferer Knorr-Bremse rechnet
it 30 Prozent Auftragsrückgang. Und König & Bauer
2007: 8 200 Beschäftigte, 1,7 Milliarden), einer der
eltweit größten Druckmaschinenhersteller, also Be-
eich Maschinenbau, fährt die Viertagewoche und weiß
icht, wie es weitergehen soll.
Das bayerische Wirtschaftswunder, das immer als
orzeigeobjekt deutscher Wirtschaft galt, erlebt bereits
etzt schon große Einbrüche und viele Menschen werden
hren Arbeitsplatz verlieren.
Deshalb kann es nicht um Einsparungen in der Ar-
eitsmarktpolitik gehen, sondern um die Bereitstellung
usreichender Mittel. Es geht vor allem darum, die nach
ie vor zu hohe Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen
nd die arbeitsmarktpolitische Schiefläge Ostdeutsch-
ands zu beenden. Und das geht nicht mit mehr Markt,
ie es der FDP vorschwebt, nicht mit einer weiter priva-
isierten Arbeitsmarktpolitik – wie im FDP-Antrag ge-
ordert und längst durch Untersuchungen widerlegt
urde –, sondern nur durch eine Stärkung der Gestal-
ung des Arbeitsmarktes durch die öffentliche Hand.
Wir betrachten es deswegen auch als völlig falsche
nd verhängnisvolle Entscheidung der Großen Koali-
ion, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung noch-
als – sogar auf 2,8 Prozent zu senken. Mehr als 5 Mil-
iarden Euro werden nach Aussage von BA-Chef Weise
eswegen 2009 in der Kasse fehlen. 2009 wird aber das
ahr der Wende auf dem Arbeitsmarkt werden. Es wird
ich mit aller Deutlichkeit zeigen, dass die von Ihnen al-
en gepriesene Arbeitsmarktreformpolitik, die „Hartz-
ichtung“, alles andere als richtig war und keinen Anteil
m Aufschwung des Arbeitsmarktes der vergangenen
onate hatte. Das ist schon ein Stück aus dem Tollhaus,
enn uns der Arbeitsminister weiß machen will, dass es,
ie er sagt: „gerade in raueren Zeiten sinnvoll sei, durch
bsenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
twas zur Stärkung der Konjunktur zu tun“. Wir erleben
eine „raueren Zeiten“ – wir erleben den Crash des Fi-
anzsystems und seine Folgen.
Doch zurück zum FDP-Antrag, da steht: „Arbeits-
arktpolitik ist nur dann effektiv und effizient, wenn es
hr gelingt, mit möglichst geringem Mitteleinsatz Ar-
eitslosigkeit zu vermeiden oder möglichst rasch zu be-
nden.“ Mit möglichst geringen Mitteleinsatz, egal in
elchen Job. Die Menschen scheinen Ihnen gleichgültig
u sein.
Genau das hatten wir doch die ganze Zeit! Mit dem
rgebnis, dass die Hälfte des viel gepriesenen Auf-
chwungs am Arbeitsmarkt durch prekäre Beschäfti-
ungsverhältnisse, Leiharbeit und Minijobs zustande
am. Und das ist der Weg zur weiteren Aushöhlung der
innennachfrage. Nein, wir brauchen kein weiteres neo-
iberales Kürzungsprogramm, dass die Bürgerinnen und
ürger die Zeche zahlen lässt. Und es reicht auch nicht,
m Klein-Klein von Detailveränderungen zur bisherigen
rbeitsmarktpolitik stehen zu bleiben. Die gesamte Ar-
eitsmarktpolitik muss neu orientiert werden! Es braucht
azu eine einheitliche Organisation der Bundesagentur
ür Arbeit, um eine einheitliche Arbeitsmarktpolitik mit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19597
(A) )
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gleichen Rechten und Pflichten für alle Erwerbslosen
durchsetzen zu können.
Es braucht dazu eine breitere Förderung voll sozial-
versicherungspflichtiger Beschäftigung. Es braucht dazu
einen übersichtlichen Instrumentenkasten, der sich an
den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an
kurzfristiger Gewinnmaximierung. Es braucht dazu qua-
litativ hochwertige Weiterbildungsangebote, statt billiger
Weiterbildung von ausgebeuteten Weiterbildnern ange-
boten. Und natürlich gehören 1-Euro-Jobs endlich abge-
schafft. Und durch öffentlich geförderte Beschäftigung
ersetzt, wie Sie unserem Antrag entnehmen können. Es
ist ein Gebot der Stunde endlich die Regelsätze der
Grundsicherung anzuheben.
Ich fasse zusammen: Es braucht letztendlich eine gute
Arbeitsmarktpolitik ohne die Stigmatisierung und die
Einteilung von Erwerbslosen in zwei Klassen – weg von
Hartz IV!
Ihr Antrag geht an den berechtigten Bedürfnissen er-
werbsloser Menschen vorbei und er hält keinerlei Ange-
bote für die Menschen bereit, die in nächster Zeit ihre
Arbeitsplätze verlieren werden.
Deshalb ist Ihr Antrag nicht auf der Höhe der Zeit,
natürlich lehnen wir ihn ab.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf zur Neu-
ausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente be-
schlossen. Über den reden wir aber hier nicht, sondern
wir müssen uns mit einem Platzhalter der FDP begnü-
gen.
Herr Minister Scholz, es ist gelinde gesagt eine Un-
verschämtheit, wie Sie die Menschen, denen die arbeits-
marktpolitischen Instrumente helfen sollen und die mit
ihnen arbeiten sollen, hängen lassen.
Ab Januar 2009 soll Ihr Gesetz gelten und bis heute
liegt es dem Bundestag nicht offiziell vor. Es gibt aus al-
len Ecken Kritik und erheblichen Nachbesserungsbe-
darf, aber Sie stellen sich nicht der Auseinandersetzung.
Sie setzen offensichtlich auf eine kurze Beratung unter
Zeitdruck. So wollen Sie unangenehme Wahrheiten un-
ter den Tisch kehren. Denn sicher ist eins: Wenn Sie
nicht im Frühjahr die weiteren Leistungen weitgehend
beschnitten hätten, hätten wir jetzt weniger Probleme
und hätten uns eine Menge Zeit und Ärger sparen kön-
nen.
Denn erst dadurch sind die Spielräume der ARGEn
und Optionskommunen für passgenaue Hilfen erheblich
eingeschränkt worden. Leidtragende dessen sind vor
allem Migranten, Jugendliche und Alleinerziehende;
häufig genug haben sie mit besonders schweren Vermitt-
lungshemmnissen zu kämpfen. Sie brauchen aber indi-
viduelle Förderung und keins von den Massenpro-
grammen, mit denen Sie und Ihre große Koalition den
Instrumentenkasten in den letzten Jahren aufgebläht ha-
ben.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die
Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
ist überfällig. Wir Grünen stehen für die Abkehr von ei-
ner zentral gesteuerten und durchregulierten Arbeits-
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arktpolitik. Wir stehen für eine dezentrale, flexible und
assgenaue Unterstützung. Dafür brauchen wir nur we-
ige Instrumente. Diese müssen aber auf den individuel-
en Fall zugeschnitten werden können – also viel mehr
estaltungsspielraum bieten als heute.
Das alles wollen Sie angeblich auch, aber Ihr Entwurf
rfüllt diese Anforderung überhaupt nicht. Das kann ich
it wenigen Beispielen zeigen.
Sie bieten eine neue freie Förderung als Ersatz für die
eiteren Leistungen an. Aber schon die Mittelausstat-
ung reicht nicht an den Bedarf heran: 130 Millionen
ährlich wollen Sie zur Verfügung stellen, aber 2007
urde mehr als das Vierfache – rund 600 Millionen – ge-
raucht. Sie erschweren die dringend erforderliche Zu-
ammenarbeit zum Beispiel mit der Jugendhilfe, weil
ie das Vergaberecht zwingend vorschreiben wollen. Sie
erstören damit Schnittstellen zwischen den Hilfesyste-
en, anstatt sie zu fördern.
Das Vergaberecht soll auch im SGB III für alle Maß-
ahmen zwingend werden. Die Erfahrungen zeigen aber,
ass dadurch vor allem ein Preiswettbewerb entfacht
urde, der zulasten der Qualität der arbeitsmarkt- und
ozialpolitischen Maßnahmen gegangen ist und zu
ohndumping beim Lehrpersonal geführt hat. Sie wollen
iese hochproblematische Praxis ausbauen, die Standard
tatt Flexibilität produziert hat.
Über den Experimentiertopf kann nicht mehr die ein-
elne Arbeitsagentur entscheiden, das soll in Zukunft die
A in Nürnberg machen. Das ist Zentralismus in Rein-
ultur.
Der Hauptschulabschluss, über den Sie sich seit Mo-
aten mit der Union gestritten haben, ist besonders är-
erlich. Denn das, was Sie jetzt im Angebot haben,
urde bisher einfach über die weiteren Leistungen ge-
ördert. Stattdessen haben Sie ein zusätzliches durchre-
uliertes Einzelinstrument geschaffen; Verschlankung
ieht anders aus, Flexibilität sowieso.
Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen; mit
hren Vorschlägen sind Sie nicht zu bewältigen. Sie pre-
igen Handlungsfreiheit und Entbürokratisierung, aber
e facto setzen sie immer noch auf Durchgriff und Wei-
ung. Damit werden Sie Ihre selbstaufgestellten Ziele
Vollbeschäftigung und die weltbeste Arbeitsvermitt-
ung – gewiss nicht erreichen.
Wir werden erheblich nacharbeiten müssen.
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Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung
des Ausbaus der Höchstspannungsnetze
– Antrag: Stromnetze zukunftsfähig ausbauen
(Tagesordnungspunkt 10 und Zusatzpunkt 16)
Marko Mühlstein (SPD): Noch nie waren wir so
ehr auf elektrischen Strom angewiesen, wie in der heu-
19598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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tigen Zeit, dem 21. Jahrhundert. Oder anders: Der elek-
trische Strom ist aus unserem täglichen Leben nicht
mehr wegzudenken. Die Stromleitungen, die zur Über-
tragung benötigt werden, sind nicht nur für Unterneh-
men, sondern für unsere gesamte Gesellschaft zu Le-
bensadern geworden. Für jeden Einzelnen von uns ist es
fast selbstverständlich Teil der Daseinsfürsorge. Den-
noch gibt es große Lücken und einen enormen Ausbau-
bedarf des deutschen Stromnetzes.
Der weitere Ausbau der Stromnetze in der Bundesre-
publik Deutschland ist Kernelement zukunftsfähiger
Energiepolitik. Denn wir wollen erstens die erneuerba-
ren Energien zielstrebig weiter ausbauen. Zweitens brau-
chen wir neue konventionelle Kraftwerke und drittens
streben wir einen europaweiten grenzüberschreitenden
Stromhandel an. Ziel ist es, langfristig eine Kopplung
der Strommärkte in der EU zu erreichen.
Im vorliegenden Gesetzentwurf sind die vordringli-
chen Vorhaben beschrieben, die bereits 2005 von der
Deutschen Energieagentur definiert wurden.
Seitdem ist aus unterschiedlichen Gründen nicht ge-
nügend passiert.
Im Jahr 2007 wurden von den Übertragungsnetzbe-
treibern 884 Millionen Euro in Netzinfrastruktur inves-
tiert, das sind jedoch nicht mal 80 Prozent ihres eigenen
Jahresziels.
Der Notwendigkeit des schnellen Netzausbaus wird
im Gesetz zur Beschleunigung des Höchstspannungsnet-
zes Rechnung getragen:
Denn es wird erstmalig einen Bedarfsplan geben. Wir
wollen, wie beim Infrastrukturplanungsbeschleuni-
gungsgesetz, den Rechtsweg auf eine Instanz reduzieren.
Zudem wird für die Netzanbindung von Offshore-Wind-
kraftanlagen ein Planfeststellungsverfahren eingeführt.
Ich wohne im Bundesland Sachsen-Anhalt. Ein Bun-
desland, in dem bereits heute über 20 Prozent des Stroms
aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Gerade dort
werden die Chancen und Risiken des Netzausbaus auf
verschiedenen Ebenen bereits heute sehr deutlich.
Die Frage ist nicht wie, sondern ob uns der schnelle
Ausbau gelingt. Ich plädiere dafür, die Frage der Erdver-
kabelung unideologisch zu betrachten! In Wohn- oder
Naturschutzgebieten sind Erdkabel aus meiner Sicht eine
sehr sinnvolle Alternative. Und weil die Erdkabel auf
110-kV-Ebene kostenseitig durchaus interessant sind,
bin ich sehr für die Aufnahme der 110-kV-Ebene in den
Gesetzentwurf.
Der Erfolg des Gesetzes ist wichtig für die Versor-
gungssicherheit und die Stabilität des Stromnetzes. Der
Netzausbau ist eine energiepolitische Schlüsselfrage,
deshalb fordere ich alle Akteure, insbesondere die Ener-
giekonzerne auf, sich konstruktiv an der wichtigen Auf-
gabe zu beteiligen.
Engelbert Wistuba (SPD): Wir befassen uns heute
erster Lesung mit dem Gesetz zur Beschleunigung der
Höchstspannungsnetze. Dies ist ein zentraler Baustein
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es zweiten Teils des Integrierten Energie- und Klima-
rogramms. Bereits im Juni haben wir einen maßgebli-
hen Teil des Energie- und Klimapakets umgesetzt.
rotz aller Unkenrufe der Opposition sind wir also auf
inem guten Weg, bis Ende des Jahres die Mitte 2007 in
eseberg verabschiedeten Eckpunkte vollständig umzu-
etzen und damit konkrete Rahmenbedingungen für eine
rfolgreiche Energie-und Klimapolitik zu schaffen.
Grundlage für das Energieleitungsausbaugesetz, über
as wir heute reden, sind einerseits die ehrgeizigen Aus-
auziele für erneuerbare Energien. Durch die im Juni
ier beschlossene EEG-Novelle haben wir attraktive
ahmenbedingungen für einen Ausbau der Windkraft
eschaffen. Dieser Ausbau wird vorrangig an küsten-
ahen Standorten in Nord- und Ostdeutschland sowie
ffshore, also vor der Küste erfolgen. Hierbei handelt es
ich jedoch in den wenigsten Fällen um die Gegenden, in
enen der Strom – insbesondere von der energieintensi-
en Industrie – auch benötigt wird. Die Energiever-
rauchszentren liegen eher im Süden und Westen der
epublik. Wir benötigen also entsprechende freie Kapa-
itäten auf der Höchstspannungsebene, um den Nord-
üd und Ost-West-Transit des Stroms auch tatsächlich
ewährleisten zu können.
Das derzeitige Netz, das in den vergangenen Jahr-
ehnten im Wesentlichen von verbrauchsnaher Strom-
rzeugung geprägt war, ist darauf nicht vorbereitet. Die
ena-Netzstudie hat 2005 – unter breiter Beteiligung von
nergieversorgern, Netzbetreibern, den Verbänden der er-
euerbaren Energien und der Wissenschaft – einen erheb-
ichen Ausbaubedarf des Höchstspannungsnetzes zur
bleitung des prognostizierten Windstroms ermittelt:
is 2015 müssen für die Integration von 20 Prozent erneu-
rbarer Energien in das Verbundnetz 850 Kilometer
öchstspannungsleitungen neu gebaut und weitere
00 Kilometer verstärkt werden. Dieser ambitionierte
eitplan scheint kaum mehr zu halten zu sein – und wir
aben gerade beschlossen, den Anteil erneuerbarer Ener-
ien an der Stromerzeugung bis 2020 auf mindestens
0 Prozent auszubauen.
Darüber hinaus werden im Rahmen der Erneuerung
es überalterten Kraftwerksparks zunehmend konventio-
elle Kraftwerke in Norddeutschland und insbesondere
n der Küste geplant und gebaut. Das hat schlicht damit
u tun, dass es günstiger ist, den Strom durchs Land zu
ransportieren als den Brennstoff. Das gilt insbesondere
ür Kohle. Die besten Kraftwerksstandorte liegen nun
al direkt an der Küste. Die von mir bereits erwähnten
robleme des Stromtransits werden dadurch noch ver-
tärkt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch eine dritte
eue Aufgabe des Stromnetzes ansprechen, die in den
ergangenen Jahrzehnten nur eine untergeordnete Rolle
espielt hat: Die Bereitstellung von Kapazitäten für ei-
en europaweiten Stromhandel und -transport. Neben
em Ausbau der Kuppelkapazitäten erfordert die Schaf-
ung eines einheitlichen europäischen Energiemarktes
inen Ausbau von Höchstspannungsleitungen, um den
tromtransit ermöglichen zu können. Auf EU-Ebene
ind mit den transeuropäischen Elektrizitätsnetzen be-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19599
(A) )
(B) )
reits prioritäre Trassen identifiziert worden, deren Neu-
oder Ausbau für das Zusammenwachsen des europäi-
schen Strommarkts notwendig ist. Die Netzbetreiber ha-
ben mit den Planungen für den Neu- und Ausbau zahlrei-
cher Höchstspannungsleitungen teilweise bereits vor
mehreren Jahren begonnen. Die Projekte kommen
jedoch kaum voran, weil die Dauer der Genehmigungs-
verfahren in Deutschland zu nicht vorhersehbaren Ver-
zögerungen führt. Darauf hat nicht zuletzt die Bundes-
netzagentur im Januar dieses Jahres im Rahmen einer
Auswertung der Netzzustands- und Netzausbauberichte
der Übertragungsnetzbetreiber hingewiesen. Zusätzlich
bilden sich zunehmend lokale Widerstände gegen
Höchstspannungs-Freileitungen.
Wenn wir unsere ehrgeizigen energie- und klimapoli-
tischen Ziele erreichen wollen, dann müssen wir mit
dem Netzausbau entscheidend vorankommen. Der hier
vorliegende Gesetzentwurf ist ein entscheidender und
dringend notwendiger Schritt auf diesem Weg. Ein we-
sentliches Element ist die Aufstellung eines Bedarfs-
plans mit der Definition von Höchstspannungsleitungen
des vordringlichen Bedarfs, der alle fünf Jahre fortge-
schrieben wird. Für diese Vorrangprojekte wird der
Rechtsweg – in Analogie zum Infrastrukturplanungsbe-
schleunigungsgesetz – auf das Bundesverwaltungsge-
richt als erste und letzte Instanz verkürzt. Weiterhin wird
für Leitungen zur Netzanbindung von Offshore-Wind-
kraft ein Planfeststellungsverfahren eingeführt. Diese
Maßnahmen sind eine wesentliche Voraussetzung, um
die mit dem Gesetz angestrebte und notwendige Be-
schleunigungswirkung tatsächlich zu erreichen.
Der zweite zentrale Punkt ist die Festlegung von vier
Pilotvorhaben, in denen der teilweise Einsatz von Erdka-
beln getestet werden soll. Dies ist sicherlich der umstrit-
tenste Punkt des Gesetzes, um den auch zwischen den
Ressorts heftig gerungen wurde. Die vier Pilotprojekte
sind so ausgewählt worden, dass sie die Trassenverläufe
mit den größten lokalen Widerständen – beispielsweise
wegen der Querung von Natur- und Landschaftsschutz-
gebieten oder besonders geringen Abständen zur Wohn-
bebauung – abbilden. Ich persönlich hege eine gewisse
Sympathie für den Einsatz von Erdkabeln. Bei Verab-
schiedung des Gesetzes sollten wir allerdings auch si-
cher sein, dass der Einsatz von Erdkabeln wirklich zur
Beschleunigung des Verfahrens durch Abbau regionaler
Widerstände führt. Als Wirtschaftspolitiker sind mir die
damit verbundenen Kosten natürlich nicht gleichgültig.
Ein zeitlicher oder technischer Mehrwert könnte diese
Investitionen rechtfertigen. Das setzt allerdings die tech-
nische Gleichwertigkeit von Freileitungen und Erdka-
beln voraus. Freileitungen sind seit Jahrzehnten bei
Höchstspannungsleitungen Stand der Technik. Bei Erd-
kabeln dagegen gibt es – bezogen auf die Nutzung als
Wechselstromleitung auf Höchstspannungsebene an
Land – bisher nur wenige internationale Erfahrungen,
auf die wir zurückgreifen können. Als Tourismuspoliti-
ker erlaube ich mir auch die Feststellung, dass Freilei-
tungen aus landschaftsgestalterischen Gründen nicht
überall wünschenswert sind. Bevor wir endgültig die
Teilverkabelung von Höchstspannungstrassen mit Erd-
kabeln zulassen, sollten wir sicher sein, dass die einge-
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etzte Technologie auch ausgereift ist. Ich plädiere daher
ür ein umfangreiches Monitoring der Pilotprojekte. Wir
ollten in den Beratungen der kommenden Wochen vor-
rteilsfrei prüfen, ob der Einsatz von Erdkabeln den
echnischen Anforderungen entspricht. Die Beschleuni-
ung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze ist not-
endig. Lassen Sie uns den dafür notwendigen Rahmen
chaffen.
nlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Bundesverant-
wortung für den Steuervollzug wahrnehmen
(Tagesordnungspunkt 11)
Antje Tillmann (CDU/CSU): Mit schöner Regelmä-
igkeit bringt die Linkspartei Vorschläge zum Steuer-
ollzug. Leider sind diese oft schlecht recherchiert und
äufig auch nicht auf dem aktuellen Stand. Dieser An-
rag heute ist da aber wirklich ein „Highlight“: Die Vor-
ürfe, die gegen Landes- und Bundesfinanzverwaltung
rhoben werden, sind entweder veraltet, falsch oder un-
ahr. An einigen Stellen kommen dem Leser des An-
rags der Linkspartei ernste Zweifel, ob die Antragsteller
berhaupt der Diskussion um einen effizienteren Steuer-
ollzug in der Föderalismuskommission gefolgt sind.
Der Beschlussantrag der Linksfraktion wird im We-
entlichen mit Stellungnahmen und Gutachten begrün-
et, die bereits vor der Föderalismusreform I liegen.
So müssen wir uns tatsächlich mit einem Zitat des
MF vom 11. Mai 2004 beschäftigen, wonach die Län-
er in „Versuchung geraten, die Intensität der Steuerer-
ebung an zweifelhaften standortpolitischen Interessen
uszurichten“. Dabei haben die Kollegen der Linken
ohl die Föderalismuskommission I verschlafen. Der
MF hat seitdem verstärkte Weisungsrechte gegenüber
en Landesfinanzverwaltungen. Zum Beispiel kann er
inen bundeseinheitlichen IT-Einsatz anweisen, einheit-
iche Verwaltungsgrundsätze und gemeinsame Vollzugs-
iele und Regelungen zur Zusammenarbeit festlegen, so-
eit die Mehrzahl der Länder nicht widerspricht. Das
undeszentralamt für Steuern hat mehr Einfluss auf In-
alte und Verfahren bei den Außenprüfungen bekom-
en. Außerdem wurden die Auskunftserteilung und die
nzeigen in Steuerfragen verbessert.
Überholt ist auch der zitierte Bericht des Bundesrech-
ungshofes vom 17. Oktober 2006. Die zugrunde liegen-
en Erhebungen konnten die Rechtsänderungen infolge
er Föderalismusreform I noch gar nicht berücksichti-
en, da sie erst am 11. September 2006 in Kraft getreten
aren.
Bereits mit der Föderalismusreform I wurde im Fi-
anzverwaltungsgesetz eine bessere Koordination der
teuerverwaltungen durchgesetzt. Nach § 20 Abs. 1 FVG
ann der BMF jetzt einen bundeseinheitlichen IT-Ein-
atz anweisen, sofern nicht die Mehrzahl der Länder wi-
erspricht. Gerade auf dem Feld der elektronischen Da-
enverarbeitung ist seit dem Rechnungshofbericht aus
19600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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dem Jahre 2006 Grundlegendes verändert worden.
Spricht man mit Praktikern der Finanzverwaltung von
Bund und Ländern, merkt man sehr schnell, dass nach
Fehlschlägen mit dem System Fiskus das nun einver-
nehmlich betriebene Konzept KONSENS ein Erfolg ist
und Erweiterungen auch werden.
Die elektronische Steuererklärung (ELSTER) mit
über 100 Millionen übermittelten Steuerfällen jährlich
ist ebenso ein Beleg dafür. Gerade in den letzten beiden
Jahren wurden weitere IT-Projekte in Angriff genom-
men, zum Beispiel die länderumfassende Namensab-
frage, die insbesondere eine länderübergreifende Be-
kämpfung des Umsatzsteuerbetrugs unterstützt. Ab dem
Veranlagungszeitraum 2010 soll die Steuerfestsetzung
von den Finanzämtern mit einer einheitlichen Software
erfolgen.
Auch die Koordination der sogenannten Außenprü-
fungen zwischen den Landesfinanzverwaltungen und
dem Bundeszentralamt für Steuern wurde verbessert.
Die Länder haben die seinerzeit vom Bundesrechnungs-
hof geäußerten Kritikpunkte aufgegriffen und ent-
wickeln derzeit Kriterien für ein bundeseinheitliches
Risikomanagement bei Betriebsprüfungen. Nach Anga-
ben der Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen das
durchschnittliche Mehrergebnis pro geprüften Betrieb
seit 2002 mehr als verdoppelt, von rund 57 000 DM auf
rund 75 000 Euro im Jahre 2007.
Die Linkspartei begründet ihren Antrag wie folgt:
„Laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember
2007 haben Bundesländer ausdrücklich damit um Unter-
nehmen geworben, dass sie auf intensive Steuerprüfun-
gen verzichten“. Tatsächlich steht in der FAZ unter die-
sem Datum:
Die Berechnungen über Einsparungen, die durch
eine Zentralisierung der Steuerverwaltung zu erzie-
len seien, beruhen auf der Annahme, dass einige
Landesregierungen auf intensive Steuerprüfungen
verzichten, um Wirtschaftsunternehmen zur An-
siedlung in ihrem Bundesland zu veranlassen.
Wer solche Behauptungen vorträgt, muss sie mit Be-
weisen untermauern.
Einfach wird es nicht sein, solche Beweise zu finden.
Denn der Präsident des Bundesrechnungshofs hat in sei-
nem Schreiben vom 19. Dezember 2007 (veröffentlicht
als Kommissionsdrucksache 110) geschrieben:
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass niemand aus
dem Kreise der Mitglieder des Bundesrechnungs-
hofs den Vorwurf erhoben hat, die Länder würden
bewusst den Steuervollzug vernachlässigen.
Die Antragsteller hätten Monate lang Zeit gehabt, die
zitierte Kommissionsdrucksache zu verwerten.
Dem Bundesfinanzminister vorzuwerfen, er habe auf
die Forderung der Deutschen Steuergewerkschaft,
10 000 zusätzliche Stellen bei den Finanzämtern zu
schaffen, „äußerst zurückhaltend reagiert“, zeigt, dass
die Linke von klarer Zuständigkeitsverteilung gar nichts
hält. Wie hätte der Bundesfinanzminister denn reagieren
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ollen? In den Bundeshaushalt zusätzliche Stellen ein-
tellen, obwohl die Verwaltung bei den Ländern liegt?
as wäre sogar verfassungswidrig. Diese Kritik am
MF ist völlig daneben.
Zitat aus dem Antrag der Linkspartei:
Die Bundesregierung wird ihrer Verantwortung für
einen gleichmäßigen Steuervollzug nicht gerecht.
Sie hat nicht die Absicht, innerhalb der laufenden
Legislaturperiode einheitliche Verwaltungsgrund-
sätze, gemeinsame Vollzugsziele oder Regelungen
zur Zusammenarbeit der Bundes- und Landes-
finanzbehörden zu bestimmen, beziehungsweise
allgemeine fachliche Anweisungen zu erteilen.
Diese Behauptungen sind so klar und nachweisbar
nwahr, dass es den Antragstellern peinlich sein müsste:
ch könnte jetzt mindestens 20 Drucksachen aus der
ommission zitieren, in denen der BMF sich genau da-
ür eingesetzt hat. Wenn Sie Ihrer Verantwortung gerecht
eworden wären und in der Föderalismuskommission II
itgearbeitet hätten, wüssten Sie das! Ich will nur die
ktuellste Drucksache zitieren:
Der Bericht der zuständigen AG hält fest:
Im Hinblick auf das Thema „Effizienzsteigerung
des Steuervollzugs“ sind folgende Punkte strittig:
BMF hatte vorgeschlagen, ein allgemeines fachli-
ches Weisungsrecht im Bereich der Auftragsver-
waltung klarstellend in der Verfassung zu veran-
kern.
Bei Ihrer Forderung, „zum Konflikt mit den Bundes-
ändern überzugehen!“, macht sich nur noch blanke
einlichkeit über ihre Vorstellung von Verhandlungsfüh-
ung breit.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, …
4. parallel zu den Verhandlungen zur Steuerverwal-
tung in der Föderalismuskommission II die Mög-
lichkeiten zu sondieren, auf gerichtlichem Wege ihr
Weisungsrecht gegenüber den Ländern geltend zu
machen und die Länder zu einem konsequenten
Steuervollzug zu verpflichten. Dadurch stärkt die
Bundesregierung auch ihre Position in den Ver-
handlungen der Föderalismus-Kommission.
Zeitgleich zu Verhandlungen Klage zu erheben, wird
estimmt das Klima verbessern. Die Länder werden
ann bestimmt zu Kompromissen bereit sein.
Angesichts der Tatsache, dass die Steuerverwaltung
ändersache ist, Steuergesetze regelmäßig der Zustim-
ung des Bundesrates bedürfen und für eine Grundge-
etzänderung eine Zweidrittelmehrheit auch im Bundes-
at erforderlich ist, ergibt der Vorschlag wirklich keinen
inn, außer dem, die Verwaltung im Chaos untergehen
u lassen.
Mit diesem Antrag wird erneut klar, dass es den Lin-
en nicht um die Sache geht. Sie hat in der für die Ver-
esserung des Steuervollzugs zuständigen Arbeitsgruppe
er Föderalismuskommission II nichts beigetragen.
uch zu dem am 1. Oktober von dieser Arbeitsgruppe
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19601
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verteilten Bericht hat kein Kommissionsmitglied der
Linkspartei Stellung genommen.
Uns ist an Effizienzsteigerungen der Steuerverwaltun-
gen, gerade auch im Hinblick auf die Gleichmäßigkeit
des Steuervollzugs, gelegen.
Deshalb haben wir konkrete Vorschläge in die Föde-
ralismuskommission II eingebracht – übrigens auch
viele andere.
Wir haben uns daher in der für die Steuerverwaltung
zuständigen Arbeitsgruppe der Föderalismuskommis-
sion II dafür eingesetzt, dass die Themen Außenprüfun-
gen, Controlling, Datenabgleich und Weisungsrechte
einvernehmlich zwischen Bund und Ländern gelöst
wird.
Die Federführer der Arbeitsgruppe konnten einen
Konsens erzielen über folgende Punkte:
Erstens: Den Ausbau der Mitwirkungsrechte des Bun-
deszentralamts für Steuern bei Betriebsprüfungen.
Zitat aus AG2-Papier:
Schaffung der Befugnis für das Bundeszentralamt
für Steuern, Art und Umfang der Mitwirkung selbst
bestimmen zu können.
Die Einräumung eines Zustimmungsvorbehalts, bei
Abweichung von Betriebsprüfungsergebnissen.
Benennungsrechts des Bundeszentralamts für Steu-
ern für Steuerpflichtige, die geprüft werden sollen.
Zweitens: Kontrolle der Vollzugsziele für die Steuer-
verwaltung anhand von vorgegebenen Leistungskenn-
zahlen.
Der BMF und die jeweilige Finanzbehörde des Lan-
des schließen bilaterale Vereinbarungen über Ziele und
Leistungsparameter (Kennzahlen) ab.
Drittens: Aufstockung der Prüfer beim Bundeszen-
tralamt für Steuern um 500 Prüfer.
Viertens: Anonymisierte Datenübermittlung für Zwe-
cke der Gesetzesfolgenabschätzung.
Fünftens: Die Veranlagung von beschränkt Steuer-
pflichtigen nach § 50 a EStG wird beim Bundeszentral-
amt für Steuern zentralisiert, um Auslandssachverhalte
einheitlich und flächendeckend zu betreiben.
Diese Vorschläge sind abgestimmt mit dem BMF und
den beauftragten Landesministern und liegen der Föde-
ralismuskommission II vor. Wir haben uns auch auf kon-
krete Gesetzesformulierungen verständigt, sodass einem
erfolgreichen Gesetzgebungsverfahren nichts mehr im
Wege stehen sollte.
Das, meine Damen und Herren von der Linkspartei,
sind konkrete Vorschläge für Effizienzsteigerungen im
Steuervollzug. Schade, dass Sie sich nicht in die Niede-
rungen der Sacharbeit in der Föderalismuskommission II
begeben haben, sondern nur alte Phrasen dreschen.
Liebe Kollegen der Linken, Sie haben immer noch die
Chance, bei Föko II mitzuarbeiten Vielleicht sollten Sie
damit knapp zwei Jahre nach dem Start beginnen.
Ich bin sehr gespannt.
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Lydia Westrich (SPD): Es ist schon ein paar Jahre
er, dass die damalige Parlamentarische Staatssekretärin
m Finanzministerium Barbara Hendricks hier im Ple-
um die Errichtung einer Bundessteuerverwaltung ge-
ordert hat. Die Forcierung der Betrugsbekämpfung hat
amals im Vordergrund gestanden. Aber es ging auch da
chon um den lückenhaften Steuervollzug in einigen
ändern. Diese Forderung wurde als Antrag auf eine
undessteuerverwaltung in die Föderalismuskommis-
ion I eingebracht und natürlich von den meisten Län-
ern abgelehnt.
Der unterschiedliche Steuervollzug in den Ländern ist
ein neues Problem. Der Bundesrechnungshof hat das
chon häufiger angemahnt. Etliche Bundesfinanzminis-
er haben sich mit mäßigem Erfolg daran versucht, auf
inen besseren Vollzug zu dringen. Aber der Antrag, die
inanzverwaltung in Bundesverantwortung zu überneh-
en, hat anscheinend doch durchschlagende Wirkung
rzielt. Die Kienbaum-Studie mit der Empfehlung für
ine Bundessteuerverwaltung als effizientester und er-
ragreichster Möglichkeit hat ihr Übriges dazu getan.
ir kommen Schritt für Schritt einer effizienteren und
leichmäßigeren Behandlung der Steuerangelegenhei-
en näher.
Deshalb, meine Damen und Herren von der Linken,
ommt Ihr Antrag jetzt zur Unzeit. Erstens hinken Sie
amit einer längst eingetretenen Entwicklung hinterher,
nd zweitens ist es eben nicht so, wie Sie in Ihrer Be-
ründung aufführen, dass nur eine umfassende Bestands-
ufnahme und deren Bewertung stattfindet. In der Beant-
ortung Ihrer Kleinen Anfrage aus dem letzten Jahr sind
hnen die Fortschritte aus der damaligen Sicht schon
usführlich dargelegt worden. Aber Sie greifen sich ja
mmer nur das heraus, was Sie sehen wollen.
Das Bundeszentralamt für Steuern erfüllt voll seine
euen Aufgaben und erhält weitere Planstellen. Im Fi-
anzverwaltungsgesetz wurde die Kompetenz des Bun-
es für den Steuervollzug erheblich gestärkt. Das heißt,
ass Ihre Forderungen zweitens und drittens quasi unnö-
ig sind. Natürlich schöpft das Bundesfinanzministerium
eine Möglichkeiten aus, aber im Gegensatz zu Ihren
orderungen ist das Ministerium weiter darauf bedacht,
ie gemeinsame Einsicht und Zusammenarbeit zu beför-
ern. Sie benutzen in Ihrem Antrag das Wort „konsen-
uell“ ja beinahe als Schimpfwort: Ich sage Ihnen als
hemalige Finanzbeamtin, dass wir im Streit und Zwang
ür unser gemeinsames Anliegen überhaupt nichts errei-
hen. Das sieht man am Beispiel der gescheiterten Ak-
ion „Fiskus“.
Es gibt ein Gesamtinteresse, ja eine Gesamtverant-
ortung von Bund und Ländern, den Steuervollzug so
ffektiv und effizient wie möglich durchzuführen. Und
ieses Gesamtinteresse den Bürgern und Bürgerinnen
egenüber muss von den Partnern gleichwertig akzep-
iert werden. Deshalb halte ich auch nichts davon, mit
erichtlichen Entscheidungen zu drohen. Das kann die
ronten eher verhärten. Nicht umsonst heißt das neue
19602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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Datenvernetzungsprogramm „Konsens“, das tatsächlich
schon von der Mehrheit der Länder eingesetzt wird.
Ich kann aber Ihre Ungeduld nachvollziehen. Wir ha-
ben schon so viele Appelle an die Länder gerichtet, ihrer
Verantwortung so nachzukommen, damit sich die Steu-
erzahler auch gerecht behandelt fühlen. Das Anliegen,
das hinter Ihrem Antrag steckt, wird von den Koalitions-
partnern schon seit langem vorangetrieben. Vor allem
die SPD-Fraktion arbeitet daran, den Steuervollzug über-
all effektiv zu haben.
Wenn Sie an Länderdaten kommen, werden Sie se-
hen, dass SPD-regierte Länder längst reagiert haben.
Trotz mangelnder Belohnung im Finanzausgleich haben
sie ihre Prüfungsdienste ausgebaut. Da darf ich ruhig
mal das Beispiel Rheinland-Pfalz erwähnen. Spenden,
hat ein Unternehmer erklärt, gebe er nur in Baden-
Württemberg, weil sein Betrieb in Rheinland-Pfalz zu
häufig geprüft werde. Das sei Spende genug.
Der Finanzausschuss hat vor mehr als zehn Jahren auf
Antrag der SPD-Fraktion eine dreitägige Anhörung zur
Lage in der Finanzverwaltung durchgeführt. Schon da-
mals hatte der Bundesrechnungshof den mangelhaften
Steuervollzug gerügt. Immerhin haben wir mit dieser
Klimatagung damals erreicht, dass Finanzbeamte eigene
Berufsbezeichnungen bekamen, die Aufwertung der
Ausbildung als Fachhochschulstudium war dabei und
die schnellere Ausstattung der Arbeitsplätze mit Hard-
ware. Die Länder waren schon etwas beeindruckt und
wollten nicht unbedingt öffentlich vorgeführt werden.
Das ist natürlich schon viele Jahre her. Die Steuerge-
setze sind seither noch komplizierter geworden. Die
Fluchttechniken aus der Steuerzahlung sind durch die
neuen Medien noch raffinierter. Neue Erscheinungen
wie der Karussellbetrug bei der Umsatzsteuer müssen
analysiert und bekämpft werden. Es ist ein Riesenpaket,
das auf den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fi-
nanzverwaltung lastet. Viele sind frustriert, weil sie den
Steuervollzug ihrer Meinung nach nicht so durchsetzen
können, wie sie es gelernt haben. Die Masse an Fällen
für den Einzelnen ließe eine gründliche Bearbeitung
kaum noch zu. Da muss die Steuergerechtigkeit automa-
tisch leiden. Es ist sicher übertrieben, innerhalb von
Deutschland von „Steueroasen“ zu reden. Aber die For-
derung, die Finanzverwaltung in Bundeshand zu geben,
kommt auch nicht von ungefähr.
Wir sind den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber
verpflichtet, zuerst einmal die Steuern hereinzuholen,
die angefallen sind. Das verfassungsgemäße Gebot, Bür-
ger nach ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung
der Staatsaufgaben zu beteiligen, darf nicht durchlöchert
werden; da sind wir uns alle einig. Es geht um den Weg,
wie wir dieser Daueraufgabe gemeinsam gerecht wer-
den. Da brauchen wir nicht zu verstecken, dass wir auch
Erfolge zu verzeichnen haben. Von der bundesweiten
Identifikationsnummer über die elektronische Steuerer-
klärung bis zum Verwaltungsabkommen KONSENS ha-
ben wir gerade in letzter Zeit langjährige Forderungen
der Steuer-Gewerkschaft erfüllt. Das erleichtert die Ar-
beit der Finanzverwaltungen.
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Ich bin überzeugt, dass wir auch in der Föderalismus-
ommission II ein gutes Stück mehr Verzahnung in den
ändern erreichen. Natürlich wäre es schön, das allge-
eine Weisungsrecht des Bundes rechtssicher zu haben.
ber die Keule der Drohung mit dem Bundesverfas-
ungsgericht ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht ange-
racht. Damit begegnen wir weder der Personalnot noch
angelnder technischer Ausstattung oder befördern die
otwendige Zusammenarbeit unter den Verwaltungen.
as ich aber glaube, ist, dass wir schon den Druck auf
ie Länder aufrechterhalten müssen, um bei der Födera-
ismuskommission II ein gutes Ergebnis zu erzielen, das
em Gebot der gleichmäßigen Besteuerung Rechnung
rägt. Daran können wir alle arbeiten, und dazu brauchen
ir keinen großen Konflikt.
Wenn ich in der Financial Times warnende Über-
chriften lese wie: „Wenn der Fiskus öfter klingelt“ oder:
Gutverdienende werden häufiger von Prüfern aufge-
ucht“, dann haben die Mängelrüge des Bundesgerichts-
ofes, die sich auf die Prüfung von Millionären bezog,
nd der Druck des Ministeriums und Parlaments durch-
us Wirkung gezeigt. Deshalb bin ich auch ganz zuver-
ichtlich, dass sich die Arbeitsgruppe von Bundestag
nd Bundesrat mit ihren Vorschlägen zur Effizienzstei-
erung der Steuerverwaltung durchsetzen wird.
Ihr Antrag „Bundesverantwortung für den Steuervoll-
ug wahrnehmen“ kommt nicht nur zur Unzeit, er ist
uch falsch und überflüssig. Er impliziert, dass der Bund
enau das bisher nicht tut. Aber Sie selbst wissen, dass
ine ganze Menge passiert ist, das ja auch erst Wirkung
rzielen muss. Es ist auch ungerecht den Ländern gegen-
ber, die ihre Verantwortung in hohem Maße wahrneh-
en.
Wir werden diesen unnötigen Antrag ablehnen. Das
nliegen, Steuergerechtigkeit in ganz Deutschland zu
aben und den Steuervollzug überall gleichmäßig durch-
uführen, wird von den Koalitionsfraktionen und dem
undesfinanzministerium weiter als Daueraufgabe vor-
ngetrieben.
Dr. Volker Wissing (FDP): Dass die Linke eher
um Zentralismus neigt, ist so neu ja nicht. Vom Zentral-
omitee zum Zentralstaat ist es ja nur ein kleiner Weg.
abei gibt es sehr viele positive Aspekte des Föderalis-
us. Ein ganz wesentlicher ist zum Beispiel, dass die
chlechte Politik einer großen Koalition von einer besse-
en Politik in den Ländern aufgefangen werden kann.
as von Bundeskanzlerin Angela Merkel irgendwann
inmal angekündigte große Durchregieren ist jedenfalls
usgeblieben. Im Gegenteil: Frau Merkel beschäftigt
ich heute viel lieber mit Durchlavieren als mit Durchre-
ieren.
Unabhängig von Frau Merkels Moderationsfähigkei-
en hat sich der Föderalismus in Deutschland bewährt.
r steht für starke Länder und für die Vielfalt der Regio-
en. Ein Bereich, in dem regionale Vielfalt aber definitiv
ehl am Platze ist, ist die Steuerverwaltung. Eine bundes-
inheitliche Steuerverwaltung ist ganz wesentlich für ei-
en funktionierenden Wettbewerb. Und sie ist eine
rundvoraussetzung für Steuergerechtigkeit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19603
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Die FDP ist für ihre Forderung nach mehr Steuerauto-
nomie für die Länder scharf kritisiert worden. Aber was
passiert denn zurzeit? Im Moment haben wir doch das
Phänomen, dass großzügige Erlassmaßnahmen und laxe
Prüfungspraktiken auf bestem Wege sind, zu einem
Standortfaktor zu werden. Ich bin gespannt, wie lange es
noch dauern wird, bis das erste Bundesland plakatiert:
Wir können alles, außer prüfen.
Dabei sind es nicht die Baden-Württemberger, die be-
sonders großzügig mit den gemeinsam verwalteten Steu-
ern umgehen. Berlin lässt sich in puncto Großzügigkeit
nur ungern übertrumpfen. Bei Herrn Sarrazin können
sich vielleicht die Arbeitslosengeld-II-Empfänger warm
anziehen, säumigen Steuerzahlern bereitet er hingegen
ein kuschelig-warmes Umfeld. Bei der veranlagten Ein-
kommensteuer hat Herr Sarrazin im Jahr 2005 mal eben
auf 2,5 Millionen Euro verzichtet. Bayern hat nur
2,4 Millionen Euro sausen lassen. Aber der rot-rote Se-
nat in Berlin kann es sich eben leisten.
Wie sehr nicht nur die Steuerprüfung, sondern auch
die -erhebung zu einem Standortfaktor geworden ist,
verdeutlicht der große Widerstand gegen die vom Bun-
desfinanzminister lange geforderte Bundessteuerverwal-
tung. Wobei die von den Ländern vertretene Argumenta-
tion, dass eine Übertragung der Steuerverwaltung auf
den Bund die Länder zu Zuwendungsempfängern des
Bundes machen würde, alles andere als einleuchtend ist.
Auf der einen Seite fürchten viele Länder mehr Finanz-
autonomie wie der Teufel das Weihwasser, auf der
anderen Seite wird die Steuerverwaltung zu einem be-
sonderen Element der Eigenstaatlichkeit der Länder auf-
gebauscht. Daher geht es hier weniger um Hoheits- und
Machtfragen, als vielmehr um Steuergerechtigkeit und
fairen Wettbewerb. Eine lockere Finanzverwaltung darf
nicht zu einem Wettbewerbsvorteil werden.
Wer sagt, dies sei auch gar nicht der Fall, muss sich
eines Besseren belehren lassen. Der Fall der Unterneh-
mensgruppe Drinks & Food ist hier geradezu exempla-
risch. Dies Unternehmen finanzierte seine ruinöse Wett-
bewerbspolitik ganz wesentlich über die konsequente
Nichtbegleichung der Branntweinsteuer. Als das Haupt-
zollamt endlich eingriff, beliefen sich die Steuerschulden
auf 72 Millionen Euro. Die Verbindlichkeiten machten
sage und schreibe 82 Prozent der Bilanzsumme aus. Es
ist ehrenwert, dass die Politik um jeden Arbeitsplatz
kämpft, aber das darf nicht dazu führen, dass ein unehrli-
ches Unternehmen einen Vorteil gegenüber einem ehrli-
chen hat.
Es ist mehr als schade, dass der Bundesminister der
Finanzen mit seiner Maximalforderung nach einer Bun-
dessteuerverwaltung so viel politisches Porzellan zer-
schlagen hat. Der Sache ist auf jeden Fall nicht gedient,
wenn der Bundesfinanzminister zwar dick die Backen
aufbläst, ihm dann aber schon auf dem ersten Meter die
Luft ausgeht. Manchmal ist weniger auch mehr; dies gilt
gerade auch für politische Forderungen. Ich würde es be-
grüßen, wenn die Bundesregierung zunächst einmal die
ihr zur Verfügung stehenden Mittel und Weisungsrechte
nutzt, um einen einheitlichen Steuervollzug zu gewähr-
leisten. Erst dann ist absehbar, welche institutionellen
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nd rechtlichen Maßnahmen ergriffen werden müssen,
amit in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders besteu-
rt wird wie in Bayern.
Die FDP fordert deshalb eine bundeseinheitliche
teuerverwaltung. Wichtig ist nicht die Macht-, sondern
ie Vollzugsfrage. Es ist egal, ob die Steuerverwaltungen
em Bund oder den Ländern unterstehen, wichtig ist ein-
ig und allein, dass überall gleiches Recht für alle gilt,
nd zwar nicht nur auf dem Papier, sondern ganz konkret
ei der Umsetzung.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Die Steuergesetze
elten für alle gleichermaßen. Das verlangt der Gleich-
eitsgrundsatz der Verfassung. Er ist unvereinbar damit,
ass Finanzämter „Durchwinktage“ einrichten oder er-
ägen, um Einkommensmillionäre nicht mehr zu über-
rüfen, unvereinbar damit, dass Bundesländer Sonder-
rüfungen „herunterfahren“, dass Steuerverwaltungen zu
achlässigem Steuervollzug angewiesen werden, ja, dass
undesländer sogar damit um Unternehmen werben,
ass sie auf intensive Steuerprüfungen verzichten.
Solche Fälle sind allseits bekannt. Der Bundesrech-
ungshof stellt seit Jahren regelmäßig fest, dass der
leichheitsgrundsatz durch laxen Steuervollzug durch
ie Bundesländer verletzt wird. Das Bundesfinanzminis-
erium teilt mit, dass die Gefahr einer zweifelhaften
tandortpolitik der Bundesländer, zum Beispiel über die
rüffrequenz, nicht von der Hand zu weisen ist.
Hier steht also seit Jahren der Vorwurf im Raum, dass
ie Bundesländer vorsätzlich die Verfassung brechen,
m im Standortwettbewerb Vorteile zu erlangen. Das
ann das Parlament nicht dulden. Es kann nicht hinneh-
en, dass sich die Exekutive weigert, die Gesetze durch-
usetzen, die vom Parlament erlassen wurden.
Die Bundesregierung hat die Letztverantwortung für
en Gesetzesvollzug. Sie wird dieser Verantwortung
icht gerecht. Es reicht nicht, regelmäßig die Pflichtver-
etzung durch die Bundesländer festzustellen. Die Bun-
esregierung ist in der Pflicht, ihre rechtlichen Möglich-
eiten zu nutzen. Der Bund verfügt über das konkrete
eisungsrecht. Er kann ein Land anweisen, nur speziell
usgebildete Mitarbeiter mit einem bestimmten Ver-
ahren zu befassen. Bei unzureichender Prüfhäufigkeit
nd -intensität durch die Bundesländer ist er zum Ein-
chreiten verpflichtet. Der Bund kann spätestens seit der
öderalismusreform I einheitliche Verwaltungsgrund-
ätze, gemeinsame Vollzugsziele und Regelungen be-
timmen und allgemeine fachliche Anweisungen ertei-
en. Diese sind für die Bundesländer bindend, solange
ie Mehrheit der Länder nicht widerspricht. Sollten ein-
elne Länder hiergegen verstoßen, muss die Bundesre-
ierung bereit sein, ihre Zuständigkeit vom Bundesver-
assungsgericht klären zu lassen, ähnlich wie dies im
ompetenzstreit beim Atomrecht der Fall war. Dies er-
ordert die Bereitschaft, von der pauschalen Konsensori-
ntierung zum Konflikt mit den Bundesländern überzu-
ehen. Dies ist bei einem anhaltenden Verstoß gegen den
leichheitsgrundsatz angemessen.
19604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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Das Parlament hat diese Möglichkeiten nicht. Der
Bundestag ist aber der Gesetzgeber, dessen Gesetze
nicht konsequent vollzogen werden. Im Ergebnis sind
diejenigen die Dummen, denen die Steuer direkt vom
Lohn abgezogen wird. Es bleibt dem Parlament daher
nur, die Bundesregierung zum Handeln aufzufordern –
oder eine andere Regierung zu wählen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
ist ein offenes Geheimnis, dass die Länderfinanzverwal-
tungen zwischen Mecklenburg und Bayern bei der Be-
steuerung mit unterschiedlichem Maß messen, zum Bei-
spiel beim Prüfungsturnus, durch Stundungen oder
Erlass von Steuern. Der Prüfungsturnus von Großbetrie-
ben lag zwischen 3,5 und 5,4 Jahren (2005). Mittelbe-
triebe werden bestenfalls alle 9,9, im schlechtesten Fall
alle 18,4 Jahre geprüft. Bei der Umsatzsteuersonderprü-
fung werden im besten Fall 2,5 Prozent der Unterneh-
men geprüft, der schlechteste Wert lag bei 1,3 Prozent.
Das sind Zahlen der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,
das Bundesfinanzministerium rückt sie nämlich nicht
raus; das ist auch so ein Skandal, aber dazu später. Das
ist Wirtschaftspolitik zulasten des Steuerzahlers. Von ei-
ner Gleichmäßigkeit der Besteuerung kann gar keine
Rede sein. Die Grünen, aber auch der Bundesrechnungs-
hof haben diese Missstände schon seit Jahren kritisiert –
substanziell geändert hat sich nichts!
Die neuen Weisungsrechte des Bundes gegenüber den
Ländern aus der Förderalismuskommission Episode I
sind ein stumpfes Schwert. Sie nutzen dem Bund nicht,
wenn die Mehrheit der Länder widerspricht, und die
Länder widersprechen logischer Weise, wenn der Bund
versucht, die Besteuerungspraxis anzugleichen.
Die Föderalismusreform II müsste hier nachbessern.
Die vom Bundesfinanzministerium gewünschte Bundes-
steuerverwaltung wird aber von der Mehrheit der Länder
weiterhin abgelehnt. Diese sind allenfalls zu kleineren
Zugeständnissen bereit. Um aus dieser Pattsituation he-
rauszukommen, schlagen die Grünen vor, dass die Län-
der von einem Mehrertrag aus Betriebsprüfung und
Steuerfahndung stärker profitieren. Damit hätten sie ei-
nen Anreiz, beispielsweise ihre Personaldecke zu stär-
ken; denn eine Betriebsprüferin/ein Betriebsprüfer
brachte 2007 1,2 Millionen Euro Mehrertrag. Und wir
brauchen mehr Transparenz über die unterschiedliche
Besteuerungspraxis. Es ist ein politischer Skandal, dass
die Bundesregierung länderspezifische Werte verheim-
licht, obwohl die Daten vorliegen und dies die unge-
rechte Besteuerungspraxis damit schützt.
Auf meine Anfragen nach dem Prüfungsturnus in den
Bundesländern bekam ich nur die lakonische Antwort,
es sei „ständige Praxis des Bundesfinanzministeriums,
nur Daten der Steuerverwaltung weiterzugeben, die das
gesamte Bundesgebiet betreffen“. Diese Verschleie-
rungstaktik ist für die Bürgerinnen und Bürger völlig in-
akzeptabel. So geht es nicht, und so darf es nicht bleiben.
Die Akzeptanz des Steuersystems durch die Bürgerin-
nen, Bürger und Unternehmen hängt ganz entscheidend
davon ab, dass gleichmäßig besteuert wird. Unterschied-
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iche Steuerbelastungen nach dem Gutdünken der Län-
erfinanzminister verletzen den Gleichbehandlungs-
rundsatz und zu Recht das Gerechtigkeitsgefühl der
teuerpflichtigen. Wenn eine gerechte Besteuerung nicht
ehr gewährleistet ist, dann wird der Föderalismus zum
otengräber der Steuergerechtigkeit. Gleichmäßige Be-
teuerung ist eine Bringschuld der Steuerverwaltung!
Mehr Koordinierung bei der Steuererhebung macht fi-
anziell Sinn. Laut dem Kienbaum-Gutachten für das
undesfinanzministerium könnte eine bessere Steuer-
erwaltung von Bund und Ländern zwischen 5,8 und
1,5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen im Jahr
inspielen, zum Nutzen aller steuerzahlenden Bürgerin-
en und Bürger.
nlage 10
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Überführung
der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Ge-
sellschaft mit beschränkter Haftung in private
Hand (Tagesordnungspunkt 12)
Paul K. Friedhoff (FDP): Sie werden mir sicherlich
ustimmen, wenn ich feststelle, dass Bundesländer keine
utohersteller sind. Sie sollten dies aus guten Gründen
uch nicht sein. Wenn ein Bundesland trotzdem meinen
ollte, einflussreicher Aktionär bei einem Automobilun-
ernehmen sein zu müssen, so kann es ein Viertel der
ktien kaufen, um eine Sperrminorität zu erlangen. Es
ollte aber keine systemwidrigen Sonderregelungen wie
as VW-Gesetz in Anspruch nehmen können, die ihm
ls staatlichem Aktionär Einflussnahme schon bei einem
iedrigeren Aktienanteil garantieren.
Eine solche systemwidrige Sonderregelung enthält
ber das VW-Gesetz. Dieses auf ein einzelnes Unterneh-
en bezogene Gesetz von 1960 privilegiert einen ein-
igen Aktionär, in diesem Fall das Land Niedersachsen.
as Gesetz hält im Ergebnis potenzielle Investoren da-
on ab, Anteile zu kaufen, um Einfluss zu gewinnen, da
er Anteilskauf durch die feste Stellung des Sonderak-
ionärs weniger attraktiv erscheint.
Die europäische Rechtsprechung kritisiert vor allem
rei kritische Punkte im derzeitigen VW-Gesetz: Das
ntsenderecht erlaubt es sowohl dem Bund als auch dem
and Niedersachsen, jeweils zwei Vertreter in den VW-
ufsichtsrat zu entsenden, sobald Bund oder Land min-
estens zwei Aktien besitzen. Die Stimmrechtsbeschrän-
ung verbietet es einem Aktionär unabhängig von sei-
em tatsächlichen Kapitalanteil, mehr als 20 Prozent der
esamtstimmrechte auszuüben. Die Regelung zur ge-
inderten Sperrminorität erlaubt es einem Aktionär, Sat-
ungsänderungen bereits mit einem Kapitalanteil von
0 Prozent statt der im deutschen Aktienrecht üblichen
5 Prozent zu blockieren.
Die Kombination dieser Regelungen im geltenden
W-Gesetz führt dazu, dass Grundsatzentscheidungen
hne die Stimmen des Landes Niedersachsen nicht mög-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19605
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lich sind und der Staatseinfluss fixiert ist. Die Privilegie-
rung des staatlichen Aktionärs gegenüber den übrigen
privaten beschränkt die Kapitalverkehrsfreiheit und ist
als Investitionshürde mit dem Europäischen Gemein-
schaftsrecht nicht vereinbar. Diese Kapitalverkehrsbe-
schränkung ist auch nicht etwa zur Sicherung des Allge-
meinwohls notwendig, wie oft behauptet. Die von der
Bundesregierung dafür angeführten sozialpolitischen
oder gar industriepolitischen Gründe reichen nicht aus.
Auch ein Schutz vor feindlichen Übernahmen kann
keine Rechtfertigung dafür bieten, VW nicht als norma-
les Unternehmen zu behandeln. Dies hat der EuGH
mehrfach deutlich gemacht.
Die Bundesregierung meint dennoch, die Auffassung
des Europäischen Gerichtshofes beharrlich ignorieren zu
können. Die Justizministerin probiert einfach weiter am
Gesetz herum, ohne eine klare Lösung zu schaffen. Der
EuGH wird das VW-Gesetz aber zu Recht erst akzeptie-
ren, wenn seine Kritikpunkte ausgeräumt sind. Die Bun-
desregierung wird dies wissen. Dennoch ist sie nicht
lernwillig, sondern provoziert ein Vertragsverletzungs-
verfahren nach dem nächsten. Es kann und darf jedoch
nicht sein, dass die deutschen Steuerzahler am Ende von
Brüssel verhängte Strafgelder bezahlen müssen, nur weil
die Bundesregierung dem Land Niedersachsen eine eu-
roparechtswidrige Sonderrolle länger sichern will.
Nach Ansicht der FDP sind Vetorechte für den Staat
bei einem im Wettbewerb stehenden Unternehmen nicht
nötig. Wenn in Unternehmenspolitik vom Staat hineinre-
giert werden kann, so ist dies für das Unternehmen kei-
nesfalls förderlich. Hat ein Aktionär Sonderrechte, so
liegt in dieser Begünstigung klar die Gefahr, dass er sie
im Eigeninteresse und zulasten der „normalen Aktio-
näre“ ausnutzt. Ein Wegfall von Sonderrechten und
„Goldenen Aktien“ ist daher zur Stärkung der Hauptver-
sammlung als legitimem Eigentümergremium geboten.
Ein besonderer gesetzlicher Schutzwall ist nach unse-
rer Meinung für das Unternehmen Volkswagen nicht nö-
tig. Der Schutz der Eigentümerinteressen wird ebenso
wie die Durchsetzung der Hauptversammlungsbe-
schlüsse durch Aktiengesetz und Handelsgesetzbuch für
VW – wie für alle anderen Aktiengesellschaften – ge-
währleistet. Das Beibehalten eines Einzelfallgesetzes ist
unnötig. Nötig dagegen ist, die Volkswagen-Aktienge-
sellschaft als ein normales Unternehmen zu betrachten.
Da Volkswagen nicht gleicher oder ungleicher ist als an-
dere Autobauer, muss der Staatseinfluss konsequent zu-
rückgefahren werden. Die Verfechter einer starken Be-
teiligung der öffentlichen Hand an diesem Unternehmen
sollten bedenken, dass das VW-Gesetz früher einmal
„VW-Privatisierungsgesetz“ genannt wurde.
Die Volkswagen AG muss in diesem Zusammenhang
auch keine Angst vor dem Einstieg beispielsweise von
Porsche haben. Wenn bei VW zwölfmal so viel Men-
schen wie bei Porsche arbeiten, aber nur sechsmal so
viel Autos bauen, zeigt dies, dass für Effizienzsteigerun-
gen bei VW durchaus noch Raum ist. Wenn die Bundes-
regierung im Fall Volkswagen auf Protektionismus setzt,
so torpediert sie damit vor allem die Förderung des
europäischen Binnenmarktes. Mitgliedsländer mit pro-
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ektionistischen Tendenzen in ihrer Industriepolitik wie
rankreich, wo häufig auch deutsche Mittelständler dis-
riminiert werden, dürften sich durch eine Beibehaltung
es VW-Gesetzes bestätigt sehen.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich dafür einset-
en, dass bei Volkswagen in Zukunft das Verhältnis zwi-
chen Kapitalanteil und Kontrolle wieder proportional
nd europarechtskonform nach dem Prinzip „Eine Aktie,
ine Stimme“ ausgestaltet wird. Wir streiten für die
ückkehr zu den Regeln der sozialen Marktwirtschaft
m Prozess um das VW-Gesetz. Einen Dauerstreit der
undesjustizministerin mit der EU-Kommission auf
osten der Steuerzahler gilt es zu vermeiden.
nlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung zu den
Anträgen:
– Die Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln
– Gesetz zum Ausgleich behinderungsbeding-
ter Nachteile vorlegen (Nachteilsausgleichs-
gesetz – NAG)
– Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stär-
ken – Wahlfreiheit und Selbstbestimmung
der Menschen mit Behinderung erhöhen
(Tagesordnungspunkt 13)
Hubert Hüppe (CDU/CSU): Wir debattieren heute
ie Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der
DP-Fraktion sowie über einen Antrag der Fraktion Die
inke. Alle Anträge befassen sich in unterschiedlicher
eise mit der Zukunft und der Weiterentwicklung der
ingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen.
ch will nicht verhehlen, dass ich für alle Anträge Sym-
athien habe.
Eines vorweg: Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
st es ein wichtiges Anliegen, die Eingliederungshilfe
eiterzuentwickeln. Auch wir sehen Reformbedarf, um
ine moderne und teilhabeorientierte Behindertenpolitik
eiterhin zu ermöglichen. Ich glaube, in diesem Punkt
ind wir uns fraktionsübergreifend einig. Um jedoch
em Anspruch gerecht zu werden, die Eingliederungs-
ilfe vor allem zukunftsfest und krisensicher zu gestal-
en, braucht es konkretere Veränderungen im SGB XII
nd anderen Gesetzen als die in den vorliegenden Anträ-
en vorgeschlagenen.
Bereits bei der ersten Lesung des Antrages der Grü-
en habe ich deutlich gemacht, dass ich mit den Grund-
deen weitgehend übereinstimme. Allerdings ist der An-
rag an zentralen Stellen nicht zu Ende gedacht, nicht
ealisierbar bzw. in einigen Punkten auch falsch. Dies
ilt insbesondere für die Kernforderung nach dem soge-
annten Teilhabegeld. Wenn man diese Leistung, so wie
on Ihnen vorgeschlagen, kostenneutral umsetzen
ürde, so würde dies für die meisten Menschen mit Be-
19606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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hinderungen, die heute Leistungen erhalten, bedeuten,
dass sie Einbußen in Kauf nehmen müssten. Sie müssen
dann aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, so ehrlich sein und das
den Betroffenen sagen. Unter dem Gesichtspunkt der
Praktikabilität halte ich es für fraglich, ob länderspezifi-
sche Nachteilsausgleiche, zum Beispiel das Blindengeld,
in ein solches Bundesgesetz – wie das Teilhabegeld –
mit einbezogen werden könnten.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine konsequentere
Steuerung des Zugangs zu den Werkstätten für behin-
derte Menschen. Dass im Bereich der Steuerung der Zu-
gänge in die Werkstätten Handlungsbedarf besteht, sehe
ich auch. Aus diesem Grund wird heute noch der Gesetz-
entwurf zur Unterstützten Beschäftigung eingebracht.
Mit dem Instrument der Unterstützten Beschäftigung
wollen wir insbesondere jungen Menschen zu einem Ar-
beitsplatz am allgemeinen Arbeitsmarkt verhelfen, die
zurzeit nur die Möglichkeit haben, in einer Werkstatt für
behinderte Menschen zu arbeiten. Dies ist sicherlich nur
ein Mosaikstein, um Alternativen zu schaffen, aber es ist
eben viel schwieriger, konkret ein Gesetz zu formulie-
ren, als hehre Grundsätze zu bekräftigen.
In diesem Zusammenhang ist es eine allgemein be-
kannte Tatsache, dass es unter der rot-grünen Bundesre-
gierung den mit Abstand höchsten Zuwachs in Werkstät-
ten für behinderte Menschen gab. Im Jahre 2002 gab es
einen Rekordzuwachs mit über 25 000 zusätzlichen
Werkstattplätzen. Dieser Zuwachs war mehr als dreimal
so hoch wie im Jahr zuvor und danach. Die außerge-
wöhnlich starken Zuwächse fielen genau in die Zeit der
rot-grünen Kampagne „50 000 Jobs für Schwerbehin-
derte“. Sie hatten damals versprochen, die Zahl der ar-
beitslosen Schwerbehinderten um 50 000 bis zum Okto-
ber 2002 zu senken. Es stellte sich nur die Frage, wohin
diese fast 50 000 weniger Arbeitslosen „entschwunden“
waren. Ob hier zwischen der gesunkenen Zahl an ar-
beitslosen schwerbehinderten Menschen und dem außer-
gewöhnlichen Zuwachs in Werkstätten im Jahre 2002
ein Zusammenhang bestehen könnte, kann jeder für sich
selbst beantworten.
Auch will ich darauf hinweisen, dass Sie zu Ihrer Re-
gierungszeit gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
den Heimbewohnern ab 1. Januar 2005 den Zusatzbarbe-
trag in Höhe von bis zu 44 Euro gestrichen haben. Das
hat zur Folge, dass gerade alte Menschen in Heimen,
auch wenn sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben,
ein deutlich geringeres Taschengeld pro Monat bekom-
men als vor der Streichung des Zusatzbarbetrages.
Der Antrag der Fraktion Die Linke klingt wie ein
Wunschkatalog. Mit dem Antrag wird die Bundesregie-
rung aufgefordert, ein Nachteilsausgleichgesetz für
Menschen mit Behinderungen vorzulegen. Zwei Anmer-
kungen drängen sich mir auf, wenn ich mir den Antrag
durchlese. Zum einen: Die Fraktion Die Linke legt kei-
nen eigenen Gesetzentwurf vor, sondern fordert die Bun-
desregierung auf, ein Gesetz vorzulegen. Zu den Grün-
den schweigt sie sich aus. Zum anderen werden in dem
Antrag Leistungen auf Bundesebene gefordert, bei de-
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en nicht ausgeführt wird, wie die Kosten hierfür ge-
eckt werden sollen.
Es ist schon verwunderlich, dass die Fraktion Die
inke in ihrem Antrag neue Leistungen fordert, aber
ort, wo sie in der Regierungsverantwortung ist, Leis-
ungen für behinderte Menschen kürzt und einspart. So
urden in Berlin beispielsweise unter einer rot-roten
oalition nicht nur das Blindengeld gekürzt, sondern
uch Einsparungen im Bereich der Behindertenfahr-
ienste, Mobilitätshilfen und Wohlfahrtsverbände vorge-
ommen.
Noch ein paar Sätze zum Antrag der FDP-Fraktion
nd den darin enthaltenen – vier Sätze umfassenden –
orderungen. Die FDP will mehr Wettbewerb zwischen
rbringern von Leistungen der Eingliederungshilfe.
uch die Union ist dafür, mehr Wettbewerb in diesem
ereich zu schaffen. Das gilt auch für den Bereich der
eilhabe am Arbeitsleben. Hier gibt es bereits gute An-
ätze, beispielsweise in Niedersachsen mit dem Persönli-
hen Budget für Werkstattleistungen. Aber: Bei all dem
eränderungsbedarf, den wir im Bereich der Leistungs-
nbieter ebenfalls sehen, muss darauf geachtet werden,
ass die Strukturen, die sich bewährt haben, erhalten
leiben. Wettbewerb darf nicht zulasten der Qualität der
eistungen gehen.
Solange die FDP nicht sagt, wie sie ihre Ideen umset-
en will – und das tut sie in ihrem Antrag nicht –, ist der
ntrag für uns nicht zustimmungsfähig.
Die Reform der Eingliederungshilfe für Menschen
it Behinderung ist ein äußerst schwieriges Vorhaben.
n manchen Bereichen sind wir schon auf dem richtigen
eg, beispielsweise mit der oben genannten Unterstütz-
en Beschäftigung. Diese eröffnet die Chance auf einen
egulären Arbeitsplatz, sodass die Eingliederungshilfe
m Arbeitsbereich der Werkstätten nicht greifen muss.
Kürzlich hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein
achgespräch zur Unterbringung von behinderten Kin-
ern in Pflegefamilien veranstaltet. Wir waren uns einig,
ass Kinder mit Behinderungen, die nicht in ihren Her-
unftsfamilien verbleiben können, die Chance bekom-
en, in einer Pflegefamilie anstatt in einem Heim zu le-
en. Deswegen wollen wir gesetzliche Klarstellungen,
m dies zu ermöglichen.
Sicher ist: Wir brauchen eine umfassende Reform der
ingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen.
ei all unseren Forderungen und Verbesserungsvor-
chlägen sind wir aber auch auf die Unterstützung der
änder angewiesen. Denn: Die Länder tragen in erster
inie die Kosten für Eingliederungshilfeleistungen.
Wichtigster Grundsatz bei einer Reform der Einglie-
erungshilfe ist, dass der Mensch mit Behinderung in
en Mittelpunkt gerückt wird. Die Betroffenen müssen
elber entscheiden können, wo sie wohnen und arbeiten
ollen. Leistungen müssen dem Menschen mit Behinde-
ung folgen und nicht der Mensch den Leistungen.
Ich bitte Sie alle: Schaffen wir nicht noch mehr Büro-
ratie, sondern vereinfachen wir den Behördendschun-
el, damit die Betroffenen nicht ständig von Pontius zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19607
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Pilatus rennen müssen, um das zu bekommen, was ihnen
zusteht.
Wir haben hier im Parlament schon oft bewiesen, dass
wir – wie vielleicht in keinem anderen Politikbereich –
in behindertenpolitischen Entscheidungen über Frak-
tionsgrenzen hinweg an einem Strang ziehen können.
Gerade die Reform der Eingliederungshilfe dürfte – ge-
rade weil so viel auf dem Spiel steht und weil so viele
beteiligt sind – eine der schwierigsten politischen Aufga-
ben sein. Aber da dieser Nachteilsausgleich so wichtig
ist für die Betroffenen, lohnt es sich, weiter daran zu ar-
beiten, auch wenn man nicht alles sofort umsetzen kann.
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Ich werde es im-
mer wieder sagen: Das SGB IX ist ein hervorragendes
Gesetz. Wir haben damals gemeinsam gesagt, Leistun-
gen müssen aus einer Hand und zu den Menschen kom-
men.
Das Gegenteil ist heute der Fall – wir alle wissen es,
denn wir alle bekommen die Briefe, und Betroffene und
Verbände stehen uns jeden Tag auf den Füßen. In der
Anhörung wurde sehr deutlich, dass wir großen Hand-
lungsbedarf in der Eingliederungshilfe haben und da-
rüber hinaus im gesamten Sozialleistungsrecht. Wir ha-
ben Strukturen, die zersplittert und für die Menschen
undurchsichtig sind. Von Barrierefreiheit und Zugäng-
lichkeit kann da keine Rede sein. Wir haben ein System,
dass zuerst nach dem Warum einer Leistung fragt und
wenig auf individuelle Bedarfe eingeht, ein System, das
so unterschiedliche gesetzliche Leistungsansprüche for-
muliert, dass eine bloße Zusammenschnürung zu einem
Leistungspaket nicht machbar ist.
Zu groß sind die bürokratischen Hürden. Zum Bei-
spiel ist die Pflegeversicherung noch immer nicht Reha-
Träger, obwohl die gesetzlichen Regelungen des SGB IX,
die diese Strukturen zur Teilhabe zusammenbinden sol-
len, ein Wunsch- und Wahlrecht und einen personenzen-
trierten Budgetansatz eingeführt haben. Die guten An-
sätze gibt es, das haben wir in der Anhörung gehört. Sie
müssen genutzt werden. Deshalb bringt es nichts und ist
sogar gefährlich, an diesem System, an dem die Länder
großes Mitentscheidungsrecht haben, wahllos herumzu-
schneiden.
Wir haben die Konferenz der obersten Landessozial-
behörden, die über die Grundlinien berät, und nach der
ASMK im November wissen wir sicher mehr. Es gibt
eine Kommission zur Erarbeitung eines neuen Pflegebe-
dürftigkeitsbegriffs. Hier wird es mit Sicherheit auch
mehr Ansätze zur Personenzentrierung geben. Wir dis-
kutieren derzeit die Ergebnisse.
Was wir brauchen, wissen wir: Wir brauchen Perso-
nenzentrierung, Assistenz, Transparenz und weniger Bü-
rokratie – eben Entscheidungen aus einer Hand. Die Ser-
vicestellen funktionieren nicht – das wissen wir. Aber
warum nicht? Weil die Kostenträger diese Strukturen
nicht akzeptieren und geradezu boykottieren. Sie haben
noch immer nicht verstanden, dass wir mit dem SGB IX
trägerübergreifende Lösungen ermöglichen wollten,
Leistungen aus einer Hand.
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Wir brauchen den Aufbau und die Förderung eines
mbulanten Beratungs- und Unterstützungssystems, um
on den alten stationären Strukturen wegzukommen. Die
nhörung hat gezeigt, wie es nicht geht: Es geht nicht
it Experimenten wie einem Nachteilsausgleichsgesetz.
as würde zu kurz greifen und auch der Komplexität des
roblems nicht gerecht werden. Es besteht die große
efahr, dass gerade aufgrund des eingeschränkten Per-
onenkreises von Menschen mit einem GdB ab 50 Perso-
en ausgeschlossen werden und neue Schnittstellenpro-
leme zu deren Leistungsansprüchen geschaffen werden.
ir wollen ja keine Bewegung zwischen Leistungssys-
emen fördern, sondern bedarfsgerechte personen-
entrierte Leistungen, die barrierefrei und ohne „Fleisch-
eschau“ für den Menschen mit Unterstützungsbedarf
ind.
Es geht auch nicht über die bloße Forderung nach
ehr Markt für Anbieter. Wir wollen doch einen Markt
chaffen, auf dem die Betroffenen sich bewegen können.
as muss ein Wettbewerb um Qualität sein und nicht um
nstitutionelle Effizienz und geringe Kosten. Da bleibt
ann wieder alles auf der Strecke, was wir uns für die
enschen wünschen, nämlich, dass das Wunsch- und
ahlrecht kein Wunschtraum bleibt bzw. nicht von In-
titutionen ausgeübt wird.
Die Sachverständigen haben in der Anhörung dafür
lädiert, die Betroffenen mit mehr Marktmacht auszu-
tatten und die Beratung zu verstärken. Das halte ich für
en weit besseren Weg, Bewegung in die institutionelle
andschaft zu bringen. Denn wir wollen keine Entwick-
ung wie in der Pflegeversicherung, wo nicht nur bei pri-
aten Trägern längst der Wettbewerb um den billigsten
eimplatz läuft. In diese Abwärtsspirale werden nicht
ur die Betroffenen, sondern auch die Beschäftigten hi-
eingezogen. Im ambulanten und stationären Pflegebe-
eich werden deshalb zum Teil sittenwidrige Löhne ge-
ahlt. Es muss einen Mindestlohn in diesem Bereich
eben. Mehr Markt in der Eingliederungshilfe bedeutet
benfalls sinkende Löhne, keine Qualität. Das wollen
ir nicht! Wir wollen eine hohe Qualität und gute
öhne. Es ist richtig, dass in einem System Leistungs-
nsprüche an die Person gebunden werden sollten. Wir
aben das mit dem Persönlichen Budget gemacht und
lauben, dass man so die Zuständigkeits- und An-
pruchszersplitterung in der Reha überwinden kann.
uch ein Mindestlohn kann nicht nur auf dem allgemei-
en Arbeitsmarkt gelten, er muss auch in der Werkstatt
ültigkeit erlangen. Auch dort arbeiten die Menschen
eden Tag. Was bekommen sie dafür? Einen Tritt in den
intern, einen lumpigen Lohn, die konsequente Anrech-
ung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld bei Grundsiche-
ungsempfängern, und Sie müssen dann das Essen selbst
ezahlen. Sie haben am Ende des Monats, wenn es gut
eht, 100 Euro übrig.
Im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich
ird derzeit ein neues Fass aufgemacht, bei dem man
ur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann.
n § 45 SGB XII ist ganz klar geregelt, dass Menschen,
ie auf Betreiben des Fachausschusses in die Werkstatt
ommen, als voll erwerbsgemindert gelten. Jetzt haben
ir auf Betreiben des BMAS und der BA die Situation,
19608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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dass Grundsicherungsempfänger im Berufsbildungsbe-
reich nicht mehr als erwerbsgemindert gelten sollen. Sie
seien eben nicht „dauerhaft“ erwerbsgemindert – obwohl
das in der Überschrift des § 45 SGB XII steht und diese
Entscheidung des Fachausschusses gilt und auch renten-
versicherungsrechtlich bindend ist.
Es ist zunächst gut, dass man Menschen in dieser
Phase nicht für den Arbeitsmarkt verloren gibt. Aber es
ist skandalös, wenn diese Menschen aufgefordert wer-
den, Arbeitslosengeld II oder Hilfe zum Lebensunterhalt
zu beantragen. Die Menschen werden wieder im System
hin- und hergeschoben. In dem gegenwärtigen System
werden wir immer wieder mit solchen Fragen konfron-
tiert.
Warum? Weil dieses gegliederte System streng nach
institutionellen Gesichtspunkten strukturiert wurde.
Diese historische Entwicklung gilt es endlich aufzubre-
chen, damit Menschen mit Behinderung ihre Ansprüche
mitnehmen können. Dann brauchen wir auch nicht mehr
darüber zu diskutieren, wo und warum welche Leistung
hier und nirgendwo anders erbracht werden muss.
In der Analyse sind wir uns doch alle einig – nur müs-
sen wir in der Konsequenz auch zu übergreifenden Kon-
zepten kommen, die unser gemeinsames Anliegen trag-
fähig machen. Deshalb ist mein Plädoyer, aus dem
SGB IX ein barrierefreies Leistungsgesetz zu entwickeln
und das viele Geld im System neu zu verteilen, nämlich
so, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt
ihre Leistungen erhalten, wenn sie Unterstützungsbedarf
haben, damit Leistungen nach dem Normalitätsprinzip
da erbracht werden können, wo es fachlich sinnvoll ist,
und nicht da, wo es schon Anbieter gibt. Denn das sind
dann immer die Werkstätten in der alten Form. Das sind
dann die Wohnheime. Und es gibt viele Träger dieser
Einrichtungen, die davon weg wollen. Wir haben eine
zunehmende Zahl von Werkstätten, die auf Integrations-
betriebe und auf Außenarbeitsplätze setzen. Auch das
Modell der virtuellen Werkstatt findet Beachtung.
In meinem Heimatland Sachsen-Anhalt gibt es zum
Beispiel den CAP-Markt in Quedlinburg; es gibt viele
solcher Beispiele. Bei den Wohnheimen möchte ich nur
die Evangelische Stiftung Alsterdorf in Hamburg, die
Evangelische Stiftung Hephata Mönchengladbach und
das Johanneswerk in Bielefeld nennen. Ich konnte mich
dort selbst davon überzeugen, wie der Weg in die Nor-
malität funktionieren kann.
Diese Träger haben ihre Heime aufgelöst und normale
Wohnverhältnisse für die Bewohner hergestellt. Hier
geht man den Weg der Inklusion. Wir wollen nicht gegen
die Institutionen agieren, sondern nur mit ihnen wird es
gelingen. Einige haben die Zeichen der Zeit erkannt.
Aber unsere Bürokratie hält fest an den alten Pfründen.
Davon wollen und müssen wir weg, wenn wir die UN-
Konvention ernst nehmen. Denn sie sagt uns doch:
Macht endlich etwas für die Chancengleichheit, für die
Inklusion und die volle und vor allem wirksame Teil-
habe. Deshalb brauchen wir auf dieser Basis einen offe-
nen Diskussionsprozess, wie wir ihn schon einmal
hatten – bei der Einführung des SGB IX.
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Wenn heute behauptet wird, das gäbe es in Deutsch-
and doch schon, dann sage ich: Ihr irrt, denn ihr kennt
ie Situation vor Ort nicht, wo sich Eltern oder Kinder
it Behinderung durch Instanzen klagen müssen, um
on der Kasse oder dem Sozialamt etwas Hilfe im Alltag
u bekommen, das ist unverschämt und menschenver-
chtend – einfach skandalös. Wo es noch immer einen
irekten Zusammenhang von Förderschulabschluss und
erkstattbeschäftigung gibt. Wo sich Menschen mit
sychischen Erkrankungen vergeblich um eine wirk-
ame Integration in den Arbeitsmarkt bemühen. Wo sich
enschen die ständige Kontrolle ihrer Finanzen und ih-
es Gesundheitszustandes von der Kita bis ins Pflege-
eim gefallen lassen müssen. Wo Menschen mit Behin-
erung einen Lohn weit unterhalb jeder sittlichen
chwelle erhalten und davon auch noch für ihre Hilfs-
ittel zuzahlen müssen. Das nimmt den Menschen mit
ehinderung die Würde, und das hängt ganz stark mit
nserem gegliederten Leistungssystem zusammen. Die-
es wiederum ist Ausdruck unserer Geisteshaltung ge-
enüber Menschen mit Unterstützungsbedarf. Das hat
ns die Anhörung gezeigt und wir Abgeordnete kennen
s von unseren täglichen Gesprächen mit den Betroffe-
en und den Verbänden und vor Ort.
Sagen wir es deshalb, wie es ist: Nicht einer von uns
uss diesen zusätzlichen Aufwand betreiben, um leben
nd arbeiten zu können. Nicht einer von uns kann sich
orstellen, unter diesen Bedingungen zu leben, immer
nter dem Generalverdacht, nur noch mehr Leistungen
bgreifen zu wollen. Diese Menschen wollen in der Ge-
ellschaft ankommen und nicht länger ausgeschlossen
leiben. Warnen muss man jedoch davor, Teillösungen
u bevorzugen, wo übergreifende Erneuerung und Wei-
erentwicklung gefragt ist. Die Ratifizierung der UN-
onvention wird uns dazu das geeignete Instrument an
ie Hand geben. Es wird entscheidend sein, ob sich die
ächste Bundesregierung auf ein solches Vorhaben mit
en Ländern verabreden kann, denn Inklusion ist der
chlüssel. Ich möchte deshalb schließen mit den Worten
es hochverehrten ehemaligen Herrn Bundespräsidenten
ichard von Weizsäcker: „Was nicht erst getrennt wird,
uss hinterher nicht integriert werden.“
Heinz-Peter Haustein (FDP): Zu Beginn meiner
ede möchte ich gerne darauf verweisen, welch ambitio-
ierte Aussagen die schwarz-rote Koalition in ihrem
oalitionsvertrag zur Reform der Eingliederungshilfe
etroffen hat:
Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den
Verbänden behinderter Menschen werden wir die
Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so wei-
terentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und
leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei
haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die
Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste,
Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die
Umsetzung der Einführung des Persönlichen Bud-
gets einen zentralen Stellenwert. Wir wollen, dass
die Leistungen zur Teilhabe an Gesellschaft und
Arbeitsleben zeitnah und umfassend erbracht wer-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19609
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den. Hierzu bedarf es der effektiven Zusammen-
arbeit der Sozialleistungsträger.
Der Bundesarbeitsminister hat in den Beratungen
zum Haushaltsentwurf der Bundesregierung nochmals
betont, dass man auf gutem Wege sei, zusammen mit den
Ländern zu einer Einigung über die Reform der Einglie-
derungshilfe zu kommen. Dennoch bleibt es dabei: Trotz
vollmundiger, wiederholter Ankündigung ist in drei Jah-
ren zur Eingliederungshilfe nichts passiert.
Im Gegenteil: Heute ist es wieder einmal an der Op-
position, die Bundesregierung anzutreiben und Vor-
schläge zur Zukunft der Eingliederungshilfe vorzulegen.
Der Antrag meiner Fraktion fokussiert dabei auf die zur-
zeit sehr restriktive Zulassung zur Erbringung von Leis-
tungen der Eingliederungshilfe, die letztlich zu Nachtei-
len für Menschen mit Behinderung führt.
Prinzipiell ist für die FDP das Persönliche Budget der
beste Weg, um die Wahlfreiheit der Menschen mit Be-
hinderung zu stärken und es ihnen zu ermöglichen, das
zu ihren Bedürfnissen am besten passende Hilfearrange-
ment zu bestimmen. Aber auch das sozialrechtliche
Dreiecksverhältnis, der Sachleistungsbezug, soll wettbe-
werblicher mit dem Ziel einer Stärkung der Wahlfreiheit
und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung
ausgestaltet werden. Voraussetzung hierfür ist ein plura-
les Leistungsangebot in einem für neue Anbieter offenen
Markt.
Dies ist allerdings momentan nicht gewährleistet. Es
liegt letztlich im Ermessen des Trägers der Eingliede-
rungshilfe, ob ein neuer Anbieter zur Leistungserbrin-
gung zugelassen wird. Der Antrag fordert deshalb, die
Zulassung zur Erbringung von Leistungen der Einglie-
derungshilfe unter Wahrung gesetzlich vorgegebener
(Qualitäts-)Standards im Interesse der Menschen mit Be-
hinderung offener zu gestalten. Die Interessen der Kos-
tenträger sind dabei zu berücksichtigen.
Leistungsanbieter haben signalisiert, dass hierbei als
erster Schritt schon eine schiedsstellenfähige Ausgestal-
tung aller Vereinbarungen nach § 75 Abs. 3 SGB XII
– Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung –
hilfreich wäre, was auch in der Anhörung unterstrichen
wurde. Ob die Einführung eines Anspruchs auf Zulas-
sung, analog der Regelung im SGB XI, auch unter Kos-
tengesichtspunkten zielführend wäre, sollte in einem
zweiten Schritt geprüft werden.
Dabei möchte ich betonen, was in der Anhörung auch
unterstrichen wurde, dass mit den im Antrag vorgesehe-
nen Änderungen weder eine Beschäftigungsgarantie
noch eine Auslastungsgarantie für neu zugelassene An-
bieter verbunden ist. Zudem geht es uns nicht um Wett-
bewerb um des Wettbewerbs willen. Der Wettbewerb
soll hier vielmehr Mittel zum Zweck sein, wenn es da-
rum geht, das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen
mit Behinderung überhaupt erst zu gewährleisten. Ein
funktionsfähiger Wettbewerb setzt den Leistungsanbie-
tern Anreize, ihre Angebote an den Bedürfnissen der
Nutzer zu orientieren. Dass dabei nicht qualitative Min-
deststandards über Bord geworfen werden sollen, haben
wir ebenfalls explizit im Antrag festgehalten.
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Im Antrag der Grünen sehen wir positive Ansätze,
ber auch Sachverhalte die wir kritisieren müssen:
Es ist unter allen an der Diskussion um die Reform
er Eingliederungshilfe Beteiligten nahezu unstrittig,
ass die Differenzierung in der Erbringung von Leistun-
en nach Leistungsformen, -orten und -anbietern entfal-
en und in Richtung an der Person orientierter Hilfen
eiterentwickelt werden soll. Je nach Ausgestaltung
önnte die FDP-Bundestagsfraktion dies auch mittragen.
ie Finanzierung einer Budgetassistenz als zusätzliche
eistung bei Inanspruchnahme von Leistung in Form des
ersönlichen Budgets ist ebenfalls zu begrüßen, erlaubt
ie es doch auch Menschen mit Einschränkungen im
ognitiven Bereich, diese Möglichkeit zu nutzen.
Andererseits sollten hinsichtlich eines neuen Verfah-
ens zur Erhebung des Unterstützungsbedarfs wie auch
ines neuen Behinderungsbegriffs die Ergebnisse des
eirates zur Überarbeitung des Pflegebereichs abgewar-
et werden, die diese Bereiche unter Umständen tangie-
en werden. Selbiges gilt auch für Leistungen der gesetz-
ichen Pflegeversicherung in stationären Einrichtungen
er Behindertenhilfe.
Letzteres hätte zudem, wie auch die Zusammenfas-
ung bisheriger Nachteilsausgleiche zu einem Nachteils-
usgleich des Bundes, Mehrkosten in durch den Antrag
icht bezifferter Höhe zur Folge, einerseits für den
und, andererseits für die gesetzliche Pflegeversiche-
ung. Auch dies gilt es hier zu beachten und in die Be-
ertung des Antrags einzubeziehen. Die FDP hat immer
etont, dass die Unterstützung von Selbstständigkeit,
elbsthilfe und Selbstbestimmung von Menschen mit
ehinderung eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die die
inanzielle Solidarität zwischen Bund, Ländern und Ge-
einden erfordert.
Wir werden uns deshalb zum Antrag der Grünen ent-
alten.
Den Antrag der Linken hingegen werden wir ableh-
en. Er enthält zum einen weitreichende Vorhaben ohne
onkrete Refinanzierungsvorschläge: aus Steuereinnah-
en des Bundes. Zum anderen ist kritisch hervorzuhe-
en, dass die Höhe der konkret zu gewährenden Leistun-
en grundsätzlich nach bundeseinheitlich festgelegten
aßstäben erfolgen soll. Die Tatsache, dass unterschied-
iche regionale Preisniveaus keine Auswirkung auf die
edarfsfestsetzung haben soll, erscheint unflexibel und
ngerecht. Unter dem Punkt der fehlenden Flexibilität ist
usätzlich zu kritisieren, dass die Leistungen über einen
eitraum von fünf Jahren zu bewilligen sind.
Zudem wurde in der Anhörung kritisiert, dass die
urch den Antrag getroffene Abgrenzung – die Vor-
chläge des Antrags sollen nur für Personen ab einem
rad der Behinderung von 50 gelten – Ungerechtigkei-
en, neue Bürokratie und Rechtsunsicherheit – man hätte
ann ja im Endeffekt zwei verschieden ausgestaltete Hil-
esysteme – zur Folge hätten. Insbesondere hinsichtlich
er Ungerechtigkeiten ist dies doch verwunderlich, will
er Antrag doch eigentlich gegen Ungerechtigkeiten an-
ehen.
19610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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Ich komme zum Schluss noch einmal auf den ein-
gangs erwähnten Passus im Koalitionsvertrag zurück:
Schwarz-Rot hat drei Jahre Regierungszeit in der Behin-
dertenpolitik verschlafen. In dem verbleibenden knap-
pen Jahr Ihrer Regierungszeit werden Sie eine grundle-
gende Reform der Eingliederungshilfe im versprochenen
Umfang nicht mehr bewerkstelligen. Sie haben Ihre
Chance nicht genutzt und werden deshalb 2009 keine
zweite mehr bekommen.
Mit einem herzlichen Glückauf aus dem Erzgebirge!
Dr. llja Seifert (DIE LINKE): Bundestagsabgeord-
nete bekommen täglich viele Briefe per Post und E-Mail.
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, aber auch Ver-
eine, Initiativen, Verbände und Unternehmen wenden
sich an uns, mit Problemen, Nöten und Hoffnungen. Ich
bekomme als behindertenpolitischer Sprecher meiner
Fraktion sehr viel Post von Menschen mit Behinderun-
gen. Sie sind wichtig für meine Arbeit, geben wichtige
Hinweise und Anregungen, machen aber oft auch betrof-
fen und hilflos.
Einen Brief vom September aus Bayern möchte ich
Ihnen gern auszugsweise zur Kenntnis geben:
Ich heiße Kerstin S., bin 33 Jahre alt und habe eine
angeborene Querschnittslähmung.
Nun zu meinem Problem. Ich arbeite seit etwa zehn
Jahren im öffentlichen Dienst, habe also eine „nor-
male“ Arbeit. Bisher bin ich in Pflegestufe II einge-
stuft, erhalte also 400 Euro. Die Pflege übernehmen
noch meine Eltern. Es ist aber so, dass meine Eltern
auch nicht mehr so richtig können. Deshalb wollte
ich in ein „betreutes Wohnen“ ziehen.
Nun der Schock: Die nehmen mich nicht, weil das
Geld für meinen relativ hohen Pflegeaufwand nicht
ausreicht. Errechnet wurde, dass ich im Monat über
1 200 Euro bezahlen müsste, wenn ich einen Pfle-
gedienst nehme. Den restlichen Betrag müsste ich,
laut Aussage des Amtes, von meinem Gehalt allein
übernehmen. Da bleibt mir ja nichts übrig. Wenn
ich mit dem Arbeiten aufhöre, bekomme ich alles
bezahlt. Das finde ich unmöglich. Ich würde einse-
hen, wenn ich einen gewissen Betrag zuzahlen
müsste. Aber ich möchte auch was behalten von
meinem Gehalt und mir auch was leisten, was an-
dere halt auch machen. Ich bin doch eine ganz „nor-
male“ junge Frau, die auch was von ihrem Leben
haben möchte.
Was hat dieser Brief mit dem heutigen Thema des
Nachteilsausgleichs für Menschen mit Behinderungen
und der Eingliederungshilfe zu tun? Meines Erachtens
sehr viel, wird doch die ganze Tragik unseres Behinder-
tenrechts deutlich. Behindert sein bedeutet in dieser Ge-
sellschaft, in der Regel auch arm zu sein. Ja, wir haben
nicht nur im Zusammenhang mit Hartz IV, sondern auch
bei Menschen mit Behinderungen Armut per Gesetz.
Die junge querschnittsgelähmte Oberfränkin, die eine
„ganz normale“ junge Frau sein möchte, fällt genau in
die Lücke zwischen gönnerhafter Fürsorge und selbstbe-
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timmtem Leben. Damit sie auch „etwas von ihrem Le-
en haben“ kann, braucht sie den Ausgleich ihrer behin-
erungsbedingten Nachteile, sprich Alltagsassistenz.
ätte sie die, wäre das Arbeitseinkommen dieser Ange-
tellten im öffentlichen Dienst so auskömmlich, wie das
rbeitseinkommen einer Angestellten im öffentlichen
ienst in Bayern eben ist. Da das jedoch keinesfalls für
ie notwendigen Aufwendungen zum Ausgleich der be-
inderungsbedingten Nachteile ausreicht, bietet ihr die
önnerhafte Fürsorge eine „Alternative“: Hör auf zu ar-
eiten und lass dich – lebenslänglich – voll alimentieren!
Das ist eine Zumutung, die wir eigentlich schon hinter
ns haben könnten, wenn der vielbeschworene Paradig-
enwechsel in der Behindertenpolitik tatsächlich bereits
ollzogen wäre. Die Alternative darf nicht sein, Arbeit
der Alimente, sondern muss sein Arbeit plus Ausgleich
ehinderungsbedingter Nachteile. Das erst würde die
reie Wahl des Wohnortes und der Assistenzpersonen,
lso selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Genau dieses
onzept liegt dem Antrag der Linken auf ein Nachteils-
usgleichsgesetz zugrunde. In der Anhörung am 2. Juni
008 hoben fast alle Sachverständigen diesen konzeptio-
ellen Ansatz ausdrücklich lobend hervor. Die Frage ist
mmer: Wie viel ist der Gesellschaft das selbstbestimmte
eben ihrer behinderten Mitglieder wert? Würde unser
ntrag umgesetzt werden, wäre das Problem von Ker-
tin S. gelöst.
Dank des preisgekrönten Conterganfilms und der Pro-
este von Menschen mit Conterganschäden – ich denke
ier unter anderem an den fast vierwöchigen Hunger-
treik von Conterganopfern und ihren Angehörigen in
ergisch Gladbach – bekamen das Schicksal und die
öte der circa noch 2 700 lebenden Contergangeschä-
igten eine größere Öffentlichkeit. Obwohl diese Men-
chen zusätzlich zu den Leistungen aus dem Behinder-
en- und Sozialrecht eine viel zu kleine monatliche
ntschädigung aus der Conterganstiftung erhalten, leben
ast alle – und ihre Angehörigen – in Armut, reicht das
eld oft nicht für dringend notwendige medizinische
ersorgung, für Hilfsmittel, Assistenzleistungen oder die
eckung von Kosten für die Anpassung von Kleidung,
ie Wohnumwelt und das für die Mobilität notwendige
ahrzeug. Gesundheitliche Spätfolgen, Eltern, die inzwi-
chen in ein Alter kommen, wo sie nicht mehr wie bisher
elfen können, eingeschränkte Erwerbsmöglichkeiten
nd fehlende Alterssicherungen machen die Lage zuneh-
end katastrophaler. Ähnliches gilt auch für viele an-
ere Menschen mit Behinderungen und hier ist es relativ
gal, ob es für die Behinderung, einen Schuldigen gibt,
b es eine Behinderung von Geburt an ist oder sie im
aufe des Lebens dazukam.
Dies zeigt in aller Deutlichkeit, wie dringend behin-
erungsbedingte Nachteilsausgleiche gebraucht werden.
ern möchte ich noch einmal wesentliche Bestandteile
es Konzeptes aufzeigen:
Nach wie vor unterliegen die realen Teilhabemöglich-
eiten von Menschen mit Behinderungen und/oder chro-
ischen und seelischen Erkrankungen größeren Er-
chwernissen als bei anderen Menschen. Das betrifft
owohl die Alltagsbewältigung und Arbeitsplatzsuche,
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die freie Wahl der Wohnform als auch Kultur- und Frei-
zeitaktivitäten. Barrieren in baulicher wie kommunika-
tiver Hinsicht sind trotz BBG und Verordnungen zur
Barrierefreiheit noch vielerorts anzutreffen. Dadurch ist
auch die Persönlichkeitsentfaltung der Betroffenen be-
einträchtigt.
Wer dem Sinn von Art. 3 Satz 1 Grundgesetz – „Alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – wirklich Rech-
nung tragen will, muss – den real existierenden unglei-
chen Voraussetzungen folgend – ungleiche Maßnahmen
treffen. Konkret gesagt: Behinderungsbedingte Nach-
teile müssen ausgeglichen werden. Nur so können Chan-
cengleichheit und Chancengerechtigkeit hergestellt wer-
den. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen sind
dafür unzureichend. Sie setzen in vielen Bereichen auf
das ehrenamtliche Engagement der behinderten Men-
schen sowie ihrer Freunde und Angehörigen. Perma-
nente Überforderung wird dabei billigend in Kauf ge-
nommen. Die dadurch entstehenden finanziellen,
körperlichen und seelischen Zusatzbelastungen dieser
Personen werden von der Gesellschaft bisher weitge-
hend ignoriert.
Volle Teilhabe und Persönlichkeitsentfaltung umfas-
sen alle Lebensbereiche: von der Intimsphäre über Woh-
nen, Lernen, Arbeiten, Alltagsbewältigung, Kultur,
Sport, Urlaub, Freizeitgestaltung bis zu bürgerschaftli-
chem Engagement, religiöser und/oder politischer Betä-
tigung usw.
Grundlegendes Prinzip soll laut Antrag der Linken für
ein „Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter
Nachteile (NAG)“ sein: Geiche Leistung bei vergleich-
barer Beeinträchtigung. Wir wollen das Finalitätsprinzip
konsequent umsetzen. Demnach richten sich Leistungs-
ansprüche nicht mehr nach der Ursache der Beeinträchti-
gung (Kausalitätsprinzip).
Schwerpunkt der Nachteilsausgleichsleistungen soll
personale Assistenz in vielfältigen Erscheinungsformen
sein. Dabei richtet sich der Umfang personaler Assistenz
am individuellen Bedarf des behinderten Menschen aus.
Notwendig ist ein Gesetz, das dem Ziel der Stärkung der
selbstbestimmten Teilhabe behinderter Menschen am
Gemeinschaftsleben gerecht wird, das dem Ziel eines
bedarfsdeckenden Ausgleichs behinderungsbedingter
Nachteile gerecht wird und das dem Ziel der Vereinheit-
lichung des Behinderten rechts und der tatsächlichen
Gleichstellung aller behinderter Menschen untereinander
und mit nicht behinderten Menschen gerecht wird.
NAG-Leistungen sind als einkommens- und vermögens-
unabhängige Ansprüche auszugestalten.
Am 13. November diskutieren wir in erster Lesung
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur im De-
zember 2006 beschlossenen UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen. Eigentlich
müsste ich an dieser Stelle über die schlechte Überset-
zung ins Deutsche reden, wodurch wichtige inhaltliche
Intentionen der Konvention verfälscht bzw. aufgeweicht
werden. Und das wird dann auch noch in den Status ei-
ner amtlichen Übersetzung erhoben.
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Eigentlich müsste ich an dieser Stelle über die in den
esetzentwurf eingefügte „Denkschrift“ reden, mit der
ie Bundesregierung eigenartige Interpretationen der
inzelnen Artikel der Konvention sanktioniert haben
öchte und fernab vom wirklichen Leben suggerieren
ill, dass sich die Behindertenpolitik in Deutschland be-
eits mit den Maßstäben und Anforderungen, die die
onvention an die Staaten stellt, messen lassen kann.
Eigentlich müsste ich an dieser Stelle über die Illu-
ion der Bundesregierung reden, dass diese Konvention
hne zusätzliche Kosten in Bund, Ländern und Gemein-
en und ohne Umsetzungs- bzw. Vollzugsgesetz in
eutschland mit Leben erfüllt werden kann.
Ich sprach hier über ein Konzept, das wichtige
chritte zur vollen Teilhabe von Menschen mit Behinde-
ungen in der Gesellschaft vorzeichnet. Der Antrag der
inken ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Diskussionen
nnerhalb der emanzipatorischen Behindertenbewe-
ung. Seine Umsetzung könnte ein entscheidender
chritt bei der Umsetzung der UN-Konvention in natio-
ales Recht sein. Das dahinter stehende Konzept bleibt
ktuell. Daran kann auch die heutige Ablehnung unseres
ntrages durch die Mehrheit des Parlaments nichts än-
ern.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Las-
en Sie mich zur abschließenden Beratung noch einmal
ns Gedächtnis rufen, warum wir im Januar dieses Jahres
inen solch ausführlichen Antrag in den Bundestag ein-
ebracht haben. Menschen mit Behinderungen und de-
en Eltern stehen heute, wie in der Vergangenheit, vor ei-
em Wust an unterschiedlichen Systemen, Institutionen
nd Voraussetzungen, wenn sie Leistungen beantragen
ollen. Er erinnert an ein schwer zu durchschauendes
abyrinth, in dem behinderte Menschen von einer Sack-
asse in die nächste geleitet werden, stets auf der Suche
ach einer individuellen, bedarfsgerechten Leistung.
us diesem Grund ist die Forderung nach einem eigen-
tändigen Leistungsgesetz für behinderte Menschen zu
nterstützen. Mit unserem Antrag möchten wir die
rundlage für eine solche Lösung legen.
Darüber hinaus will Bündnis 90/Die Grünen mit dem
ntrag den Bedürfnissen nach mehr Selbstständigkeit
nd Selbstbestimmung nachkommen. Das System der
ilfen in seiner jetzigen Form wird den Lebenswirklich-
eiten längst nicht immer gerecht und schöpft auch die
ur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Verwirkli-
hung eines eigenständigen Lebens nicht aus. Die Ein-
ommens- und Vermögensanrechung stellt ein großes
indernis dar. Das Wunsch- und Wahlrecht der Men-
chen mit Behinderungen steht für uns im Mittelpunkt
ller Überlegungen.
Ein dritter Grund für unsere parlamentarische Initia-
ive ist der wachsende Kostendruck auf die Träger der
ingliederungshilfe durch eine ständig steigende Zahl
on Menschen, die auf ebendiese Leistungen angewie-
en sind. Dies wäre an und für sich ja nicht schlimm,
ürden sich in den letzten Monaten und Jahren nicht die
nzeichen verdichten, dass die Träger der Eingliede-
ungshilfe versuchen, Ausgaben auf Kosten der betroffe-
19612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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nen Menschen einzusparen. So zeigen Beispiele aus
Baden-Württemberg, Hessen und Berlin, wie Sozialhil-
feträger Leistungsberechtigte im Eingangsverfahren und
im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte
Menschen in das SGB II abzuschieben versuchen. Auch
wenn dies nicht rechtens ist, zeigt es doch, wie hoch der
Druck der Sozialhilfeträger auf die betroffenen Men-
schen ist. Es wird nicht der letzte Versuch gewesen sein,
Eingliederungshilfeleistungen mitunter zurückzuhalten
oder einfach zu verweigern.
Aus all den genannten Gründen ist es nun zwingend
notwendig, weitere Schritte einzuleiten. Ich bedauere
sehr die von der deutschen Bundesregierung angenom-
mene Haltung, hier ausschließlich die Bundesländer in
der Pflicht zu sehen. Zwar ist es gut, dass das von mir
angemahnte Pingpongspiel zwischen Bund und Ländern
nun vorerst ein Ende hat. Doch sich jetzt vonseiten des
Bundes zurückzulehnen, das Spiel für unterbrochen zu
erklären und auf den nächsten Aufschlag der Bundeslän-
der zu warten, wird der Sache nicht gerecht.
Die jüngst erschienenen und von Fachverbänden für
behinderte Menschen in Auftrag gegebenen Gutachten
zu den Auswirkungen der Föderalismusreform auf die
Sozialhilfe und das SGB IX ergeben ganz eindeutig auch
weiterhin die Möglichkeit des Bundes, den materiell-
rechtlichen Gehalt der im SGB XII geregelten Eingliede-
rungshilfe zu verändern und Leistungsausweitungen vor-
zunehmen. Es ist von daher überhaupt nicht einzusehen,
warum sich die Bundesregierung im Rahmen der Ar-
beits- und Sozialministerkonferenz zwar beteiligt, aber
selbst keine konkreten Vorschläge macht. Auch die von
anderen Fraktionen geäußerten Vorwände, unser Antrag
würde sich in Teilen selbst ad absurdum führen, da er
keine Bundeskompetenz berührt, sind gegenstandslos.
In den Bereichen wie etwa zum Wunsch- und Wahl-
recht, zur Ausführung von Sachleistungen als Geldleis-
tungen oder zum Anspruch auf Auskunft und Beratung
kann der Bund, so die in Auftrag gegebenen Gutachten,
sogar ohne Zustimmung des Bundesrates gesetzgebe-
risch tätig werden. Dass auch weiterhin bundeseinheitli-
che Regelungen vonnöten sind, um unterschiedliche
Leistungsansprüche in den Bundesländern nicht zu ver-
schärfen, zeigen die aktuellen Beispiele aus Mecklen-
burg-Vorpommern. Dort wurde und wird wieder einmal
versucht, das Landesblindengeld zu kürzen. Dieses Bei-
spiel zeigt, dass es an der Zeit ist, die bestehenden Nach-
teilsausgleiche zu einem einheitlichen Teilhabegeld des
Bundes zusammenzufassen.
Die Voten der Koalitionsfraktionen gegen unseren
Antrag bei Stimmenthaltung der FDP im federführenden
Ausschuss für Arbeit und Soziales sind aus sachlichen
Gründen nicht nachvollziehbar. So zeigte die öffentliche
Ausschussanhörung vom 2. Juni 2008 doch ganz eindeu-
tig, dass fast ausnahmslos alle Sachverständigen einen
hohen Handlungsbedarf bei der Weiterentwicklung der
Eingliederungshilfe sehen.
Übereinstimmend positiv äußerten sich die Sachver-
ständigen zu den Vorschlägen, bei der Eingliederungs-
hilfe das Prinzip des Nachteilsausgleiches walten sowie
die Hilfe personenzentriert zukommen zu lassen. Mittel-
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ristig müsse ein eigenes Leistungsrecht für Menschen
it Behinderungen entstehen, das aus der Sozialhilfe
usgegliedert sei. Hier bedürfe es ganz dringend auch
er finanziellen Beteiligung des Bundes.
Der Unterstützungsbedarf von Menschen mit Behin-
erungen müsse unabhängig vom Ort und dafür dauer-
aft flexibel „gewährt“ werden, so die Sachverständigen.
ohe Zustimmung fand unser Vorschlag, die Trennung
er Hilfeformen „ambulant“, „stationär“ und „teilstatio-
är“ zu überwinden. Die Idee, zumindest ambulante Hil-
en anrechnungsfrei zu stellen, schreibe die Trennung
er Hilfeformen zwar tendenziell fest, könne aber als
urzfristiger Anreiz etabliert werden.
Weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfrak-
ionen dürfen vor den Ergebnissen der öffentlichen An-
örung die Augen verschließen. Bündnis 90/Die Grünen
ird sehr aufmerksam die Resultate der Arbeits- und So-
ialministerkonferenz, die zum Ende des Jahres hin an-
ekündigt sind, verfolgen und den Handlungsdruck auf
ie Bundesregierung aufrechterhalten.
Wir werden die Bundesregierung nicht aus der Pflicht
ntlassen, insbesondere vor dem Hintergrund der UN-
onvention über die Rechte von Menschen mit Behinde-
ungen weitere Schritte zur Weiterentwicklung der Ein-
liederungshilfe vorzunehmen. Auch vom Kabinettsbe-
chluss, wonach die Konvention keine Neuerungen für
as deutsche Recht bringe, lassen wir uns nicht beirren.
ie Eingliederungshilfe darf zukünftig nicht mehr dem
ürsorgegedanken folgen. Die Eingliederungshilfe ist
emäß dem UN-Übereinkommen ein internationales
enschenrecht.
nlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
Personalausweise und den elektronischen Iden-
titätsnachweis sowie zur Änderung weiterer
Vorschriften (Tagesordnungspunkt 14)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Die Bundesregie-
ung legt mit dem Gesetzentwurf über Personalausweise
nd den elektronischen Identitätsnachweis einen zu-
unftsweisenden Gesetzentwurf vor.
Worum geht es im Kern? Es geht neben Konsequen-
en, die sich aus der Föderalismusreform für das Aus-
eiswesen ergeben, zum einen darum, den neuen Perso-
alausweis vielseitiger nutzbar zu machen, zum anderen
arum, ihn sicherer zu machen.
Mehr als 60 Millionen Menschen sind in der Bundes-
epublik im Besitz eines Personalausweises. Ohne
weifel handelt es sich dabei um eines der fälschungs-
ichersten Ausweisdokumente überhaupt. Das ist richtig.
enn man aber allein auf die Fälschungssicherheit
chaut, verkennt man ein ganz wesentliches Problem:
er eine falsche Identität vortäuschen will, wird keinen
ersonalausweis fälschen, weil er mit dem gefälschten
okument sehr wahrscheinlich bei Kontrollen auffliegen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19613
(A) )
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wird. Wer sich mit einer falschen Identität ausweisen
möchte, wird sich einen echten Personalausweis besor-
gen, mit dem echten Lichtbild einer Person, die ihm ähn-
lich sieht. Und diesen Ausweis wird er missbrauchen, in-
dem er sich als Inhaber des Ausweises ausgibt, den er
gar nicht besitzt. Die Chance, dass bei einer konventio-
nellen, optischen Kontrolle von Person und Ausweisbild
dieser Missbrauch auffällt, ist gering.
Aktuell sind über 2,2 Millionen Bundespersonalaus-
weise in Deutschland als gestohlen oder verloren gemel-
det. Praktisch heißt das: Mehr als 2,2 Millionen Bürger,
denen ein fälschungssicherer Bundespersonalausweis
abhanden gekommen ist, leben mit dem Risiko, dass mit
ihrem Ausweis und damit mit ihrer Identität, Straftaten
begangen werden im In- und im Ausland. Ich glaube,
wer diese Gefahr einfach ausblendet, möchte nur die
halbe Wahrheit sehen.
Warum haben wir denn – übrigens unter Rot-Grün –
den elektronischen Pass mit biometrischen Merkmalen
eingeführt? Doch genau, um vor Missbrauch zu schüt-
zen. Genau hier knüpft der elektronische Personalaus-
weis, den wir heute diskutieren, an. Er verfügt in Zu-
kunft über biometrische Merkmale: das Gesichtsbild und
– wenn der Antragssteller möchte – auch den biometri-
schen Fingerabdruck. Diese Merkmale werden nur auf
dem Ausweis – und auch nur dort – gespeichert. Damit
kann bei einer Kontrolle in Zukunft einwandfrei festge-
stellt werden, ob die Person, die den Personalausweis
vorlegt, auch wirklich zum Ausweis passt. Uns wäre es
lieber gewesen, wir hätten – wie es beim Pass der Fall
ist – beide Merkmale aufgenommen. Das hätte größt-
mögliche Sicherheit gegen Missbrauch bedeutet.
Und wer behauptet, die Daten seien unberechtigt
und geheim aus dem neuen Ausweis oder aktuell aus
dem E-Pass auszulesen, der verschließt die Augen vor
den Fakten.
Die Daten sind mit einer elektronischen Signatur auf
höchstem technischem Niveau geschützt. Nur wer über
bestimmte Angaben, nämlich Pass- bzw. Ausweisnum-
mer, Geburtsdatum des Inhabers und Ablaufdatum ver-
fügt, kann auf die Daten zugreifen und das auch nur,
wenn er ein unberechtigtes Lesegerät wenige Zentimeter
neben dem Datenchip platziert und sich beide nicht be-
wegen. Kennt er diese Angaben vom auszuspähenden
Dokument, wird er nicht mehr als den Namen des Inha-
bers auslesen können – ein mehr als unrealistisches Sze-
nario.
Und auch das geheime Mitlesen der Daten, wenn ein
Pass bzw. Ausweis zum Beispiel am Flughafen kontrol-
liert wird, ist jenseits aller Realität. Der Gewinn der Da-
ten stünde in keinem Verhältnis zum Aufwand. Man
müsste in direkter Nähe zum Kontrollpunkt eine Abhör-
anlage mit Mikrofonen einrichten und bräuchte leis-
tungsstarke Rechner, die mehrere hunderttausend Euro
kosten, um die Daten zu entschlüsseln. Und selbst wenn
man auf diese Weise erfolgreich wäre, könnte man nicht
auf die Fingerabdruckdaten zugreifen. Die können näm-
lich nur Behörden mit entsprechenden Berechtigungs-
zertifikaten auslesen.
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Fingerabdrücke können viel einfacher von Tischen,
üren und Gläsern genommen werden und das biometri-
che Gesichtsbild kann viel einfacher mit einer Kamera
ufgenommen werden, als dass man diese Daten mit rie-
igem Aufwand auszulesen versucht.
Wir stehen aber auch noch vor einer ganz anderen He-
ausforderung, der wir mit dem elektronischen Personal-
usweis begegnen. Mehr als 42 Millionen Menschen in
eutschland haben einen Internetanschluss und nutzen
iesen auch. Wer von uns ist nicht im Netz unterwegs,
acht Einkäufe oder erledigt seine Bankgeschäfte?
uch hier stellt sich immer die Frage: Wie kann ich
ich elektronisch ausweisen, wie kann ich nachweisen,
ass ich rechtmäßig auf mein Benutzerkonto zugreife
nd nicht irgendjemand in meinem Namen einkauft oder
ar meinen Kontostand überprüft. Die Verfahren, die wir
eute dazu haben, sind oft alles andere als sicher.
Mit dem neuen Personalausweis wird man deshalb in
ukunft auch die Möglichkeit haben, sich elektronisch
n der virtuellen Welt auszuweisen. Das ist ein echter
ewinn an Sicherheit, aber auch an Komfort für das täg-
iche Leben. Ich sage Ihnen voraus, dass sich in Zukunft
mmer mehr Internetanbieter darauf einstellen werden.
icht zuletzt werden wir, wenn sich die Technologie be-
ährt hat, auch Behördengänge über das Internet von zu
ause erledigen können – sei es die Kfz-Zulassung, die
nmeldung bei der Meldebehörde, die Beantragung von
eistungen. Mit dem neuen elektronischen Personalaus-
eis schaffen wir eine wichtige Grundlage für den Aus-
au des E-Government in Deutschland.
In den nächsten Jahren werden sich weltweit Stan-
ards für Ausweisdokumente mit biometrischen Merk-
alen durchsetzen. Auch die EU hat bereits 2005 die
eichen dafür gestellt. Wenn wir in Zukunft unseren
ersonalausweis im Schengen-Raum noch als Passersatz
utzen wollen, brauchen wir die Innovationen, die wir
eute mit dem Personalausweisgesetz vorlegen.
Also: Funktionsgewinn und Sicherheit – ein zukunfts-
eisendes Gesetz, das unsere Unterstützung verdient.
Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Wir haben heute
en Entwurf eines Gesetzes über Personalausweise und
en elektronischen Identitätsnachweis sowie zur Verän-
erung weiterer Vorschriften vorliegen und beraten ihn
n der ersten Lesung. Ich erinnere in diesem Zusammen-
ang an die Debatte über den Antrag der Grünen „Keine
inführung biometrischer Merkmale im Personalaus-
eis“ am 9. Mai 2008. In dieser Debatte habe ich darauf
ufmerksam gemacht, dass wir ganz genau prüfen wer-
en, ob die Aufnahme biometrischer Merkmale in den
ersonalausweis erforderlich ist. Ich habe betont, die
undesregierung müsse nachweisen, weshalb man unter
icherheitsaspekten einen neuen Personalausweis benö-
igt, denn bisher heißt es überall, wir hätten mit unserem
ktuellen Personalausweis ein Dokument, das zu den fäl-
chungssichersten der Welt gehört.
Beim vorliegenden Gesetzentwurf ist klar: Man ver-
ichtet auf die Verpflichtung und stellt es den Bürgerin-
en und Bürgern frei, ihre Fingerabdrücke im Personal-
19614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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ausweis aufnehmen zu lassen. Es wird also keinen
verpflichtenden Fingerabdruck im Personalausweis ge-
ben. Das entsprach von Anfang an der SPD-Linie.
Es muss aber auch klar sein, dass es keine Verpflich-
tung zur Abgabe von Fingerabdruckdaten durch die Hin-
tertüre geben darf! Aus der freiwilligen Abgabe der Fin-
gerabdrücke darf kein Vorteil erwachsen, zum Beispiel
dadurch, dass Behörden diejenigen, die Fingerabdruck-
daten in Personalausweisen wünschen, bevorzugt behan-
deln. Ansonsten bleibt es dabei: Auch bei den freiwillig
auf dem Chip gespeicherten Fingerabdrücken gelten die
Bedingungen, wie wir sie für den Reisepass erarbeitet
haben. Das heißt, diese Fingerabdrücke dürfen nir-
gendwo bei den Behörden gespeichert und erst recht
nicht abrufbar sein.
Weshalb sind wir dann trotzdem für einen neuen elek-
tronischen Personalausweis? Der Grund sind die damit
verbundenen technischen Innovationen, die für unsere
Bürgerinnen und Bürger von Nutzen sind. Dieser neue
Personalausweis kann erstens auch ein Ausweis für das
Internet, also ein elektronischer Identitätsnachweis sein
zur Verwendung im E-Government und im E-Business
und zweitens zusätzlich auf Wunsch eine elektronische
Signatur erhalten, zum Beispiel bei elektronisch abzuwi-
ckelnden Anträgen und Verträgen. Was bedeutet das
konkret? Die Authentisierungsfunktion und die elektro-
nische Signatur sind ein wichtiger Schritt für mehr Si-
cherheit und Komfort im elektronischen Geschäftsver-
kehr. Gerade die zunehmende kommerzielle Nutzung
des Internest erfordert die Notwendigkeit, sich auch
elektronisch ausweisen zu können. Diese zusätzlichen
Funktionen kann man so ausgestalten, dass sie nachträg-
lich freigeschaltet oder gesperrt werden können, je nach
individueller Entscheidung.
Die auf dem RFID-Chip gespeicherten Daten werden
nach dem neuesten technischen Standard wirksam gegen
den unberechtigten Zugriff Dritter geschützt. Eine Mani-
pulation der Daten ist weitgehend ausgeschlossen.
Durch den integrierten grundlegenden Zugriffsschutz
werden das unberechtigte aktive Auslesen und das pas-
sive Mitlesen einer Kommunikation unter realistischen
Bedingungen wirkungsvoll verhindert. Auch das Erstel-
len von Bewegungsprofilen ist praktisch nicht möglich.
Wir stellen uns vor, dass man diesen elektronischen Per-
sonalausweis künftig nutzen kann zur Onlinean-, -um-, ob-
meldung von Kraftfahrzeugen, zur Onlinebeantragung
eines polizeilichen Führungszeugnisses, zur Onlinean-
meldung bei Wohnungswechsel, zur Onlinekontoeröff-
nung bei einer Bank, zum Online-Elektronik-Banking,
zur Alterskontrolle bei Onlinebestellungen, zur Alters-
kontrolle an Automaten mit altersbeschränktem Zu-
gang – bis hin zum Onlineeinkauf von Waren und
Dienstleistungen. Dies wird eine große Erleichterung
und ein Qualitätssprung sein für Behördengänge und
Einkäufe.
Im Rahmen der Beratungen im Ausschuss müssen wir
darüber diskutieren, wie sicher diese neuen Funktionen
sind und ob sie von den Bürgerinnen und Bürgern ange-
nommen werden.
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Seit dem 1. November 2007 werden elektronische
eisepässe in Deutschland ausgegeben. Mir sind bisher
eder gravierende technische Probleme noch Sicher-
eitsprobleme zu Ohren gekommen. Im Gegenteil: Die
ntragszahlen zeigen, dass viele Bürgerinnen und Bür-
er Vertrauen in die neue Technologie gefasst haben.
ie ich bei meinem Einwohnermeldeamt erfahren habe,
arten bereits viele Bürgerinnen und Bürger auf das
eue, moderne Personalausweisdokument. Trotzdem
leiben wir, was die konkrete Umsetzung des elektroni-
chen Personalausweises angeht, kritisch, aber nicht po-
ulistisch. Wir bleiben auf unserem Kurs: Sicherheitspo-
itik mit Augenmaß.
Gisela Piltz (FDP): Der neue Slogan für den elektro-
ischen Personalausweis klingt vielversprechend: klei-
er, vielseitiger, zukunfts- und fälschungssicher. Der
usweis fürs Internet – so preist die Große Koalition ihr
eustes Projekt an. Mit dem E-Personalausweis soll ein
tandard-Identitätsnachweis für das Internet geschaffen
erden. Ja, es wird gar von einer Revolution gespro-
hen. Phishing soll eingedämmt, Interneteinkäufe und
ehördengänge sollen erleichtert werden.
Aber wir wissen alle: Werbung verspricht oft mehr,
ls sie halten kann. Das gilt leider auch in diesem Fall.
ritik am elektronischen Personalausweis wird auch bei
er Großen Koalition ignoriert. Der Ausweis wird sehr
ahrscheinlich teurer, ein weiterer Sicherheitsgewinn ist
icht zu erwarten, und der freiwillige Fingerabdruck
ührt zur einer Zweiklassengesellschaft.
Ich habe bis heute den Kompromiss der Großen
oalition nicht verstanden. Wieso sollen die Bürgerin-
en und Bürger ihre Fingerabdrücke freiwillig abgeben?
ntweder der Staat braucht zwingend den Fingerab-
ruck, oder er braucht ihn nicht. Alles andere ist der Ein-
tieg in eine biometrische Totalerfassung, weil ein Auf-
atteln jederzeit möglich ist. Denn in den nächsten
ahren wird die freiwillige Aufnahme von Fingerabdrü-
ken die Gesellschaft quasi spalten. Wir werden die-
enigen haben, die ihren Fingerabdruck abgeben und un-
erdächtig sind, und diejenigen, die das nicht tun und
erdächtig erscheinen. Das kann man nur verstehen,
enn man die schwierigen Abstimmungsverfahren in
er Großen Koalition berücksichtigt. Mit Sicherheit oder
lugheit hat das aus FDP-Sicht überhaupt nichts zu tun.
Über kurz oder lang werden wir auch sicherlich wie-
er den Diskussionspunkt Zentraldatei haben. Eine sol-
he Zentraldatei ist zwar in diesem Gesetzesentwurf
icht vorgesehen. Wir wissen doch aber alle, dass die
olitischen Verhältnisse sich sehr schnell ändern können.
etztes Wochenende fand in Berlin die größte Demon-
tration gegen die staatlichen Überwachungsmaßnahmen
tatt. Besonders beeindruckt hat mich der Slogan „Wer
eute noch lacht, wird morgen schon überwacht“. In
iese Kategorie gehört auch die Diskussion um die Zen-
raldatei.
Es wäre zunächst auch sinnvoller gewesen, die Erfah-
ungen aus dem biometrischen Pass – wie das Kosten-
utzen-Verhältnis der biometrischen Daten für den Bür-
er und die Schwierigkeiten und Probleme bei der Aus-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19615
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gabe der Pässe mit Fingerabdrücken seit November 2007 –
erst einmal in Ruhe auszuwerten, anstatt ein weiteres
Großprojekt mit biometrischen Daten zu starten, zumal
noch eine Verfassungsbeschwerde gegen die zwangs-
weise Abnahme der Fingerabdrücke bei der Beantragung
des Reisepasses in Karlsruhe anhängig ist.
Eine solche Auswertung wäre auch im Hinblick auf
die Sicherheit der RFID-Chips wichtig gewesen. Denn
die RFID-Chips können per Funk kontaktlos, ohne dass
es der Inhaber bemerkt, ausgelesen werden. Ein Perso-
nalausweis ist zehn Jahre gültig. Der technische Fort-
schritt in einem derartigen Zeitraum ist enorm. Es ist da-
her denkbar, das Kriminelle Systeme entwickeln, um mit
nicht autorisierten Geräten Daten über eine größere Dis-
tanz auszulesen.
Hinsichtlich des Arguments der Fälschungssicherheit
verweise ich nur auf die erfolgreiche Klonung des briti-
schen fälschungssicheren E-Passes durch einen Compu-
terexperten im August 2008. Innerhalb einer Stunde
wurde auf dem Pass eines Jungen der manipulierte
RFID-Chip mit dem Foto eines palästinensichen Selbst-
mordattentäters aufgebracht. Der Pass wurde von einem
Lesegerät akzeptiert, das mit der Software arbeitet, die
von der Zivilluftfahrt-Organisation als Standard empfoh-
len wird. Für die Fälschung wurden ein öffentlich ver-
fügbares Programm, ein Card-Reader und günstige
RFID-Chips benötigt. Fälschungssicherer ist der neue
Personalausweis damit nicht.
Auch die Kosten sind für den Bürger noch völlig un-
klar. Nicht nur, dass der eigentliche Ausweis teurer wird;
es werden auch zusätzliche Kartenlesegeräte und damit
Kosten notwendig sein, um den elektronischen Identi-
tätsnachweis überhaupt nutzen zu können. Nach Presse-
meldungen soll außerdem für die Zulassung der ID-Veri-
fikationsdienste an Firmen eine neue Bundesbehörde
geschaffen werden. Im Gesetzesentwurf steht dazu le-
diglich, dass das Bundesministerium des Innern bestim-
men wird, wer diese Aufgabe übernehmen wird; § 4
Abs. 3 PAG-Entwurf. Etwas mehr Klarheit von der Bun-
desregierung wäre an dieser Stelle schon angebracht.
Wenn man eine neue Bundesbehörde will, sollte man es
auch deutlich sagen.
Und nun noch ein kurzes Wort zur elektronischen
Identität. Identitätsdiebstähle werden auch von der FDP-
Bundestagsfraktion mit Sorge betrachtet. Im Internet
werden häufig gefälschte oder gestohlene Identitäten
verwendet. Elektronische Identitäten müssen aber auch
datenschutzfreundlich gestaltet werden. Das bedeutet ei-
nerseits, dass nicht jeder Internetdienst nur noch bei Ver-
wendung des neuen Ausweises nutzbar sein darf, und
anderseits, dass aus dem Nutzerverhalten im Internet
keine Nutzungsprofile erstellt werden können. Insbeson-
dere auch bei den geplanten Bürgerportalen, die als
Anwendungszenario an den elektronischen Personalaus-
weis anknüpfen, ergeben sich weitere datenschutzrecht-
liche Fragestellungen.
Denkt man dieses Szenario weiter, deutet sich neben
der Onlineüberwachung, Internetmonitoring und Vor-
ratsdatenspeicherung hier eine weitere Möglichkeit der
Großen Koalition an, die Internetnutzung zu überwa-
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hen. Für eine Hauspost-Postwurfsendung zum elektro-
ischen Personalausweis sind Kosten in Höhe von
40 000 Euro veranschlagt. Für den Datenschutzbeauftrag-
n hingegen soll es im kommenden Jahr nur 22 000 Euro
ehr geben. Ich hoffe, dass Sie dann wenigsten auch die
ürgerportale bei den öffentlichen Debatten um den
lektronischen Personalausweis aufnehmen. Die Bürger
üssen wissen, dass sich hier weitere Überwachungs-
öglichkeiten im Internet bieten.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat das Projekt E-Perso-
alausweis von Anfang an kritisch begleitet. Wir brau-
hen keine Schnellschüsse, die den Bürgerinnen und
ürger nur wenig nutzen, aber mit Folgen für die Bür-
errechte verbunden sind, die wir heute noch gar nicht
onkret abschätzen können. Wir lehnen den E-Personal-
usweis in der von der Bundesregierung vorgelegten
orm ab.
Jan Korte (DIE LINKE): Am vergangenen Samstag
emonstrierten in Berlin 100 000 Menschen – darunter
rzte, Anwälte, Geistliche, Bürgerbewegte und, ganz
llgemein, Nutzer moderner Kommunikationsmittel –
egen Überwachungswahn und für einen wirklichen Da-
enschutz. Auch die Partei und Fraktion Die Linke hatten
u dieser Demonstration aufgerufen. Denn unser Anlie-
en war es, gesellschaftliche Unterstützung für unsere
onsequente Haltung im Parlament gegen eine Auswei-
ung des Überwachungsstaates zu erhalten. Diese haben
ir auf der größten Demonstrationen nach dem Volks-
ählungsurteil in den 80er-Jahren auch bekommen. Ne-
en der Kritik an der Vorratsdatenspeicherung, der
eplanten Onlinedurchsuchung und der Verwendung bio-
etrischer Daten in Ausweisdokumenten wurde erneut
assive Kritik an dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
ung zur Einführung eines sogenannten elektronischen
dentitätsnachweises im Personalausweis geäußert.
iese Kritik teilen wir.
Nach den Plänen der Bundesregierung soll 60 Millio-
en Ausweisinhaberinnen und -inhabern ein sogenannter
-Personalausweis vor allem aus zwei Gründen verpasst
erden: Zum einen soll der Zahlungsverkehr – vor allem
m Internet – für den Inhaber des Ausweises als auch für
en Produktanbieter verbessert werden. Diesem Ansin-
en ist erst einmal nicht zu widersprechen. Die hohe
ahl an Betrugsversuchen oder tatsächlich stattgefunde-
em Betrug beim elektronischen Zahlungsverkehr, auch
m Internet, bietet ausreichend Grund zur Sorge. Den-
och ist zweifelhaft, ob die vorgeschlagenen technischen
nstrumente zukünftig vor Betrugsversuchen oder Identi-
ätsdiebstahl ausreichend Schutz bieten. Eindeutige Be-
ege hierfür wurden dem Bundestag nicht präsentiert.
Am morgigen Freitag debattieren wir an dieser Stelle
ber den Datenschutz und die verschiedensten Verstöße
egen den Schutz personenbezogener Daten, die in den
ergangenen Wochen öffentlich bekannt wurden. Doch
icht nur die Privatwirtschaft war betroffen, auch kom-
unale Meldeämter konnten Daten nicht ordnungsge-
äß vor einem externen Zugriff schützen; von den zahl-
eichen Datenschutzverstößen im Internet oder beim
19616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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Abschluss von zweifelhaften Verträgen über das Internet
möchte ich an dieser Stelle gar nicht weiter sprechen.
Nur, eines fällt hierbei auf: In Europa beteiligt sich
die Bundesregierung mittels des Programms „check the
web“ an der Suche nach vermeintlichen Terroristen im
Internet. Dafür werden Personal und materielle Ressour-
cen zuhauf zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig aber hat
sich die Bundesregierung sehr stiefmütterlich um den
Datenschutz im Zeitalter moderner Kommunikation ge-
kümmert und suggeriert nun mit der Einführung eines
elektronischen Identiätsnachweises im Personalausweis
vermeintliche Sicherheit bei der Nutzung des Internets.
Jedem muss klar sein, dass es absolute Sicherheit im In-
ternet nicht gibt und nie geben wird. Der beste Schutz
von Privatsphäre ist, unnötige Daten gar nicht erst zu er-
heben und zu speichern. Bevor also ein solches Projekt
angegangen wird, sollten wir uns um eine verbesserte
gesetzliche Grundlage für den Datenschutz in Deutsch-
land kümmern.
Zum Zweiten sollen auf den neuen Ausweisdokumen-
ten biometrische Merkmale abgebildet und auf einem
Chip gespeichert werden. Als Begründung hierfür ver-
weist die Bundesregierung auf eine sogenannte Pass-
ersatzfunktion des Ausweises bei Reisen innerhalb des
Schengen-Raumes und in weitere Drittstaaten. Wörtlich
heißt es in einem Bericht aus dem Bundesinnenministe-
rium: Diese Passersatzfunktion soll erhalten bleiben. Bei
Verzicht auf die Biometrie im Personalausweis wäre das
dauerhaft kaum möglich, da Betrugsversuche sich auf
die weniger sicheren Personalausweise stützen würden.
Irrtum, kann ich nur sagen; denn nach Aussage der
Bundesregierung selbst sind die aktuell verwendeten
Ausweisdokumente keineswegs unsicherer. Die Regie-
rung gab auf Anfrage der Linksfraktion bekannt, dass im
Jahr 2001 lediglich 88 Fälle von Ausweisfälschungen
festgestellt wurden. Ist dies bei 60 Millionen Ausweis-
inhabern etwa ein signifikant messbares Sicherheits-
risiko? Man kann also von einem „Spitzenprodukt made
in Germany“ sprechen.
Zudem ist zu erwarten, dass gerade durch die Verwen-
dung des Chips im Personalausweis wie zuvor bereits
beim neuen E-Pass die Sicherheit des neuen Personal-
ausweises sinkt. BKA-Chef Ziercke etwa riet in einer
Anhörung zur Einführung des E-Passes im Innenaus-
schuss, den Pass vor illegalem Auslesen zu schützen, in-
dem man diesen in Alufolie wickelt. Nun ja, dies ist si-
cherlich auch eine Möglichkeit …
Bleibt noch, auf diesen seltsamen Kompromiss zwi-
schen der Möchtegernbürgerrechtspartei SPD und den
Law-and-Order-Leuten von CDU/CSU zur freiwilligen
Speicherung von Fingerabdrücken einzugehen. Auch
eine freiwillige Speicherung von Fingerabdrücken
schafft keine zusätzliche Sicherheit, sorgt aber dafür,
dass demnächst auch Fingerabdrücke zu einer begehrten
Ware im illegalen Datenhandel werden. Studien belegen
zudem, dass die Speicherung bei bestimmten Menschen,
zum Beispiel bei Kindern, Älteren und einigen Arbeitern,
nicht geeignet ist, um einen eindeutigen Identitätsnach-
weis zu erbringen. Die Debatte über die Verwendung von
Fingerabdrücken im Personalausweis innerhalb der
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oalition lässt die Vermutung zu, dass diese freiwillige
Hilfskonstruktion“ nur eine auf Zeit ist und wir in naher
ukunft nicht nur eine allgemeine Verpflichtung zur Ab-
abe von Fingerabdrücken bekommen werden, sondern
uch eine zentrale Meldedatei, in der auch diese biome-
rischen Merkmale gespeichert werden sollen. Und dies
rotz aller aktuellen und anderslautenden Beteuerungen!
inzu kommt, dass zu erwarten ist, dass jeder, der seine
ingerabdrücke nicht speichern lassen möchte, sich da-
it in den Augen mancher erst recht verdächtig macht.
Interessant ist auch, dass die Kosten für die Einfüh-
ung des Personalausweises, die Anschaffung und Ent-
icklung der notwendigen Technik zu einem nicht abzu-
chätzenden, dennoch hohen Anteil auf die Bevölkerung
bgewälzt werden sollen. Dieses Herangehen ist alles
ndere als bürgerfreundlich und konterkariert den selbst
ostulierten Anspruch der Bundesregierung in diesem
esetzentwurf.
Schließlich möchte ich auf ein letztes Problem im
uge der Einführung des neuen Personalausweises ein-
ehen. Die Bundesregierung konnte sich nun doch
urchringen, Künstlernamen in das neue Dokument auf-
unehmen. Nun jedoch hat der Ausschuss für Innere
ngelegenheiten des Bundesrates die Streichung dieser
ategorie verlangt. Die Bundesregierung hat darauf le-
iglich entgegnet, diese Forderung hinsichtlich eines zu
rwartenden Verwaltungsaufwandes zu prüfen. Ich
öchte an dieser Stelle den zahlreichen Wortmeldungen
on Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland geeig-
eten Platz einräumen. Diese zeigten sich, wie auch der
undesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler
nd der Deutsche Künstlerbund, zu Recht entrüstet über
as Vorgehen des Bundesrates, Künstlernamen klamm-
eimlich aus dem Ausweisdokument streichen zu wol-
en. Dies würde in der Folge bedeuten, dass massive
osten auf die Betroffenen zukämen. Denn Künstler-
amen sind die Basis der Identität und des Images von
ünstlerinnen und Künstlern. Zum Zweiten aber sind
iele Verträge unter Künstlernamen abgeschlossen wor-
en, darunter „nicht nur auf Kunst bezogene, sondern
uch solche Existenz sichernder Natur“. Die Linke for-
ert deshalb die Bundesregierung auf, an der Auffüh-
ung des Künstlernamens im neuen Personalausweis
estzuhalten.
Die Linke wird vor dem Hintergrund dieser Kritik-
unkte der Einführung des E-Personalausweises nicht
ustimmen und lehnt den Gesetzentwurf ab. Zusammen-
efasst muss man konstatieren: Der vorliegende Gesetz-
ntwurf der Bundesregierung bringt insgesamt weniger
icherheit und weniger Datenschutz.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
as Gesetz über den neuen elektronischen Personalaus-
eis steht exemplarisch für die Arbeitsweise dieser
oalition: Aus ideologischen Gründen will der Bundes-
nnenminister ein nicht erforderliches Projekt. Die SPD
acht irgendwann auf und meldet berechtigte Bedenken
n. Es folgen ein monatelanger Streit sowie das Einfü-
en einiger Nonsensklauseln. Am Ende wird dann ein
esetz eingebracht, das immer noch keiner braucht, von
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19617
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dem aber beide Koalitionspartner behaupten, sie hätten
damit etwas durchgesetzt. Gute Gesetzgebung allerdings
ist etwas anderes.
Ausgangspunkt bleibt der durch nichts begründete
Wunsch, in den Personalausweis biometrische Merk-
male in digitalisierter Form aufzunehmen. Für die ent-
sprechende Änderung im Passgesetz gab es einen – aller-
dings selbst geschaffenen – europarechtlichen Zwang.
Der liegt hier nicht vor. Man kann und sollte es schlicht
bleiben lassen.
Gab es irgendeine sachliche Notwendigkeit für diese
Änderung? Die Antwort lautet: Nein. Denn es gibt in
Deutschland einen sicheren Personalausweis. Die Zahl
an Fälschungen – BKA-Präsident Ziercke hat das am
Beispiel des baugleichen Passes eingeräumt – ist mini-
mal, der Missbrauch entsprechend schwierig und selten.
Die Bundesregierung gibt das mit ihrem Gesetzentwurf
auch indirekt zu. Denn die fast schon satirische Rege-
lung, dass die Aufnahme der Fingerabdrücke in den Per-
sonalausweis freiwillig sein soll, zeigt nur eines: Eine
Berechtigung oder sachliche Notwendigkeit, den Perso-
nalausweis so sicherer machen zu wollen, existiert
nicht. Stattdessen werden mit dem neuen Ausweis neue
Gefahren geschaffen. Die Erfahrungen mit dem Pass
etwa zeigen, dass die Datenerhebung und -übertragung
der biometrischen Informationen mit der vorhandenen
Infrastruktur nicht so sicher ist, wie sie sein sollte.
Auch der Datensammelwut wird weiter gefrönt: Das
digitale Foto kann auch für die Verfolgung von Ord-
nungswidrigkeiten herangezogen werden; die Speiche-
rung von Daten bei anderen Behörden ist zwar erst ein-
mal nicht vorgesehen, ihr werden aber Tür und Tor
geöffnet. Durch die Vereinheitlichung der Datenspeiche-
rung entsteht über kurz oder lang de facto eine zentrale
Datenbank, auch wenn die Daten nicht auf einer Fest-
platte gesammelt werden. Das ist ja auch erklärtes Ziel
des Bundesinnenministers und seiner Strategie der „ein-
heitlichen Plattform innere Sicherheit“. Entziehen kann
sich der besorgte Bürger nicht mehr; denn der Personal-
ausweis ist im Unterschied zum Pass ein Pflichtdoku-
ment. Und all das zu hohen finanziellen Kosten für alle
Beteiligten.
Vorteile des neuen Personalausweises sind also auf
dem klassischen Anwendungsgebiet nicht zu sehen.
Wohl auch deswegen erfolgt der Einbau der elektroni-
schen Identifikationsfunktion, damit wenigstens ein
scheinbarer Vorteil des neuen Dokuments verbleibt. Da-
bei ist die Kombination aus Personalausweis und elek-
tronischer Identifikation völlig sinnlos. Es gibt die elek-
tronische Signatur. Wozu noch eine Signatur light? Und
wenn man die will, warum auf dem Personalausweis?
Der massenhafte Einsatz eines hoheitlichen Dokuments
etwa bei Bestellungen über das Internet schafft mehr Si-
cherheitslücken, als er schließen kann.
Die im Gesetz erkennbaren Eckpunkte der Sicher-
heitsinfrastruktur können nicht recht überzeugen. Ange-
sichts des schlampigen und bisweilen kriminellen Um-
gangs der Industrie mit privaten Daten ist der Rückgriff
auf Private etwa zur Führung der Sperrlisten fahrlässig.
Auch die Frage nach der 1:1-Kopie eines Ausweises und
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em Missbrauch einer solchen Kopie ist nicht hinrei-
hend bedacht. Dass eine PIN-Nummer nicht allzu viel
icherheit bietet, zeigen die Statistiken über den Miss-
rauch von EC- und Kreditkarten. Die Übertragung über
as Internet und der Einsatz vom privaten Computer aus
chaffen weitere Gefahren. Denn im Unterschied zum
eldautomaten ist der heimische PC ein einziges Sicher-
eitsloch. Die Identifikationsfunktion bietet der Phi-
hing-Mafia ein ganz neues Betätigungsfeld.
Der Personalausweis wird mit diesem Gesetz nicht si-
herer. Er schafft auch keine sonstige Sicherheit. Im Ge-
enteil: Durch die elektronische Identifikation und den
amit möglichen Missbrauch wird sein guter Ruf eher
nterminiert werden. Wenn Onlineversandhäuser mehr
icherheit wollen – und davon war bis jetzt nichts zu hö-
en –, dann sollen sie selbst ein Identifikationssystem
chaffen. Staatliche Hilfe per Gesetz und eine Anschub-
inanzierung über die Gebühren für den Personalausweis
ind der falsche Weg.
Für den öffentlichen Bereich gibt es die qualifizierte
ignatur. Eine Signatur light brauchen wir nicht, schon
ar nicht auf einem überflüssigen biometrischen Perso-
alausweis.
nlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Biotechnologische
Innovationen im Interesse von Verbrauchern
und Landwirten weltweit nutzen – Biotechno-
logie ein Instrument zur Bekämpfung von Ar-
mut und Hunger in den Entwicklungsländern
(Tagesordnungspunkt 15)
Johannes Röring (CDU/CSU): Zunächst muss ich
en Kolleginnen und Kollegen der FDP ein Lob für ih-
en Antrag aussprechen. Die Zielrichtung des Antrages
st grundsätzlich vollkommen richtig. Denn man kann
ur Zustimmen, dass die Biotechnologie im Interesse
on Verbrauchern und Landwirten weltweit von Nutzen
ein kann und ein Instrument zur Bekämpfung von Ar-
ut und Hunger ist.
Ich würde sogar noch weiter gehen und formulieren,
ass die Biotechnologie wahrscheinlich mehr Antworten
uf die dringenden Fragen der Menschheit – nämlich
esundheit, Energie und Nahrung – bereit hält, als jede
ndere Spitzentechnologie.
Hierbei kommt nun besonders den Agrar- und Ernäh-
ungswissenschaften bei der Lösung globaler Probleme
ine zentrale Rolle zu, genau so wie bei der Entwicklung
iner zukunftsfähigen, auf natürlichen Ressourcen basie-
enden Wirtschaft. Die Vereinten Nationen, die Welt-
ank und viele an dem Diskussionsprozess beteiligten
artner haben eine Reihe gesellschaftlicher Herausforde-
ungen entdeckt, denen wir dringend begegnen müssen:
as gleichzeitige Auftreten von Unter- und Mangeler-
ährung bei einem anhaltenden Bevölkerungswachstum,
ie Zerstörung von landwirtschaftlich und forstlich nutz-
arer Fläche, Wassermangel, die Verlagerung von An-
19618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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bauzonen durch den globalen Klimawandel, sowie der
Rückgang biologischer Vielfalt (Biodiversität). Der An-
stieg der Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeug-
nissen – wie zum Beispiel hochwertigen Lebensmitteln
und insbesondere tierischen Produkten – wird darüber
hinaus durch das dynamische Wirtschaftswachstum in
China, Indien und weiteren Schwellenländern verstärkt.
Zusätzlich ist mit dem weltweiten Bedarf an Energie und
Rohstoffen die Notwendigkeit verbunden, Biomasse auf-
grund der Endlichkeit fossiler Ressourcen und aufgrund
des Klimaschutzes stärker für die energetische und stoff-
liche Verwertung zu nutzen.
Wir müssen also erkennen, dass nicht nur die land-
wirtschaftliche Produktionsmenge zunehmen muss, son-
dern darüber hinaus zeigen die aktuellen Entwicklungen,
dass die verfügbare Anbaufläche für landwirtschaftliche
Produkte weltweit pro Erdenbewohner dramatisch ab-
nehmen wird, sie wird sich laut wissenschaftlicher Pro-
gnosen bis zum Jahr 2040 halbieren!
Damit ist es unabdingbar, die Leistungsfähigkeit un-
serer Kulturpflanzen und damit die Effizienz der Land-
wirtschaft entscheidend zu steigern, so zum Beispiel für
Pflanzen mit verbessertem Nährstoffgehalt, höherer
Energiedichte, größerer Widerstandsfähigkeit gegen kli-
matischen Stress oder Widerstandsfähigkeit gegen
Schädlinge und Krankheiten und damit die Möglichkeit
zur Vermeidung von Ertrags- und Qualitätsverlusten.
Auch ökologische Vorteile, wie reduzierter chemischer
Pflanzenschutz und verbesserter Erosionsschutz, sind zu
nennen.
Zur Erreichung dieser Ziele kann die Biotechnologie
einen großen Beitrag leisten.
Da die Bundesregierung diese Fragestellung auch als
sehr bedeutend betrachtet – hier sind besonders das Bun-
desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz und das Ministerium für Bildung und
Forschung zu nennen –, wurde bereits eine Vielzahl ver-
schiedener Forschungsprojekte und Aktivitäten in der
Vergangenheit gestartet. Im Januar dieses Jahres wurde
der Startschuss zu einer verbesserten Forschungsförde-
rung gegeben. Mit 200 Millionen Euro in den nächsten
fünf Jahren sollen Projekte in der Bioenergie-, Agrar-
und Ernährungsforschung an Hochschulen und außer-
universitären Forschungseinrichtungen in Zusammen-
arbeit mit Partnern aus der Wirtschaft gefördert werden.
Aktuell und exemplarisch ist hier das vom Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im
Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV)
und den Ländern entwickelte Förderprojekt „Kompe-
tenznetze in der Agrar- und Ernährungsforschung“ zu
nennen. Unter Berücksichtigung der Empfehlungen des
Wissenschaftsrates zur Entwicklung der Agrarwissen-
schaften in Deutschland sollen mit dieser Initiative die
verschiedenen relevanten Innovationsfelder, unter ande-
rem Pflanzen, Umwelttechnologien, Biotechnologien,
der Hightech-Strategie der Bundesregierung berücksich-
tigt werden.
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In diesem Sinne sollen im Rahmen der Kompetenz-
etze konkrete Forschungsprojekte auf die gesamte land-
irtschaftliche Wertschöpfungskette von der Urproduk-
ion natürlicher Ressourcen bis hin zur Bereitstellung
ualitativ hochwertiger Rohstoffe wie Lebensmittel, Fut-
ermittel, Biomasse für den Verbraucher ausgerichtet
ein. Das Ziel ist es, eine in der Grundlagenorientierung
nd im Anwendungsbezug exzellente Agrar- und Ernäh-
ungsforschung aufzubauen und mit der Ausbildung so-
ie mit dem Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft zu
erbinden. Dadurch sollen anwendungsorientierte Kom-
etenznetze mit internationaler Sichtbarkeit und Attrak-
ivität entstehen und Beiträge für die Lösung gesell-
chaftlicher Probleme liefern.
Der Erfolg des Projekts zeigt sich in der Vielzahl der
undesweit eingereichten Anträge, wobei jüngst in einer
rsten Wettbewerbsrunde neun Finalisten ausgewählt
orden sind. Die Finalisten werden jetzt ihr Strategie-
onzept ausarbeiten und Anfang 2009 einer Jury zur Be-
rteilung vorlegen. Drei bis maximal sechs Kompetenz-
etze werden dann vom BMBF für fünf Jahre gefördert.
Diese und viele weitere Aktivitäten zeigen, dass die
undesregierung die in Ihrem Antrag formulierten For-
erungen zu einer verbesserten Förderung der Erfor-
chung der Biotechnologie zur Bekämpfung der Pro-
leme der Welternährung bereits in die Tat umgesetzt hat
nd stetig weitere Programme entwickelt.
Aus diesem Grund wird die CDU/CSU-Bundestags-
raktion den Antrag der FDP ablehnen.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Die Behauptung,
ass die Entwicklungen der Agrogentechnik der Be-
ämpfung des Hungers in den Entwicklungsländern die-
en, wird durch ständige Wiederholung nicht wahrer.
nd die Hartnäckigkeit, mit der die Augen davor ver-
chlossen bleiben, dass Armut und fehlender Zugang zu
usreichender Nahrung auf mangelnde Verteilungsge-
echtigkeit zurückzuführen sind, ist mehr als ärgerlich.
Wenn Sie wirklich daran interessiert sind, wie Wis-
en, Wissenschaft und Technologie in der Landwirt-
chaft zur Verbesserung der Lebensgrundlagen im länd-
ichen Raum und zur Armutsbekämpfung eingesetzt
erden können, dann sollten Sie den Bericht des Welt-
grarrates vom April dieses Jahres lesen. Eine deutsche
bersetzung der Zusammenfassung kann ich gern zur
erfügung stellen. Ein breit gefächertes Spektrum von
00 Experten aus dem Agrobusiness, der Lebensmittel-
ndustrie, der Wissenschaft, der Verbraucher-, Bauern-,
mwelt- und anderer Nichtregierungsorganisationen
ordert in diesem Bericht die Abkehr vom monokulturel-
en Intensivanbau. Dessen Bilanz fiel bei hohem Einsatz
on Kapital und Energie zwar über Jahrzehnte positiv
us, dies aber vor allem deshalb, weil die Umweltkosten
usgeklammert wurden.
Die Produktivitätssteigerung durch technologische
ortschritte ist an ihre Grenzen gestoßen, und die Kosten
ür die Umwelt und die Entwicklungsländer werden zu
och. Die Zukunft der landwirtschaftlichen Produktion
iegt in einer nachhaltigen, das heißt in einer umwelt-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19619
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und ressourcenschonenden Produktion. Die Agrogen-
technik ist da der falsche Weg. Dass bis heute der Be-
weis für den Nutzen des Einsatzes der Gentechnik fehlt,
stellt auch der Bericht des Büros für Technikfolgenab-
schätzung (TAB) „Auswirkungen des Einsatzes transge-
nen Saatguts auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und politischen Strukturen in Entwicklungsländern“ fest.
Danach fehlt bisher eine sozioökonomische Bewertung
der Grünen Gentechnik. Sie tut dringend not. Dabei
wurde aber auch deutlich gemacht, wie schwer es ist, die
für eine Gegenüberstellung des gesellschaftlichen Nut-
zens und der Kosten nötigen Daten zu ermitteln
Der Weltagrarrat warnt, dass die Agrogentechnik die
lokalen Anbaupraktiken unterwandert, die die Nah-
rungsmittelversorgung der Bevölkerung und der Wirt-
schaft vor Ort sichern. Durch Patente der Konzerne stie-
gen zudem die Kosten, und der Zugang der Bauern vor
Ort werde eingeschränkt. Notwendig sei vielmehr die
Rückbesinnung auf natürliche und nachhaltige Produk-
tionsweisen, die eine ausreichende Erzeugung mit dem
Schutz von Wasser, Boden, Wäldern und Artenvielfalt
vereinen.
Wenn der Hunger in der Welt als Vehikel herhalten
muss, um mehr Forschungsgelder für die Agrogentech-
nik lockerzumachen, ist das zynisch. So hat zum Bei-
spiel der sachsen-anhaltinische Wirtschaftsminister Rei-
ner Haseloff festgestellt, dass sich bei der vom Land
geförderten Forschung an Pflanzen, die Trockenheit ver-
tragen und dem Klimawandel trotzen, die „Erwartungen
nicht erfüllt“ haben. 55 Millionen Euro Forschungsgel-
der sind ergebnislos verpufft. Damit hätten sicherlich
sinnvollere Projekte zur Verbesserung der Ernährungssi-
tuation in den Entwicklungsländern finanziert werden
können.
Gentechnik macht nicht satt und ist teuer. Deshalb
lehnen wir Ihren Antrag ab.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Hunger und ländliche
Entwicklung sind untrennbar miteinander verknüpft.
Das wird uns gerade heute am Welternährungstag wieder
deutlich vor Augen geführt. Mehr als 920 Millionen
Menschen leiden Hunger, davon leben etwa drei Viertel
im ländlichen Raum. Die Zahl der Hungernden ist in den
vergangenen Monaten um knapp zehn Prozent angestie-
gen. Ein Hauptgrund hierfür sind die weltweit steigenden
Nahrungsmittelpreise, die die globale Ernährungssicher-
heit und somit die Erreichung des ersten Millenniums-
entwicklungsziels, nämlich die Anzahl der Hungernden
bis 2015 zu halbieren, zunehmend gefährden. Die Nah-
rungsmittelkrise hat vielfältige Ursachen. Neben der
weltweit höheren Nachfrage nach Lebensmitteln und
veränderten Ernährungsgewohnheiten, unverantwortli-
chem Spekulantentum und dem Anbau von Argartreib-
stoffen ist die Nahrungsmittelkrise auch Folge von
vernachlässigter Förderung und Aufbereitung der Land-
wirtschaft in den Entwicklungsländern.
Schätzungen zufolge wird die Weltbevölkerung in
40 Jahren auf voraussichtlich neun Milliarden Menschen
angewachsen sein. In diesem Maß wird in etwa auch der
Nahrungsmittelbedarf weltweit steigen. Doch Hunger ist
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ein Problem der absolut produzierten Nahrungsmittel-
enge, so wie es der hier vorliegende Antrag suggerie-
en mag. Die Weltlandwirtschaft könnte bereits heute
ittels herkömmlicher Herstellung und Anbau circa
eun Milliarden Menschen ausreichend ernähren – auch
enn man bedenkt, dass in den Industriestaaten täglich
0 bis 40 Prozent der Nahrungsmittel einfach wegge-
chmissen werden. Hunger ist ein Problem des Zugangs
ur Nahrung. Hungernden in den Städten fehlt Einkom-
en zum Kauf von Lebensmitteln, und den Kleinbauern
ehlt der Zugang zu produktiven Ressourcen wie Land,
redite, Betriebsmittel etc. Dieser Mangel stellt ein gro-
es Entwicklungshemmnis in vielen Ländern dar. Die
roduktivität der Landwirtschaft muss daher durch
trukturelle und die Produktionsrahmenbedingungen
erbessernden Maßnahmen gestärkt werden. Die Gen-
echnik könnte dabei – neben vielen anderen – ein flan-
ierendes Element darstellen.
Nicht ganz uninteressant scheint zum Beispiel das
rojekt „Goldener Reis 2“. Dabei handelt es sich um
eis, dem durch verschiedene gentechnische Verände-
ungen die Fähigkeit zur Synthese von Beta-Carotin,
lso einer Vorstufe von Vitamin A, verliehen wurde. Da-
it sollen der Mangel an Vitamin A bei Menschen in
ntwicklungs- und Schwellenländern aufgefangen wer-
en, deren Hauptnahrungsmittel Reis ist. Laut Modell-
echnungen könnte hiermit insbesondere bei Kindern
ine Deckung des Vitamin-A-Bedarfs erreicht werden.
ber, und das ist hier die Krux, die sich auch durch die
esamte Diskussion der Grünen Gentechnik zieht: Es
ind eben nur Modelle, von denen hier die Rede ist. Ob
ie in den Modellrechnungen zugrunde gelegten Annah-
en auch dann tatsächlich zutreffen, bleibt abzuwarten.
on empirischer Evidenz kann momentan jedenfalls
icht gesprochen werden. Denn es muss auch die Frage
rlaubt sein, warum sich nach über zwanzig Jahren
orschung und zwölf Jahren Anbau momentan aus-
chließlich zwei Merkmale – nämlich Herbizidresistenz
nd Bt-vermittelte Insektenresistenz – erfolgreich auf
em Markt durchgesetzt haben. Gerade das immer wie-
er angebrachte Argument, die Nutzung gentechnisch
eränderten Saatguts würde deutlich effizientere Erträge
nd Nutzungsmöglichkeiten mit sich bringen, kann da-
er so nicht stimmen. Der Nutzen von GVO-Pflanzen,
lso gentechnisch veränderten Organismen, ist wissen-
chaftlich längst noch nicht erwiesen.
Was sich allerdings sehr wohl nachweisen lässt, ist
ie Verdrängung regionaler Sorten. Hier müssen wir
chtgeben, dass die Grüne Gentechnik nicht durch un-
ontrollierten Anbau in den Entwicklungsländern aus
em Ruder läuft. Davor warnt auch der Weltagrarrat in
einem jüngsten Bericht. Zum einen wird befürchtet,
ass die Agrogentechnik die lokalen Anbaupraktiken un-
erwandert, die die Nahrungsmittelversorgung der Be-
ölkerung und der Wirtschaft vor Ort sichern. Es besteht
ie Sorge, dass genverändertes Saatgut die einheimi-
chen Produkte verdrängt. Schutzzonen und weitere
aßnahmen müssen ein „Verseuchen“ genunveränderter
flanzen gewährleisten. Zum anderen, und dieser Punkt
st unweigerlich mit dem ersten verbunden, muss verhin-
ert werden, dass die Saatgutentwicklung in den Ent-
19620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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wicklungsländern immer weiteren Restriktionen und
Auflagen der großen Biotechnologieunternehmen unter-
worfen sind. Patentverträge führen dazu, dass die Klein-
bauern in Entwicklungsländern in eine regelrechte Ab-
hängigkeit der Großindustriellen geraten. Patente treiben
die Kosten in die Höhe, beschränken die Versuche der
einzelnen Bauern bzw. der öffentlichen Forschung und
untergraben ortsübliche Methoden zur Stärkung der
Ernährungssicherung und wirtschaftlichen Nachhaltig-
keit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Ihre Be-
hauptung, „die Biotechnologie ist eine international an-
erkannte Methode, um Nutzpflanzen zu verbessern“,
kann so jedenfalls nicht stehen bleiben. Daher wäre es
fatal, wenn man in der Bekämpfung von Hunger und Ar-
mut in den Entwicklungsländern einzig auf die Karte
Gentechnik setzen würde. Gentechnik an sich muss nicht
verkehrt sein – sie ist aber kein Allheilmittel.
Landwirtschaftliche Fragestellungen im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit bedingen immer die Not-
wendigkeit einer nachhaltigen landwirtschaftlichen Lö-
sung, die sozial, ökologisch und ökonomisch zukunftsfä-
hig sein muss. Das kann ich in ihrem Antrag so nicht
finden. Im Gegenteil. Wenn man ihren Antrag liest, dann
könnte man meinen, die Bundesregierung hätte nichts
dafür getan, den Menschen in den Entwicklungsländern
zu helfen. Das Gegenteil ist der Fall. Allein für den Be-
reich der ländlichen Entwicklung hat die Bundesregie-
rung die Nettoausgaben von 382,3 Millionen Euro im
Jahr 2005 auf 576,8 Millionen Euro im Jahr 2006 erhöht
und im Jahr 2008 über verschiedene Instrumente insge-
samt circa 600 Millionen Euro allein für die Ernährungs-
sicherung neu investiert. Es sollte ebenfalls nicht uner-
wähnt blieben, dass es Bundesentwicklungsministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul zu verdanken ist, dass die
Weltbank wieder einen höheren Anteil ihrer Mittel für
die ländliche Entwicklung einsetzt. Ebenso wirkt die
Bundesrepublik als Gründungsmitglied der Consultative
Group on Internationale Agricualtural Research
(CGIAR) an der Erarbeitung angewandter Lösungen in
der Agrarforschung mit. Sie ist ein bedeutender Baustein
für Wachstum in der Landwirtschaft.
Als SPD-Bundestagsfraktion werden wir weiterhin
den eingeschlagenen Weg in der Landwirtschaft und
ländlichen Entwicklung gehen, und uns für eine ver-
stärkte Entwicklung des ländlichen Raums einsetzen. Im
Dezember bringen wir hierzu einen entsprechenden An-
trag in den Bundestag ein, der zu den weitreichenden
Fragen des Themenkomplexes der ländlichen Entwick-
lung, mit ganzheitlichen Konzepten von sozialer, ökolo-
gischer und ökonomischer Tragweite, Antworten liefert.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Weltbe-
völkerung nimmt rasant zu. Täglich wächst sie um etwa
80 000 Menschen. Das entspricht der Bevölkreung einer
Stadt wie zum Beispiel Brandenburg an der Havel, Neu-
münster oder Marburg. 2030 werden 9 Milliarden Men-
schen auf dieser Erde leben. Gleichzeitig nehmen die
Ackerflächen durch Versteppung und Versalzung ab.
Luc Gnacadja, Chef der UNCCD, berichtete im Agrar-
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usschuss über die weltweit zunehmende Versteppung.
ie fortschreitende Wüstenbildung wird hervorgerufen
urch Klimawandel, falsche Bewirtschaftungsmethoden,
chlechtes Regierungshandeln. Sie ist eine zusätzliche
efahr für die Welternährung.
Es ist in den letzten Jahrzehnten gelungen, den Anteil
er hungernden Menschen deutlich zu senken. Heute
erden gegenüber 1950 4 Milliarden Menschen mehr er-
ährt als damals, ein Erfolg, der wesentlich auf der ers-
en grünen Revolution beruht. Doch vom Millenniums-
iel der Halbierung von Armut und Hunger bis zum Jahr
015 sind wir noch weit entfernt. Der Welthungerindex
008 zeigt, dass es in einer ganzen Reihe von Ländern
elungen ist, die Ernährungssituation deutlich zu verbes-
ern; in anderen, wie in verschiedenen Südsaharastaaten,
st sie dramatisch schlecht.
Die entwickelte Welt ist aufgerufen, vertieft darüber
achzudenken, wie wir auf dieser Erde mehr Menschen
rnähren und ihnen eine Lebensperspektive eröffnen
önnen. Ohne Zweifel gibt es sehr politische Gründe,
arum in Ländern wie Nordkorea oder der Demokrati-
chen Republik Kongo die Menschen Hunger leiden.
as gilt aber nicht für alle Länder. Die Forderung des
hefs der UNCCD ist berechtigt: Mehr Forschung, eine
rhöhung der Nahrungsmittelproduktion um 50 Prozent
ei Berücksichtigung der Entwicklung gentechnisch ver-
nderter Pflanzen. Die bessere Verteilung der Nahrungs-
ittel ist wichtig, reicht aber nicht. 50 Prozent der Nah-
ungsmittelproduktion werden entweder schon vor der
rnte durch Schadorganismen oder nach der Ernte wäh-
end der Lagerung vernichtet. Zu einer Erhöhung der
ahrungsmittelproduktion gibt es daher keine Alterna-
ive. Für die Züchtung schädlingsresistenter sowie
rockenheits- und salztoleranter Sorten bieten biotechno-
ogische Züchtungsverfahren hervorragende Möglich-
eiten und gute Erfolgsaussichten.
Nicht die Wünsche satter Europäer sollten Maßstab
er Bewertung der Grünen Gentechnik sein, sondern die
rfordernisse der Bekämpfung von Hunger und Armut
n den ärmsten Ländern der Erde.
Ich stimme dem ehemaligen Vorsitzenden der Deut-
chen Bischofskonferenz, Herrn Kardinal Lehmann, zu,
er mir in Reaktion auf den Antrag der FDP-Fraktion ge-
chrieben hat: „Ein verantwortungsvoller, nicht nur dem
konomischen Gewinn verpflichteter Umgang mit bio-
echnologischen Verfahren ist ethisch geboten und Aus-
ruck des Bemühens um globale, intergenerationelle und
kologische Gerechtigkeit.“
Der Goldene Reis entspricht diesen Anforderungen.
ach Angaben der Weltgesundheitsorganisation erblin-
en jedes Jahr 500 000 Kinder aufgrund von Vitamin-A-
angel, die Hälfte von ihnen stirbt. Diesen Kindern
önnte der Goldene Reis helfen. Professor Martin
uaim kommt aufgrund seiner Untersuchungen in In-
ien zu dem Schluss, dass der Goldene Reis eine Mög-
ichkeit darstellt, den Vitamin-A-Mangel erfolgreich zu
ekämpfen.
Die Vorstellung, dass Menschen, die so arm sind, dass
ie sich fast ausschließlich von Reis ernähren, doch ohne
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19621
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Weiteres ihren Speiseplan mit ein bisschen Gemüse auf-
bessern können, hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist
den Menschen auf den Philippinen, in Indien und Indo-
nesien zu wünschen, dass Professor Potrykus mit seiner
Überzeugung Recht behält, dass 2012 der Goldene Reis
in diesen Ländern angebaut wird. Es ist ethisch nicht
verantwortbar, wenn weiterhin die entwickelte, die rei-
che, die satte Welt die Entwicklungsländer behindert,
Goldenen Reis zu nutzen. Die Industrie hat ihre Lizen-
zen für die Subsistenzwirtschaft zur Verfügung gestellt.
Damit ist gewährleistet, dass dort Nachbau betrieben
werden kann.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern, Forschun-
gen zu fördern, die die Züchtung von Pflanzen ermögli-
chen, die für die Armutsbekämpfung in Entwicklungs-
ländern von besonderer Bedeutung sind. Die Chancen
und Potenziale der Biotechnologie müssen ausgeschöpft
werden. Als führende Industrienation müssen wir Ver-
antwortung für die Forschung und Entwicklung gentech-
nisch verbesserter Pflanzen für die Bekämpfung von
Hunger und Armut übernehmen. Wir Liberale sagen
ganz klar: Es ist durch nichts zu rechtfertigen, aus der Si-
tuation des Wohlstands in Europa heraus die Anwen-
dung einer Züchtungsmethode zu behindern, die den
Menschen in weiten Teilen der Erde bei der Überwin-
dung von Hunger und Armut helfen kann.
Uns ist bewusst, dass die Biotechnologie nicht das
Allheilmittel zur Bekämpfung des Hungers auf der Welt
ist. Wir meinen aber, dass die Erfahrungen der vergange-
nen Jahre gezeigt haben, dass die Biotechnologie einen
wichtigen Beitrag leisten könnte, gemeinsam mit ande-
ren Maßnahmen wie mehr Bildung, mehr Investitionen
in die Landwirtschaft, bessere Anbaumethoden, besseres
Regierungshandeln, mehr Rechtssicherheit. So steht es
in unserem Antrag. Ich bitte die Kolleginnen und Kolle-
gen um Unterstützung.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Der uns vor-
liegende Antrag der FDP schlägt vor, mit Biotechnologie
den Hunger der Welt zu bekämpfen. Armut soll durch
die Züchtung neuer Pflanzen gemindert werden. Durch
höheren Mineralien- und Ölgehalt soll Unterernährung
bekämpft werden. Neue Züchtungen – so meint die FDP –
retten die Welt.
Nun – auch Ihnen ist inzwischen hoffentlich einiges
klarer geworden. Das einzige was ich Ihnen zugutehal-
ten kann an diesem Antrag, ist, dass er veraltet ist. Auch
Sie von der FDP dürften inzwischen begriffen haben,
dass wir zur Beseitigung des Hungers in der Welt ganz
anderer Lösungen bedürfen.
Ich helfe Ihnen auf die Sprünge. Lassen Sie uns ge-
meinsam die einzelnen Punkte noch einmal durchgehen:
Erstens. Die Ursachen des Hungers:
Laut Schätzungen der Weltbank ist die Anzahl der
Hungernden zwischen 2005 und 2007 von 848 auf
967 Millionen angestiegen. Die Ursachen dafür wurden
hier bereits vielfältig besprochen. Es ist mittlerweile un-
bestritten (außer anscheinend von Ihnen), dass es mehr
als genug Nahrung für alle auf der Welt gibt. Laut der
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N-Ernährungsorganisation FAO reicht die vorhandene
ahrungsmittelproduktion zur Ernährung von 12 Mil-
iarden Menschen aus. Die Ernährungskrise hat struktu-
elle Ursachen, die auf politische Fehlentscheidungen,
erfehlte Agrar-, Handels- und Finanzpolitik zurückzu-
ühren sind. Die Liberalisierungspolitik und die Markt-
ffnung für Agrarprodukte haben dafür gesorgt, dass
okale Märkte im Süden zerstört wurden. Die Exportsub-
entionen haben zu Dumpingpreisen von EU-Produkten
eführt. Der kleinbäuerliche Sektor wurde über Jahr-
ehnte vernachlässigt. Subsistenzlandwirtschaft wurde
elächelt, vor allem von Ihnen.
Zweitens. Die Risiken des Anbaus von genmanipu-
ierten Pflanzen:
Die potenziellen Gefahren des Anbaus von genmani-
ulierten Pflanzen im Freiland sind noch ungeklärt und
annigfaltig. Die Pflanzen können sich unkontrolliert in
ahe Verwandte auskreuzen, die Debatte über transge-
en Mais oder Raps hat das Problem aufgezeigt. Eine
ngewollte Ausbreitung von gentechnischen Verände-
ungen ist folglich nicht nur möglich, sondern wahr-
cheinlich. Denn Resistenzen gegen Pflanzenschutzmit-
el gefährden Ökosysteme und können letztendlich zu
ehr Pestizidverbrauch führen. Bei der Wechselwirkung
on veränderten Pflanzen mit bestäubenden Insekten
nd bei Anreicherungen von Fremdsubstanzen wurden
benfalls negative Auswirkungen auf das Bodenleben
eobachtet. Unumstritten ist der Zusammenhang von
gro-Gentechnik und der Verminderung der Artenviel-
alt. Biodiversität ist ein bedrohtes öffentliches Gut und
uss erhalten werden, wenn wir unsere Umwelt lebens-
ert für die Zukunft bewahren wollen.
Drittens. Biotechnologie als Instrument im Kampf ge-
en Hunger:
Vor den Auswirkungen gentechnisch veränderten
aatguts vor allem in Entwicklungsländern wird von Ex-
ertinnen und Experten eindringlich gewarnt. Selbst die
TZ bezweifelt die Wirksamkeit gentechnischer verän-
erter Organismen gegen den Hunger in Entwicklungs-
ändern. Wie Prof. Rauch in seinem Statement zur Anhö-
ung, die gestern stattfinden sollte, sagt: „Gentechnik
mpliziert die Abhängigkeit von gut funktionierenden
grardiensten. In ländlichen Regionen mit schwachen
nstitutionen ist eine – für Bauern lebensentscheidende –
echtzeitige alljährliche Versorgung mit Saatgut nur
chwer zu gewährleisten.“ Kleinbetriebe begeben sich
urch die aggressive Patentierungspolitik der Saatgut-
onzerne und die Lizenzgebühren in eine Schuldenfalle,
us der sie nicht mehr herauskommen. Das manipulierte
aatgut ist teuer und darf nur unter Zahlung einer Ge-
ühr nachgebaut werden. Damit entfällt ein uraltes
echt und ein selbstbestimmter Freiraum der Bäuerin-
en und Bauern. Zurzeit werden 80 Prozent des Getrei-
es in den Entwicklungsländern aus Samen der letzten
rnte angebaut. Auf der anderen Seite kontrollieren zehn
onzerne gegenwärtig 85 Prozent des Marktes an gen-
echnisch veränderten Nutzpflanzen. Und sie verdienen
ut. Zum einen an den Patenten und Lizenzgebühren und
um anderen an den jeweils speziell benötigten Pflan-
enschutzmitteln, ohne die das System nicht funktio-
19622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
niert. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern können hier nur
verlieren.
Schlussfolgerungen:
Von Biotechnologien in der Landwirtschaft profitie-
ren nur großflächige Landwirtschaftsbetriebe und die
Agrarkonzerne. Die Gefahren für Mensch und Umwelt
sind absolut ungeklärt und extrem risikobehaftet. Die Er-
nährungssouveränität aller Länder kann mittels Agrarre-
formen zugunsten armer und kleinbäuerlicher Betriebe
und Förderung von ökologisch nachhaltiger Landwirt-
schaft gesichert werden. Verbesserter Zugang zu Land,
Landreformen und bessere Bewässerungssysteme kön-
nen die Ernten um 50 Prozent wachsen lassen. Die
Sicherung lokaler Märkte muss klar Vorrang vor Export-
landwirtschaft haben. Das bezieht sich sowohl auf Ex-
porte von Lebensmitteln, Futter oder Agroenergie.
Wir halten eine dauerhafte und anhaltende Lösung der
Nahrungsmittelkrise als eines der wichtigsten aktuellen
Themen. Dieser Antrag der FDP-Fraktion wird jedoch
nicht im Mindesten zu einer Lösung beitragen, weswe-
gen wir ihn aus voller Überzeugung ablehnen.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Ursachen der Welternährungskrise sind vielfältig. Hun-
ger und Armut sind auch das Ergebnis einer EU-Agrar-
politik, die vor allem am Wohlergehen der Industrielän-
der orientiert war. Agro-Gentechnik ist kein innovativer
„neuer“ Ansatz in der Landwirtschaft, der einen Beitrag
zur Lösung des Hungerproblems leistet, sondern eine
neue Gewinnsparte und in Abhängigkeit von der Agroin-
dustrie.
Gentechnisch veränderte Pflanzen dienen nicht der
Hungerbekämpfung, sondern werden zur Exportware –
als Baumwolle für billige T-Shirts oder als Futtermittel
für den Fleischkonsum in den Industrieländern. Zyni-
scher sind noch einzelne Prestigeobjekte der Agro-Gen-
technik-Industrie, zum Beispiel der „Golden Rice“.
Wenn Menschen sich nicht genug Reis zum Überleben
leisten können, dann können sie sich auch keinen „Gol-
den Rice“ leisten.
Die Hungerdebatte wird von Befürwortern der Agro-
Gentechnik genutzt, um ein verstaubtes Argument neu
aufzupolieren: Die Sicherstellung der Welternährung er-
fordere eine Steigerung der Produktivität in der Land-
wirtschaft, und dies ginge nur mit gentechnisch verän-
derten Pflanzen. Doch auch diesen Nachweis ist die
Agro-Gentechnik-Industrie schuldig geblieben, wie eine
Studie der Universität Georgia von 2008 zeigt.
Schon 2004 wies die FAO darauf hin, dass eine Er-
trags- und Gewinnsteigerung durch den Anbau von gen-
technisch veränderten Pflanzen wissenschaftlich nicht
belegt sei. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch
die Autoren einer von der EU-Kommission in Auftrag
gegebenen Übersichtsstudie aus dem Jahr 2007 bestäti-
gen, dass die Datenlage hinsichtlich einer Ertragssteige-
rung durch gentechnisch veränderte Pflanzen nicht be-
lastbar sei. Auch der UN-Weltagrarrat erklärt in seinem
Bericht von 2008, dass eine Auswertung der bisher vor-
gelegten Studien über den Anbau gentechnisch verän-
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erter Pflanzen gezeigt habe, dass es in einigen Gebieten
rtragszuwächse, in anderen aber Ertragsrückgänge
urch den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen
ab.
Seit rund zehn Jahren werden gentechnisch verän-
erte Pflanzen zu kommerziellen Zwecken angebaut, vor
llem in den USA, Argentinien und Brasilien. Dies sind
ast ausschließlich herbizid- oder insektenresistente
oja-, Mais-, Raps- und Baumwollsorten, die auf frucht-
aren Böden angebaut werden müssen. Es werden in-
wischen fast ausschließlich gentechnisch veränderte
ojasorten des US-Konzerns Monsanto angebaut.
Die Konsequenzen für die Landwirtschaft in Argenti-
ien sind enorm: Waldflächen wurden für den Sojaanbau
erodet, der Einsatz von Pestiziden und Stickstoffdünger
tieg an, und es gibt Probleme mit dem Durchwuchs von
erbizidresistenten Sojapflanzen. Gleichzeitig nahm in
rgentinien die landwirtschaftliche Fläche für die Ei-
enversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln
b. Kleine und mittelständische landwirtschaftliche Be-
riebe wurden verdrängt.
Die Agro-Gentechnik kommt anders als der Ökoland-
au nicht ohne Pestizide aus. Entweder werden die
flanzen mittels Gentechnik selbst zu Pestiziden umge-
aut, sodass sie in allen Pflanzenteilen – sogar im Pollen –
inen toxischen Stoff des Bacillus thuringiensis – Bt –
roduzieren. Zu diesen insektenresistenten Pflanzen ge-
ören auch die MON-810-Maissorten von Monsanto, die
on Landwirtschaftsminister Horst Seehofer für den An-
au in Deutschland zugelassen wurden. Oder es werden
otalherbizide eingesetzt.
Die schädliche Wirkung dieser Kombination für die
iodiversität wurde unter anderem in einer langjährigen
tudie der britischen Regierung nachgewiesen: Durch
en Anbau von herbizidresistentem Raps waren 44 Pro-
ent weniger Blütenpflanzen und weniger Schmetter-
inge und Spinnen zu finden, während bei Anbau
erbizidresistenter Zuckerrüben 34 Prozent weniger Blü-
enpflanzen sowie signifikant weniger Bienen, Schmet-
erlinge und Wanzen zu finden waren.
Das Beispiel des Soja-Anbaus in Argentinien zeigt
eben den ökologischen Risiken auch die sozio-ökono-
ischen Risiken der Agro-Gentechnik deutlich an. Dazu
ehören zum Beispiel Kosten für die Vermeidung von
erunreinigungen oder der Gefährdung der Biodiversität
urch gentechnisch veränderte Pflanzen oder Folgen der
atentierung biologischer Ressourcen und der Monopo-
isierung des Saatgutsektors. Die Risiken in Entwick-
ungsländern sind laut UN-Weltagrarrat vor allem enorm
ohe Kosten für Saatgut durch Patente. Und gerade
leinbauern geraten laut GEPA durch den Einsatz von
ybrid- und gentechnisch verändertem Saatgut in eine
chuldenspirale, da sie Saatgut, Düngemittel und Pesti-
ide jedes Jahr erneut zu vorgegebenen Preisen kaufen
üssten. Die Schuldenfalle Agro-Gentechnik hat auch
ei Baumwoll-Bauern in Indien zu einer hohen Selbst-
ordrate geführt.
Eine Studie des Sächsischen Landesamtes für Um-
elt, Landwirtschaft und Geologie ergab zudem auch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19623
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(B) )
für Deutschland als Industrieland, dass beim Anbau von
Bt-Mais höhere Saatgutkosten von 35 bis 40 Euro pro
Hektar entstehen. Diese Mehrkosten können erst recht
nicht Bauern in Entwicklungsländern tragen.
Viele Ursachen steigender Lebensmittelpreise und
Flächenkonkurrenz liegen in den reichen westlichen
Ländern. Fleischhunger macht Welthunger – dagegen
hilft keine Technik, erst recht keine Agro-Gentechnik,
sondern hier müssen politische und strukturelle Lö-
sungsansätze gefunden werden. Dazu gehört, in der
Agrar- und Agrarsubventionspolitik umzusteuern und in
der Entwicklungszusammenarbeit sowie in den Partner-
ländern selbst die bäuerliche Landwirtschaft und ländli-
che Entwicklung zu stärken. Auch müssen wir unsere
Ernährungsgewohnheiten verändern. Und es muss recht-
zeitig gegengesteuert werden, damit aus dem Energie-
hunger nicht noch mehr Welthunger wird.
Wichtig ist: Das Menschenrecht auf Nahrung muss
Priorität haben. Die Bundesregierung schließt in ihrem
Beschluss nicht aus, die Welternährungskrise auch mit
industriellen Mitteln wie der Agro-Gentechnik zu be-
kämpfen. Dies ist keine Lösung. Eine nachhaltige, so-
ziale und ökologische Landwirtschaft, die das Hunger-
problem überwinden kann, braucht keine grüne
Gentechnik. Agro-Gentechnik ist im Gegenteil eine er-
hebliche Gefährdung der Ernährungssicherheit.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
genetische Untersuchungen bei Menschen (Gen-
diagnostikgesetz – GenDG) (Tagesordnungs-
punkt 16)
Hubert Hüppe (CDU/CSU): Heute liegt uns der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zu einem Gendiagnos-
tikgesetz vor. Genetische Untersuchungen sind ein Be-
reich, in dem sich Verbände, Enquete-Kommission,
Nationaler Ethikrat, Fraktionen und verschiedene Bun-
desregierungen seit mehreren Jahren um eine gesetzliche
Regelung bemühen. Die CDU/CSU-Fraktion hat, auch
unter den Vorgängerregierungen, immer wieder auf ein
Gendiagnostikgesetz gedrängt. Die Regierungsfraktio-
nen haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass geneti-
sche Untersuchungen gesetzlich geregelt werden sollen.
Es ist gut, dass wir heute mit dem vorliegenden Ent-
wurf das Gesetz auf den Weg bringen. Es besteht weitge-
hende Einigkeit, dass ein solches Gesetz nötig ist. Seine
Gene wird der Mensch sein Leben lang nicht los, sie ste-
hen fest. Genetische Daten sind sensible, höchstpersönli-
che Gesundheitsdaten. Genetische Daten sind auch des-
halb besonders sensibel, weil sie Informationen über
Verwandte enthalten können.
Der Gesetzentwurf gibt genetische Untersuchungen
in die Hände von Fachleuten, sichert Qualitätsanforde-
rungen ab und errichtet Schutzwälle gegen Missbrauch
genetischer Daten und Diskriminierung aufgrund geneti-
scher Eigenschaften, etwa im Arbeitsleben und im Versi-
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herungswesen. Ob man Ergebnisse genetischer Unter-
uchungen wissen will oder sie gerade nicht wissen will,
as unterliegt der Selbstbestimmung jedes einzelnen.
er Gesetzentwurf legt strenge Maßstäbe an die Einwil-
igung in eine genetische Untersuchung an.
Genetische Tests können zur Absicherung einer
iagnose beitragen und dadurch die Therapie verbes-
ern. Pharmakogenetische Tests können genetisch be-
ingte Empfindlichkeiten für bestimmte Medikamente
lären und so eine individuelle Auswahl und Dosierung
on Medikamenten erleichtern. Prädiktive genetische
est geben Anhaltspunkte über mögliche Risiken einer
ukünftigen Erkrankung oder Behinderung. Prädiktive
entests können möglicherweise helfen, einer Krankheit
orzubeugen, etwa durch Anpassung der Lebensge-
ohnheiten.
Gerade weil wir die Chancen genetischer Diagnostik
utzen wollen, brauchen wir eine gesetzliche Regelung.
ie Menschen müssen sicher sein können, dass geneti-
che Untersuchungen zu ihrem Vorteil durchgeführt wer-
en. Sie müssen sicher sein, dass es nicht zu ihrem Scha-
en ist, wenn sie genetische Diagnostik in Anspruch
ehmen. Deshalb war es uns als Union wichtig, dass es
ukünftig Versicherern und Arbeitgebern nicht nur ver-
oten sein soll, genetische Tests zu verlangen, sondern
s auch ein Verbot der Verwertung von Testergebnissen
ibt, die der Betroffene freiwillig vorlegt oder an die der
rbeitgeber oder das Versicherungsunternehmen auf an-
ere Weise gelangt.
Besonders wichtig ist die qualifizierte Beratung vor
nd nach einem prädikativen Gentest, um den Aussage-
ert eines Testergebnisses richtig einzuschätzen und auf
einer Basis eine begründete Entscheidung treffen zu
önnen. Diese Beratung muss von Ärzten geleistet wer-
en, die über besondere Fachkunde verfügen.
Das Gendiagnostikgesetz geht von der Besonderheit
enetischer Daten aus schreibt und zum Schutz der be-
roffenen Menschen sinnvolle Regelungen vor, etwa
rztvorbehalt, qualifizierte Beratung, Bedingungen der
inwilligung und der Aufbewahrung bzw. Vernichtung
on Ergebnissen genetischer Untersuchungen.
Ich denke, im Grundsatz haben wir ein hohes Maß an
inigkeit darüber, dass ein Gesetz diese Grundprinzipien
msetzen soll. Über die konkrete Ausgestaltung dieser
rinzipien werden wir auf Basis des Gesetzentwurfes der
undesregierung beraten. Wir werden auch im Rahmen
iner Anhörung die Betroffenen und die Fachleute in die
eratung einbeziehen. Wir werden genau darauf
chauen, ob die Begriffsbestimmungen trennscharf und
raxistauglich sind, etwa hinsichtlich der Unterschei-
ung zwischen diagnostischen und prädikativen geneti-
chen Untersuchungen. Besonders muss aus meiner
icht geprüft werden, inwieweit der Stellungnahme des
undesrates gefolgt werden sollte, genetische Untersu-
hungen zu Forschungszwecken einzubeziehen. Natür-
ich sind wir zu Änderungen bereit, die sich aus den wei-
eren Beratungen, Stellungnahmen und Anhörungen
rgeben.
19624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
Bei einem ausführlichen Gespräch zum Gendiagnos-
tikgesetz mit Vertretern der Diagnostica-Industrie haben
diese unter anderem die Position vertreten, dass der For-
schungsbereich im Gendiagnostikgesetz mit geregelt
werden muss. Ihre Begründung für eine gesetzliche Re-
gelung ist so einleuchtend wie vernünftig: Wenn jede
Frau und jeder Mann wissen, dass genetische Untersu-
chungen in einem geordneten und gesetzlich festgeleg-
ten Rahmen stattfinden, besteht Vertrauen. Eine gesetzli-
che Regelung im Forschungsbereich ist also sowohl im
Interesse der Betroffenen als auch der Anbieter und der
Industrie.
Von daher ist in der Tat zu prüfen, was im Bereich der
genetischen Forschung bundesweit geregelt ist und was
gegebenenfalls geregelt werden muss. Ansonsten würde
dies ein Problem insofern darstellen, als solche For-
schungsprojekte nicht notwendig nur innerhalb der
Grenzen eines Bundeslandes stattfinden und verschie-
dene Berufsgruppen und verschiedene Institutionen
– etwa private und öffentlich-rechtliche Stellen – unter-
schiedlichen rechtlichen Anforderungen unterliegen
könnten. Dies würde letztlich als Forschungshindernis
wirken.
Umgekehrt gilt: Wenn genetische Untersuchungen in
einem geordneten und gesetzlich festgelegten Rahmen
stattfinden, besteht das Vertrauen, auf das Forschung an-
gewiesen ist. Deshalb sollten wir uns diesem Thema
sorgfältig widmen.
In den letzten Wochen ist auch darüber diskutiert wor-
den, ob das Gesetz alles erlauben soll, was „technisch“
möglich ist. So haben unter anderem der Ministerpräsi-
dent von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, und die
Staatssekretärin Ursula Heinen ein Verbot vorgeburtli-
cher genetischer Untersuchungen gefordert, die gezielt auf
„spätmanifestierende Erkrankungen“ wie zum Beispiel
Brustkrebs oder Alzheimer durchgeführt werden, also für
solche Erkrankungen, die erst im späteren Lebensalter
auftreten. Allein die Entnahme der Fruchtwasserprobe für
diese genetische Untersuchung birgt ein Risiko von einem
Prozent, dass es zu einer Fehlgeburt kommt.
Solche Gentests wären auch lange nach der Geburt
des Kindes möglich, wenn es nur darum geht, der Er-
krankung bestmöglich vorzubeugen, etwa durch gezielte
Vorsorgeuntersuchungen, besondere Ernährung oder Le-
bensführung, oder sich bestmöglich auf die Erkrankung
vorzubereiten. Wenn man nur das Wohl des Kindes im
Auge hat, gibt es keinen Grund, solche Gentests noch
vor der Geburt durchzuführen.
Wenn man solche Gentests noch vor der Geburt statt
nach der Geburt durchführen will, um das Risiko einer
„spätmanifestierenden Erkrankung“ abzuklären, so hat
man davon keinen zusätzlichen Nutzen, es sei denn, um
sich für eine Abtreibung wegen dieser Veranlagung zu
entscheiden. Wenn wir vorgeburtliche Gentests auf
„spätmanifestierende Erkrankungen“ zulassen, schaffen
wir ein erhebliches Diskriminierungspotenzial gegen
Träger solcher Veranlagungen. Wir würden einen weite-
ren Schritt zum „Kind nach Maß“ zulassen. Dies ist eine
Gewissensfrage.
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Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine gute Aus-
angsbasis und ein großer Schritt für mehr Sicherheit
nd Vertrauen im bereich der Gendiagnostik. Wir wer-
en in der Anhörung erfahren, wie die Sachverständigen
en Entwurf beurteilen, was sie begrüßen und wo sie
orrekturbedarf sehen, und wir werden sehr gewissen-
aft und sorgfältig mit ihren Vorschlägen umgehen.
Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Aus-
chuss.
Dr. Carola Reimann (SPD): Mit dem Entwurf für
in Gesetz über genetische Untersuchungen beim Men-
chen – kurz Gendiagnostikgesetz – legen wir eine ge-
etzliche Regelung für den bisher ungeregelten Bereich
er genetischen Untersuchungen vor. Dieser Bereich er-
ordert angesichts der Erkenntnismöglichkeiten der Hu-
angenetik einen besonderen Schutzstandard, um die
ersönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu
chützen und durch eine gesetzliche Regelung die Quali-
ät der genetischen Diagnostik zu gewährleisten.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf wird die Bürge-
innen und Bürger in die Lage versetzen, ihr Recht auf
nformationelle Selbstbestimmung wahrzunehmen. Ein
eiteres wichtiges Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die
it der Untersuchung menschlicher genetischer Eigen-
chaften verbundenen möglichen Gefahren und geneti-
che Diskriminierung zu verhindern und gleichzeitig die
hancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen für
en Einzelnen zu wahren. Mit dem Gesetz werden zu-
em Anforderungen an eine gute genetische Untersu-
hungspraxis verbindlich geregelt.
Zu den Grundprinzipien des Entwurfes zählt das
echt des Einzelnen auf informationelle Selbstbestim-
ung. Hierzu gehören sowohl das Recht auf Wissen,
lso das Recht, die eigenen genetischen Befunde zu ken-
en, als auch das Recht auf Nichtwissen, das heißt diese
icht zu kennen. Nur wenn die betroffene Person in die
ntersuchung rechtswirksam eingewilligt hat, dürfen
enetische Untersuchungen durchgeführt werden. Vo-
aussetzung für die Ausübung des Selbstbestimmungs-
echts ist die Trias aus Aufklärung vor den genetischen
ntersuchungen, die wirksame Einwilligung in die ge-
etische Untersuchung sowie zusätzlich die genetische
eratung. Mit diesem Konzept wollen wir eine souve-
äne Entscheidung des informierten Patienten für oder
egen eine genetische Untersuchung ermöglichen.
Im Detail sieht unser Entwurf Regelungen für die Be-
eiche der medizinischen Versorgung, der Abstammung,
es Arbeitslebens und der Versicherungen vor. Auf die
egelungen zu genetischen Untersuchungen zu medizi-
ischen Zwecken sowie im Arbeits- und Versicherungs-
ereich möchte ich im Folgenden näher eingehen.
Genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwe-
ken, die nur von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt
erden dürfen, unterliegen einem abgestuften Bera-
ungskonzept. Die genetische Beratung ist ein zentrales
lement des Gesetzentwurfes. So soll eine Beratung
ann angeboten werden, wenn die genetische Untersu-
hung der Abklärung einer bereits bestehenden Erkran-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19625
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kung dient. Verpflichtend ist sie hingegen dann, wenn
Untersuchungen eine Vorhersage auf die eigene Gesund-
heit oder auf die Gesundheit eines ungeborenen Kindes
erlauben. In beiden Fällen ist die Beratung vor und nach
der Untersuchung verpflichtend. Auf ausdrücklichen
Wunsch der Patientin oder des Patienten ist – ganz im
Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung –
auf die Beratung zu verzichten.
Eine Begrenzung allein auf medizinische Zwecke er-
folgt bei vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen.
Diese sollen sich auf die Feststellung derjenigen geneti-
schen Eigenschaften beschränken, die die Gesundheit
des Fötus oder Embryos vor oder nach der Geburt beein-
trächtigen können.
Im Bereich des Arbeitsrechts sind genetische Unter-
suchungen auf Verlangen des Arbeitgebers grundsätzlich
verboten. Dem Arbeitgeber ist zudem die Verwendung
von Ergebnissen bereits vorgenommener Untersuchun-
gen untersagt. Lediglich im Arbeitsschutz sind geneti-
sche Untersuchungen unter sehr eng gefassten Voraus-
setzungen zugelassen.
Ähnlich strenge Regelungen sind für den sensiblen
Versicherungsbereich vorgesehen. So dürfen Versiche-
rungsunternehmen beim Abschluss eines Versicherungs-
vertrages grundsätzlich weder die Durchführung einer
genetischen Untersuchung noch Auskünfte über bereits
durchgeführte Untersuchungen verlangen. Allein zur
Vermeidung von Missbrauch, der sich auch gegen die
Versichertengemeinschaft richtet, ist vorgesehen, dass
Ergebnisse bereits vorgenommener genetischer Untersu-
chungen vorgelegt werden müssen, wenn eine Versiche-
rung mit einer sehr hohen Versicherungssumme abge-
schlossen werden soll.
Die Regelungen für den Arbeits- und den Versiche-
rungsbereich greifen die berechtigten Sorgen der Bürge-
rinnen und Bürger auf und schützen durch klar abge-
grenzte Ausnahmen gleichzeitig vor Missbrauch bzw.
vor gesundheitlichen Schäden.
Einen letzten Punkt möchte ich kurz noch aufgreifen.
Weil nicht nur die Grundlagenforschung im Bereich der
Genetik, sondern auch die Anwendungsforschung be-
ständig neue Erkenntnisse und Anwendungsmöglichkei-
ten liefert, ist es von großer Bedeutung, den Bereich der
Gendiagnostik kontinuierlich zu beobachten, um Ent-
wicklungen zu erkennen, die gesetzgeberisches Handeln
notwendig machen. Zu diesem Zweck bewertet eine
beim RKI ansässige interdisziplinär zusammengesetzte
unabhängige Gendiagnostik-Kommission alle drei Jahre
in einem Tätigkeitsbericht die Entwicklung der geneti-
schen Diagnostik. Die Kommission hat ferner die Auf-
gabe, Richtlinien zum allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Wissenschaft und Technik, zur Qualifika-
tion von Personen zur genetischen Beratung, zur Aufklä-
rung und Beratung, zur Durchführung von genetischen
Analysen sowie genetischen Reihenuntersuchungen zu
erstellen.
Mit dem Entwurf eines Gendiagnostikgesetzes legen
wir für den Bereich der sensiblen genetischen Daten ein
gut ausbalanciertes Regelwerk vor, welches einerseits
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ie Chancen genetischer Untersuchungen für den Einzel-
en wahrt sowie andererseits die mit der Untersuchung
enschlicher genetischer Eigenschaften verbundenen
öglichen Gefahren verhindert. Ich möchte an dieser
telle besonders hervorheben, dass Aufklärung und Be-
atung als Voraussetzung für eine wirklich informierte
ntscheidung des Einzelnen einen zentralen Stellenwert
n unserem Entwurf einnehmen. Der vorgelegte Entwurf
ichert diesen Gleichklang von verlässlichen gesetzli-
hen Rahmenbedingungen – mit der Betonung auf dem
echt der informationellen Selbstbestimmung – und ei-
er umfassenden Aufklärung und Beratung der Betroffe-
en über Potenziale wie Risiken der genetischen
iagnostik.
Heinz Lanfermann (FDP): In der öffentlichen Dis-
ussion um die Vor- und Nachteile von Gendiagnostik
rleben wir eine große Spannbreite der Meinungen. Es
ibt die Furcht vor dem gläsernen Menschen ebenso wie
ie Euphorie, den Schlüssel zur Heilung aller Krankhei-
en entdeckt zu haben. Augenmaß und ruhige Betrach-
ung sind angesagt, und man sollte weder zu große Hoff-
ungen noch zu große Ängste wecken. Eine gesetzliche
egelung der Fragen, die sich durch die Gendiagnostik
rgeben, ist notwendig, gerade auch um Ängsten und fal-
chen Vorstellungen bei den Bürgerinnen und Bürgern
u begegnen.
Nach der Entschlüsselung des Genoms sehen wir ei-
ige Buchstaben, die aber dafür in riesiger Anzahl, die
mmer wieder typisch, wenn auch nicht beliebig, so doch
mmer wieder anders zusammengesetzt sind. Wir sind
och weit entfernt davon, das individuelle Lebensbuch
esen zu können. Auch wissen wir noch nicht, ob es wei-
ere Strukturen gibt, die unter bestimmten – noch unbe-
annten – Umständen oder in bestimmten Zeitintervallen
eränderungen hervorrufen. Wer sagt zum Beispiel dem
en, dass das Wachstum der mit ihm verbundenen Zel-
en gestoppt werden muss?
Nun stehen wir am Anfang einer Entwicklung mit
och Ungewissem Ausgang und wollen doch schon jetzt
ieles regeln und dabei möglichst alle für uns zum jetzi-
en Zeitpunkt absehbaren Missbrauchsgefahren aus-
chließen.
Der Gesetzentwurf stellt einen ersten Versuch der
ormulierung eines Handlungs- und Orientierungsrah-
ens dar, über dessen Ausgestaltung wir noch intensiv
prechen müssen. Er regelt die Art und Weise geneti-
cher Untersuchungen ebenso wie den Umgang mit den
ieraus gewonnenen hochsensiblen Daten. Dabei wirft
r schwierige Fragen auf, mit denen wir uns auseinan-
ersetzen müssen:
So wird sicher über § 18 Gendiagnostikgesetz, also
ie Frage der Verwertbarkeit von genetischen Untersu-
hungen und Analysen im Zusammenhang mit dem Ab-
chluss eines Versicherungsvertrages, zu sprechen sein.
abei stimme ich der Forderung der Bundesärztekam-
er ausdrücklich zu, dass Versicherungsunternehmen
icht die Vornahme einer genetischen Untersuchung von
hren Versicherungsnehmern verlangen dürfen. In die-
em Sinne begrüße ich auch die Selbstverpflichtung der
19626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
Versicherungswirtschaft, keine Gentests von ihren Kun-
den zu verlangen.
Es stellt sich in diesem Zusammenhang aber die
Frage, wie mit den Ergebnissen freiwilliger Tests umzu-
gehen ist. § 18 des Gendiagnostikgesetzes schließt für
den Fall des Abschlusses eines Versicherungsvertrages
die Verwertung auch freiwillig durchgeführter Gentests
aus – sofern eine Grenze von 300 000 Euro für Lebens-
versicherungen und 30 000 Euro für Jahresrenten nicht
überschritten wird –, wobei die Formulierung nicht klar
beschreibt, ob sich die Zahlen auf jeweils einen oder die
Summe mehrerer Versicherungsverträge beziehen soll.
Dabei wird allerdings nicht unterschieden, ob es sich
um einen prädiktiven oder einen diagnostischen Test
handelt. Der Unterschied liegt darin, dass prädiktive Un-
tersuchungen ohne bestehende Krankheitssymptomatik
lediglich die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Er-
krankung, also die genetische Veranlagung, ermitteln,
die diagnostische genetische Untersuchung dagegen der
genaueren Diagnose einer bereits eingetretenen Erkran-
kung und der weiteren Behandlung dient.
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass schon
heute den Versicherungsnehmer eine Pflicht zur Anzeige
aller ihm bekannten Gefahrumstände trifft. Es muss
folglich sorgsam geprüft werden, ob es – wie in § 18
Gendiagnostikgesetz vorgesehen – richtig ist, dass der
Versicherungsnehmer selbst dann das Recht erhalten
soll, die Erkenntnisse einer freiwilligen Untersuchung zu
verschweigen, wenn er dabei positive Kenntnis von ei-
ner Erkrankung erlangt hat. Die Tatsache, dass der Versi-
cherungsnehmer mit der Durchführung eines solchen
freiwilligen Tests auf sein Recht auf Nichtwissen ver-
zichtet hat, gilt es in der Abwägung zwischen dem Recht
auf informationelle Selbstbestimmung, dem Recht des
Versicherers auf Informationssymmetrie bei Vertrags-
schluss und den Folgewirkungen für die Versichertenge-
meinschaft zu berücksichtigen.
Wenn wir über genetische Untersuchungen sprechen,
dann kommen wir aber auch zu der Frage, wie Ärzte mit
den durch Gendiagnostik gewonnenen Daten umgehen
müssen. Bekennen wir es ehrlich: Die ärztliche Schwei-
gepflicht ist an vielen Stellen durchlöchert. Es gilt daher,
diese ärztliche Schweigepflicht wieder umfassender zu
gestalten und in der Praxis einzufordern – und dies be-
sonders im Hinblick auf Gendaten und damit im Hin-
blick auf die Regelungen des Gendiagnostikgesetzes.
Ein weiteres Problem, dessen man sich in den Aus-
schussberatungen wird annehmen müssen, ergibt sich
aus § 17 Abs. 8 Gendiagnostikgesetz. Diese Vorschrift
regelt in Verfahren der Auslandsvertretungen und Aus-
länderbehörden zum Familiennachzug nach dem Aufent-
haltsgesetz die Klärung der Abstammung durch geneti-
sche Untersuchungen. Problematisch dabei ist, dass die
Bundesregierung vorliegend ein Verfahren formalisieren
möchte, bei dem bereits die Rechtsgrundlage unklar ist.
Schon seit geraumer Zeit verlangen Botschaften in Fra-
gen des Familiennachzugs von den Betroffenen die Zu-
stimmung zu und die Einholung von DNS-Gutachten
zum Zwecke des Abstammungsnachweises.
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Die Bundesregierung stützt diesen massiven Eingriff
n das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf
82 Aufenthaltsgesetz bzw. § 6 Abs. 2 Passgesetz, wo-
ach den Antragsteller im Antragsverfahren die Oblie-
enheit trifft, zuverlässige Nachweise der Abstammung
u erbringen. Es liegt der Verdacht nahe, dass ausweis-
ich der Antwort der Bundesregierung vom 9. November
007 auf unsere diesbezügliche Kleine Anfrage zuneh-
end ein DNS-Nachweis verlangt wird, um die aufwen-
ige Überprüfung der eingereichten Abstammungsdoku-
ente zu begrenzen. Damit wird aus der eigentlich
reiwilligen DNS-Untersuchung faktisch eine Pflichtun-
ersuchung zur Erlangung der Aufenthaltserlaubnis.
Dass die Bundesregierung selbst dabei keineswegs so
orgsam und zurückhaltend mit den aus genetischen
ests gewonnenen Daten umzugehen gedenkt, wie in der
weckbestimmung des § 1 Gendiagnostikgesetz gefor-
ert wird, ergibt sich auch aus § 17 Abs. 8 Gendiagnos-
ikgesetz. Demnach sollen für den Fall des Verdachts ei-
er nicht einmal näher bestimmten Straftat das Ergebnis
er DNS-Untersuchung und die genetische Probe selbst
um Zwecke der Strafverfolgung übermittelt werden.
nd das, obwohl der Test ausschließlich zur Erlangung
ines den Nachzug erlaubenden Abstammungsnachwei-
es vorgenommen wurde.
Gendiagnostik mag zum jetzigen Zeitpunkt nur bei ei-
igen wenigen Krankheiten ein geeignetes Instrument
arstellen. Man muss dabei aber auch bedenken, dass die
iagnostik alleine nicht reicht. Sie muss über die Bera-
ung hinaus mit einer konkreten und sachkundigen Hilfe-
eistung verbunden werden. Ich denke hier beispiels-
eise an die helfende Vorsorge, die zwar die Krankheit
icht direkt beeinflusst, aber die Vorstufen lindert und
em Patienten das Gefühl gibt, nicht allein gelassen zu
erden.
Wenn wir jetzt das Gesetzgebungsverfahren angehen,
üssen wir uns zur Ausgangslage eingestehen: Wir alle
tehen heute noch vor einem großen Buchstabenberg.
ie und wofür man die Buchstaben wird gebrauchen
önnen, das wird sich erst in der Zukunft weisen.
leichwohl müssen wir jetzt ein Gendiagnostikgesetz
rarbeiten, das drei Bedingungen erfüllt: Erstens: Es
uss größtmöglichen Schutz vor unbefugter Verwen-
ung garantieren. Zweitens: Es muss bewährte Rechts-
rundsätze für das neue Zeitalter fortschreiben. Drittens:
s muss Qualifikationsmaßstäbe für Untersuchungen
nd Beratungen formulieren.
Monika Knoche (DIE LINKE): Nun schon in der
ritten Legislatur wird die Notwendigkeit eines Gen-
iagnostikgesetzes gefordert. Heute liegt erneut ein Ent-
urf dafür vor. Das begrüße ich namens meiner Fraktion
ie Linke ausdrücklich.
Wenn auch die Gendiagnostik als solche nicht das
hema jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bür-
erin ist, so ist sie doch eine Frage, die alle angeht.
Untersuchungen des Erbmaterials tauchen immer
ehr und immer öfter in unserem Leben auf: Arbeitge-
er und Lebensversicherungen wollen gerne wissen, wie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19627
(A) )
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es um unsere Gene bestellt ist, aufgrund der sich rasant
entwickelnden Untersuchungsmethoden raten Ärzte im-
mer öfter zu genetischen Tests, um bestehende Krank-
heiten oder auch nur ein mögliches Krankheitsrisiko ir-
gendwann in den nächsten Jahrzehnten aufzudecken,
Forscher hätten gern mehr und mehr genetische Proben,
unsinnige Tests auf nicht behandelbare Erkrankungen
stehen neben nützlichen, verbotene neben legalen, das
Missbrauchspotenzial ist extrem hoch. Und das Ganze
ist so gut wie nicht gesetzlich geregelt. Das muss jetzt
erfolgen, denn das Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung als ein Kernbestand des modernen Menschen-
rechts hat Verfassungsrang. Dass dieses Recht eines
Menschen sich im Wesentlichen im Bereich medizini-
scher Diagnostik abspielt, also Aussagen über das eigene
Erbgut umfasst, macht diese Frage zu einer hochsen-
siblen Frage des Persönlichkeitsrechts und der präventi-
ven und kurativen medizinischen Möglichkeit.
Um so dringlicher sind die Anforderungen an den Ge-
setzgeber, genauestens darauf zu achten, wer überhaupt
berechtigt ist, genetische Tests anzubieten und durchzu-
führen, wie der informed concent, das ist Voraussetzung
für jedwede Diagnostik, ausgestaltet sein muss, um in
verantwortbarer Weise den Patienten und Patientinnen
Kenntnis über deren genetische Bedingungen zu geben.
Was sagen solche Tests über Krankheiten erblicher
Natur aus? Was können sie über die Wahrscheinlichkeit
des Eintritts einer Krankheit und Schwere dieser sowie
heutige und zukünftige Behandlungsmöglichkeiten aus-
sagen? Darüber müssen die Bürgerinnen und Bürger vor
der Durchführung eines Tests voll informiert werden,
bevor sie ihre Einwilligung zur Durchführung geben.
Selbstverständlich ist das Recht auf Nichtwissen ein
Menschenrecht. Und – das ist das Besondere an diesem
Verfahren – auch Angehörige von getesteten Personen
sind unter Umständen „genetisch identifiziert“, ohne
darüber je eine Zustimmung gegeben zu haben.
Deshalb muss diese Schutz- und Rechtsdimension
zwingend in einem Gendiagnostikgesetz ihren Nieder-
schlag finden. Und diesem Problem hat sich der Gesetz-
entwurf zugewandt.
Hier möchte ich auf die einschlägigen Paragrafen in
diesem vorliegenden Entwurf, die Gentests zur Bestim-
mung von Verwandtschaftsverhältnissen bei Familien-
nachzug verlangen, hinweisen. Wir Linke können diese
Vorgaben nur ablehnen. Denn ein Sonderrecht respektive
Rechtsentzug für Migrantinnen und Migranten stellt eine
Diskriminierung durch ein Bundesgesetz dar. Das muss
wieder aus dem Entwurf entfernt werden. Denn diese
Daten sollen darüber hinaus ja auch den Strafverfol-
gungsbehörden zugeführt werden können. Willkür ge-
genüber Nichtdeutschen darf nicht zu deutschem Recht
werden.
Daneben ist es der Vorschlag, Untersuchungen durch-
führen zu lassen, die Rückschlüsse auf das Erbgut er-
möglichen, die wir insbesondere im Arbeitsrecht für
nicht zulässig halten, auch wenn sie in Form von phäno-
typischen Tests auftauchen. Würde das erlaubt, hätte es
zur Folge, dass diejenigen Beschäftigten herausgefiltert
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erden können, die für belastende Arbeitsbedingungen
chlichtweg ein Berufsverbot erhielten.
Aufgabe ist es demgegenüber, die Arbeitsplatzbedin-
ungen so zu gestalten, dass sie für einen diskrimi-
ierungsfreien Zugang sorgen und gesundheitliche Ar-
eitsschutzregelungen geschaffen werden, die es allen
rmöglichen, ihren gewünschten Beruf anzustreben.
Wie weit die Regelungen reichen, erkennt man auch
aran, dass zwar bei Lebensversicherungen Tests gefor-
ert werden und bei privaten Krankenkassen nicht er-
aubt sind, die Versicherungsgesellschaften jedoch oft
ng miteinander verwoben sind. Deshalb darf kein Da-
entransfer erlaubt werden; wie auch stark zu hinterfra-
en ist, ob es nicht doch zu Diskriminierung führt, wenn
ür Lebensversicherungen ab 300 000 Euro Gentests er-
aubt würden.
Zum Schluss möchte ich noch Details des Gesetzes
nsprechen, die intensiver Beratung und fachlicher Ex-
ertisen bedürfen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass
m Bereich der Medizin die Gefahr besteht, zu einer auf
ene zentrierten Sichtweise von Krankheits- und Kör-
erbildern zu kommen. Interessant auch, dass sich nam-
afte Humanethiker heute deutlich distanzieren von der
andläufigen Meinung darüber, wie bestimmend eigent-
ich Gene für Krankheiten seien. Sie raten sehr zu einer
anzheitlichen Medizin und warnen vor einer monokau-
alen Betrachtung auch bei erblicher Disposition zu ei-
er bestimmten Erkrankung. Prävention, Vorsorge und
ekundärprävention gilt es auch hier mehr Aufmerksam-
eit zukommen zu lassen. Das ethisch moralisch wohl
roblematischste Feld moderner Gendiagnostik ist der
ereich der Pränataldiagnostik. Dem müssen wir uns in
en weiteren Beratungen annehmen.
Die Information über das genetische Sein des Fötus
nd die Regelung im § 218, wonach dieser Information
nd ihrer Verarbeitung für die schwangere Frau zur me-
izinischen Indikation also zum Krankheitsbild der Frau
elbst erklärt werden kann, hat die embryopatische Indi-
ation zwar abgelöst, das Problem aber nicht aufgelöst.
eines Erachtens werden die damit aufgeworfenen
ragen durch das Gendiagnostikgesetz noch nicht hin-
eichend bearbeitet. In der alltäglichen Praxis von
chwangeren ist von größter Wichtigkeit, dass ein echter
nformed concent vor Durchführung eines Gentests si-
hergestellt wird. Diese Anforderungen auszuformulie-
en, muss in diesem Gesetz geleistet werden. Alle für die
rau erwachsenden Rechtsansprüche in der gesetzlichen
rankenversicherung, inklusive frei wählbarer Bera-
ungszentren vor und nach dem Test, sind grundlegende
nforderung. Tatsächlich sind die humangenetischen
eratungen sowie alle psychosozialen Angebote in Frau-
ngesundheitszentren oder anderenorts qualitätsgerecht
ls Begleitung unverzichtbar, und nicht zuletzt gilt es, im
ohen Maße verantwortlich mit den menschenrechtli-
hen Anforderungen in der Forschung umzugehen.
Nicht einwilligungsfähigen Menschen ein minderes
echt auf Unversehrtheit und Autonomie zuzugestehen,
ur weil man einen Fremdnutzen aus der Erforschung
nd Forschung mit ihren höchstpersönlichen Daten er-
artet, entspricht einer Nützlichkeits-, also einer utilita-
19628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
ristischen Moral, die nicht Eingang in ein deutsches Ge-
setz finden sollte.
Also, es gibt noch eine ganze Reihe von Fragen, die
im Rahmen der anstehenden Anhörungen zu klären sind
bis wir hier im Hause endgültig über ein Gesetz befin-
den, das schon so lange ansteht.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
beraten das Gendiagnostikgesetz zu einem so späten
Zeitpunkt, dass ich mich frage, ob die Bundesregierung
glaubt, dadurch die Kritik an ihrem Gesetzentwurf im
Nachtprogramm verstecken zu können.
Selten hat mir eine Stellungnahme des Bundesrates so
gefallen wie diese zum Gendiagnostikgesetz der Bun-
desregierung. Bei den aus grüner Sicht zentralen Kritik-
punkten Forschung, Versicherung, Schutz von Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern passt kaum ein Blatt
zwischen uns Bündnisgrüne und den Bundesrat. Das
sollte den Kolleginnen und Kollegen der Regierungs-
fraktionen mehr als zu denken geben. Die Regierung ist
uneinsichtig, aber die Fraktionen sollten das Votum des
Bundesrates nicht einfach ignorieren. Der Bundesrat for-
dert klar und eindeutig Regelungen für die genetisch-
medizinische Forschung.
Nach dieser schallenden Ohrfeige durch den Bundes-
rat sollte die Union endlich ihre Blockadehaltung zur
Regelung des Forschungsbereiches aufgeben. Die Ver-
mutung, es nutze den Forschenden, sie ohne spezifische
Regelungen forschen zu lassen, kann sehr schnell nach
hinten losgehen. Bei einem einzigen Skandal, in dem mit
genetischen Proben Schindluder getrieben wird, würde
die Forschung auf Dauer Schaden nehmen. Es ist nicht
nur im Interesse derjenigen, die Proben und persönliche
Krankheitsinformationen zur Verfügung stellen, son-
dern auch der Forschenden, dass der Datenschutz so
groß geschrieben wird, wie es von allen Datenschutzbe-
auftragten der Länder gefordert wird.
Die Bundesregierung hat ihr Verbot der Weitergabe
von Ergebnissen prädiktiver Tests – Tests, die Wahr-
scheinlichkeitsaussagen über einen möglichen Ausbruch
einer Krankheit in der Zukunft machen – mit Ausnah-
men für Lebens-, Berufsunfähigkeits-, Erwerbsunfähig-
keits- und Pflegerentenversicherungen versehen. Unsere
Kritik, dass die Bundesregierung hier vor der Versiche-
rungswirtschaft eingeknickt ist, scheint der Bundesrat zu
teilen. Er fordert, diese Regelungen zu streichen.
Der Bundesrat kritisiert ebenso zu Recht die Regelun-
gen zur Weitergabe von Daten zu diagnostizierten Vorer-
krankungen und Erkrankungen an private Versicherun-
gen. Die Vorschläge gehen klar über die bestehenden
Regelungen im Versicherungsvertragsrecht hinaus. Das
ist unhaltbar. Hier klare Grenzen zu setzen, ist besonders
notwendig, da die Bundesregierung bei der Definition
trickst und prädiktive Untersuchungen zu diagnostischen
umdefiniert. Eine genetische Veränderung, bei der die
Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung unterschiedlich
hoch ist, je nachdem, ob äußere Einflüsse wie zum Bei-
spiel Belastungen durch Chemikalien am Arbeitsplatz
hinzukommen oder nicht, wird genauso behandelt wie
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ine klare und eindeutige Diagnose einer bereits ausge-
rochenen Krankheit.
Der Bundesrat fordert, dass eine Person, die ein An-
ebot zu einem Gentest ablehnt, nicht mit einem Be-
chäftigungsverbot belegt werden darf. Das müsste eine
elbstverständlichkeit sein – nicht so für die Bundes-
egierung.
Im Gegensatz zur Bundesregierung scheint der Bun-
esrat die Lebensrealität von Müttern und deren Neugebo-
enen zu kennen. Die Bundesregierung will Hebammen
erbieten, das seit Jahrzehnten von ihnen durchgeführte
eugeborenen-Screening durchzuführen. Kann es denn
irklich sein, dass der Bundesregierung der Arztvorbe-
alt wichtiger ist als die Gesundheit der Neugeborenen?
it dieser neuen Hürde gefährdet sie die flächende-
kende Untersuchung von Säuglingen.
Der Bundesrat hat mich in den Bereichen Forschung,
ersicherung und Arbeit positiv überrascht. Dort, wo ich
ach den Vorstößen aus NRW mit ihm gerechnet habe,
inde ich leider keine Positionierung. Ich hätte mir eine
nterstützung in der bioethischen Frage des Verbots von
orgeburtlichen genetischen Untersuchungen von Em-
ryonen auf Krankheiten, die erst im Erwachsenalter
uftreten, gewünscht. Dennoch hoffe ich, dass hier die
oalition im Laufe der Beratungen noch nachbessert.
Ich hoffe, dass die Kolleginnen und Kollegen der Re-
ierungsfraktionen das Votum des Bundesrates ernst
ehmen und wichtige Änderungsvorschläge im Interesse
ller Bürgerinnen und Bürger aufgreifen.
Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der
undesministerin für Gesundheit: Mit dem vorgelegten
ntwurf eines Gendiagnostikgesetzes verfolgt die Bun-
esregierung vorrangig zwei Ziele: Die mit der Untersu-
hung menschlicher genetischer Eigenschaften verbun-
enen Gefahren einer genetischen Diskriminierung
ollen verhindert werden. Gleichzeitig sollen aber auch
ie Chancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen
ür den einzelnen Menschen gewahrt bleiben. Dabei geht
er Gesetzentwurf von der Besonderheit genetischer Da-
en aus. Sie können mit hohem prädiktiven Potential ver-
unden sein und gegebenenfalls auch Informationen
ber genetisch Verwandte offenbaren. Für die Bereiche
er medizinischen Versorgung, der Abstammung, des
rbeitslebens und der Versicherungen werden spezifi-
che Regelungen getroffen.
Wir sehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Not-
endigkeit, im Gendiagnostikgesetz gesetzliche Initiati-
en im Bereich der Forschung zu ergreifen, weil insbe-
ondere durch die Datenschutzgesetze von Bund und
ändern sowie die vorherige Befassung von Ethikkom-
issionen ein umfangreicher Schutz gewährleistet ist.
Im Einzelnen möchte ich folgende Regelungsschwer-
unkte hervorheben: Erstens. Zu dem Recht des Einzel-
en auf informationelle Selbstbestimmung im Bereich
er Gendiagnostik gehören sowohl das Recht, die eige-
en genetischen Befunde zu kennen, als auch das Recht,
iese nicht zu kennen. Genetische Untersuchungen dür-
en nur durchgeführt werden, wenn die Betroffenen in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19629
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die Untersuchung rechtswirksam eingewilligt haben. Zu-
sätzlich kommt der genetischen Beratung besondere Be-
deutung zu.
Zweitens. Zur Sicherstellung des Schutzes der Patien-
tinnen und Patienten wird ein umfassender Arztvorbe-
halt für die Durchführung genetischer Untersuchungen
zu medizinischen Zwecken festgelegt.
Drittens. Die vorgeburtliche genetische Untersuchung
soll auf medizinische Zwecke beschränkt sein, also auf
die Feststellung genetischer Eigenschaften, die die Ge-
sundheit des Fötus oder Embryos vor oder nach der Ge-
burt beeinträchtigen können.
Viertens. Im Arbeitsrecht sind genetische Untersu-
chungen auf Verlangen des Arbeitgebers grundsätzlich
verboten. Auch darf der Arbeitgeber die Ergebnisse ei-
ner genetischen Untersuchung nicht erfragen, entgegen-
nehmen oder verwenden. Standarduntersuchungen, mit
denen die gesundheitliche Eignung eines Beschäftigten
für den Arbeitsplatz oder für eine Tätigkeit festgestellt
werden kann, bleiben weiterhin zulässig.
Fünftens. Versicherungsunternehmen dürfen beim
Abschluss eines Versicherungsvertrages grundsätzlich
weder die Durchführung einer genetischen Untersu-
chung noch Auskünfte über bereits durchgeführte Unter-
suchungen verlangen. Allerdings sind Vorerkrankungen
und Erkrankungen weiterhin anzuzeigen. Zur Vermei-
dung von Missbrauch ist vorgesehen, dass die Ergeb-
nisse bereits vorgenommener genetischer Untersuchun-
gen vorgelegt werden müssen, wenn eine Versicherung
mit einer sehr hohen Versicherungssumme abgeschlos-
sen werden soll.
Sechstens. Genetische Untersuchungen zur Feststel-
lung der Abstammung eines Kindes sind nur dann zuläs-
sig, wenn die Personen, von denen eine genetische Probe
untersucht werden soll, in die Untersuchung eingewilligt
haben.
Siebtens. Der Gesetzentwurf sieht eine interdiszipli-
när zusammengesetzte unabhängige Gendiagnostik-
Kommission vor, die den allgemein anerkannten Stand
der Wissenschaft und Technik in Richtlinien festlegen
soll und damit der besonders dynamischen Entwicklung
in der Gendiagnostik Rechnung trägt.
Die Stellungnahme des Bundesrates läßt erkennen,
dass die Länder unseren Regelungszielen grundsätzlich
folgen. Ich halte den Beschluss des Bundesrates insge-
samt für eine gute Basis, im weiteren Gesetzgebungsver-
fahren zu tragfähigen Lösungen zu kommen.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Vierten Buches Sozial-
gesetzbuch und anderer Gesetze (Tagesord-
nungspunkt 20)
Peter Rauen (CDU/CSU): Wir debattieren heute
über einen weiteren Gesetzentwurf, um die Schwarz-
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rbeit und die Schattenwirtschaft in Deutschland
inzudämmen. Wir sind uns wohl alle einig, dass
chwarzarbeit und Schattenwirtschaft keinen Dumme-
ungenstreich darstellen. Sie sind aktives Handeln und
ewusster Missbrauch, gerichtet gegen die Solidarge-
einschaft und damit gegen all diejenigen, die ehrlicher
rbeit nachgehen, Steuern und Sozialabgaben entrich-
en.
Mit der Einführung einer Sofortmeldung und der Mit-
ührungspflicht von Personaldokumenten in besonders
on Schwarzarbeit betroffenen Branchen, der Verbesse-
ung der Meldedaten bei den Sozialversicherungsträgern
urch die direkte Übersendung der Personendaten durch
ie Kommunen und einer Reihe von technischen Rege-
ungen im Beitrags- und Meldeverfahren wollen wir es
en Schattenexistenzen des Arbeitsmarktes schwerer
achen, den Sozialstaat weiter zu hintergehen. Aller-
ings sehe ich bei dem vorliegenden Entwurf noch kon-
rete und praktische Hindernisse bei der Umsetzung
ieser Vorhaben. Besondere Eigenheiten einzelner Bran-
hen wurden nicht hinreichend berücksichtigt. Auch
ind einige im Gesetzentwurf vorgesehene Maßnahmen
icht zielgenau und auf betrieblicher Ebene einfach nicht
mzusetzen.
Natürlich ist die sichere Feststellung der Identität ei-
er Person von wesentlicher Bedeutung für die erfolgrei-
he Bekämpfung der Schwarzarbeit. Dennoch halte ich
ie Verpflichtung zum ständigen Mitführen von Aus-
eisdokumenten in einigen Gewerbezweigen für weit-
ehend praxisfern. Viele Arbeitnehmer und Arbeitneh-
erinnen aus diesen betroffenen Branchen stammen aus
em Nicht-EU-Ausland. Für sie sind ihre Ausweispa-
iere die einzige offizielle Rückbindung an ihr Heimat-
and. Ein Verlust derselben wäre katastrophal, manchmal
ogar endgültig. Deshalb ist es durchaus üblich in die-
em Personenkreis, solche Dokumente sicher vor Verlust
ufzubewahren. Sinnvoller könnte hier eine modifizierte
eibehaltung der bisherigen Sozialversicherungsaus-
eisregelung sein. Zudem kann auch so der Arbeitgeber
eiterhin durch Vorlage des Sozialversicherungsauswei-
es bei Neueinstellungen, insbesondere bei Nebenbe-
chäftigungen, sicher sein, dass eine Anmeldung bei der
ozialversicherung besteht.
Um der berechtigten Forderung des Zolls nach
chneller und eindeutiger Identifizierung der fraglichen
ersonen nachzukommen, sollten wir folglich brauch-
are Alternativen erarbeiten. So wäre durchaus zu über-
egen, ob es für den Zoll ebenso zielführend ist, über
inen Onlinezugriff auf die genauen Daten des Sozial-
ersicherungsausweises im Rahmen einer zentralen Er-
assung verfügen zu können, um so die Identität einer
erson umgehend und einwandfrei festzustellen.
Auch die Sofortmeldepflicht zu Beginn der Beschäfti-
ung trägt für einige betroffene Branchen praktische
robleme in sich. Ich meine Arbeitsfelder mit hoher ob-
ektabhängiger und personeller Fluktuation, Firmen, die
pontan Aufträge vor Ort annehmen und womöglich
och nachts Personal einstellen müssen, oder gar Unter-
ehmen, die generell erst zum Wochenende Aufträge er-
19630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
halten und diese umgehend umsetzen müssen. Für all
diese Firmen, die Einstellungen außerhalb der Bürozei-
ten vorzunehmen haben, sind die geplanten Sofortmel-
dungen in dieser Form äußerst schwierig, wenn nicht so-
gar unmöglich. Gemeint sind Branchen wie zum
Beispiel das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe,
das Schaustellergewerbe, die Land- und Forstwirtschaft,
das Gebäudereinigungsgewerbe sowie der Messeauf-
und -abbau. Auch meine ich kleine und mittelständische
Unternehmen, die zumeist externe Dienstleister beauf-
tragen, um die anstehenden Lohnabrechnungen und
Meldungen an die Sozialversicherung zu erledigen. In
diesem Zusammenhang halte ich eine verzögerte Melde-
pflicht erst zum Beginn des nächsten Werktages dort für
denkbar, wo es sinnvoll und unumgänglich ist. Wir soll-
ten jedenfalls im Laufe der Gesetzgebung weitere Alter-
nativen zu einer möglichst zeitnahen Meldung in Erwä-
gung ziehen.
Kurzum: Es gibt durchaus genügende Beispiele, bei
denen wir uns noch Gedanken darüber machen müssen,
wie wir den Schutz vor Schwarzarbeit praxisnah umset-
zen können. Die betroffenen Branchen jedenfalls sind,
wie ich weiß, hier jederzeit zu konstruktiver Mitarbeit
gerne bereit.
Auch steht unter anderem die Pflicht zur Sofortmel-
dung nicht immer im Einklang mit dem gewollten Büro-
kratieabbau und bringt infolgedessen erhebliche büro-
kratiebedingte Kosten mit sich. Auf jeden Fall sollte der
damit verbundene Verwaltungsaufwand auf ein Mini-
mum reduziert werden.
Laut Gesetzentwurf wird damit gerechnet, dass jede
Einstellung in einer Branche mit Sofortmeldung um
7,25 Euro verteuert würde. Die auf dieser Grundlage im
Gesetzentwurf errechnete Gesamtkostenbelastung der
Wirtschaft von rund 19,97 Millionen Euro pro Jahr ist je-
doch wenig realistisch. Der Entwurf geht nämlich davon
aus, dass Beschäftigungsaufnahmen in den in die Sofort-
meldepflicht einbezogenen Branchen genauso häufig
sind wie im Rest der Wirtschaft. Dies ist jedoch unwahr-
scheinlich, zumal gerade die eben genannten Branchen,
die besonders im Saisongeschäft tätig sind, und Bran-
chen mit vielen Kurzzeitbeschäftigten in die Sofortmel-
depflicht aufgenommen werden sollen. Insofern wird
wohl die Zahl der Beschäftigungsaufnahmen mit Sofort-
meldepflicht sehr viel höher liegen als die unterstellten
3,825 Millionen Fälle.
Ebenso wird bei der Kostenrechnung im Entwurf eine
durchaus gegebene Situation nicht berücksichtigt: Wenn
ein neuer Mitarbeiter am Tag der Einstellung nicht er-
scheint, muss der Arbeitgeber eine Stornierung abgeben,
was unweigerlich neuerliche Bürokratiekosten nach sich
zieht. Gerade in Firmen mit stark wechselndem Perso-
nalbedarf sind diese Fälle keineswegs selten.
Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit boomen wie
keine ehrliche Branche. Der Anteil der Schattenwirt-
schaft am Bruttoinlandsprodukt wird inzwischen auf
über 16 Prozent geschätzt. Stärkere Kontrollen und här-
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ere Sanktionen können zwar möglicherweise zu erhöh-
er Abschreckungswirkung führen. Sie haben allerdings
ur wenig Erfolg, solange die tatsächlichen Ursachen
er Schwarzarbeit bestehen bleiben oder sogar ver-
chärft werden. Dies belegt auch der Bericht des Bun-
esrechnungshofes, nach dem eine Verringerung der
chwarzarbeit durch die Kontrolle der Finanzkontrolle
chwarzarbeit (FKS) bisher nicht nachgewiesen werden
ann und die Mehrkosten zur Bekämpfung der Schatten-
irtschaft höher sind als deren Ertrag.
Wer aber Schattenwirtschaft in reguläre Beschäfti-
ung umwandeln will, darf nicht an den Symptomen he-
umdoktern, sondern muss an den wahren Ursachen an-
etzen. Diese sind ganz eindeutig auszumachen: Wenn
in Arbeitnehmer – je nach Steuerklasse – vier bis sechs
tunden arbeiten muss, um von seinem Nettolohn eine
egal gearbeitete Stunde in seiner Branche bezahlen zu
önnen, sind die Ursachen für vielfältigste Schattenwirt-
chaft erklärt. Die Konsequenz daraus ist eindeutig. Sie
ann nur bedeuten, die Abgabenlast auf den Faktor Ar-
eit zu senken. Das heißt im Klartext: Mehr Netto vom
rutto. Denn der reguläre Arbeitnehmer muss hilflos zu-
ehen, wie Steuern und Abgaben sein Gehalt dezimieren
nd die kalte Progression selbst noch jede Lohnerhö-
ung mehr als halbiert. Den Rest nehmen ihm dann die
teigenden Abgaben zur Krankenversicherung. Gleich-
eitig verzerren illegale Beschäftigung und Schwarz-
rbeit den Wettbewerb, führen zu Einnahmeausfällen in
en Sozialversicherungssystemen und untergraben zu-
em noch die Steuermoral.
Es ist der Doppeleffekt, der den gewaltigen Schaden
nrichtet: Schwarzarbeit stiehlt dem Ehrlichen die Arbeit
nd dem Sozialstaat die Mittel. Der Ehrliche muss dann
och obendrein für die fehlenden Mittel geradestehen.
enommierte Studien belegen immer wieder meine Auf-
assung. Die wirklichen Gründe für das Ansteigen der
chattenwirtschaft finden wir in der hohen Steuer- und
bgabenbelastung, der Verunsicherung der Bürger durch
ie Steuer- und Sozialgesetzgebung und der ständig zu-
ehmenden Sozialleistungen zulasten des Faktors Ar-
eit. Deshalb müssen beherzte Korrekturen bei Steuern
nd der Regulierung des Arbeitsmarktes her.
Gerade in der jetzigen Verunsicherung durch die
chwankenden Finanzmärkte kann eine sinnvolle Dere-
ulierung und eine gerechte Senkung der Steuerlast das
ötige Vertrauen zurückbringen. Ein konkreter Ansatz
st hier die Fortentwicklung des Steuerbonus. Denn ge-
ade der Steuerbonus zeigte gerade im handwerklichen
ereich große Effizienz bei der Bekämpfung von
chwarzarbeit. Im Zusammenwirken mit einer infla-
ionsindexierten Abschaffung der kalten Progression so-
ie einer entsprechenden Anhebung des Grundfreibetra-
es bekäme die Binnenwirtschaft den gerade jetzt so
ötigen Schub für mehr Beschäftigung und weniger
chwarzarbeit.
Andreas Steppuhn (SPD): Nach den turbulenten
ntwicklungen und Ereignissen der letzten Tage, die
hre Auswirkungen noch in den kommenden Wochen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19631
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und Monaten zeigen werden, kehren wir nun zur Sach-
arbeit zurück.
Keiner von uns kann derzeit zu 100 Prozent abschät-
zen, welche Auswirkungen die Finanzmarktkrise haben
wird, weder auf die Deutsche Wirtschaft noch auf die
Entwicklung am Arbeitsmarkt. Gerade vor diesem Hin-
tergrund ist es umso wichtiger, dass wir ehrliche Arbeit
und ehrliche Unternehmen in Deutschland schützen und
unterstützen. Dazu gehört für uns als SPD-Bundestags-
fraktion: Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung muss
weiter wirksam bekämpft werden.
Denn: Schwarzarbeit bedeutet nicht nur Steuerhinter-
ziehung. Schwarzarbeit hat auch gravierende Auswir-
kungen auf unsere Sozialversicherungssysteme. Und:
Schwarzarbeit zerstört reguläre Arbeitsplätze, führt zu
Lohndumping und zu Wettbewerbsverzerrungen. Daran
kann niemandem gelegen sein.
Warum Schwarzarbeit praktiziert wird, darüber lässt
sich nicht nur mutmaßen, dazu zählt sicherlich in erster
Linie das Streben nach vermeintlich „leicht verdientem“
Geld. Dazu zählt eine nachlassende Rechtstreue, aber
auch die vorsätzliche Ausbeutung von Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern und nicht zu vergessen der Ge-
winnmaximierung um jeden Preis.
Zwar wurde die Schwarzarbeit in den letzten Jahren
stetig effektiver bekämpft. Wir müssen aber noch effek-
tiver werden. Hierbei wollen wir die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit stärken.
Daher hat die Bundesregierung bereits vor der Som-
merpause Eckpunkte zur Bekämpfung illegaler Beschäf-
tigung und Schwarzarbeit ausgearbeitet und ein entspre-
chendes Aktionsprogramm für Recht und Ordnung auf
dem Arbeitsmarkt vorgelegt und verabschiedet. Heute
werden davon wesentliche Maßnahmen mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf in erster Lesung beraten.
Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Vierten Sozialgesetzbuches enthält neben wichtigen
Bausteinen, um illegale Beschäftigung und Schwarz-
arbeit noch wirksamer zu bekämpfen, und auf die ich
gleich noch zu sprechen kommen werde, auch eine
wichtige SGB-XII-Anpassung infolge des bereits be-
schlossenen Eigenheimrentengesetzes.
Hierbei handelt es sich um die Übernahme von Bei-
trägen für eine angemessene Altersvorsorge auch für
hilfebedürftige und dauerhaft voll erwerbsgeminderte
Personen und die entsprechende Änderung des Leis-
tungsumfangs im Vierten Kapitel des SGB XII. Mit die-
ser Anpassung beziehen wir nun endlich auch Bezieher
einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der ge-
setzlichen Rentenversicherung in den geförderten Perso-
nenkreis mit ein.
Wie bereits eingangs betont, geht es bei dem Gesetz-
entwurf in erster Linie um Maßnahmen, die eine Stär-
kung und Verbesserung der Instrumente für die Arbeit
der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) vorsehen.
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Denn wie die Praxis in der Vergangenheit gezeigt hat,
st für die Arbeit der Bekämpfungsbehörde vor allem die
dentifizierung der Personen nicht nur zum Teil ein Pro-
lem, sondern erfordert zeitlich wie auch bei der Durch-
ührung einen großen Aufwand. Zielführend ist es daher
n denjenigen Wirtschaftsbranchen, in denen ein erhöh-
es Risiko für Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung
esteht, für eine Verbesserung der melderechtlichen Vor-
chriften zu sorgen.
Zu diesen gehört zum einen die Einführung einer Mit-
ührungs- und Vorlagepflicht von Personaldokumenten
ei der Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen für
en Arbeitnehmer. Allein der Sozialversicherungsaus-
eis oder Führerschein reichen nicht mehr aus. Zudem
st der Sozialversicherungsausweis nur bei den sozial-
ersicherungspflichtigen Beschäftigten vorhanden und
berdies nicht fälschungssicher.
Hieran anknüpfend besteht zukünftig auch für den
rbeitgeber die Pflicht, seine Arbeitnehmer darüber ein-
alig, nachweislich und schriftlich zu belehren, ergänzt
urch eine entsprechende bußgeldbewehrte Pflicht für
en Arbeitgeber zur Aufbewahrung und Vorlage dieser
elehrung. Damit stellen wir sicher, dass der Beschäf-
igte auch tatsächlich seine Ausweispapiere bei sich
ührt. Ferner gehört ebenso die Sofortmeldepflicht, das
eißt die sofortige Anmeldung zur Sozialversicherung
b dem ersten Tag, zu den vorgesehenen Maßnahmen.
Besonders notwendig ist es, und dies sieht der Gesetz-
ntwurf vor, dass Unternehmen ihre Beschäftigten zu-
ünftig ab dem ersten Tag bei den Sozialversicherungen
nmelden. Bislang gab es hierzu eine Frist von sechs
ochen. Dies jedoch hat in der Vergangenheit oftmals
azu geführt, dass Ausreden vorgetragen wurden und
icht festgestellt werden konnte, ob jemand illegal oder
egal auf einer Baustelle beschäftigt gewesen ist. Oft er-
ielten die Kontrolleure eine Antwort in der Art: „Ich
abe gerade erst angefangen, mein Arbeitgeber konnte
ich noch nicht bei den Sozialversicherungsträgern an-
elden.“ Ob der oder diejenige aber schon länger be-
chäftigt wurde, ließ sich nur in aufwendiger Kleinarbeit
eststellen.
Das wird sich ändern. Denn mit der automatisierten
ofortmeldung in den Branchen, in denen ein erhöhtes
isiko für Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung be-
teht, wird die Arbeit der Behörden erheblich verein-
achen. Und da dies auch nur funktionieren kann, wenn
ie Beamten vor Ort mit aktuellen Daten und Angaben
rbeiten, ist es ebenso notwendig, die Übermittlung von
eldedaten durch die Meldebehörden an die Deutsche
entenversicherung zu verbessern und zu erleichtern.
Diese genannten Neuerungen führen in der Folge zu
rheblich einfacheren Prüfverfahren auf der Grundlage
es Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes. Damit wird
ie Kontrolle durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
or Ort passgenauer und effizienter gestaltet.
Und mit den vorgesehen Maßnahmen, und das
öchte ich hier betonen, wird es zukünftig auch möglich
ein, in den entsprechenden Branchen Mindestlohnver-
töße aufzudecken und zu ahnden.
19632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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Gestatten Sie mir an dieser Stelle nun aber noch auf
einen weiteren, mir sehr wichtigen Punkt einzugehen:
Nämlich den Punkt, die Bekämpfung der Schwarzarbeit
als gesamtsstaatliche Aufgabe zu betrachten.
Denn Fakt ist, es gibt eine Reihe von Schnittstellen
zwischen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zoll-
verwaltung und den einzelnen Behörden der Länder.
Und diese Schnittstellen gilt es zu nutzen, zu untersetzen
und im gemeinsamen Kampf gegen die Schwarzarbeit in
Deutschland weiter auszubauen.
Daher appelliere ich an dieser Stelle insbesondere
auch an die Länder, gerade in Bezug auf die Mitwir-
kungspraxis und Transparenz. Denn neben den im Ent-
wurf enthaltenen Maßnahmen benötigen wir endlich
auch verlässliche Daten über festgesetzte und verein-
nahmte Gelder, das heißt wir brauchen dringend mehr
Transparenz bei den Einnahmen der Finanzbehörden der
Länder, der Justiz und der Sozialversicherungsträger, die
diesen aufgrund von Arbeitsergebnissen der FKS zuflie-
ßen.
Nur so können wir auch den Erfolg messen.
Was wir benötigen, ist eine verbesserte sachdienliche
Förderung und schnellere Bearbeitung von Verfahren in
den Ländern. Denn was nutzt es uns, wenn die FKS
Schwarzarbeit aufdeckt, eine wirksame Strafverfolgung
und entsprechende Verfahren in den Ländern aber auf
Eis liegen. Damit, und das muss einmal so deutlich ge-
sagt werden, damit geht dem Staat auch Geld verloren.
Die Einrichtung von sogenannten Schwerpunktstaatsan-
waltschaften ähnlich den zum Teil bereits bestehenden
Wirtschaftskammern wäre ein erster Schritt in die rich-
tige Richtung. Hier sind schlussendlich jedoch die Län-
der gefordert, den Weg mitzugehen. Daher kann ich nur
an Sie appellieren, gehen Sie den Weg mit uns. Es ist
auch im Interesse der Bundesländer.
Für uns als SPD-Bundestagsfraktion ist es wichtig,
dass Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung in
Deutschland an den Wurzeln bekämpft wird. Die geplan-
ten Maßnahmen sind ein weiterer wichtiger Schritt, um
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung im Land noch
stärker als bisher zu bekämpfen. Dies ist auch im Inte-
resse aller legal handelnden Unternehmen und Beschäf-
tigten in Deutschland.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die FDP unterstützt
das Ziel der Bekämpfung der Schwarzarbeit. Schwarzar-
beit schadet unserer Volkswirtschaft und benachteiligt
diejenigen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die legal ar-
beiten und mit ihren Abgaben und Steuern unser Gemein-
wesen, die Sozialleistungen und die Infrastruktur finan-
zieren.
Die FDP sieht zwei Ansätze für die Bekämpfung der
Schwarzarbeit. Zum einen müssen die Ursachen für die
Schwarzarbeit gesucht und abgestellt werden. Anreize
für legale Arbeit müssen gestärkt werden. Zum anderen
muss Schwarzarbeit konsequent verfolgt werden.
Der Gesetzentwurf beschränkt sich in seinem Ansatz
auf Maßnahmen zur administrativen Bekämpfung der
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chwarzarbeit. Es ist fraglich, ob dies ausreicht, zumal
ie Bundesregierung mit ihrer Politik der letzten Jahre,
nsbesondere der größten Steuererhöhung in der Ge-
chichte der Bundesrepublik, aber auch durch Beitrags-
atzerhöhungen in allen Zweigen der sozialen Sicherung
it Ausnahme der Arbeitslosenversicherung die Anreize
ür Schwarzarbeit eher noch verstärkt hat.
Das, was an reaktiven Maßnahmen auf den Weg ge-
racht wird, scheint gleichwohl zustimmungsfähig zu
ein.
Richtig ist der Ansatz des Gesetzentwurfs, Schwarz-
rbeitsbekämpfung angepasst an die Besonderheiten der
eweiligen Branchen zu führen.
Die Einführung der Sofortmeldepflicht zur Sozialver-
icherung (§ 28 a Abs. 4 SGB IV-E) in besonders von
chwarzarbeit betroffenen Branchen, namentlich im
augewerbe, im Gaststätten- und Beherbergungsge-
erbe, im Personen- und Güterbeförderungsgewerbe, im
chaustellergewerbe, in Unternehmen der Forstwirt-
chaft, im Gebäudereinigungsgewerbe, in Unterneh-
en, die sich am Auf- und Abbau von Messen und Aus-
tellungen beteiligen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Die
DP-Bundestagsfraktion hat eine solche Sofortmelde-
flicht bereits seit längerem gefordert (Bundestags-
rucksache 16/6645 vom 9. Oktober 2007). Die Neu-
ufnahme der Fleischwirtschaft dürfte aufgrund der
mfangreichen, im Gesetzentwurf genannten Untersu-
hungsergebnisse, gerechtfertigt sein.
Sowohl vom Bundesrat als auch vom Deutschen An-
altsverein wurden in Stellungnahmen zum Gesetzent-
urf wichtige Hinweise darauf gegeben, dass die vorge-
chlagenen Regelungen noch der Präzisierung bedürfen,
m Unklarheiten und Rechtsverfahren in großer Zahl zu
ermeiden. Der Anwaltsverein geht davon aus, dass die
ofortmeldung etwa 1 Million Beschäftigungsverhält-
isse jährlich betreffen wird. Wenn es bei 20 bis
0 Prozent zu Unklarheiten käme, bedeutete dies erheb-
iche neue Belastungen für Unternehmen, Verwaltung
nd Justiz. Geprüft werden sollte insbesondere die Anre-
ung des Bundesrates, klarer zu formulieren, dass die
ofortmeldung vor Beschäftigungsbeginn zu erfolgen
at. Diese und andere Anregungen sollten unbedingt
rnst genommen werden.
Geprüft werden sollte im weiteren Gesetzgebungsver-
ahren außerdem, ob die Sofortmeldung statt an die Ren-
enversicherung an die Einzugstellen erfolgen kann, um
en Meldeprozess für die Betriebe zu vereinfachen. Fer-
er sollte ermöglicht werden, dass man statt einer So-
ortmeldung gleich eine Vollmeldung nach § 28 Abs. 1
GB IV machen kann.
Die mit dem Gesetz vorgesehene Einführung einer
itführungs- und Vorlagepflicht von Personaldokumen-
en bei der Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen
n Branchen, in denen ein erhöhtes Risiko für Schwarz-
rbeit und illegale Beschäftigung besteht, ist grundsätz-
ich sinnvoll. Dies gilt auch für die Aufbewahrungs-
flicht des Arbeitgebers betreffend die einmalige
chriftliche Belehrung der Arbeitnehmer über die Mit-
ührungspflicht der Personaldokumente. Allerdings
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19633
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muss diese Maßnahme auf schwarzarbeitgefährdete
Branchen beschränkt bleiben.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Rentenversiche-
rung die Daten der Einwohnermeldeämter erhält, um so
im Verdachtsfall auf eine gehobene Qualität der An-
schriften zurückgreifen zu können (Art. 11 GE). Diese
Maßnahme kann sinnvoll sein, wenn tatsächlich bis zu
20 Prozent der Anschriften, über die die Rentenversiche-
rung verfügt, fehlerhaft sind. Hier sollte diesbezüglich
aber noch ein Gutachten des Datenschutzbeauftragten
eingeholt werden.
Folgende weitere Punkte sind ebenfalls ernsthaft zu
prüfen: Die vom Bundesrat vorgeschlagene Berichter-
stattungspflicht der Bundesregierung und der Deutschen
Gesetzlichen Unfallversicherung gegenüber Bundestag
und Bundesrat bezüglich der Ergebnisse der Sofortmel-
dung. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Möglichkeit
zur Überprüfung von Verstößen nach § 2 Abs. 1 a Nr. 1
und 2 SchwarzArbG auch von den nach Landesrecht zu-
ständigen Behörden der Schwarzarbeitsbekämpfung, die
bisher nur Verstöße nach § 2 Abs. 1 SchwarzArbG prü-
fen dürfen. Weitere mögliche Verbesserungen der
Durchsetzung von Regressansprüchen der Unfallversi-
cherungsträger gegen Arbeitgeber, die Schwarzarbeiter
beschäftigen.
Der Gesetzentwurf enthält schließlich – sachfremd im
Omnibusverfahren – noch eine Änderung im Recht der
Sozialhilfe. Danach soll für voll erwerbsgeminderte Per-
sonen künftig die Übernahme von Beiträgen für die Al-
tersvorsorge durch die Träger der Sozialhilfe möglich
sein. Dies ist nach Auffassung der FDP-Bundestagsfrak-
tion eine sinnvolle Flexibilisierung, die den Trägern der
Soziahilfe langfristig kostenreduzierende Fortführungen
von Altersvorsorge, etwa nach dem Eigenheimrentenge-
setz, ermöglicht.
Wir sehen auch die Notwendigkeit, zu prüfen, ob § 5
Abs. 1 SGB VI so ergänzt werden sollte, dass eine An-
tragsbefreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI für
Lehrer und Erzieher an Privatschulen nur noch möglich
ist, wenn sie nach den in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2
SGB VI – neu – genannten Voraussetzungen im Ergeb-
nis wie beamtete Lehrer auch in anderen Zweigen der
Sozialversicherung versicherungsfrei sind.
Ich hoffe, dass die Regierung all diese Hinweise ernst
nimmt. Nicht zuletzt davon wird abhängen, ob die FDP-
Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf zustimmen
kann.
Werner Dreibus (DIE LINKE): Schwarzarbeit und
illegale Beschäftigung – und auf diesen Punkt des Ge-
setzentwurfes möchte ich mich heute konzentrieren –
sind ein gravierendes Problem. Da stimmen wir der Bun-
desregierung zu.
Allerdings vermittelt der Begriff „Schwarzarbeit“ ei-
gentlich ein falsches Bild von dem Problem, über das
wir hier sprechen. Im allgemeinen Sprachgebrauch zielt
er doch eher auf den kleinen Handwerker ab, der sich in
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einer Freizeit etwas dazu verdient, und verschleiert so
ie Tatsache, dass die wirklichen Profiteure der
chwarzarbeit die Unternehmen sind, die Schwarzarbeit
nd illegale Beschäftigung einsetzen, um einen Extra-
rofit oder einen Wettbewerbsvorteil herauszuholen –
ulasten regulärer Arbeitsverhältnisse und auf Kosten
er Allgemeinheit.
Denn Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind
eutlich billiger als reguläre Beschäftigungsverhältnisse.
s werden nicht nur keine Beiträge zur Sozialversiche-
ung gezahlt und damit die Sozialversicherungskassen
eschwächt. Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung
erden von Unternehmen gezielt als Lohndumpingstra-
egie eingesetzt, mit der sie versuchen, die Zahlung von
ariflöhnen und Mindestlöhnen zu umgehen.
Besonders die Baubranche sorgte hier in der Vergan-
enheit immer wieder für Schlagzeilen. Ich denke, wir
rinnern uns alle noch lebhaft an die besonders spekta-
ulären Fälle: So bekamen etwa Arbeiter beim Bau der
MW-Welt in München 2,89 Euro pro Stunde oder bei
er Neuen Messe Stuttgart 4 Euro. Und dies, obwohl in
er Baubranche deutlich höhere Mindestlöhne festge-
chrieben sind. Aber auch andere Branchen wie etwa die
leischwirtschaft, in der zum Teil Stundenlöhne von nur
,50 Euro gezahlt werden, sorgen immer wieder für ne-
ative Nachrichten.
Es wird deshalb höchste Zeit, dass die Bundesregie-
ung aktiv wird und den Ankündigungen ihres Aktions-
rogramms „Für Recht und Ordnung auf dem Arbeits-
arkt“ endlich Taten folgen lässt. Sie erfüllt mit diesem
esetzentwurf zwei wichtige Forderungen, die meine
raktion bereits vor der Sommerpause in dem Antrag
Für eine wirksame Bekämpfung von Verstößen gegen
en Mindestlohn im Baugewerbe“ formuliert hat. Die
erpflichtung zur Sofortmeldung zur Sozialversicherung
nd die Mitführungspflicht von Ausweisdokumenten am
rbeitsplatz werden dazu beitragen, die Arbeit der Kon-
rollbehörden in den erfassten Branchen zu vereinfa-
hen.
Für eine wirksame Bekämpfung der Schwarzarbeit
nd illegalen Beschäftigung reichen diese Maßnahmen
edoch bei weitem nicht aus. Dafür sind weitere
chritte notwendig, von denen ich hier nur zwei nennen
öchte.
Zum Ersten: Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit muss
n die Lage versetzt werden, deutlich mehr und deutlich
ntensivere Prüfungen durchzuführen. Und das heißt
uch, dass die Beamten der Finanzkontrolle Schwarzar-
eit vor Ort an den Arbeitsstellen ermitteln müssen. In
esprächen mit den Tarifpartnern der Bauwirtschaft und
er Finanzkontrolle Schwarzarbeit wurde mehr als deut-
ich, dass dies mit der heutigen Ausstattung nicht zu ma-
hen ist. Wir fordern deshalb eine deutlich bessere Sach-
ittelausstattung und eine sofortige Aufstockung des
ersonals auf 8 000 Stellen. Außerdem muss die Perso-
alstärke der Finanzkontrolle Schwarzarbeit in Zukunft
it jeder neuen Aufgabe, die ihr zugewiesen wird, nach
ben angepasst werden. Das wird zum Beispiel dann
19634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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notwendig, wenn, wie angekündigt, weitere Branchen in
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen wer-
den.
Zum Zweiten muss sich die Bundesregierung endlich
dem Problem stellen, dass in Einspruchs- und Gerichts-
verfahren die verhängten Geldbußen regelmäßig dras-
tisch reduziert werden. Ein Appell an die Länder, die Er-
richtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und die
Aufstockung der Kapazitäten von Staatsanwaltschaften
und Gerichten in Erwägung zu ziehen, ist definitiv zu
wenig. Die Bundesregierung darf sich an diesem Punkt
nicht aus der Verantwortung stehlen, sondern muss das
Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen. Wir for-
dern die Bundesregierung auf: Ergreifen Sie die weiteren
Schritte, die notwendig sind, um Schwarzarbeit und ille-
gale Beschäftigung tatsächlich wirksam zu bekämpfen.
Als kleine Anregung möchte ich Ihnen noch einmal un-
seren Antrag „Für eine wirksame Bekämpfung von Ver-
stößen gegen den Mindestlohn im Baugewerbe“ ans
Herz legen, der zwar im Baugewerbe ansetzt, aber auch
darüber hinaus wichtige Ansatzpunkte liefert.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Bekämpfung der Schwarzarbeit ist ein zentrales An-
liegen von Bündnis 90/Die Grünen. Schwarzarbeit ist
kein Kavaliersdelikt und darf auch nicht als solches be-
handelt werden. In vielen Wirtschaftsbereichen ver-
drängt Schwarzarbeit nach wie vor legale Arbeitsplätze.
Legal arbeitende Unternehmen haben deutlich schlech-
tere Wettbewerbschancen gegenüber der illegalen Kon-
kurrenz. Der öffentlichen Hand und den Sozialversiche-
rungsträgern gehen Einnahmen in Milliardenhöhe
verloren.
Während der rot-grünen Regierungszeit haben wir
mit dem Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der
Schwarzarbeit einen maßgeblichen Schritt zu einer bes-
seren Bekämpfung und Aufdeckung von Schwarzarbeit
gemacht. Nun will auch die Koalition für mehr „Recht
und Ordnung“ auf dem Arbeitsmarkt sorgen und hat ih-
rem Aktionsprogramm einen Gesetzentwurf folgen las-
sen, der Teile davon aufnimmt. Ich möchte hier im
Wesentlichen auf zwei Punkte Ihres Gesetzentwurfes
eingehen.
Wir Grünen unterstützen eine schnellere Meldepflicht
bei der Sozialversicherung, um Kontrollen effizienter
und erfolgreicher zu gestalten. Allerdings finden wir
Einwände aus der Praxis, die die sofortige Meldung
– unabhängig von Tages- oder Nachzeit, unabhängig da-
von, ob Werk- oder Feiertag – als unpraktikabel erachtet.
Wir schlagen deshalb vor, dass eine Meldepflicht am ers-
ten Werktag nach Beschäftigungsbeginn vorgeschrieben
wird. Das würde gegenüber dem Status quo, der es Un-
ternehmen gestattet, bis zu sechs Wochen nach Beschäf-
tigungsbeginn mit der Meldung bei der Sozialversiche-
rung zu warten, erhebliche Verbesserungen bringen.
Gleichzeitig würde dieser Kompromiss den Unterneh-
men entgegenkommen, die am Wochenende und in der
Nacht Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen, wie
zum Beispiel bei den Gebäudereinigern.
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Sie schlagen die Ablösung des Sozialversicherungs-
usweises und die Mitführungspflicht von persönlichen
usweisdokumenten in den Branchen vor, die besonders
on Schwarzarbeit betroffen sind. Das sind zum Beispiel
er Bau, die Gastronomie oder die Fleischwirtschaft. Es
timmt, dass wir es hier mit besonders anfälligen Bran-
hen zu tun haben. Deshalb wurde nicht ohne Grund bei-
pielsweise in der Baubranche seit Jahren eine Job- oder
hipkarte gefordert. Dieses Projekt hat die Bundesregie-
ung nun zugunsten der Ausweislösung beerdigt. Auch
azu erreichen uns jedoch Einwände aus der Praxis: Ins-
esondere ausländische Beschäftigte haben Angst vor
em Verlust ihrer Papiere, deren Wiederbeschaffung für
ie häufig schwierig oder gar unmöglich ist und aufent-
altsrechtliche Probleme an anderer Stelle nach sich zie-
en würde. Wir möchten über Ihren Vorschlag daher in
en Ausschussberatungen gerne noch einmal diskutie-
en.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Der
undesrechnungshof hat in seinem Bericht vom Januar
008 etliche Fragen zum Aufbau und zur Effizienz der
ür die Bekämpfung der Schwarzarbeit zuständigen Fi-
anzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) aufgeworfen. Darin
ezweifelt der Bundesrechnungshof unter anderem, dass
ie überhaupt in der Lage sind, verlässliche Aussagen
ber die Wirkung der FKS zu treffen. Aus diesem Grund
at der BRH damals auch vorgeschlagen, auf die ge-
lante Umstrukturierung der FKS im Rahmen der Re-
orm der Zollverwaltung zu verzichten, bis eine Evalua-
ion vorliegt. Aber trotz dieser ernst zu nehmenden
ritik wurde quasi im erkenntnisfreien Blindflug die
KS neu in der Zollverwaltung organisiert. Ob das der
ekämpfung der Schwarzarbeit dienlich ist, wage ich zu
ezweifeln.
Die Lösung eines anderen Problems packen Sie eben-
alls nicht an: Die mangelnde Vollstreckung von Bußen
nd Strafen. Es reicht nicht, wenn die FKS Ihren Erfolg
uf Basis der Höhe ausgesprochener Geldbußen und -stra-
en definiert. Wichtig ist, diese Gelder auch hereinzuho-
en; denn nur so kann ein Gesetz den Sprung vom
apiertiger zum wirkungsvollen Instrument schaffen.
eshalb wollen wir Grünen auch die Einrichtung eines
orruptionsregisters, das auch die Unternehmen listet,
ie schwarzarbeiten lassen und beispielsweise keinen
indestlohn zahlen. Aufträge zu ergattern, muss für
iese Unternehmen schwieriger werden.
Es gibt also noch viel zu tun bei der Bekämpfung von
chwarzarbeit.
Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
inister für Arbeit und Soziales: Die letzten Wochen ha-
en uns in ganz drastischer Weise vor Augen geführt,
ass der Markt Regeln braucht. Unsere Tradition setzt
uf einen politischen, sozialen und kulturellen Rahmen
ür den Markt. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur
reier Wettbewerb, sondern auch fairer Wettbewerb;
ettbewerb um die besten Produkte und den besten Ser-
ice, um besseres und effizienteres Management, und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19635
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nicht Wettbewerb mit schlechten Arbeitsbedingungen
und schlechten Löhnen.
Gerade Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung
sind Versuche, sich unfaire Vorteile zu verschaffen zu-
lasten aller durch Hinterziehung von Steuern, zulasten
der Arbeitnehmer, die ungesichert arbeiten, zulasten der
Versichertengemeinschaft und der ehrlichen Konkurren-
ten, die Beiträge zahlen. Mit dem Aktionsprogramm
„Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“ hat das Ka-
binett darum ein umfangreiches Paket beschlossen, des-
sen zentrale Punkte in dem Gesetzentwurf stehen, der Ih-
nen heute vorliegt.
Eine wesentliche Verbesserung ist die Einführung ei-
ner Sofortmeldepflicht bei Beschäftigungsbeginn. Sie
ermöglicht eine schnelle und zweifelsfreie Feststellung,
ob der Arbeitgeber seinen sozialversicherungsrechtli-
chen Pflichten bereits nachgekommen ist. Das verhin-
dert Ausreden und eilige Nachmeldungen ertappter
„schwarzer Schafe“. Damit wird die Arbeit der Prüfer in
den Branchen erheblich einfacher, in denen ein erhöhtes
Risiko für Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung be-
steht; denn sie macht eine Überprüfung schon am Tag
der Aufnahme einer Beschäftigung möglich. Da ohnehin
jeder Arbeitgeber vor einer Beschäftigungsaufnahme mit
seinen Beschäftigten einen Arbeitsvertrag abschließen
muss, stellt das Übermitteln von vier Daten zur Renten-
versicherung keinen wesentlichen Mehraufwand dar.
Aber neben der Prüfung erleichtert es auch die Arbeit
der Berufsgenossenschaften, die im Leistungsfall auf die
Daten zugreifen und bei Verdacht auf Schwarzarbeit den
Arbeitgeber in Regress nehmen können.
Ein weiteres Problem der Überprüfung von Schwarz-
arbeit und illegaler Beschäftigung war bisher die eindeu-
tige persönliche Identifizierung der Beschäftigten. Der
Gesetzentwurf sieht deshalb die Pflicht zur Mitführung
und Vorlage von Ausweisdokumenten in den Branchen
mit Sofortmeldepflicht vor. Gleichzeitig heben wir die
bisher geltende Pflicht auf, den Sozialversicherungsaus-
weis mitzuführen.
Dadurch, dass Arbeitgeber zukünftig ihre Beschäftig-
ten nachweislich und schriftlich über diese Pflicht beleh-
ren müssen, stehen sie mit in der Verantwortung für die
Einhaltung der Regeln. Im Gegenzug befreien wir durch
die neue zentrale, elektronische Übermittlung von An-
schriftendaten der Beschäftigten die Arbeitgeber von
bisher immerhin jährlich rund 16 Millionen Meldevor-
gängen. Das bedeutet unterm Strich 25 Millionen Euro
geringere Bürokratiekosten.
Dazu werden die Kommunen und die Rentenversi-
cherungsträger von erheblichen Kosten entlastet. Auch
das sind noch einmal etwa 180 Millionen Euro im Jahr.
So gelingt es uns durch dieses Gesetz, mit geringem
Aufwand durch zusätzliche Melde- und Nachweispflich-
ten in einigen Branchen die Schwarzarbeit besser be-
kämpfen zu können, und gleichzeitig senken wir Büro-
kratiekosten. Faire Regeln und ein Gewinn für alle –
auch das sind Kerne der sozialen Marktwirtschaft.
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nlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: EU-Übersetzungsstrategie überarbei-
ten – Nationalen Parlamenten die umfassende
Mitwirkung in EU-Angelegenheiten ermögli-
chen (Tagesordnungspunkt 21)
Hans Peter Thul (CDU/CSU): Der vorliegende ge-
einsame Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd-
is 90/Die Grünen ist auch nach der Vorlage der Mittei-
ung der Kommission zur Mehrsprachigkeit vom
8. September 2008 weiterhin aktuell und angezeigt, so-
ar mehr denn je. Aus diesem Grund erfolgte die unein-
eschränkte Zustimmung von allen Fraktionen im Bera-
ungsverfahren des federführenden Ausschusses für die
ngelegenheiten der Europäischen Union am 24. Sep-
ember.
Nachdem zu unserer Verwunderung die geforderten
nderungen der Sprachenregelung in dieser Mitteilung
icht berücksichtigt worden sind, müssen die von uns
ereits mehrfach formulierten Forderungen insbesondere
ach zeitnaher Überarbeitung des Sprachenregimes der
uropäischen Union und einer daraus folgenden Verbes-
erung der Übersetzungsleistungen weiterhin so lange
estellt werden, bis sie schließlich in einer Überset-
ungsstrategie verbindlich niedergelegt werden. Die für
008 angekündigte Überarbeitung der Übersetzungsstra-
egie hat die Europäische Kommission auf unbestimmte
eit verschoben. Wir werden unter diesen Umständen
eiter regelmäßig die für uns beratungs- und entschei-
ungsrelevanten Informationen auf Englisch oder Fran-
ösisch erhalten.
Wir arbeiten hier gemeinsam auf der Grundlage eines
andates, das wir in freien und geheimen Wahlen von
nseren Wählerinnen und Wählern erhalten haben, und
ir haben diesen Wählerauftrag nach bestem Wissen
nd nur unserem eigenen Gewissen folgend zum Wohle
er gesamten Gesellschaft wahrzunehmen. Dies setzt
ber voraus, dass wir die Grundlagen unserer Entschei-
ungen erfassen, im wörtlichen Sinne also Wort für Wort
ufnehmen, abwägen und prüfen können. Dies alles geht
hier sind wir uns mit großer Mehrheit in diesem Hause
inig – für uns am besten auf Deutsch, unserer offiziel-
en Amtssprache.
Dies gilt im Übrigen für jede innerhalb der Europäi-
chen Union gesprochene Sprache. Insofern gilt das, was
ir fordern, im übertragenen Sinne selbstverständlich
uch für alle anderen Sprachen und alle von der Spra-
henregelung und ihren Regelungsdefiziten betroffenen
arlamentarier. Daher richtet sich unser Antrag weder
egen irgendeinen der anderen Mitgliedstaaten noch dis-
riminiert er die Verwendung einer der anderen inner-
alb der Gemeinschaft gesprochenen Sprachen.
Im Übrigen sollten wir alle daran interessiert sein, die
kzeptanz der EU-Regelungen bei den Bürgerinnen und
ürgern – besonders angesichts der im kommenden Jahr
nstehenden Wahlen – zu erhöhen und zumindest das
achvollziehen der einzelnen Entscheidungen des Euro-
19636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
päischen Parlaments durch die Aufnahme muttersprach-
licher Texte zu ermöglichen. Identifikation mit Europa
und damit die Stärkung des Wunsches nach Teilhabe und
Mitwirkung der Bürger setzen voraus, dass sie verste-
hen, was Europa regelt und entscheidet. Dies ist eine
Verantwortung, die nicht allein auf die einzelnen Mit-
gliedstaaten abgewälzt werden kann, sondern es ist Auf-
gabe der Kommission, den Mitgliedstaaten das nötige
Handwerkszeug zur Verfügung zu stellen. Daneben er-
wartet und wünscht doch auch die EU-Kommission die
stärkere Mitwirkung der nationalen Parlamente.
Diese Selbstverständlichkeiten haben wir – das sind
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – in
dem vorliegenden Antrag gemeinsam formuliert und in
der Zwischenzeit auch unmittelbar in Brüssel dem zu-
ständigen EU-Kommissar Leonard Orban und dem stell-
vertetenden Generalsekretär, Herrn Jouanjean, erläutert.
Daneben hatten wir Gelegenheit, sachkundigen Vertre-
tern außerparlamentarischer Organisationen, etwa dem
Goethe-Institut, unser Anliegen zu erklären und deren
Rat einzuholen. In allen diesen Gesprächen haben wir
keinen einzigen Einwand hören können, der unserem
Antrag entgegenstünde. Im Gegenteil, die zurzeit gelten-
den Grundsätze der Sprachenregelung in der Verordnung
Nummer 1/58 nennen ausdrücklich alle Amtssprachen
als gleichrangig. Derzeit werden innerhalb der Gemein-
schaft 23 Sprachen gesprochen, und nach unserer Über-
zeugung gilt das, was wir fordern – ich wiederhole das
gerne an dieser Stelle –, für alle zurzeit und zukünftig
gesprochenen Sprachen gleichermaßen.
Des Weiteren sind wir uns einig, dass die Überset-
zungsleistungen alle beratungs- und entscheidungsrele-
vanten Dokumente, mithin auch die Anlagen und An-
hänge, umfassen müssen. Dabei können nur wir selbst
entscheiden, welche Informationen für unsere Entschei-
dungen von Bedeutung sind. Die Abwägung zwischen
der Notwendigkeit und der rechtlichen Verpflichtung zur
Übersetzung eines Dokumentes ist Sache des nationalen
Parlamentes und eben nicht Sache der Kommission in
Brüssel. Unser Eindruck ist vielmehr, dass viele Doku-
mente schematisch ohne Ansehen der inhaltlichen Rele-
vanz herabgestuft werden.
Zurzeit können nahezu fünfzig einzelne Vorgänge
nicht von dem deutschen Parlament abschließend bear-
beitet werden, weil die entsprechenden Dokumente eben
nicht vollständig in deutscher Sprache vorliegen. Dies
hemmt unsere Arbeit und führt zu vermeidbaren Verzö-
gerungen bei den anstehenden Entscheidungen. Dies ist
nicht hinnehmbar, weil die Problemlösungen in einem
immer mehr an Dynamik zunehmenden globalen Wett-
bewerb eher nach flinken Lösungen verlangen als nach
einem langatmigen Zuwarten.
Die Kosten der Übersetzungsleistungen fallen für alle
Sprachen etwa in gleicher Höhe an. Dies betont Herr
Orban gleich an zwei Stellen in seiner schriftlichen Ant-
wort vom 11. Juni 2008 auf eine entsprechende Anfrage
des Europakollegen Gahler, wenn er von „… kaum ins
Gewicht fallenden Unterschieden der Übersetzungskos-
ten“ oder an anderer Stelle von „… entsprechenden Kos-
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en pro Seite“ spricht. Weiter heißt es wörtlich unter der
aufenden Nummer 5 der eben erwähnten Antwort:
Die Kommission sieht keine besonderen Schwierig-
keiten und speziellen Probleme, was den Bedarf an
Übersetzungen ins Deutsche und die fristgerechte
Vorlage anbelangt. Wenn dem so ist, so gibt es auch
keinen ernst zu nehmenden Einspruch gegen unser
berechtigtes Begehren.
Die bereits erwähnten und verschobenen Vorgänge
önnen nicht so lange warten, bis uns einmal intelligen-
ere Technik bzw. Software die Arbeit des Übersetzens
bnimmt. Aber genau darauf scheinen einige in Brüssel
u warten. Wir unterstützen diese Hinhaltetaktik auch
och – so viel Kritik muss erlaubt sein –, wenn der deut-
che EU-Kommissar Verheugen seine Reden ausschließ-
ich auf Englisch hält, wie zuletzt im April dieses Jahres;
nd das, obwohl eine Simultanübersetzung für nicht
eutschsprachige Teilnehmer verfügbar wäre. Das ist
ontraproduktiv und widerspricht dem Gedanken der eu-
opäischen Pluralität. Der Gebrauch der deutschen Spra-
he bei der Amtsausübung muss für Herrn Verheugen so
elbstverständlich sein wie die Verwendung der französi-
chen Sprache für seinen französischen Kollegen Barrot.
lles andere ist falsch verstandene Höflichkeit – und un-
ötig noch dazu.
Schließlich erfahren wir für unseren Antrag Zustim-
ung von allen Seiten innerhalb und außerhalb dieses
arlamentes. In der jüngsten Vergangenheit sind in die-
er Sache Briefe geschrieben und eine ganze Reihe von
esprächen geführt worden. Es liegt jetzt an der EU-
erwaltung, ein neues Sprachenregime zu formulieren
nd alsbald, ohne weiteres Verschieben und Vertrösten,
n Kraft zu setzen. Diese Forderung werden wir auch ge-
enüber Kommissar Orban bei seinem angekündigten
esuch im Dezember dieses Jahres erneut deutlich ma-
hen. Demokratie mag dem ein oder anderen in diesem
usammenhang teuer vorkommen, aber das Modell ei-
er freien demokratischen Gesellschaft, das Wirtschafts-
odell Europa, ist zu wertvoll für die freie Entfaltung
er hier lebenden Menschen, als dass wir es allein mit
iskalischen Interessen beschränken. Wir sehen daher die
erabschiedung eines neu gefassten Sprachenregimes
ls eine vertrauensbildende Maßnahme für alle Parla-
ente an.
Lassen sie mich zu Schluss noch einmal die wichtigs-
en Forderungen unseres Antrages zusammenfassen:
eufassung der für 2008 zugesagten Übersetzungsstrate-
ie alsbald und kurzfristig; angemessene parlamentari-
che Beteiligung der Mitgliedstaaten bei dieser Ausar-
eitung; vollständige und zeitnahe Bereitstellung aller
eratungs- und entscheidungsrelevanten Dokumente; an-
emessene Mittelbereitstellung in den Haushalten und
ine stärkere Förderung und Verwendung der deutschen
prache in der kulturellen Präsenz und im Arbeitsge-
rauch innerhalb der Institutionen in Brüssel.
Michael Roth (Heringen) (SPD): „Die Sprache Eu-
opas ist die Übersetzung“, sagt Umberto Eco und bringt
s auf den Punkt. Treffender kann ein Zitat kaum sein.
as greift auch die Europäische Kommission in ihrer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19637
(A) )
(B) )
Mitteilung „Mehrsprachigkeit: Trumpfkarte Europas,
aber auch gemeinsame Verpflichtung“ vom 18. Septem-
ber dieses Jahres auf.
Die Kommission mahnt die Förderung der Mehrspra-
chigkeit an. Damit wir uns nicht missverstehen: Spra-
chenlernen ist richtig und wichtig. Sprachen ermögli-
chen den Zugang zu anderen Kulturen und Menschen.
Sie sind Instrument der Annäherung. Sprache macht
Europa für die Menschen erst erlebbar. Für das Spra-
chenlernen spricht sicher noch viel mehr. Selbstver-
ständlich setzen wir uns hier in Deutschland dafür ein,
dass Menschen die Chance haben, Sprachen zu erlernen
– unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Dieser Ver-
antwortung nehmen wir uns gerne an. Die Kommission
muss ihrer eigenen Verantwortung für die Sprachenviel-
falt in Europa gerecht werden.
Kommissar Orban hat für seine Mitteilung wirklich
schöne Worte gefunden. Aber schöne Worte allein rei-
chen nicht aus. Allein davon wird unsere parlamentari-
sche Arbeit nicht besser. Wir wollen unsere Aufgaben
wahrnehmen. Aber erledigt die Kommission auch ihre
Hausaufgaben, um uns dazu in die Lage zu versetzen?
Wir warten. Viel zu lange schon warten wir auf eine
Initiative von Herrn Orban. Eine Überarbeitung für das
Übersetzungsregime wurde für dieses Jahr angekündigt.
Leider habe ich einem Brief des Kommissars an unseren
Außenminister Frank-Walter Steinmeier entnehmen
müssen, dass die Überprüfung der Übersetzungsstrategie
auf unbestimmte Zeit verschoben ist. Fehlende finan-
zielle Mittel beklagt der Kommissar. Wir haben doch
keine Beliebigkeit gefordert! Es soll nicht jeder Text
– sei er noch so irrelevant – übersetzt werden. Aber es
muss sichergestellt werden, dass die Dokumente, die aus
unserer Sicht relevant sind, zwingend übersetzt werden.
Wir haben konkrete Dokumente zur Übersetzung ange-
mahnt, aber leider für 23 eine negative Antwort erhalten.
Eine Erhöhung der finanziellen Mittel ist für die Reform
der Übersetzungsstrategie nicht unbedingt notwendig.
Eine Umschichtung, die den Bedarf der nationalen Par-
lamente berücksichtigt, ist jedoch denk- und machbar.
Nicht allein die Förderung der deutschen Sprache,
sondern die Förderung der sprachlichen Vielfalt in
Europa ist unser Anliegen. Diese sprachliche Vielfalt ist
nicht bloß eine Herausforderung des europäischen Über-
setzungsdienstes. Vielmehr ist sie Bestandteil unseres
kulturellen Reichtums. Wenn von den nationalen Parla-
menten gefordert wird, dass sie sich frühzeitig in den
Gesetzgebungsprozess der EU einbringen, dann muss
man uns auch die Möglichkeit dazu geben. Mit „uns“
meine ich die Parlamentarier der nationalen Kammern
aller Mitgliedstaaten. Der Deutsche Bundestag, der pol-
nische Sejm, die französische Assemblée nationale, der
litauische Seimas und alle anderen Kolleginnen und Kol-
legen aus den Partnerländern der EU wirken an Europa
mit.
Auch angesichts der Unklarheit darüber, wann der
Vertrag von Lissabon in Kraft treten wird, bin ich über-
zeugt, dass die Rolle nationaler Parlamente wächst. Der
Lissabon-Vertrag stärkt formal unsere Mitgestaltungs-
möglichkeiten. Doch schon jetzt bringt sich der Bundes-
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ag engagierter in den EU-Gesetzgebungsprozess ein.
enn uns das gescheiterte Referendum in Irland etwas
ezeigt hat, dann doch, dass Europa mehr Bürgernähe
raucht. Hier stehen wir auch als nationale Politiker in
er Verantwortung. Nationale Parlamente haben inner-
taatlich bereits Befugnisse bei europäischer Rechtsset-
ung. Das ist auch den europäischen Institutionen be-
usst. Die Mammutaufgabe, Europa zu vermitteln, kann
ur in einem gemeinsamen Kraftakt gelingen. Die Re-
orm der Übersetzungsstrategie muss weiterverfolgt
erden. Das bedeutet auch, dass wir in der Pflicht ste-
en. In der Pflicht, EU-Dokumente, die wir zugeleitet
ekommen, nicht lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Wir
üssen Prioritäten setzen und konkret sagen, wo der
chuh drückt und gegebenenfalls Alternativvorschläge
nterbreiten.
Es ist ein Erfolg, dass der Deutsche Bundestag ge-
chlossen hinter dem Antrag steht. Über Fraktionsgren-
en hinweg gilt es, alle Abgeordneten in die Lage zu ver-
etzen, sich angemessen mit EU-Dokumenten und EU-
orlagen auseinanderzusetzen – in deutscher Sprache.
Ebenso freue ich mich, dass dieses Anliegen von der
eutschen Bundesregierung mitgetragen wird. Unser
ntrag soll die Bemühungen der Bundesregierung unter-
tützen und sie ermuntern, am Ball zu bleiben. Ich for-
ere die EU-Kommission dazu auf, endlich dem berech-
igten Interesse des Deutschen Bundestages besser zu
ntsprechen – im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Die Kommission
eginnt ihre aktuelle Mitteilung zur Mehrsprachigkeit in
uropa mit den Worten „die harmonische Koexistenz
ieler Sprachen in Europa ist ein kraftvolles Symbol für
as Streben der EU nach Einheit in der Vielfalt, einem
er Eckpfeiler des europäischen Aufbauwerks.“
Diese Einschätzung teilen wir Liberalen. So drückt
iese philosophisch anmutende Aussage zuallererst aus,
ass die Sprachenvielfalt in Europa nicht zum destrukti-
en Babylonischen Stimmengewirr führt, dass diese
ielfalt einen Teil der Identität Europas darstellt.
Natürlich stellt diese Vielzahl der Sprachen die Euro-
äische Union im alltäglichen Gebrauch auch vor große
erausforderungen. Es erfordert strukturelle, logistische
nd finanzielle Anstrengungen, um die reibungslose
ommunikation innerhalb der EU zu ermöglichen.
Die lang erwartete Mitteilung der Kommission vom
8. September 2008 zur Mehrsprachigkeit enttäuscht be-
üglich der Antworten auf diese Herausforderungen, ob-
ohl die Mitteilung interessante Aussagen zur Stärkung
er Sprachenkompetenz und des Sprachenbewusstseins
rifft. Denn entgegen ursprünglicher Äußerungen Kom-
issar Orbans enthält diese Mitteilung keine Überarbei-
ung der Übersetzungsstrategie. Und dabei wäre genau
ies der Bereich, an den die Kommission selbst Hand
nlegen und dazu klare Aussagen treffen könnte, statt
ich mit Wunschvorstellungen an die Mitgliedstaaten zu
enden.
Die Verabschiedung unseres interfraktionellen An-
rags „EU-Übersetzungsstrategie überarbeiten – Natio-
19638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
nalen Parlamenten die umfassende Mitwirkung in EU-
Angelegenheiten ermöglichen“ ist damit wichtiger denn
je.
An der Bereitschaft der Kommission, transparent und
offen mit den nationalen Parlamenten zusammenzuarbei-
ten, bestehen erhebliche Zweifel. Was sich unter anderem
an der fehlenden, jedoch zugesicherten Überarbeitung
der Übersetzungsstrategie, der lediglich begrenzten Zahl
an erbetenen Nachübersetzungen beratungsrelevanter
Dokumente und der fehlenden Darstellung der tatsäch-
lich benötigten Mittel und Kosten für eine angemessene
Übersetzungsleistung ausdrückt.
In der Debatte zur ersten Lesung dieses Antrages
habe ich betont, dass der Antrag auch ein Zeichen setzt,
dass sich der Bundestag in dieser Angelegenheit nicht
auf wenig vertrösten lassen wird – und zwar weder von
der Bundesregierung noch von der Kommission.
Natürlich muss die Kommission für die notwendigen
Übersetzungen sorgen, die Bundesregierung muss nun
aber endlich den Druck erhöhen und dies in der EU auch
durchsetzen. Und zwar auf Chefebene – denn die Dis-
kussionen auf Arbeitsebene haben – wie wir sehen – bis-
her zu nichts geführt. Zwar scheint das Bewusstsein der
Bundesregierung dafür geweckt und auch groß zu sein.
Auch sind wohl bereits Gespräche mit dem Kommis-
sionspräsidenten Barroso geführt worden, doch nach wie
vor wurde dabei wenig erreicht. Deshalb müssen wir als
Bundestag ebenfalls den Druck auf die Bundesregierung
erhöhen.
Zeitlich kommt unser Antrag dafür genau zum richti-
gen Zeitpunkt. Denn die Verhandlungen über den EU-
Haushalt 2009 sind nun in der heißen Phase. Aktuell be-
rät das Europäische Parlament in seinen Ausschüssen
und im Plenum bevor es am 21. November zu einer Ver-
mittlungsrunde zwischen Rat und EP zum EU-Haushalt
2009 kommt.
In unserem Antrag stellen wir hinsichtlich dieses
Haushaltes konkrete Forderungen an die Bundesregie-
rung: Erstens, eine differenzierte Ausweisung der Mittel
für Übersetzungsleistungen von der Kommission zu er-
möglichen und zweitens darauf hinzuwirken, dass im
Einzelplan 3 der Kommission durch Umschichtungen
angemessene Mittel für Übersetzungen eingestellt wer-
den.
Mir scheint es erforderlich, noch vor der geplanten
Vermittlungsrunde am 21. November von der Bundesre-
gierung detailliert Auskunft zu verlangen, wie sie bei der
Umsetzung unserer Forderungen auf EU-Ebene agiert
hat bzw. agieren will. Beispielsweise könnte dies im EU-
Ausschuss am 12. November 2008 geschehen. Denn
Sympathiebekundungen der Bundesregierung mit uns
Parlamentariern reichen nicht aus. Die Bundesregierung
muss darstellen, mit welcher Strategie sie unsere Forde-
rungen tatsächlich durchsetzen will.
Sollten diese Forderungen ungehört bleiben, müsste
die Bundesregierung in letzter Konsequenz dem Haus-
halt 2009 seine Zustimmung verweigern. Ein kraftvolles
Signal!
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Daneben kann man nicht genug daran erinnern, dass
uch auf die Partnerfraktionen im EP Einfluss zu neh-
en ist, die im Haushalt mitzubestimmen haben.
Interessant wäre es heute von Ihnen, sehr geehrte
oalitionsfraktionen, zu erfahren, welche Fortschritte
ie bei Ihren Gesprächen einerseits mit der zuständigen
auptberichterstatterin, der SPD-Kollegin Jutta Haug,
ndererseits mit dem Vorsitzenden des Haushaltsaus-
chusses im Europäischen Parlament, dem CDU-Kolle-
en Reimer Böge, EVP/CDU verzeichnen konnten.
Neben diesem Engagement dürfen wir auch nicht
achlassen, bei der Kommission die regelmäßige Be-
achteiligung von deutschen Nichtregierungsorgani-
ationen und deutschen Mittelständlern und anderen.
urch die bevorzugte Verwendung von Englisch/Franzö-
isch in Wirtschaftsdatenbanken, bei Ausschreibungen
nd generell bei Internetauftritten in der EU zu kritisie-
en sowie deren Ende gemäß den bestehenden europäi-
chen Rechtsvorschriften, die Deutsch als gleichberech-
igte Amts- und Arbeitssprache der EU festsetzen,
achdrücklich einzufordern.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): In gebotener
ürze eine Bemerkung zum Antrag selbst und eine Be-
erkung zum Verfahren: Das Anliegen des Antrags ist
erechtfertigt. Wir unterstützen es voll und ganz. Durch
nzureichende Übersetzungen von EU-Dokumenten
ird der Bundestag bei der Beteiligung an der Rechtset-
ung auf europäischer Ebene und auch sonst ganz erheb-
ich behindert. Das muss korrigiert werden, und zwar so
chnell wie möglich. Es geht aber nicht nur um den Bun-
estag. Es geht vor allem darum, dass eine demokrati-
che Öffentlichkeit die politischen Positionen selbst
egleiten und kritisch hinterfragen können muss. Da rei-
hen politisch interpretierende und gefilterte Pressebe-
ichte nicht. Wer Demokratie will, muss in der Sprache
er jeweils betroffenen Menschen kommunizieren, auch
enn es in der EU viele unterschiedliche Sprachen sind.
in EU-Verwaltungsenglisch als „lingua franca“ der
uropäischen Eliten genügt demokratischen Prinzipien
n keiner Weise. Die Forderung nach einer anderen
bersetzungsstrategie der EU-Kommission bedarf der
ezugnahme auf den Vertrag von Lissabon nicht, wie sie
m Antrag enthalten ist. Eine solche Bezugnahme ist im
egenteil in hohem Maße kontraproduktiv. Die EU-
ommission soll ihre verkorkste Sprachenpolitik nicht
rgendwann, sondern schnell ändern. Wenn das vom
irksamwerden des Vertrags abhinge, würde das Ge-
enteil erreicht: Der Vertrag von Lissabon wird nach
age der Dinge auf keinen Fall am 1. Januar 2009 in
raft treten, wahrscheinlich wird er es nie tun. Das stör-
ische Festhalten der anderen Fraktionen an der Bezug-
ahme auf den Vertrag ist daher skurril. Es stellt ein
tück Realitätsverweigerung durch die ganz Große
oalition aus den vier anderen Fraktionen dar. Trotzdem
erden wir heute keinen Änderungsantrag zur Behebung
ieses Mangels stellen, sondern nur in dieser Form zu
rotokoll geben, dass wir ohne „Wenn“ und „Aber“ für
ie schnellstmögliche Revision der Übersetzungsstrate-
ie eintreten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19639
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Jetzt die Bemerkung zum Verfahren: Bei dem hohen
Maß an sachlicher Übereinstimmung hätte hier die Mög-
lichkeit bestanden, einen Allfraktionenantrag einzubrin-
gen. Dass das bewusst vermieden wurde, ist schlicht al-
bern. Es kontrastiert auch zu pathetischen Appellen an
die Gemeinsamkeit und die Solidarität in nationalen Fra-
gen, die in den vergangenen Tagen von Regierungsseite
immer wieder beschworen wurde. Wo es in der Sache
möglich wäre, wollen Sie diese Gemeinsamkeit nicht.
Trotz dieses miesen Stils: Wie lassen uns von einer Zu-
stimmung zu sinnvollen Sachentscheidungen auch durch
die von den anderen Fraktionen akzeptierte Marotte des
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden nicht abbringen, keine
Anträge zusammen mit unserer Fraktion zu unterzei-
chen. Irgendwann aber sollten zumindest die anderen
Fraktionen diese kleingeistigen Mätzchen lassen!
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Sprache ist Kultur, Sprache ist Identität. Deshalb
müssen wir die Sprachenvielfalt in Deutschland, in der
EU und auch weltweit schützen. Es ist ein gutes Zeichen,
dass die Vereinten Nationen das Jahr 2008 zum inter-
nationalen Jahr der Sprachen erklärt haben. Auch die
Europäische Union muss ihren Reichtum an Sprachen-
vielfalt sichern, und deshalb ist es richtig, dass jedes
Land vor einem Beitritt in die Europäische Union ange-
ben kann, welche Sprache es als sogenannte Amtsspra-
che wählt. In diesen momentan 23 Amtssprachen kön-
nen sich dann alle Bürgerinnen und Bürger an die
Institutionen der Europäischen Union wenden. Und das
ist gut so. Denn die Bürgerinnen und Bürger haben ein
Recht darauf, zu erfahren, was in ihrem Namen ge-
schieht.
Sprache ist also ein wichtiger Schlüssel für die Bürge-
rinnen und Bürger zur Europäischen Union. Aber auch
für kleine und mittlere Unternehmen, die sich an EU-
Ausschreibungen beteiligen möchten, und nicht zuletzt
auch für uns Abgeordnete ist es notwendig, dass wir
wichtige Informationen in unserer Sprache erhalten.
Denn es ist unsere ureigene Aufgabe, zu kontrollieren,
wie die Bundesregierung in Brüssel handelt und ob sie
unsere Anliegen auch richtig vertritt.
Genau deshalb ist es doch absolut unverständlich,
wenn wichtige Initiativen, Beschlüsse und auch Internet-
auftritte, zum Beispiel der Generaldirektionen, nicht in
allen Sprachen zur Verfügung stehen. Wir verstehen
nicht, warum nicht alle wesentlichen EU-Dokumente in
allen 23 Amtssprachen erhältlich sind. Es kann nicht
sein, dass für eine Übersetzung allein formale Kriterien
ausschlaggebend sind und wichtige Informationen, die
sich in Anhängen oder in „nachgeordneten Dokumen-
ten“ finden, deshalb nicht übersetzt werden. Nicht ir-
gendwelche Kriterien, sondern die politische Bedeutung
muss entscheiden, was übersetzt wird.
Deshalb fordern wir von der Europäischen Kommis-
sion, dass sie endlich wie angekündigt eine überarbeitete
Übersetzungsstrategie vorlegt. Das sollte und muss noch
in diesem Jahr und damit vor der Europawahl gesche-
hen. Die Kommission hat sich doch mit ihrem „Plan D“
einen verstärkten Dialog mit den Bürgerinnen und Bür-
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ern vorgenommen. Statt Hochglanzbroschüren zu
rucken und Häppchen auf Abendveranstaltungen zu
ervieren, sollte sie da anfangen, wo es am sinnvollsten
st, nämlich bei der Sprache. Die Kommission muss da-
ür sorgen, dass dieser Dialog auch in beide Richtungen
ehen und verstanden werden kann. Von der Bundes-
egierung fordern wir, dass sie nachdrücklich und auf al-
en Ebenen für eine neue Übersetzungsstrategie eintritt.
enn auch sie hatte sich für ihre Ratspräsidentschaft
orgenommen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bür-
er in die Europäische Union zu stärken.
Wir Grünen begrüßen sehr, dass sich die Fraktionen
m Bundestag in dieser Frage jetzt einig sind. Denn noch
m letzten Jahr ging es CDU/CSU und SPD doch vor al-
em darum, nur die deutsche Sprache zu stärken. In die-
em Jahr sind wir uns einig, dass es sich nicht nur um ein
eutsches Problem handelt, sondern dass alle relevanten
nformationen für alle in der Europäischen Union ver-
tändlich sein müssen. Denn sonst werden wir nie die
ehren Ziele einer europäischen Öffentlichkeit, einer
uropäischen Identität und einer gelebten Unionsbürger-
chaft erreichen. Dazu brauchen wir eine transparente
nd verständliche Europäische Union.
nlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung Unterstützter Beschäftigung (Ta-
gesordnungspunkt 22)
Hubert Hüppe (CDU/CSU): In der Koalitionsverein-
arung haben wir uns darauf geeinigt, mehr für die be-
ufliche Integration von Menschen mit Behinderungen
u tun. Unser Ziel ist, mehr behinderten Menschen die
öglichkeit zu eröffnen, außerhalb von Werkstätten für
ehinderte Menschen ihren Lebensunterhalt im allge-
einen Arbeitsmarkt erarbeiten zu können.
Die Bundesregierung hat diesen Punkt der Koalitions-
ereinbarung aufgegriffen und einen Gesetzentwurf vor-
elegt, den wir heute beraten. Der Gesetzentwurf sieht
ie „Unterstützte Beschäftigung“ als eine neue Leistung
ur Teilhabe am Arbeitsleben vor. Ziel der „Unterstütz-
en Beschäftigung“ ist ein regulärer, sozialversiche-
ungspflichtiger Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Ar-
eitsmarkt.
Der Gesetzentwurf schafft neue Teilhabechancen auf
em allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behin-
erungen, denen zur Zeit nur die Werkstatt für behin-
erte Menschen offen steht. Zur Zielgruppe des Gesetz-
ntwurfs gehören insbesondere behinderte Menschen,
ie vor der Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte
enschen stehen, also in erster Linie junge behinderte
enschen, denen eine berufsvorbereitende Maßnahme
der eine Berufsausbildung wegen Art oder Schwere ih-
er Behinderung nicht möglich ist.
Zusätzlich ist die „Unterstützte Beschäftigung“ ge-
acht für Menschen, bei denen sich beispielsweise we-
en eines Unfalls oder einer physischen oder psychi-
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schen Erkrankung im Laufe ihres Erwerbslebens eine
Behinderung eingestellt hat.
Die neue Leistung „Unterstützte Beschäftigung“ glie-
dert sich in zwei Phasen. Die erste Phase ist die „indivi-
duelle betriebliche Qualifizierung“, die in der Regel
zwei Jahre dauert und mit einem regulären Arbeitsver-
hältnis endet. Daran schließt sich der zweite Baustein
der „Unterstützten Beschäftigung“, die „Berufsbeglei-
tung“ an. Die „Berufsbegleitung“ wird dann geleistet,
wenn weitere Begleitung nötig ist, um den Arbeitsplatz
zu sichern. Der Mensch mit Behinderung ist also nicht
auf sich allein gestellt, wenn er den Sprung in ein regulä-
res Arbeitsverhältnis geschafft hat und auf weitere Un-
terstützung angewiesen ist.
Wir wollen, dass Absolventen von Förderschulen in
der Praxis nicht automatisch in die Werkstatt für behin-
derte Menschen gehen. Diesem Ziel dient der Gesetzent-
wurf. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch,
Schulpraktika für behinderte Jugendliche vermehrt in
Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes anzubieten.
Hier sind weitere Anstrengungen zu unternehmen.
Für die CDU/CSU ist es wichtig, dass mit dem Ge-
setzentwurf ein Weg beschritten wird, der dem Men-
schen eine praxis- und betriebsorientierte Teilhabe-
chance eröffnet. Die neue Leistung „Unterstützte
Beschäftigung“ geht vom Prinzip „Erst platzieren, dann
qualifizieren“ aus. Das heißt, es wird zuerst einmal ein
Platz für den behinderten Menschen in einem Unterneh-
men gesucht. Dann kann der behinderte Mensch erpro-
ben, welche Tätigkeit er am besten ausüben kann. Spe-
zielle Betreuer qualifizieren den behinderten Menschen
anschließend für eine ganz konkrete Tätigkeit im Unter-
nehmen. Das Prinzip „Erst platzieren, dann qualifizie-
ren“ ist keine fixe Idee von Politikern. In der Praxis hat
es sich schon vielfach bewährt. Dies zeigt die erfolgrei-
che Arbeit von Leistungsanbietern, wie beispielsweise
der Hamburger Arbeitsassistenz oder Access Erlangen.
Menschen mit Behinderungen dürfen nicht in der
neuen Maßnahme „zementiert“ sein. Vielmehr muss eine
Durchlässigkeit zwischen einzelnen Maßnahmen beste-
hen. Die Maßnahme „Unterstützte Beschäftigung“
berücksichtigt deshalb, dass sich in der Phase der „indi-
viduellen betrieblichen Qualifizierung“ andere Maßnah-
men als bedarfsgerechter herausstellen können. In diesen
Fällen gibt es die Möglichkeit, alternativ zur „Unter-
stützten Beschäftigung“ beispielsweise berufsvorberei-
tende Berufsbildungsmaßnahmen, eine Berufsausbil-
dung oder Leistungen in einer Werkstatt für behinderte
Menschen durchzuführen.
Die positiven Seiten der neuen Maßnahme zu nennen,
heißt aber nicht zu verschweigen, was die „Unterstützte
Beschäftigung“ nicht leistet. Ich bin mir bewusst, dass
der Gesetzentwurf noch nicht Teilhabelösungen auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt aufzeigt für die vielen behin-
derten Menschen, die sich zurzeit in Werkstätten für be-
hinderte Menschen befinden. Wie Sie vielleicht wissen,
steigt die Zahl der behinderten Menschen in Werkstätten
stetig an. Von 1994 bis 2006 stieg die Zahl der Men-
schen in Werkstätten um etwa 80 Prozent von
150 000 auf 270 000. Ein Ende des Zulaufs zu Werkstät-
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en für behinderte Menschen ist nicht in Sicht. Die CDU/
SU-Bundestagsfraktion glaubt nicht, dass mit derzeit
twa 1 bzw. 3 Prozent ausgelagerten Werkstattplätzen im
erufsbildungs- und Arbeitsbereich und unter 1 Prozent
bergängen aus Werkstätten auf den allgemeinen Ar-
eitsmarkt die Möglichkeiten für werkstattberechtigte
enschen ausgeschöpft sind. Ich bin fest davon über-
eugt, dass für behinderte Menschen mehr Möglichkei-
en geschaffen werden können. Auch und gerade im Ar-
eitsleben kommt es darauf an, ein selbstverständliches
iteinander von Menschen mit und ohne Behinderun-
en zu stärken. Behinderten Menschen mehr Teilhabe-
hancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einzuräu-
en, bleibt eine Aufgabe, der wir uns weiter zu stellen
aben.
Die neue Leistung „Unterstützte Beschäftigung“ ist
in Mosaikstein des Ziels von CDU/CSU und der Koali-
ion, mehr Teilhabechancen für behinderte Menschen
uf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Für
en Erfolg der neuen Leistung wird es darauf ankom-
en, die Rahmenbedingungen an funktionierenden For-
en der „unterstützten Beschäftigung“ zu orientieren.
s wird insbesondere auf eine ausreichend intensive und
ndividuelle Betreuung der behinderten Menschen auf
em Arbeitsplatz während der gesamten Maßnahme an-
ommen. Hinzu müssen finanzielle Leistungen an den
rbeitgeber kommen, wenn nur so das Arbeitsverhältnis
esichert werden kann. Wir hoffen bei der Umsetzung
atürlich auch auf die Unterstützung durch Arbeitgeber.
enschen mit Behinderungen müssen eine Chance er-
alten, zu zeigen, dass sie eine Bereicherung für einen
etrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sein können.
Jörg Rohde (FDP): Die berufliche Teilhabe behin-
erter Menschen ist eine der größten Herausforderungen
n der Politik für Menschen mit Behinderung. Berufliche
eilhabe bedeutet für den behinderten Menschen die An-
rkennung seiner Fähigkeiten und den Respekt vor sei-
er Arbeitsleistung. Sie trägt dem Wunsch vieler
chwerbehinderter Rechnung, nicht in einer Werkstatt
ür behinderte Menschen, sondern im ersten Arbeits-
arkt einer Tätigkeit nachzugehen. Es ist deshalb Auf-
abe des Gesetzgebers, die geeigneten Rahmenbedin-
ungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu schaffen,
amit die Integration behinderter Menschen in den ers-
en Arbeitsmarkt gelingt. Geeignete Rahmenbedingun-
en heißt in diesem Zusammenhang: der Bau einer
rücke von der Werkstatt oder ähnlichen Beschäftigungs-
ngeboten für behinderte Menschen in den ersten Ar-
eitsmarkt. Nötig ist dieser Brückenbau, weil der über-
iegende Teil der Betroffenen bislang nicht mit den
nforderungen des ersten Arbeitsmarktes konfrontiert
ar und in der ersten Zeit im neuen Job ergänzende Un-
erstützung benötigt, zum Beispiel durch berufliche Qua-
ifizierungsmaßnahmen, aber auch durch persönlich-
eitsbildende Begleitung.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erkennt die
undesregierung diesen Unterstützungsbedarf behinder-
er Erwerbstätiger ausdrücklich an und stellt die perso-
enzentrierte Hilfe in den Vordergrund. Denn wie auch
ei der Vermittlung und Förderung Langzeitarbeitsloser,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19641
(A) )
(B) )
Geringqualifizierter oder anderer Erwerbsloser mit Ver-
mittlungshemmnissen gilt auch für die Integration behin-
derter Menschen: Jedes Hilfsangebot muss dem indivi-
duellen Hilfebedarf des behinderten Menschen und den
Besonderheiten seines Arbeitsplatzes im ersten Arbeits-
markt gerecht werden. Nur mit maßgeschneiderten Hil-
fen kann es gelingen, ein langfristig solides und wirt-
schaftliches Arbeitsverhältnis zwischen dem behinderten
Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber herzustellen. Leider
folgen die Regierungsfraktionen diesem Grundsatz ins-
gesamt in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik viel zu
selten.
Die FDP erkennt an, dass die Bundesregierung mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf ein individuelles Un-
terstützungsangebot schaffen möchte. Wie so oft ist es
der Bundesregierung allerdings auch in diesem Gesetz-
gebungsverfahren nicht gelungen, einen Entwurf vorzu-
legen, dem die Interessenvertretungen behinderter Men-
schen sowie die ausführenden Länder und Kommunen
uneingeschränkt zustimmen können. So wird zum Bei-
spiel von Behindertenverbänden über Länder und Kom-
munen bis hin zu den Arbeitgebern kritisiert, dass die für
die Unterstützung infrage kommende Zielgruppe nicht
hinreichend klar definiert ist. Auch die ohnehin ange-
spannte finanzielle Lage der meisten Integrationsämter
findet im vorliegenden Gesetzentwurf keine Würdigung,
obwohl auf diese mittel- und langfristig weitere finan-
zielle Belastungen durch die Nachbetreuung behinderter
Erwerbstätiger zukommen dürften. Nicht zuletzt deshalb
hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme die Bundesre-
gierung zum wiederholten Male ermahnt, die Grundla-
gen für Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeit und
Wohnen behinderter Menschen endlich auf ein neues ge-
setzliches Fundament zu stellen.
Schließlich ist zu bezweifeln, ob das Instrument der
unterstützten Beschäftigung in der vorliegenden Fassung
dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Arbeitneh-
mers in größtmöglichem Maße Rechnung trägt.
Die FDP kritisiert ferner ausdrücklich die völlig un-
zulängliche parlamentarische Behandlung dieses wichti-
gen sozialpolitischen Themas: Die erste Lesung erfolgt
zu so vorgerückter Stunde, dass keine mündliche Aus-
sprache mehr erfolgen kann, für die Anhörung im Aus-
schuss für Arbeit und Soziales sollen nur 60 Minuten zur
Verfügung stehen, und die zweite und dritte Lesung soll
nach Willen der Regierungsfraktionen erneut erst zu
nachtschlafender Zeit erfolgen. Dieses Vorgehen wird
der Bedeutung des Themas in keiner Weise gerecht.
Die FDP erwartet bei uneingeschränkter Zustimmung
zum Ziel der Teilhabe behinderter Menschen am ersten
Arbeitsmarkt eine kritische Auseinandersetzung mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf im Ausschuss für Arbeit
und Soziales, damit die Ziele des Gesetzentwurfes in der
Praxis auch erreicht werden können. Hier dürfte es noch
erheblichen Korrekturbedarf geben.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Über 3 Millionen Ar-
beitslose meldete die Bundesagentur für Arbeit für Sep-
tember 2008, darunter mehr als 150 000 schwerbehin-
derte Arbeitslose. Die Daten sind aber längst nicht
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omplett. Die 69 Optionskommunen führen bezüglich
rbeitsvermittlung behinderter Menschen keine Statisti-
en, Arbeitslose in Maßnahmen werden nicht erfasst und
iele Menschen mit Behinderungen sind aus unter-
chiedlichsten Gründen nicht mehr als arbeitsuchend re-
istriert. Vom Rückgang der Arbeitslosigkeit haben Men-
chen mit Behinderungen am wenigsten partizipiert – hier
st die Arbeitslosenquote doppelt so hoch, wie bei Nicht-
ehinderten.
Das ist die Situation trotz der vielen Maßnahmen und
ktivitäten des Bundes, welche im Bericht der Bundesre-
ierung über die Wirkung der Instrumente zur Sicherung
on Beschäftigung und zur betrieblichen Prävention darge-
gt wird. Übrigens: Dieser Bericht, Drucksache 16/6044,
om 2. Juli 2007 wurde bis heute nicht von der Koalition
uf die Tagesordnung gesetzt. Warum wohl?
Nun legt die Bundesregierung im Eilverfahren – eine
nhörung im zuständigen Ausschuss ist für den 5. No-
ember und die 2./3. Lesung im Bundestag ist für den
3. November geplant – den „Gesetzentwurf zur Einfüh-
ung Unterstützter Beschäftigung“ vor.
Die Linke unterstützt das „Ziel der Unterstützten Be-
chäftigung (ist), behinderten Menschen mit besonderem
nterstützungsbedarf eine angemessene, geeignete und
ozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ermögli-
hen und zu erhalten“ (siehe § 38 a). Ergänzend möchte
ch anmerken, dass wir hier Arbeit meinen, von der man
uch leben kann. Menschen mit Behinderungen sollen
hren gesamten Lohn für ihren Lebensunterhalt wie alle
nderen auch behalten können und nicht bis auf den ge-
ing bemessenen Selbstbehalt nach SGB XII für die be-
inderungsbedingten Mehrbedarfe wieder abführen
üssen.
Der Ansatz des Gesetzentwurfs zur Einführung Un-
erstützter Beschäftigung – erst platzieren, dann qualifi-
ieren – ist grundsätzlich sinnvoll. Menschen mit Behin-
erungen brauchen mehr Chancen, einen Arbeitsplatz
uf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu erlangen.
ie Tendenz, dass immer mehr Menschen mit Behinde-
ungen lebenslänglich in Aussonderungseinrichtungen
eparkt werden – von der (Aus)Sonderschule zur
Aus)Sonderberufsschule und dann zur Beschäftigung in
iner Werkstatt für Menschen mit Behinderungen – muss
ufgebrochen werden. Spätestens mit der Ratifizierung
er UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit
ehinderungen müsste das auch in diesem Hohen Haus
lar und einleuchtend sein.
Insofern begrüße ich auch ausdrücklich den Bezug
uf diese Konvention im Gesetzentwurf. Maßstab ist
ier insbesondere der Artikel 27 „Arbeit und Beschäfti-
ung“, den ich (gekürzt) zitieren möchte:
1. Die Vertragsstaaten erkennen das gleichberech-
tigte Recht behinderter Menschen auf Arbeit an;
dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den
Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in
einem offenen, integrativen und für behinderte
Menschen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeits-
umfeld frei gewählt oder angenommen wurde. Die
Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirkli-
19642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
chung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für
Menschen, die während der Beschäftigung eine Be-
hinderung erwerben, durch geeignete Schritte, ein-
schließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um
unter anderem
a) Diskriminierung auf Grund einer Behinderung in
allen Fragen der Beschäftigung jeder Art, ein-
schließlich der Bedingungen in Bezug auf Rekrutie-
rung, Einstellung und Beschäftigung, Weiterbe-
schäftigung, Aufstieg sowie sichere und gesunde
Arbeitsbedingungen, zu verbieten;
b) das gleichberechtigte Recht behinderter Men-
schen auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedin-
gungen, einschließlich Chancengleichheit, gleiches
Entgelt für gleichwertige Arbeit, sichere und ge-
sunde Arbeitsbedingungen, einschließlich Schutz
vor Belästigungen, und Abhilfe bei Beschwerden
zu schützen;
d) behinderten Menschen wirksamen Zugang zu
allgemeinen fachlichen und beruflichen Beratungs-
programmen, Stellenvermittlung sowie Berufsaus-
bildung und Weiterbildung zu ermöglichen;
e) Beschäftigungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für
behinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt sowie
Unterstützung bei der Arbeitsuche, dem Erwerb
und der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes und
beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu för-
dern;
g) behinderte Menschen im öffentlichen Sektor zu
beschäftigen;
h) die Beschäftigung behinderter Menschen im pri-
vaten Sektor durch geeignete Strategien und Maß-
nahmen, wie gegebenenfalls Förderprogramme,
Anreize und andere Maßnahmen, zu fördern;
i) sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemes-
sene Vorkehrungen für behinderte Menschen ge-
troffen werden;
k) Programme für die berufliche Rehabilitation, den
Erhalt des Arbeitsplatzes und den beruflichen Wie-
dereinstieg behinderter Menschen zu fördern.
Inwieweit wird aber das Gesetz zur Unterstützten Be-
schäftigung diesen Ansprüchen gerecht? Für die Linke
enthält der Gesetzentwurf noch eine Menge fragwürdi-
ger und ungeklärter Regelungen.
So ist es zu begrüßen, wenn der Bund Menschen mit
Behinderungen, die nicht im Sinne des Gesetzes als
schwerbehindert gelten, bei der Beschaffung von Arbeit
auf dem ersten Arbeitsmarkt helfen will. Gerade diese
Menschen fallen allzu oft durch jedes Raster. Als Ziel-
gruppen nennen Sie Absolventen von Förderschulen, die
nicht in der Lage sind, eine Berufsausbildung wahrzu-
nehmen und Menschen, die im Laufe ihres Lebens eine
Behinderung erfahren. Beide Gruppen sollen arbeits-
platzbegleitend eine maximal zweijährige Ausbildung
erhalten. Aber was dann? Wie wird danach die notwen-
dige dauerhafte Förderung bzw. Assistenz zum Erhalt
des Arbeitsplatzes gesichert?
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Und weiter: Das Gesetzentwurf will die Informations-
flicht der Bundesagentur für Arbeit über die Beschäfti-
ungsquote schwerbehinderter Menschen bei öffentli-
hen Arbeitgebern abschaffen. Wem nützt das? Wenn
er Überblick fehlt, ist auch ein effizienter Einsatz von
itteln für die Förderung von Arbeit für Menschen mit
ehinderungen nicht möglich. Deswegen ist die Ab-
chaffung der Informationspflicht für die Linke nicht ak-
eptabel.
Überhaupt nicht nachvollziehbar bleibt die bereits
ollzogene Umstrukturierung der ZAV (Zentralstelle für
rbeitsvermittlung) trotz nachgewiesener Vermittlungs-
rfolge von schwerbehinderten Akademikerinnen und
kademikern. Die vielfachen Hinweise, Proteste und
emonstrationen der Betroffenen blieben ungehört.
Gegen Einsparungen an sich – wie sie laut Gesetzent-
urf erwartet werden – hat auch die Linke nichts einzu-
enden. Dagegen sind wir aber, wenn es auf Kosten der
etroffenen geht. Das ist Sparen an der falschen Stelle.
Am 13. November ist die erste Lesung des Gesetzent-
urfes zur Ratifizierung der UN-Konvention über die
echte der Menschen mit Behinderungen auf der Tages-
rdnung des Bundestages. Ein Umsetzungs- bzw. Voll-
ugsgesetz hält die Bundesregierung für nicht erforder-
ich und auch das vorliegende Gesetz zur Unterstützten
eschäftigung leistet dazu keinen wirklichen Beitrag.
Deshalb stimmt die Linke folgender Forderung des
undesrates (siehe Stellungnahme des Bundesrates zum
esetzentwurf, Punkt 1 d) zu – ich zitiere: „Der Bundes-
at fordert die Bundesregierung auf, in einem umfassen-
en Gesetzesvorhaben die gleichberechtigte und selbst-
estimmte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von
nfang an bei Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeit
nd Wohnen zu ermöglichen und die gesetzlichen
rundlagen dafür zu schaffen bzw. zu verbessern.“ So
in Gesetz wäre ein wichtiger und richtiger Beitrag zur
msetzung der UN-Konvention.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rundsätzlich ist für einige Menschen mit Behinderung
ie Leistung „Unterstützte Beschäftigung“ ein hilfrei-
hes Angebot, weil sie die Teilhabe am Arbeitsleben be-
arfsgerecht und personenzentriert verbessern kann. In-
ofern begrüßen wir die Initiative der Bundesregierung.
Gefährlich wird es aber dann, wenn die vielen Kritik-
unkte an dem Gesetzentwurf nicht beachtet werden.
ann nämlich kehrt sich die Absicht, mehr Möglichkei-
en zur beruflichen Teilhabe herzustellen, ganz schnell in
hr Gegenteil um und schränkt die Wunsch- und Wahl-
echte der betroffenen Menschen de facto ein. Um es
onkret zu machen: Wenn die noch offenen Fragen der
ualitätsstandards, der Rückkehrmöglichkeit in die
erkstatt oder der langfristigen Finanzierung nicht im
inne der Betroffenen geklärt werden, droht diesen Per-
onen eine äußerst prekäre Situation auf dem Arbeits-
arkt.
Ich verlange von der Bundesregierung, dieses Risiko
rnst zu nehmen und nicht herunterzuspielen. Denn es ist
och so: Ohne einen ausreichenden und dauerhaften
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19643
(A) )
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Nachteilsausgleich hat insbesondere der Personenkreis,
der ohne ambulante Unterstützung auf die Leistungen ei-
ner Werkstatt für behinderte Menschen angewiesen
wäre, mittel- bis langfristig kaum eine Perspektive auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Wir werden die einzelnen Kritikpunkte im Ausschuss
und in der geplanten Anhörung diskutieren. Doch lassen
Sie mich an dieser Stelle noch eine weitere Sorge zum
Ausdruck bringen, die für mich doch exemplarisch be-
legt, mit wie vielen Unsicherheiten dieser Gesetzentwurf
noch behaftet ist:
Die „Berufsbegleitung“ im Anschluss an die „Indivi-
duelle betriebliche Qualifizierung“ stellt eine zusätzliche
Leistung für die Personen mit besonders hohem Unter-
stützungsbedarf dar. Sie kann und darf nicht als Substitut
für nachfolgende Eingliederungszuschüsse der Bundes-
agentur für Arbeit angesehen werden. Genau diese Auf-
fassung vertritt jedoch die BA, die sich damit einmal
mehr der Finanzierungsverantwortung entziehen
möchte. Hier muss die Bundesregierung schon im Vor-
feld klarstellen, dass zukünftig sowohl Eingliederungs-
zuschüsse der BA als auch Begleitung im Arbeitsleben
durch die Integrationsämter weiterhin zur Verfügung ste-
hen.
Unabhängig von den genannten Kritikpunkten stehen
Bündnis 90/Die Grünen für einen umfassenderen Ansatz
zur beruflichen Teilhabe behinderter Menschen. Denn
auch bei einer guten Ausgestaltung des neuen Fördertat-
bestandes kann dieser nur ein Mosaiksteinchen in der
ganzheitlichen Förderung für alle Menschen mit hohem
Unterstützungsbedarf darstellen.
Im Sinne einer Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts
müssen nach unserer Auffassung alle Menschen mit Be-
hinderungen – unabhängig von der Art oder Schwere ih-
rer Behinderung – in die Lage versetzt werden, selbst
entscheiden zu können, in welcher Form sie am Arbeits-
leben teilhaben möchten. Entscheidend ist, dass sie indi-
viduell gefördert und bei Bedarf nach dem Prinzip des
Nachteilsausgleichs dauerhaft unterstützt werden.
Zu einem dauerhaften Nachteilsausgleich gehört auch
die Möglichkeit, aus verschiedenen Unterstützungsfor-
men zu wählen. Unterstützte Beschäftigung im ur-
sprünglichen Sinne ist dabei viel weiter angelegt, als nun
von der Bundesregierung intendiert. Grundlegend für
diese Idee ist, dass auch stark leistungsgeminderte Per-
sonen Arbeitsplätze außerhalb einer Werkstatt finden
können. Das eigentliche Konzept der Unterstützten Be-
schäftigung geht vom Menschen aus, erfindet und ge-
staltet neue passgenaue (Nischen-)Arbeitsplätze und ori-
entiert sich dabei an den Fähigkeiten, Wünschen und
Potenzialen des behinderten Menschen. Neben der frü-
hen Vorbereitung in der Schule, gegebenenfalls dauer-
haften Unterstützung und Qualifizierung werden die
Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit berück-
sichtigt. Eine sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung wird nicht notwendigerweise angestrebt.
Kostenträger sowohl des Minderleistungsausgleichs
als auch der Formen der Unterstützten Beschäftigung
müssen nach unserer Auffassung sowohl die Träger für
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eistungen in Werkstätten für behinderte Menschen als
uch die Integrationsämter sein. Auch die Bundesagen-
ur für Arbeit, die nach dem Übergang des behinderten
enschen vom Berufsbildungsbereich in den Arbeitsbe-
eich bislang ihre Trägerschaft verliert, sollte Finanzver-
ntwortung übernehmen. Nur so fällt für die Bundes-
gentur für Arbeit der negative Anreiz beim Übergang
on dem Berufsbildungs- in den Arbeitsbereich weg. Ein
est vereinbarter Finanzschlüssel sowie eine klare Struk-
urverantwortung eines Trägers kann diese Zwischenlö-
ung so gestalten, dass sie dem oder der Betroffenen
icht zum Negativen gereicht. Optimal und als mittel-
ristige Perspektive ist jedoch eine Zusammenführung
eistungsrechtlicher Vorschriften der Teilhabe am Ar-
eitsleben in einem Gesetz vonnöten.
Alles in allem müssten bei einer Gesamtbetrachtung
och viele Fragen im Detail geklärt werden. Sicher ist
ur eins: Die Bundesregierung verweigert sich eben die-
er Gesamtbetrachtung und liefert stattdessen Stück-
erk, das im schlimmsten Fall den Betroffenen zum Ne-
ativen gereicht.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eins anmerken:
ie im Gesetzentwurf geplante Abschaffung der Be-
ichtspflicht für öffentliche Arbeitgeber ist aus zweierlei
icht blanker Hohn. In der Begründung für diesen Punkt
eißt es, die Erfragung der Bundesagentur für Arbeit
ach der Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten
ürde keinen Anreiz für öffentliche Arbeitgeber darstel-
en, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Diese Be-
ründung ist völlig inakzeptabel! Die Berichtspflicht ist
or allem aus politischer Sicht sinnvoll, da sie ein wirk-
ames Kontrollinstrument zur Beschäftigungssituation
chwerbehinderter Menschen darstellt. Ich kann mir die-
en Punkt im Gesetzentwurf, der im übrigen vollkom-
en sachfremd ist und mit der Unterstützten Beschäfti-
ung überhaupt nichts zu tun hat, nur als Teil einer
olitischen Verhandlungsmasse vorstellen. Irgendwann
m Verlauf der parlamentarischen Auseinandersetzung
erden die Koalitionsfraktionen die Abschaffung der
erichtspflicht streichen und sich gegenseitig auf die
chultern klopfen. Der Rest des Gesetzentwurfes wird
ann wahrscheinlich samt bestehenden Kritikpunkten
bgesegnet. Ich fordere die Bundesregierung daher auf,
ieses offensichtliche Störmanöver aus dem Entwurf zu
treichen und die wirklich relevanten Unklarheiten anzu-
ehen!
Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
inister für Arbeit und Soziales: Der Teilhabe am Ar-
eitsleben kommt eine Schlüsselstellung zu. Denn an der
rbeit hängen Existenzgrundlage, Identität, Selbstach-
ung und Zugehörigkeitsgefühl. Arbeit und Kolleginnen
nd Kollegen zu haben, das bedeutet dazuzugehören und
as Leben in die eigene Hand nehmen zu können. Es be-
eutet, aus eigener Kraft Unabhängigkeit und Selbst-
tändigkeit zu erreichen. Diese Erwartung haben auch
enschen mit Behinderungen. Allerdings stoßen sie auf
em allgemeinen Arbeitsmarkt immer noch auf hohe
ürden. Die Bundesregierung will ihnen dabei helfen,
iese Hindernisse zu überwinden. Aus diesem Grund
ühren wir mit der „Unterstützten Beschäftigung“ eine
19644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
(B) )
neue Fördermöglichkeit im Sozialgesetzbuch III ein. Sie
soll behinderten Menschen mit einem besonderen Unter-
stützungsbedarf bei der Integration in eine sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung helfen.
Wen wollen wir mithilfe der Bundesagentur für Ar-
beit fördern? Wir wollen Schulabgängerinnen und
Schulabgänger aus Förderschulen den Übergang von der
Schule in den Beruf erleichtern, und wir wollen denen,
die im Laufe ihres Erwerbslebens behindert werden, den
Wiedereinstieg erleichtern. Dabei konzentrieren wir die
Unterstützung auf diejenigen, die in einer Berufsausbil-
dung oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen überfor-
dert, in einer Werkstatt für behinderte Menschen aber
unterfordert wären. Denn „Unterstützte Beschäftigung“
ist – und das ist wichtig – nachrangig zu berufsvorberei-
tenden Maßnahmen und Berufsausbildungen.
Wie sieht die Förderung aus? Dem genannten Perso-
nenkreis wird künftig eine individuelle betriebliche Qua-
lifizierung angeboten. Dabei handelt es sich um eine Re-
habilitationsmaßnahme, die bis zu zwei Jahre, in
Ausnahmefällen bis zu drei Jahre dauert. Während die-
ser Zeit wird der Teilnehmer nach dem Prinzip „Erst
platzieren, dann qualifizieren“ auf verschiedenen Quali-
fizierungsplätzen direkt im Betrieb auf eine Beschäfti-
gung vorbereitet. Dabei wird er von einem Jobcoach un-
terstützt. Es geht nicht um ein reines Anlernen, sondern
um eine umfassende Qualifizierung, orientiert an den
individuellen Fähigkeiten, inklusive der Vermittlung
von Schlüsselqualifikationen und berufsübergreifenden
Kenntnissen.
Wenn nach der Qualifizierung ein Arbeitsvertrag zu-
stande kommt, dann kann der behinderte Mitarbeiter die
Unterstützung des Jobcoaches bei Bedarf über die Be-
rufsbegleitung weiter in Anspruch nehmen. Dafür wer-
den in der Regel die Integrationsämter zuständig sein.
Damit die Qualifikationsangebote auch einen ange-
messenen Standard halten, formulieren wir im Gesetz
klare Qualitätskriterien. Außerdem bekommen die zu-
ständigen Leistungsträger die Vorgabe, eine gemeinsame
Empfehlung zur Qualität in der „Unterstützten Beschäf-
tigung“ zu erarbeiten. Die Einhaltung der Qualitätskrite-
rien wird Voraussetzung dafür sein, dass ein Dienstleis-
ter mit der Durchführung „Unterstützter Beschäftigung“
beauftragt werden kann.
Mit diesen Regelungen schaffen wir die Grundlage
dafür, dass „Unterstützte Beschäftigung“ künftig bun-
desweit angeboten werden kann. Dadurch werden neue
Chancen auf Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeits-
markt wachsen.
Ich hoffe, dass der Ansatz der „Unterstützten Be-
schäftigung“ auch auf andere Bereiche ausstrahlen wird.
Denn Menschen mit Behinderungen haben ein Recht
darauf, voll am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben –
in der Schule, in der Ausbildung, in der Arbeitswelt.
Dies ist möglich, wenn man die Unterstützung konse-
quent individuell organisiert. Mit dem neuen Instrument
der „Unterstützten Beschäftigung“ zeigen wir, wie eine
individuelle Förderung funktionieren kann. Die Perspek-
tive ist volle Teilhabe. Helfen Sie bitte mit Ihrer Zustim-
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ung zu diesem Gesetz mit, dass diese Perspektive Rea-
ität werden kann.
nlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung von
Vorschriften auf dem Gebiet des ökologi-
schen Landbaus an die Verordnung (EG)
Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007
über die ökologische/biologische Produktion
und die Kennzeichnung von ökologischen/
biologischen Erzeugnissen und zur Aufhe-
bung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91
– Beschlussempfehlung und Bericht: For-
schung für den ökologischen Landbau aus-
bauen
(Tagesordnungspunkt 23 a und 23 b)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Wir beschließen
eute die Umsetzung von Änderungen der gemeinschaft-
ichen Rahmenvorschriften für den ökologischen Land-
au. Sie gelten ab dem 1. Januar 2009. Zwei Vorgaben
achten dieses Gesetzesverfahren notwendig.
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
egte uns einen Punkt zur Abarbeitung vor. Aufgrund des
rteils musste das Niederlassungserfordernis für Kon-
rollstellen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäi-
chen Union im Öko-Landbaugesetz gestrichen werden.
ie Änderung der EG-Öko-Basisverordnung wiederum
achte eine weitere wichtige Änderung notwendig. So
üssen Einrichtungen der Außer-Haus-Verpflegung, wie
aststätten, Kantinen und Großküchen explizit in den
egelungsbereich der Kontroll- und Kennzeichnungs-
orschriften der erwähnten EG-Öko-Basisverordnung
inbezogen werden. Vor dem Hintergrund des geänder-
en Gemeinschaftsrechts erhalten wir ihnen damit den
tatus quo. Die bereits erwähnte Änderung der EG-Öko-
asisverordnung zog nach sich, dass die Straf- und Buß-
eldvorschriften des Öko-Landbaugesetzes überarbeitet
erden mussten.
Der Bundesrat hatte uns in einer Stellungnahme Ände-
ungswünsche zum Gesetzentwurf für die im zuständigen
andwirtschaftsausschuss erfolgte Beratung mitgegeben.
ie Wünsche hielten sich jedoch in weiten Teilen im
ahmen des bestehenden Konzepts und waren teilweise
uch nur technischer und redaktioneller Natur. Die
oalition hat in ihrem Änderungsantrag zum Gesetzent-
urf einige Punkte davon aufgenommen. Das sind die
unkte: eingeschränkter Personenkreis bei der Auf-
abenübertragung, ersatzweise Wahrnehmung der Kon-
ollaufgaben nur durch andere Kontrollstellen, Ergänzung
er Informationspflichten der Kontrollstellen, Ergänzung
er Bußgeldvorschriften sowie redaktionell-technische
larstellungen. Zudem haben wir in leicht veränderter
assung aufgenommen, die aufschiebende Bedingung zu
treichen, die das Wirksamwerden der Zulassung einer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19645
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Kontrollstelle an die darauffolgende Aufgabenübertra-
gung durch die Länder knüpft. Dem konnte mit der Er-
gänzung zugestimmt werden, dass Nebenbestimmungen
bei der Zulassung von Öko-Kontrollstellen zusätzlich
auch zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Kontroll-
systems zulässig sind.
Weitere Änderungsvorschläge konnten aus unter-
schiedlichsten Gründen leider nicht berücksichtigt wer-
den. So konnte wegen verfassungsrechtlicher Bedenken
der Vorschlag zur Aufgabenteilung zwischen Bund und
Ländern – Stichwort Mischverwaltung – nicht aufge-
nommen werden. In meiner Rede zur Einbringung des
Gesetzentwurfes erwähnte ich den positiven Wunsch des
Bundesrates auf Erweiterung der Mitteilungspflichten
der Importeure bei der Einfuhr von Öko-Produkten aus
Drittländern. Hier mussten wir leider zur Kenntnis neh-
men, dass dieses Verfahren dem geltenden Gemein-
schaftsrecht widersprechen würde und auch WTO-recht-
lich angreifbar wäre.
Wir haben alles in allem den vom Bundesrat verfolg-
ten Anliegen soweit wie möglich Rechnung getragen.
Die Länder sind an einem rechtzeitigen Inkrafttreten des
geänderten Öko-Landbaugesetzes zum 1. Januar 2009
sehr interessiert. Andernfalls droht wegen der zum
1. Januar 2009 geänderten Gemeinschaftsrechtslage er-
hebliche Rechtsunsicherheit im Vollzug. Daher bin ich
mir sicher, dass – auch wenn nicht allen Vorschlägen ge-
folgt werden konnte – mit einer Zustimmung des Bun-
desrates im zweiten Durchgang zu rechnen ist.
Abschließend noch ein Wort zum Entschließungsan-
trag der Grünen. Für mich sieht parlamentarische Eti-
kette anders aus. Mein Standpunkt ist und bleibt, dass
ich einem weiteren Bürokratieaufbau mittels eines neu
zu schaffenden Beirates nicht zustimmen werde. Dass
ich keine Vorurteile hege, kann ich auch als CSU-Vertre-
terin mit einem Zitat von Friedrich Engels unterlegen,
mit dem ich meine Rede beenden möchte:
Niemand kann für eine Sache kämpfen, ohne sich
Feinde zu schaffen.
Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute in zweiter
und dritter Lesung über ein neues Gesetz zur Anpassung
der Vorschriften für den ökologischen Landbau. Damit
passen wir das Gesetz an die umfangreich geänderte und
zum 1. Januar 2009 in Kraft tretende EG-Öko-Basisver-
ordnung an. Wie wir aus erster Lesung bereits wissen,
betreffen die Änderungen insbesondere das europäische
Kontrollsystem und die Kennzeichnung ökologisch er-
zeugter Produkte. Kontrolle und Kennzeichnung der Au-
ßer-Haus-Verpflegung müssen explizit einbezogen und
daher angepasst werden. Auch dient die Vorlage der
Umsetzung des anhängigen EuGH-Urteils zur Niederlas-
sungspflicht von Kontrollstellen.
Wie die gestrigen Ausschussberatungen gezeigt ha-
ben, waren diese Punkte durchweg unstrittig, sodass wir
den straffen Zeitplan des Verfahrens gut gehalten haben.
Ich freue mich, dass uns die überfraktionelle Zusammen-
arbeit unter den Berichterstattern so gut gelungen ist,
dass wir das parlamentarische Verfahren jetzt planmäßig
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bschließen können. Die Zustimmung des Bundesrates
orausgesetzt wird unser Gesetz pünktlich zum 1. Januar
009 in Kraft sein.
Im Laufe der Beratungen kam immer deutlicher zu
age, dass die Länder die Interpretationsspielräume der
asisverordnung unterschiedlich nutzen. Die dadurch
ntstehenden Differenzen bei der Umsetzung der Kon-
rolle stellen nicht nur die Kontrollstellen vor Probleme.
ie bedeuten auch unterschiedliche Wettbewerbsbedin-
ungen für Unternehmen. Insbesondere für Unterneh-
en und Kontrollstellen, die in mehreren Bundesländern
ätig sind, wird es schwierig. Wettbewerbsverzerrungen
nd bürokratische Reibungsverluste gilt es auch in ei-
em föderalen System zu minimieren, und dazu möchte
ch die Länder aufrufen. Die zur Harmonisierung der
änderbestimmungen ins Leben gerufene Länderarbeits-
emeinschaft Ökologischer Landbau – kurz LÖK – muss
ich verbindlicher an ihre Beschlüsse halten. Ich erwarte
uch, dass sie sich mit den Wirtschaftsbeteiligten kon-
truktiv abstimmt, um die bestehenden Reibungspunkte
bzubauen.
Meine Gespräche mit Vertretern des Bundes, der Län-
er, der Konferenz der Kontrollstellen und des Bundes-
erbandes der Ökologischen Lebensmittelwirtschaft wa-
en davon geprägt, dass wir vorerst untergesetzlich
ösungen suchen. Sollte sich allerdings herausstellen,
ass weiterhin Unterschiede zwischen Baden-Württem-
erg und Bayern oder Mecklenburg-Vorpommern und
iedersachsen herrschen, müssen wir über die Einset-
ung eines Sachverständigenbeirates nachdenken. Ich
in nicht begeistert über weitere Beiräte und Gremien,
och sollte es notwendig werden, dann werden wir es
uch tun. Wir werden die Entwicklung genau beobach-
en, doch gehen wir vorerst davon aus, dass es den Ver-
ntwortlichen gelingt, gleiche Bedingungen zu schaffen.
chließlich handelt es sich auch hierbei um Effizienz-
teigerungen, die es auszuschöpfen gilt, um den wach-
enden Biomarkt von Hemmnissen zu befreien.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Wegen der geän-
erten Rechtslage in der EU müssen wir das Ökoland-
augesetz ändern. Ich hätte mir gewünscht, dass die
egierung die Gelegenheit beim Schopfe packt, die
ängel, über die seit über einem Jahr diskutiert wird,
it dieser Novelle abzuräumen.
Wir sind uns doch in diesem Hause alle einig, dass es
ür eine erfolgreiche Zukunft der ökologischen Land-
irtschaft unerlässlich ist, dass die Verbraucher Ver-
rauen in die Qualität der Produkte haben. Gerade ange-
ichts steigender Importe ist es wichtig, dass die
ontrollen transparent und effektiv sind. Und doch fehlt
em Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt die notwen-
ige Klarheit. Zwar sind einige Kritikpunkte des Bau-
rnverbandes, des Bundesverbandes Ökologischer Land-
au und der Vereinigung der Kontrollstellen aufgegriffen
orden, doch insbesondere einige Vorschläge zur größe-
en Effizienz der Kontrollen blieben unberücksichtigt.
Die bisherige Rechtspraxis ist geprägt von Zersplitte-
ung zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese Zer-
plitterung wirkt sich natürlich auf die Kontrollstellen und
19646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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auf die auf die Ökobauern umgelegten Kosten aus. Des-
wegen ist es dringend erforderlich, einen bundeseinheitli-
chen Rahmen vorzugeben, um Wettbewerbsnachteile der
deutschen Ökobauern gegenüber der europäischen Kon-
kurrenz abzubauen. Derzeit haben wir Dreifachprüfungen
durch unterschiedliche staatliche Stellen oder Institutio-
nen, die staatlich überwacht werden. Selbstverständlich
sind die Lebensmittel- und damit auch die Ökokontrollen
Ländersache. Doch bei allem Bekenntnis zum deutschen
Föderalismus dürfen die Ökokontrollen nicht in Klein-
staaterei verharren. Die kostenträchtigen und zeitintensi-
ven Doppel- und Dreifachprüfungen müssen endlich ein
Ende haben. In diesem Punkt hätte der Gesetzentwurf
dringend korrigiert werden müssen.
Auch die Forderung nach einem nationalen Beirat für
die Interpretation und Umsetzung der EU-Ökoverord-
nung wurde von der Koalition leider nicht ernsthaft in
Erwägung gezogen.
Die Novelle sollte eigentlich das Ziel haben, die
Überregulierung abzubauen, die Prüfqualität effizienter
und damit die Kontrollen kostengünstiger und transpa-
renter zu gestalten. Leider wird die Regierung trotz ein-
zelner Verbesserung diesem Ziel nicht gerecht.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Der deutsche
Ökolandbau hat in der Vergangenheit oft Maßstäbe ge-
setzt. Und das für ganz Europa. Dabei ist ein ansehnli-
ches Regelwerk entstanden. An diesem haben sowohl
die Pioniere des Ökolandbaus als auch kritische Verbrau-
cherinnen und Verbraucher aktiv mitgewirkt. Im Jahr
2007 wurde dieses Regelwerk auf EU-Ebene als Verord-
nung zum ökologischen Landbau novelliert. Jetzt müs-
sen wir es in Deutschland umsetzen. Die Besonderheit
hierzulande ist das aktive Engagement der Expertinnen
und Experten aus dem ökologischen Landbau, das heute
noch Ausdruck findet in der Organisation der vorwie-
gend privatrechtlich bestimmten Ökokontrolle. Das
Kontrollsystem für die Ökoprodukte hat sich über die
Jahre bewährt. Die Verbraucherinnen und Verbraucher
vertrauen dieser Kontrolle. Leider ist es nicht ganz ge-
lungen, diese Expertise bei der Entwicklung des Ge-
setzesentwurfs umfassend zu nutzen. Damit bleiben ei-
nige Unzulänglichkeiten im Gesetzentwurf bestehen. Es
sind vielleicht nur Details, aber sie würden im Ergebnis
einiges erleichtern.
Mit der Novelle der EU-Ökoverordnung ist eine staatli-
che verantwortete Kontrolle zwingend. Da die Kontrolle
aber im föderalen deutschen System zu den Länderaufga-
ben gehört, kann das zu Abgrenzungsproblemen führen.
Jedes Bundesland hat dann vielleicht seine eigene Rege-
lung, was problematisch wäre. Auch die Errichtung ei-
nes Sachverständigenrates beim Bundesamt für Land-
wirtschaft und Ernährung, der die Kontrollverfahren
bundesweit koordinieren könnte, wurde ausgeklammert.
Trotzdem ist die Verabschiedung des Gesetzes wich-
tig. Sonst würde die Bundesrepublik eine Fristverletzung
bei der Umsetzung der EU-Ökoverordnung riskieren.
Das könnte teuer werden.
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Der Ökolandbau spielt gerade in den neuen Bundes-
ändern eine besonders starke Rolle. Mecklenburg-Vor-
ommern und Brandenburg sind Spitzenreiter. Ökologi-
che Landwirtschaft bietet aus Sicht der Linken große
orteile. Die regionale Wertschöpfung und die Arbeits-
latzbindung sind vergleichsweise hoch. Die Produktion
rfolgt unter Schonung der natürlichen Ressourcen.
Dafür brauchen wir verlässliche Rahmenbedingun-
en, und deshalb stimmen wir dem Gesetzentwurf zu.
Nun zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen: Nach
hm soll die Forschung für den ökologischen Landbau in
eutschland und Europa ausgebaut werden. Die Linke
timmt auch diesem Antrag zu – allerdings bedauern wir,
ass die Grünen mit dieser Forderung immer wieder nur
hre eigene Klientel bedienen. Das macht sie nicht be-
onders glaubwürdig, denn eigentlich muss die Forde-
ung ganz klar lauten: Schluss mit dem Abbau der
grarforschung, denn wir brauchen nicht weniger, son-
ern deutlich mehr universitäre und außeruniversitäre
grarforschung! Das gilt für den Ökolandbau genauso
ie für die konventionelle Landwirtschaft.
Deutschland hat als Agrarforschungsstandort eine
roße Tradition und hat weltweit Maßstäbe gesetzt. Das
st vorbei. Der Wissenschaftsrat hat die Krise der Agrar-
orschung zutreffend beschrieben. Besonders in Ost-
eutschland sind Forschungsstandorte geschlossen oder
erkleinert worden. Auch der Agrarressortforschungsbe-
eich hat seit 1996 einen massiven Stellenabbau und
tandortschließungen zu verkraften, die unter Schwarz-
elb beschlossen und von Rot-Grün nicht korrigiert,
ondern umgesetzt wurden. Minister Seehofer hat den
tellenabbau fortgeschrieben und die Liste der zu schlie-
enden Standorte verlängert.
Die Entwicklungen in der ökologischen Landwirt-
chaft sind völlig konträr zu den gesellschaftlichen
rends. Die Bedeutung von Bio-Supermärkten und ökolo-
ischen Produkten in Discountern wächst kontinuierlich.
weistellige prozentuale Steigerungsraten im Verbrauch,
o viel wie in keinem anderen Produktionsbereich der
andwirtschaft, skizzieren viel Potenzial. Leider kommt
ie einheimische Erzeugerseite nicht nach. Hier müssen
ringend Impulse gesetzt werden. Dazu gehört der Aus-
au der Forschung. Institute und Projekte, die sich expli-
it mit Fragestellungen der ökologischen Landwirtschaft
eschäftigen, sind noch rar gesät. Im Vergleich zu For-
chungsmitteln, die für die Agro-Gentechnik ausgege-
en werden, ist die Ökolandbauforschung ungenügend.
ine Umschichtung ist dringend nötig.
Dabei gibt es viele Fragestellungen, die Betriebsleiter
nd Berater auf den Biobetrieben bewegen. In der Tier-
nd besonders in der Pflanzenzucht, in der Landtechnik
der im betrieblichen Management gibt es eine Vielzahl
on speziellen Fragen aus Sicht des Ökolandbaus an die
orschung. Doch diese werden zumeist gar nicht oder
enn, dann nur mit den begrenzten Mitteln des Thünen-
nstituts oder der wenigen anderen Einrichtungen bear-
eitet. Hinzu kommt, dass Drittmittelforschung auch nur
n geringem Umfang geleistet werden kann. Das ge-
amte wirtschaftliche Umfeld ist einfach noch zu klein.
er Staat ist hier in der Pflicht. Neben einer kontinuierli-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19647
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chen und nachhaltigen Erhöhung der Mittelausstattung
auf Bundesebene gehört auch das Engagement auf euro-
päischer Ebene dazu. In anderen Bereichen der For-
schung ist europäischen Forschungsplattformen dieses
bereits gelungen. Warum sollte das nicht auch für den
Ökolandbau klappen? Zumal die Entwicklung der ver-
gangenen Jahre zeigt, dass in ganz Europa das Interesse
an Produkten der Ökolandwirtschaft wächst und eine zu-
nehmende Anzahl von Menschen die Vorteile des Bio-
landbaus für Umwelt, Gesundheit und Natur erkennt.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Zahlen sind bekannt. Seit Jahren hat die Biobranche
zweistellige Zuwachsraten im Handel. Leider hat sich je-
doch seit der schwarz-roten Regierungsübernahme der
Wertschöpfungszuwachs im Bereich der ökologischen
Lebensmittelproduktion aus Deutschland nahezu verab-
schiedet. Die Abwehr des Ökolandbaus scheint immer
noch eine der großen ideologischen Bastionen der Union
zu sein.
In diesen Zusammenhang passt auch die Auslassung
des Kollegen Bleser, dass Hunderte Millionen Menschen
verhungern müssten, wenn wir die weltweite Ackerflä-
che nur ökologisch bebauen würden. Aber ich gehe da-
von aus, dass auch Sie, lieber Herr Kollege, mittlerweile
einen Blick in den Weltagrarbericht geworfen haben
bzw. über die Ergebnisse der FAO-Tagung zum Öko-
landbau informiert wurden. Beide bescheinigen nämlich
einer ökologischen, nachhaltigen Landwirtschaft in bäu-
erlichen Strukturen höchste Lösungskompetenz in Be-
zug auf die Welternährungskrise und auch den Klima-
schutz.
Die Stärkung des Ökolandbaus erfordert erstens eine
deutliche Anhebung der Umstellungs- und Beibehal-
tungsprämien sowie die Wiedereinführung des Förder-
tatbestandes „Ökologischer Landbau“ bei den Agrarin-
vestitionen, der einen um 10 Prozentpunkte erhöhten
Fördersatz von 35 Prozent ermöglicht. Sie erfordert
zweitens eine Überarbeitung des von der Regierung hier
vorgelegten Ökolandbaugesetzes. Vor allem die unein-
heitliche Interpretation und Umsetzung der EU-Ökover-
ordnung durch die einzelnen Bundesländer führen bei
Unternehmen und Kontrollstellen zu enormen Wettbe-
werbsverzerrungen und zusätzlichen Kosten.
Exemplarisch zu nennen sind hier unterschiedliche
Auslegungen bei der Etikettierung von Ökolebensmit-
teln, der Vergabe von Ausnahmegenehmigungen oder
der Verwendung von Aromen. Dieses Problem könnte
durch die Schaffung eines nationalen Beirats für die In-
terpretation und Umsetzung der EU-Ökoverordnung ge-
löst werden. Dieses beratende Gremium sollte paritä-
tisch mit Vertretern der Biobranche, der Kontrollstellen,
der Wissenschaft, des Bundesministeriums für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, der Bun-
desanstalt für Landwirtschaft und Ernährung sowie der
Länder besetzt werden.
Versäumt wurde es im Gesetzesentwurf auch, Klar-
heit über die Rolle und Aufgaben der Kontrollstellen so-
wie die Rechte und Pflichten der Unternehmen im Rah-
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en der Kontrolle zu schaffen. Hier muss noch einmal
achgearbeitet werden. Dabei muss erläutert werden,
ass die Kontrollpflicht auch für alle Unternehmen gilt,
ie lose Ware oder selbst abgepackte und etikettierte
are anbieten. Möglichkeiten zur Flexibilisierung von
rt und Umfang der Kontrolle sollten bundeseinheitlich
eregelt werden.
Eine Stärkung des Ökolandbaus erfordert drittens den
usbau der Forschung in diesem Bereich. Dazu fordern
ir die Umwandlung des Bundesprogramms Ökoland-
au in ein permanentes Forschungsprogramm und den
usbau des Instituts für Ökolandbau des Johann-
einrich-von-Thünen-Instituts sowie vermehrte interdis-
iplinäre, querschnittsorientierte Forschung zum Öko-
andbau auch an anderen Instituten. Gleichzeitig muss
as Forschungsbudget für den ökologischen Landbau
eutlich erhöht und auf bisher nahezu unbearbeitete For-
chungsfelder wie die ökologische Pflanzen- und Tier-
ucht, die ökologische Tier- und Pflanzenernährung, den
kologischen Weinbau und den biologischen Pflanzen-
chutz ausgeweitet werden.
nlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts:
– zu der Verordnung der Bundesregierung:
Verordnung zur Vereinfachung des Deponie-
rechts
– zu dem Antrag: Grenzwerte bei Müllver-
brennungsanlagen dem technischen Fort-
schritt anpassen und deutlich absenken
(Tagesordnungspunkt 29)
Michael Brand (CDU/CSU): Der vorliegende Ent-
urf einer Verordnung zur Vereinfachung des Deponie-
echts ist vom Ansatz her richtig und insgesamt auch
andwerklich solide umgesetzt. Den Fachleuten aus der
dministration in Bund und Ländern sowie aus den
ommunen und der Wirtschaft ist zu danken für den rei-
hen inhaltlichen Input in dieser für Nichtfachleute nur
chwer zu durchdringenden, sehr technischen Materie.
Dass die Konsolidierung der auf viele unterschiedli-
he Stellen verstreuten Vorschriften auch eine Überprü-
ung auf Notwendigkeiten sowie Möglichkeiten zur
traffung umfasst hat, ist zu begrüßen.
Nach dem Lob muss jedoch ein Aber und eine gut ge-
einte Warnung folgen. Es darf durch die Neuregelung
icht zu einer Aufweichung des durch TA Siedlungsab-
all und Abfallablagerungsverordnung niedergelegten
eponierungsverbotes für nicht vorbehandelte und somit
nerte Abfälle kommen. Aus eigener Anschauung weiß
ch sehr wohl, dass es sehr gute Gründe geben kann, im
inzelfall mit Zwischenlagerungsmöglichkeiten Engpäs-
en in der Entsorgung zu begegnen und Übergangsfris-
en einzuräumen.
19648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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Insgesamt jedoch muss es dabei bleiben: Die Prinzi-
pien und die Hierarchie der Kreislaufwirtschaft müssen
bestehen bleiben, und da rangiert vor der Deponierung
ganz klar die Verwertung. Bundesregierung und Bundes-
rat sind dazu aufgerufen, diese Hierarchie als einen zen-
tralen Pfeiler unserer Kreislauf- und Stoffstromwirt-
schaft nicht aus dem Gleichgewicht zu heben und
Übergangsfristen zu definieren, die nicht zu einer Wie-
dereröffnung von Deponien alter Prägung führen dürfen.
Dass die vorliegende Verordnung die entsprechend zu
integrierenden EU-Regelungen, hier die EG-Deponie-
richtlinie, in einem 1:1-Verhältnis angeglichen und dabei
auch vereinfacht hat, ist zu begrüßen und entspricht der
deutschen Position gegenüber europäischer Regulierung.
Dass wir dabei manche bereits implementierte deutsche
Qualitätslösung beibehalten, ist dann umso mehr zu be-
grüßen, wenn der drohende Flickenteppich von lokalen
und regionalen Ausnahmen nach dem Prinzip „Lässt du
mir meine Deponie, lass’ ich dir deine Deponie“ nicht
Platz greift, sondern ein insgesamt verantwortbares Re-
gime mit bundesweiter Gültigkeit im Bereich der Depo-
nierung durchgesetzt wird. Es muss Gültigkeit behalten,
was hier im Deutschen Bundestag übergreifend Konsens
ist: Moderne Deponien müssen nach dem geltenden
Stand der Technik ausgelegt sein, um Risiken für Um-
welt und Mensch zu minimieren.
Dass die Länder hier unterschiedliche Interessenlagen
haben, ist klar und nachvollziehbar. Dennoch befürwor-
ten wir als CDU/CSU klare Regelungen, die Grundwas-
ser und Klima schützen, die Verbraucher und Wirtschaft
bei Abgaben nicht über Gebühr belasten und die den
Ländern und Kommunen deren Aufgaben nicht unnötig
erschwerten.
Da wir nach dieser ersten Lesung durchaus mit einer
veränderten Verordnung rechnen, in der sich trotz Vorab-
stimmung die Interessen der Bundesländer niederschla-
gen werden, will ich abschließend für die CDU/CSU
nochmals feststellen: Die vorliegende Verordnung ist Er-
gebnis insgesamt guter Umsetzung eines lange und in-
tensiv von der Fachebene vorbereiteten Ansatzes zur
Entbürokratisierung einer wichtigen Umweltvorschrift.
Dass wir dabei für die Einhaltung hoher und explizit ge-
gen ein Dumping in Bezug auf Grundregeln unserer Um-
weltpolitik – Stichwort: Übergangsfrist statt Langzeitla-
ger – eintreten, trifft auf die Unterstützung der Mehrheit
der Beobachter.
Die CDU/CSU erteilt insgesamt diesem guten Ansatz
mit ihrer Zustimmung in der ersten Lesung eine gute
Note und blickt mit guter Erwartung auf die Ergebnisse
der zwischenzeitlichen Beratungen vor der zweiten Le-
sung hier im Deutschen Bundestag.
Gerd Bollmann (SPD): Seit dem 1. Juni 2005 gilt in
Deutschland das Deponierungsverbot für unbehandelten
Abfall. Seitdem dürfen nur noch vorbehandelte, biolo-
gisch inaktive Abfälle abgelagert werden. Das Ziel der
SPD und der Bundesregierung ist die möglichst vollstän-
dige Verwertung von Siedlungsabfällen bis zum Jahre
2020. Um es klarzustellen: Mit der jetzt besprochenen
Verordnung zur Vereinfachung des Deponierechts wird
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aran nichts geändert. Ab 2020 soll möglichst wenig
bfall – sprich: nur noch vorbehandelter Restmüll – de-
oniert werden. Es bleibt beim Deponierungsverbot für
nbehandelten Abfall, es bleibt bei genauen Kontrollen.
Es gibt aber bestehende Deponien. Es gibt die Reste
on behandelten Abfällen, die abgelagert werden müs-
en. Für bestehende Deponien bedarf es Regelungen.
as gleiche gilt für die Annahme von Abfällen. Diese
estimmungen sind bisher in der Deponieverordnung,
er Deponieverwertungsverordnung und der Ablage-
ungsverordnung geregelt. Darüber hinaus wurden Ein-
elheiten bei der Beschreibung der Beseitigungstechnik
n drei Verwaltungsvorschriften aus den 90er-Jahren ge-
egelt.
Diese äußerst knappe Darstellung des Deponierechts
eigt, wie zersplittert das Recht in diesem Bereich ist.
iese Zersplitterung führt zu zusätzlicher Bürokratie.
leichzeitig ist das Regelwerk in Teilen veraltet. Der
undesrat hat bereits 2002, anlässlich der Zustimmung
ur Deponieverordnung, die Bundesregierung in einer
ntschließung gebeten, das Deponierecht in einer inte-
rierten Verordnung zusammenzufassen. Die Bundesre-
ierung ist dieser Bitte mit dem vorliegenden Entwurf
achgekommen.
Der Verordnungsentwurf wurde in den vergangenen
onaten mit den Beteiligten der Länder, der Kommunen
nd der Wirtschaft intensiv beraten. Nach meinem
enntnisstand wird der Entwurf von allen Seiten be-
rüßt. Grundsätzlich gibt es meines Wissens Zustim-
ung von allen Seiten.
Damit kommen wir zu dem Ziel der heute vorliegen-
en Verordnung. Die bisher gültigen drei Verordnungen
nd drei technischen Anleitungen werden in einer Rege-
ung, der sogenannten integrierten Deponieverordnung,
usammengefasst. Ziel ist es, das Deponierecht zu ver-
inheitlichen, Doppelbestimmungen aufzuheben und
egelungen zusammenzufassen. Gleichzeitig werden
och notwendige Anpassungen an das europäische
echt vorgenommen. Keineswegs sinken aber die Um-
eltstandards.
Die neue Deponieverordnung setzt die auch im Ab-
allrecht begonnene Entbürokratisierung fort. Die An-
endung soll gleichzeitig einfacher und flexibler wer-
en. Dabei soll die Flexibilisierung nicht zulasten der
mwelt gehen. Vielmehr werden starre Regelungen
urch Eckwerte da ersetzt, wo es möglich ist. So werden
um Beispiel Eckwerte für Abdichtungskomponenten
orgegeben. Diese Eckwerte stellen sicher, dass keine
chädlichen Stoffe in die Umwelt und insbesondere in
as Grundwasser gelangen. Gleichzeitig werden aber
lanern und Bauherren Freiräume eingeräumt, die es er-
auben, die für den jeweiligen Standort beste technische
ariante einzusetzen. Flexible Regelungen an Stelle star-
er Vorgaben, das ist Bestandteil eines modernen, unbü-
okratischen Rechts. Das Vorschreiben bestimmter Tech-
iken ist nicht nur starr, sondern in manchen Fällen auch
ontraproduktiv. Am Standort A wird zum Beispiel das
insickern von Schadstoffen in das Grundwasser am
esten durch Technik B erreicht, während am Standort B
in Einsatz einer anderen Technik sinnvoller ist. Durch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19649
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die vorgesehene Flexibilisierung wird auch die Erfüllung
geltender Umweltstandards erleichtert.
Natürlich dient die Vereinfachung des Deponierechts
auch der Kostensenkung. Durch Flexibilisierung beim
Einsatz technischer Lösungen, Anpassung an örtliche
Gegebenheiten und Abbau von bürokratischen Doppel-
bestimmungen, wird die Chance eröffnet, Kosten zu sen-
ken. Circa 570 000 Euro Bürokratiekosten könnten ge-
genüber heute eingespart werden. Dies darf jedoch nicht
zulasten von Mensch und Umwelt gehen. Ich bin über-
zeugt, dass die Verordnung zur Vereinfachung des Depo-
nierechts diesen Spagat schafft.
Bei aller Vereinfachung wird der einmal ereichte na-
tionale Deponiestandard nicht verschlechtert. Im Gegen-
teil: Eine moderne Entsorgungswirtschaft benötigt auch
heute noch Deponien. Es bleibt unser Ziel, Abfall wei-
testgehend zu vermeiden und zu verwerten. Der letzte
Rest muss jedoch sicher deponiert werden. Dafür benöti-
gen wir modernste Deponien, die dem Stand der Technik
entsprechen. Meiner Meinung nach wird die hier vorge-
schlagene Verordnung dem gerecht.
Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten der Deponie-
verordnung quälen. Ich bin auch nicht Fachmann genug,
um spezielle technische Regelungen zu bewerten. Ich
gehe aber davon aus, dass die Fachleute im Ministerium
und den Bundesländern gerade in diesen Fällen eng zu-
sammen gearbeitet haben.
Sollten aus dem Bundesrat gemeinsame Änderungen
vorgebracht werden, welche nichts Grundsätzliches be-
treffen, sondern Einzelregelungen verbessern, sehe ich
darin keine Probleme.
Aus all den genannten Gründen bitte ich Sie, der Ver-
ordnung zur Vereinfachung der Deponieverordnung zu-
zustimmen.
Lassen Sie mich aber noch ein Wort zum Vollzug und
zur Überprüfung sagen. Wenn wir heute die Deponiever-
ordnung verabschieden, werden viele Bürger in erster
Linie an die Skandale in ostdeutschen Ton- und Kiesgru-
ben denken. Die Müllentsorgung in Ton- und Kiesgru-
ben war, ist und bleibt illegal. Ich kann hier, wie schon
mehrmals, die Bundesländer nur auffordern, bestehende
gesetzliche Regelungen zu kontrollieren. Ohne Kon-
trolle hilft das schärfste Gesetz nicht. Gerade im Um-
weltbereich darf Personalabbau in Behörden nicht zu ei-
ner löchrigen Überwachung führen. Deshalb fordere ich
die Bundesländer auf, ihre Vollzugsaufgaben gewissen-
haft durchzuführen. Ich bin aber auch für jeden Ände-
rungsvorschlag, der zur Verbesserung führt, offen.
Grundsätzlich offen und positiv stehen wir Sozialde-
mokraten auch dem Ziel gegenüber, die Grenzwerte von
Müllverbrennungsanlagen zu senken. Die Grenzwerte
müssen dem Stand der Technik entsprechen. Einen
Schnellschuss auf nationaler Ebene halte ich jedoch im
Moment für wenig sinnvoll. Auf EU-Ebene wird zurzeit
über die „Richtlinie über Industrieemissionen“ verhan-
delt. Die Abfallrahmenrichtlinie muss demnächst in
deutsches Recht umgesetzt werden. Beide Regelwerke
betreffen auch MVAs und deren Emissionen. Wir Sozial-
demokraten werden uns bei der Umsetzung für schärfere
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renzwerte und eine optimale Anpassung an den Stand
er Technik einsetzen.
Horst Meierhofer (FDP): Stinkende Müllberge so-
eit das Auge reicht – dieses Bild gehört zumindest theo-
etisch der Vergangenheit an.
Dass es in der Entsorgungsbranche trotzdem immer
ieder schwarze Schafe gibt, will ich an dieser Stelle
icht verschweigen. Erst kürzlich konnte man in der
resse lesen, dass nach wie vor hunderttausende Tonnen
üll jedes Jahr auf illegalen Müllkippen und nicht in der
erwertung landen.
Doch die Betonung liegt auf „illegal“. Unser Abfall-
echt hat sich in den letzten Jahren von einem Recht der
bfallbeseitigung zu einem Recht der Abfall- und Kreis-
aufwirtschaft fortentwickelt. Zwar kommt eine nachhal-
ige Entsorgungswirtschaft auch heute nicht ohne Depo-
ien aus. Doch seit 2005 ist Schluss mit der Ablagerung
icht vorbehandelter Abfälle – und das ist gut so. Das
eponieverbot ist ein wichtiger Schritt weg von einem
nhäufen von Altlasten zulasten der Umwelt und der zu-
ünftigen Generationen.
Deshalb möchte ich auch hier noch einmal betonen:
ie rechtlichen Rahmenbedingungen für das Errichten,
etreiben und Stilllegen von Deponien müssen immer
nd ausnahmslos modernsten Standards genügen. Daran
uss sich Gesetzgebung in diesem Bereich nach Auffas-
ung der FDP-Bundestagsfraktion messen lassen und
ies muss auch für die Deponievereinfachungsverord-
ung gelten. Wir glauben, dass dies hier gelungen ist,
nd werden der Verordnung deshalb zustimmen.
Wozu die Deponievereinfachungsverordnung? Die
erordnung will das Deponierecht vor allem kürzen,
ereinfachen und zusammenfassen. Anforderungen sol-
en entflochten, und Freiräume dort, wo es möglich ist,
eschaffen werden.
Diesen Ansatz des Bürokratieabbaus und der Deregu-
ierung begrüßen wir. Für uns bietet die Beschränkung
uf die Vorgabe von Zielen eine Chance, über den Ein-
atz der jeweils besten Technik individuell entscheiden
u können. Wir wissen aber auch: Je weniger der Bund
egelt, desto mehr muss von den Behörden vor Ort ent-
chieden werden und das geht oft nicht ohne Gutachten
nd Fachdiskussionen, sprich: Es bedarf Personal, das
uch die notwendige Fachkenntnis hat. Ich möchte an
ieser Stelle aber auch betonen: Den Ländern ist es un-
enommen, dort, wo es sinnvoll ist, sich auf einheitliche
orgaben im Vollzug zu verständigen.
Letztendlich einverstanden sind wir auch mit der
larstellung, wann eine Deponie aus der Nachsorge ent-
assen werden darf. Sich hier nicht nur an den Konzen-
rationswerten, sondern auch an der Schadstofffracht zu
rientieren, ist durchaus sinnvoll.
Zum Antrag der Grünen: Natürlich ist auch die FDP-
undestagsfraktion für eine möglichst niedrige Schad-
toffbelastung durch Müllverbrennungsanlagen. Aber:
ntweder Sie betreiben jetzt inhaltsleere Ökosymbolik
der Sie haben in der Zeit Ihrer Regierungsverantwor-
19650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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(B) )
tung Ihre Hausaufgaben nicht gemacht! Erst „hü“ und in
der Opposition dann „hott“ schreien, ganz so wie man es
gerade brauchen kann, ist unglaubwürdig!
Und nicht anderes machen Sie, wenn Sie jetzt eine
Änderung der Schadstoffstandards fordern. Während der
damalige Umweltminister Trittin noch 2005 sagte, die
Abfallwirtschaft habe in den vergangenen 15 Jahren ei-
nen großen Beitrag dazu geleistet, die Belastungen der
Umwelt und der Gesundheit der Bürger zu verringern
und dies liege auch an den scharfen Standards der
17. Bundesimmissionsschutzverordnung, sollen die gül-
tigen Grenzwerte eben dieser Verordnung nach dem jet-
zigen Antrag als seit Jahren unverändert und veraltet an-
zusehen sein.
Ja was denn nun? Und wenn das so ist, warum haben
Sie unter Rot-Grün nichts daran geändert?
Hinzu kommt: Die Einführung dynamischer Grenz-
werte. Das ist aus unserer Sicht mit dem Bestandsschutz
nicht vereinbar. Was geschieht mit dringend nötigen In-
vestitionen, wenn der Bestandsschutz fehlt? Wie lange
kann sich dann ein Anlagenbetreiber auf die erteilte Ge-
nehmigung einer modernen Anlage verlassen?
Wir lehnen diesen Antrag daher ab!
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das zentrale
Element des Verordnungsentwurfs ist die Integration der
Deponieverwertungsverordnung und der Abfallablage-
rungsverordnung in die Deponieverordnung. Wir begrü-
ßen diese Zusammenführung. Das vereinfacht sicher das
Verständnis der Materie und den praktischen Umgang in
der Sache, gerade das Abfallrecht ist ja äußerst kompli-
ziert. Zu prüfen wäre nun, ob bei der Vereinfachung des
Deponie-Regelwerkes Umweltstandards gesenkt bzw.
Beteiligungs- und Informationsrechte unzulässig einge-
schränkt werden. Dies können wir noch nicht abschlie-
ßend beurteilen. Darum enthalten wir uns bei der Ab-
stimmung.
Der Antrag der Grünen fordert niedrigere Grenzwerte
für Müllverbrennungsanlagen. Diese Grenzwerte sind
– obwohl sich die Technik rasant weiterentwickelt hat
und moderne Anlagen nur ein Bruchteil der geltenden
Grenzwerte emittieren – seit Jahren unverändert. Mo-
mentan drohen Anlagen sogar wieder auf den Emis-
sionsstand der 80er-Jahre zurückzufallen. Denn viele ha-
ben ihre Kapazitäten schrittweise erheblich ausgeweitet,
ohne entsprechende Filter nachzurüsten.
Zudem werden neue Anlagen gebaut, die von vorn-
herein einen höheren Schadstoffausstoß haben. Obwohl
hier die Problematik der so genannten Ersatzbrennstoff-
kraftwerke (EBS-Kraftwerke) im Antrag nicht explizit
angesprochen wird, geht es wohl dabei vor allem um
diese. Es sind Müllverbrennungsanlagen, die Strom, und
zum Teil auch Wärme produzieren. Sie werden im Un-
terschied zu klassischen Müllverbrennungsanlagen mit
dem Ziel gebaut, Energie zu liefern. Dabei stört aber je-
der Filter. Denn dieser senkt den Wirkungsgrad.
Die Änderung der 17. BImSchV, wie sie die Grünen
vorschlagen, würde also auch sie betreffen. Die Betrei-
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er könnten nicht mehr bis „Oberkante Unterlippe“ an
ie heutigen Grenzwerte fahren, um Filter einzusparen
nd somit den Wirkungsgrad des Kraftwerksteils zu er-
öhen. Das unterstützen wir.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die
ritik an EBS-Kraftwerken nicht nur von der Linken
ommt. Auch das Umweltbundesamt sieht dies ähnlich.
o hat der UBA-Abfallexperte Markus Gleis in der Süd-
eutschen Zeitung erklärt, in klassischen Müllverbren-
ungsanlagen lägen die Dioxinemissionen am Rande der
achweisgrenze. Sehr niedrige Werte würden auch für
uecksilber, Arsen und Kadmium gelten. Ferner seien
ie deutschen Grenzwerte für Schadstoffe in der Abluft
ie strengsten weltweit und würden dennoch meist um
0 Prozent unterschritten. Aufwendige Filtermethoden
ntfernten alles aus dem Rauchgas, was technisch mög-
ich sei. Die neuen Ersatzbrennstoffkraftwerke hingegen
utzten die gesetzlichen Grenzwerte viel stärker aus als
ie klassischen Müllverbrennungsanlagen. Der Grund:
inderwertige Filter für diese Anlagen. So würden die
renzwerte für Schadstoffe deutlich geringer als bisher
nterschritten. Aber genau dies rechnet sich. Michael
raungart von der Uni Lüneburg hat ermittelt, dass die
erbrennung einer Tonne Müll in den besten Anlagen
osten von bis zu 400 Euro verursacht, bei vielen Er-
atzbrennstoffkraftwerken hingegen nur 50 Euro. Braun-
art wortwörtlich: „Viele Emissionswerte sind um ein
ehrfaches höher als bei den bestehenden Anlagen, die
rofite dafür umso größer“.
Ich frage mich nun, was macht eigentlich die Bundes-
egierung? Sie sollte die Augen aufmachen und auch be-
ücksichtigen, dass der Boom bei der Planung und beim
au sogenannter Ersatzbrennstoffkraftwerke unzählige
ürgerinitiativen auf den Plan gerufen hat. Industrieun-
ernehmen wie Holzverarbeitungs- und Papierverarbei-
ungsbetriebe bauen Heizkraftwerke, die angeblich mit
igenen Produktionsabfällen beschickt werden sollen.
och die meisten dieser Anlagen sind vollkommen über-
imensioniert. Sie werden nicht im Entferntesten mit ei-
enen Abfällen gefüttert werden können. In Branden-
urg etwa sind Anlagen in Betrieb, im Bau oder in
lanung mit einer Gesamtkapazität von drei Millionen
ahrestonnen. Das ist das Sechsfache dessen, was tat-
ächlich an Ersatzbrennstoffen im Land anfällt. Hier
teht ein gigantischer Mülltourismus bevor, nicht nur in
randenburg. Und die jüngst liberalisierte EU-Abfall-
ahmenrichtlinie wird diesen Mülltourismus noch er-
eichtern.
Vielleicht kann die Senkung der Emissionsgrenzwerte
ier dämpfend wirken, deshalb stimmen wir dem Antrag
er Grünen zu. Für eine grundlegende Lösung bedarf es
ber unserer Meinung nach einer koordinierten Planung
on EBS-Kapazitäten. Leider lehnt die Bundesregierung
o etwas oder entsprechende Bedarfsnachweise grund-
ätzlich ab. Sie setzt hier allein auf den Markt. Auch hier
erden dies die Bürgerinnen und Bürger zu bezahlen ha-
en. Diesmal mit ihrer Gesundheit.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
uch der heutige Tag steht unter dem Eindruck der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19651
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(B) )
Finanzmarktkrise, und da am Freitag über das Rettungs-
paket von unvorstellbaren 470 Milliarden Euro beraten
und entschieden wird, war auch keine Zeit, sich am Mitt-
woch im zuständigen Fachausschuss mit Beratungen zu
der hier abzustimmenden Deponie-Vereinfachungsver-
ordnung zu befassen. Die hier vorgelegte Rechtsverord-
nung geht weiter in den Bundesrat, der angesichts der zu
erwartenden 200 Änderungsanträge zum Thema bereits
einen Unterausschuss beschlossen hat, der am 4. No-
vember tagt. Grund für die Änderungsanträge sind die
länderspezifischen Interessen der Abfallentsorger.
Schließlich werden auch die Genehmigungen für die Er-
richtung und den Betrieb der Deponien in den einzelnen
Kommunen erteilt.
Ich befürchte, dass die hier zur Debatte stehende Neu-
regelung ebenso korruptionsanfällig ist wie das bereits
geltende, verworrene Deponierecht. Für die Umsetzung
ist es gut, dass die drei bestehenden Regelwerke Depo-
nieverordnung, Abfallablagerungsverordnung, Deponie-
verwertungsverordnung und die drei Verwaltungsvor-
schriften jetzt zusammengefasst werden. Wie schwer die
Anwendung des geltenden Rechts ist, zeigt folgendes
Beispiel: Derzeit werden aus Kostenersparnisgründen ei-
nige schadstoffhaltige Abfälle nach Immobilisierung auf
Hausmülldeponien abgelagert, die eigentlich in Unterta-
gedeponien oder in den Bergversatz gehören. Dies sollte
nach geltendem Recht nicht möglich sein, faktisch ist es
aber nach Information der Entsorgungsbranche so und
teilweise wurden Spielräume durch die Genehmigung
der zuständigen Behörde vor Ort erst geschaffen. Die
Entsorger, die sich an geltende Vorschriften halten, ver-
lieren dadurch Aufträge, da sie höhere Preise ansetzen
müssen. Den Behörden vor Ort ist die Überwachung ein
Stück weit überlassen. Geht es um die Sauberkeit im
Sport, gibt es weniger Scheu vor Probenahmen, Labor-
untersuchungen und Einlagerungsnotwendigkeiten. Und
auch hier zeigt sich, dass Nachuntersuchungen zur Über-
führung von Betrügern und Falsch-Deklarationen not-
wendig sind.
Auch die zu erbringenden Sicherheitsleistungen
(§ 18) stehen im Ermessen der Behörden. Damit werden
sie Verhandlungssache zwischen der Genehmigungsbe-
hörde und dem Betreiber. Die Erfahrung zeigt, dass mit
den durch die Behörde ermöglichten Befreiungen – wie
auch hier bei Langzeitlagern vorgesehen – die Kosten
für die Beseitigung entstandener Umweltgefahren wie-
der beim Steuerzahler hängen bleiben. Insofern fordern
die Grünen die ersatzlose Streichung von § 25 der Depo-
nie-Verordnung, die Langzeitlager von Regelungen und
von Überprüfungen durch Sachverständige befreit. Drin-
gend reformbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch
der § 61 des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes,
der eine Höchstgrenze von 50 000 Euro für Bußgelder
festlegt. Angesicht der Gewinnmargen illegaler Betrei-
ber und der Millonenkosten für die nachträgliche Sanie-
rung ist das lächerlich.
Die Inhalte des neuen Deponierechts sollen später in
das UGB integriert werden. Es ist nur zu hoffen, dass
sich die Koalition den grünen Argumenten anschließt,
im Umweltgesetzbuch auch das Bergrecht mit aufzuneh-
men. Die hier vollzogene Umsetzung der EU-Richtlinie
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ber die „Bewirtschaftung von Abfällen aus der mineral-
ewinnenden Industrie für nicht dem Bergrecht unterfal-
ende Betriebe“ ist wieder nicht für die Zusammenfas-
ung aller Ablagerungsstätten unter Umweltrecht
enutzt worden. 1 600 Gewinnungsbetriebe und damit
ie Mehrheit der aktiven Betriebe fallen weiterhin unter
ergrecht.
Abfallbewirtschaftungspläne werden jetzt für Ab-
aumdeponien zur Pflicht. Das ist auch zur geordneten
nd effizienten Beschickung dieser Deponien höchst
otwendig. Eine weitergehende Dokumentationspflicht
cheint mir allerdings auch bei den übrigen Deponien
berfällig. Unzureichenden Kontrollen wurden in der
ergangenheit zu Missbrauch und Betrug genutzt – das
eigen immer neue Enthüllungen illegaler Müllablage-
ungen in Kies- und Tongruben, die zum Teil als Depo-
ien sogar zugelassen waren. Dieser Problembereich
urde in der Verordnung der Bundesregierung nicht auf-
egriffen. Vielmehr besteht Anlass zu der Sorge, dass
it Vereinfachungen der Berichts- und Dokumentations-
flichten die Situation bei der Abfallendlagerung noch
ritischer wird.
Daher lehnen die Grünen die Verordnung zur Verein-
achung des Deponierechts in der vorgelegten Form ab.
nlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Veröffentlichung von Informationen über die
Zahlung von Mitteln aus den Europäischen
Fonds für Landwirtschaft und Fischerei
(Agrar- und Fischereifonds-Informationen-Ge-
setz – AFIG) (Tagesordnungspunkt 31)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Das uns vorliegende
esetz setzt eine EU-Verordnung um, die die Veröffent-
ichungspflicht vorsieht. Die Mitgliedstaaten müssen da-
ach jedes Jahr nachträglich Informationen über die
mpfänger von Mitteln aus dem Europäischen Garan-
iefonds für die Landwirtschaft, dem Europäischen
andwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländli-
hen Raumes und dem Europäischen Fischereifonds und
ie Beträge, die jeder Empfänger aus diesem Fonds er-
alten hat, im Internet veröffentlichen.
Fakt ist – ob wirklich sinnvoll oder nicht: Transparenz
st richtig und wichtig. Aber die Finanzkrise zeigt: Ge-
ade dort, wo sie bitter nötig gewesen wäre – auf den Fi-
anzmärkten – herrscht bis heute Intransparenz. Die
etroffenen fragen sich zu Recht: Sind wir denn im fal-
chen Film?
Die Diskussion zur Offenlegung aller Empfänger von
U-Zahlungen wurde zurückblickend oftmals sehr öf-
entlichkeitswirksam – nicht selten einseitig zulasten der
andwirtschaft – geführt. Während der Verhandlungen
ur Verabschiedung des entsprechenden Gemeinschafts-
echts ist es gelungen, wesentliche Forderungen Deutsch-
ands durchzusetzen. Hierzu gehören ein im Vergleich zu
nderen EU-Förderbereichen späterer Veröffentlichungs-
19652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
(A) )
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zeitpunkt für den Agrarsektor, der Verzicht auf detaillier-
tere und maßnahmenspezifische Förderangaben und
insbesondere die Angabe des Straßennamens. Weiterge-
hende Forderungen Deutschlands, wie beispielsweise der
Verzicht auf Angabe des Gemeindesitzes und der Post-
leitzahl im Rahmen einer Internetsuchmaschine, fanden
keine Mehrheit bei den anderen Mitgliedstaaten.
Wir Politiker und auch alle betreffenden Organisatio-
nen sollten mit der Umsetzung der Transparenzinitiative
verantwortungsvoll gegenüber den Bäuerinnen und Bau-
ern umgehen, sachlich und fair. Ich hoffe, der vorlie-
gende Gesetzentwurf trägt dem Rechnung. Wichtig ist
auch, dass mit diesen Daten in keiner Weise Missbrauch
betrieben wird.
Große Bedeutung kommt neben der eigentlichen Ge-
setzesgrundlage der Gestaltung der entsprechenden In-
ternetseite zu. Dort müssen einfach nachvollziehbare
und klare Erläuterungen zu den EU-Zahlungen, in allge-
meiner Form über die einzelnen Förderprogramme so-
wie die damit verbundenen agrarpolitischen Ziele vorge-
sehen werden. Wir haben positiv vermerkt, dass die
Bundesregierung und die Länder dieser Anregung folgen
werden.
Die weitere Forderung nach einer Information der Be-
günstigten über Besucher der Internetseite bzw. Anzahl
der Zugriffe auf die Internetseite fand leider keine Mehr-
heit. Dass dem aus Kosten- und Verwaltungsgründen
nicht gefolgt wurde, kann ich noch verstehen. Dass dem
aber aus informationstechnischen und datenschutzrecht-
lichen Gründen nicht gefolgt wurde, erschließt sich mir
nicht. Datenhändlern wird dadurch Tür und Hoftor ge-
öffnet. Transparenz ist doch keine Einbahnstraße!
Ich halte es auch für wichtig, dass Bund und Länder
die Offenlegung aller Empfänger von EU-Zahlungen
einheitlich durchführen, da auch andere Wirtschafts-
gruppen und Unternehmen bis hin zu Einzelpersonen
EU-Gelder als Förderung bzw. Ausgleichszahlung erhal-
ten. Wenn bei der Landwirtschaft Empfänger mit Na-
men, Vornamen, Ort und Postleitzahl offengelegt werden
sollen, dann muss dies meines Erachtens aus Gleichbe-
handlungsgründen auch bei Empfängern aus anderen
Bereichen wie dem Europäischen Sozialfonds und dem
Europäischen Fonds für regionale Entwicklung gesche-
hen.
Wenn wir echte Transparenz anstreben, dann darf sie
nicht nur in Bezug auf EU-Zahlungen Anwendung fin-
den, sondern sollte sich auch zum Beispiel auf die Emp-
fänger von nationalen Beihilfen erstrecken, wie sie der
Subventionsbericht des Bundesfinanzministeriums zum
Gegenstand hat. Dort kann man auch nachlesen, dass der
Anteil der Landwirtschaft an den nationalen Subventio-
nen vergleichsweise gering ist. Letztlich müssten sämtli-
che staatlichen Beihilfen offengelegt werden, also von
EU, Bund und Regionen bzw. Ländern. Sonst entsteht
ein Zerrbild.
Und noch einmal zum Missbrauch: Die Datenskan-
dale der letzten Wochen und der zunehmende Miss-
brauch von Daten im Internet müssen uns noch mehr
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ensibilisieren.Mit dem Gesetzentwurf haben wir ver-
flichtende EU-Vorgaben national umzusetzen. Die Zu-
timmung fällt mir nicht leicht. Deshalb werbe ich ein-
ringlich für einen sachlichen und fairen Umgang mit
en offenzulegenden Daten.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Mehr als
0 Milliarden Euro gibt die Europäische Union für die
irektzahlungen und Marktstützungen im Rahmen der
grarpolitik aus. Das ist viel Geld. Wir unterstützen es,
ass der Steuerzahler auch erfahren kann, wer von die-
em Geld eigentlich profitiert.
Wir unterstützen diese Transparenzinitiative und
reuen uns, dass sie nun auch in Deutschland umgesetzt
ird. Sicher wird die Veröffentlichung der Zahlungen
ie Diskussion um die Förderung der Landwirtschaft an-
eizen. Ich bin mir allerdings sicher, dass wir diese Dis-
ussionen bestehen können. Und: Die Diskussion wird
icht durch die Veröffentlich entfacht. Die Diskussion
äuft bereits, sie kann – wenn wir sie annehmen – durch
ie Transparenzinitiative versachlicht werden.
Die Gemeinsame Agrarpolitik hat eine klare Richtung
ekommen: Wir haben die Zahlungen von der Produk-
ion abgekoppelt. Stattdessen sind dies Zahlungen mit
eistungen für die Umwelt, für die Qualität und für den
ierschutz verknüpft. Geld für Leistungen, die der Markt
icht honoriert, die aber die Gesellschaft verlangt – ich
enke wir haben damit schon längst die Weichen ge-
tellt, mit denen wir die Debatte um die Agrarpolitik be-
tehen können.
Ich weiß, dass in der Debatte um die Agrarpolitik im-
er wieder die Argumentation auftaucht, das Geld, das
ie EU für die Landwirtschaft ausgibt, sei Geld der Bau-
rn. Wer so argumentiert, wer daraus ableitet, dass
ransparenz nur eine Gängelung der Landwirtschaft ist,
er sorgt erst dafür, dass die Steuerzahler nachfragen.
Ich verstehe die Sorge jeder Betriebsleiterin und jedes
etriebsleiters, die einen erhöhten öffentlichen Rechtfer-
igungsdruck fürchten. Ich bin mir aber sicher, wir kön-
en die Debatte bestehen. Die EU-Transparenzinitiative
ietet die Chance, klar herauszustellen, welche Leistun-
en die heimische Landwirtschaft für die Gesellschaft
rbringt. Das Geld im EU-Agrarhaushalt ist und bleibt
rstmals Geld der Steuerzahler. Wir müssen begründen
önnen, warum wir es ausgeben. Das können wir nicht,
enn wir uns verstecken, dazu müssen wir aus der De-
kung kommen und erklären was für Leistungen wir mit
iesen Milliarden bezahlen. Ich bin mir sicher, wir kön-
en gewinnen, wenn wir mit offenem Visier kämpfen.
Wir wissen doch, dass es keine Milchseen und Butter-
erge mehr gibt. Dann können wir doch dem Vorurteil,
ir würden nur Überproduktion finanzieren entgegentre-
en. Wer was produziert, das entscheidet der Markt; Pro-
uktion richtet sich nicht mehr an Subventionen aus. Das
st das wichtigste Ergebnis der letzten Agrarreform. Da-
it können wir bestehen.
Wir wissen auch, dass die Größe der Betriebe nicht
ber die Leistungen entscheidet. Wir wissen doch, dass
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19653
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das Monster Agrarindustrie genauso wenig die Realität
beschreibt wie der kuschelige Kleinbauer. Wir wissen,
dass die Einhaltung von Fruchtfolgen nicht von der
Größe des Betriebes abhängt. Wir wissen, dass große
Milchbetriebe oft modernste Freilaufställe haben, wäh-
rend die kleinen oft ihre Kühe noch anbinden. Und wir
wissen auch, dass die Zahl der Arbeitskräfte von der
Produktionsrichtung und weniger von Produktionsweise
abhängen. Auch das können wir erklären, auch hier kön-
nen wir bestehen.
Wir wissen auch, was für Wirkungen unsere Export-
subventionen haben. Uns wird die Frage gestellt, warum
die Industrieländer 349 Milliarden Dollar an Produk-
tions- und Exportsubventionen ausgeben. Wir werden
gefragt, warum wir damit niedrige Exportpreise fördern
und so lokale Produktion in den Entwicklungsländern
vernichten. Mit unseren Vorschlägen für die Doha-
Runde haben wir diese Fragen schon aufgegriffen, wir
müssen weiterhin deutlich machen, dass diese Politik
ernsthaft fortgeführt wird. Dann können wir auch hier
bestehen.
Gerade im Hinblick auf Debatten um den EU-Haus-
halt ab 2013 sind alle – Berufsstand, Politik und die akti-
ven Landwirte – gefordert, die öffentliche Diskussion zu
suchen. Es ist unmissverständlich darzustellen, dass die
Zahlungen nicht mehr als Einkommenstransfer, sondern
ausschließlich als Ausgleich gesellschaftlicher Leistun-
gen zu verstehen sind.
EU-Kommissarin Mariann Fischer-Boel hat die Trans-
parenzinitiative explizit mit der Ausrichtung der Ge-
meinsamen Agrarpolitik verknüpft. Warum? Wir stehen
vor der Reform des EU-Finanzsystems und wir stehen
damit mitten in einer Debatte, die explizit den Agrar-
haushalt auf den Prüfstand stellt. Wir sehen doch, wel-
che Folgen mangelnde Offenheit hat. Die Mathematik
der Menschen ist ganz einfach: Wer nicht bereit ist, seine
Zahlungen zu veröffentlichen, der hat was zu vertu-
schen. Dem kann man doch offensiv entgegentreten.
Dem muss man auch offensiv entgegentreten. Wenn wir
hier nicht in die Offensive gelangen, wenn wir es nicht
schaffen, deutlich zu machen, warum wir das Geld aus-
geben, dann werden wir in der Debatte um das EU-Fi-
nanzsystem schlechte Karten haben.
Wir sind uns einig, dass wir Leistungen von der Land-
wirtschaft erwarten, für die wir die Landwirtschaft auch
honorieren müssen. Wir müssen uns nicht verstecken.
Im Gegenteil: Nutzen wir die Chance, uns die Rücken-
deckung der Menschen zu holen.
Zum Schluss möchte ich noch auf eines hinweisen:
Was für die Agrarförderung gilt, muss auch für andere
Zahlungen so zum Beispiel für die Strukturfonds gelten:
Seien wir doch endlich etwas mutiger und offener. Das
hilft den Menschen Politik zu verstehen. Geheimniskrä-
merei verursacht Misstrauen. Schaffen wir Vertrauen
und holen wir uns damit Rückhalt für unsere Politik.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Die FDP tritt für
Transparenz ein. Bereits vor über zwei Jahren haben wir
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inen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem wir
ie Umsetzung der EU-Verordnung forderten.
Wir teilen das Ziel der EU, öffentliche Finanzzuwen-
ungen offenzulegen. Der von der EU-Kommission vor-
eschlagene Weg über ein Portal im Internet ist hoffent-
ich ohne zusätzliche Bürokratie und benutzerfreundlich
u realisieren. Da es seit der großen Agrarreform für die
andwirtschaft auch keinen Grund gibt, verschämt die
ffentlichen Ausgleichsleistungen für die erschwerten
roduktionsbedingungen in Europa zu verschweigen, ist
ie Umsetzung der EU-Verordnung nicht nur europa-
echtlich geboten, sondern auch politisch sinnvoll und
ichtig.
Das Gesetz stellt eine 1:1-Umsetzung dar, weshalb
ir Liberalen zustimmen werden. Doch ich will hier
uch gleich deutlich machen, dass wir einzelne Forde-
ungen nach weiteren Veröffentlichungen im Bereich der
andwirtschaft ablehnen. Die Angaben, die die EU jetzt
ffentlich zugänglich machen möchte, sind völlig ausrei-
hend. Ich halte den Vorschlag des Bauernverbandes,
ass die User des Internetportals sich registrieren müs-
en, damit nachvollzogen werden kann, wer die Daten
insieht, für bedenkenswert und fordere das Ministerium
uf, in der Durchführung dem Rechnung zu tragen.
Auch muss dringend darauf geachtet werden, dass bei
er noch zu erlassenden Verordnung sichergestellt wird,
ass die Balance zwischen dem Informationsinteresse
er Öffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener
aten sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ge-
ahrt bleibt.
An dieser Stelle muss auch klar gesagt werden, dass
ie Bundesregierung bei der Umsetzung der Transpa-
enz-VO nicht stehen bleiben darf. Wenn die Landwirte
ünftig ihre staatlichen Leistungen offenlegen müssen,
ibt es keinen Grund, warum andere Empfänger staatli-
her Leistungen dies nicht auch tun müssen. Transparenz
ur im Bereich Landwirtschaft ist weder sinnvoll noch
air.
Abschließend noch ein Wort zu verschiedentlich in
er Landwirtschaft laut gewordenen Befürchtungen,
ass die Veröffentlichung der staatlichen Leistungen den
eid in den Dörfern schüren würde. Diese Befürchtung
eile ich nicht. Normalerweise wird bekannt sein, welche
lächen die Nachbarn gepachtet und im Eigentum ha-
en, sodass sich ja bereits heute jeder ausrechnen kann,
elche Prämien der Einzelne bekommt. Die Landwirt-
chaft wird also mit gutem Beispiel vorangehen, und die
brigen Empfänger staatlicher Leistung werden hoffent-
ich bald folgen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Mit dem
grarinformationsgesetz wird eine Debatte beendet, die
n den letzten Jahren hohe Emotionen hervorgerufen hat.
s geht um die Transparenz in der europäischen Agrar-
örderung. Rund 40 Prozent des europäischen Haushalts
ird für den Landwirtschaftssektor ausgegeben. Dabei
andelt es sich um einen Betrag von fast 50 Milliarden
uro, der letztlich ausschließlich aus Steuermitteln auf-
19654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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gebracht wird. Die Linke sieht daher ein berechtigtes
Anliegen, Informationen zu den Fördermitteln zu be-
kommen, wenn sich Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
dafür interessieren. Dies ist im Übrigen ein grundsätzli-
ches Anliegen und nicht nur auf die Landwirtschaft be-
schränkt. Staatliche Förderung sollte in allen Bereichen
transparent verteilt werden.
Die Linke hat die Transparenzinitiative grundsätzlich
unterstützt, wenn wir auch die Begrenzung der Debatte
auf den Agrarsektor immer kritisiert haben. Gerade die
pauschale Verdächtigung, bei der Nichtoffenlegung von
Fördermittelzahlungen an Großbetriebe gehe es um Si-
cherung unberechtigter Pfründe, spricht für die Transpa-
renz der Fördermittelverwendung, weil sie den vielen
ostdeutschen Landwirtschaftsbetrieben nicht gerecht
wird, die unter schwierigen Bedingungen Arbeitsplätze
sichern und zur Sicherung sozialer Infrastruktur in den
ostdeutschen Dörfern beitragen.
Für uns ist klar: Die Direktzahlungen an Landwirt-
schaftsbetriebe müssen legitimiert werden durch Leis-
tungen im gesellschaftlichen Interesse. Intransparenz
führt eher zu Misstrauen der Verbraucherinnen und Ver-
braucher bzw. bei Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern.
Und um es klar zu sagen: Auch in Ostdeutschland muss
sich niemand verstecken.
Die Veröffentlichung dieser Daten hat ja bereits statt-
gefunden – auf Länderebene. Die Landesbehörden sind
weiterhin für das korrekte Einstellen der Daten ins Inter-
net zuständig. Die zentrale Internetplattform, die über
das Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE)
betrieben werden soll, macht den Zugang für Interessen-
tinnen und Interessenten einfacher und demokratischer.
Nachdem die ersten Daten auf Länderebene im ver-
gangenen Jahr veröffentlicht wurden, ist inzwischen die
Debatte ruhiger und sachlicher geworden. Dass auch flä-
chenstarke Betriebe in den neuen Ländern Direktzahlun-
gen erhalten, ist heute kein Skandal mehr, sondern findet
zunehmend Verständnis. Hektar muss Hektar sein, egal
wie groß der Betrieb ist oder wo er liegt. Die betriebli-
chen Organisationsformen sind aufgrund der neueren
Agrargeschichte unterschiedlich. Große Betriebe bieten
lohnabhängige Arbeitsplätze. Bezieht man die Direkt-
zahlungen auf die betrieblichen Arbeitskräfte, relativiert
sich der Unterschied bei den Fördersummen pro Betrieb
zwischen Ost und West. Leider ist das aus den Veröffent-
lichungen nicht immer ersichtlich. Hinzu kommen Ge-
nossenschaften, in denen viele Eigentümerinnen und
Eigentümer für einen Betrieb stehen.
Im Laufe der Debatte ist das Verständnis für die be-
sonderen ostdeutschen Bedingungen gewachsen. Nur so
ist zu erklären, dass in Deutschland die Unterstützung
der EU-Kommission für den Vorschlag der progressiven
Modulation sehr überschaubar ist. Nur die Grünen unter-
stützen ihn und merken nicht oder ignorieren, dass dieser
Vorschlag Schaden anrichtet für die strukturschwachen
ländlichen Regionen. In der Antwort auf meine diesbe-
zügliche Anfrage antwortete die Bundesregierung, dass
einheimische Betriebe durch die vorgeschlagene pro-
gressiver Modulation circa 1,2 Milliarden Euro bis 2013
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erlieren würden. 44 Prozent, also knapp die Hälfte,
ürden allein die neuen Länder verlieren.
Somit wird aus Sicht der Linken deutlich, dass letzt-
ndlich Transparenz mehr Nutzen bringt als Schaden,
enn sie denn nicht instrumentalisiert wird. Der Agrar-
ektor ist wie kein anderer den handels- und europapoli-
ischen Entscheidungen ausgeliefert, und die Debatte um
ie Subventionierung der Landwirtschaft geht weiter.
ies kann auch aus Sicht der Linken nur gut gehen,
enn die Transparenz der Agrarförderung gewährleistet
st.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
ffenlegung der Agrarsubventionen ist ein wichtiger
nd nötiger Schritt, dessen Umsetzung viel zu lange ge-
auert hat. Unser Erfolg ist es, dass die Bundesregierung
ie von der EU geforderte Offenlegung überhaupt end-
ich auf den Weg bringt. Jahrelang hat die Bundesregie-
ung auf Verzögerung und Verhinderung gesetzt. 13 EU-
itgliedstaaten oder Teilstaaten, die längst freiwillig die
mpfänger von Agrarbeihilfen offenlegen, haben ihren
ürgern deutlich eher mitgeteilt, was mit ihren Steuer-
eldern passiert. Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf zur
eröffentlichung von Agrarsubventionen ist als Grund-
age zu mehr Transparenz beim Verbleib von Steuergel-
ern in der Agrarförderung mehr als überfällig.
Die Umsetzung der Bundesregierung jedoch ist löch-
ig wie ein Schweizer Käse: Zum einen kommen mit
em gewählten Termin eine Verwendung der Informatio-
en für eine transparente öffentliche Diskussion zum
insatz und Effizienz der Agrarhaushaltsmittel zur EU-
grarreform „Gesundheitscheck 2008“ zu spät. Zum an-
eren soll die Veröffentlichungspflicht nicht für Aus-
ünfte über Zahlungen aus nationalen Töpfen gelten.
arüber hinaus reißt die im Gesetzentwurf vorgesehene
usschließliche Minimalangabe von Summe und Emp-
ängername die Fördersummen völlig aus dem Kontext.
s ist nicht ersichtlich, in welchem Verhältnis die Sum-
en stehen.
Dies ist kein rundes Programm, sondern ein mageres
rogrammchen, welches mehr Unklarheiten schafft, als
s lösen soll. So bleiben Fragen offen wie: Werden mit
en Fördergeldern vor allem bäuerliche Betriebe geför-
ert oder eher international agierende Agrarkonzerne?
chafften oder sichern die Fördergelder Arbeitsplätze,
nd wenn ja, wie viele? Wird mit den Fördergeldern eine
mweltfreundliche Landwirtschaft gefördert? Wie viel
eld fließt in Betriebe mit artgerechter Tierhaltung, wie
iel in Anlagen mit Massentierhaltung? Schon 2005 be-
ängelte Friedrich Heinemann, ausgewiesener Experte
er EU-Finanzpolitik vom Zentrum für Europäische
irtschaftsforschung in einem Interview: „Wir reden
iel zu viel über den Umfang und zu wenig darüber, wo-
ür das Geld ausgegeben wird.“ Nur wenn weiterge-
ende Informationen bekannt sind, ist eine Bewertung
uch im Hinblick auf soziale und ökologische Kriterien
öglich. Transparenz sollte vor allem im Dienst einer
esellschaftlichen Diskussion über die sinnvolle Vergabe
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008 19655
(A) )
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von Steuermitteln stehen. Dazu gehört auch die Frage
nach der Effizienz der Fördermittel.
Bisher werden kleine und arbeitsintensive Betriebe
benachteiligt. Flächenstarke und durchrationalisierte Be-
triebe erhalten bis zu 120 000 Euro pro Arbeitskraft an
öffentlicher Unterstützung. In kaum einem anderen Be-
reich werden zur Unterstützung eines einzelnen Arbeits-
platzes solche Summen ausgegeben. Es ist in keiner
Weise nachvollziehbar, wieso der Steuerzahler nicht er-
fahren darf, für wie viele Arbeitskräfte und welche Leis-
tungen die Betriebe Gelder bekommen und wieso die na-
tionalen Mittel ausgespart werden. Das hat mit einer
„Transparenzinitiative“ nichts zu tun; das ist eher Verne-
belungstaktik. Es geht uns nicht, wie der Deutsche Bau-
ernverband befürchtet, darum, dass die Bauern an den
Pranger gestellt werden. Wir wollen keine Neiddebatte
führen, auch keine Streichdebatte, sondern eine Quali-
tätsdebatte.
Agrarförderung muss konsequenter an klare soziale
und ökologische Kriterien und nachhaltige Wertschöp-
fung gebunden und in Einklang mit anderen gesell-
schaftlichen Zukunftsaufgaben gebracht werden. In der
Agenda 2000 ist mit der „multifunktionalen Landwirt-
schaft“ eine Definition gewählt worden, die neben der
Lebensmittelproduktion auch eine flächendeckende Ge-
staltung unserer Landschaft, die Sicherung der Sied-
lungsstruktur, die Sicherung von Arbeitsplätzen und die
Sicherung der gesellschaftlichen Anforderungen im Um-
welt-, Verbraucher- und Tierschutz berücksichtigen soll.
Die Veröffentlichung von Daten, die der Öffentlich-
keit nicht erlauben, eine Beurteilung der Zahlungen nach
sozialen, ökologischen und Tierschutz-Kriterien vorzu-
nehmen, ist für eine gesellschaftliche Kontrolle dieser
Zielrichtung ungeeignet.
Anlage 21
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage
der Abgeordneten Petra Pau (DIE LINKE) (182. Sit-
zung, Drucksache 16/10519, Frage 42):
Welche Kenntnis hat die Bundesregierung darüber, welche
Schritte die Deutsche Telekom AG unternommen hatte, nach-
dem ihr Datensätze über ihre 17 Millionen T-Mobile-Kunden
(darunter unter anderem prominente Mitglieder der Bundes-
regierung, des Zentralrats der Juden) entwendet wurden, um
die Sicherheit und den Schutz der Privatssphäre ihrer Kunden
zu gewährleisten, und ist die Bundesregierung der Ansicht,
dass die Daten, die die Deutsche Telekom AG für
Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen sammelt, dort
sicher aufbewahrt sind?
Nach Kenntnis der Bundesregierung hat die Deutsche
Telekom AG, nachdem ihr der Fall bekannt wurde, im
Frühjahr 2006 umgehend neben der Anzeige bei der
Staatsanwaltschaft umfangreiche Maßnahmen ergriffen,
um die Sicherheit ihrer Kundendaten und den Schutz der
Privatsphäre der Kunden sicherzustellen.
Nach eigenem Bekunden wurden unter anderem Zu-
griffsberechtigungen auf die Kundendatenbanken stärker
eingeschränkt, die technischen Zugangssysteme so kon-
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iguriert, dass komplexere Passwörter für den Zugang zu
atenbanken erforderlich sind, ein schärferes Monito-
ing, eine Speicherung der Zugriffe auf Kundendaten
ührende Datenbanken und eine teilautomatisierte Über-
achung der Sicherheit von Datenbank-Administration
nd Datenbank-Konfiguration entwickelt. Zur Verbesse-
ung der Transparenz sind weitere Maßnahmen, die die
eutschen Telekom AG in ihrer Pressemitteilung vom
0. Oktober 2008 dargelegt hat, geplant. Zudem können
unden auf Wunsch kostenlos ihre Mobilfunknummer
ndern lassen.
Hinsichtlich Telekommunikationsüberwachungsmaß-
ahmen, die aufgrund von Vorschriften der StPO, des
rtikel-G10-Gesetzes oder des Zollfahndungsdienstge-
etzes angeordnet werden und gegebenenfalls von der
eutschen Telekom AG umzusetzen sind, weist die
undesregierung ausdrücklich darauf hin, dass das hier-
ür vorgegebene und verwendete technische Verfahren
eine Sammlung von Daten beinhaltet.
nlage 22
Antwort
es Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage
er Abgeordneten Elke Reinke (DIE LINKE) (182. Sit-
ung, Drucksache 16/10519, Frage 45):
Auf welche Weise möchte die Bundesregierung auf die
Energieversorgungsunternehmen einwirken, um einen vom
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit, Sigmar Gabriel, bereits mehrfach geforderten (Strom-)-
Sozialtarif für Haushalte mit geringem Einkommen durchzu-
setzen, und wie steht die Bundesregierung zu der Forderung,
eine wirksame Strompreisaufsicht mit Zuständigkeit bei den
Ländern einzuführen, der gegenüber die Energieversorgungs-
unternehmen die Zusammensetzung aller Tarife offenlegen
müssen?
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass der Ge-
enstand Ihrer Fragen morgen auch Thema einer Plenar-
ebatte ist. Der Antrag Ihrer Fraktion und Ihre heutige
rage „doppeln“ sich also. Zur Sache selbst möchte ich
hnen sagen:
Die Gestaltung der Preisstruktur liegt auch im Ener-
iebereich grundsätzlich in der Verantwortung der
nternehmen. Bei Vorliegen marktbeherrschender Stel-
ungen unterliegen die Unternehmen einer kartellrechtli-
hen Missbrauchsaufsicht. Im Vordergrund stehen dabei
ngemessene Preise für alle Haushalte, insbesondere
uch für die grundversorgten Haushalte. Darüber hinaus
ibt es in Deutschland ein funktionierendes allgemeines
ozialrecht, das auch hier wirkt, wie zum Beispiel die
on der Bundesregierung durchgesetzte Erhöhung des
ohngeldes zeigt. Auf diese Weise werden einkom-
ensschwache Bürger wirksam unterstützt.
Die Wiedereinführung einer Strompreisaufsicht durch
ie Bundesländer in dem – auch durch europäische Vor-
aben – für Wettbewerb geöffneten Bereich lehnt die
undesregierung ab. Das Instrument stammt aus den
eiten vor der Marktöffnung im Energiebereich und
ürde zu keiner wirksamen Aufsicht führen. Es wurde
erade abgeschafft, weil es in den neuen Marktstruktu-
19656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 183. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
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ren nicht mehr wirkt. Die Preisaufsicht über Stromliefe-
ranten wäre auch deshalb ungeeignet, weil sich die
Strompreise für Haushaltskunden zu über 90 Prozent aus
Bestandteilen zusammensetzen, die nicht vom Liefe-
ranten veranlasst sind, aber das Preisniveau insgesamt
bestimmen. Die in den Preisen enthaltenen Netzentgelte
sind ohnehin reguliert. Auf der hier in Rede stehenden
Ebene der Stromlieferanten können Kunden, die mit ih-
rem bisherigen Lieferanten nicht zufrieden sind, durch
Wahl eines neuen Lieferanten reagieren. Soweit in Ein-
zelfällen gleichwohl eine intensivere staatliche Aufsicht
notwendig ist, hat die Bundesregierung mit einer Ver-
schärfung der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht
Ende letzten Jahres reagiert. Wie die aktuellen Gaspreis-
missbrauchsverfahren des Bundeskartellamtes zeigen,
wirkt dieses Instrument auch, wo es erforderlich ist.
183. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22