Anlage 16
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16607
(A) )
(B) )
Carsten
von allen als unzulänglich bezeichneten Verträgen.
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
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Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Albach, Peter CDU/CSU 24.04.2008
Bierwirth, Petra SPD 24.04.2008
Brähmig, Klaus CDU/CSU 24.04.2008
Bülow, Marco SPD 24.04.2008
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 24.04.2008
Dörmann, Martin SPD 24.04.2008
Fischer (Karlsruhe-
Land), Axel E.
CDU/CSU 24.04.2008
Freitag, Dagmar SPD 24.04.2008
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 24.04.2008
Gleicke, Iris SPD 24.04.2008
Götz, Peter CDU/CSU 24.04.2008
Golze, Diana DIE LINKE 24.04.2008
Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 24.04.2008
Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.04.2008
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 24.04.2008
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.04.2008
Ibrügger, Lothar SPD 24.04.2008
Klimke, Jürgen CDU/CSU 24.04.2008
Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 24.04.2008
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.04.2008
Schmidt (Nürnberg),
Renate
SPD 24.04.2008
Schneider (Erfurt), SPD 24.04.2008
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Anlagen zum Stenografischen Bericht
nlage 2
Antwort
er Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl auf die Frage des
bgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
EN) (156. Sitzung, Drucksache 16/8841, Frage 31):
Wie viele bankaufsichtsrechtliche oder allgemeinauf-
sichtsrechtliche Prüfberichte über die Kreditanstalt für Wie-
deraufbau Bankengruppe (KfW) hat das Bundesministerium
der Finanzen dem Verwaltungsrat der KfW seit 2000 vorge-
legt, und was spricht dagegen, dass sich die KfW freiwillig
der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-
sicht (BaFin) unterstellt?
Das BMF übt über die KfW die Rechtsaufsicht gemäß
12 KfW-Gesetz aus. Es hat dem Verwaltungsrat der
fW keine Prüfberichte oder Ähnliches vorgelegt, da
ie Rechtsaufsicht nicht durch den Verwaltungsrat wahr-
enommen wird. Die europarechtliche Bankenrichtlinie
L 2006/48/EG bestimmt, dass es sich bei der KfW
icht um ein Kreditinstitut handelt. Die KfW ist daher
raft europäischen Rechts von der Regelung des nationa-
en Kreditwesengesetzes (KWG) ausgenommen. Ent-
prechende europäische Regelungen gelten auch für ein-
elne andere Institute in den Mitgliedstaaten, wie zum
eispiel die französische „Caisse des depot et consigna-
ions“.
nlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr.
Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sylvia Kotting-
Uhl, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, Peter Hettlich,
Dr. Harald Terpe, Thilo Hoppe und Monika
Lazar (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur
namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom
13. Dezember 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a)
Wir werden trotz einiger schwerwiegender Bedenken
egen einzelne Passagen des Vertragstextes dem Vertrag
nsgesamt zustimmen. Denn dieser Vertrag ist ein deutli-
her Fortschritt gegenüber dem Status quo. Für einen
esseren Vertrag oder gar eine europäische Verfassung
ibt es derzeit leider keine Mehrheiten. Den Vertrag
cheitern zu lassen hieße weiterzumachen mit den alten,
teinbach, Erika CDU/CSU 24.04.2008
euchner, Jella SPD 24.04.2008
öhrl, Dagmar CDU/CSU 24.04.2008
bgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
16608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
Zu den Stärken des Vertragswerkes zählen für uns die
folgenden Aspekte: Stärkung der nationalen Parlamente
und des EU-Parlamentes; soziale Verantwortung und So-
lidarität; nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz; un-
bedingte Friedensverpflichtung; Anerkennung des UN-
Völkerrechtes und der Menschenrechte; mehr Bürgerbe-
teiligung und Grundrechtecharta.
Im krassen Widerspruch zu den Friedenszielen der
EU stehen der Artikel zur Verbesserung der militäri-
schen Fähigkeiten, zu der sich die Unterzeichnerstaaten
verpflichten, und die vertraglich festgelegte Einrichtung
einer neuen Rüstungsagentur. Beides hat in einem ver-
fassungsähnlichen Vertragswerk nichts zu suchen. Auch
das Fortbestehen des Euratom-Vertrages, der mit dem
neuen Vertrag überholt ist und zudem dem Nachhaltig-
keitsprinzip eklatant widerspricht, ist zu kritisieren.
Mit der Zustimmung zum Vertrag verbinden wir fol-
gende Erwartungen: Die EU muss Vorreiterin im Kampf
gegen Klimawandel werden und sich zu einer sozialen,
ökologischen und wirklich friedenstiftenden EU entwi-
ckeln, das heißt, sie sollte die Fähigkeiten zur zivilen
Krisenprävention und zum Friedensaufbau verbessern
und eine gemeinsame Friedens- und Außenpolitik entwi-
ckeln; die Entscheidungsstrukturen für mehr Transpa-
renz und demokratische Beteiligung verbessern und das
Parlament weiter stärken.
Dass dies auf der Grundlage eines neuen Vertrages
besser gelingen könnte als mit dessen Scheitern bewegt
uns zur Zustimmung.
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zu den namentlichen Abstimmungen:
– Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von
Lissabon vom 13. Dezember 2007
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93)
– Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung
und Stärkung der Rechte des Bundestages
und des Bundesrates in Angelegenheiten der
Europäischen Union
(Tagesordnungspunkt 3 a bis c)
Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ich bin der festen
Überzeugung, dass es aufgrund der besonderen histori-
schen Erfahrungen und der enormen zukünftigen He-
rausforderungen zu einer möglichst engen Zusammenar-
beit von Staaten innerhalb Europas keine Alternative gibt.
Eine Europäische Union, aufgebaut auf den christlichen
Werten, den Grundsätzen der sozialen Markwirtschaft,
dem Prinzip des Föderalismus und der kommunalen
Selbstverwaltung, wird in einem hohen Maße zum Wohle
aller Bürgerinnen und Bürger beitragen und könnte ein
tragfähiges Konzept für eine gemeinsame Zukunft Euro-
pas darstellen.
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Diese gemeinsame Zukunft muss getragen sein von
iner hohen Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ge-
enüber den europäischen Institutionen und ihrer Hand-
ungen und Werte. Fehlende Akzeptanz führt zu einem
rößerwerden von Distanz zwischen Bürgern und denje-
igen, die in deren Namen Macht ausüben.
Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag
on Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er-
ebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bürgern
u erheblichen Akzeptanzproblemen führen. Die Kom-
etenzausweitung auf zahlreiche Politikfelder wie Wirt-
chaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Arbeits-
echt, Zugang von Staatsangehörigen aus Drittstaaten
um Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, Industrie, For-
chung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastrophenschutz,
port, Verwaltungsförderung, Tourismus, Aufbau eines
uropäischen Auswärtigen Dienstes und vieles mehr
hne klare Kompetenzabgrenzung ist äußerst kritisch zu
ehen. Obwohl ein Großteil dieser Aufgaben ausreichend
on den Mitgliedstaaten erledigt wird und auch weiterhin
rledigt werden könnte, wird eine Kompetenzverlage-
ung bzw. -teilverlagerung auf die europäische Ebene
estgeschrieben. Die fehlende Kompetenzabgrenzung wird
u einer weiteren Zentralisierungsdynamik der EU füh-
en.
Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da-
urch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige
U-Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied-
taaten, einschließlich der nationalen Verfassungen und
er in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch-
echtsstaatlichen Ordnungssysteme, postuliert. Das Grund-
esetz steht damit zur Disposition der europäischen Or-
ane.
Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene
rinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi-
chen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis-
ion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied-
taat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten
ein wird. Dies ist umso bedauerlicher, als die Kommis-
ion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er-
ährt.
Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus-
eitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter
ehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei-
ungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren
timme nach dem Abschied vom Konsensprinzip zuguns-
en von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr ankommt.
ie eigenständige Kompetenz, auch zukünftig in immer
eiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprinzip überzu-
ehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungsbefugnisse
er nationalen Parlamente.
Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskontrolle
urch nationale Parlamente die Einhaltung des Subsidia-
itätsprinzips gewährleistet werden soll, ist ausdrücklich
u begrüßen. Dass dies in der praktischen Ausübung auf-
rund der knappen Fristen, der Quoren und der lediglich
araus resultierenden Verpflichtung des Urhebers des
echtaktes, diesen zu überprüfen und seine Entscheidung
u begründen, kaum praktische Bedeutung haben wird,
st bedauerlich.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16609
(A) )
(B) )
In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag
von Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla-
gerung von Zuständigkeiten an die EU und durch die
Überführung von Entscheidungen weg von der Einstim-
migkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä-
chung der nationalen Parlamente führt. Unbestritten ist
allerdings, dass der Vertrag gegenüber den bestehenden
Verträgen auch Vorteile bietet. Die Europäische Union
sollte sich allerdings in ihrem politischen Handeln auf
diejenigen Aufgaben konzentrieren, die nur auf der euro-
päischen Ebene gelöst werden können. Der Vertrag von
Lissabon stellt dies nicht sicher.
In Abwägung aller Argumente komme ich zu der
Überzeugung, dass der vorliegende Verfassungsvertrag
gravierende Mängel aufweist. Deswegen kann ich die-
sem Vertrag nicht zustimmen.
Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Ich bin der
festen Überzeugung, dass es aufgrund der besonderen
historischen Erfahrungen und der enormen zukünftigen
Herausforderungen zu einer möglichst engen Zusammen-
arbeit von Staaten innerhalb Europas keine Alternative
gibt. Eine Europäische Union, aufgebaut auf den christli-
chen Werten, den Grundsätzen der sozialen Marktwirt-
schaft, dem Prinzip des Föderalismus und der kommuna-
len Selbstverwaltung, wird in einem hohen Maße zum
Wohle aller Bürgerinnen und Bürger beitragen und
könnte ein tragfähiges Konzept für eine gemeinsame Zu-
kunft Europas darstellen.
Diese gemeinsame Zukunft muss getragen sein von
einer hohen Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ge-
genüber den europäischen Institutionen und ihren Hand-
lungen und Werten. Fehlende Akzeptanz führt zu einem
Größerwerden von Distanz zwischen Bürgern und denje-
nigen, die in deren Namen Macht ausüben.
Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag
von Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er-
hebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bür-
gern zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen.
Die Kompetenzausweitung auf zahlreiche Politikfel-
der wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheits-
politik, Arbeitsrecht, Zugang von Staatsangehörigen aus
Drittstaaten zum Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, In-
dustrie, Forschung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastro-
phenschutz, Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus,
Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und
vieles mehr ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äu-
ßerst kritisch zu sehen.
Obwohl ein Großteil dieser Aufgaben ausreichend
von den Mitgliedstaaten erledigt wird und auch weiterhin
erledigt werden könnte, wird eine Kompetenz(teil)verla-
gerung auf die europäische Ebene festgeschrieben. Die
fehlende Kompetenzabgrenzung wird zu einer weiteren
Zentralisierungsdynamik der EU führen.
Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da-
durch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige
EU-Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied-
staaten einschließlich der nationalen Verfassungen und
der in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch-
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echtsstaatlichen Ordnungssysteme postuliert. Das Grund-
esetz steht damit zur Disposition der europäischen Or-
ane.
Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene
rinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi-
chen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis-
ion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied-
taat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten
ein wird. Dies ist umso bedauerlicher, da die Kommis-
ion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er-
ährt.
Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus-
eitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter
ehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei-
ungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren
timme nach dem Abschied vom Konsensprinzip zu-
unsten von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr an-
ommt. Die eigenständige Kompetenz, auch zukünftig
n immer weiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprin-
ip überzugehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungs-
efugnisse der nationalen Parlamente.
Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskon-
rolle durch nationale Parlamente die Einhaltung des
ubsidiaritätsprinzips gewährleistet werden soll, ist aus-
rücklich zu begrüßen. Dass dies in der praktischen Aus-
bung aufgrund der knappen Fristen, der Quoren und der
ediglich daraus resultierenden Verpflichtung des Urhe-
ers des Rechtaktes, diesen zu überprüfen und seine Ent-
cheidung zu begründen, kaum praktische Bedeutung
aben wird, ist bedauerlich.
In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag
on Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla-
erung von Zuständigkeiten an die EU und durch die
berführung von Entscheidungen weg von der Einstim-
igkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä-
hung der nationalen Parlamente führt.
Unbestritten ist allerdings, dass der Vertrag gegenüber
en bestehenden Verträgen auch Vorteile bietet.
Die Europäische Union sollte sich allerdings in ihrem
olitischen Handeln auf diejenigen Aufgaben konzen-
rieren, die nur auf der europäischen Ebene gelöst wer-
en können. Der Vertrag von Lissabon stellt dies nicht
icher.
In Abwägung aller Argumente komme ich zu der
berzeugung, dass der vorliegende Verfassungsvertrag
ravierende Mängel aufweist. Deswegen kann ich die-
em Vertrag nicht zustimmen.
Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): Nach dem Schei-
ern des EU-Verfassungsvertrages erklärte die Bundes-
anzlerin, dass für die zukünftige Integrationspolitik der
uropäischen Gemeinschaft „ein Weniger ein Mehr“
ein werde. Dieser Vorgabe hätte entsprochen werden
önnen, wenn dem von den Regierungschefs als Ersatz
ür den Verfassungsvertrag beschlossenen Lissabon-
ertrag seitens des Deutschen Bundestages folgende
larstellung vorgegeben worden wäre:
16610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
1. Dieser Vertrag führt nicht zum Übergang der Kom-
petenzhoheit (Kompetenz-Kompetenz) von den Mit-
gliedstaaten auf die Europäische Union. Deshalb behält
für die Bundesrepublik Deutschland das Bundesverfas-
sungsgericht die Zuständigkeit, darüber zu entscheiden,
ob ein Rechtsakt der Europäischen Union die Grenzen
der von den Mitgliedstaaten in den Verträgen erteilten
Ermächtigung überschritten hat.
2. Dieser Vertrag bewirkt nicht, dass die Europäische
Union den Status eines Bundesstaates erhält; sie bleibt
ein Staatenverbund.
3. Dieser Vertrag darf nicht so ausgelegt werden, dass
die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland ihre
Staatlichkeit, wie sie nach dem Grundgesetz der Bundes-
republik Deutschland vorgegeben ist, verlieren.
4. Eigenmittelbeschlüsse nach Art. 311 des Vertrages
über die Arbeitsweise der Europäischen Union bedürfen
in Deutschland der Zustimmung in Form eines Zustim-
mungsgesetzes.
Da die Abgabe einer solchen Erklärung innerhalb der
regierenden Großen Koalition nicht durchgesetzt werden
konnte, kann ich aus folgenden Gründen weder dem Ver-
trag von Lissabon noch den Begleitgesetzen zustimmen:
I. Während der Vertrag von Maastricht die Gemein-
same Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Zu-
sammenarbeit in den Bereichen Innere Sicherheit und
Justizpolitik als „zweite und dritte Säule“ zwar unter das
Dach der Europäischen Union stellte, aber nicht verge-
meinschaftete, sondern auf der Ebene der „intergouver-
nementalen“ Kooperation beließ, erhebt der Vertrag von
Lissabon die Europäische Union zur Rechtspersönlich-
keit auf der Ebene des Völkerrechts und vergemein-
schaftet die bisherige „dritte Säule“. Die Außen- und Si-
cherheitspolitik einschließlich der Verteidigungspolitik
und der Durchführung militärischer Missionen, insbe-
sondere „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewälti-
gung“ und militärische Terrorismusbekämpfung in Dritt-
staaten, gehören nach dem neuen Vertrag ebenso zu den
Aufgaben der Europäischen Union wie Terrorismusbe-
kämpfung im Innern, Asyl- und Einwanderungspolitik,
Angleichung von Rechtsvorschriften im Zivilrecht und
Erlass von „Mindestvorschriften“ im Strafrecht oder
Strafverfolgung durch Staatsanwaltschaft und Polizei.
Durch diese vorbehaltslose Konzentration von Macht
wird der europäische Staatenbund in einen kontinentalen
Zentralstaat verwandelt.
II. Diese neue Europäische Union des Vertrages von
Lissabon beansprucht über das bisherige EU-Recht hi-
naus, dass ihr Recht – nicht nur ihr im Vertrag von Lissa-
bon formuliertes faktisches „Verfassungsrecht“, sondern
auch jede Richtlinie und Verordnung – Vorrang vor dem
Recht der Mitgliedstaaten, einschließlich deren Verfas-
sungsrecht, hat. Damit ist für die Deutschen der letztver-
bindliche Schutz des Grundgesetzes und der Schutz der
Länderverfassungen durch die deutsche Exekutive und
die deutsche Gerichtsbarkeit zur Disposition gestellt be-
ziehungsweise beseitigt. Die vorbehaltlose Zustimmung
zu diesem Vertrage entmachtet nicht nur die gewählte
Volksvertretung, sondern auch das Bundesverfassungs-
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ericht und überträgt die Kompetenz zur verbindlichen
ntscheidung aller das Verhältnis zwischen Europäi-
cher Union und Mitgliedstaaten betreffenden Kompe-
enzfragen dem Gerichtshof der Europäischen Union.
ie letztentscheidende „Kompetenz-Kompetenz“ – ins-
esondere für den Schutz der Grundrechte – liegt daher
ünftig nicht mehr in Karlsruhe, sondern in Luxemburg.
eshalb kann auch das im Lissabon-Vertrag beschrie-
ene „Subsidiaritätsprinzip“ die Kompetenzfülle der Eu-
opäischen Union nicht wirksam begrenzen; auch über
ie Tragweite dieses „Subsidiaritätsprinzips“ entscheidet
er ausschließlich den EU-Vertragszielen verpflichtete
U-Gerichtshof und nicht mehr das Bundesverfassungs-
ericht. Selbst das Verhältnis des EU-Gerichtshofes zum
uropäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straß-
urg, bei dem Bundesbürger nach jahrelanger Verfah-
ensdauer noch Schutz vor Willkürakten europäischer
nstitutionen erstreiten könnten, ist völlig ungeklärt.
III. Mit der vorbehaltlosen Zustimmung zum Vertrag
on Lissabon überschreitet der Bundestag die Grenzen
er Integrationsermächtigung, die Art. 23 Abs. l GG for-
uliert, und verstößt zugleich gegen unabänderliche
erfassungsprinzipien im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG.
u den unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört
ämlich die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik
eutschland. Diese wird aufgegeben, wenn – wie dies
m Vertrag von Lissabon geschieht – die Kompetenz-
ompetenz für die letztverbindliche Entscheidung über
en Umfang der Kompetenzen auf eine übernationale
nstanz übertragen wird. Eine solche Entscheidung
önnte nur das Volk kraft seiner verfassunggebenden
ewalt – durch Volksabstimmung – treffen, nicht aber
er verfassungsgebundene Gesetzgeber.
IV. Zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien
er Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Län-
er gehört das Demokratieprinzip: Alle Staatsgewalt
uss vom Volke ausgehen. Auch dieses Prinzip wird
urch den Vertrag von Lissabon verletzt. Das Bundes-
erfassungsgericht hatte im Maastricht-Urteil entschie-
en, dass im europäischen Staatenverbund nur dann eine
inreichende demokratische Legitimation gegeben sei,
enn diese maßgeblich von den Völkern der Mitglied-
taaten ausgehe und wenn auf der Ebene der Mitglied-
taaten den Parlamenten Entscheidungsbefugnisse von
inreichendem substanziellen Gewicht verblieben. Bei-
es ist nach dem Vertrag von Lissabon nicht mehr der
all: Die Entscheidungsbefugnisse der nationalen Parla-
ente werden ausgehöhlt, und die auf europäischer
bene getroffenen Entscheidungen können nicht mehr
inreichend von den Völkern der Mitgliedstaaten – über
eren Regierungsvertreter im Rat – legitimiert werden,
eil es auf deren Stimme nach dem Abschied vom Kon-
ensprinzip zugunsten von Mehrheitsentscheidungen
icht mehr ankommt. Durch die Entleerung der Hoheits-
ewalt der Bundesrepublik Deutschland wird vor allem
uch das Grundrecht jedes Bürgers aus Art. 38 GG ver-
etzt, durch seine Teilnahme an der Bundestagswahl an
er demokratischen Legitimation der regierenden Ho-
eitsgewalt mitzuwirken und die Träger dieser Hoheits-
ewalt nicht nur wählen, sondern auch abwählen zu kön-
en.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16611
(A) )
(B) )
V. Dieser Verlust an demokratischer Legitimation
wird durch die dem Europäischen Parlament zuerkann-
ten zusätzlichen Mitentscheidungsrechte nicht annä-
hernd kompensiert. Eine europäische Demokratie könnte
nur von einem europäischen Staatsvolk ausgehen, das
auf der Basis der demokratischen Gleichheit ein Parla-
ment wählt, welches nach Wahlverfahren und Entschei-
dungszuständigkeiten im Unterschied zum Europäischen
Parlament diesen Namen wirklich verdient.
VI. Im Übrigen sind auch die Begleitgesetze mit dem
Demokratieprinzip unvereinbar:
a.) Nach Art. 48 Abs. 7 EUV i.d.F. des Vertrages von
Lissabon kann der Europäische Rat beschließen, zur
Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen,
wo bisher nach den Verträgen Einstimmigkeit vorgese-
hen ist. Ein solcher Beschluss kann die noch verbliebe-
nen Einflussmöglichkeiten der nationalen Parlamente
nochmals erheblich mindern. Der Sache nach geht es bei
Beschlüssen nach Art. 48 Abs. 7 EUV um Änderungen
der EU-Verträge, für die normalerweise ein Zustim-
mungsgesetz erforderlich ist und die hier im vereinfach-
ten Verfahren („Brückenklausel“) beschlossen werden.
Die Rechte der nationalen Parlamente werden dabei
durch das Recht zur Ablehnung der Initiative insofern
noch gewahrt. Dieses nach dem Vertrag dem Bundestag
zustehende Recht wird aber durch das Ausführungsge-
setz weitgehend beseitigt, denn in Bezug auf viele Mate-
rien ist nach diesem Gesetz die Ablehnung des Bundes-
tages unbeachtlich, wenn der Bundesrat anderer
Auffassung ist. Dies ist umso gravierender, als sich die
im Wege der ,Brückenklausel beschlossenen Vertragsän-
derungen innerstaatlich als Verfassungsänderungen aus-
wirken. Dass solche Änderungen ohne Zustimmung und
sogar gegen den erklärten Willen des Bundestages statt-
finden können, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
b.) Politisch ist es sicherlich zu begrüßen, dass die
Rechte der parlamentarischen Minderheit gesichert wer-
den sollen, indem ein Viertel der Mitglieder des Bundes-
tages eine Subsidiaritätsklage initiieren kann. Dieses be-
rechtigte Anliegen wird jedoch in verfassungswidriger
und perplexer Weise verwirklicht: Eine Minderheit kann
den Bundestag verpflichten, Klage zu erheben, obwohl
die große Mehrheit dies nicht will. Die Klage wird also
nicht – wie es im Rahmen unserer verfassungsrechtli-
chen Organklage geregelt ist – von der Minderheit erho-
ben, sondern vom gesamten Bundestag gegen seinen
Willen. Dies ist mit dem demokratischen Mehrheitsprin-
zip nicht vereinbar und verstößt auch gegen das Prinzip
der repräsentativen Demokratie. Das Volk wird vom
Bundestag im Ganzen nach Maßgabe des Mehrheitsprin-
zips repräsentiert. Wenn der Wille einer parlamentari-
schen Minderheit nach außen als der Wille des Parla-
ments dargestellt wird, verstößt dies gegen das
demokratische Repräsentationsprinzip. Da das Demo-
kratieprinzip zu den nach Art. 79 III GG unabänderli-
chen Verfassungsprinzipien gehört, nützt es auch nichts,
daß Art. 23 GG entsprechend geändert werden soll.
Außerdem führt diese Regelung dazu, dass auf der an-
deren Seite im Verfahren vor dem EU-Gerichtshof der
Wille der parlamentarischen Minderheit nicht mit Nach-
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ruck verfochten werden wird. Denn die parlamentari-
che Minderheit führt nicht selbst den Prozess; die Pro-
essführung obliegt nach § 3 V des Begleitgesetzes dem
undestag, der seinerseits durch den Bundestagspräsi-
enten handelt. Dadurch wird der positiv zu beurteilende
inderheitenschutz in der Praxis erheblich relativiert.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich bin der festen Über-
eugung, dass es aufgrund der besonderen historischen
rfahrungen und der enormen zukünftigen Herausforde-
ungen zu einer möglichst engen Zusammenarbeit von
taaten innerhalb Europas keine Alternative gibt. Eine
uropäische Union, aufgebaut auf den christlichen Wer-
en, den Grundsätzen der sozialen Markwirtschaft, dem
rinzip des Föderalismus und der kommunalen Selbst-
erwaltung, wird in einem hohen Maße zum Wohle aller
ürgerinnen und Bürger beitragen und könnte ein tragfä-
iges Konzept für eine gemeinsame Zukunft Europas
arstellen.
Diese gemeinsame Zukunft muss getragen sein von
iner hohen Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ge-
enüber den europäischen Institutionen und ihren Hand-
ungen und Werten. Fehlende Akzeptanz führt zu einem
rößerwerden von Distanz zwischen Bürgern und denje-
igen, die in deren Namen Macht ausüben.
Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag
on Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er-
ebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bür-
ern zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen.
Die Kompetenzausweitung auf zahlreiche Politikfel-
er wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheits-
olitik, Arbeitsrecht, Zugang von Staatsangehörigen aus
rittstaaten zum Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, In-
ustrie, Forschung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastro-
henschutz, Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus,
ufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und
ieles mehr ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äu-
erst kritisch zu sehen. Obwohl ein Großteil dieser Auf-
aben ausreichend von den Mitgliedstaaten erledigt wird
nd auch weiterhin erledigt werden könnte, wird eine
ompetenz(teil)verlagerung auf die europäische Ebene
estgeschrieben. Die fehlende Kompetenzabgrenzung
ird zu einer weiteren Zentralisierungsdynamik der EU
ühren.
Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da-
urch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige
U-Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied-
taaten einschließlich der nationalen Verfassungen und
er in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch-
echtsstaatlichen Ordnungssysteme postuliert. Das
rundgesetz steht damit zur Disposition der europäi-
chen Organe.
Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene
rinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi-
chen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis-
ion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied-
taat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten
ein wird. Dies ist umso bedauerlicher, da die Kommis-
16612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
sion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er-
fährt.
Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus-
weitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter
Mehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei-
dungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren
Stimme nach dem Abschied vom Konsensprinzip zu-
gunsten von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr an-
kommt. Die eigenständige Kompetenz, auch zukünftig
in immer weiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprin-
zip überzugehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungs-
befugnisse der nationalen Parlamente.
Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskon-
trolle durch nationale Parlamente die Einhaltung des
Subsidiaritätsprinzips gewährleistet werden soll, ist aus-
drücklich zu begrüßen. Dass dies in der praktischen Aus-
übung aufgrund der knappen Fristen, der Quoren und der
lediglich daraus resultierenden Verpflichtung des Urhe-
bers des Rechtaktes, diesen zu überprüfen und seine Ent-
scheidung zu begründen, kaum praktische Bedeutung
haben wird, ist bedauerlich.
In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag
von Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla-
gerung von Zuständigkeiten an die EU und durch die
Überführung von Entscheidungen weg von der Einstim-
migkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä-
chung der nationalen Parlamente führt.
Unbestritten ist allerdings, dass der Vertrag gegenüber
den bestehenden Verträgen auch Vorteile bietet.
Die Europäische Union sollte sich allerdings in ihrem
politischen Handeln auf diejenigen Aufgaben konzen-
trieren, die nur auf der europäischen Ebene gelöst wer-
den können. Der Vertrag von Lissabon stellt dies nicht
sicher.
In Abwägung aller Argumente komme ich zu der
Überzeugung, dass der vorliegende Verfassungsvertrag
gravierende Mängel aufweist. Deswegen kann ich die-
sem Vertrag nicht zustimmen!
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Aufgrund der be-
sonderen historischen Erfahrungen und der enormen zu-
künftigen Herausforderungen gibt es zu einer möglichst
engen Zusammenarbeit von Staaten innerhalb Europas
keine Alternative. Eine Europäische Union, aufgebaut
auf den christlichen Werten, den Grundsätzen der sozia-
len Markwirtschaft, dem Prinzip des Föderalismus und
der kommunalen Selbstverwaltung, wird in einem hohen
Maße zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger beitra-
gen und kann ein tragfähiges Konzept für eine gemein-
same Zukunft Europas darstellen.
Voraussetzung dafür ist eine hohe Akzeptanz der Bür-
gerinnen und Bürger gegenüber den europäischen Insti-
tutionen und ihren Handlungen und Werten. Die Distanz
zwischen Bürgern und denjenigen, die in deren Namen
Macht ausüben, darf sich nicht weiter vergrößern.
Das zur Abstimmung stehende Gesetz zum Vertrag
von Lissabon vom 13. Dezember 2007 weist leider er-
hebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bür-
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ern zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen. Die
ompetenzausweitung auf zahlreiche Politikfelder wie
irtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Ar-
eitsrecht, Zugang von Staatsangehörigen aus Drittstaa-
en zum Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Asyl, Industrie,
orschung, Energie, Daseinsvorsorge, Katastrophen-
chutz, Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus, Auf-
au eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und vieles
ehr ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äußerst kri-
isch zu sehen. Obwohl ein Großteil dieser Aufgaben
usreichend von den Mitgliedstaaten erledigt wird und
uch weiterhin erledigt werden könnte, wird eine Kom-
etenz(teil)verlagerung auf die europäische Ebene fest-
eschrieben. Die fehlende Kompetenzabgrenzung wird
u einer weiteren Zentralisierungsdynamik der EU füh-
en.
Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da-
urch, dass der Vertrag von Lissabon über das bisherige
U Recht hinaus Vorrang vor dem Recht der Mitglied-
taaten, einschließlich der nationalen Verfassungen und
er in ihnen zum Ausdruck kommenden demokratisch-
echtsstaatlichen Ordnungssysteme postuliert. Das
rundgesetz steht damit zur Disposition der europäi-
chen Organe.
Das in dem Vertrag von Lissabon festgeschriebene
rinzip der strikten gleichberechtigten Rotation zwi-
chen Mitgliedstaaten bei der Besetzung der Kommis-
ion führt dazu, dass Deutschland als größter Mitglied-
taat periodisch nicht mehr in der Kommission vertreten
ein wird. Dies ist umso bedauerlicher, da die Kommis-
ion einen erheblichen Zugewinn an Kompetenzen er-
ährt.
Die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aus-
eitung der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter
ehrheit entzieht weitere Politikbereiche den Entschei-
ungsbefugnissen der Mitgliedstaaten, weil es auf deren
timme nach dem Abschied vom Konsensprinzip
ugunsten von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr an-
ommt. Die eigenständige Kompetenz, auch zukünftig
n immer weiteren Politikbereichen zum Mehrheitsprin-
ip überzugehen, reduziert zusätzlich die Entscheidungs-
efugnisse der nationalen Parlamente.
Die Tatsache, dass mittels einer Subsidiaritätskon-
rolle durch nationale Parlamente die Einhaltung des
ubsidiaritätsprinzips gewährleistet werden soll, ist aus-
rücklich zu begrüßen. Dass dies in der praktischen Aus-
bung aufgrund der knappen Fristen, der Quoren und der
ediglich daraus resultierenden Verpflichtung des Urhe-
ers des Rechtsaktes, diesen zu überprüfen und seine
ntscheidung zu begründen, kaum praktische Bedeutung
aben wird, ist bedauerlich.
In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass der Vertrag
on Lissabon in der vorliegenden Form durch die Verla-
erung von Zuständigkeiten an die EU und durch die
berführung von Entscheidungen weg von der Einstim-
igkeit zur qualifizierten Mehrheit zu einer Schwä-
hung der nationalen Parlamente führt.
Unbestritten ist allerdings, dass der Vertrag gegenüber
en bestehenden Verträgen auch Vorteile bietet. Die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16613
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Europäische Union sollte sich allerdings, in ihrem politi-
schen Handeln auf diejenigen Aufgaben konzentrieren,
die nur auf der europäischen Ebene gelöst werden kön-
nen. Der Vertrag von Lissabon stellt dies nicht sicher.
Ein Parlamentsbeteiligungsgesetz, wie von mir be-
reits bei der Abstimmung über den Europäischen Verfas-
sungsentwurf eingefordert, wurde lediglich durch eine
abgeschwächte Vereinbarung ersetzt. Ein Gesetz, das die
Mitwirkung des Deutschen Bundestages umfassend si-
chert – und damit die demokratische Rückbindung euro-
päischer Entscheidungen –, existiert bisher nicht. Ob
diese Mängel über den Zeitablauf zu beheben sind, wird
sich zeigen. Ich bedauere, dass meine Fraktion mich und
die weiteren Kritiker überstimmt hat.
Marion Seib (CDU/CSU): Auch nach genauem Stu-
dium des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und SPD
für die 59. Sitzung des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union zu TOP 5a muss ich fest-
stellen, dass mit dem Vertrag von Lissabon zentrale
Strukturen geschaffen werden, die ich als überzeugte Fö-
deralistin nicht gutheißen kann. Der Antrag beinhaltet
nach meiner Auffassung leider nicht die notwendige
Verbindlichkeit zur Sicherung der Subsidiarität. Dies
entmachtet unser nationales Parlament.
Es werden Strukturen geschaffen, die auch bei wech-
selnden politischen Mehrheiten Bestand haben und so
gut wie unmöglich rückgängig zu machen sein werden.
Als Beispiel sei nur die unterschiedliche Stimmenge-
wichtung der Sitze im Europäischen Parlament genannt.
Dass Fragen der Daseinsvorsorge nur europäisch zu lö-
sen sein werden, wage ich ebenfalls zu bezweifeln.
Seit Jahrzehnten bin ich als überzeugte Föderalistin
tätig. Ich bin überzeugt, dass unsere Demokratie auch
deshalb so stabil ist, weil viele Entscheidungen durch
den föderalen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland
von den unterschiedlichsten Ebenen und Entscheidungs-
trägern getroffen werden und deshalb einen einbinden-
den Charakter haben. Wenn ich nun an dieser Stelle
meine tiefe Überzeugung aufgeben soll, würde ich
meine bisherige Tätigkeit zur Stärkung des Föderalismus
krass entwerten.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Vertrag von Lissabon ist in der Substanz mit
dem Verfassungsvertrag weitgehend identisch. Kritik,
wie sie beispielsweise von attac und der französischen
Linken an Teilen der EU-Verfassung 2005 geäußert
wurde, ist nach wie vor schwerwiegend und in einigen
Punkten berechtigt. Dazu gehört, dass die Staaten Euro-
pas zur militärischen Aufrüstung verpflichtet, militäri-
sche Missionen ohne UN-Mandat nicht generell ausge-
schlossen und viele Elemente einer neoliberalen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für Europa fest-
schrieben werden.
Es wäre sicher besser, die Verträge sähen anders aus.
Vieles wäre noch wünschenswert. Allerdings sollte eine
Beurteilung der EU-Verträge sich nicht nur am Wün-
schenswerten orientieren, sondern am Vergleich mit der
heutigen Rechts- und Vertragslage, also: Was wird
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chlechter und was besser, wenn die Verträge angenom-
en werden?
Und da sieht das Ergebnis anders aus. Viele der kriti-
ierten Inhalte sind schon heute auch nicht besser gere-
elt, sondern finden sich seit langem in geltenden EU-
erträgen und der Praxis. Die Verträge bringen sogar
esentliche Verbesserungen, wie die Grundrechtecharta
nd erheblich mehr Rechte für das EU-Parlament und
ie nationalen Parlamente. Und die Todesstrafe wird
urch die EU-Verträge nun wirklich nicht in Deutsch-
and eingeführt und das kann auch in Zukunft nicht pas-
ieren.
1. Kaum verständliche und unübersichtliche Vertrags-
exte
Richtig ist, dass die vorgelegte Fassung der Verträge
uch für Juristen schwer lesbar und kaum verständlich
st. Auch ist alles sehr unübersichtlich. Erst spät, erst in
iesen Tagen wurde eine konsolidierte Fassung online
estellt. Das ist bedauerlich und zu kritisieren, weil da-
it die Diskussion über den Text unnötig erschwert
urde.
2. Verträge sind keine Verfassung
Der Vertrag ist keine Verfassung. Damit ist die
echtsqualität auch eine andere. Ich war und bin der
einung, dass über eine EU-Verfassung eine Volksab-
timmung in allen Ländern der EU stattfinden sollte. Die
otwendigkeit einer Legitimation durch eine Volksab-
timmung sehe ich beim jetzigen Vertragsbündel weni-
er zwingend als bei der EU-Verfassung. Trotzdem wäre
ch dafür, auch hierüber die Völker in einem Referen-
um entscheiden zu lassen. Dass dies nicht geschieht,
ritisiere ich.
3. Bessere Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesta-
es
a. Ich habe damals gefordert, dass die EU-Verfassung
icht verabschiedet werden sollte, ohne dass vorher die
itwirkung des Bundestages bei der zukünftigen Recht-
etzung in Europa umfassend und vollständig durch Ge-
etz geregelt wird.
Diese Forderung ist inzwischen erfüllt. Der Bundes-
ag hat ein solches Gesetz rechtzeitig verabschiedet, das
uch deutliche Verbesserungen für die Mitwirkungsmög-
ichkeit des Bundestages gegenüber dem bisherigen
tand enthält.
Danach wirken Bundestag sowie Bundesrat in Ange-
egenheiten der Europäischen Union mit. Die Bundesre-
ierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend
nd zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Sie
ibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor
hrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäi-
chen Union und muss die Stellungnahmen bei ihren Ver-
andlungen berücksichtigen. Die Bundesregierung muss
m Rat sogar einen Parlamentsvorbehalt einlegen, wenn
er Beschluss des Bundestages in seinen wesentlichen
elangen nicht durchsetzbar ist. In einer weitreichenden
ereinbarung über die Zusammenarbeit von Bundestag
16614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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und Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union werden diese Rechte konkretisiert. Damit
hat der Bundestag mehr Möglichkeiten als bisher, sich
frühzeitig einzuschalten und auf die europäische Recht-
setzung Einfluss zu nehmen, eine Verbesserung des bis-
herigen Rechtszustandes.
b. Die Verträge schaffen noch das Recht auf Subsidia-
ritätskontrolle, die Subsidiaritätsrüge und die Subsidiari-
tätsklage.
4. Mehr soziale Rechte als im Grundgesetz
In der Grundrechtecharta ist zum ersten Mal in der
Geschichte der Europäischen Union in einem einzigen
Text die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirt-
schaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bür-
ger sowie aller im Hoheitsgebiet der Union lebenden
Personen zusammengefasst.
Es ist keineswegs so, dass Grundrechtecharta und Ver-
träge ausschließlich eine neoliberale Wirtschaftsordnung
festschreiben und damit Errungenschaften des Grundge-
setzes aufgeben werden. Ganz im Gegenteil enthalten die
Verträge Forderungen nach sozialer Gestaltung und nach
sozialer Gerechtigkeit, die über das hinausgehen, was im
Grundgesetz steht.
Richtig ist, die Verträge enthalten die Festschreibung
des „Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit
freiem Wettbewerb“, aber auch das Bekenntnis, die EU
wirkt auf „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige so-
ziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und so-
zialen Fortschritt abzielt“ … „Sie bekämpft soziale Aus-
grenzung und Diskriminierungen und fördert soziale
Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung
von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den
Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie
fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen
Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mit-
gliedstaaten“ (Art. 2, Abs. 3 EUV). Und nach der sozia-
len Querschnittsklausel müssen alle Rechtsakte künftig
auf ihre Sozialverträglichkeit hin überprüft werden
(Art. 5a AEUV): „Bei der Festlegung und Durchführung
ihrer Politik und ihrer Maßnahmen trägt die Union den
Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung ei-
nes hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleis-
tung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Be-
kämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem
hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung
und des Gesundheitsschutzes Rechnung.“
5. Mehr Mitwirkungsrechte für EU-Parlament
Die Verträge machen die EU demokratischer, transpa-
renter und effizienter. So wird das bisherige „Mitent-
scheidungsverfahren“ zum ordentlichen Gesetzgebungs-
verfahren in der EU. Das heißt, dass das EU-Parlament
und der Ministerrat in 95 Prozent der Europäischen Ge-
setzgebung zum gleichberechtigten Gesetzgeber werden.
Das EU-Parlament kann in Zukunft hierbei nicht nur
über das abstimmen, was die EU-Kommission vorgelegt
hat, sie kann gravierende Änderungen bewirken. Auch
heute schon können die Mitgliedstaaten und das EP die
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ommission auffordern, einen Rechtsetzungsakt vorzu-
egen (Art. 192, 2 EGV).
Mit der EU-Bürgerinitiative wird erstmals ein direkt-
emokratisches Element in die EU eingeführt. Damit
önnen 1 Million EU-Bürger und -bürgerinnen die Kom-
ission einladen, zu einem bestimmten Bereich einen
esetzesvorschlag vorzulegen.
6. Bindung an VN-Charta
Es stimmt nicht, dass die Verträge die VN-Charta aus-
ebeln. Im Gegenteil, durch den Vertrag wird die EU
usdrücklich auf die „Wahrung der Grundsätze der
harta der Vereinten Nationen“ festgelegt. Damit muss
ie EU „internationale Streitigkeiten durch friedliche
ittel so beizulegen, dass der Weltfriede, die internatio-
ale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet
erden“ (Artikel 2 Absatz 3 UN-Charta).
In Artikel 2 (5) EUV wird festgeschrieben:
„In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und
ördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt
um Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet
inen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhalti-
er Entwicklung, Solidarität, insbesondere zur Wahrung
er Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“
Damit werden nicht nur zivile und militärische Fähig-
eiten auf eine Stufe gestellt, sondern auch die gesamte
emeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik an
ie Charta der Vereinten Nationen gebunden.
7. Aufrüstungsverpflichtung
Gegen die Bestimmung des Art. 28a EUV (3), wo-
ach sich die Mitgliedstaaten „verpflichten (…), ihre mi-
itärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ und
ine „Agentur für die Bereiche Entwicklung der Vertei-
igungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüs-
ung Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und mi-
itärische Fähigkeiten“ einzurichten, habe ich erhebliche
edenken. Als das noch im Entwurf zu einer EU-Verfas-
ung stand, war ich darüber empört und habe ich mich
eftig dagegen gewandt, weil eine solche Aufgabe in ei-
er Verfassung auch wegen des hohen Symbolgehalts
ichts zu suchen hat und auch politisch abzulehnen ist.
un steht es nicht mehr in einer Verfassung, sondern in
inem Vertrag. Ich halte es gleichwohl weiter für falsch
nd nicht vertretbar.
Allerdings bildet diese Bestimmung nur die Realität
ach, denn die Agentur wurde bereits im Jahr 2004 auf
er rechtlichen Grundlage des bestehenden EU-Vertrags
ingerichtet und wird also nicht mit dem Vertrag von
issabon neu geschaffen. Sie ist die Nachfolgeorganisa-
ion der Beschaffungsagentur OCCAR, der Westeuropäi-
chen Rüstungsorganisation WEAG und der Westeuro-
äischen Rüstungsgruppe WEAO.
Eine ,Aufrüstungsverpflichtung“ wurde bisher nie
araus hergeleitet und sollte auch in Zukunft daraus nicht
ntnommen werden. Die „Verbesserung“ wurde bisher
her als Effektivierung angesehen. Umfang und Ausstat-
ung der Streitkräfte sowie die Höhe der Militäretats wer-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16615
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den weiterhin im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten
bleiben. Außerdem wird jede Regierung für sich in An-
spruch nehmen, dass sie bereits in der Vergangenheit ihre
militärischen Fähigkeiten „schrittweise“ verbessert habe
und dies auch in Zukunft „schrittweise“ tun werde.
Ich halte diese Bestimmung gleichwohl weiter für po-
litisch falsch und nicht für vertretbar.
8. Keine Einführung der Todesstrafe
Die Europäische Menschenrechtskonvention wird
übernommen. Sie stammt aus dem Jahr 1950. Seit den
50er-Jahren ist sie in der Bundesrepublik bereits in Kraft
und unmittelbar geltendes Recht, also überhaupt nicht
neu. Sie enthält viele wichtige Garantien von Menschen-
und Verfahrensrechten. Sie lässt tatsächlich unter be-
stimmten Umständen die Todesstrafe zu. Dies war der
Kompromiss zu diesem Punkt, der damals zum Zeit-
punkt der Erarbeitung der EMRK, als es in mehr Län-
dern noch die Todesstrafe gab, erreicht werden konnte.
Dies war jedoch für andere Staaten wie die Bundesrepu-
blik inakzeptabel. Daher sind dann in der Folge zwei Zu-
satzprotokolle zur EMRK verfasst worden, mit denen
die Todesstrafe unter allen Bedingungen abgeschafft
wird. Dabei handelt es sich um das 6. und das 13. Zu-
satzprotokoll. Deutschland und eine Zahl der Europa-
ratsmitglieder haben diese beiden Protokolle unterzeich-
net und ratifiziert. Damit haben sie sich zu einem
höheren Schutz verpflichtet, als von der EMRK vorgese-
hen. Durch Art. 102 Grundgesetz ist die Todesstrafe ab-
geschafft. Eine Wiedereinführung wäre nicht nur mit
diesem Artikel, sondern auch mit Art. 1 Grundgesetz
nicht zu vereinbaren.
Resümee:
Durch den Vertrag von Lissabon wird die bisherige
Rechts- und Vertragslage und die daraus entwickelte po-
litische Praxis in Deutschland nicht wesentlich ver-
schlechtert. Die geltenden EU-Verträge von Maastricht
bis Nizza sind nicht besser, sondern in einigen Punkten
wesentlich schlechter, weil die sozialen Rechte bei ihnen
noch viel mehr hinten anstehen, weil sie keine Grund-
rechtecharta und weit geringere Rechte für das Europäi-
sche Parlament enthalten. Militärische Aufrüstung und
gemeinsame Militäreinsätze der EU-Staaten finden nach
geltendem Vertragsrecht genauso statt, wie sie nach dem
Lissabon-Vertrag stattfinden können. Das geltende Ver-
tragsrecht verhindert offensichtlich nicht einmal die Be-
teiligung an Angriffskriegen ohne UN-Mandat, wie sich
an der Teilnahme einzelner EU-Staaten am Irakkrieg
zeigt.
Eine durchaus wünschenswerte Verbesserung des
Vertrages von Lissabon ist nicht in Sicht. Neue Verhand-
lungen würden eher zu einer Reduzierung der sozialen
Rechte führen. Das Grundgesetz wird durch die Verträge
in seinem wesentlichen Gehalt nicht abgeschafft, vor al-
lem die Grundrechtsgarantien bleiben voll und einklag-
bar in Kraft. Das gilt auch für das allgemeine Völker-
recht. Militärische Einsätze der Bundeswehr bedürfen
weiterhin der Zustimmung des Bundestages.
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Aus diesen Gründen werde ich die Gesetzentwürfe
icht ablehnen.
nlage 5
Erklärung
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
die Nr. 2 der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union zu dem Entwurf eines Gesetzes
zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007
(Tagesordnungspunkt 3 a, Drucksache 16/8917)
Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die
rünen, dass unser Votum „Nein“ lautet.
nlage 6
Erklärung
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundes-
tag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundes-
verfassungsgericht (Tagesordnungspunkt 36 b,
Drucksache 16/8791)
Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die
rünen, dass unser Votum „Ja“ lautet.
nlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– Entwurf eines Gesetzes zur Gewährleistung
angemessener Arbeitsbedingungen für grenz-
überschreitend entsandte und für regelmä-
ßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-
Entsendegesetz – AEntG)
– Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes über die Festsetzung von
Mindestarbeitsbedingungen (Erstes Min-
destarbeitsbedingungen-Änderungsgesetz –
1. MiArbGÄndG)
(Tagesordnungspunkte 14 a und b)
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Der einge-
rachte Gesetzesentwurf lässt sich nur durch die Opposi-
ionsrolle der Grünen erklären. Man muss konstatieren,
ass ihr Ideenreichtum anscheinend leider erschöpft ist.
er vorgelegte Text ist eine schlichte Kopie des Refe-
entenentwurfes aus dem Hause des Bundesarbeitsminis-
ers Scholz. Es ist schön, dass die Arbeit der Bundesre-
ierung so genau von den Grünen verfolgt wird, aber wir
alten den Sachverhalt für so wichtig, dass wir ihn auch
nnerhalb der Koalitionsfraktionen und im Rahmen des
16616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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normalen und sorgfältigen Gesetzgebungsverfahrens be-
arbeiten werden.
Die Grünen müssten das wissen, da sie ja in der letz-
ten Legislaturperiode selbst an der Regierung waren. In
diesem Zusammenhang verblüfft auch die plötzliche
Eile. Unter Rot-Grün hat man sich bei der Frage von
Mindestlohnstrukturen bekanntlich nicht so viel vorge-
nommen, um bei diesem Thema inhaltlich voranzukom-
men. Wir wollen das besser machen, weswegen wir uns
sehr intensiv mit der Problematik, die dem Bestreben der
Koalition zugrunde liegt, beschäftigten. Nicht über-
stürzt, dafür mit Sorgfalt. Der Referentenentwurf und
damit der von den Grünen vorgelegte Text ist dabei nur
der erste gute Entwurf, der im parlamentarischen Verfah-
ren noch „ausreifen“ muss.
Was ist die Grundlage für die von uns geplanten Än-
derungen? Wir haben bereits im Koalitionsvertrag fest-
gehalten, dass es generell Handlungsbedarf bei der
Lohnfindung gibt. Wir wissen, dass es Probleme in man-
chen Branchen und Regionen gibt: Billiglohnkonkurrenz
aus dem Ausland, Dumpinglöhne, ruinöse Konkurrenz
für arbeitsintensive mittelständische Betriebe. Dabei ha-
ben wir uns das Ziel gesetzt, den Arbeitnehmern Sicher-
heit zu geben und gleichzeitig Arbeitsplätze nicht zu ge-
fährden.
Die Koalition hat deswegen Mitte des letzten Jahres
beschlossen, dass wir die unbestreitbar vorhandenen
Probleme durch zwei Instrumente eindämmen möchten.
Über der Idee steht generell der Gedanke: Vorfahrt für
die Tarifparteien! Die Tarifparteien, Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände sind die entscheidenden Akteure
auf diesem Feld. Der Staat sollte sich im Sinne der Sub-
sidiarität aus der Lohnfindung heraushalten und nur für
die notwendigen Rahmenbedingungen sorgen. Das ma-
chen wir mit dem sogenannten Entsendegesetz und der
Aktualisierung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes
von 1952 zu einem Gesetz für Mindestlöhne für be-
stimmte Bereiche.
Worum geht es bei diesen Instrumenten? Vorrangig
greift das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wie es schon
für den Bau umgesetzt wurde, so wurde beispielsweise
das Entsendegesetz auf die Gebäudereiniger ausgewei-
tet. Dies haben wir auf den ausdrücklichen Wunsch der
Tarifparteien, der Arbeitgeber und Gewerkschaften, in
die Wege geleitet. Die Koalition hat nun zudem verein-
bart, dass Branchen mit einer Tarifbindung von mindes-
tens 50 Prozent das Angebot erhalten, in das Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz aufgenommen zu werden und
tarifliche Mindestlöhne zu vereinbaren. Voraussetzung
ist ein gemeinsamer Antrag von Tarifvertragsparteien
der betreffenden Branche bis zum Stichtag 31. März
2008. Dies ist geschehen. Das Gesetzgebungsverfahren
zur Aufnahme dieser Branchen wurde nach Ablauf des
Stichtages unverzüglich eingeleitet. Eine spätere Auf-
nahme von Branchen wird hierdurch aber nicht ausge-
schlossen.
Zudem gilt: Wird im Geltungsbereich des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes von einer Branche erstmals ein
Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarif-
vertrages gestellt, so ist mit diesem Antrag zunächst der
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arifausschuss zu befassen. Innerhalb von drei Monaten
ach Veröffentlichung des Antrages im Bundesanzeiger
ibt der Tarifausschuss zu dem Antrag sein Votum ab.
timmt der Tarifausschuss der Allgemeinverbindlich-
eitserklärung zu, gilt der Mindestlohn für alle In- oder
usländer. Gibt der Tarifausschuss innerhalb der Frist
ein Votum über den Antrag ab, kann das Mindestlohn-
erordnungsverfahren durchgeführt werden. Ein Min-
estlohn-Verordnungsverfahren kann auch durchgeführt
erden, wenn der Tarifausschuss mit drei zu drei ab-
timmt oder die Allgemeinverbindlicherklärung mit
wei zu vier abgelehnt hat. Die entsprechenden Verord-
ungen werden auf Vorschlag des BMAS vom Bundes-
abinett erlassen.
Für den Fall konkurrierender Tarifverträge in einer
ranche werden dem Verordnungsgeber durch Gesetz
riterien vorgegeben, die eine an den Sachgründen des
esetzeszwecks ausgerichtete Entscheidung sicherstel-
en. Ferner wird entsprechend den Vorgaben des europäi-
chen Rechts im Gesetzestext klargestellt, dass die Min-
estlohntarifverträge ausnahmslos für alle in- und aus-
ändischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich
ind. Die Kontrolle soll wie bisher durch die Behörden
er Zollverwaltung erfolgen.
Das zweite und nachrangige Instrument ist die Aktua-
isierung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes von
952 zu einem Gesetz für Mindestlöhne für bestimmte
ereiche. Dabei geht die Koalition von der Beobachtung
us, dass es zunehmend Wirtschaftszweige oder einzelne
egionen gibt, in denen es entweder keine Tarifverträge
ibt oder eine Tarifbindung nur für eine Minderheit der
rbeitnehmer oder der Arbeitgeber besteht. Um in die-
en Bereichen Mindestlöhne zu setzen, wird das Gesetz
ber die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen
us dem Jahr 1952 gangbar gemacht und auf aktuellen
tand gebracht.
Es ist vorgesehen, dass ein Hauptausschuss dauerhaft
ingerichtet wird. Es ist seine Aufgabe festzustellen, ob
indestlöhne als Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt
erden müssen. Ein Fachausschuss wird jeweils für die
etroffene Branche gebildet. Er legt fest, wie hoch der
indestlohn im konkreten Fall sein soll.
Die Zusammensetzung und Verfahren von Haupt- und
achausschuss werden modernisiert und entbürokrati-
iert, um schnelle und sachgerechte Lösungen zu ermög-
ichen. Der Hauptausschuss setzt sich aus sechs unabhän-
igen Experten zusammen, die in der Lage sind,
mfassend die ökonomischen und sozialen Auswirkun-
en von Mindestarbeitsbedingungen einzuschätzen.
inzu kommt ein unparteiischer Vorsitzender mit Stimm-
echt, der von den Mitgliedern des Hauptausschusses be-
timmt wird. Erfolgt keine Einigung auf einen Vorsitzen-
en, erfolgt die Benennung durch das Bundeskabinett auf
orschlag des BMAS. Die Fachausschüsse als Gremien
er betroffenen Branchen werden so zusammengesetzt,
ass sich divergierende Einzelinteressen nicht blockieren
nd zu einem guten Ergebnis führen. Jeder Fachaus-
chuss besteht aus sechs Beisitzern, die je zur Hälfte den
reisen der beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber
ngehören. Hinzu kommt ein unparteiischer Vorsitzender
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16617
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mit Stimmrecht, der von beiden Seiten bestimmt wird.
Bei Nichteinigung bestimmt den Vorsitzenden das Bun-
deskabinett auf Vorschlag des BMAS. Den von einem
Fachausschuss vorgeschlagener Mindestlohn kann auf
Vorschlag das BMAS durch eine entsprechende Verord-
nung des Bundeskabinetts festgesetzt werden.
Außerhalb von Tarifverträgen sind die Vorgaben der
Verordnung für alle in- und ausländischen Arbeitnehmer
zwingend und unabdingbar. Für die Konkurrenz zu be-
stehenden Tarifverträgen werden durch Gesetz Kriterien
für eine Vorrangentscheidung vorgegeben, die eine an
den Sachgründen des Gesetzeszwecks ausgerichtete Ent-
scheidung sicherstellen. Eine Diskriminierung von In-
und Ausländern findet nicht statt.
Ganz generell liegt das Augenmerk der Koalition aber
auf der Förderung und Verstärkung des derzeitigen Auf-
schwungs – denn wirtschaftliches Wachstum kann ent-
scheidend zu der Verhinderung von niedrigen Löhnen
beitragen.
Denn es gilt: Wenn es mehr Wachstum gibt, dann gibt
es mehr Arbeit! Wenn es mehr Arbeit gibt, dann gibt es
bessere Löhne!
Unbestreitbar ist das Sozialproduktwachstum im All-
gemeinen, die Produktivitätszunahme im Besonderen,
ein Orientierungswert ersten Ranges für Lohnverhand-
lungen. Die Große Koalition darf sich anrechnen, an den
Verbesserungen dieser Schlüsselgrößen der Volkswirt-
schaft großen Anteil zu haben (siehe beispielsweise das
25-Milliarden-Programm). Die 1,7 Millionen Arbeitslo-
sen weniger im Vergleich zum Jahr 2005 sind da doch
ein schon schöner Erfolg. Damit verbessern sich die
Rahmenbedingungen für die Integration von Langzeitar-
beitslosen und für angemessene Löhne.
Nochmals – die Ziele sind klar: ausländische Anbieter
müssen eingebunden werden; Dumpinglöhne müssen
verhindert werden; es darf kein System entstehen, das
Menschen in die Arbeitslosigkeit drängt; wir brauchen
eine praktikable und realitätsnahe Lösung.
Mehr Spielraum für bessere Löhne und die dargestell-
ten Änderungen für tarifliche Mindestlöhne – das sind
zwei, wie ich finde, ausgezeichnete Stränge, um den
Bürgern in Deutschland zu helfen.
Anette Kramme (SPD): „Alter Wein in neuen
Schläuchen“, so nennt man das, was Sie uns heute prä-
sentieren. Ihre beiden Anträge kommen mir sehr bekannt
vor. Seien wir froh, dass wir die Schulbank seit ein paar
Jahren hinter uns gelassen haben. Sonst hieße es jetzt:
Note Sechs wegen Abschreibens. Ein wohlmeinender
Lehrer würde vielleicht noch enttäuscht hinzufügen: Das
hätte ich nicht von euch gedacht!
Inhaltlich ist an den von Ihnen eingebrachten Entwür-
fen zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz sowie zum Min-
destarbeitsbedingungsgesetz natürlich nichts auszuset-
zen. Das BMAS hat, wie üblich, gute Arbeit geleistet.
Inhaltlich teilen wir natürlich auch die genannten Forde-
rungen und Ziele: Ja, wir sind für die Schaffung und
Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen
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ür Arbeitnehmer. Ja, wir treten ein für faire Wettbe-
erbsbedingungen für die Unternehmen. Ja, wir möch-
en auf diese Art die Befriedungsfunktion der Tarifauto-
omie bewahren. Ja, wir wollen eine Regelung für den
all konkurrierender Tarifabschlüsse finden. Ja, wir glau-
en, dass die Relevanz des tarifschließenden Arbeitge-
erverbandes und der Organisationsgrad der tarifschlie-
enden Gewerkschaft hier ein wichtiges Kriterium ist. Ja,
ir begrüßen, dass fiskalische Interessen des Staates Be-
chtung finden sollten. Ja, wir wollen, dass in Vollzeit
eschäftigte Arbeitnehmer für ihren Lebensunterhalt
hne ergänzende Hartz-IV-Leistungen auskommen kön-
en. Ja, wir wollen, dass der Gesetzgeber Mindestlöhne
ür solche Branchen festlegen kann, in denen es weniger
ls 50 Prozent tarifgebundene Mitarbeiter gibt.
All dies ist uns Sozialdemokraten schon seit langem
in Anliegen.
Die Grünen können beruhigt sein: All dies wird von
ns auch schon seit einiger Zeit gesetzgeberisch voran-
etrieben. Schon am 18. Juni 2007 hat der Koalitions-
usschuss vereinbart, das AEntG und das Mindestar-
eitsbedingungsgesetz zu novellieren. Schon auf der
abinettsklausur in Meseberg am 23./24. August 2007
at sich die Bundesregierung dahin gehend verständigt,
as Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu erweitern, wenn
ie Tarifpartner einen entsprechenden Antrag stellen.
chon am 11. Januar 2008 hat Bundesminister Olaf
cholz zwei Gesetzesentwürfe in die Ressortabstim-
ung gegeben.
Diese beiden Entwürfe haben die Koalitionsbe-
chlüsse eins zu eins umgesetzt. Wir halten sie nach wie
or für großartig. Sie sind dazu angetan, Mindestlöhne in
eder Branche entweder auf der Grundlage des einen
der des anderen Gesetzes festzulegen.
Mit den Grünen wollen wir für eines unserer Kernan-
iegen sorgen: menschenwürdige Bezahlung für gute Ar-
eit. Die Grünen haben beim Abschreiben wenigstens
eschmack und ein Auge für Qualität bewiesen. Aber
ie beweisen leider auch ein schlechtes Gespür für das
iming. Die SPD verteidigt ihre Mindestlohnpläne seit
onaten gegen viele Widerstände. Wir parieren erhobe-
en Hauptes juristische Tricks, statistische Zahlenspiele-
eien, Pseudogewerkschaften, konservative Häme und
ndere Störfeuer.
Ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen bestärkt
ns in diesem Vorgehen. Am 31. März 2008, dem vo-
übergehend festgesetzten Stichtag, haben insgesamt
cht Branchen ihr Interesse an der Aufnahme ins AEntG
undgetan. Mit der Zeitarbeit, den Pflegediensten, dem
ach- und Sicherheitsgewerbe, der Abfallwirtschaft,
en industriellen Großwäschereien, der Weiterbildungs-
ranche, den forstlichen Dienstleistungen und dem Berg-
au wollen insgesamt rund 1,5 Millionen Beschäftigte
arifvertragliche Mindestlöhne gesetzlich absichern.
Dies zeigt uns zweierlei:
Zum einen haben die Menschen tatsächlich ein Inte-
esse an Mindestlöhnen. 1,5 Millionen Arbeitnehmer
ollen künftig davon profitieren, und sogar über 70 Pro-
ent der Bevölkerung geben in Umfragen an, dass für sie
16618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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Mindestlöhne eine Frage fundamentaler Gerechtigkeit
sind.
Zum anderen sehen wir auch, dass bisher jeder ein-
zelne Schritt auf dem Weg zu Mindestlöhnen gemäß den
Koalitionsvereinbarungen gegangen wurde. Ich gehe
selbstverständlich davon aus, dass dies auch weiterhin
der Fall sein wird.
Dass unser Koalitionspartner hier „zum Jagen getra-
gen“ werden musste, ist zwar bedauerlich, aber letztlich
egal.
Wir erwarten von der Union Vertragstreue. Wir ver-
lassen uns auf die Aussage von Herrn Pofalla. Er wird
im Handelsblatt vom 28. Februar 2008 mit den Worten
zitiert:
Die Beschlüsse sind in keiner Weise infrage ge-
stellt. Ganz im Gegenteil. Wir werden beide Ele-
mente dieses Konzepts umsetzen. Das ist erstens
die Erweiterung des Entsendegesetzes. Hier geht es
darum, unfairen Lohnwettbewerb aus dem Ausland
zu verhindern. Und wir werden zweitens das Min-
destarbeitsbedingungsgesetz konkretisieren, damit
es künftig auch in Branchen mit geringer oder gar
keiner Tarifbindung Mindestlöhne geben kann. …
Wir stehen zu den vernünftigen Beschlüssen des
Koalitionsausschusses in dieser Frage.
Das klingt doch alles sehr vielversprechend. Der Pro-
zess der Mindestlohngesetzgebung ist schon seit einiger
Zeit ins Rollen gekommen. Genau aus diesem Grund
halte ich eine Zustimmung zu den vorliegenden Anträ-
gen heute für obsolet.
Dirk Niebel (FDP): Arbeitsminister Olaf Scholz will
Mindestlöhne. Aber das Angebot an die Branchen, sich
in das Entsendegesetz aufnehmen zu lassen, war ein
Flop. Nach Ablauf der Frist Ende März hatten sich statt
der erwarteten zehn bis zwölf Branchen nur sieben mit
nur circa 1,43 Millionen Beschäftigten gemeldet. Und in
der Zeitarbeitsbranche sind längst nicht alle Arbeitgeber-
verbände und Gewerkschaften für gesetzliche Mindest-
löhne, da sie eigene Tarifverträge abgeschlossen haben.
Die sollen nun ausgehebelt werden, die Unternehmen
werden in Geiselhaft genommen. Diese Branche, die
derzeit maßgeblich am Aufschwung bei den sozialversi-
cherungspflichtigen Beschäftigungen beteiligt ist, würde
bei Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zweifel-
los in ihren Wachstumschancen zurückgeworfen. Damit
sinken auch die Beschäftigungschancen der Arbeitneh-
mer.
Tarifverträge bringen die unterschiedlichen Interessen
der Parteien in Einklang. Das ist mitunter schwierig, wie
erst kürzlich im öffentlichen Dienst und bei der Bahn
wieder gezeigt wurde. Aber es ist Aufgabe der Tarifver-
tragsparteien, sich zu einigen. Wenn sie bei der Erfül-
lung ihrer Aufgabe versagen, ist der Ruf nach dem Staat
keine Alternative. Wer es unterstützt, dass der Staat sich
massiv bei der Lohnfindung einmischt, läutet das Ende
der Tarifautonomie ein. Denn das weiß man spätestens
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eit Goethes Zauberlehrling: Die Geister, die man rief,
ird man so schnell nicht wieder los.
Das Scholz-Projekt liegt jetzt auf Eis, weil die Union
iderstandskräfte mobilisiert hat. Nachdem sie bei den
ostdienstleistern dem Mindestlohn die Tür geöffnet und
o das Postmonopol mit anderen Mitteln festgeschrieben
at, möchte sie das Kampfthema nicht weiter verfolgen.
eshalb sind jetzt die Grünen in die Bresche gesprungen
nd legen die Gesetzentwürfe vor, auf die sich die Re-
ierung nicht einigen konnte. Das macht die Sache aber
icht besser.
Wir Liberalen bleiben dabei: Mindestlöhne sind ma-
imaler Unsinn. Wir lehnen eine Ausdehnung des Ar-
eitnehmer-Entsendegesetzes und Forderungen nach ge-
etzlichen Mindestlöhnen ab. Die letzte Änderung des
rbeitnehmer-Entsendegesetzes war ein Instrument, um
as Monopol der Deutschen Post zu zementieren und un-
iebsame Konkurrenz auszuschalten. Ich will noch ein-
al daran erinnern: Die Löhne bei den privaten Dienst-
eistern sind niedriger, weil die Post nicht 19 Prozent
ehrwertsteuer zahlen muss. Diesen Wettbewerbsvor-
eil können Private gar nicht aufholen.
Ein Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze, wie wir es
a in der Folge auch bei den Briefdienstleistern gesehen
aben. Die Leidtragenden sind diejenigen, die ihre Ar-
eitsplätze verloren haben, weil sie zu den neuen Min-
estlöhnen nicht mehr beschäftigt werden können. Mein
ollege Volker Wissing hat beim Arbeitsministerium
achgefragt und die kühle Antwort bekommen, dass bei
en Briefdienstleistern seit Januar 57 Unternehmen mit
und 5 700 Arbeitsplätzen aufgegeben haben.
Wie konnte es so weit kommen? Schwarz-Rot malt
mmer noch ein Bild des Schreckens: Billiganbieter aus
en Beitrittsstaaten überschwemmen das Land und ge-
ährden Arbeitsplätze für deutsche Arbeitnehmer.
Gern werden andere Länder mit Mindestlöhnen wie
rankreich und Großbritannien als Beispiele für deren
otwendigkeit aufgeführt. Dieser Vergleich ist falsch.
ndere Faktoren wie die unterschiedliche soziale Siche-
ung werden nicht in den Vergleich einbezogen. Wir
rauchen in Deutschland keinen Mindestlohn. In
eutschland sorgen die sozialen Sicherungssysteme, ins-
esondere das Arbeitslosengeld II, für ein sozio-kultu-
elles Existenzminimum. Das ist der gesetzlich festge-
egte faktische Mindestlohn, der zum Teil über
esetzlichen Mindestlöhnen in anderen Ländern liegt.
arunter gibt es keine Anreize, einen Job in der legalen
irtschaft anzunehmen. Für einfach qualifizierte Ar-
eitslose lohnen sich gering bezahlte Tätigkeiten nicht,
eil sie damit kaum mehr verdienen können, als ihnen
hnehin als Transferleistung zusteht.
Wir brauchen mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt
nd nicht noch mehr staatliche Vorgaben. Wenn gesetzli-
he oder tarifliche Mindestlöhne eingeführt werden,
eißt das, dass eine Tätigkeit oder eine Dienstleistung ei-
en Mindestpreis kostet. Wenn die Leistung diesen Preis
icht wert ist, wird die Leistung zumindest legal nicht
ehr nachgefragt. Derzeit sind Arbeitskräfte mit gerin-
er Produktivität vom Arbeitsmarkt praktisch ausge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16619
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schlossen. Das sind vor allem Geringqualifizierte und
Langzeitarbeitslose. Sie haben kaum Aussichten auf eine
neue Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt. Dabei ha-
ben wir bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe beschlossen, dass gerade diese Zielgruppe
schnellstmöglich und dauerhaft in den ersten Arbeits-
markt integriert werden soll. Und seit Hartz IV ist für
Arbeitslose jede legale Arbeit zumutbar. Dann müssen
aber auch angemessene Arbeitsplätze zur Verfügung ste-
hen. Das wird mit einer Lohnuntergrenze nicht erreicht.
Wenn dann kein ausreichendes Einkommen für den
Lebensunterhalt erwirtschaftet werden kann, müssen die
Einkünfte durch Transferleistungen ergänzt werden. Das
ist zum Beispiel die Linie unseres Bürgergeldmodells.
Hier erhält der Arbeitnehmer einen direkten Steuerzu-
schuss. Das Mindesteinkommen muss gesichert sein,
nicht ein Mindestlohn.
Es gab schon immer Erwerbstätige, deren Einkom-
men vom Staat ergänzt wurde, zum Beispiel durch So-
zialhilfe oder Wohngeld. In der Sendung Kontraste
wurde am 10. April 2008 aus einer Studie des DIW be-
richtet, dass viele, die aufgrund der Größe ihrer Bedarfs-
gemeinschaft ihre Einkünfte mit Arbeitslosengeld II auf-
stocken, gar nicht von einem Mindestlohn von 7,50 Euro
profitieren würden. 50 Prozent der 479 000 vollzeitbe-
schäftigten Aufstocker haben einen Stundenlohn von
neun oder mehr Euro. Insgesamt liegen zwei Drittel der
Aufstocker über 7,50 Euro. Höchstens 15 000 alleinste-
hende Erwerbstätige können wegen eines zu geringen
Stundenlohns nicht von ihrem Vollzeitjob leben. Und im
Baugewerbe stocken 42 000 Bauarbeiter trotz Mindest-
lohn mit Arbeitslosengeld II auf.
Nur in einem flexiblen Arbeitsmarkt können Unter-
nehmen schnell auf neue Wettbewerbsverhältnisse re-
agieren. Wir brauchen Öffnungsklauseln für betriebliche
Bündnisse. Damit sind maßgeschneiderte Lösungen zur
Sicherung von Arbeitsplätzen und zur Verhinderung von
Arbeitslosigkeit möglich. Wir brauchen eine Wachs-
tumspolitik, und wir brauchen einen funktionsfähigen
Niedriglohnsektor. Die Löhne müssen sich an der Pro-
duktivität orientieren. Darum müssen die wirtschaftli-
chen Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass vor-
handene Arbeitsplätze gesichert und wieder mehr
Arbeitsplätze im Inland geschaffen werden.
Werner Dreibus (DIE LINKE): Es ist ein legitimes
Verfahren, wenn die Opposition die Koalition an ihre ei-
genen Vereinbarungen erinnert und sich dazu auch der
Gesetzentwürfe der Regierung bedient. Im konkreten
Fall springt die grüne Fraktion jedoch zu kurz, viel zu
kurz. Denn mit der Umsetzung der beiden Gesetzent-
würfe würde das wesentliche Ziel einer Gesetzgebung
für Mindestlöhne gerade nicht erreicht.
Wir wollen doch nicht, dass lediglich die untersten
Tariflöhne vom Gesetzgeber zu Mindestlöhnen erklärt
werden. Wir wollen, dass Mindestlöhne festgesetzt wer-
den, von denen die Menschen leben können. Davon aber
ist in den Gesetzentwürfen keine Rede.
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Keinem Mann und keiner Frau – es sind vor allem
rauen, die zu Armutslöhnen arbeiten – wäre damit ge-
ient, wenn Tariflöhne von 3,50 Euro oder 4 Euro zu
indestlöhnen erklärt würden. Im Gegenteil: Dann be-
äme Lohndumping auch noch den Segen des Gesetzge-
ers.
Deshalb muss – egal wie das Gesetz letztendlich
eißt – an erster Stelle die Festlegung einer allgemeinen
ohnuntergrenze erfolgen. Ein Mindestlohn muss so
och sein, dass er bei einer Vollzeitarbeit für ein aus-
ömmliches Einkommen sorgt, das heißt, er muss die
xistenz sichern. Nur so wird Armut trotz Arbeit wirk-
am verhindert.
Der deutsche Gesetzgeber hat bereits mit der Pfän-
ungsfreigrenze eine Lohnuntergrenze definiert. Sie liegt
erzeit bei rund 1 000 Euro. Hätten wir in Deutschland
inen Mindestlohn von 8,44 Euro pro Stunde wie in
rankreich, würde bei einer Vollzeitarbeit – 38,5 Stunden
ro Woche – einen Nettolohn ermöglicht, der mindestens
uf der Höhe der Pfändungsfreigrenze läge. Die Höhe
es Mindestlohns ist also entscheidend.
Um das zu erkennen, braucht es keine Beratung der
orliegenden Gesetzentwürfe hier im Plenum.
Was wir brauchen, ist ein Gesetz, das, erstens, einen
llgemeinverbindlichen gesetzlichen Mindestlohn fest-
etzt und das, zweitens, den Tarifparteien ermöglicht,
ranchenmindestlöhne abzuschließen, die über dem ge-
etzlichen Mindestlohn liegen. Meine Fraktion hat dazu
inen Vorschlag unterbreitet. Dem haben sich bisher alle
raktionen, auch die der Grünen, verweigert. Stattdessen
ringen sie jetzt Gesetzentwürfe ein, mit denen der zweite
chritt vor dem ersten gemacht werden soll. Die Experten
es Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
es DGB haben auf das Manko dieses Vorgehens aus-
rücklich hingewiesen.
Ich zitiere:
Zu erwarten ist …, dass zahlreiche Lücken bleiben,
wenn nicht systematisch und flächendeckend für
alle in Betracht kommenden Niedriglohnbranchen
Verfahren in Gang gesetzt werden.
Das Fazit der Wissenschaftler, dem sich auch der
GB angeschlossen hat, lautet:
Die erwartbaren Regelungslücken werden auch in
Deutschland dafür sorgen, dass eine universelle Lö-
sung im Sinne eines allgemeinen, branchenübergrei-
fenden Mindestlohns auf der Tagesordnung bleibt.
Mit meinen Worten: Die Gesetzentwürfe von Minister
cholz, die die grüne Fraktion hier zur Debatte stellt,
ind nicht auf der Höhe der Zeit. Nur ein gesetzlicher
indestlohn ist in der Lage, für alle Beschäftigten bei
ollzeitarbeit Armut zu verhindern und die entspre-
hende Transparenz und dadurch auch Kontrolle herzu-
tellen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
eit Mitte letzten Jahres läuft bei der großen Koalition
nter der Regie von Kanzlerin Merkel der Mindestlohn
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als eine Mischung aus Schmierenkomödie und Trauer-
spiel und entwickelt sich, insbesondere für die Betroffe-
nen, immer mehr zum Drama.
Im Koalitionsausschuss wurde im Juni 2007 ein Min-
destlohnverfahren festgelegt, damit zukünftig auch in
Deutschland Lohndumping effektiv verhindert werden
kann. Seitdem werden von der Union alle Ansätze zerre-
det, zerprüft und blockiert – und die SPD steht offen-
sichtlich machtlos daneben. Die Gesetzentwürfe für den
Mindestlohn – das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und
das Mindestarbeitsbedingungen-Gesetz – aus dem Hause
des Arbeitsministers sind bis jetzt an den ideologischen
Hürden im Wirtschaftsministerium gescheitert. Glos
lässt Scholz beim Mindestlohn am ausgestreckten Arm
verhungern. Und ich befürchte, dass sich die Kräftever-
hältnisse in der Koalition auch bis zum nächsten Koali-
tionsausschuss nicht ändern werden.
Während Schwarz-Rot den Mindestlohn versenkt,
entwickelt sich Deutschland immer mehr zum Billig-
lohnland. Die Länderstudien zum Niedriglohnsektor zei-
gen für Deutschland ein niederschmetterndes Ergebnis:
6,5 Millionen Menschen in Deutschland liegen mit ih-
rem Verdienst unterhalb der Niedriglohnschwelle, die
Anzahl der Beschäftigten, die weniger als 5 Euro verdie-
nen, ist von 2004 bis 2006 von 1,5 auf 2 Millionen ange-
stiegen.
Wenn CDU und CSU glauben, mit einer Niedrig-
lohnstrategie künftig die Abwanderung von Unterneh-
men verhindern zu können und Arbeitsplätze hier halten
oder schaffen zu können, dann liegen sie falsch.
Deutschlands Wirtschaft basiert nach wie vor auf Wis-
sen. Von Arbeitsplatzabbau waren überwiegend gering
Qualifizierte betroffen – trotz niedriger Löhne. Bei hö-
her Qualifizierten sieht das anders aus: Nach Angaben
des Statistischen Bundesamtes wurden zwischen 2001
und 2006 im Dienstleistungsbereich mehr Arbeitsplätze
für höher Qualifizierte in Deutschland durch Verlagerun-
gen geschaffen als abgebaut. Für eine positive Arbeits-
platzbilanz brauchen wir also in erster Linie gut ausge-
bildete Fachkräfte und eine Infrastruktur, die es attraktiv
macht, hier zu arbeiten und zu leben. Dazu müssen wir
erstens in Bildung investieren, zweitens in Bildung in-
vestieren und drittens noch mal in Bildung investieren.
Und genau das ist Aufgabe von Politik, und genau hier
versagen Union und SPD im Bund wie in den Ländern.
Eine wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Strate-
gie, die auf Billiglöhne setzt, wird in eine Abwärtsspirale
führen, an deren Ende jede Menge Verlierer stehen, bis
hin zu den zukünftigen Rentnern, die nach vielen Jahren
Arbeit zu Armutslöhnen im Alter auf Armutsrenten an-
gewiesen sein werden. Profiteure sind skrupellose Un-
ternehmer, die ihre unanständige Gewinnkalkulation auf
Lohndumping aufbauen. Und zahlen muss am Ende der
Steuerzahler, wenn die Löhne und die Renten, die nicht
zum Leben reichen, aufgestockt werden müssen.
Natürlich sind Mindestlöhne kein Allheilmittel gegen
Armut, aber ein wichtiger Baustein, um zukünftig Armut
trotz Arbeit zu verhindern. Streiten Sie also nicht länger
über das Ob, sondern lassen Sie uns konstruktiv über das
Wie diskutieren. Dazu bieten die Gesetzentwürfe aus
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em Arbeitsministerium eine Grundlage. Darum stellen
ir sie hier zur Debatte. Natürlich ist das nicht eins zu
ins grüne Mindestlohnpolitik. Wir Grüne setzten – das
st bekannt – auf branchen- und regionalspezifische Min-
estlöhne und auf das britische Modell einer Mindest-
ohnkommission. Das kann aber alles im Rahmen der
arlamentarischen Beratung diskutiert werden. Lassen
ie uns also so bald wie möglich die Experten zu den
esetzentwürfen anhören, lassen Sie uns Verbesserun-
en einarbeiten und dann mit einer parlamentarischen
ehrheit für Mindestlöhne entscheiden.
nlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
das Verbot der Einfuhr, der Verarbeitung und
des Inverkehrbringens von Robbenerzeug-
nissen (Robbenerzeugnisse-Verbotsgesetz –
RobErzVerbG) (Tagesordnungspunkt 17)
Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Wir haben uns an dieser
telle wiederholt mit dem Thema Robben und dem Tö-
en der Jungrobben in der Arktis im März jeden Jahres
efasst. Im Oktober vergangenen Jahres haben wir dann
emeinsam beschlossen, die Bundesregierung aufzufor-
ern, ein entsprechendes Gesetzesverfahren einzuleiten,
m den Handel mit Robbenprodukten zu unterbinden.
em entspricht der heutige Antrag.
Ich schätze ein, dass wir mit dem vorliegenden Ge-
etzantrag heute zunächst einen sehr wichtigen Punkt
etzen können: Es wird in Deutschland hoffentlich bald
in Gesetz geben, das den Handel mit Robbenerzeugnis-
en verbietet. Ich empfinde das als ein erfreuliches Er-
ebnis unserer gemeinsamen Arbeit, ein Erfolg für den
ierschutz und ein Ergebnis gemeinsamer beharrlicher
rbeit zum Schutz der Robben.
Erlauben Sie mir, allen Beteiligten hier an dieser
telle zu danken und der Hoffnung Ausdruck zu verlei-
en, dass wir auch bei anderen Themen fraktionsüber-
reifend so konstruktiv und engagiert zu Lösungen in
er Sache kommen können. Mein Dank gilt an dieser
telle der Bundesregierung und dem Landwirtschaftsmi-
ister Seehofer, die unser Anliegen und unseren gemein-
amen Antrag vom Oktober 2006 stets unterstützten und
un praktisch umsetzen werden. Ausdrücklich möchte
ch in meinen Dank auch die Vertreter der kanadischen
taatsregierung einbeziehen. Trotz unterschiedlicher
tandpunkte haben wir in der Sache stets sehr wertvolle
nformationen bekommen und in den Anhörungen sehr
ffen zahlreiche Argumente ausgetauscht und – so hoffe
ch – viel voneinander gelernt. Ich freue mich außerdem,
ass die Frage des Artenschutzes der Robben und ihres
achwuchses immer eine große Rolle gespielt hat und
uch jetzt wieder in den Mittelpunkt rückt. Die Fragen
iner nachhaltigen Bestandspflege sind ebenso wie die
ragen zur Sicherung des Lebensraumes der Robben in
er sich klimatisch verändernden Welt wichtige Themen,
ie wir in den kommenden Jahren nur gemeinsam lösen
önnen. Ich glaube, dieser Ansatz wird auch in Kanada
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16621
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bei den Verantwortlichen sehr gut registriert und aner-
kannt. Deswegen bin ich mir sicher, dass wir mit diesem
Gesetzesvorhaben keine bilateralen Probleme mit unse-
ren Freunden in Übersee riskieren.
Auch wenn das nationale Handelsverbot für Robben-
erzeugnisse zunächst eine wichtige Zwischenetappe zum
Robbenschutz darstellt: Ein nationales Handelsverbot
von Robbenerzeugnissen ist mit Sicherheit kein Schluss-
punkt unserer Debatte um die Robben. Die drastischen
Medienbilder über das Robbensterben kamen bisher fast
immer aus Kanada. Bis heute sind Länder wie Russland
oder China kaum in den Blickpunkt und in das Interesse
der weltweiten Öffentlichkeit gelangt. Hier gilt es auch
für uns, weiterzumachen und den Teilerfolg für den
Schutz der Robben auszuweiten, im Sinne des Tierschut-
zes und des Arterhalts.
Es ist heute hier ein erster, wenn auch sehr wichtiger
Schritt, die Massentötungen junger Robben einzuschrän-
ken und womöglich einmal ganz zu verhindern. Nach
wie vor setzen wir uns für ein gesamteuropäisches Han-
delsverbot ein, die Bundesregierung muss da sozusagen
„am Ball“ bleiben, und auch wir Parlamentarier werden
darauf achten müssen.
Denn nur, wenn wir unser eigenes Haus aufgeräumt
haben, werden wir auch ernst genommen, wenn wir
weltweit verstärkte Anstrengungen fordern, das Robben-
schlachten einzudämmen oder ganz zu verbieten. Die
kanadischen Erfahrungen werden dabei sehr nützlich
sein. Sie sind hilfreich und beispielgebend für Beratun-
gen mit den Staaten, in denen Robbentötungen weitest-
gehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
Ich schlage vor, dass wir die praktischen kanadischen
Erfahrungen nutzen und einbeziehen.
Die Verbraucher selbst haben eine wichtige Verant-
wortung. Wo keine Erzeugnisse aus Robben nachgefragt
werden, gibt es keinen Handel, und letztendlich werden
weniger Tiere allein wegen ihres Fells getötet. Es ist
wichtig, die Einfuhr aller Robbenerzeugnisse aus dem
Ausland zu regeln und wenn es geht, wirksam zu unter-
binden. Wir sind sicher, dass die Bundesregierung dazu
rasch bundesgesetzliche Regelungen vorlegen wird. Ich
erwarte in den kommenden Wochen sehr konstruktive
Beratungen in den Ausschüssen und biete Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dafür ausdrücklich unseren
Sachverstand an, um zu einem guten Gesetz zu kommen.
Meine Rede zum interfraktionellen Antrag am
18. Oktober 2006 habe ich mit der Hoffnung geschlos-
sen, dass ich unseren Kindern und Enkeln wünsche,
Robben in freier Wildbahn kennenzulernen und dass ihr
Schicksal nicht den ausgestorbenen Auerochsen glei-
chen möge. Mit dem heutigen Tag sind wir dieser meiner
Hoffnung, die viele Menschen in diesem Land teilen, ei-
nen bedeutenden Schritt entgegengekommen. Ich freue
mich, dass sich unsere bisherige Arbeit gelohnt hat und
die Bilder über die Gemetzel auf den polaren Eisfeldern
vielleicht irgendwann einmal der Vergangenheit angehö-
ren werden.
Gestatten Sie mir auch noch einen Blick in die Zu-
kunft, wobei ich ausdrücklich auf die Argumente unserer
kanadischen Freunde eingehen möchte: Selbstverständ-
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ich muss man in dieser Welt auch über Bestandsregulie-
ungen von Wildtierbeständen sprechen, wenn das not-
endig erscheint. Das machen wir in Deutschland so,
nd das muss man auch anderen Ländern zugestehen.
ber vorher müssen noch einige Fragen gestellt und be-
ntwortet werden:
Erstens. Ist die Bestandsregulierung überhaupt not-
endig? Gerade bei den Robben gehen da die Meinun-
en weit auseinander. Während die Kanadier eine Be-
tandsreduzierung für unumgänglich halten, sehen wir
iese Notwendigkeit nicht. Abhilfe könnten hier unab-
ängige, das heißt allgemein anerkannte Sachverständi-
engutachten schaffen.
Zweitens. Wenn eine Bestandsreduzierung notwendig
ein sollte, muss die Frage nach einem Tötungsverfahren
estellt werden, welches tierartengerecht ist. Hier haben
ns die Kanadier vermittelt, dass bereits 95 Prozent der
obben nicht mehr erschlagen, sondern geschossen wer-
en.
Drittens. Für uns steht immer die Forderung im Mit-
elpunkt, kein Tier ohne vernünftigen Grund zu töten.
as heißt aus deutscher Sicht, ein Tier nur wegen der
ellgewinnung zu töten, wird diesem Anspruch nicht ge-
echt. Das heißt im Umkehrschluss – da sind sich alle
raktionen des Deutschen Bundestages wahrscheinlich
inig –, dass die Bejagung von Robbenbeständen zur Ei-
enversorgung der einheimischen Bevölkerung erlaubt
ein muss.
Wegen der genannten Gründe bin ich froh, dass wir
en Gesetzesentwurf heute einbringen, und ich bin mir
icher, dass es nicht das letzte Mal war, dass wir über
obben im Deutschen Bundestag gesprochen haben. Ich
itte Sie, den vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktio-
en von CDU/CSU und SPD wie beantragt zu überwei-
en und freue mich auf die Gesetzesberatung in den zu-
tändigen Ausschüssen.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Wir beraten heute
n erster Lesung das Robbenerzeugnisse-Verbotsgesetz,
it dem wir den Import, die Be- und Verarbeitung und
as Inverkehrbringen von Robbenprodukten in Deutsch-
and wirkungsvoll unterbinden wollen.
Wir wollen ein Einfuhrverbot für Produkte, die unter
nkaufnahme von unvorstellbarem Tierleid auf den
arkt kommen. Für diese Produkte werden Tiere er-
chossen oder erschlagen, und häufig sterben sie nicht
irekt, sondern sind noch bei Bewusstsein, wenn sie ent-
äutet werden.
In Zahlen gesprochen bedeutet dies: Zu kommerziel-
en Zwecken werden weltweit knapp 750 000 Robben
ro Jahr getötet. Über 90 Prozent dieser Tiere sind zwi-
chen wenigen Wochen und drei Monaten alt.
Es steht für mich außer Frage: Das Töten von Tieren,
ur um ihre Felle kommerziell zu nutzen, ist ethisch
urch nichts zu rechtfertigen. Wir müssen uns nicht
ehr mit Fellen bekleiden, wie es unsere Vorfahren ge-
an haben. Gerade die Textilindustrie hat in den letzten
ahren bewiesen, dass sie dem gesellschaftlichen Trend
ach ethisch korrekt erzeugter Bekleidung nachkommen
16622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
kann. Sie bietet heute eine Vielzahl von Stoffen an, die
in ihren Eigenschaften und ihrem Aussehen Tierfellen in
nichts nachstehen. Auch in allen anderen Bereichen kön-
nen wir heute auf Technologien zurückgreifen, mit deren
Hilfe wir den Einsatz von Tierfellen vollständig ersetzen
können. Unsere ethischen Bedenken gegen den Einsatz
von Robbenfellen teilen bereits seit langem sowohl Me-
xiko als auch die USA. Beide Länder haben Einfuhrver-
bote für Robbenprodukte erlassen, genauso wie in jüngs-
ter Zeit auch Belgien und die Niederlande. In der
Schweiz verzichten die Kürschner bereits seit 1967 frei-
willig auf die Verarbeitung von Robbenfellen. Leider
konnten wir uns in Europa bisher auf keine gemeinsame
Position zum Einfuhrverbot von Robbenerzeugnissen
verständigen. Ich persönlich hätte mir eine ähnliche Re-
gelung für Robbenerzeugnisse gewünscht, wie wir sie
auf EU-Ebene bereits für den Import von Hunde- und
Katzenfellen erarbeitet haben. Ein Importverbot für
diese Fellarten tritt bekanntlich Ende des Jahres in Kraft.
Zwar hat der EG-Ministerrat bereits im Jahr 1983 die so-
genannte Jungrobbenrichtlinie verabschiedet und damit
die Einfuhr des weißen Pelzes wenige Tage alter Robben
in die Europäische Gemeinschaft untersagt. Jedoch
mussten wir feststellen, dass dieses Verbot nur kurzfris-
tig dazu beigetragen hat, die Jagd zu begrenzen. Die
Jagdsaison beginnt nun eben zwei Wochen später, wenn
die Babyrobben die in der Jungrobbenrichtlinie vorgege-
bene Altersgrenze überschritten haben.
Es ist für uns nicht akzeptabel, dass seit 1996 alleine
in Kanada über drei Millionen Sattelrobben geschlachtet
wurden. Denn wir müssen uns immer wieder vor Augen
führen, worum es im Kern dieser Debatte geht: aus-
schließlich um die Bedürfnisbefriedigung einer gesell-
schaftlichen Minderheit, die Handschuhe, Taschen und
Schuhe aus Robbenfelle trägt, um ihre eigene Eitelkeit
zu befriedigen. Fellartikel, die auf diese Art als Status-
symbol zur Schau getragen werden, sind völlig überflüs-
sig. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere auf die
Jagdpraktiken der Kanadier eingehen, und zwar deshalb,
weil Kanada für mehr als ein Drittel der weltweiten Rob-
bentötungen verantwortlich ist, und weil gerade die ka-
nadische Jägerlobby in den letzten Monaten nichts un-
versucht gelassen hat, deutsche Abgeordnete von der
Notwendigkeit der kommerziellen Robbenjagd zu über-
zeugen.
Es ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, dass
eine Regierung Jahr für Jahr die grausamen Praktiken ih-
rer Jäger vor der Weltgemeinschaft verteidigt, obwohl
doch der Umsatz aus diesem Geschäft nur etwas weniger
als 10 Millionen Euro pro Jagdsaison beträgt.
Die Vertreter der kanadischen Jägerlobby verweisen
in persönlichen Gesprächen immer wieder darauf, dass
ein Jagdverbot die wirtschaftliche Existenz der Inuit und
anderer indigenen Gruppen zerstört. Lassen Sie mich be-
tonen, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf
die berechtigten Interessen der traditionell vom Robben-
fang abhängigen Menschen anerkennen und berücksich-
tigen. Gleichzeitig wollen wir aber die moderne und rein
kommerzielle Jagd auf Robben von der traditionellen
Jagd zur Eigenversorgung abgrenzen. Sicherlich kann es
sein, dass die Jagd auf Robben in ihrer bisherigen Form
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azu beiträgt, die wirtschaftliche Existenz bestimmter
ndigener Gruppen zu sichern. Es ist aber in diesem Zu-
ammenhang die legitime Frage erlaubt, mit welchen an-
eren Maßnahmen sich dieses Ziel möglicherweise auch
rreichen lässt. Was kann denn ein staatliches Programm
osten, das die wirtschaftlichen Verluste derjenigen
obbenjäger ausgleicht, die die Jagd aufgeben? Die
osten dafür werden durch den zusätzlichen Imagege-
inn Kanadas mehr als kompensiert.
Mir ist bewusst, dass wir von hier aus nicht auf die
anadische Gesetzgebung einwirken können. Wir kön-
en aber dafür sorgen, dass wir in unserem Land eine
lare gesetzliche Regelung für ein Importverbot schaf-
en. Gleichzeitig möchte ich die Gelegenheit nutzen und
inen erneuten Appell an die kanadische Regierung und
hren Ministerpräsidenten, Stephen Harper, richten: Be-
nden Sie diese archaische Form der Pelzgewinnung!
ie gehört nicht mehr in diese Zeit!
Über 80 Prozent der Deutschen sprechen sich in Um-
ragen für ein striktes Importverbot aller Robbenpro-
ukte aus. Diesem Wunsch haben wir uns als Parlamen-
arier nicht verschlossen. Bereits im Herbst 2006 wurde
on den Koalitionspartnern zusammen mit den Fraktio-
en von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP ein Antrag
n den Deutschen Bundestag eingebracht. Mit diesem
urde die Bundesregierung aufgefordert, sich auf euro-
äischer Ebene für ein Einfuhr- und Handelsverbot mit
rodukten aller Robbenarten einzusetzen, und – wenn
eine gemeinsame europäische Position dazu gefunden
erden kann – den Import, die Be- und Verarbeitung und
as Inverkehrbringen von Robbenprodukten in Deutsch-
and effektiv zu unterbinden. Die SPD-Bundestagsfrak-
ion hat im September 2006 zugesagt, dass sie genau
arauf achten wird, dass die Bundesregierung einen Ge-
etzentwurf ausarbeitet, der dem Ansinnen des interfrak-
ionellen Antrages entspricht. Der von der Regierung im
ebruar dieses Jahres vorgelegte Gesetzentwurf ent-
prach leider inhaltlich nicht den Vorstellungen der Par-
amentarier. Auch das von der Regierung eingeleitete
U-Notifizierungsverfahren für diesen Regierungsvor-
chlag war und ist nicht nachvollziehbar. Nach meinem
elbstverständnis haben Bundestagsabgeordnete einen
laren Wählerauftrag, und der beinhaltet, Sorge dafür zu
ragen, dass der Wille der Mehrheit auch umgesetzt
ird. Wir sollten uns nicht darauf beschränken, alle poli-
ischen Ideen und Gesetzesvorhaben vorab von Brüssel
egutachten zu lassen, um sie dann in Deutschland um-
usetzen. Einem möglichen Konflikt mit der EU und der
TO in dieser Frage sehe ich daher ganz gelassen ent-
egen.
Ich freue mich sehr, dass die Regierungskoalition
eute einen eigenen Gesetzentwurf vorlegt, der einen
ichtigen Beitrag zum Robbenschutz leistet. Gemein-
am haben wir in den letzten Wochen viele Bedenken
nderer Ministerien, insbesondere die des Bundeswirt-
chaftsministeriums, ausgeräumt.
Lassen Sie uns nun zügig den Gesetzentwurf durch
ie parlamentarischen Beratungen bringen, damit noch
or der Sommerpause ein Robbenschutzgesetz in Kraft
ritt, das seinen Namen wirklich verdient.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16623
(A) )
(B) )
Mechthild Rawert (SPD): Endlich, endlich legt die
Bundesregierung den „Gesetzentwurf über das Verbot
der Einfuhr, der Verarbeitung und des Inverkehrbringens
von Robbenerzeugnissen“ vor. Darauf haben wir Parla-
mentarierinnen und Parlamentarier lange warten müs-
sen. Denn schon vor eineinhalb Jahren haben wir in ei-
nem interfraktionellen Antrag der Bundesregierung den
eindeutigen Auftrag für ein „Handelsverbot für Robben-
felle“ erteilt. Mir ist es unbegreiflich, dass sich Die
Linke diesem Antrag damals nicht anschließen konnte.
Vielleicht überdenkt sie heute noch mal ihre Haltung.
Wir wollten und wollen nach wie vor, dass die Bun-
desregierung sich auf EU-Ebene für ein europaweites
Einfuhr- und Handelsverbot bei Produkten aller Robben-
arten einsetzt. Damals schon hatten wir ein nationales
Importverbot von Robbenprodukten gefordert, sollte ein
europaeinheitliches nicht zustande kommen. Da aber
dieses Verbot auf europäischer Ebene derzeit nicht abzu-
sehen ist, beginnen wir heute mit diesem nationalen Ver-
bots-Alleingang.
Ich bin überzeugte Europäerin. Deshalb habe ich
heute Morgen meine Stimme sowohl für die notwendige
Grundgesetzänderung als auch für den Reformvertrag
der Europäischen Union abgegeben. Dass ich von mei-
nen Rechten als nationale Parlamentarierin zu nationalen
Alleingängen noch am gleichen Tag Gebrauch machen
werde, finde ich durchaus erwähnenswert: Die parla-
mentarische Demokratie in Deutschland funktioniert
also trotz aller Unkenrufe auch weiterhin!
Es ist aber auch zu ärgerlich: Die Europäische Kom-
mission hatte angekündigt, bis Ende 2007 eine Studie
unter Federführung der Europäischen Behörde für Le-
bensmittelsicherheit erstellen zu lassen, in der unter an-
derem alle vorliegenden wissenschaftlichen Informatio-
nen über Tierschutzaspekte bei der Robbenjagd erfasst
würden. Auf dieser Grundlage wollte die Kommission
dem Europäischen Parlament gegebenenfalls erforderli-
che Legislativvorschläge unterbreiten.
Die Studie liegt vor: Bestätigt werden die Schmerzen
und das Leiden der Robben bei ihrer Tötung. Aber es
passiert nichts. Von einem Einfuhr-, Ausfuhr- und Ver-
kaufsverbot von Robbenprodukten ist am Gemein-
schaftshimmel unserer 27 Mitgliedstaaten rein gar nichts
zu sehen. Also handeln wir als deutsche Gesetzgeberin
selber. Nach Belgien und den Niederlanden will ich
Deutschland auf den dritten Vorreiterplatz für ein natio-
nales „Handelsverbot für Robbenprodukte“ setzen.
Denn die Zeit drängt: Weltweit werden jedes Jahr
circa 750 000 Robben von mindestens 15 unterschiedli-
chen Spezies für kommerzielle Zwecke getötet und ge-
häutet. 60 Prozent der Jagd wurden 2006 von Kanada,
Grönland und Namibia durchgeführt. In Kanada sind seit
1996 mehr als 3 Millionen Sattelrobben getötet worden.
Kanadische Gesetze erlauben gezielte Robbentötungen:
275 000 Sattelrobben wurden allein in diesem Jahr vom
kanadischen Fischerei- und Meeresministerium offiziell
zum Töten freigegeben. Ich fordere die Bundesregierung
auf, sich auf bilateraler Ebene weiterhin vehement für
den Stopp der Robbentötungen einzusetzen.
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Mit der heutigen ersten Lesung des Gesetzentwurfes
önnen wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier end-
ich mehr tun, als uns gemeinsam mit Tierschützerinnen
nd Tierschützern über das alljährlich wiederkehrende
obbentöten zu entsetzen. Die Robbenjäger gehen ja
icht zimperlich mit den Robben um. Insbesondere in
anada werden Robben oft mit Bootshaken, Knüppeln
nd Hakapiks getötet oder zu töten versucht. Danach
ird den Robben das Fell abgezogen. Das erfolgt oft
och bei lebendigem Leib. Ich erspare Ihnen weitere
inzelheiten. Wir haben die Bilder dieser blutigen Mas-
enabschlachtungen von Hunderttausenden von Robben
or Augen. Weit mehr als 90 Prozent der getöteten Tiere
ind Jungtiere im Alter von zwei Wochen bis drei Mona-
en.
Wir wollen das nationale „Handelsverbot für Robben-
rodukte“ aus Gründen des Artenschutzes. Wir wollen
as Verbot aus Tierschutzgründen. Mit diesem Gesetz-
ntwurf tragen wir Parlamentarierinnen und Parlamenta-
ier aber auch der massiven Ablehnung weiter Teile
nserer Bevölkerung gegenüber der Robbenjagd Rech-
ung: Eine von der britischen Opinion Research Busi-
ess im Februar 2007 in Deutschland durchgeführte
einungsumfrage zeigt, dass 88 Prozent der Befragten
ür ein Verbot der Robbenjagd sind. 81 Prozent der Be-
ragten verlangen zudem ein striktes Einfuhrverbot für
ämtliche Robbenerzeugnisse.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die be-
chriebenen Grausamkeiten in Einrichtungen wie
chlachthöfen oder Forschungslaboren in Deutschland
erboten sind. Selbstverständlich würden sie von uns
arlamentarierinnen und Parlamentariern auch niemals
eduldet oder hingenommen werden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hö-
en, es gibt noch „Jagd“-Probleme in der CDU/CSU.
uch wir unterstützen die traditionellen und deswegen
usdrücklich erlaubten Robbentötungen der Inuit – aber
uch nicht mehr. Ein „Waidmannsheil“ ist hier nicht an-
ebracht. Warum sollten wir das brutale Töten von Rob-
en hinnehmen? Meine SPD-Fraktion und vor allem
uch ich selber werden die grausamen Robbentötungen
uf jeden Fall nicht hinnehmen.
Die Zeit drängt: Wir müssen, wollen und werden end-
ich, endlich handeln! In Deutschland, in Europa gibt es
ür die Robbenjagd überhaupt keinen Grund. Für Rob-
enfelle und andere Robbenprodukte gibt es viele andere
lternativen. Ziel unseres Gesetzentwurfes ist daher das
erbot, Robbenerzeugnisse zu Erwerbszwecken einzu-
ühren, zu be- oder verarbeiten oder in den Verkehr zu
ringen.
Ich appelliere an Sie alle: Sorgen Sie gemeinsam mit
ns dafür, dass in Deutschland kein Absatzmarkt für
obbenerzeugnisse wie zum Beispiel Felle oder Well-
ess-Produkte mehr existiert!
Ich appelliere an Sie, meine werten Kolleginnen und
ollegen: Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf zügig
eraten! Wir wollen das Gesetz doch so schnell wie
öglich verabschieden.
16624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
Christoph Pries (SPD): Auch in diesem Jahr haben
uns im März wieder die immer gleichen Bilder von der
Robbenjagd erreicht. In Kanada werden pro Jahr rund
300 000 junge Robben von Pelzjägern auf teilweise
grausame Art und Weise getötet. Viele Tiere sind noch
nicht tot, wenn Ihnen das Fell abgezogen wird. Daran
ändert auch nichts, dass die kanadische Regierung kurz-
fristig für die diesjährige Jagdsaison ihre Jagdvorschrif-
ten verschärft hat.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt der Deut-
sche Bundestag ein Zeichen: Beim Tierschutz dürfen
Pelzmäntel und Antifaltenmittel kein Hinderungsgrund
sein. Gleichzeitig gewährleisten wir durch eine Ausnah-
meregelung in Art. 2 des Gesetzes, dass die traditionelle
Robbenjagd indigener Völker weiterhin möglich ist. Mit
der Einbringung des vorliegenden Gesetzentwurfes set-
zen wir den fraktionsübergreifenden Beschluss des
Deutschen Bundestages vom 19. Oktober 2006 um. Wir
hatten die Bundesregierung damals aufgefordert, sich
auf EU-Ebene für ein gemeinschaftsweit geltendes Ein-
fuhr- und Handelsverbot mit Produkten aller Robbenar-
ten einzusetzen. Da ein Einfuhrverbot auf EU-Ebene,
trotz der zu beobachtenden Bewegung in Brüssel, zeit-
nah nicht realisierbar scheint, wird mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf nunmehr der Forderung des Bundes-
tages auf nationaler Ebene Rechnung getragen: Der
Import von Robbenerzeugnissen nach Deutschland so-
wie die Be- und Verarbeitung und das Inverkehrbringen
von Robbenerzeugnissen in Deutschland werden unter-
sagt.
Mit der heutigen ersten Lesung stellen wir sicher,
dass das Gesetz vor Beginn der nächsten Jagdsaison in
Kraft tritt. Wir folgen damit Belgien, den Niederlanden
und den USA, die bereits Import- und Handelsverbote
für Robbenerzeugnisse beschlossen haben. Weitere Län-
der werden folgen: Österreich, England, Frankreich und
Italien bereiten zurzeit ähnliche Gesetze vor.
Ich hoffe, dass es auf diesem Weg langfristig gelingen
wird, zu einem europaweiten Einfuhr- und Handelsver-
bot für Robbenerzeugnisse zu kommen.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Gut eineinhalb
Jahre sind seit der letzten Beratung und Beschlussfas-
sung des gemeinsamen Antrages hier im Haus vergan-
gen. Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, und die Kolle-
ginnen und Kollegen aus den Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben damals überein-
stimmend beschlossen: Wenn die EU kein Handelsver-
bot für Robbenprodukte auf den Weg bringt, dann solle
die Bundesregierung ihrerseits auf nationaler Ebene han-
deln. Diesen Entwurf hat die Bundesregierung nun ein-
gebracht, und diesen Entwurf diskutieren wir heute.
Auch wenn viel Zeit vergangen ist, diese Zeit war
notwendig, um die Argumente zu gewichten, zu prüfen
und nun zu entscheiden. Wir reden hier über ein sehr
emotionales und komplexes Thema, das jedes Jahr er-
neut von weltweiten Protesten begleitet wird, wenn die
Robbenjagd beginnt.
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Ich will zwei Argumentationslinien aufgreifen. Auf
er einen Seite steht der Tierschutz. Robben werden ge-
agt. Und die Jäger töten die Tiere durch Schüsse und lei-
er immer noch durch Schläge mit dem Hakapik oder
nüppeln. Im Raum steht dabei der Vorwurf, die Tiere
ürden gehäutet, während sie noch nicht völlig das Be-
usstsein verloren hätten. Kanada weist diese Vorwürfe
urück und betont, man habe inzwischen einen weiteren
chritt eingeführt, um sicherzustellen, dass Robben bei
er Häutung tot seien, und zwar durch das Durchtrennen
er Schlagader. Das deutet zumindest darauf hin, dass
ie kanadische Regierung engere Leitplanken für das
orgehen der Jäger setzt. Diese Leitplanken müssen
ein, damit das Leid der Tiere auf ein Minimum redu-
iert wird. Und diese Regelungen müssen seitens der
andesbehörden strengstens kontrolliert und von den Jä-
ern eingehalten werden. Robben dürfen nicht ihrem
eiden überlassen werden und nicht bei lebendigem
eibe gehäutet werden. Punkt.
Auf der anderen Seite stehen die Argumente der kana-
ischen Regierung und der Ureinwohner. Am 7. April
egrüßte ich zusammen mit Vertretern aller Fraktionen
ine kanadische Delegation, die uns ihre Sicht der Dinge
arlegte und uns Abgeordneten aber auch Rede und Ant-
ort stand. Einer der Delegationsteilnehmer war Paul
kalik, der Premierminister der Arktisregion Nunavut.
kalik ist ein Inuit, ein Angehöriger der Ureinwohner in
ordkanada. Okalik befürchtet, dass das geplante Han-
elsverbot für Robbenprodukte seinem Volk einen
chweren Schaden zufügen wird. Ich kenne diese Beden-
en und sie wiegen schwer. Niemand stellt infrage, dass
ie Inuit weiter Robben für ihre Zwecke jagen und auch
irtschaftlich verwerten dürfen. Dafür enthält das Ge-
etz eine Ausnahmeregelung: Und zwar dürfen Produkte
ur dann noch nach Deutschland importiert werden,
enn sie von Robben stammen, die in der traditionellen
rt und Weise der Inuits gejagt und erlegt werden.
Zwischen diesen beiden Dimensionen liegt die kom-
erzielle Robbenjagd, die innerhalb eines bestimmten
eitfensters eine Vielzahl von Robben für Pelze und Öle
rlegt. Es bleibt dadurch bei der traurigen Bilanz, dass
ei der jährlichen Robbenjagd viele Tiere unnötig leiden
üssen. Die Frage ist aber, warum müssen Robben dann
ach wie vor mit Knüppeln oder dem Hakapik brutal er-
chlagen werden? Zuzulassen, dass daraus wirtschaftli-
her Gewinn durch die Vermarktung in Deutschland ge-
ogen wird, ist nicht vertretbar.
Ein Wort noch zur Frage, wie die Märkte darauf re-
gieren werden. Der überwiegende Teil der Robbenpro-
ukte wird nach China, Osteuropa und Russland expor-
iert. Dass die Märkte durch dieses deutsche Gesetz
nsgesamt zusammenbrechen werden, das glaube ich
icht. Für mich ist es aber auch klar, dass es keinen
rundsätzlichen Unterschied bei der Jagd auf Rehe und
obben gibt – solange die Regeln der ordnungsgemäßen
agd eingehalten werden. Deshalb gilt es, dies den Kana-
iern noch einmal deutlich zu machen. Und wenn sie das
inhalten dieser Regeln gewährleisten, gibt es keinen
rund mehr für ein Importverbot.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16625
(A) )
(B) )
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Bereits seit
den 80er-Jahren wird die brutale und grausame Robben-
jagd in der deutschen Öffentlichkeit kritisiert. Sicher
können Sie nachempfinden, wie es sich anfühlen muss,
die Haut am lebendigen Leibe abgezogen zu bekommen.
Jetzt, nach 25 Jahren, regt sich endlich die Regierung
und reagiert auf die tierquälerische Abschlachtung der
Tiere. Allerdings sehr zögerlich. Eilig scheint es die
Bundesregierung nicht gehabt zu haben. Deutschland
bildet hier in Sachen Tierschutz eindeutig ein Schluss-
licht. Denn die USA und Mexiko verhängten bereits vor
Jahren ein Handelsverbot für Robbenprodukte.
Von dem einstimmig angenommenen Antrag eines
Einfuhr- und Handelsverbots von Robbenprodukten
nach Deutschland bis zum aktuellen Bundeskabinettsbe-
schluss sind nun fast zwei Jahre vergangen. Aus diesem
Antrag wurde die Fraktion Die Linke übrigens nach den
vorbereiteten Gesprächen ausgeschlossen. Jetzt liegt ein
neuer Antrag der Koalition vor.
Auch die Tatsache, dass sich die Europäische Kom-
mission bisher immer noch nicht zu dem eigentlichen
Ziel – einem Einfuhrverbot auf EU-Ebene – geäußert
hat, ist ein Armutszeugnis. Diese Verzögerungen sind in-
akzeptabel.
Zum einen werden in der Zwischenzeit, bis das Ge-
setz in Kraft tritt, weitere 300 000 Tiere getötet. Davon
wird circa 30 000 Tieren der Schädel mit Stangen einge-
schlagen, und wenn sie nicht direkt sterben, wird ihnen
auch am lebendigen Leibe die Haut abgezogen.
Zum anderen bekommen Länder wie Kanada die
Möglichkeit, sich einen Vorrat an Robbenprodukten zu-
zulegen, den sie dann nach Inkrafttreten des Gesetzes
weiterhin nach Deutschland importieren dürfen. Denn
nach § 4 Abs. 1 dürfen Robbenprodukte von Tieren, die
vor dem Inkrafttreten des Gesetzes getötet wurden, wei-
terhin importiert werden. Dadurch wird das Ziel des Ge-
setzes, dem tierquälerischen Massenabschlachten einen
Riegel vorzuschieben, zumindest vorerst unterlaufen.
Für 2008 hat die kanadische Regierung 275 000
Sattelrobben und 8 200 Klappmützenrobben zur Jagd
freigegeben, mit dem Einwand, dass dies zur Erholung
der Kabeljaubestände notwendig sei. Wir allerdings
sagen: Die Ursache für den Zusammenbruch der Ka-
beljaubestände liegt in der Überfischung der Meere.
Heute gelten 75 Prozent aller weltweit genutzten Fisch-
bestände als überfischt oder von Überfischung bedroht.
Robben hingegen bevorzugen häufig für den Men-
schen unbedeutende Meerestiere. Sattelrobben fressen
beispielsweise Tintenfische, zu deren Beute auch junger
Kabeljau gehört. Weniger Robben heißt also auch: weni-
ger Kabeljau.
Bei der Festlegung der Fangquote werden auch an-
dere Gefahren für die Robbenpopulationen nicht berück-
sichtigt. So ist die globale Erwärmung eine akute Bedro-
hung für Robben, da sie auf Packeis angewiesen sind,
auf dem sie ihre Jungen zur Welt bringen. Bereits im
Winter 2002 starben 75 Prozent der Jungtiere, weil das
Eis so dünn war, dass die noch schwimmunfähigen Jung-
robben in den ersten Wochen ertrunken sind. Auch 2007
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tarben über 200 000 neugeborene Robben im Sankt-
orenz-Golf aufgrund des fehlenden Packeises schon
evor die Jagd überhaupt begann.
Schön, dass dieses Gesetz, wenn auch völlig verspä-
et, wenigstens in der nächsten Jagdsaison im Früh-
ahr 2009 greifen wird.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am
9. Oktober 2006 sprach sich dieses Parlament einstim-
ig für ein Verbot der Einfuhr und des Handels mit Rob-
enprodukten aus. Wir forderten die Bundesregierung
uf, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Was haben wir gewollt? Wir wollten, dass dem all-
ährlichen Robbenschlachten endlich ein Ende gesetzt
ird. Das entspricht auch dem Willen der Bevölkerung.
enn eine Meinungsumfrage ergab im Jahr 2007, dass
ich 88 Prozent der Deutschen für ein Verbot der Rob-
enjagd aussprechen, 81 Prozent zudem für ein striktes
infuhrverbot.
Wir können die Robbenjagd in Kanada, Norwegen,
rönland oder Namibia nicht verbieten. Aber wir kön-
en durch ein Import- und Handelsverbot den Markt für
obbenprodukte austrocknen. Ohne Markt kein Produkt.
em Robbenmord wird so der ökonomische Antrieb ent-
ogen.
Genau anderthalb Jahre hat die Bundesregierung ge-
raucht, dieses Gesetz vorzulegen.
Der erste Grund für diese lange Frist: Warten auf eine
uropäische Regelung. Sicher macht eine europäische
egelung Sinn, denn die Schließung des gesamten euro-
äischen Marktes entfaltet eine größere Wirkung als die
ines einzelnen Landes. Aber schon damals waren ein-
elne Nationalstaaten tätig geworden in der Absicht, ent-
prechende Signale an die EU zu senden. Deutschland
ollte dieses Signal verstärken, anstatt in abwartende
tarre zu verfallen.
Der zweite Grund für diese lange Frist waren Diffe-
enzen im Kabinett. Die Bundesregierung scheute offen-
ar vor den Drohungen aus den Robbenjagdländern
insbesondere Kanada – zurück. Sie fürchtete Schäden
ür unsere exportorientierte Wirtschaft. Und dass von ka-
adischer Seite gedroht wurde, konnten wir jüngst miter-
eben. Am 7. April bei einem Gespräch von Vertretern
es Agrarausschusses mit einer Delegation aus Kanada
urde von kanadischer Seite wörtlich gesagt, dass ein
obbenerzeugnis-Handelsverbot Auswirkungen auf die
U haben wird. Diese Drohungen, verbunden mit einem
esuch des Bundestagspräsidenten Dr. Lammert in
unavut, Kanada, haben offenbar Wirkung gezeigt: An-
erthalb Jahre nach dem Bundestagsbeschluss für ein
obbenerzeugnisse-Verbot und zwei Jagdperioden und
underttausende tote Robben später haben die Regie-
ungsfraktionen zwar einen Gesetzentwurf über das Ver-
ot der Einfuhr, der Verarbeitung und des Inverkehrbrin-
ens von Robbenerzeugnissen vorgelegt. Aber dieser
ntwurf, auf den das Parlament, zahlreiche Tierschutz-
rganisationen und die interessierte Öffentlichkeit so
ange gewartet haben, stellt sich beim näheren Betrach-
en als zahnloser Tiger heraus.
16626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
Sicher, jede Verbotsregelung enthält aus gutem Grund
auch Ausnahmen. Aber hier wird doch der gute Grund
überstrapaziert. In § 2 Abs. 4 heißt es, dass Robben-
erzeugnisse dann gehandelt werden dürfen, wenn sie von
Tieren stammen, die von indigenen Völkern in deren tra-
ditioneller Art und Weise gejagt und erlegt worden sind.
Das klingt auf den ersten Blick vertretbar. Aber der Ha-
senfuß kommt noch: Dafür bedarf es lediglich einer ent-
sprechenden allgemeinen Bestätigung der zuständigen
Behörde des Herkunftslandes gegenüber dem Agrar-
ministerium, dass Robbenerzeugnisse aus ihrem Land
dieser Anforderung entsprechen. Das Gesetz will also
nicht wirklich zwischen aus der Jagd von Inuit stammen-
den und kommerziellen Erzeugnissen unterscheiden,
sondern es will die Länder danach einteilen, ob sie ins-
gesamt Inuit-Produkte liefern oder nicht. Das geht völlig
an der Realität vorbei. Außerdem ist es völlig aberwit-
zig, darüber auch noch die Herkunftsländer entscheiden
zu lassen.
Zum Beispiel Kanada: Die diesjährige Quote für Ein-
geborene (Aboriginals) belief sich auf 4 950, die Ge-
samtquote auf 275 000 Sattelrobben. Dazu kommen
etwa 25 000 Ringelrobben, die aber nicht quotiert sind.
Ringelrobbenfelle sind im Übrigen bisher nie auf dem
Markt aufgetaucht.
Wie wollen wir mit diesem Gesetz sicher sein, dass
zukünftig nur traditionelle Inuit-Fänge hier landen? Und
heißt „traditionell“ wirklich mit Kajak und Harpune ge-
jagt? Wie die kanadische Delegation berichtete, werden
dort heute 95 Prozent der Tiere mit Jagdgewehren getö-
tet. Kanada wird voraussichtlich dennoch bestätigen,
dass seine Robbenprodukte aus Inuit-Jagden stammen.
Unter dem Deckmantel des Schutzes nationaler Minder-
heiten werden der Tierschutz und der Naturschutz kon-
terkariert.
So taugt das Gesetz nichts. Deshalb rate ich dringend
zu einer gründlichen Überarbeitung im parlamentari-
schen Verfahren.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Chancen des demo-
graphischen Wandels im Tourismus nutzen
(Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Ja, es gibt einen demo-
grafischen Wandel, aber auch diesem können weitere
folgen, zum Beispiel, wenn die Zahl der Geburten wie-
der deutlich steigt. Ja, auch in einem weiteren Punkt
stimmen wir überein: Man muss sich diesem Wandel
auch im Tourismus stellen, ihn als Chance begreifen,
statt ihn zu beklagen. Vieles in dem vorliegenden Antrag
der Koalition ist nicht falsch. Aber solange Bundesregie-
rung und Koalitionsfraktionen Tourismuspolitik nur be-
treiben, um einen großen, wichtigen und expandierenden
Wirtschaftsbereich markt- und konkurrenzfähiger zu ma-
chen, wird sie falsche Akzente setzen.
Alle umwerben die sogenannten Best Agers, „Silber-
haare“ und was es noch so für charmante Bezeichnungen
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ür die über 50-Jährigen, solventen und reiselustigen Da-
en und Herren gibt. Das ist die Bevölkerungsgruppe,
ie oft reist und auch nicht wenig Geld dafür ausgibt. Die
ourismuswirtschaft stellt sich – völlig losgelöst und un-
bhängig von Ihrem Antrag – zunehmend darauf ein, die
inen mehr und die anderen weniger erfolgreich. So ist es
un einmal in der Marktwirtschaft. Die Linke sieht in der
ourismuspolitik vor allem die Aufgabe, Reisen für alle
u ermöglichen, da Reisemöglichkeiten ein wichtiger
eitrag zur Erholung, Bildung und Gesundheit sind.
iele Menschen, auch Ältere, sind vom Reiseboom aus-
eschlossen. Ihnen stehen viele Barrieren entgegen.
Eine Barriere ist das fehlende Einkommen, die zu ge-
inge Rente, die wachsende Altersarmut. Es können eben
icht alle unbeschwert über das Reisen nachdenken, wie
wei Drittel der Gesellschaft. Zudem befinden wir uns
itten in einem Trend, der eine zunehmende Aufspal-
ung der Gesellschaft befördert. Die einen haben über
ildung und Arbeitsmöglichkeiten Zugang zu Einkom-
en und vielen kulturellen, wirtschaftlichen und auch
ouristischen Angeboten. Andere haben diesen Zugang
icht und auch kaum Aussichten auf Änderung. Diesen
rend zu stoppen und umzukehren, wird schwer. Aber
ir müssen das erreichen!
Wir brauchen also Angebote für Menschen mit niedri-
en Einkommen. Gruppen von über das Einkommen be-
achteiligten Menschen gibt es in allen Ländern der
rde. Interessant sind die verschiedenen Ansätze, die es
on Land zu Land gibt, in diesem Bereich etwas zu tun.
ier lohnt der Blick in die westlichen Nachbarländer.
er dortige Sozialtourismus, zum Beispiel in Frank-
eich, schafft Reisemöglichkeiten für diese Menschen,
nd auch die Tourismuswirtschaft partizipiert davon.
uch Deutschland wäre gut beraten, endlich aktiv in der
nternationalen Organisation des Sozialtourismus mitzu-
irken.
Weitere Barrieren sind baulicher Art bei Hotels, Gast-
tätten, Kultureinrichtungen, im ÖPNV und der Infra-
truktur. Ich finde es bezeichnend und unakzeptabel,
ass zu Fragen des barrierefreien Tourismus in diesem
ntrag der Koalition nichts steht. Wie kann man den de-
ografischen Wandel als Chance nutzen wollen und die
ielen Barrieren im Tourismus ausblenden? Hier geht es
icht um Sonderlösungen für ein paar Behinderte, son-
ern um die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen
m gesellschaftlichen Leben. Meine Erfahrungen sind,
ass Barrierefreiheit letztendlich vielen zugute kommt
nd zumindest niemanden stört. Rollstuhlgerechte Zu-
änge und Wege erfreuen auch ältere Menschen, Eltern
it Kinderwagen, Reisende mit schwerem Gepäck und
elbst Kinder mit Drei- oder Laufrad und Jugendliche
uf Skateboards. Ich weiß, dass nicht von einem Tag auf
en anderen alle Gebäude, Wege und Verkehrsmittel um-
ebaut werden können. Ich sehe aber nicht ein, dass zum
eispiel für viel Geld nach wie vor ICE-Züge gebaut
erden, in denen nur ein einziger Rollstuhlfahrer mitrei-
en kann. Ebensowenig ist einzusehen, dass in denkmal-
eschützten Gebäuden die Schaffung von Barrierefrei-
eit ausgeschlossen sein soll. Moderne Heizungen und
oiletten, Strom, Brandschutzanlagen und Telefonleitun-
en passen schließlich auch in mittelalterliche Gebäude.
er Berliner Fernsehturm ist ein typisches Beispiel:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16627
(A) )
(B) )
Menschen mit einem Rollator, im Rollstuhl oder mit ei-
nem Blindenbegleithund dürfen auf dieses weltbekannte
Berliner Wahrzeichen nicht hinauf. Der Berliner Behin-
dertenverband hat deswegen für den 30. April um
11.00 Uhr zu einer Kundgebung am Berliner Fernseh-
turm „Wir wollen hinauf!“ aufgerufen. Ich unterstütze
diese Aktion aus vollem Herzen und hoffe, dass dies
auch andere Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktio-
nen tun. Die Telekom und deren Tochter, die Deutsche
Funkturm GmbH, sind als Eigentümer gefordert. Wir
sollten sie bei der Lösung dieser anspruchsvollen Auf-
gabe nicht allein lassen.
Es ist in meinen Augen Aktionismus, wenn die Koali-
tion einen tourismuspolitischen Antrag nach dem ande-
ren vorlegt, um bei den ohnehin boomenden Bereichen
hinterherzuschwimmen. Erst der Kreuzschifffahrtstou-
rismus, dann die Geschäftsreisenden und nun die Best
Agers. Wir brauchen keine Schaufensteranträge, sondern
fraktionsübergreifend und unter Mitwirkung eines Tou-
rismusministers spürbare Maßnahmen, um allen Men-
schen den Zugang zu und die Nutzung von touristischen
Angeboten zu ermöglichen. Sicher wird die Zahl der
Kinder und Jugendlichen in unserem Land kleiner, si-
cher sind weder Menschen mit Behinderungen noch Mi-
grantinnen und Migranten die Mehrheit der Bevölke-
rung. Trotzdem ist gerade hier die Politik gefragt.
An erster Stelle fordern Sie von der Bundesregierung
„ein Leitbild für den Deutschlandtourismus unter beson-
derer Berücksichtigung der demographischen Entwick-
lung … zu erstellen“. Diese Forderung teilen wir, der
Bundestag muss dazu aber andere Prämissen setzen, als
Sie es tun.
Die Linke hat sich unter dem Titel: „Reisen für alle,
für sozial gerechten, barrierefreien und ökologisch ver-
antwortbaren Tourismus“ auf fünf Leitbilder verständigt,
die wir gern in die Diskussion – auch um diesen Antrag –
einbringen möchten. Für uns stehen im Mittelpunkt ers-
tens das Recht auf Tourismus; zweitens die Rechte für
die im Tourismusgewerbe Beschäftigten; drittens die
Verbesserung der Barrierefreiheit; viertens die ökologi-
sche Verantwortbarkeit und fünftens der Tourismus im
ländlichen Raum. Und: Wenn wir über Leitbilder disku-
tieren, sollten wir auch den Globalen Ethik-Kodex der
Welttourismus-Organisation (UNWTO) sowie die zahl-
reichen programmatischen Angebote vom Deutschen
Tourismusverband, von der Nationalen Koordinierungs-
stelle Tourismus – NatKo – und weiteren auf touristi-
schem Gebiet tätigen Vereinen und Verbänden einbezie-
hen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des VW-Gesetzes (Tagesordnungs-
punkt 18)
Rainer Brüderle (FDP): In seinem Urteil zum VW-
Gesetz hat der Europäische Gerichtshof im vergangenen
Herbst bemängelt, dass das VW-Gesetz abschreckend
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uf Investoren wirkt und den freien Kapitalverkehr be-
chränkt. Die Intention der Gerichtsentscheidung ist
eutlich. Die Konsequenz daraus kann eigentlich nur
auten: Schaffen wir das VW-Gesetz ab! Es entspricht
anz sicher nicht dem Geist des Richterspruches, mit
enigen Detailänderungen möglichst viele Beschrän-
ungen aus dem alten Gesetz beizubehalten, auch wenn
s Bestrebungen in der Bundesregierung gibt, dies zu
un. Der Ordnungsruf aus Luxemburg hat die Bundesre-
ierung nicht zur Vernunft gebracht. Die Protektionisten
n der Regierung bauen weiter neue Barrieren um deut-
che Unternehmen.
Dass die Linken sich auch vor diesen Karren spannen,
m beim VW-Konzern ihre Vision von einem Staats-
ozialismus zu retten, wundert niemanden. Die Linken
ollen möglichst viel von den Besonderheiten des VW-
esetzes und der Ausnahmestellung des Unternehmens
olkswagens bewahren. Das ist aber der falsche Ansatz.
esetze sollten für alle Unternehmen gleichermaßen gel-
en, auch das Aktiengesetz. Für eine Sonderbehandlung
nd einen Schutz vor den Regeln des Kapitalmarkts gab
nd gibt es keinerlei Berechtigung. Langfristig profitie-
en auch die Arbeitnehmer am meisten von offenen
ärkten. Arbeitsplätze können nicht per Gesetz gesi-
hert werden, sondern nur, wenn ein Unternehmen am
arkt erfolgreich ist und Gewinne erwirtschaftet. Volks-
agen sollte sich gegenüber anderen Autobauern durch
essere Autos hervortun können, nicht durch Sonderge-
etze.
Die Linken räumen in ihrem Antrag selbst ein, dass
hr Ansinnen ordnungspolitische Bedenken hervorruft.
arum sollte bei VW weniger effizient gearbeitet wer-
en müssen als in anderen Unternehmen? Warum sollten
ie Autos bei Volkswagen teurer produziert werden als
ötig? Besonders plastisch wird das an einer Vorschrift
m VW-Gesetz, die den Gewerkschaften eine einzig-
rtige Stellung verschafft: Für jede Entscheidung über
inen Produktionsstandort ist eine Zweidrittelmehrheit
m Aufsichtsrat nötig. Gegen das Votum der Gewerk-
chaften kann keine Fabrik geschlossen werden, aber
uch keine neue Werkshalle an einem neuen Standort ge-
aut werden.
In der FAZ vom 11. Februar 2008 schreibt Joachim
ahn, der den Prozess vor Ort verfolgt hat:
Wie verhängnisvoll gerade diese Bestimmung ist,
hat der Strafprozess um die Korruption von VW-
Betriebsräten durch Lust- und Luxusreisen deutlich
gemacht. Ob Bernd Pischetsrieder oder Ferdinand
Piëch – kein hochkarätiger Zeuge verzichtete im
Schwurgerichtssaal auf den Hinweis, dass sich das
Management wegen dieser Vorschrift mit dem Vor-
sitzenden des Weltbetriebsrats, Klaus Volkert, habe
gutstellen müssen.
ie europäischen Richter haben diese Bestimmung des
W-Gesetzes nicht aufgespießt. Sie mag europäischen
estimmungen nicht entgegenstehen. Sie ist aber ganz
ffenkundig nicht sinnvoll. Deshalb ist ein klarer Schnitt
ällig. Das System Volkswagen mit dieser Mentalität
uss ein Ende haben.
16628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
Die Volkswagen AG ist nicht gleicher oder ungleicher
als jedes andere Automobilunternehmen in Deutschland.
Als Quelle einer kreativen und leistungsfähigen For-
schung und Entwicklung, als Ort einer sich ständig per-
fektionierenden Produktion und als verlässlicher Steuer-
zahler ist die Volkswagen AG genauso schützenswert
wie kleingewerbliche Werkstätten, mittelständische Zu-
lieferunternehmen und andere deutsche Automobilher-
steller. Auch für dieses Unternehmen muss deshalb der
Gleichheitsgrundsatz vor dem Gesetz gelten, welcher
das Vertrauen in unsere Rechtsstaatlichkeit schließlich
begründet.
Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Automobile zu
bauen. Mit den bestehenden allgemeinen Vorschriften
des Aktiengesetzes und des Handelsgesetzbuchs unter
Einhaltung der Satzung der Volkswagen AG ist das Un-
ternehmen auch in Zukunft ausreichend geschützt. Das
Ende des VW-Gesetzes ist überfällig. Selten war eine
Reform so einfach wie hier. Jetzt sollte endlich die Gele-
genheit genutzt werden, das VW-Gesetz abzuschaffen
und aus Volkswagen ein normales Unternehmen zu ma-
chen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 15. Dezember 2003 über
Politischen Dialog und Zusammenarbeit zwi-
schen der Europäischen Gemeinschaft und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Anden-
gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (Boli-
vien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela)
andererseits (Tagesordnungspunkt 21)
Eduard Lintner (CDU/CDU): Zwar ist der Grund
für das vorliegende Gesetz ein eher formaler – der Aus-
tritt Venezuelas aus der Andengemeinschaft –, aber die
Gelegenheit, einmal – wenn auch nur kurz – über unsere
Beziehungen zu Lateinamerika im Allgemeinen und zur
Andengemeinschaft im Besonderen zu sprechen, ist
hoch willkommen: zum einen deshalb, weil die häufig
beschworene „strategische Partnerschaft“ und die vielen
gemeinsamen kulturellen Wurzeln sowie das einigende
Band gemeinsamer demokratischer Überzeugungen
nicht nur verbal betont, sondern auch mit konkreten poli-
tischen Inhalten gefüllt werden müssen, zum anderen,
weil sich in Lateinamerika derzeit ein radikaler politi-
scher Wandel vollzieht, der uns in Europa nicht gleich-
gültig sein kann. Auch steht die Reise der Bundeskanzle-
rin nach Südamerika unmittelbar bevor.
Es ist also Zeit, dass auch der Deutsche Bundestag
sein Interesse am Geschehen in und um Lateinamerika
zeigt und bekräftigt.
Zunächst einmal weist das heutige Thema darauf hin,
dass sich Europa und vor allem auch Deutschland um
enge, dann aber auch tatsächlich aktiv gepflegte Bezie-
hungen zu den regionalen Zusammenschlüssen Anden-
gemeinschaft CAN und Mercosur in Südamerika, SICA
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n Zentralamerika und CARIFORUM in der Karibik be-
ühen sollte.
Die Intensivierung der Zusammenarbeit ist in höchs-
em Maße wünschenswert, weil wir sonst gegenüber den
ynamisch wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen
wischen Lateinamerika und China ins Hintertreffen zu
eraten drohen. Das wäre vor allem für Deutschland eine
nangenehme Entwicklung, weil gerade deutsche Fir-
en in vielen Ländern – wie zum Beispiel Brasilien und
exiko – einen erheblichen Teil des nationalen Brutto-
ozialprodukts erwirtschaften. Und natürlich macht auch
ein Rohstoffreichtum Lateinamerika höchst attraktiv für
ns und ganz Europa.
Hinzu kommt, dass im Hinblick auf multinationale
inrichtungen – wie zum Beispiel die UNO – gemein-
ame Interessen und Auffassungen bestehen, was für die
urchsetzung von Reformvorhaben – wie etwa der Er-
eiterung – des Sicherheitsrats von großem Interesse ist.
Das reiche gemeinsame kulturelle Erbe und die enge
eschichtliche Verflechtung legen es auch nahe, diese
aktoren für den Ausbau der kulturellen und wissen-
chaftlichen Zusammenarbeit zu nutzen. Ein Schwer-
unkt der deutschen Südamerikapolitik könnte daher
ein, die Zusammenarbeit von Forschungseinrichtungen
nd Universitäten sowie den kulturellen Austausch zu
ördern.
Das Abkommen der EU mit der Andengemeinschaft,
as mit dem vorliegenden Gesetz wegen des Austritts
enezuelas neu ratifiziert werden muss, ist auf eine um-
assende Zusammenarbeit ausgerichtet. Es ist ein über-
us großzügiger, flexibler Rahmen, der eben nicht wirt-
chaftliche Aspekte in den Mittelpunkt stellt, sondern
leichermaßen dazu auffordert, sich auch um die Wah-
ung demokratischer Grundsätze, die Einhaltung der
enschenrechte und allgemeine politische Fragen zu
ümmern.
Das bedeutet, dass in diesem Rahmen sehr wohl auch
ber die jüngsten politischen Entwicklungen in zahlrei-
hen südamerikanischen Staaten gesprochen werden
ann. Es ist schließlich auch wichtig, nicht die Dialogfä-
igkeit mit den aktuell ins Amt gekommenen politischen
epräsentanten und den exponierten Vertretern der
euen, häufig populistisch und links orientierten Par-
eien und Bewegungen zu verlieren.
Im Rahmen eines solchen Dialogs sollte es auch da-
um gehen, die europäischen Erfahrungen mit Demokra-
ie, Rechtstaat und Menschen- und Bürgerrechten in den
üdamerikanischen Entwicklungsprozess einzubringen.
uch der Umgang mit Autonomiemodellen und dem
edanken der Subsidiarität sowie der kommunalen
elbstverwaltung könnten deutsche Beiträge zur in den
üdamerikanischen Ländern geführten Diskussion über
eeignete staatliche Institutionen sein.
Ziel der Hilfe und des Dialogs kann es auch sein, an
er Gestaltung der staatlichen Rechtsrahmen mitzuwir-
en, die Fähigkeit zu Good Governance zu entwickeln
nd Methoden zum besseren sozialen Ausgleich in den
eweiligen Ländern zu unterstützen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16629
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(B) )
Die heutige kurze Diskussion kann nur der Anfang ei-
ner künftig intensiveren Befassung des Bundestages mit
dem lateinamerikanischen Subkontinent sein. Das gilt
für die EU insgesamt, aber vor allem auch für Deutsch-
land im Besonderen. Deutschland gehört auch in dieser
Region der Erde zu den besonders angesehenen Part-
nern. Das sollten wir gezielt, entschlossen und verant-
wortungsbewusst nutzen.
Lothar Mark (SPD): Der hier zu beratende Gesetz-
entwurf „Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 15. Dezember 2003 über Politischen Dialog und
Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemein-
schaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der And-
engemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (Bolivien,
Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela) andererseits“
wird von der SPD-Bundestagsfraktion voll unterstützt.
Die Beziehungen zwischen der Andengemeinschaft
und der EU haben bereits eine längere Tradition. Bisher
basierten sie auf dem Kooperationsabkommen von 1993,
das dem bereits 1983 unterzeichneten Rahmenabkom-
men zwischen der damaligen EWG und dem früheren
Andenpakt über wirtschafts- und handelspolitische Zu-
sammenarbeit nachfolgte. Anlässlich des zweiten Gip-
feltreffens der Staats- und Regierungschefs von Europa
und Lateinamerika sowie der Karibik in Madrid im Jahr
2002 wurde vereinbart, die biregionale Kooperation wei-
ter auszubauen und mit der Andengemeinschaft in Ver-
handlungen bezüglich eines Abkommens über politi-
schen Dialog und vertiefte Zusammenarbeit zu treten.
Heute sehen wir mit dem hier behandelten Gesetzent-
wurf das Resultat dieser Verhandlungen vor uns. Das
Abkommen wurde bereits am 15. Dezember 2003 unter-
zeichnet und liegt nun zur Ratifizierung vor. Das Ver-
tragswerk soll das Kooperationsabkommen zwischen der
EWG und der Andengemeinschaft aus dem Jahr 1993 er-
weitern und den Dialogmechanismus auf der Ebene der
Staats- und Regierungschefs sowie auf der Minister-
ebene, der 1996 mit der „Erklärung von Rom“ zwischen
beiden Regionen institutionalisiert worden ist, weiterent-
wickeln.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Abkom-
men sollen die politischen und wirtschaftlichen Bezie-
hungen zwischen der EU und der Andengemeinschaft
intensiviert und vertieft und die wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Entwicklung der Andenstaaten unterstützt
werden. Der Vertrag beruht auf den Grundsätzen der re-
gionalen Partnerschaft und unterstreicht einen weitge-
henden Wertekonsens, etwa in Bezug auf die Wahrung
der Grundsätze der Demokratie, die Achtung der Men-
schenrechte, sowie in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip.
Ziel ist es, Stabilität und regionale Integration in der An-
denregion sowie Armutsbekämpfung und nachhaltige
Entwicklung zu fördern.
Zwar enthielt das Abkommen von 1993 bereits die
Wahrung demokratischer Grundsätze und Einhaltung der
Menschenrechte als wesentliches Element der Zusam-
menarbeit, mit dem neuen Abkommen wird die Koope-
ration jedoch nochmals intensiviert und ein Abkommen
der „dritten Generation“ geschlossen. Die Schwerpunkte
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iegen dabei in der Institutionalisierung eines regelmäßi-
en politischen Dialoges, in der Kooperation bei der en-
eren regionalen Integration der Andengemeinschaft, in
er Zusammenarbeit im Bereich des Handels zur besse-
en Integration der Andengemeinschaft in die Weltwirt-
chaft, in der Kooperation bei der Bekämpfung des ille-
alen Handels mit Drogen, Kleinwaffen und leichten
affen, sowie der Bekämpfung von Geldwäsche und
es Terrorismus, in der Zusammenarbeit im Zollbereich,
m Bereich Normen, der technischen Vorschriften und
onformitätsbewertung, in der Zusammenarbeit im Be-
eich Umwelt, Landwirtschaft und Energie, in der Zu-
ammenarbeit im Bereich der Migration, sowie in der
usammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft und Finan-
en, Wissenschaft und Technik sowie Soziales und Kul-
ur.
Auf dem dritten Gipfeltreffen der Staats- und Regie-
ungschefs der EU und Lateinamerikas sowie der Kari-
ik in Guadalajara im Jahr 2004 verständigten sich die
U und die Staaten der Andengemeinschaft auf die Be-
eutung von Assoziierungsabkommen für die regionale
irtschaftliche Integration. Die Assoziierungsverhand-
ungen wurden im Juni 2007 unter deutscher EU-Rats-
räsidentschaft aufgenommen. Angestrebt wird ein Ab-
ommen der „vierten Generation“, dessen Zweck es ist,
ie regionale Integration zu stärken und die oben ge-
annten Abkommen durch neue Dimensionen zu ergän-
en. Ziel ist es eine umfassendere – den Politikdialog,
ie Kooperation und den Handel beinhaltende – biregio-
ale privilegierte Partnerschaft zu schaffen. Diese soll
ich unter anderem auf die Wahrung und Förderung der
enschenrechte und demokratischen Verhältnisse, auf
erantwortungsvolles Regieren, auf die Stärkung des
ultilateralismus, auf die Förderung der intraandinen
irtschaftlichen und politischen Integration sowie auf
ie schrittweise Errichtung einer Freihandelszone grün-
en. Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf zum Ab-
ommen soll die Voraussetzung für ein solches, noch ab-
uschließendes, Assoziierungsabkommen einschließlich
reihandelsabkommen geschaffen werden.
Die Ratifizierung des vorliegenden Abkommens ist
nter anderem auch aus diesem Grund nicht nur für die
ndengemeinschaft, sondern auch für die EU von gro-
er Bedeutung. Denn die EU hat ein Interesse an starken,
olitisch handlungsfähigen Regionen in Weltwirtschaft
nd Weltpolitik und an einer Intensivierung der Koope-
ationsbeziehungen zwischen diesen – eine engere Zu-
ammenarbeit zwischen der EU und der Andengemein-
chaft im Hinblick auf die Vereinten Nationen wäre nur
ine der vielfältigen Möglichkeiten. Insgesamt ist ein
tärkeres Zusammenrücken der Regionen heute wichti-
er denn je, da sich die große Herausforderung unserer
eit, die sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Ge-
taltung der Globalisierung, nicht mehr auf nationaler
bene bewältigen lässt. Akteure im globalen Maßstab
önnen hierbei nur handlungsfähige Regionen sein, die
nteressen und Politiken formulieren. Die regionale Inte-
ration und die interregionale Kooperation ist heutzu-
age eine der wichtigsten strategischen Antworten auf
ie Globalisierung.
16630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
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Die Andengemeinschaft ist in diesem Bereich auf-
grund ähnlicher Interessen ein prädestinierter Partner für
die EU. Sie ist trotz den in den vergangenen Jahren
– insbesondere durch den Austritt Venezuelas im Jahr
2006 – deutlich gewordenen ideologischen Differenzen
zwischen den Mitgliedstaaten noch immer eine der tradi-
tionsreichsten regionalen Organisationen innerhalb La-
teinamerikas. Ihr Integrationsvorhaben ist sehr weitrei-
chend und entspricht in wesentlichen Elementen den
europäischen Bestrebungen. Dies zeigt sich beispiels-
weise daran, dass die Rechtsvorschriften der Andenge-
meinschaft direkt, das heißt ohne eine Umsetzung in na-
tionales Recht, anwendbar sind und Vorrang vor dem
nationalen Recht haben. Trotz der insgesamt recht hohen
rechtlichen und institutionellen Ausdifferenzierung der
Andengemeinschaft, bleibt diese dennoch oft hinter ih-
ren Möglichkeiten zurück und befindet sich nicht zuletzt
in Konsequenz der ideologischen Differenzen zwischen
ihren Mitgliedstaaten derzeit in einer schwierigen Phase.
Die im Abkommen vorgesehene Kooperation der EU bei
der engeren regionalen Integration der Andengemein-
schaft und die ebenfalls im Abkommen vorgesehene
Förderung der intraandinen wirtschaftlichen und politi-
schen Integration könnten dem Integrationsbündnis
wichtige neue Impulse verschaffen und zur Konsensfin-
dung unter den Mitgliedstaaten der Andengemeinschaft
beitragen.
Diese Möglichkeit sollte unbedingt ergriffen werden,
denn die EU hat ein großes Eigeninteresse an Stabilität
und demokratischer Entwicklung in der von großen so-
zialen Ungleichheiten geprägten Andenregion – so zum
Beispiel im Bereich der Sicherheit sowie der Konflikt-
prävention und -bewältigung. Das europäische Wirt-
schafts- und Sozialmodell mit seiner Idee von Chancen-
gleichheit und Solidarität könnte im Hinblick auf die
sozialen Disparitäten in der Andengemeinschaft ein inte-
ressanter Bezugspunkt sein. Es liegt also im Interesse
beider Seiten, die wirtschaftlichen und politischen Be-
ziehungen auf gleichberechtigter Ebene weiterzuentwi-
ckeln.
Zudem gilt es auch die wirtschaftliche Seite der regio-
nalen Kooperation nicht gering zu schätzen. Deutsch-
land als politische Mittelmacht mit einer stark export-
wirtschaftlichen Ausrichtung hat ein Interesse, im
Rahmen der EU mit den Staaten der Andengemeinschaft
zu kooperieren. Die deutsche Wirtschaft als Exporteur
von Sekundärgütern benötigt entwickelte Absatzmärkte
und eine mit entsprechender Kaufkraft ausgestattete
Nachfrageseite. Nicht zuletzt birgt auch eine Zusammen-
arbeit mit der Andengemeinschaft im Energiebereich so-
wie in der Klima- und Umweltpolitik interessante Per-
spektiven. Eine engere Kooperation auf diesen Gebieten
wäre folglich auch wirtschaftlich von Vorteil für
Deutschland und die EU. Dies gilt umso mehr, da Ko-
lumbien und Peru bereits mit den USA ein Freihandels-
abkommen abgeschlossen haben, wenngleich es im ko-
lumbianischen Fall noch nicht ratifiziert ist. Umso
dringlicher scheint es mir deshalb, dass die EU ihr Enga-
gement in diesem Bereich nun ebenfalls verstärkt und
mehr Präsenz zeigt.
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Neben der wirtschaftlichen Dimension ist jedoch
uch die wertebezogene Dimension von erheblicher Be-
eutung, denn die biregionale Partnerschaft basiert auf
iner hohen Deckung politischer und kultureller Werte.
er Abschluss eines umgreifenden politischen Abkom-
ens mit der Andengemeinschaft, würde die Regionen
eiter miteinander verbinden und die Glaubwürdigkeit
er EU in der Beteuerung der Wichtigkeit dieser Partner-
chaft unterstreichen. Denn letztlich ist Lateinamerika
uropa so zugewandt wie kaum eine andere Region der
elt. Diese Chance sollten wir nicht verspielen, sondern
utzen. Das hier verhandelte Abkommen ist ein wichti-
er Schritt in diese Richtung, denn es geht eben nicht
usschließlich um wirtschaftliche Kooperation, sondern
uch um die Umsetzung gemeinsamer politischer und
ozialer Grundwerte.
Vor dem Hintergrund der hier aufgezählten Punkte
ird deutlich, wie wichtig es für beide Regionen ist, dass
ie interregionale Zusammenarbeit mit dem vorliegen-
en Abkommen weiter vertieft wird. Die in dem Ver-
ragswerk angelegte weiterreichende Institutionalisie-
ung eines regelmäßigen politischen Dialoges zwischen
er Andengemeinschaft und der EU kann für beide Sei-
en nur von Vorteil sein. Denn angesichts der Notwen-
igkeit einer Anpassung an die Herausforderung der
lobalisierung können beide Regionen im Umgang mit-
inander lernen und voneinander profitieren. Der vorlie-
ende Gesetzentwurf ermöglicht dies und wird deshalb
on der SPD-Bundestagsfraktion unterstützt.
Marina Schuster (FDP): Die FDP-Fraktion stimmt
em vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Vertiefung
er Beziehungen zwischen den Staaten der Andenge-
einschaft und der Europäischen Union zu. Es ist richtig
nd wichtig und längst erforderlich, dass Europa in die-
er Region eine stärkere Rolle spielt – zur Stabilisierung,
ur Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
nd insbesondere auch deshalb, weil Mitbewerber die
edeutung der Region längst erkannt haben und wir um
iniges hinterherlaufen. Es wird höchste Zeit, dies zu än-
ern.
Dass die Bundesregierung im Jahre 2008 einen Ge-
etzentwurf zu einem Abkommen einbringt, das bereits
003 geschlossen wurde, gereicht ihr nicht gerade zur
hre. Vielmehr macht dies deutlich, dass die Andenge-
einschaft wie andere (latein)amerikanische Regionen
ben noch kein echter „strategischer Partner“ ist, wie es
uch in diesem Abkommen heißt, sondern in Wahrheit in
er Außenpolitik der Bundesregierung und der EU nach-
angig behandelt wird. Es ist falsch, diese Region, diesen
ontinent „links liegen zu lassen“. Der Austritt Vene-
uelas aus der Andengemeinschaft im Jahre 2006 ist nur
edingt eine Entschuldigung. Denn wenn Sie mich fra-
en, kann ich dazu nur sagen, dass dieses Abkommen
uch vor 2006 längst hätte verabschiedet werden müs-
en.
Die aktuellen Entwicklungen in der Region stimmen
enig optimistisch. Das Superwahljahr 2006 hat die po-
itische Landkarte massiv verändert – und die Zusam-
enarbeit nicht gerade leichter gemacht. Bolivien, das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16631
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einst als entwicklungspolitisches Musterland galt,
konnte erst vor kurzem mit großen Mühen eine schwere
Verfassungskrise verhindern. Die Versuche von Vene-
zuelas Präsident Hugo Chávez, seinen regionalen Füh-
rungsanspruch immer wieder deutlich zu machen und
ihn auszubauen, tun ihr Übriges, dass die Region nicht
zur Ruhe kommt. Dabei sind die innenpolitischen He-
rausforderungen in fast allen Staaten Lateinamerikas gi-
gantisch: Massenarmut und die nach wie vor extrem un-
gleiche Verteilung der Einkommen sind eine permanente
Gefahr für den sozialen Frieden und die innere Stabilität
der lateinamerikanischen Gesellschaften sowie der
Nährboden für Kriminalität, Nepotismus und Populis-
mus. Die Ineffizienz vieler Verwaltungen und die feh-
lende Transparenz bei der Regierungsführung bieten
weiterhin Anlass zur Sorge.
Trotzdem gibt es auch in der derzeit stark variieren-
den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Landkarte Lateinamerikas Möglichkeiten für deutsche
und europäische Initiativen. Auch Vertreter der Anden-
gemeinschaft äußern immer wieder den Wunsch, sich
enger an die EU zu binden – auch weil sie nach einem
„dritten Weg“ zwischen einer Dominanz durch Vene-
zuela einerseits und einer Anbindung an die USA ande-
rerseits suchen. Hierin liegt unser strategisches Poten-
zial, durch dessen effektive Nutzung wir unsere
politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen
können. Politisch heißt das: werben für das Modell des
demokratischen Rechtsstaates und der sozialen Markt-
wirtschaft, Eintreten für bürgerliche und soziale Rechte
und Anbindung an die EU. Das kann man dann wirklich
als „strategisch“ bezeichnen. Wirtschaftlich heißt dies,
dass wir deutsche Unternehmen, die in der Region inves-
tieren wollen, besser begleiten müssen. Attraktive Ange-
bote, insbesondere im Bereich der erneuerbaren Ener-
gien, sind dabei durchaus vorhanden.
Dass all dies nicht funktioniert, liegt auch daran, dass
die EU und ihre Mitgliedstaaten, also eine Seite der Ver-
tragspartner des heute zu beratenden Abkommens, im
Hinblick auf diese Region keine wirklich kohärente Poli-
tik betreiben. Solange einzelne Mitgliedstaaten der EU
unter Verweis auf ihre besonderen „historischen Bezie-
hungen“ insbesondere in politischen Fragen aus dem eu-
ropäischen Konsens ausscheren, wird Europa nicht wirk-
lich Gewicht in dieser Region bekommen. Hier gilt es,
innerhalb der EU noch eine Menge an Hausaufgaben zu
machen. Ich fordere die Bundesregierung auf, hier aktiv
tätig zu werden!
Ich verstehe auch nicht, wieso wir national dermaßen
bescheidene Ansätze verfolgen. Die Kanzlerin hat letz-
tes Jahr Indien besucht und im Zuge dieser Reise ein am-
bitioniertes Ziel für den bilateralen Handel zwischen
Deutschland und Indien gesteckt, nämlich eine Verdopp-
lung des Handels innerhalb der nächsten fünf Jahre. Ich
denke wir sollten den Mut haben, uns selbst solche
Benchmarks zu setzen – mit Blick auf die Andengemein-
schaft, aber auch mit Blick auf Lateinamerika insgesamt,
und zwar wirtschaftlich, politisch und auch in unserer
Entwicklungszusammenarbeit. Das heute zu verabschie-
dende Abkommen bietet dazu einen Ansatzpunkt, den
die Bundesregierung nutzen sollte. Die Kanzlerin hat bei
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hrer Lateinamerika-Reise im Mai viele Möglichkeiten
azu.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Das Abkommen, das
it dem hier vorliegenden Gesetzentwurf ratifiziert wer-
en soll, ist längst in Kraft. Dennoch hat die Fraktion Die
inke eine Debatte dazu beantragt. Denn das Abkommen
iente der Vorbereitung der jetzt anlaufenden Assoziie-
ungsverhandlungen zwischen der EU und der Andenge-
einschaft und hat deshalb aktuelle entwicklungspoliti-
che Brisanz. Und zugleich hat sich seit Abschluss des
bkommens 2003 in der Partnerregion vieles verändert.
ie Hegemonie neoliberaler Entwicklungsmodelle, die
iesem Abkommen noch zugrunde liegt, ist in Latein-
merika mittlerweile massiv infrage gestellt und an vie-
en Punkten erfolgreich aufgebrochen worden – auch im
ndenraum. In Bolivien und Ecuador sind im Wider-
tand gegen neoliberale Politik breite soziale Bewegun-
en herangewachsen und haben schließlich einen politi-
chen Wandel herbeigeführt.
Gestützt auf diese Mobilisierung entwerfen die neuen
inken Regierungen eine alternative Politik mit dem Ziel
iner größere Teilhabe an politischer Macht und Wohl-
ahrt der bislang davon ausgeschlossenen sozialen
chichten und ethnischen Gruppen und mit dem Ziel, die
emokratische Verfügung über die Reichtümer der Län-
er gegen die Profitinteressen ausländischer Konzerne
u verteidigen bzw. überhaupt erst wieder herzustellen.
ie Verfassungsprozesse in diesen beiden Andenländern
ind der deutlichste Ausdruck für die Suche nach neuen
rundlagen für das gesellschaftliche Zusammenleben im
nneren und für die Beziehungen nach außen.
Die EU wird deshalb in ihrem Bestreben, mit der
ndengemeinschaft ein Freihandelsabkommen nach
em Muster WTO-plus abzuschließen, auf erheblichen
iderstand stoßen. Das Abkommen von 2003 ist des-
alb an vielen Punkten nicht mehr auf der Höhe der Zeit,
enn man nach Lateinamerika schaut. Es spiegelt aller-
ings zugleich die leider nach wie vor gültige neolibe-
ale Freihandelspolitik der EU wider, die sich an der
urchsetzung bilateraler WTO-plus-Abkommen orien-
iert und die wir als Fraktion Die Linke ganz klar ableh-
en: Der spätere Abschluss eines Freihandelsabkom-
ens ist in dem Abkommen als Ziel formuliert; die
artner werden verpflichtet, den Schutz geistiger Eigen-
umsrechte nach „den strengsten internationalen Normen
u gewähren“; der diskriminierungsfreie Zugang zu
usschreibungen im öffentlichen Beschaffungswesen
ird angestrebt; die Wettbewerbspolitik soll harmoni-
iert werden. Spielräume für eine souveräne Strukturpo-
itik in den Andenländern werden durch diese Zielset-
ungen massiv infrage gestellt.
Alle diese Punkte stehen nun auch auf der Agenda der
U-Kommission für die Verhandlungen über die Asso-
iierungsabkommen. An anderer Stelle ist im Abkom-
en von der Stärkung der Privatwirtschaft und von der
Stärkung der wirtschaftlichen Beziehungen in Schlüs-
elbereichen“ wie Wasser und Energie, Öl und Gas die
ede. Die Volksbewegung gegen die Wasserprivatisie-
ung in Cochabamba, die Verstaatlichung der Öl- und
16632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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Gasvorkommen in Bolivien und der Stand der Verfas-
sungsprozesse in Bolivien und Ecuador sind über diese
kaum verhohlene Absicht der EU, ihren Unternehmen
den Zugang in diese „Schlüsselbereiche“ zu eröffnen,
hinweggegangen. Wie überhaupt viele Absichtserklärun-
gen aus diesem Abkommen, das ja noch mit den alten
neoliberalen Regierungen abgeschlossen worden ist,
keine praktische Umsetzung mehr finden dürften, wenn
die Verfassungsprozesse in den Andenländern weiter
voranschreiten.
Auf Solidarität begründete Abkommen zwischen
Partnern mit einem Wohlstandsgefälle, wie es zwischen
der EU und den Andenstaaten besteht, sehen für die
Fraktion Die Linke jedenfalls anders aus, übrigens auch
für die bolivianische Regierung. Diese hat bereits 2007
einen Vorschlag für ein solidarisches, faires Abkommen
zwischen EU und Andengemeinschaft vorgelegt, auf den
die EU allerdings in keiner Weise reagiert hat. Ich will
die wichtigsten Elemente deshalb nochmals nennen.
Die bolivianische Regierung fordert, die Bedürfnisse
der Bevölkerung und der Umwelt über die Interessen der
transnationalen Unternehmen zu stellen, und betont den
Anspruch, ihre nationale Politik in allen Bereichen sou-
verän gestalten zu können. Dazu gehört sowohl die
Möglichkeit, durch staatliche Anreize und Auftragsver-
gaben an einheimische Unternehmen gezielte Struktur-
politik zu betreiben, als auch das Recht, inländische
Märkte für die eigene Landwirtschafts- und Industrie-
produktion vor dem Verdrängungswettbewerb mit euro-
päischen Konkurrenten zu schützen.
Völlig zu Recht fordert die bolivianische Regierung,
den Zugang zu Generika zu garantieren und die Zwangs-
lizenzen für patentierte Medikamente auszuweiten, um
den Bedarf zur Sicherung des öffentlichen Gesundheits-
wesens zu decken, und das Verbot der Patentierung von
Pflanzen, Samen, Tieren und Mikroorganismen sowie je-
dem lebendem Material. Vor dem Hintergrund der aktu-
ellen Hungerkrise in vielen Teilen der Welt möchte ich
abschließend folgende Formulierung aus dem boliviani-
schen Vorschlag hervorheben:
Die Landwirtschaft kann nicht wie jede andere
wirtschaftliche Tätigkeit behandelt werden, da von
ihr die Ernährung und das Leben von Millionen von
Menschen sowie das Überleben und die Kultur vie-
ler Hundert indigener Völker in der Andenregion
abhängen. Die Staaten haben das Recht und die
Verpflichtung, die Souveränität und die Ernäh-
rungssicherung ihrer Bevölkerung zu garantieren
und das Gemeingut über die Interessen der Agrar-
wirtschaft zu stellen.
Wir haben bereits vor einiger Zeit in einem Antrag
gefordert, die Anregungen aus Bolivien in die Asso-
ziierungsverhandlungen aufzunehmen. Vor dem Hinter-
grund der sich im Andenraum vollziehenden gesell-
schaftlichen Umbrüche wird es immer wichtiger, nicht
mit den alten neoliberalen Schablonen auf die Partner
zuzugehen, sondern offen zu sein für alternative Vor-
schläge, die von dort kommen.
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Wir verweigern dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung
es Abkommens unsere Zustimmung und fordern neue
rundlagen für eine neue Partnerschaft.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum
ünften Mal findet in wenigen Wochen ein Gipfeltreffen
er Staats- und Regierungschefs der EU, Lateinamerikas
nd der Karibik statt. Leider beschränkte sich das Ergeb-
is der bisherigen Gipfel zu oft darauf, dass man die ge-
einsamen Werte der beiden Regionen hochhielt. Viel
ubstanzielles ist bisher noch nicht zustande gekommen.
rsprüngliches Ziel der Gipfel war es, die Beziehungen
wischen den beiden Regionen zu stärken und zu vertie-
en, um „eine strategische Partnerschaft für das 21. Jahr-
undert“ zu schaffen.
Allein die Tatsache, dass es in Deutschland über vier
ahre gedauert hat, das Abkommen über politischen Dia-
og und Zusammenarbeit mit der Andengemeinschaft zu
atifizieren, lässt die Beteuerungen, wie wichtig die Part-
erschaft mit Lateinamerika und der Karibik für die EU
ei, in einem anderen Licht erscheinen. In einem Licht,
ass der Wichtigkeit dieser Partnerschaft nicht gerecht
ird. Aber wir werden vor dem Gipfel auch in diesem
ause noch Gelegenheit haben, uns hiermit eingehender
u beschäftigen.
Assoziationsabkommen mit regionalen Integrations-
ündnissen sind ein Instrument, um die „strategische
artnerschaft für das 21. Jahrhundert“ umzusetzen. Im
uni 2007 haben die EU und die Andengemeinschaft
erhandlungen für ein Assoziationsabkommen aufge-
ommen. Sie gestalten sich jedoch zäh, ein Abschluss ist
icht in Sicht. Beim Abkommen mit dem Mercosur sieht
s ähnlich aus.
Bei unserer heutigen Debatte geht es jedoch zunächst
m ein Abkommen über politischen Dialog und Zusam-
enarbeit, das wiederum die Grundlage für ein Assozia-
ionsabkommen zwischen der EU und der Andenge-
einschaft bildet. Die Andengemeinschaft setzt sich aus
ier Staaten zusammen, die erhebliche wirtschaftliche
nd politische Schwierigkeiten zu lösen haben: In Boli-
ien leben 60 Prozent der Bevölkerung in Armut, in Ko-
umbien fast 50 Prozent. In Bolivien und Ecuador wer-
en neue Verfassungen erarbeitet. Prozesse, die, vor
llem in Bolivien, zu starken Spannungen innerhalb der
esellschaft führen. In Kolumbien herrscht nach wie vor
in interner Konflikt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Im
ärz dieses Jahres drohte gar die Regionalisierung des
onflikts, nachdem kolumbianische Truppen Mitglieder
er FARC auf ecuadorianischem Gebiet töteten.
In dieser unbeständigen Region kann und muss die
U einen Beitrag zu Stabilität und Entwicklung leisten.
in künftiges Assoziationsabkommen muss dazu beitra-
en, die Demokratien zu konsolidieren, Konflikte zu lö-
en, die regionale Integration zu stärken und die Wirt-
chaft zu stabilisieren. So kann die EU zur nachhaltigen
ntwicklung der Länder beitragen. Dabei darf nie außer
cht gelassen werden, wem diese Entwicklung vor al-
em zugute kommen muss: den Armen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16633
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Ein faires Abkommen muss einen verbesserten Markt-
zugang für landwirtschaftliche Produkte aus der Anden-
gemeinschaft schaffen, nicht nur für Rohstoffe sondern
auch für weiterverarbeitete Produkte. Gleichzeitig muss
aber auch über ökologische und soziale Mindeststan-
dards und Nachhaltigkeitskriterien gesprochen werden,
ebenso wie über einen Abbau der den Handel verzerren-
den Agrarsubventionen der EU.
Diese Öffnung der europäischen Märkte darf aber
nicht gleich wieder durch noch umfangreichere Zuge-
ständnisse der anderen Seite bei Investitionen, Dienstleis-
tungen und dem öffentlichen Beschaffungswesen zu-
nichte gemacht werden. Nur so kann eine positive
Außenhandelsbilanz der schwächeren Länder zu deren fi-
nanziellen Stabilität beitragen. Und ihnen muss das Recht
zugestanden werden, mit dem Ziel der Ernährungssouve-
ränität ihren Agrarsektor zu schützen – und ebenso den
sich noch im Aufbau befindenden Industrie- und Dienst-
leistungssektor. Besonders Bolivien wehrt sich gegen Li-
beralisierungsdruck von Seiten der EU. Den Partnerlän-
dern muss das Recht zugestanden werden, ihren eigenen
Entwicklungspfad zu definieren und zu beschreiten.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Fonds Ökowandel –
Neues Wirtschaften mit altem Geld – Der grüne
Fonds aus den Rückstellungen der Atomwirt-
schaft (Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Die Stilllegung
und der Rückbau von Kernkraftwerken sowie die Ent-
sorgung der radioaktiven Abfälle sind sensible und kom-
plexe Themen, die gerne zu populistischer Politik ausge-
nutzt werden. Aber schauen wir doch zunächst einmal
auf die Fakten. In Deutschland gehört die sach- und
fachgerechte Beseitigung eines ausgedienten Kernkraft-
werkes zu den wirtschaftlichen Angelegenheiten der Be-
treiberfirmen. Für diese atomrechtlich vorgeschriebenen
Aufgaben bilden die Energieunternehmen bilanzielle
Rückstellungen, um Sorge zu tragen, dass die künftige
Finanzierung sichergestellt ist. Die handelsrechtlich vor-
geschriebenen Rückstellungen sind grundsätzlich in die
Steuerbilanz zu übertragen. Die Finanzierung von Still-
legung und Rückbau sowie Abfallentsorgung hat somit
wirtschaftliche, atomrechtliche und steuerrechtliche Be-
standteile.
Aus Sicht der Union gibt es keinen Grund, daran zu
rütteln. Alle Regierungen, auch die rot-grüne, haben bis-
her alle Fondsmodelle zu Recht abgelehnt. Sie von den
Grünen waren es doch, die mit der SPD einen Gesetzent-
wurf von Herrmann Scheer, der von 32 weiteren SPD-
Abgeordneten unterzeichnet war, zugunsten des soge-
nannten Atomkonsenses abgelehnt haben. Sie waren es
doch, die 2003 eine entsprechende Forderung der dama-
ligen Vizepräsidentin und Kommissarin für Verkehr und
Energie der EU-Kommission, Loyola de Palacio, aus
„nuklearwirtschaftlichen und aus übergeordneten Grün-
den“ abgelehnt haben. Nun, da Sie nicht in der Verant-
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ortung sind, fordern Sie genau das, was Sie selber in
er Regierung nicht umgesetzt haben.
Ich erinnere Sie gerne daran, weshalb Sie wahrschein-
ich damals der Meinung waren, dass ein externer Fonds
icht die beste Lösung ist. Ein Fonds bietet beispiels-
eise keine höhere Sicherheit der Finanzierung. Im Ge-
enteil. Das Rückstellungssystem der deutschen Ener-
ieunternehmen durchläuft mehrere Kontrollinstanzen.
uerst werden die Unterlagen des Kraftwerkbetreibers
on einer unabhängigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
egutachtet. Das Ergebnis wird dann durch die zustän-
ige Finanzverwaltung erneut und vollständig überprüft.
as ist eine Kontrolldichte, die in Umfang und Tiefe je-
em externen Fonds überlegen ist.
Die deutsche Rückstellungspraxis ist aber auch sys-
embedingt die bessere Lösung. Bei einem Fonds haften
ur die Fondsmittel; bei dem Rückstellsystem stehen die
esamten Aktiva des Unternehmens für die Erfüllung
er Entsorgungsverpflichtung zur Verfügung und auf-
rund bestehender Unternehmensverträge zusätzlich
och die Aktiva der Konzernmütter. Außerdem hat mir
och niemand beweisen können, dass Geld in staatlicher
and besser angelegt ist als bei Wirtschaftsunterneh-
en; im Gegenteil: Die DDR lässt grüßen.
Aber auch juristisch würde eine Fondslösung auf
ackligen Beinen stehen, kommt sie schließlich einer
nteignung gleich. Das deutsche Rückstellsystem hinge-
en ist bis in die höchsten Instanzen geprüft. So hat der
uropäische Gerichtshof im Dezember 2007 die Rück-
tellungspraxis einer eingehenden juristischen, betriebs-
owie volkswirtschaftlichen und steuerrechtlichen Ana-
yse unterzogen und ist zu dem Urteil gekommen, dass
eder eine Vergünstigung im Sinne einer staatlichen
eihilfe noch ein Wettbewerbsvorteil oder ein Steuerpri-
ileg vorliegt.
Das einzige Argument, was mir den Antrag sympa-
hisch macht, ist, dass er bei Annahme den Atomkonsens
ns Wanken bringen würde. In Ziffer III 2. der Kernener-
ieverständigung vom 14. Juni 2006 ist festgelegt:
Die Bundesregierung wird keine Initiative ergrei-
fen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch ein-
seitige Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt
auch für das Steuerrecht
enn Sie, meine Damen und Herren von den Grünen,
it diesem Antrag also bezwecken wollen, den soge-
annten Atomkonsens aufzukündigen, dann haben Sie
eine volle und ganze Unterstützung. Sie wissen, aber
ollen es nicht wahrhaben, dass dieser politisch willkür-
ich festgelegte Ausstieg weder umweltpolitisch noch
irtschaftspolitisch sinnvoll und schon gar nicht ver-
raucherfreundlich ist. Man kann die Zahlen und Fakten
rehen und wenden wie man will, es ist unmöglich, alles
leichzeitig zu erreichen: die Klimaschutzziele, die Ver-
orgungssicherheit, bezahlbaren Strompreis – und dies
hne Kern- und Kohlekraftwerke.
Wir können es gerne gemeinsam durchrechnen. Sagen
ir einmal, wir schaffen es, den Anteil der erneuerbaren
nergien in 2020 auf 30 Prozent zu erhöhen. Damit
önnte der Anteil der Atomkraft ersetzt werden. Aber
16634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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was ist mit den anderen 70 Prozent? Über zwei Drittel
unseres Strombedarfs werden wir dann immer noch
durch schadstoffreiche, fossile Energieträger abdecken
müssen.
Schauen wir mal über unsere Landesgrenzen hinaus.
Während in Deutschland der Ausstiegsbeschluss noch
steht, werden in anderen Ländern rund um den Globus,
etwa in Finnland, Frankreich, China und den USA, die
Laufzeiten von Kernkraftwerken verlängert oder neue
Kernkraftwerke gebaut. Die Welt orientiert sich nicht an
demjenigen, der aussteigen will, sondern geht exakt den
umgekehrten Weg. Darum wird für die Union die Kern-
energie auch künftig im deutschen Energiemix eine ent-
scheidende Rolle spielen. Denn wenn wir einen europäi-
schen Binnenmarkt für Strom haben, dann entscheidet
der Verbraucher, von wem er den Strom bezieht. So kann
es passieren, dass wir eines Tages in großem Umfang
Kernenergie aus anderen europäischen Ländern impor-
tieren müssen, und dann hätten wir mit Zitronen gehan-
delt.
Italien ist dafür ein warnendes Beispiel. Das Land hat
1987 den Ausstieg beschlossen und 1990 den letzten Re-
aktor vom Netz genommen. Dafür beziehen die Italiener
jetzt rund 14 Prozent ihres Stromverbrauchs aus auslän-
dischen Kernkraftwerken. Ein Vorbild, dem Deutschland
nicht folgen sollte.
Deutschland sollte lieber seine bisherige Vorreiter-
rolle fortführen. Wir haben nicht nur die Chance, unsere
nationalen und internationalen Klimaschutzziele zu er-
reichen. Es ist sogar möglich sie zu übertreffen. Wir kön-
nen 45 statt 40 Prozent der Treibhausgase bis 2020 redu-
zieren, wenn wir denn wollen und der eine oder andere
seine ideologischen Scheuklappen ablegt. Dazu müssen
wir nur die politisch willkürliche Verkürzung der Lauf-
zeiten der Kernkraftwerke zurücknehmen. Diese Lösung
ist nicht nur umweltfreundlich, sondern auch wirtschaft-
lich. Kosten in der Größenordnung von 5 Milliarden
Euro pro Jahr könnten uns erspart bleiben. Das ist im-
merhin fast das 6,5-fache des Jahresetats des Bundesum-
weltministeriums.
Von den Grünen kommt doch immer die Forderung,
mehr für den Verbraucher und den Wettbewerb zu tun.
Hier wäre es möglich; doch Sie verweigern sich. Für Sie
und für Teile der SPD ist das zwanghafte Festhalten am
Ausstieg aus der Kernkraft wichtiger als die Energiever-
braucher, also die Haushalte, die Menschen und die
Wirtschaft, in einer Größenordnung von 6 Prozent zu
entlasten.
Der Ausstieg aus dem Ausstieg wäre nicht nur wirt-
schaftlich und umweltfreundlich, sondern auch ein Bei-
trag zur Versorgungssicherheit unseres Landes. Denn
wenn wir die erneuerbaren Energien wie geplant massiv
ausbauen, wird deren Anteil auf 30 bis 35 Prozent er-
höht. Wenn wir gleichzeitig die Kernenergie weiterlau-
fen lassen, liefert diese weitere 30 Prozent. So könnten
wir in 2020 über zwei Drittel der Stromproduktion na-
hezu CO2-frei und importunabhängig herstellen.
Mit dieser Entscheidung könnten wir eine Win-win-
Situation nicht nur für Deutschland, sondern für die
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anze Welt schaffen. Lassen Sie uns doch die technolo-
ische Leistungsfähigkeit Deutschlands bei der Stromer-
eugung – sei es bei den erneuerbaren Energien, wo wir
ehr gut aufgestellt sind, sei es durch Clean-Coal-Tech-
ologie, die vielleicht ab 2020 auch wirtschaftlich zur
erfügung steht – als auch im Gebäudebereich mit Ein-
parungen, Wärmedämmung und anderen Dingen sowie
m Transportbereich nutzen. Mit dieser Strategie könn-
en wir nicht nur in Deutschland Klimaschutz betreiben
nd einen weltweiten Beitrag leisten, sondern wir wür-
en auch noch etwas für die Wettbewerbsfähigkeit unse-
es Standorts tun sowie Arbeitsplätze und eine gute Zu-
unft für Deutschland schaffen.
Energieeinsparungen, ein weitreichender und ausge-
ogener Energiemix und der Ausstieg aus dem Ausstieg
ind die Schritte auf dem Weg zu einer sicheren, um-
eltfreundlichen und bezahlbaren Energieversorgung in
eutschland. In den ersten beiden Punkten herrscht ja
eitestgehend Einigkeit. Wenn dieser Antrag der erste
chritt zum Ausstieg aus dem Ausstieg sein sollte, wä-
en wir von der Union gerne bereit, über die Inhalte zu
prechen. Da dies aber aller Wahrscheinlichkeit nach
icht der Fall ist, lehnen wir den Antrag ab.
Rolf Hempelmann (SPD): Wir diskutieren heute ei-
en Antrag der Grünen, in dem für einen „Fonds Öko-
andel“, für „Neues Wirtschaften mit altem Geld“ plä-
iert wird. Kurz gesagt, geht es den Antragstellern
arum, die von den Betreibern der Kernkraftwerke im
ahmen ihrer nuklearen Entsorgungsverpflichtungen ge-
ildeten Rückstellungen in einen öffentlich kontrollier-
en Fonds zu überführen, dessen Tätigkeit dann an öko-
ogischen, sozialen und ethischen Kriterien auszurichten
äre. Einerseits soll auf diese Weise die Finanzierungs-
icherheit des Systems erhöht werden, und andererseits
oll nachhaltiges Investment gefördert werden. Beides
lingt durchaus positiv. Problematisch ist allerdings,
ass uns kaum schlüssig dargelegt wird, wie insbeson-
ere das erste der beiden genannten Ziele auf der Grund-
age des vorgeschlagenen Fonds sichergestellt werden
oll. Hier machen es sich die Grünen zu leicht.
Vergegenwärtigen wir uns doch zunächst einmal die
ktuelle Praxis der Rückstellungsbildung: Aktuell wer-
en die Rückstellungen, die sich inzwischen auf rund
0 Milliarden Euro belaufen, durch Passivierung der
ünftigen Verbindlichkeit in der Handelsbilanz gebildet.
s wird mithin ein Aufwand verbucht, ohne dass tat-
ächlich Mittel aus dem Unternehmen abfließen. Damit
oll sichergestellt werden, dass die zur Erfüllung der
erpflichtung notwendigen Mittel im Unternehmen ver-
leiben und nicht ausgeschüttet werden. Die Folge ist,
ass sich in dem jeweiligen Geschäftsjahr der zu ver-
teuernde Gewinn mindert und die rückgestellten Mittel
ur Innenfinanzierung innerhalb des Konzerns zur Ver-
ügung stehen. Im Blick über den nationalen Tellerrand
st dies ein Finanzierungssystem, das durchaus Anerken-
ung findet.
Ich denke, wir alle haben insbesondere aufgrund der
n den kommenden Jahrzehnten in Deutschland und Eu-
opa anstehenden Stilllegungen von Kernkraftwerken
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16635
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ein großes Interesse an einem Rückstellungssystem, das
langfristig sicherstellt, dass die für die Verwertung radio-
aktiver Reststoffe, für die Beseitigung radioaktiver Ab-
fälle und für die Stilllegung der Atomkraftwerke not-
wendigen Mittel im Bedarfsfall auch tatsächlich zur
Verfügung stehen. Hier muss das Verursacherprinzip
gelten, und das bedeutet auch, dass Risiken, die dazu
führen könnten, dass letztendlich der Bund für die Fi-
nanzierung der Entsorgung geradezustehen hätte, konse-
quent minimiert werden müssen. Insofern und gerade
auch vor dem Hintergrund, dass sich die Rahmenbedin-
gungen für die Finanzierung der nuklearen Entsorgung
seit 1976 erheblich verändert haben – Liberalisierung
der deutschen und europäischen Energiemärkte, Aus-
stieg aus der Nutzung der Kernenergie –, ist es sicherlich
absolut legitim, darüber nachzudenken, wie diese Finan-
zierungssicherheit weiter erhöht werden kann.
Gerade an dieser Stelle allerdings scheint mir der vor-
liegende Antrag wenig überzeugend zu sein. Die Konse-
quenz seiner Umsetzung wäre doch, dass die bislang be-
reits rückgestellten genauso wie die in Zukunft noch
angesammelten Mittel komplett in den neu gebildeten
Fonds abfließen würden. Damit aber würden diese Mit-
tel den durch das Atomrecht zur nuklearen Entsorgung
verpflichteten Energieversorgungsunternehmen entzo-
gen und stünden für den eigentlichen Verwendungs-
zweck jedenfalls zunächst einmal nicht mehr zur Verfü-
gung. Mehr finanzielle Sicherheit für das nukleare
Entsorgungssystem bedeutet dies nicht, wohl aber einen
sehr weitreichenden Eingriff in bestehende Rechtsposi-
tionen der betroffenen Unternehmen, der wohl kaum
ohne größere juristische Auseinandersetzungen hinge-
nommen werden würde.
Wir sollten daher an dieser Stelle keine Schnell-
schüsse vornehmen, sondern gründlich darüber nachden-
ken, mit welchen konkreten Maßnahmen sich tatsächli-
che Verbesserungen des bestehenden Systems erreichen
lassen. Dabei stehen wir alle in der Pflicht, bei der Frage
der nuklearen Entsorgung und deren Finanzierung die
größtmögliche Sorgfalt walten zu lassen. Experimente
wie ein „Fonds Ökowandel“ sind hier kein angemesse-
ner Ansatz.
Christoph Pries (SPD): Der vorliegende Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen greift ein wichtiges Thema auf,
welches uns in den kommenden Jahren verstärkt be-
schäftigen wird.
Die EU-Kommission geht davon aus, dass bis 2025
ein Drittel der Atomkraftwerke in der Europäischen
Union stillgelegt werden muss. Es besteht darüber Kon-
sens, dass eine ausreichende Finanzierung des Rückbaus
von Atomkraftwerken und der Entsorgung der radioakti-
ven Abfälle gewährleistet sein muss. Die entsprechend
zurückgestellten Mittel müssen zum gegebenen Zeit-
punkt verfügbar sein.
Nach dem Verursacherprinzip sind in Deutschland Be-
treiber von Atomkraftwerken dazu verpflichtet, die Kos-
ten für den Rückbau der Anlagen und die Entsorgung der
radioaktiven Abfälle sicherzustellen. In Deutschland ge-
schieht dies über interne Rückstellungen der Energiekon-
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erne für zukünftige Verbindlichkeiten. Diese Rückstel-
ungen belaufen sich derzeit auf rund 30 Milliarden Euro
nd unterliegen keiner Zweckbindung.
Wenn ich zu Beginn gesagt habe, dass der vorlie-
ende Antrag ein wichtiges Thema aufgreift, so möchte
ch einschränken: Die Darstellung ist verkürzt und die
orderungen sind Schnellschüsse. Der Antrag erweckt
en Eindruck, als sei das System der Rückstellungen der
nergiekonzerne in Deutschland unzureichend.
Hierzu ist anzumerken: Selbst die EU-Kommission,
ie eher externen Fondsmodellen zuneigt, bezeichnet
as deutsche System der unternehmensinternen Rück-
tellungen in ihrem Bericht vom 17. Dezember 2007 als
zur Bereitstellung angemessener Finanzmittel (…)
achweisbar effizient“.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Einrichtung eines
Fonds Ökowandel“ erhebliche Auswirkungen hätte.
und 30 Milliarden Euro, die die Energiekonzerne an
ückstellungen gebildet haben, müssten an den Fonds
bertragen werden. Dies hätte erhebliche wirtschaftliche
uswirkungen und würde einen massiven Eingriff in die
echtsposition der betroffenen Energiekonzerne darstel-
en.
Vor dem Hintergrund der ohnehin schwierigen ener-
iepolitischen Diskussion halte ich dieses Ansinnen zum
etzigen Zeitpunkt für kontraproduktiv. Die aktuelle
ückstellungspraxis stammt noch aus den 1970er-Jahren.
s steht fest, dass die Liberalisierung der Strommärkte,
ie Privatisierung der deutschen Energieversorgungsun-
ernehmen, der Atomausstieg und die zunehmende Ver-
lechtung der europäischen Energiewirtschaft die Rah-
enbedingungen für die Rückstellungen grundlegend
erändert haben. Ob und in welcher Form Anpassungen
er Rückstellungspraxis notwendig sind, bedarf einer
ründlichen und breiten politischen Diskussion und der
bwägung vieler Argumente.
Mal so eben mit einem zweiseitigen Antrag 30 Mil-
iarden Euro in einen Fonds zu verschieben, wie dies die
rünen jetzt fordern, ist sicherlich nicht der richtige
eg.
Gudrun Kopp (FDP): Die Grünen liefern hier heute
ieder einmal den Beweis dafür ab, dass Sie immer ganz
enau wissen, wie man es nicht machen sollte. Gerade
rst haben wir erlebt, wie staatliche und halbstaatliche
anken Milliardenbeträge schlicht verbrannt haben, da
ollen Sie schon den nächsten staatlich kontrollierten
onds bilden. Aber mit dem Geld anderer Leute kann
an es ja machen.
Wenn ich Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von
en Grünen, richtig verstehe, wollen Sie den Kernkraft-
erke betreibenden Unternehmen in Deutschland das
eld, das sie – dem Atomgesetz folgend – für Rückbau
nd Entsorgung von Kernkraftwerken und deren Brenn-
toffen in Form von Rückstellungen angespart haben,
egnehmen und unter staatliche Kuratel stellen. Als Be-
ründung treibt Sie offenbar die Sorge um, dass die
ückstellungen im Bedarfsfalle nicht zur Verfügung ste-
en könnten. Ich sage Ihnen: Wenn es einen sicheren
16636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
Weg gibt, die Atomrückstellungen vor Eintritt des Be-
darfsfalles zu verschleudern, dann den, dieses Geld den
Mitgliedern des Umweltausschusses zu überlassen. Im
Ernst: Wer angesichts der Ereignisse in den letzten Mo-
naten – Stichworte: West-LB, Bayern-LB, Sachsen-LB,
KfW – einen Betrag von 28 Milliarden Euro der Kuratel
von Umweltpolitikern und Naturschutzverbänden unter-
stellen will, der kann nicht mehr alle Tassen im Schrank
haben.
Grundsätzlich aber passt das natürlich zur Linie der
Grünen in der Energiepolitik. Langfristiges Ziel scheint
ja auch hier die vollständige staatliche Lenkung jeglicher
Investitionsentscheidungen zu sein. Dem kämen Sie mit
einem solchen Konstrukt natürlich ein Stück weit näher.
Auf unsere Unterstützung müssen Sie bei diesem Unter-
fangen allerdings verzichten.
Merkwürdig erscheint mir nur, dass Sie offenbar
überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben, was die
jüngste europäische Rechtsprechung zum Thema Kern-
energierückstellungen noch einmal verdeutlicht hat. Ge-
rade erst hat der EuGH die Klagen diverser deutscher
Stadtwerke gegen die gängige Rückstellungspraxis letzt-
instanzlich zurückgewiesen. Die Kernkraftwerksbetrei-
ber halten sich in diesem Bereich an Recht und Gesetz.
Das Einzige, was ihre Rückstellungen von anderen han-
delsrechtlich üblichen Rückstellungen unterscheidet, ist
die Höhe dieser Rückstellungen. Diese aber liegt in der
Natur der Sache und wird ja auch von Ihnen als solche
nicht beanstandet.
Kurz und gut: Nicht nur, dass das von Ihnen vorge-
schlagene Verfahren höchst unsinnig ist und den kürzes-
ten Weg zu hohen staatlichen Entsorgungslasten bedeu-
ten würde. Nein, mir scheint auch rechtlich dieser Weg
überhaupt nicht gangbar zu sein. Sie können nicht ein-
fach rückwirkend in handelsrechtlich gebildete Rück-
stellungen eingreifen. Nur zur Erinnerung: Diese Rück-
stellungen sind auch in anderen Branchen üblich. Selbst
wenn es also rechtlich möglich wäre, was Sie hier vor-
schlagen: Welches Signal senden Sie denn damit aus?
Wenn es politischen Gruppen opportun erscheint, kön-
nen diese Rückstellungen von staatlichen Ad-hoc-Ein-
griffen betroffen werden und einfach anderen Zwecken
zugeführt werden? Mit dem Risiko, dass die staatlichen
Akteure sich ein bisschen verzocken und der Steuerzah-
ler am Ende dafür geradestehen muss?
Nein, dieser Vorschlag ist weder rechtlich noch poli-
tisch akzeptabel. Sie merken wahrscheinlich selbst, dass
Sie sich mit dem Ausstieg aus der Kernenergie ein Ei-
gentor geschossen haben, und suchen jetzt verzweifelt
nach einer Möglichkeit, aus dieser Nummer wieder he-
rauszukommen. Nachdem alle drei energiepolitischen
Ziele – Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit
und Wirtschaftlichkeit – für die Kernenergie sprechen,
sind Sie auf der Suche nach neuen Ablehnungsgründen.
Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Die gegenwärtige
Rückstellungspraxis ist nicht zu beanstanden, und sie
sollte insbesondere nicht zu einer staatlich verordneten
Zwangsverwaltung von privatem Geld umgewandelt
werden.
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Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Die Atomkonzerne
achen Kasse – mit staatlicher Hilfe. Die Entwicklung
nd der Bau von Atomanlagen in Deutschland haben
20 Milliarden Euro verschlungen. Jeder der maroden
nd längst abgeschriebenen Reaktoren wirft bei der
tromerzeugung jährlich 300 Millionen Euro Gewinn
b. Und: Die Rückstellungen, welche die Energiekon-
erne bilden müssen, um den Rückbau der Anlagen und
ie Endlagerung des Strahlenmülls zu finanzieren, sind
teuerfrei. Außerdem stehen sie frei zur Verfügung, so-
ange die Summe in der Bilanz irgendwo auftaucht. Wir
eden hier nicht von Peanuts: Mittlerweile haben sich
ber 27 Milliarden Euro angesammelt. Da fragt sich der
aie, was die Konzerne mit dem vielen Geld so anfan-
en. Ein Blick in die Wirtschaftspresse gibt darüber Auf-
chluss: RWE, Eon und Co. gehen international auf Ein-
aufstour. Sie sichern sich mit den Steuergeschenken ihr
onopol ab. Und was kaufen sie? Atomkraftwerke im
enachbarten Ausland! Das ist Atomsubvention durch
ie Hintertür. Die Linke lehnt das ab.
Nun sagt die Bundesregierung, man könne den Strom-
ossen nicht in die Buchhaltung hineinreden. Gerade
eshalb ist der Antrag der Grünen zu begrüßen. Schaffen
ir den Missbrauch bei den Atomrückstellungen ab und
tellen die Gelder unter öffentliche Aufsicht. Ich möchte
n dieser Stelle betonen, dass die Steuergeschenke an die
tomindustrie auch unter der Regierungsbeteiligung der
rünen nicht beseitigt wurden. Dass dies jetzt aus der
pposition heraus versucht wird, hat doch einen faden
eigeschmack. Interessant ist allerdings auch, dass sich
ie Ökopartei jetzt als Fondsmanager versucht – eine
iskussion über die Rolle von Staatsfonds kann hier si-
herlich nicht schaden. Ob wir allerdings einen öffentli-
hen Nachhaltigkeitsfonds auflegen sollten, ist fraglich.
ichtig ist jedoch, dass wir die Rückstellungen, die die
tomwirtschaft zum Atomausstieg bilden muss, der
acht der Konzerne entziehen. Die Linksfraktion unter-
tützt den Antrag deshalb.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
etreiber von Atomkraftwerken klammern sich an ihren
eaktoren fest wie die Affen an der Banane. Dies hat
ute Gründe. Zum einen können Sie mit den abgeschrie-
enen Reaktoren Milliardengewinne einfahren, da sie
ugleich vom Stromkunden hohe Strompreise abverlan-
en. Selbstverständlich denken sie überhaupt nicht da-
an, diese Gewinne in Form niedrigerer Strompreise an
ie Stromkunden weiterzugeben. Wer meint, dass Atom-
raftwerke die Strompreise senken, hat die Rechnung
hne die Betreiber gemacht, wofür Millionen Stromrech-
ungen die Beweise liefern.
Die Stromkonzerne haben noch einen zweiten Grund,
ich an den Atomkraftwerken festzuklammern. Mit den
tomrückstellungen haben sie Milliarden Euro an Spiel-
eld in der Hand, mit dem sie ihre Marktmacht europa-
eit ausbauen können.
Woraus leitet sich diese privilegierte Situation für
WE, Eon, Vattenfall und EnBW ab? Die Betreiber von
tomkraftwerken sind gemäß Atomgesetz als
erursacher für die Verwertung radioaktiver Reststoffe,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16637
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(B) )
Beseitigung radioaktiver Abfälle und die Stilllegung der
Atomkraftwerke zuständig. Sie sind verpflichtet, Rück-
stellungen zu bilden. Interessanterweise liegen der Bun-
desregierung keine Erkenntnisse darüber vor, wie hoch
die Entsorgungskosten sein werden. Solange keine reali-
tätsnahe Schätzung der tatsächlichen Kosten vorliegt, ist
die Verpflichtung zur Bildung von Rückstellungen nicht
umfassend überprüfbar. Die Bundesregierung ist aufge-
fordert, ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen.
Sowohl beim Rückbau der Atomanlagen als auch bei
der Endlagerung der Brennelemente handelt es sich um
Verbindlichkeiten, die erst in einigen Jahren bis Jahr-
zehnten – bei der Endlagerung sogar in mehreren Jahr-
zehnten – fällig sein werden. Den Gesamtbetrag der
Rückstellungen, der im Laufe der letzten Jahre von den
Betreibergesellschaften angesammelt wurde, beziffert
die Bundesregierung für Ende 2006 auf 27,388 Milliar-
den Euro. Hinzu kommen in den nächsten Jahren noch
zweistellige Milliardenbeträge.
Bei der bisherigen Art und Weise, die für die Stillle-
gung von Atomanlagen oder die Entsorgung von Kern-
brennstoffen gebildeten Rückstellungen zu verwenden
und anzulegen, ist nicht hinreichend gewährleistet, dass
die Mittel im Bedarfsfall auch tatsächlich für den Be-
stimmungszweck zur Verfügung stehen. Als 1988 der
Thorium-Hochtemperatur-Reaktor, THTR, in Hamm-
Uentrop nach nur 423 Volllasttagen wegen seiner Sicher-
heitsmängel stillgelegt wurde, stand die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit der Betreibergesellschaft infrage. Die
Kosten der Stilllegung fielen in unerwarteter Höhe der
öffentlichen Hand zu, die erhebliche finanzielle Ver-
pflichtungen übernehmen musste, damit ein geordnetes
Verfahren zur Stilllegung des THTR eingeleitet werden
konnte.
Anders als bei Pensionsrückstellungen, bei denen es
stetigen Zu- und Abfluss gibt, ist der Elektrizitätswirt-
schaft eine enorme Liquiditätsreserve zugewachsen,
über die sie frei verfügen kann, solange der Bestand in
der Bilanz nachgewiesen wird. Während andere Unter-
nehmen für die Erhöhung ihres Geschäftskapitals Kre-
dite aufnehmen müssen, können die Atomkraftwerksbe-
treiber auf ihre eigenen steuerfreien Rückstellungen
zurückgreifen. Hierdurch entstehen Wettbewerbsverzer-
rungen zum Schaden anderer Unternehmen.
Vorbild für die Sicherstellung der Rückstellungen der
Atomkraftindustrie könnte der öffentlich kontrollierte
Stilllegungsfonds und der Entsorgungsfonds in der
Schweiz sein.
Ein öffentlich kontrollierter Fonds, in dem die Rück-
stellungen der Atomwirtschaft für die Entsorgung gebün-
delt werden, darf nach dem Beschluss über den Atomaus-
stieg in Deutschland nicht wieder in die Atomenergie
investieren – auch, da der Neubau von Atomkraftwerken
in Deutschland verboten ist. Damit ergibt sich eine neue
Rolle als zentraler Baustein in einer Strategie für nach-
haltiges Investment, für einen solchen Fonds: Ein wichti-
ger Schritt für die Verbreitung von nachhaltigem Invest-
ment – auch zur Stärkung des Finanzplatzes Deutschland –
kann in Ermangelung einer allgemeingültigen Definition
für nachhaltige Geldanlage ein bekannter öffentlicher
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onds sein, dessen Anlagekriterien Orientierungspunkt
ür andere Marktteilnehmer, insbesondere für Anlegerin-
en und Anleger sein können. Kernpunkt ist hierbei die
icherstellung einer optimalen und immer wieder opti-
ierten Nachhaltigkeitsstrategie des Fonds, aber auch
ine effiziente Anlagepolitik. Vorbild für nachhaltiges In-
estment kann nur ein Fonds sein, der sich auch durch
ine sehr gute Performance auszeichnet.
Der Deutsche Bundestag sollte daher die Bundesre-
ierung auffordern, einen öffentlich kontrollierten Fonds
Ökowandel“ in der Organisationsform einer rechtsfähi-
en Stiftung des öffentlichen Rechts zu errichten.
Die Energieversorgungsunternehmen sollten verpflich-
et werden, die für die Entsorgung bereits gebildeten und
ünftig zu bildenden Rückstellungen in den Fonds „Öko-
andel“ einzuzahlen. Grundvoraussetzung muss sein,
ass die Mittel so angelegt sind, dass sie im Entsorgungs-
all unverzüglich für die gebotenen Maßnahmen einge-
etzt werden können.
Gesetzlich muss festgelegt werden, dass der Fonds
Ökowandel“ sich an ökologischen, sozialen und ethi-
chen Kriterien orientiert, die die Prioritäten der nationa-
en Nachhaltigkeitsstrategie widerspiegeln.
Die Fondsverwaltung muss neben Nachhaltigkeitskri-
erien sachgemäße Kriterien wie zum Beispiel Liquidi-
tsvorhaltung im Entsorgungsfall, Verwaltungskosten und
isikoexposure der Anlage beachten.
Von staatlicher Seite – unterstützt durch einen unab-
ängigen Nachhaltigkeitsrat – sollte aus den eingereich-
en Angeboten das überzeugendste Gesamtkonzept aus-
ewählt und die Einhaltung der Kriterien überwacht
erden.
Neben dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
eaktorsicherheit des Deutschen Bundestages und den
nerkannten Naturschutzverbänden entsenden auch die
nergieversorgungsunternehmen Vertreter in den Stif-
ungsrat. Sie sind daher an allen wichtigen Entscheidun-
en der Stiftung beteiligt.
nlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Berichts: Technikfolgenab-
schätzung (TA)
Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender
Rohstoffe Sachstandsbericht zum Monitoring
„Nachwachsende Rohstoffe“ (Tagesordnungs-
punkt 23)
Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Der Einstieg
n das Kunststoffzeitalter gelang – was viele heute viel-
eicht überraschen wird – über das Holz. Alles begann
or fast 150 Jahren in den USA mit der industriellen
roduktion des Biokunststoffs Celluloid auf der Basis
on Cellulose.
Biokunststoffe, biologisch abbaubare Verpackung,
io-Schmierstoffe, Bio-Lacke, Bio-Tenside aus Stärke,
16638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
(A) )
(B) )
Zucker, Pflanzenölen und Fasern – nachwachsende Roh-
stoffe sind heute nicht nur als Energielieferanten für die
Biospritbranche, sondern ganz besonders als Rohstoff-
lieferanten für die Industrie wieder auf dem Vormarsch
und wecken neue Hoffnungen für die Zukunft.
Sie haben großes Potenzial vor allem in der Chemie-
industrie, gelten dabei ebenso wie in der Energiebranche
als wichtiger Baustein bei der Schonung fossiler Res-
sourcen und beim Klimaschutz. Sie bieten die Chance,
schrittweise die Chemieproduktion umweltfreundlicher
und nachhaltiger zu gestalten und gleichzeitig unabhän-
giger von teuren und zunehmend knappen Rohstoffen
wie Erdöl zu machen. Sie könnten neue Exportmöglich-
keiten für die deutsche Industrie eröffnen. Und für die
deutsche Landwirtschaft und die ländlichen Gebiete
könnte der erweiterte Anbau nachwachsender Rohstoffe
neue Einkommensquellen und Entwicklungsmöglichkei-
ten erschließen.
Die Bundesregierung fördert deshalb schon seit Jah-
ren in vielfältigen Programmen neue Verwendungsmög-
lichkeiten und Verfahren für nachwachsende Rohstoffe
auf stofflicher Basis, die sich aus Nischen heraus in die
großen Märkte entwickeln sollen. So fördert das Bun-
deslandwirtschaftsministerium mit dem Programm
„Nachwachsende Rohstoffe“ die Entwicklung innovati-
ver Konversionsverfahren und Produkte, Demonstra-
tionsvorhaben, die Erschließung neuer technischer Ein-
satzbereiche, die Zucht von maßgeschneiderten Pflanzen
für viele Anwendungsgebiete, die Markteinführung so-
wie Untersuchungen zur Wirtschaftlichkeit und zu den
ökologischen Auswirkungen des Einsatzes nachwach-
sender Rohstoffe. Das Budget von rund 50 Millionen
Euro in 2008 wird zur Hälfte für Projekte der stofflichen
Nutzung eingesetzt. Unter Federführung des BMELV
steht auch das neue Biomasse-Forschungszentrum in
Leipzig zur Förderung der energetischen Nutzung von
Biomasse.
Das Bundesforschungsministerium fördert die Pflan-
zengenomforschung als Grundlage für Pflanzenzüch-
tung, Pflanzendesign und Produktinnovationen im Rah-
men von GABI und GABI-FUTURE mit dem Ziel, das
enorme Potenzial der Pflanze als Rohstofflieferant und
Biofabrik der Zukunft umfassend zu erschließen. Die
Förderinitiative BioIndustrie 2021 leistet einen Beitrag
zur Verwertung der pflanzlichen Inhaltsstoffe.
Das Bundesumweltministerium befasst sich vorwie-
gend mit der energetischen Nutzung von Pflanzen, mit
Biomasse-Kraftwerken und Biogas-Anlagen. Das Bun-
deswirtschaftsministerium kümmert sich im Rahmen des
Themas Rohstoffsicherung und -versorgung um die Nut-
zung nachwachsender Rohstoffe. Die integrierte High-
tech-Strategie der Bundesregierung behandelt in einem
Extra-Kapitel das System Pflanze als Rohstofflieferant
und Biofabrik der Zukunft. Sie definiert in diesem Be-
reich Innovationsfelder und Innovationsstrategien, legt
den Schwerpunkt dabei jedoch mehr auf die energetische
Nutzung.
Neben den aufgezeigten Potenzialen zeichnen sich
– angefacht von dem hohen Importbedarf und der Nega-
tivdiskussion beim Biosprit – bereits heute Probleme bei
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er Verwertung nachwachsender Rohstoffe ab, vor allem
urch die Konkurrenz um die Nutzung landwirtschaftli-
her Nutzflächen: Rohstoffpflanzen, Energiepflanzen,
utterpflanzen und Pflanzen für die Nahrungsmittelpro-
uktion konkurrieren um die schon heute knappen Flä-
hen. Was in Deutschland und anderen Industrieländern
her positiv gesehen wird, wird in vielen Entwicklungs-
ändern durch steigende Nahrungsmittelpreise oft zur
xistenzfrage und stellt durch die Abholzung von Ur-
äldern vielerorts alle Anstrengungen für den weltwei-
en Klimaschutz infrage.
Wichtig ist, Chancen und Grenzen der stofflichen
utzung nachwachsender Rohstoffe in der Industrie
rühzeitig zu erkennen, um die Entwicklung in die rich-
ige Richtung zu steuern und von ihrem Einsatz optimal
u profitieren.
Auf Initiative der Abgeordneten Andrea Wicklein hat
er Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung
eshalb bereits in der letzten Legislaturperiode das Büro
ür Technikfolgenabschätzung beauftragt, einen Ge-
amtüberblick über das komplexe Gebiet zu geben, und
ntworten auf Fragen zu finden wie:
Welche Nutzungskonzepte gibt es aktuell? Welche
angfristigen Perspektiven für den breiteren Einsatz
achwachsender Rohstoffe in der Industrie zeichnen sich
b? Wo liegen die Probleme? Was kann oder muss die
olitik tun, um die Rahmenbedingungen zu verbessern
nd Konflikte zu aufzulösen? Insbesondere war auch zu
lären: Wie steht es mit der Wirtschaftlichkeit? Wie sieht
ie Ökobilanz aus? Wo liegen die Grenzen bei der Flä-
hen- und Nutzungskonkurrenz?
Der inzwischen vorliegende Sachstandsbericht ist
eute unser Thema, und er macht klar: Das Potenzial der
tofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist groß.
s wird aber selbst heute noch wenig genutzt. Und es
leiben viele offene Fragen. So werden nachwachsende
ohstoffe heute nur in wenigen Bereichen in breitem
aße eingesetzt, zum Beispiel in der Papierherstellung
us Cellulose. Der Einsatz von Bioschmierstoffen und
iokunststoffen beschränkt sich dagegen nach wie vor
her auf Nischen. Insgesamt liegt der Marktanteil chemi-
cher Grundstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen erst
ei circa 10 Prozent. Und die Anbaufläche von Pflanzen
ür die stoffliche Nutzung beträgt nur rund ein Fünftel
er Anbaufläche für Energiepflanzen.
Neue interessante Einsatzgebiete und eine Auswei-
ung der Produktion zeichnen sich vor allem bei den
euen Werkstoffen ab, speziell bei Verbundwerkstoffen
us Kunststoffen und Holzfasern und bei weiteren Na-
urfaserverstärkten Kunststoffen (NFK). Die Vorteile lie-
en auf der Hand: Bauteile aus NFK sind steifer, fester,
eichter und umweltfreundlicher als herkömmliche
unststoffe. Sie sind schon heute in der Automobilin-
ustrie – vor allem beim Einsatz im Pkw-Innenraum,
um Beispiel bei Armaturenbrett oder der Türinnenver-
leidung, aber auch als Unterbodenschutz – wirtschaft-
ich konkurrenzfähig und helfen zudem, Kraftstoff zu
paren. Weitere Anwendungsfelder und Branchen wer-
en bald folgen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16639
(A) )
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Bereits diese wenigen Beispiele zeigen: Die Verwer-
tungsmöglichkeiten bei der stofflichen Nutzung nach-
wachsender Rohstoffe sind wesentlich vielfältiger als bei
der energetischen Nutzung.
Gerade deshalb ist es wichtig, hier eine Richtschnur
zu haben, wo die zukunftsträchtigsten Entwicklungen
liegen, wo Forschungsbedarf besteht und wo die Mittel
am effizientesten eingesetzt werden können.
Der TAB-Bericht kommt nicht zu einem abschließen-
den Ergebnis, sondern definiert weiteren Forschungsbe-
darf und Handlungsbedarf in vielen Bereichen, um die
stoffliche Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen zu
optimieren.
Nicht eindeutig beantwortet werden kann zum Bei-
spiel die Frage der Ökobilanz beim Einsatz von Bio-
schmierstoffen, Biokunststoffen und Fasermaterialien,
denn sie fällt je nach betrachtetem Parameter unterschied-
lich aus. Forschungsbedarf gibt es außerdem hinsichtlich
der Erschließung neuer Anwendungsmöglichkeiten, bei
der Verbesserung der technischen Verarbeitung und bei
den Industriepflanzen selbst.
Ziel muss die Entwicklung von maßgeschneiderten
Pflanzen für verschiedene Anwendungsbereiche sein.
Für diese maßgeschneiderten „Biofabriken“ muss auch
der Einsatz von grüner Gentechnik ideologiefrei disku-
tiert und deren gesellschaftliche Akzeptanz verbessert
werden. Ein früherer TAB-Bericht, der die Optionen für
transgene Pflanzen der 2. und 3. Generation untersucht,
kommt in Bezug auf den Einsatz der Gentechnik für die
Optimierung von Nutzpflanzen für industrielle Anwen-
dungen trotz positiver Beispiele insgesamt noch nicht zu
eindeutigen Ergebnissen. Hier steht die Forschung noch
ganz am Anfang und hat noch viele Probleme zu über-
winden. Die Gentechniknovelle eröffnet bessere For-
schungsmöglichkeiten in diesem Bereich, die es zu nut-
zen gilt.
Wie eine erfolgreiche Industriepflanzenzüchtung mit
Hilfe von Gentechnik praktisch aussehen kann, hat
BASF mit der Kartoffelsorte Amflora gezeigt, deren
Stärke fast ausschließlich aus Amylopektin und nicht
wie bei anderen Sorten aus Amylose besteht. Amflora,
die Stärkekartoffel, soll als nachwachsender Rohstoff ab
2008 kommerziell angebaut werden und künftig dazu
beitragen, Material, Energie und Kosten bei der Stärke-
verarbeitung in der Papier-, Klebstoff-, Textil-, Bau- und
Kosmetikindustrie zu sparen. Die Sicherheit wird da-
durch gewährleistet, dass Amflora nur in einem ge-
schlossenen Verbundsystem angebaut und ausschließlich
im Vertragsanbau produziert wird. Sie wird getrennt von
anderen Kartoffeln geerntet und gelagert und ausschließ-
lich in technischen Anwendungen eingesetzt.
Zur optimalen industriellen Ausbeute der pflanzli-
chen Inhaltsstoffe von Industriepflanzen sind darüber hi-
naus innovative Konversionstechnologien und vor allem
integrierte Bioraffineriekonzepte unter Einbeziehung der
Weißen Biotechnologie notwendig, die sich heute jedoch
weitgehend erst im Versuchsstadium befinden.
Der Bericht untersucht hierzu die vier bekannten Bio-
raffineriesysteme: die grüne Bioraffinerie auf der Basis
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on grasartiger, feuchter Biomasse, die LCF-Bioraffine-
ie auf der Basis von trockener cellulosehaltiger Bio-
asse wie Stroh, Holz oder Papierabfällen, die Getreide-
anzpflanzen-Bioraffinerie und das Zwei-Plattformen-
onzept zur Erzeugung und Verarbeitung von Zucker ei-
erseits und von Synthesegas andererseits. Der Bericht
ommt zu dem Schluss, dass für alle diese Systeme noch
enormer Entwicklungsbedarf“ in jeder Hinsicht besteht,
gal, ob es die Basiskonzepte, die technischen Umset-
ungsmöglichkeiten, die Auslegung von Demonstra-
ionsanlagen, die Wirtschaftlichkeit oder die Ökobilan-
en betrifft. Es gibt bundesweit verschiedene Initiativen
n diesem Bereich. Daraus leitet sich ein hoher Abstim-
ungsbedarf bei der Forschungsförderung und bei der
lanung von Pilotanlagen ab.
Fortschritte in der Pflanzenzucht und bei den Bioraffi-
erien könnten künftig dazu beitragen, die gesamte Che-
ieproduktion unabhängiger von knapper und teurer
erdenden fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erd-
as zu machen und auf eine breitere Basis nachwachsen-
er Rohstoffe zu stellen. Eine komplette Umstellung von
er Petrochemie zur „Ökochemie“ liegt jedoch aus heu-
iger Sicht jenseits der Horizonte.
Selbst wenn dies eines Tages technologisch machbar
äre: Dann wird beim Einsatz nachwachsender Roh-
toffe vor allem noch die Wirtschaftlichkeit zu prüfen
ein. Das kann aber sinnvoll erst dann geschehen, wenn
an einen Überblick über die Einsatzgebiete, die Kos-
enstrukturen der Rohstoffe und die Marktaspekte erar-
eitet hat. Ein wichtiger limitierender Faktor bleibt si-
herlich zudem wegen der großen Nutzungskonkurrenz
ie notwendige Anbaufläche. Schon heute müssen in
eutschland rund zwei Drittel des Bedarfs an nachwach-
enden Rohstoffen für die stoffliche Nutzung importiert
erden.
Der TAB-Bericht zeigt: Noch befinden wir uns in ei-
er sehr frühen Entwicklungsphase in diesem interessan-
en Innovationsfeld – trotz zahlreicher Aktivitäten zur
örderung der industriellen stofflichen Nutzung nach-
achsender Rohstoffe in den letzten Jahren.
Der Bericht ist eine gute Grundlage für die weitere
iskussion. Er gibt erstmals einen breiten Überblick zu
en aktuellen Einsatzfeldern und zu den langfristigen
hancen, die aus nachwachsenden Rohstoffen entstehen
önnen – für die Wirtschaft, für die Landwirtschaft, für
mwelt und Klima. Zugleich wirft der Bericht viele Fra-
en auf und gibt zahlreiche Empfehlungen, die jetzt sys-
ematisch aufgearbeitet werden müssen.
Erst wenn wir in einem Gesamtkonzept wissen, wel-
he Pflanzen wofür sinnvoll geeignet sein können, wel-
he Eigenschaften – auch unter Verwendung der grünen
entechnik – sinnvoll hinzugezüchtet werden können,
ie die Pflanzen optimal verarbeitet werden können,
nd welche ökologischen und technologischen Vorteile
ie bieten: Erst dann können in einer langfristigen Strate-
ie Schritt für Schritt die Elemente einer auch hier nach-
altigen Wirtschaft entwickelt werden.
Ein solches Gesamtkonzept, eine solche Gesamtstra-
egie zu entwickeln – das ist eine herausfordernde Auf-
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gabe für die Bundesregierung, in einer gemeinsamen
Anstrengung über die Grenzen der kundigen Ressorts hi-
naus.
Andrea Wicklein (SPD): Deutschlands Wirtschaft
und unser Wohlstand sind zum großen Teil vom Erdöl
abhängig, nicht nur bei Energie und Kraftstoffen. Unser
Alltag wird von Produkten bestimmt, die aus Erdöl pro-
duziert sind. Auch in Autoreifen, Bekleidung oder im
Plastikgehäuse von Handys und Computern steckt Erdöl.
Aktuell importiert Deutschland rund 100 Millionen
Tonnen Rohöl. Davon benötigt die chemische Industrie
etwa 14 Millionen Tonnen zur Herstellung von Kunst-
stoffen oder von anderen chemischen Erzeugnissen.
Aber Erdöl geht langsam zur Neige und wird durch
die steigende weltweite Nachfrage immer teurer. Allein
zwischen 1992 und 2004 haben sich die Importkosten
Deutschlands mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum
aber stiegen die Importkosten von Indien um das Fünffa-
che und von China sogar um das Neunzehnfache.
Dieser Verknappungs- und Verteuerungsprozess ist
nicht zu stoppen. Wir spüren das aktuell nicht nur an der
Zapfsäule, sondern mehr und mehr auch bei den Kunst-
stoffpreisen auf den Weltmärkten. Doch was ist, wenn
das Erdöl einmal nicht mehr sprudelt? Die Experten sind
sich zwar noch nicht einig, wann dies genau sein wird.
Aber klar ist, dass dieser Zeitpunkt in einem überschau-
baren Zeitraum kommen wird.
Darauf müssen wir vorbereitet sein. Deshalb stehen
wir langfristig – wie auch alle anderen Länder weltweit –
vor der Frage, wie das Erdöl durch andere Rohstoffträ-
ger ersetzt werden kann, und zwar zu nachhaltigen Be-
dingungen und ohne Abholzung der Regenwälder und zu
vernünftigen Kosten.
Während im Energie- und Kraftstoffbereich das Erdöl
durch andere Energiequellen, wie Wasserkraft, Sonnen-
energie oder die Brennstoffzelle nach und nach ersetzbar
ist, kommen bei Chemikalien und Chemieprodukten nur
nachwachsende Rohstoffe infrage. Sie sind die einzige
erneuerbare Rohstoffquelle, in der die für die Chemie
notwendigen organischen Kohlenstoffverbindungen ent-
halten sind.
Wenn wir unseren heutigen Lebensstandard sichern
und verbessern wollen, müssen wir schon heute die
Grundlagen für die Rohstoffwende in der Chemie „weg
vom Erdöl“ und „hin zu den nachwachsenden Rohstof-
fen“ legen. Eine Wende, die gerade Deutschland als
Chemiestandort Nummer 1 in Europa und Nummer 4 in
der Welt vor große Herausforderungen stellen wird. Fast
450 000 Beschäftigte zählt unsere Chemiebranche, die
aktuell mehr als 150 Milliarden Euro Umsatz erwirt-
schaft und dabei zu fast 80 Prozent exportabhängig ist.
Zahlreiche Chemieunternehmen sowie Hochschulen
und Forschungseinrichtungen widmen sich deshalb seit
Jahren verstärkt dem Thema der Chemie aus nachwach-
senden Rohstoffen. Forschungsnetzwerke sind entstan-
den, die sowohl Grundlagenforschung betreiben als auch
an der technologischen Umsetzung in Pilot- oder De-
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onstrationsanlagen arbeiten. Immer mehr rücken dabei
ogenannte Bioraffineriesysteme in den wissenschaftli-
hen Fokus, eine neue und komplexe Technologie, mit
eren Hilfe nachwachsende Rohstoffe in chemische
rundbausteine umgewandelt werden können.
Um hierbei den aktuellen Stand von Forschung und
ntwicklung zu untersuchen, die Marktchancen und Ein-
atzmöglichkeiten von Biokunststoffen auszuloten und
ie Akzeptanz bei den Verbrauchern zu ermitteln, habe
ch 2004 die Initiative für den nun vorliegenden TAB-Be-
icht „Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender
ohstoffe“ ergriffen. Der Bericht liegt nun vor und bietet
ine hervorragende Grundlage, um hier strategisch voran-
ukommen. Mit dem TAB-Bericht haben wir eine wich-
ige Analyse sowie Daten und Hinweise, um die politi-
chen Rahmenbedingungen zu prüfen sowie das
örderinstrumentarium in den beteiligten Ressorts strate-
isch neu auszurichten. Ich unterstütze ausdrücklich die
ussage im Bericht, wonach wir nun eine integrierte
trategie für die stoffliche Nutzung nachwachsender
ohstoffe erarbeiten müssen, aus der dann klare und kon-
rete Zielvorgaben und Schwerpunkte für die weitere
orschungsförderung abzuleiten sind.
Eine Strategie, die wir nicht vorgeben können, son-
ern die im engen Dialog mit Industrie, Landwirtschaft
nd Forschung entstehen muss. Wenn wir jetzt möglichst
rühzeitig die richtigen Rahmenbedingungen schaffen,
ann bieten sich in diesem Bereich für den Wirtschafts-
nd Forschungsstandort Deutschland exzellente Per-
pektiven: für die chemische und verarbeitende Indus-
rie, weil dort die neuen Marktpotenziale erschlossen
nd exportfähige Zukunftstechnologien entwickelt wer-
en, für die ländlichen Gebiete durch neue Produktions-
nd Einkommensalternativen in einem hochinnovativen
ukunftsfeld, und für unsere Hochschulen und Wissen-
chaftseinrichtungen, weil dort die wissenschaftlichen
nd technischen Grundlagen für die stoffliche Nutzung
achwachsender Rohstoffe entstehen.
Der Markt für chemische Anwendungen aus nach-
achsenden Rohstoffen ist riesig. Es gibt eine Vielfalt
on neuen Anwendungsbereichen: In Autoreifen können
erkstoffe auf Stärkebasis die Laufeigenschaften ver-
essern und damit Kraftstoff sparen. In Verpackungen
us nachwachsenden Rohstoffen bleiben Lebensmittel
änger frisch, und Bekleidung aus nachwachsenden Roh-
toffen kann noch bessere Trageeigenschaften aufwei-
en.
Entscheidend ist, die wissenschaftlichen Erkenntnisse
es TAB-Berichts nun sorgfältig auszuwerten und die
ichtigen politischen Schlussfolgerungen zu ziehen.
enn die Diskussion über gestiegene Nahrungsmittel-
reise oder über die Abholzung der Regenwälder zur
roduktion von Biokraftstoffen aus Palmöl zeigt: Bio-
asse ist zwar erneuerbar, aber die intensive Nutzung
er Biomasse kann durchaus auch problematisch für
ensch und Umwelt sein. Deshalb wird es im Kern da-
um gehen, die effizientesten und umweltfreundlichsten
utzungsmöglichkeiten der Biomasse zu erkennen und
ierbei strategische Schwerpunkte zu setzen.
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Die Koalitionsfraktionen sehen die Chancen und
Potenziale bei der stofflichen Nutzung nachwachsender
Rohstoffe: Denn mit der Etablierung der Bioraffinerie-
technologie zur Produktion von Basis- und Feinchemi-
kalien kann der Rohstoff Biomasse sehr effizient ge-
nutzt, Ressourcen geschont und die Umwelt entlastet
werden. Wir werden deshalb in Kürze einen Antrag in
den Bundestag einbringen, um die Anstrengungen bei
Forschung und Entwicklung ressortübergreifend zu bün-
deln und technologische Verfahren zur integrierten Bio-
massenutzung in Bioraffinerien voranzutreiben. Wir
wollen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass
Deutschland international im Wettbewerb um die besten
Technologien und Verfahren an der Spitze bleibt.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Als Sigmar
Gabriel am 4. April vor der Bundespressekonferenz den
Verzicht auf die höhere Beimischungsgrenze E10 erklärt
hat, da hat er darauf hingewiesen, dass wir zurzeit eine
außerordentlich unredliche Debatte über Nahrungskon-
kurrenz und Regenwaldzerstörung durch Biokraftstoffe
führen und das eigentliche Problem in den Hintergrund
gerückt wird: Weit über 80 Prozent der Regenwaldzer-
störung gehen auf das Konto der Futtermittel- und Nah-
rungsmittelindustrie. Der Anbau von billigen Futtermit-
teln verdrängt Nahrungsmittel und auch Regenwälder
und Moore. Und dabei ist Europa der größte Importeur
von Soja aus den Regenwäldern und Deutschland der
größte Importeur in Europa.
Ich bin froh, dass wir in dieser aufgeheizten Diskus-
sion mit dem TAB-Bericht ein unaufgeregtes Papier vor-
liegen haben, das aber deutlich macht, welches die He-
rausforderungen sind, vor denen wir stehen.
Eines muss uns dabei klar sein: Es gibt zwischen der
Herausforderung „Hunger in der Welt“ und der Heraus-
forderung „Klimawandel“ kein entweder/oder und keine
erste und zweite Priorität. Allein die Tatsache, dass die
Folgen des Klimawandels besonders die Armen treffen
werden macht dies deutlich. Dennoch ist mittlerweile
auch klar, dass nicht alles, wo Klimaschutz draufsteht
auch dem Klima hilft.
Sowohl die stoffliche als auch die energetische Ver-
wendung von Biomasse sind und werden Teil einer Kli-
maschutz-Strategie sein. Wir werden aber genau definie-
ren müssen, unter welchen Bedingungen die Biomasse
angebaut wird. Im Kern steht dabei, dass die Ernäh-
rungssicherheit gewahrt bleibt und dass die Verwendung
der Biomasse zu einer effizienten Vermeidung von
Treibhausgasen führt.
Die Forderungen des TAB-Berichtes zielen im We-
sentlichen auf die Forschung und Entwicklung ab. Dabei
geht es zum einen darum die Effizienz zu steigern, die
technischen Möglichkeiten sowohl der stofflichen als
auch der energetischen Verwertung der Biomasse zu ver-
bessern, Bioraffineriekonzepte weiterzuentwickeln und
Anbau und Züchtung zu optimieren. Gleichzeitig wird
eine Begleitforschung mit einer Öko- und Folgenanalyse
angemahnt. Flächen- und Nutzungskonkurrenzen sollen
vorausschauend analysiert werden und die Bereitstel-
lungsbedingungen nachwachsender Rohstoffe sollen be-
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chtet werden. Dabei wird explizit auf die Treibhausgas-
elastung durch den Anbau hingewiesen.
Wir müssen – und ich denke, das ist uns allen in den
etzten Wochen klargeworden – einige sicher geglaubte
ewissheiten hinterfragen. Die wichtigste: Die Abschät-
ungen über Produktionspotenziale und über Flächen,
uf denen landwirtschaftliche Produktion ausgeweitet
erden kann, passen nicht mit den realen Entwicklungen
usammen. Sicher gibt es in Indonesien Brachflächen.
iese werden nicht genutzt, die Plantagen werden im
egenwald angelegt. Warum? Weil mit dem Verkauf des
egenwaldholzes der Aufbau der Palmölplantage finan-
iert werden kann. Es gibt also einen ökonomischen An-
eiz, mit der Plantage in den Regenwald zu gehen. Hier
üssen wir klare Regeln aufstellen.
Wir brauchen auch Konzepte, wie wir in Regionen, in
enen die Bauern nur wenige Hektar Land bewirtschaf-
en, die Produktion verbessern können. Die UNESCO
at zu Recht darauf hingewiesen: Mit reiner Technisie-
ung und dem Verweis auf die Gentechnik kommen wir
ier nicht weiter. In vielen dieser Regionen bietet gerade
er ökologische Landbau bessere Chancen. Wir müssen
ber den Zugang zu Produktionsmitteln und den Know-
ow-Transfer organisieren.
Und nicht zuletzt: Nachhaltige Produktion ist kein
roblem der Biokraftstoffe oder der Regenwälder. Grün-
andumbruch führt auch in Deutschland zur Freisetzung
on im Boden gebundenen Treibhausgasen. Wir brau-
hen die Diskussion über die Agrarpolitik und die land-
irtschaftlichen Produktionsweisen auch in Deutsch-
and. Die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik hat
ich bereits gewandelt. Dies müssen wir konsequent
ortführen. Wir brauchen eine zielorientierte Politik für
ie ländlichen Räume und für eine nachhaltige Land-
irtschaft.
Die Nachfrage nach Agrarprodukten wird steigen.
ir brauchen daher eine einheitliche Strategie zur Bio-
assenutzung, die auf Effizienz und Nachhaltigkeit aus-
erichtet ist und die vor allem die Lebensmittelproduk-
ion nicht verdrängt. Dies müssen wir organisieren, der
AB-Bericht bietet dazu wichtige Hinweise.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Sach-
tandsbericht zum Monitoring „Nachwachsende Roh-
toffe“ sieht viele Chancen für nachwachsende Roh-
toffe, aber keinen Durchbruch. In einigen Bereichen
ie der Nutzung von Pflanzenölen als Hydrauliköle ist
n den vergangenen Jahren viel erreicht worden. Der
onsequent durchgeführte Vergleich stofflicher Nutzung
it energetischer Nutzung erschwert die Lesbarkeit, ist
ber richtig, denn die Bedeutung der Bereitstellung von
nergieträgern hat dramatisch zugenommen. Ölpreis-
teigerungen ermöglichen energetische Nutzungen nach-
achsender Rohstoffe, an die früher nicht einmal ge-
acht werden konnte. Nach wie vor ist Holz der
ichtigste nachwachsende Rohstoff in Deutschland, so-
ohl in der stofflichen wie auch in der energetischen
erwertung. Dieser Rohstoff ist gut etabliert und erfährt
ine ständig steigende Wertschätzung. Es ist richtig, dass
r aus der Betrachtung des Berichts herausgenommen
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wurde. Die stoffliche Nutzung nachwachsender Roh-
stoffe ist ohne Holz insgesamt von geringer Bedeutung.
Der Marktanteil bei den chemischen Grundstoffen be-
trägt 10 Prozent.
Im industriellen, chemisch-technischen Bereich wer-
den etwa 2,7 Millionen Tonnen nachwachsende Rohstoffe
genutzt. Pflanzliche Öle machten mit 0,8 Millionen Ton-
nen und Stärke mit 0,64 Millionen Tonnen den Hauptteil
der stofflich genutzten Rohstoffe für technische Anwen-
dungen aus. Die Anbaufläche liegt für nachwachsende
Rohstoffe für die stoffliche Nutzung bei 496 000 Hektar,
ist im Vergleich zu 17 Millionen Hektar landwirtschaft-
lich genutzter Fläche also von vergleichsweise geringer
Bedeutung. Bei der Stärke hat die Kartoffelstärke die
größte Bedeutung. 3 Millionen Tonnen Kartoffeln werden
zur Stärkeproduktion verarbeitet gegenüber 0,9 Tonnen
Weizen und 0,6 Millionen Tonnen Mais. 640 000 Tonnen
Stärke werden in technischen Anwendungen genutzt.
Der Bericht nennt die gentechnische Züchtung als
eine Möglichkeit, nachwachsende Rohstoffe an den
Zweck der nachfolgenden Verarbeitung anzupassen. Bei
der Stärkekartoffel Amflora ist genau dies geschehen,
dennoch hat sie trotz positiver Gutachten der Behörden
keine Zulassung durch den Agrarministerrat erhalten.
Sie enthält den npt-II-Marker, ein Antibiotikaresistenz-
gen, das eine Resistenz gegenüber dem Antibiotikum
Kanamycin vermittelt. Dieser Marker wurde von der Re-
gierung als Begründung für die Ablehnung der Stärke-
kartoffel heranzogen, obwohl die EFSA, die Europäi-
sche Behörde für die Lebensmittelsicherheit, in ihrer
Stellungnahme vom Mai 2007 dargelegt hat, dass die
Verwendung dieses np-II-Markers in gentechnisch ver-
änderten Pflanzen nicht die Wirksamkeit von Antibio-
tika der Kanamycin-Gruppe beeinträchtigt. Dieses Anti-
biotikum ist in Salben und Augentropfen enthalten und
wird in der Human- und Tiermedizin als Reserveantibio-
tikum genutzt, nicht jedoch als reguläres Antibiotikum.
Die EFSA hat ihre Entscheidung damit begründet, dass
ein Transport des Gens von der Pflanzenzelle in ein Bak-
terium extrem unwahrscheinlich ist. Außerdem kommt
das np-II-Gen bereits in Bakterien der Darmflora sowie
in der Umwelt vor. Unter natürlichen Bedingungen
wurde kein Transport des np-II-Markers nachgewiesen.
Das Beispiel macht deutlich, dass auch gentechnisch
verbesserte Pflanzen, die zur Nutzung als Rohstoff in der
Industrie optimiert wurden, die die Nachhaltigkeit der
Industrieproduktion verbessern helfen, rein ideologisch
und ohne inhaltliche Begründung ausgegrenzt werden.
Die jetzige Bundesregierung ist da nicht besser als ihre
Vorgängerregierung.
Die wichtigste Ölpflanze in Deutschland ist der Raps.
Er ist inzwischen ein hervorragendes Lebensmittel, das
höchsten ernährungsphysiologischen Ansprüchen ge-
nügt. Gleichzeitig ist das Rapsöl ein wichtiger nach-
wachsender Rohstoff für die verschiedensten Anwen-
dungszwecke einschließlich der energetischen Nutzung.
Bei der Produktion von Rapsöl entstehen verschiedene
hochwertige Kuppelprodukte, wie Pollen beim Raps-
anbau, der wichtig für den Rapshonig ist, Rapsschrot als
hochwertiges Eiweißfutter in der Tierhaltung, Glycerin
bei der Herstellung von Rapsmethylester. Diese Kuppel-
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rodukte berücksichtigt der Bericht in seiner Bewertung
nders als beispielsweise das Gutachten des SRU und
ommt daher auch zu anderen Schlussfolgerungen. Für
ie Erstellung der Ökobilanz ist dies unverzichtbar.
Die Bewertung des ökologischen Nutzens geschieht
n Ökobilanzen, die den gesamten Weg des Rohstoffs
on seiner Produktion bis zur Entsorgung nach Ge-
rauch bewerten. Die Flächeneffizienz der Produktion
on nachwachsenden Rohstoffen ist dabei ein wichtiges
riterium. Die thermische Verwertung am Ende der Nut-
ung nachwachsender Rohstoffe, ob Faserstoffe, Bio-
unststoffe etc. bietet sich an. Sie ist der Kompostierung
berlegen, weil bei der Kompostierung klimaschädliche
ethanemissionen entstehen. Das bedeutet, dass die
toffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe, gefolgt
on thermischer Verwertung am Ende der Nutzung, ein
ichtiger Baustein für eine positive Ökobilanz ist.
Der Bericht ist eine Fundgrube zu allen Themen, die
ich mit der stofflichen Nutzung nachwachsender Roh-
toffe und ihrer ökologischen Bewertung beschäftigen.
ie lange Erarbeitungszeit erweist sich als Nachteil,
eil neuere Entwicklungen und auch die beiden Gutach-
en des Sachverständigenrates für Umweltfragen, SRU,
Klimaschutz durch Biomasse“ und des Wissenschaftli-
hen Beirats Agrarpolitik, WBA, beim Bundeslandwirt-
chaftsministerium „Nutzung von Biomasse zur Ener-
iegewinnung“ nicht berücksichtigt werden konnten.
ie trotz anderer Aufgabenstellung starke Fokussierung
uf die energetische Nutzung ist teilweise verwirrend. Es
st noch ein erheblicher Forschungsbedarf vorhanden,
m die Potenziale der stofflichen Nutzung nachwachsen-
er Rohstoffe auszuschöpfen.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die industrielle Nutzung
achwachsender Rohstoffe ist nichts Neues, man denke
ur an Holz für die Papierindustrie und Naturfasern für
ie Textilindustrie. Neue Aufmerksamkeit haben die
achwachsenden Rohstoffe vor allem durch die Nach-
eile der petrochemischen Industrie erhalten. Gerade vor
em Hintergrund des steigenden Energiebedarfes und
er Endlichkeit von Erdöl sind wir darauf angewiesen,
ie Möglichkeiten nachwachsender Rohstoffe besser zu
utzen.
Hier bedarf es einer Biomassestrategie, die auch die
onkurrenz mit der energetischen Nutzung berücksich-
igt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen weist in
einem Sondergutachten „Klimaschutz durch Biomasse“
arauf hin, dass in langfristiger Perspektive die stoffli-
he Nutzung gegenüber der energetischen bevorzugt
zw. zumindest nicht schlechtergestellt wird, da biogene
ohstoffe den einzigen Ersatz für fossile Rohstoffe zur
tofflichen Nutzung darstellen. Dagegen ist Energie aus
ossilen Energieträgern auch mit anderen erneuerbaren
nergien zu ersetzen.
Abgesehen von diesen – lösbaren – Flächennutzungs-
onkurrenzen kann insbesondere die biologische Abbau-
arkeit von Produkten aus nachwachsenden Rohstoffen
as ständig anwachsende Problem des langlebigen
unststoffmülls reduzieren. Der Marktanteil chemischer
rundstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen liegt der-
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zeit in Deutschland, so die vorliegende Technikfolgen-
abschätzung, bei circa 10 Prozent.
Die Nutzung nachwachsender Rohstoffe bietet insbe-
sondere der heimischen Landwirtschaft eine neue Nut-
zungsmöglichkeit und damit eine wichtige neue wirt-
schaftliche Perspektive und Verbreiterung der
Anbaukultur. Mindestens genauso wichtig ist die Nut-
zung landwirtschaftlicher Reststoffe. Während bei An-
baubiomasse tendenziell Nachteile bei Ozonabbau, Ver-
sauerung und Eutrophierung zu verzeichnen sind, so die
vorliegende Studie, sind bei der Nutzung von Reststof-
fen hier häufiger Vorteile oder geringere Nachteile fest-
zustellen.
Andererseits gilt es, aus den Fehlern der Vergangen-
heit zu lernen und nicht undifferenziert auf nachwach-
sende Rohstoffe zu setzen. Ein verantwortungsbewusster
Umgang erfordert, die Vor- und Nachteile im Einzelfall
zu bewerten und die Wechselwirkungen mit anderen Be-
reichen nicht aus den Augen zu lassen.
Erstens muss im Einzelfall genau geprüft werden, ob
die Ökobilanz tatsächlich positiv ist. Gerade die Ver-
nichtung der Regenwälder für die Gewinnung von
Palmöl wird verheerende Auswirkungen auf das Klima
und die Biodiversität haben. Aber auch auf bestehenden
Ackerflächen können die Intensivierung der landwirt-
schaftlichen Nutzung, die Probleme mit der Fruchtfolge
und dem höheren Bedarf an Düngemitteln oder gar der
Einsatz von gentechnisch verändertem Material zu mehr
Schaden als Nutzen führen.
Zweitens gibt es eine Flächenkonkurrenz zur Nah-
rungsmittel- und Futtermittelproduktion. Die Versorgung
der Menschen mit Grundnahrungsmitteln muss immer
Vorrang vor der stofflichen oder energetischen Nutzung
nachwachsender Rohstoffe haben.
Die aktuelle Ernährungskrise in manchen Ländern in
Lateinamerika und Afrika wird auch durch internationa-
len Finanzmarktspekulationen und das Agieren von IWF
und Weltbank begründet. Agrarrohstoffe und Boden sind
ins Visier kurzfristiger Profitinteressen geraten. Da ist es
schon zynisch, wenn die Vertreter von IWF und Welt-
bank erklären, die Nutzung nachwachsender Rohstoffe
gefährde ihre positive Politik der vergangenen Jahr-
zehnte gegenüber den Entwicklungsländern. Es sind ge-
nau ihre Strukturanpassungsprogramme und die Han-
delsliberalisierungen im Rahmen der WTO, die
systematisch kleinbäuerliche Existenzen vernichtet und
die jetzige Entwicklung hervorgebracht haben. Sie haben
die Entwicklungsländer zu einer Ausrichtung ihrer
Landwirtschaft auf den Export und zu einer Öffnung ih-
rer Märkte für billigen, subventionierten Import auch
von Agrargütern aus den Industrieländern gezwungen.
Großflächige Monokulturen sogenannter cash crops ver-
drängen den Anbau für den Eigenbedarf. Anstatt die ei-
genen Lebensmittel zu produzieren, müssen diese dann
zu Weltmarktpreisen gekauft werden. Und hier tummeln
sich inzwischen professionelle Anleger, die vor dem
Hintergrund des Booms der nachwachsenden Rohstoffe
auf steigende Agrarrohstoffe spekulieren. Den Preis da-
für zahlen die Armen.
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Die richtige Antwort auf diese dramatischen Entwick-
ungen muss sein: Vorrang der Versorgung der heimi-
chen Bevölkerung vor Exportorientierung. Schluss mit
en Strukturanpassungsprogrammen von IWF und Welt-
ank. Keine weitere Handelsliberalisierungen im Rah-
en der Doha-Runde der WTO. Wir brauchen eine sach-
iche Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken
er nachwachsenden Rohstoffe, auf deren Nutzung wir
unehmend angewiesen sein werden.
Der vorliegende Sachstandsbericht zum Monitoring
Nachwachender Rohstoffe“ zeigt deutlich, dass noch
rheblicher Forschungsbedarf besteht, einerseits um die
kologischen Auswirkungen der einzelnen Nutzungen
achwachsender Rohstoffe besser bewerten zu können,
ndererseits um die technischen Verfahren im Sinne der
ffizienz und der Naturverträglichkeit optimieren zu
önnen. Diese Forschung für eine naturverträgliche Nut-
ung nachwachsender Rohstoffe muss auch vom Bund
nterstützt werden.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nzwischen ist es ja weitgehend unbestritten, dass wir
ns aus ökologischen, ökonomischen und vor allem auch
riedenspolitischen Gründen vom Erdöl als Rohstoff und
nergieträger verabschieden müssen. Dieser Abschied
st mehr als überfällig. Gerade die ökonomische Bedeu-
ung unseres Abhängigkeitsverhältnisses zum Erdöl
eigt sich derzeit wieder besonders gravierend. Am
ienstag dieser Woche kletterte der Preis für ein Barrel
l der US-Sorte West Texas Intermediate, WTI, erstmals
ber die Marke von 118 US-Dollar. Und auch die Kosten
ür Rohöl aus Ländern der Organisation erdölexportie-
ender Länder, Opec, stiegen auf eine neue Rekordmarke
on 108,93 Dollar. Tendenz weiter steigend. Die Interna-
ionale Energieagentur schließt auch eine globale Rezes-
ion aufgrund der steigenden Ölpreise nicht mehr aus.
ies ist auch nicht verwunderlich, denn der Rohstoff
rdöl hat zwei Funktionen: Es ist global der wichtigste
rimärenergieträger und gleichzeitig Rohstoff für die
etrochemie.
Doch wie sieht der Umstieg aus? Neben den erneuer-
aren Energien wie zum Beispiel Sonne, Wind und Was-
er kommt vor allem der Biomasse, den nachwachsen-
en Rohstoffen eine zentrale Bedeutung zu. Biomasse
ird derzeit mehr oder weniger nur als Energierohstoff
erstanden, Biomasse aber kann erheblich mehr. Der
orliegende TAB-Bericht zur industriellen stofflichen
utzung von nachwachsenden Rohstoffen, über den wir
eute diskutieren zeigt, dass Biomasse ein gewaltiges
otenzial hat, den klimaschädlichen Erdölverbrauch so-
ohl in der Energiewirtschaft als auch in der chemi-
chen Industrie zu vermindern.
Wir sehen uns durch diesen Bericht in unserer Strate-
ie „Weg vom Öl“ bestätigt, nach der bis 2020 ein Vier-
el der erdölbasierten Produkte durch solche aus nach-
achsenden Rohstoffen ersetzt werden sollen. Nicht nur
ie energetischen, sondern vor allem auch die stoffliche
utzung nachwachsender Rohstoffe hat ein großes öko-
ogisches und ökonomisches Potenzial. Sie ist neben der
örderung der Bioenergien ein zentraler Bestandteil des
mbaus unserer Wirtschaft auf die Nutzung erneuerba-
er Energie- und Rohstoffquellen.
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Nach dem vorliegenden Bericht des Büros für Tech-
nikfolgenabschätzung wird eine stoffliche Nutzung nach-
wachsender Rohstoffe zur Verringerung von Import-
abhängigkeiten von fossilen Ressourcen führen und
Klima und Umwelt schützen. Die stoffliche Nutzung
nachwachsender Rohstoffe hat darüber hinaus ein be-
achtliches Innovationspotenzial sowohl bei der Entwick-
lung neuer Produkte als auch bei der Entwicklung neuer
Herstellungsverfahren.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deut-
schen Bundestag erwartet weiter, dass nachwachsende
Rohstoffe mittel- bis langfristig eine zentrale Rolle für
die Herstellung chemischer Grundstoffe spielen können.
Die Verwendung von Erdöl in der chemischen Industrie
kann durch die Nutzung nachwachsender Rohstoffe in
Bioraffinerien fast völlig überflüssig werden.
Der Bericht legt dar, dass Bioraffinerien in vielen un-
tersuchten Bereichen überwiegend ökologische Vorteile
gegenüber etablierten Verfahren zeigen und gerade den
Reststoff verarbeitenden Bioraffinerien große Potenziale
zugesprochen werden, da für ihre Rohstoffversorgung
keine zusätzliche Anbaufläche notwendig wird. Wir ha-
ben bereits vor Wochen einen Antrag „Mit Bioraffine-
rien in Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und
zusätzliche Ressourcen erschließen“ eingebracht und
hier im Haus auch schon in erster Lesung beraten. Dieser
Antrag steht jetzt in den Ausschüssen zu den Beratungen
an.
Nehmen Sie den Bericht des Büros für Technikfol-
genabschätzung nicht einfach nur zur Kenntnis, sondern
ziehen Sie auch die notwendigen Konsequenzen. Unter-
stützen Sie unseren Antrag zur Förderung von Bioraffi-
nieren. Denn wer die Chancen der industriellen stoffli-
chen Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen in
Bioraffinieren verkennt, der verspielt große Chancen für
Umwelt und Wirtschaft.
Nachwachsende Rohstoffe sind ein universeller Roh-
stoff, der natürlich nicht unendlich zur Verfügung steht.
Aber eine stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe
bringt keine zusätzliche Konkurrenz um Anbaufläche
mit Nahrungsmitteln oder Bioenergien mit sich, wenn
sich der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe
im Sinne einer Kaskadennutzung eine energetische Nut-
zung anschließt und vor allem durch Bioraffinerien Rest-
und Abfallstoffe zu wertvollen Rohstoffen umgewandelt
werden.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Fischartenschutz fördern – vordring-
liche Maßnahmen für ein Kormoranmanage-
ment (Tagesordnungspunkt 22)
Josef Göppel (CDU/CSU): Der Kormoran ist durch
die EG-Vogelschutzrichtlinie sowie in Umsetzung der
europarechtlichen Vorgaben durch das Bundesnatur-
schutzgesetz besonders geschützt. Ausnahmen von dem
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ieraus folgenden grundsätzlichen Tötungsverbot sowie
em Verbot, Nist-, Brut- oder Zufluchtstätten der Natur
u entnehmen bzw. zu beschädigen, sind nur unter engen
esetzlichen Voraussetzungen, unter anderem zur Ab-
endung erheblicher fischereiwirtschaftlicher Schäden
der zum Schutz der heimischen Tier- und Pflanzenwelt,
ulässig und können im Einzelfall durch behördliche
usnahmegenehmigung oder generell durch Rechtsver-
rdnung zugelassen werden.
In der „Kleinen Novelle“ zum Bundesnaturschutzge-
etz, die am 12. Dezember 2007 in Kraft getreten ist,
urden die wesentlichen Regelungen zum gesetzlichen
rtenschutz neu definiert. Im novellierten BNatSchG
urden die sogenannten Zugriffsverbote nach
42 Abs. 1 neu sortiert. Ganz neu ist die Einschränkung
es Verbotes der Störung streng geschützter Tier- und
uropäischer Vogelarten auf solche Störungen, die den
rhaltungszustand der lokalen Population einer Art ver-
chlechtern – nicht nur bezogen auf einzelne Individuen.
Damit haben wir gerade für die Arten, deren Bestand
ich erfreulich entwickelt, eine höhere Flexibilität beim
rtenschutz geschaffen. Ein typisches Beispiel – neben
em Kormoran – ist in Süddeutschland der Biber. Der
iber steht für eine sehr erfolgreiche Wiedereinbürge-
ung einer Art in Deutschland. Aber wir müssen sehen,
ass er sich so erfolgreich vermehrt, dass es an einigen
tellen Probleme gibt. Deshalb plädiere ich auch hier für
lexibilität. Wenn er den Damm von Kläranlagen durch-
öchert oder an Straßen herangeht, dann muss es möglich
ein, einzelne Exemplare im Sinn der Gesamtpopulation
egzunehmen.
Ähnlich pragmatisch müssen wir auch mit dem Kor-
oran umgehen. Der Kormoran ist seit dem 17. Jahrhun-
ert regelmäßiger Wintergast in Bayern. Mit Zunahme
er Winterbestände und übersommernder Vögel war es
ur eine Frage der Zeit, bis sich 1980 mit sieben Brut-
aaren die erste bayerische Kormorankolonie am Isma-
inger Speichersee nördlich von München etablierte.
er Brutbestand in Bayern hat in den letzten zehn Jahren
nsgesamt noch leicht zugenommen und liegt aktuell bei
81 Brutpaaren (2007).
Gerade in Teichwirtschaften, vor allem in der Satz-
ischproduktion, verursachen Kormorane tatsächlich
erluste bis zu 70 Prozent. Die Folge: erhebliche, für be-
roffene Teichwirte in Einzelfällen existenzbedrohende
chäden. Wo Schäden durch Kormorane angenommen
erden, können unterschiedliche Methoden zur „Scha-
ensreduzierung“ zur Anwendung kommen. Dazu zäh-
en Vergrämung durch optische oder akustische Maßnah-
en oder der Reduktionsabschuss.
Fischartenschutz praktisch umzusetzen, kann aber
uch durch eine Bespannung der Fischteiche als vorbeu-
end wirkende Dauerlösung und andere Maßnahmen am
ewässer erfolgen. Dies hat auch eine europaweite EU-
tudie ergeben, die unter Mitwirkung der Fischerei und
on Anglerverbänden durchgeführt wurde. Bayern hat
ls erstes Bundesland von der bundesgesetzlichen Er-
ächtigung Gebrauch gemacht und bereits 1996 die so-
enannte Kormoran-Verordnung erlassen. Diese Kormo-
an-Verordnung wurde nach intensiver Diskussion der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16645
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Sach- und Rechtslage mit Vertretern der Fischerei und
des Naturschutzes bereits mehrmals der aktuellen Ent-
wicklung entsprechend angepasst (zuletzt im Sommer
letzten Jahres) und ist als Kompromiss zwischen den
verschiedenen Anliegen zu sehen. Im Rahmen dieser
Verordnung wurden seit 1996 bayernweit jährlich zwi-
schen 2 547 und 7 371 Kormorane abgeschossen.
Der Bestand wird allerdings rasch durch Zuzug aus
benachbarten Gebieten wieder aufgefüllt. Vergrämungs-
maßnahmen in den Brutkolonien scheinen effektiver zu
sein. Bilder von verhungerten Jungvögeln nach der Stö-
rung einer Kolonie mitten in der Aufzuchtphase wie im
Juli 2005 im Anklamer Stadtbruch in Mecklenburg-Vor-
pommern zeigen aber, wie Kormoranmanagement nicht
geschehen darf. Baden-Württemberg dagegen hat vor ei-
nigen Wochen am Bodensee gezeigt, wie es mit einem
einmaligen Eingriff in der Brutphase erfolgreich war.
Den Antrag der FDP müssen wir ablehnen, da der
Bundestag bei vielen Punkten der falsche Adressat ist.
Etliche Forderungen der FDP zur Abwehr von Kor-
moranschäden wären an die Bundesländer zu richten.
Die Frage eines europäischen Aktionsplanes Kormoran
ist zudem in der Europäischen Union derzeit nicht er-
folgreich durchzusetzen. Bereits im Jahre 2003 hat
Frankreich eine entsprechende Forderung an die Euro-
päische Kommission gerichtet. Die Staaten mit den größten
Brutpopulationen, die Niederlande und Dänemark, wei-
gern sich – dies im Übrigen seit mehr als einem Jahr-
zehnt –, bei einer Bestandsreduzierung mitzuwirken.
Auf weitere Punkte ist die Bundesregierung bereits in
ihrer Beantwortung auf die Kleine Anfrage der FDP-
Fraktion zum gleichen Thema eingegangen.
Christoph Pries (SPD): Der vorliegende Antrag der
FDP-Fraktion fordert ein europaweites Kormoranma-
nagement, da die Bestandsvermehrung des Kormorans
gravierende Auswirkungen auf die Fischfauna, die Bin-
nen- und Teichwirtschaft habe. Der Antrag ist von den
Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen
im Umweltausschuss zu Recht abgelehnt worden. Ich
möchte die drei wichtigsten Gründe nennen:
Erstens. Die FDP folgt einseitig der Argumentation
der Fischerei- und Anglerlobby, die seit Jahren darauf
drängt, die Kormoranbestände europaweit drastisch zu
reduzieren. Die zum Teil erheblich divergierenden An-
gaben der Vogelschützer werden bewusst ignoriert.
Zweitens. Die Forderungen der FDP sind falsch
adressiert. Sie fallen fast ausschließlich in die Kompe-
tenz der Bundesländer. Diese haben bereits heute die
Möglichkeit, über Kormoranverordnungen die Bestände
zur Abwehr fischereiwirtschaftlicher Schäden oder zur
Abwehr von Schäden an anderen Tierarten zu regulieren.
Neun von 16 Bundesländern machen von dieser Mög-
lichkeit Gebrauch. Im Jahr 2005 wurden 30 000 Kormo-
rane getötet, 2006 waren es noch 12 000.
Drittens. Die Forderung der FDP nach einem europäi-
schen Kormoranmanagement ist von uns politisch nicht
gewollt und unrealistisch. Zu diesem Ergebnis kommt
auch das Operationelle Programm der Bundesrepublik
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eutschland für den Förderzeitraum 2007 bis 2013 des
uropäischen Fischereifonds. Unabhängig von diesen
achargumenten müssen wir uns immer wieder deutlich
achen: Der Konflikt zwischen Fischerei und Kormora-
en ist kein neues Phänomen. Bereits 1892 schrieb Al-
red Brehm im sechsten Band seiner „Allgemeinen
unde des Tierreichs“ über den Kormoran:
Auf den Gewässern des Binnenlandes sind die
Scharben nicht zu dulden, weil sie dem Fischstande
unserer Fluß- und Landseen unberechenbaren Scha-
den zufügen. Ihre Gefräßigkeit übersteigt unsere
Begriffe.
Dieses negative Bild durchzieht auch die weitere Be-
chreibung Brehms:
Die Menge der zu- und abfliegenden Vögel erfüllte
die Luft; ihr wildes Geschrei betäubte die Ohren.
Die Bäume samt ihrem Laube waren weiß von dem
Unrate, die Luft war verpestet durch die aus dem
Neste herabgefallenen und faulenden Fische.
Schlechtes Image, kurzes Leben: Entsprechend dem
amaligen Naturverständnis, das Flora und Fauna nach
enschlichen Maßstäben in nützlich und schädlich un-
erteilte, wurde der Kormoran als Nahrungskonkurrent
es Menschen schonungslos gejagt. Das Ergebnis war,
ass die Bestände in ganz Europa am Ende des 19. Jahr-
underts bis auf wenige Brutpaare in den Niederlanden
nd in Polen ausgerottet waren.
Erst durch die konsequente Vogelschutzpolitik auf na-
ionaler und europäischer Ebene ist der Kormoran seit
itte der 1980er Jahre an unsere Seen und Flüsse zu-
ückgekehrt. Heute leben in Deutschland wieder rund
3 000 Brutpaare. Nach einem rasanten Wachstum in
en 1980er- und 90er-Jahren, scheinen sich die Bestände
n den letzten Jahren auf diesem Niveau zu stabilisieren.
Mit der Rückkehr der Kormorane kehrte aber auch der
lte Konflikt zurück. Immer vehementer fordern Hobby-
nd Berufsfischer in den letzten Jahren eine massive Re-
uktion der Kormoranbestände. Die Vogelschützer leh-
en dies vehement ab. Die Argumente der beiden Lager
tehen sich unvereinbar gegenüber. Ein Beispiel ist die
on Brehm angeführte „Gefräßigkeit“ der Kormorane.
ie wird heute von der Fischerei für die Schädlichkeit der
ögel angeführt: 500 Gramm Fisch und mehr vertilge
in Kormoran täglich. Die Naturschützer bestreiten diese
ahlen: 300 Gramm betrage der tägliche Nahrungsbe-
arf. Lediglich während der dreimonatigen Brutzeit oder
n extremen Kälteperioden könne der Bedarf auf mehr als
00 Gramm steigen. Diese Verhärtung der Fronten führt
mmer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Vo-
elschützern und Fischereiinteressen. Erst in der vergan-
enen Woche kam es am Bodensee anlässlich einer Ver-
rämungsaktion wieder zu Protesten.
Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren
mmer wieder versucht, Fischereiverbände und Natur-
chützer an einen Tisch zu bekommen. Alle Versuche,
ie divergierenden Interessen von Fischerei und Vogel-
chützern auf europäischer (REDCAFE) und nationaler
bene (Kormorankonferenz des Bundesamtes für Natur-
16646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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schutz 2006) auszugleichen, haben zwar zu guten Ansät-
zen, aber noch zu keinem Durchbruch geführt.
Trotzdem muss auf diesem Weg weitergegangen wer-
den. Wir brauchen kein Kormoranmanagement, sondern
ein Konfliktmanagement zwischen Hobby- und Berufs-
fischern auf der einen und Naturschützern auf der ande-
ren Seite. Dies war auch eines der zentralen Ergebnisse
des REDCAFE-Reports von 2003. Ein weiteres Ergeb-
nis des REDCAFE-Projektes war übrigens die gemein-
same Erkenntnis, dass der massenhafte Abschuss von
Kormoranen ineffektiv sei. Der Kormoran ist ein Teil
unseres Ökosystems. Wir müssen lernen mit ihm zu le-
ben.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir leben in
einer Kulturlandschaft. Verschiedene Tierarten werden
in der vom Menschen geprägten Landschaft begünstigt,
vermehren sich so stark, dass eine Bestandsregulierung
erforderlich wird. Andere Arten werden benachteiligt,
ihr Lebensraum wird so eingeschränkt, dass wir sie
durch besondere Schutzgebietsausweisungen vor dem
Aussterben schützen müssen. Es besteht ein allgemeines
Einverständnis, dass auch aufgrund des Fehlens von
Wolf und Bär, Raubtieren, die früher einmal bei uns hei-
misch waren, der Mensch Reh-, Rotwild- und Damwild-
bestände beschränken muss, um im Wald Schäden durch
winterlichen Verbiss zu mindern.
Als Anfang der 90er-Jahre der Kormoran wieder bei
uns heimisch wurde, hat sich wohl niemand vorstellen
können, dass seine Population einmal so stark anwach-
sen würde, dass über eine Regulierung der Kormoranbe-
stände nachgedacht werden musse. Inzwischen wird die
europäische Population des Kormorans auf rund 700 000
erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamtzahl von insge-
samt etwa 2 Millionen Vögel geschätzt. Die Zahl der
Bartvögel in Deutschland wird von der Bundesregierung
– Stand 2005, Bundestagsdrucksache 16/1017 – mit
45 516 angegeben. Unter Berücksichtigung des noch
nicht geschlechtsreifen Nachwuchses resultiert hieraus
ein Gesamtbestand von etwa 130 000 Vögeln. Es gibt
keine Artenschutzmaßnahme, die so erfolgreich war wie
der Kormoranschutz. Inzwischen ist es an der Zeit, über
eine Regulierung nachzudenken, damit die Artenvielfalt
in den Gewässern nicht unter dem enormen Fraßdruck
des Kormorans zu leiden hat. Die EU hat inzwischen re-
agiert und den Kormoran aus der höchsten Schutzkate-
gorie abgestuft. Die Bundesländer haben reagiert und
Kormoran-Verordnungen erlassen. Insgesamt brauchen
wir jedoch einen europäischen Plan für das Kormoran-
management, denn nur so lässt sich der Bestand nachhal-
tig regulieren. Der Kormoran ist nicht nur für die Arten-
vielfalt in den Gewässern, sondern auch für die Fischerei
ein Problem. Ein ausgewachsener Kormoran frisst täg-
lich etwa 500 Gramm Fisch. Anders als der Graureiher
kann er nicht auf Mäuse oder andere Beute ausweichen.
Mecklenburg-Vorpommern ist das Bundesland, das am
meisten unter dem Kormoran zu leiden hat. 85 Prozent
der rund 12 000 Kormoranbrutpaare von Mecklenburg-
Vorpommern – etwa die Hälfte des deutschen Gesamtbe-
standes – leben an der Ostseeküste. Seit 1982 hat sich
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er Kormoranbestand von damals 1 050 Brutpaaren
ehr als verzehnfacht. Aus Sicht der Küstenfischerei
äre eine Reduzierung auf 50 Prozent des Kormoranbe-
tandes sinnvoll. Seit 2007 gibt es eine Kormoran-Ver-
rdnung, die aber nicht sehr wirkungsvoll ist, da Ab-
chüsse oder Vergrämungen nur an Binnengewässern
rlaubt sind. Die Verluste in der Teichwirtschaft durch
ormoranfraß – zum Beispiel Karpfen – betragen etwa
0 bis 90 Prozent.
In Brandenburg und Schleswig-Holstein zeigen Un-
ersuchungen, dass der Kormoran gern Aal frisst. Für das
and Brandenburg wird in aktuellen Untersuchungen ein
alverlust von 77 Tonnen angegeben, gegenüber einer
angmenge von 100 Tonnen durch die Fischerei.
In Nordrhein-Westfalen und Thüringen sind die
schenbestände durch den Kormoran extrem reduziert
orden. Die Äsche ist eine Fischart, die auf der Roten
iste steht, und damit zu den gefährdeten Fischarten ge-
ört. Sie ist für die Berufsfischerei ohne Bedeutung.
Die Konferenz des Deutschen Fischereiverbandes
. V. im vergangenen Jahr in Bonn „Kormoran, Wege
um europäischen Bestandsmanagement“ hat festgestellt,
ass die Kormoranbestände in Europa auf ein Niveau an-
estiegen sind, das wichtige Bestandteile der Kulturland-
chaft stark beeinträchtigt; dass die Kormoranbestände
unehmend Schaden an der Fischfauna in Flüssen und
een, Küstengewässern und künstlichen Gewässern aller
rt in ganz Europa verursachen; dass viele teichwirt-
chaftlichen Betriebe durch Kormoranbefall ihre Exis-
enzgrundlage verloren haben, dass die Bemühungen der
ischerei zur Hege und Erhaltung gefährdeter Fischarten
unichtegemacht werden; dass die Maßnahmen zur Si-
herung des europäischen Aales ohne eine nachhaltige
eduzierung des Fraßdruckes durch Kormoran keinen
rfolg haben können; dass lokale Abwehrmaßnahmen
ur Vergrämung nur zur Schadensminderung bei einzel-
en Teichwirtschaften geführt haben, ohne einen nach-
altigen Schutz der Fischfauna zu sichern.
Die Konferenz fordert von den Bundesländern, die lo-
alen Abwehrmaßnahmen sofort durch Bestandreduzie-
ende Eingriffe in Brutkolonien zu ergänzen. Sie fordert
on der Bundesregierung, sich nachhaltig für ein gesam-
europäisches Management des Kormoranbestands ein-
usetzen, und von der Europäischen Union, dafür zu sor-
en, dass die Kormoranbestände in Europa in einem
rsten Schritt um 50 Prozent reduziert werden sowie ei-
en europäisch koordinierten Langzeitmanagementplan
u etablieren, der die Kormoranbestände langfristig in
ie Kulturlandschaft integriert, ohne die Natura-2000-
iele im Bereich der Fischarten und die Gewässerökolo-
ie zu gefährden.
Es werden verschiedene Maßnahmen zur Vergrämung
owie zur Bestandsregulierung diskutiert und angewen-
et. In jedem Fall ist darauf zu achten, dass Maßnahmen
ur Regulierung im Einklang mit den Bestimmungen
es Tierschutzes stehen. Kleine Teichanlagen können
or dem Kormoran durch weitmaschige Netze aus Stahl-
rähten geschützt werden. In Mecklenburg-Vorpommern
ird eine neue, vielversprechende Methode der Vergrä-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16647
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mung erprobt: Im Gewässer werden Lautsprecherboxen
installiert, die eintauchende Kormorane mit Orca-Rufen
beschallen, worauf die Kormorane fliehen und das Ge-
wässer verlassen.
In der Schweiz existiert seit 1996 ein sehr gut funktio-
nierender Kormoran-Wintermanagementplan, der von
den nationalen Natur- und Vogelschutzorganisationen
mitgetragen wird. Darin wird die Bejagung der Kormo-
rane an Gewässern geregelt. Mit dem Kormoran-Som-
mermanagementplan 2005 wird geregelt, dass in der ge-
samten Schweiz fünf Brutkolonien mit insgesamt
maximal 100 Brutpaaren als Zielgröße definiert sind.
Wird diese Kormorananzahl überschritten, tritt ein Kon-
fliktlösungsausschuss zusammen, der über die Duldung
dieser Brutkolonien bis zur Eliminierung der Brutvögel
bzw. ihrer Gelege oder die Zerstörung der Lebensräume
entscheiden kann.
Es gibt viele Beispiele für regionale Aktivitäten, die
eine Regulierung des Kormorans bezwecken. Es bleibt
unverständlich, dass einzelne Naturschutzverbände sehr
viel Engagement dem Schutz des Kormorans und der Ver-
hinderung von Regulierungsmaßnahmen widmen, obwohl
der Kormoran mit seiner beeindruckenden Bestandsent-
wicklung zu den besonders erfolgreichen Tierarten gehört
und andere Arten sehr viel mehr der Fürsorge bedürfen.
Es wäre wünschenswert, wenn die Verbände insbeson-
dere im Interesse des Fischartenschutzes zu einer gemein-
samen Position fänden.
Die Fachsprecher von CDU/CSU und SPD haben in
der Abstimmung des Ausschusses aus ihrer fachlichen
Verantwortung heraus dem Antrag der FDP-Bundestags-
fraktion zugestimmt.
Regionale und nationale Maßnahmen gegen den Kor-
moran sind richtig und wichtig, aber ohne eine Koordinie-
rung dieser Maßnahmen in den betroffenen europäischen
Ländern, also ohne ein europäisches Kormoranmanage-
ment, können wir keinen sicheren und dauerhaften Ar-
tenschutz gewährleisten und Schaden von unseren hei-
mischen Gewässern abwenden.
Ich bitte um Zustimmung zum FDP-Antrag.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Kormo-
ranbestände haben sich in den letzten Jahrzehnten stark
vermehrt. Davon betroffen ist nicht nur Deutschland,
sondern auch zahlreiche Nachbarstaaten. Die Tatsache,
dass Kormorane eine große Menge an Fisch benötigen,
um ihren Nahrungsbedarf zu decken, ist nicht zu leug-
nen. Dementsprechend können bei hohem Vorkommen
von Kormoranpopulationen auch Fischbestände stark
dezimiert werden. Wenn aber Fischbestände stark beein-
trächtigt werden, dann kann dies den Fortbestand einzel-
ner Populationen mit ihrem spezifischen genetischen Po-
tenzial akut gefährden. Auch die Fischereiwirtschaft ist
davon betroffen. Angelfischer, Teichwirte und Fisch-
züchter sehen sich durch den Rückgang der Fischpopula-
tionen in ihrer Existenz bedroht.
Wir sehen hier ebenfalls eine Notwendigkeit zum
Handeln. Die hohen Kormoranvorkommen dürfen weder
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ie Umsetzung der FFH-Richtlinie erschweren, noch das
rreichen der Zielsetzungen der Europäischen Wasser-
ahmenrichtlinie verhindern. Es besteht jedoch die Ge-
ahr, dass durch den Fokus auf den Kormoran als
Feind“ der Fischbestände und Konkurrent der Fische-
eiwirtschaft, der Blick für andere, oftmals in gleichem
ahmen für den Fischrückgang verantwortlichen Fakto-
en, verloren geht. Was nämlich ebenfalls berücksichtigt
erden muss, ist die Tatsache, dass der Mensch durch
eine gravierenden Eingriffe in Ökosysteme die Fischbe-
tände stark verringert und in machen Fällen sogar aus-
erottet hat.
Im vergangenen Jahrhundert lag die Hauptgefähr-
ungsursache für viele Fischarten vor allem in der Ein-
eitung von Nähr- und Schadstoffen in die Gewässer.
nd auch die Veränderungen der natürlichen Gewässer-
eschaffenheit und der Abflussverhältnisse durch was-
erbauliche Eingriffe haben ihren Teil dazu beigetragen.
ls Ergebnis sind eine Reihe von Arten oder Lokalvarie-
äten, wie zum Beispiel der Atlantische Stör oder der
eutsche Lachs ausgestorben.
Dass dies oft vergessen wird, ist am Beispiel der
sche besonders gut zu sehen. Für deren Rückgang wird
a gerne der Kormoran verantwortlich gemacht. Jedoch
enau diese Art stellt sehr hohe Ansprüche an die Was-
erqualität und benötigt klares kühles Wasser. Zudem re-
giert sie empfindlich auf anthropogene Störungen. Die
efährdung der Äschenbestände ist somit in erster Linie
uf Gewässerverschmutzung und menschliche Eingriffe
urückzuführen. Der Kormoran stellt nur eine zusätzli-
he Bedrohung dar.
Ähnlich steht es mit dem Aal. Es ist sehr wahrschein-
ich, dass der Kormoran auch hier einen Beitrag zur Re-
uzierung des Bestandes beiträgt. Jedoch spricht in die-
em Zusammenhang kaum jemand vom Bau unzähliger
leiner Wasserkraftanlagen, die Fisch-Schreddern glei-
hen. Gerade Aale, die immer dem Hauptstrom folgen
nd dadurch beim Abstieg Richtung Meer natürlich
eine Fischtreppen nutzen, sind davon betroffen. Bevor
ier der Kormoran für die Dezimierung der Aalbestände
erantwortlich gemacht wird, sind solche Faktoren also
enauer zu hinterfragen.
Ich denke, darin, dass hier Schutzmaßnahmen getrof-
en werden müssen, sind wir uns einig, nicht nur zum
rhalt der Biodiversität, sondern auch um die Existenz
er Fischereiwirtschaft zu sichern. Jedoch kann der Ab-
chuss von Kormoranen hier nicht die Lösung sein. Um
ormoranpopulationen zu reduzieren, sollte lieber ein
eg gewählt werden, der ebenfalls arten- und tierschutz-
echtlich zu vertreten ist. Zudem ist es wichtig, die Aus-
irkungen auf die Ökosysteme möglichst gering zu hal-
en.
Aus diesem Grund sind wir gegen Regulierungsmaß-
ahmen in Schutzgebieten und auch im Grundsatz an
ewässern, die nicht wirtschaftlich genutzt werden. Hier
uss die natürliche Räuber-Beute-Beziehung wirken
önnen. Besonders in Gebieten mit hohem Schutzstatus
ürfen diesbezüglich keine Eingriffe geschehen. Denn
er Prozessschutz ist hier dem Artenschutz vorzuziehen.
16648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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Eine der wichtigsten Maßnahmen ist der Schutz der
natürlichen Feinde des Kormorans. Sowohl der Uhu als
auch der Seeadler müssen weiterhin massiv geschützt
und wiederangesiedelt werden. Auch teilweise Teich-
überspannungen haben sich bewährt und sollten finanzi-
ell gefördert werden, wie dies beispielsweise in Bayern
der Fall ist.
Und letztlich wird durch das naturnahe Gestalten von
Wirtschaftsgewässern nicht nur den Fischbeständen ein
Gefallen getan. Es leistet auch einen Beitrag zur Erhö-
hung der Biodiversität.
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Zu Beginn erst einmal Grundsätzliches: Der
Kormoran ist nach EU- und Bundesrecht geschützt und
unterliegt daher nicht dem Jagdrecht. Seine Brut-, Rast-
und Überwinterungsgebiete sind zu schützen. Das hin-
derte das Regierungspräsidium Freiburg jüngst nicht da-
ran, einen grandiosen „Erfolg“ zu vermelden: 50 bis
70 Prozent der geschätzten 160 bis 200 Eier der einzigen
bei Radolfzell am Bodensee brütenden Kormorankolo-
nie wurden durch Vergrämung der Brutpaare ausgekühlt
und zerstört. Beantragt hatten die Aktion vier Fischerei-
vereine.
Experten haben darauf hingewiesen, dass es sich bei
dem Brutgebiet im „Radolfzeller Aachried“ nicht nur um
ein Naturschutzgebiet, sondern auch um ein EU-Vogel-
schutzgebiet von internationaler Bedeutung handelt. Die
hier vorkommenden gefährdeten Rot- und Schwarzmi-
lane, Rohrweihen, Zwergtaucher und Kolbenenten sind
mitten im Brutgeschäft, die Eiablage der meisten Arten
steht kurz bevor. Vor diesem Hintergrund ist die als Kor-
moranmanagement deklarierte Aktion weder ethisch
vertretbar noch rechtens; denn sie verstößt gegen das eu-
ropäische Naturschutzrecht.
Skandalös ist es allerdings auch, dass der vom Natur-
schutzbund Deutschland, NABU, mit Unterstützung der
Deutschen Umwelthilfe binnen weniger Stunden beim
Verwaltungsgericht Freiburg gestellte Eilantrag auf
Überprüfung der angeordneten Maßnahme – über den
das Regierungspräsidium informiert war – ignoriert
wurde. Um vor einer Entscheidung des Gerichts Fakten
zu schaffen, wurde die Aktion noch in derselben Nacht
durchgeführt. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig. Die
gesetzlich garantierten Rechte der Naturschutzverbände
wurden so durch die baden-württembergische Landesre-
gierung missachtet. Unsere Fraktion fordert eine lücken-
lose Aufklärung dieses Vorgangs.
Leider ist dieser Vorgang nicht ohne Beispiel. Welche
Auswüchse eine Bestandsreduktion der Kormoranpopu-
lationen erreichen kann, zeigte auch die tierschutzwid-
rige Tötungsaktion im Anklamer Stadtbruch im Juli
2005, bei der mehr als 6 000(!) Kormorane in ihren Nes-
tern abgeschossen wurde, das Ganze im Übrigen in der
Amtszeit eines Umweltministers der PDS – so viel zur
„ökologischen Kompetenz“ der Linken in Regierungs-
verantwortung.
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Für Bündnis 90/Die Grünen ist die Bestandsreduktion
er Kormorane grundsätzlich weder ökologisch noch
thisch begründbar oder verantwortbar. Der Kormoran, Pha-
crocorax carbo, fällt unter die allgemeinen Schutzbestim-
ungen der Vogelschutzrichtlinie, Richtlinie 79/409/EWG
om 2. April 1979, und das absichtliche Töten oder Fan-
en, die absichtliche Zerstörung von Nestern oder die
ntnahme von Eiern ist grundsätzlich verboten. Nur
mangels anderweitiger Lösungen“ sind Ausnahmen von
iesem Verbot möglich, jedoch dürfen diese Maßnahmen
en Bestand der Kormorane nicht gefährden – und sie
üssen vor allem begründbar sein.
Die Europäische Kommission hat noch 2006 bekräf-
igt, dass sie am Schutzstatus des Kormorans festzuhal-
en gedenke und ihr keine Gründe bekannt seien, die
ine Änderung notwendig machten.
Die vorhandenen Instrumente, Konflikte mit Kormo-
anpopulationen zu bewältigen, sind mehr als ausrei-
hend. Den von der FDP konstatierten Handlungsbedarf
ermögen wir nicht zu erkennen, und das nicht etwa,
eil wir kurzsichtig wären, sondern weil es ihn nicht
ibt.
Die FDP greift mit ihrem Antrag einseitig in die Aus-
inandersetzungen zwischen Fischern und Naturschüt-
ern über die fischereiwirtschaftlichen Schäden durch
en Kormoran zugunsten der Fischer ein; denn der An-
rag greift im Wesentlichen ungeprüft die Argumente der
ischer nach einem europaweiten Kormoranmanage-
ent mit dem Ziel einer Bestandsregulierung auf. Au-
erdem sollen weitere Maßnahmen zur bundesweiten
eduzierung des Kormoranbrutvogelbestandes zugelas-
en werden wie die Reduzierung der Zahl der Nistbäume
nd Gelegemanipulationen. Neuansiedlungen oder Neu-
ründungen von Kolonien sollen verhindert werden.
uch in Schutzgebieten sollen Eingriffe in bereits beste-
ende Kolonien ermöglicht werden.
Der Antrag und seine Forderungen werden dem Pro-
lem nicht gerecht und zeigen wieder einmal, wie wenig
ie FDP von ökologischen Zusammenhängen versteht.
ie agiert auch nicht im vermeintlichen Interesse der Fi-
cher. Ja, es stimmt. Es gibt fischereiwirtschaftliche
chäden in der Teichwirtschaft und der Fluss- und Seen-
ischerei. Dennoch zeigen wissenschaftliche Publikatio-
en, dass der Stand der fischereibiologisch-ökologischen
iskussion über die im FDP-Antrag vertretene mono-
ausale Sicht inzwischen weit hinaus ist. Es ist zu ein-
ach gedacht, alles dem Kormoran in die Schuhe bzw. in
en Schnabel zu schieben. Bündnis 90/Die Grünen tre-
en dafür ein, dass die naturnahe Bewirtschaftung von
eichen und Seen gefördert wird. Durch Renaturierungs-
aßnahmen und eine Besetzung der Gewässer mit ur-
prünglich dort vorkommenden, heimischen Fischarten
ässt sich der vermeintlichen Kormorangefahr ökolo-
isch, tierschutzgerecht und wirkungsvoll begegnen.
Untersuchungen zeigen, dass fischereiwirtschaftliche
chäden überwiegend bei intensiv genutzten Fischtei-
hen auftreten. In natürlichen Gewässern, an denen sich
ie überwiegende Anzahl der Kormorane aufhält und
ahrung sucht, konnten keine nennenswerten, ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16649
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schweige denn erhebliche fischereiwirtschaftliche Schä-
den nachgewiesen werden.
Insgesamt brauchen wir für einen nachhaltigen
Schutz der Fischbestände eine Wiederherstellung mög-
lichst vieler natürlicher Fluss- und Bachläufe. Rückbau
von Staustufen und die Renaturierung der Gewässerver-
läufe und -betten sollten daher im Rahmen der Umset-
zung der EU-Wasserrahmenrichtlinie so zügig wie mög-
lich vorgenommen werden.
Die Landesanglerverbände beklagen, dass die Kor-
morane die von ihnen mit finanziellem Aufwand besetz-
ten Gewässer leer fischen und so bedrohte Fischarten
wie Quappe, Äsche und Barbe weiter dezimieren. Genau
diese Fische leiden aber mit am meisten durch die Ver-
bauung der Flüsse.
Was wir auch unterstützen, ist der regelmäßige Aus-
tausch von europäischen Wissenschaftlern über die Be-
standsentwicklung der Kormorane.
Das Kormoranmanagement erfolgt in Landeshoheit.
Daher kann ich an dieser Stelle nur appellieren: Tut dies
aber umso dringlicher: Das Kormoranmanagement soll-
ten die Länder in enger Abstimmung mit dem behördli-
chen und ehrenamtlichen Naturschutz organisieren – und
nicht unter Umgehung dieses oder gar gegen ihn.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für die Rücknahme
der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechts-
konvention und eine – hiervon unabhängige –
effektive Umsetzung der Kinderrechte im Asyl-
und Aufenthaltsrecht (Tagesordnungspunkt 24)
Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wir debattie-
ren heute zum wiederholten Male über ein Thema, das in
den letzten Wochen schon öfter auf der Tagesordnung
hier im Bundestag stand. Und erneut verlangt die Links-
fraktion die Rücknahme der Vorbehalte der Bundesre-
gierung gegen die UN-Kinderrechtskonvention.
Lassen Sie mich eines an dieser Stelle klar sagen: Wir
wollen doch alle das eine: Kindern zu ihrem Recht ver-
helfen. Jeder gutwillige, jeder anständige, jeder vernünf-
tige Mensch in Deutschland will, dass Kinder liebevoll
umsorgt aufwachsen, ihre Rechte gewahrt, geschützt und
beachtet werden. Niemand will Kinder einem notwendi-
gen Schutz entziehen und der Gewalttätigkeiten, Ver-
nachlässigung, Misshandlung in vorsätzlicher oder nach-
lässiger Weise ausliefern.
Bezüglich der Vorbehaltserklärung der Bundesregie-
rung zur UN-Kinderrechtskonvention stellt der Bunde-
sinnenminister fest, – ich zitiere –:
Die deutsche Erklärung zur UN-Kinderrechtskon-
vention ist kein Vorbehalt im völkerrechtlichen
Sinne, sondern soll lediglich denkbare Fehl- oder
Überinterpretationen bei der Anwendung des Über-
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einkommens im Rahmen von aufenthalts- und asyl-
rechtlichen Entscheidungen ausschließen. Auch in
der neueren Rechtsprechung wird eine unmittelbare
Anwendung von Bestimmungen des Übereinkom-
mens mit weitreichenden asyl- und aufenthalts-
rechtlichen Konsequenzen unter anderem unter
dem Hinweis auf die deutsche Erklärung ausge-
schlossen. Insofern ist die Erklärung nach wie vor
von Bedeutung. Ihrer Rücknahme würde das im
Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel der Begrenzung
und Steuerung der Migration zuwiderlaufen. Die
Bundesländer sind mehrheitlich gegen eine Rück-
nahme der Erklärung. Diese waren seinerzeit mit
der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention
nur einverstanden, weil diese Vorbehaltserklärung
abgegeben wurde. Gegen deren ausdrücklichen
Willen sollte die deutsche Erklärung daher nicht zu-
rückgenommen werden.
An dieser Stelle muss man aber auch fragen: Was hat
enn die letzte Bundesregierung in Bezug auf die Kin-
errechte zuwege gebracht? Offensichtlich hat es auch
amals schon Bedenken gegeben. Sonst stünden wir
eute ja wohl nicht hier. Wichtiger als endlos wiederkeh-
ende Debatten ist ein effektiver Kinderschutz in der
raxis: durch frühzeitige Förderung der elterlichen Er-
iehungskompetenz, konsequente Vorsorge, besonders
ei Untersuchungen, und keine Behinderung des Kinder-
chutzes durch überbordenden Datenschutz. Klar ist aber
uch: Alle Kinderrechte und staatliche Vorsorge können
lterliche Liebe nicht ersetzen.
Die Linken stellen hier – wie auch sonst – Anträge
ürs Schaufenster mit finanziell völlig utopischen Vor-
tellungen. Damit erreichen sie mit Sicherheit nicht
ehr für unsere Kinder und Familien! Im Gegenteil: Sie
achen Versprechungen, die sie nicht einhalten können.
as nützt es denn den Familien, wenn sie ihnen auf der
inen Seite Unterstützung zusichern und auf der anderen
eite das Geld wieder aus der Tasche ziehen. Denn ihre
orschläge gehen letztendlich wieder zulasten der Fami-
ien.
Es geradezu grotesk, wenn man sich die Zahlen be-
rachtet, die sich aus ihren Forderungen ergeben: im Zu-
ammenhang mit der Diskussion des 7. Familienberichts:
9 Milliarden Euro mehr; jetzt einen Antrag, den Kinder-
chlag auszubauen, der allen Kindern und Jugendlichen
nter 18 Jahren in bestimmten Einkommensbereichen
in soziokulturelles Existenzminimum von mindestens
20 Euro monatlich gewährleistet: nach einer vorsichti-
en Schätzung mindestens 10 Milliarden mehr; ein Stu-
enprogramm zur weiteren Ausdehnung öffentlich finan-
ierter Beschäftigung: 8,4 Milliarden Euro mehr Hartz
V ändern: 18 Milliarden Euro mehr.
All ihre Forderungen mal schnell zusammengerech-
et, komme ich auf die Summe von 150 Milliarden Euro
ehr im Jahr. Aber wie wollen sie das finanzieren? Die
ntwort bleiben Sie uns schuldig. So viele Reiche gibt
s in Deutschland überhaupt nicht, welche angeblich die
teuererhöhungen bezahlen sollen. Bitter bezahlen wer-
16650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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den am Ende Familien mit Kindern und Durchschnitts-
einkommen.
Wir dagegen haben in der Familienpolitik Schritt für
Schritt Erfolge erzielt, die den Familien und Kindern in
unserem Land tatsächlich helfen. Keine utopischen und
nicht bezahlbaren Versprechungen, sondern sinnvolles
und politisch verantwortliches Handeln ist gefragt. Und
dafür steht die erfolgreiche Politik von CDU und CSU.
Erst heute haben wir die Ausweitung des Kinderzu-
schlags auf den Weg gebracht. Nach langen Verhandlun-
gen ist dies ein klarer Erfolg der Union, der die Hand-
lungsfähigkeit der Koalition aufzeigt.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Am
20. November 1989 haben die Vereinten Nationen die
Kinderrechtskonvention gemeinsam beschlossen. Die
Bundesrepublik Deutschland hat sie im Jahr 1992 ratifi-
ziert. Bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde hat die
Bundesregierung damals fünf Vorbehalte geltend ge-
macht, auch weil wir manches in nationalem Recht noch
nicht so geregelt hatten, wie es die Konvention vor-
schreibt.
Diese betrafen das Umgangs- und Sorgerecht, den
Rechtsbeistand bei minderschweren Fällen, das Adop-
tionsrecht und Kinder in bewaffneten Konflikten. Diese
Vorbehalte haben sich erledigt, denn zwischenzeitlich
vorgenommene Änderungen im deutschen Recht haben
bewirkt, dass nur noch der unter Punkt IV erklärte aus-
länderrechtliche Vorbehalt Bestand hat.
Dieser Vorbehalt unter Punkt IV, der den Status der
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge regelt, betrifft
wenige hundert Menschen im Jahr. Es ist mir ein Rätsel
und es schadet dem internationalen Ansehen Deutsch-
lands, dass wir für diese jungen Menschen nicht zu einer
besseren Regelung kommen. Die Vereinten Nationen
definieren die Kindheit als Phase zwischen 0 und
18 Jahren. Im Allgemeinen übernehmen wir diese Defi-
nition, nur bei diesem Vorbehalt lassen wir die Kindheit
bei 16 Jahren aufhören. Das geht nicht.
Der Bundestag hat die Bundesregierung mehrfach
aufgefordert, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen.
Leider ist die Mehrheit der Bundesländer gegen eine
Rücknahme des Vorbehalts, und die Bundesregierung
spricht sich mit Rücksicht auf die Länder gegen die
Rücknahme aus. Die Kinderkommission, in die ja jede
Fraktion ein Mitglied entsendet und die somit überpar-
teilich arbeitet, hat wiederholt und zuletzt in meiner Vor-
sitzzeit im November 2006 an die Bundesländer appel-
liert, einer Rücknahme der Vorbehalte zuzustimmen. Die
Kinderkommission forderte in dieser Stellungnahme die
Bundesregierung auf, andernfalls „die Rücknahme ohne
dieses Einvernehmen umgehend zu veranlassen.“ Leider
ist uns diese überfällige Rücknahme immer noch nicht
gelungen. Es ist höchste Zeit.
Denn wir machen ja eine gute Politik für Kinder. Die
Vereinten Nationen bescheinigen uns das auch. Wir spie-
len weltweit, was Kinder angeht, in der ersten Liga. Mit
dem Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes
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eutschland 2005 – 2010“ – NAP – wollen und werden
ir Deutschland bis zum Jahr 2010 zu einem der kinder-
reundlichsten Länder Europas machen.
Der Nationale Aktionsplan knüpft an die Sondergene-
alversammlung zu Kindern der Vereinten Nationen vom
. bis 10. Mai 2002 in New York – Weltkindergipfel
002 – an. Auf dieser Konferenz wurde unter dem Titel
A world fit for children“ ein Abschlussdokument ver-
bschiedet, das weltweit zur Verbesserung der Lebenssi-
uation der Kinder beitragen soll. Wie alle Unterzeich-
erstaaten hat sich Deutschland darin verpflichtet, einen
ationalen Aktionsplan mit konkreten termingebunde-
en und messbaren Zielen und Vorhaben zu erstellen.
amit soll die international definierte Zielsetzung auf
ationaler Ebene umgesetzt werden.
Der Nationale Aktionsplan „Für ein kindergerechtes
eutschland 2005 – 2010“ ist ein themen- und ressort-
bergreifender Leitfaden, der von der Bundesregierung
m 16. Februar 2005 im Kabinett verabschiedet wurde.
r ist unter Mitwirkung von Bund, Ländern und Kom-
unen, der Wissenschaft, Nichtregierungsorganisatio-
en und nicht zuletzt von Kindern und Jugendlichen ent-
ickelt worden.
Sechs Handlungsfelder stehen dabei im Mittelpunkt,
enen in den kommenden Jahren eine Schlüsselstellung
ür mehr Kinderfreundlichkeit zukommt. In den Kapi-
eln „Chancengerechtigkeit durch Bildung“, „Aufwach-
en ohne Gewalt“, „Förderung eines gesunden Lebens
nd gesunder Umweltbedingungen“, „Beteiligung von
indern und Jugendlichen“, „Entwicklung eines ange-
essenen Lebensstandards für alle Kinder“ und „Inter-
ationale Verpflichtungen“ werden umfassende und kon-
rete Arbeitsziele bis 2010 benannt und Strategien für
hre Durchsetzung beschrieben.
Ein Monitoringverfahren begleitet derzeit die Umset-
ung. Ich selbst bin für die Kinderkommission in mehre-
en Arbeitsgruppen daran beteiligt.
Es gilt nun, den NAP auf Bundesebene, aber auch in
en Ländern und vor Ort Schritt für Schritt umzusetzen.
entrales Ziel ist dabei neben der allgemeinen Verbesse-
ung der Lebensbedingungen von Kindern auch die For-
erung nach der Rücknahme der Vorbehalte zur UN-
inderrechtskonvention.
Es ist höchste Zeit, diesen Schritt zu gehen. Gemein-
am muss es uns endlich gelingen, die letzten Wider-
tände gegen diese überfällige Rücknahme der Vorbe-
altserklärung zu brechen: für die Rechte der
inderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge und für unsere
inderpolitische Glaubwürdigkeit.
Ein letztes Wort zum NAP: Die Aufnahme von Kin-
errechten in die Verfassung wird ausdrücklich ge-
ünscht. Meine Fraktion hat die Aufnahme von Kinder-
echten in die Verfassung einstimmig beschlossen. Die
inderkommission ist einstimmig dafür. Und wir be-
ommen positive Signale aus anderen Fraktionen. Las-
en Sie uns alle dafür kämpfen, dass wir dieses zentrale
inderpolitische Ziel, die Aufnahme der Kinderrechte
ns Grundgesetz, schnell erreichen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16651
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Miriam Gruß (FDP): Wie so oft diskutieren wir die-
ses wichtige Thema der Rücknahme der Vorbehaltser-
klärung zu später Stunde. Unsere Kinder und ihre Rechte
sollten es uns eigentlich wert sein, eine Kernzeitdebatte
zu führen.
Erschwerend kommt hinzu, dass wir, allein seit mei-
ner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag – und dies
ist erst seit 2005! – zum x-ten Male über die Rücknahme
der Vorbehaltserklärung diskutieren, ohne ein Ergebnis
zu erreichen.
Wir debattieren hier über eine Erklärung, die ansons-
ten die ganze Welt unterschrieben hat. Wobei debattieren
in diesem Falle auch des Guten zuviel ist – schließlich
wurde von vorneherein festgelegt, die Reden zu Proto-
koll zu geben.
Die Geschichte um die Rücknahme der Vorbehaltser-
klärung ist lang, und wenn man sie genau betrachtet, er-
scheint es vollkommen absurd, dass die Vorbehaltserklä-
rung überhaupt noch besteht:
Am 5. April 1992, vor über 16 Jahren, trat für die
Bundesrepublik Deutschland das „Übereinkommen über
die Rechte des Kindes“ vom 20. November 1989 in
Kraft. Mit diesem Übereinkommen über die Rechte des
Kindes wurden erstmals völkerrechtlich verbindlich po-
litische Bürgerrechte und soziale Menschenrechte for-
muliert, die ihren Ausdruck in der Festschreibung von
Mindestanforderungen an die Versorgung, den Schutz
und die Beteiligung von Kindern am gesellschaftlichen
Leben finden.
Die Bundesregierung begrüßte bei Hinterlegung der
Ratifikationsurkunde am 6. März 1992 das Übereinkom-
men als einen Meilenstein der Entwicklung des Interna-
tionalen Rechts und erklärte, sie werde die Ratifizierung
des Übereinkommens zum Anlass nehmen, Reformen
des innerstaatlichen Rechts in die Wege zu leiten, die
dem Geist des Übereinkommens entsprechen und die sie
nach Art. 3 Abs. 2 des Übereinkommens für geeignet
hält, dem Wohlergehen des Kindes zu dienen. Diese bei
Hinterlegung der Ratifikationsurkunde abgegebene Er-
klärung enthält ferner Vorbehalte, die sich insbesondere
auf das elterliche Sorgerecht, die Anwaltsvertretung so-
wie weitere Rechte von Kindern im Strafverfahren, auf
die Altersgrenze bei Soldaten sowie in Vorbehalt IV auf
die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern sowie
die Bedingungen ihres Aufenthalts und Unterschiede
zwischen In- und Ausländern beziehen. Durch Änderun-
gen im Familienrecht und im Lichte des Zusatzproto-
kolls zur UN-Kinderrechtskonvention über die Beteili-
gung von Kindern in bewaffneten Konflikten ist der
Vorbehalt diesbezüglich obsolet geworden.
Auch in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion der FDP im Deutschen Bundestag erklärte die
damalige Bundesregierung, dass es sich bei der anläss-
lich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde abgege-
benen Erklärung um eine die UN-Kinderrechtskonven-
tion interpretierende Erklärung handle, die Fehl- oder
Überinterpretationen der Konvention vermeiden solle.
Die Bundesregierung stellte ferner fest, dass die Ausle-
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ung der Kinderrechtskonvention in gleichem Maße gel-
en würde, wenn die Erklärung nicht abgegeben worden
äre. Dies spreche aus Sicht der Bundesregierung für
ine vollständige Rücknahme der Erklärung. Die Bun-
esregierung sei ebenso wie der Deutsche Bundestag der
uffassung, dass die Erklärung zurückgenommen wer-
en sollte. Auch stehe das deutsche Recht in Einklang
it den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich für
ie Bundesrepublik Deutschland aus der UN-Kinder-
echtskonvention ergäben, sodass eine Änderung des
eutschen Rechts nicht erforderlich sei. In Anbetracht
ieser Rechtslage besteht daher keine Notwendigkeit,
änger an der Erklärung festzuhalten.
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist nicht nur
echtlich möglich, sie ist auch politisch geboten. Denn
ie ist geeignet, national wie international bestehende
weifel am Willen Deutschlands, die UN-Kinderrechts-
onvention uneingeschränkt durchzusetzen, auszuräu-
en. So hat zum Beispiel der UN-Ausschuss für die
echte des Kindes in seinen Schlussbemerkungen zum
rstbericht der Bundesregierung 1995 Bedenken hin-
ichtlich der Vereinbarkeit der Vorbehalte mit der Kon-
ention geäußert. Die Rücknahme der Vorbehaltserklä-
ung stellt daher ein dringend notwendiges und
berfälliges Signal für ein kinderfreundliches Deutsch-
and dar. Sie wird die Position der Bundesrepublik
eutschland in der Frage des internationalen Menschen-
echtsschutzes stärken und helfen, innerhalb und außer-
alb Deutschlands Irritationen zu vermeiden. Die Rück-
ahme der Vorbehaltserklärung ist darüber hinaus
rforderlich, um anderen Staaten nicht Argumente zu lie-
ern, ihrerseits Vorbehalte anzubringen. Durch die Rück-
ahme der Erklärung wird sich zudem der Dialog mit
en Kinderrechtsorganisationen, die die Rücknahme seit
angem fordern, merklich entspannen.
Ich fordere die Bundesregierung deshalb zum wieder-
olten Male auf, unverzüglich die von der Bundesregie-
ung am 6. März 1992 beim Generalsekretär der Verein-
en Nationen hinterlegte Erklärung der Bundesrepublik
eutschland zum Übereinkommen über die Rechte des
indes, UN-Kinderrechtskonvention, zurückzunehmen
nd auf die Länder hinzuwirken, die Voraussetzungen
ierfür zu schaffen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wer das Kindeswohl ernst
immt, der muss auch sagen: „Gleiche Rechte für alle
inder“, und nicht „Weniger Rechte für ausländische
inder.“ Doch genau diese verkehrte Politik betreiben
ie Bundesregierungen im Schatten der Vorbehalte ge-
en die UN-Kinderrechtskonvention schon seit deren In-
rafttreten im Jahr 1992.
Daran hat übrigens auch die Koalition aus SPD und
rünen nichts geändert, darüber kann auch der wortrei-
he Antrag der Grünen-Fraktion nicht hinwegtäuschen.
ie FDP-Fraktion hat ebenfalls einen Antrag gestellt,
er die Rücknahme des Vorbehaltes fordert. Denn diese
orbehalte hätten sich sozusagen erledigt, die Kinder-
echtskonvention sei in vollem Umfang umgesetzt. Die
undesregierung wiederum argumentiert, der Vorbehalt
16652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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habe sowieso nur Symbolcharakter. Wenn die Bundesre-
gierung behauptet, der Vorbehalt habe nur eine Art Sym-
bolcharakter und könne genauso gut auch bestehen blei-
ben, ist das eine absolute Irreführung. Denn der vierte
Vorbehalt, um den es uns hier geht, legitimiert die Be-
nachteiligung nicht-deutscher Kinder. Deswegen fordert
die Fraktion Die Linke, diesen Vorbehalt endlich aufzu-
geben. Aber wir zeigen mit unserem Antrag auch einen
Weg, wie ohne Zurücknahme des Vorbehalts die Situa-
tion der betroffenen Kinder ganz konkret verbessert wer-
den kann.
Benachteiligt werden vor allem Flüchtlingskinder und
Kinder, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Un-
begleitete minderjährige Flüchtlinge müssen in Deutsch-
land ein unwürdiges Verfahren zur Altersfeststellung
durchlaufen, und sie gelten schon mit 16 als „asylmün-
dig“. Sie werden also wie Erwachsene behandelt und in
Sammelunterkünften untergebracht. Schon für Erwach-
sene ist diese Form der Unterbringung schlicht unwür-
dig. Für Kinder sind solche Massenunterkünfte erst recht
kein Umfeld, in dem sie aufwachsen sollten. Und sogar
in Abschiebe- und Zurückweisungshaft werden Kinder
immer noch genommen, wenn auch in abnehmender
Zahl. Im Asylverfahrens- und Aufenthaltsrecht muss
klargestellt werden: die Unterbringung von Kindern in
Massenunterkünften und Gefängnissen muss ausge-
schlossen sein. Uns ist bewusst, dass es hier auch eine
starke Mitverantwortung der Länder gibt. Sie sind be-
sonders bei den sozial- und jugendhilferechtlichen Rege-
lungen und Maßnahmen gefordert, sich an der Konven-
tion und dem absoluten Vorrang des Kindeswohls zu
orientieren. Ihnen obliegen zum Beispiel die kindge-
rechte Unterbringung, ausreichende psychotherapeuti-
sche Angebote, die Förderung von persönlichen statt
amtlichen Vormundschaften. Es wäre beschämend, wenn
die damit verbundenen Kosten der tatsächliche Grund
sind, warum die Länder den ausländerrechtlichen Vorbe-
halt nicht zurücknehmen wollen!
Ich will zum Ende meiner Rede noch einen anderen
Bereich streifen, in dem es nach wie vor keinen Vorrang
des Kindeswohls gibt: Kinder, die unter das Asylbewer-
berleistungsgesetz fallen, erhalten nur die medizinische
Notfallversorgung. Das reicht nicht aus. Noch schlim-
mer ist es aber für Kinder ohne Aufenthaltsstatus. Ihnen
wird jeder Anspruch auf medizinische Versorgung ver-
wehrt. Das betrifft dann auch Kinder, die hier geboren
sind. Kinder ohne Aufenthaltsstatus wachsen hier in völ-
liger Rechtlosigkeit auf. Mit unserem Antrag wollen wir
dem endlich ein Ende bereiten. Wir wollen, dass Kinder,
egal welcher Nationalität und egal mit welchem Aufent-
haltsstatus, ihre Rechte, die sich aus der UN-Konvention
ergeben, in vollem Umfang wahrnehmen können.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
freut mich, dass auch sie noch einen Versuch unterneh-
men und die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinder-
rechtskonvention fordern. Wenn man in derart dicken
Brettern bohren muss, sind gemeinsame Anstrengungen
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mmer sinnvoll. Wenn es um die Kinderrechte geht, zie-
en wir bekanntlich an einem Strang. Auch freut es
ich, dass Sie die Antwort auf die Große Anfrage mei-
er Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Rücknahme der
orbehalte so gut nutzen konnten.
Nun diskutieren wir hier wahrlich nicht zum ersten
al über die Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Der
eutsche Bundestag hat bereits viermal die Rücknahme
efordert!
Bekanntermaßen wurden alle diese Beschlüsse nicht
mgesetzt. Wir drehen in diesem Haus folglich die x-te
unde zum Thema, und es ist zur befürchten, dass wir
ns auch weiterhin im Kreis drehen werden. Es ist mei-
es Erachtens nach alles gesagt worden, was man zu die-
em Thema sagen kann. Es bleibt im Kern dabei, dass
ie Bundesregierung auf die Bundesländer Rücksicht
ehmen will. Sie muss dies aber nicht. Die Bundesregie-
ung ist politisch rücksichtsvoll gegenüber den Bundes-
ändern, dafür ist sie rücksichtslos gegenüber Flücht-
ingskindern.
Mir scheint überhaupt, dass die Große Koalition ein
estörtes Verhältnis zu Kinderrechten hat. Vor langer
anger Zeit wurde uns Grünen vermittelt, man müsse un-
eren Antrag zur Rücknahme der Vorbehalte zurückstel-
en und die Initiative zur Stärkung der Kinderrechte in
er Verfassung vonseiten der Kinderkommission abwar-
en. Na, wie lange wollen wir denn darauf warten?! Wie
iele Geschäftsordnungsanträge müssen wir da wohl
och stellen? Hier sehen wir wieder einmal, dass sich
chwarz und rot diametral entgegenstehen. Damit auch
a nicht noch ein Riss durch die Koalition geht, muss
ich die Kinderkommission des Deutschen Bundestages
eit mehr als einem halben Jahr in Schweigen hüllen.
amit die Große Koalition nicht Farbe bekennen muss,
erden die Anträge nach der ersten Lesung schlicht
icht mehr beraten.
Wenn das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen
st, müssten die entsprechenden Anträge eigentlich ei-
em Beschleunigungsgebot unterliegen.
So vorrangig – wie die Bundesregierung immer wie-
er beschwichtigt – kann das Kindeswohl aber für sie
icht sein, wenn wir in Deutschland in den Asylverfah-
en die 16- und 17-Jährigen wie Volljährige behandeln,
enn wir sie in Sammelunterkünfte stecken, wenn wir
hnen Jugendhilfemaßnahmen verweigern, die ihnen zu-
indest vorübergehend bei der Bewältigung der schlim-
en Erlebnisse helfen können, wenn ihnen nicht alle
eistungen des Gesundheitssystems zustehen und wenn
ir für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge
eine Clearing-Stellen haben, die beim Asylverfahren
ehilflich sind.
Werte Bundesregierung: Mir fehlen langsam die
orte. Ich fordere Sie also auf, sich endlich zu entschei-
en und zu handeln, nicht nur wegen der außenpoliti-
chen und innenpolitischen Glaubwürdigkeit, der betrof-
enen Kinder wegen.
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Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Entwicklung in Afghanistan – Strategien für
eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent
umsetzen
– Afghanistan eine Chance für legalen lizen-
zierten Mohnanbau geben – Drogenmafia
wirksam bekämpfen
(Tagesordnungspunkt 25 a und b)
Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Nach wie vor ste-
hen wir in Afghanistan vor großen Herausforderungen.
Die Anschläge vom gestrigen Tag, bei denen 13 Men-
schen, davon zehn afghanische Polizisten, ums Leben
kamen, zeugen von der immer noch prekären Sicher-
heitslage in einigen Teilen des Landes und verdeutlichen
umso mehr, wie dringend unser Engagement in Afgha-
nistan gebraucht wird. Zwar konnten wir in den letzten
Jahren erste Erfolge beim Wiederaufbau und in der Ent-
wicklung Afghanistans verbuchen, sei es hinsichtlich der
Versorgung der Bevölkerung mit Wasser und Elektrizi-
tät, der Infrastruktur, der öffentlichen Verwaltung, dem
Zugang zu Bildung oder den Freiheits- und Gleichheits-
rechten. Jedoch bleibt auch die deutsche Entwicklungs-
zusammenarbeit bisher leider hinter ihren Möglichkeiten
und den Erwartungen der afghanischen Bevölkerung zu-
rück. Wir müssen die Entwicklungszusammenarbeit nicht
nur fortführen, sondern weiter ausbauen und auf die bis-
her entwicklungspolitisch vernachlässigten Provinzen ins-
besondere im Süden ausdehnen. Ziviler Aufbau, Entwick-
lung und militärische Sicherheit sind gemäß unseres
Konzepts der vernetzten Sicherheit untrennbar miteinan-
der verbunden. Sie bedingen einander und müssen des-
halb gleichermaßen von uns vorangetrieben und unter-
stützt werden, wenn wir verhindern wollen, dass Taliban
und al-Qaida wieder erstarken und die mühsam errunge-
nen Fortschritte verloren gehen. Dabei sollten wir vor al-
lem auf die afghanische Eigenverantwortung – das soge-
nannte Afghan ownership – setzen. Es ist wichtig, dass
sich die Afghanen mit allen Maßnahmen identifizieren
können. Planung und Umsetzung sollten in enger Zu-
sammenarbeit mit den lokalen Autoritäten erfolgen, vor
allem im ländlichen Raum muss dabei auf hohe Beschäf-
tigungseffekte der Entwicklungsmaßnahmen geachtet
werden. Güter und Dienstleistungen für die Entwick-
lungsmaßnahmen sollten nach Möglichkeit in Afghanis-
tan eingekauft werden, um die lokale Wirtschaft zu för-
dern.
Es ist ebenso unverzichtbar, den Aufbau staatlicher
Institutionen weiter zu unterstützen. Das gilt insbeson-
dere für den Aufbau der ANA – der Afghan National
Army – und für den Aufbau der afghanischen Polizei-
kräfte, denn die Idee ist ja, die Aufgabe, die wir zurzeit
militärisch wahrnehmen, für Sicherheit zu sorgen, die
wiederum den Aufbau möglich macht, schrittweise an
die Afghanen zu übergeben, sodass sie den Aufbau und
die Gewährleistung der Sicherheit für diesen Aufbau in
die eigenen Hände nehmen können. Die auf dem NATO-
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ipfel in Bukarest verabschiedete Afghanistan-Strate-
ie sieht ebenfalls vor, den afghanischen Institutionen
ehr Verantwortung zu übertragen. Ein Beispiel hierfür
st die von Präsident Karzai für den Sommer 2008 ange-
ündigte Übernahme des Regionalkommandos Zentrum,
elches Kabul und die umliegenden Gebiete umfasst,
urch afghanische Sicherheitskräfte. Bis jedoch die af-
hanischen Sicherheitskräfte in der Lage sind, selbst-
tändig die Sicherheit im ganzen Land zu gewährleisten,
ibt es zur internationalen Militärpräsenz im Land keine
lternative.
Darüber hinaus muss der Dialog zu den Nachbarstaa-
en Afghanistans gesucht werden, da sich die Probleme
es Landes ohne deren Mitwirkung nicht bzw. nur unzu-
eichend lösen lassen. Wichtigster Ansprechpartner in
iesem Zusammenhang ist Pakistan. Im Grenzgebiet ha-
en sich Stammesgebiete, die sogenannte Federally Ad-
inistered Tribal Areas oder auch FATAs, traditionell
edweder staatlichen Kontrolle entzogen und sind da-
urch ein ideales Rückzugsgebiet für die Taliban. Hier
ilt es, die notwendige Zusammenarbeit beider Staaten
u forcieren und das positive Beispiel der ersten afgha-
isch-pakistanischen Friedensjirga fortzuführen. Auch
ie Entwicklungsarbeit kann dort ihren Beitrag leisten
nd den Einwohnern des Grenzgebiets Bildungsalterna-
iven zu den dort ansässigen Koranschulen anbieten und
nteressante und vor allem legale Einkommensmöglich-
eiten aufzeigen. Neben Pakistan müssen auch die ande-
en Nachbarstaaten in den Prozess der afghanischen Sta-
ilisierung eingebunden werden. Dazu gehören die
taaten Zentralasiens und der Iran, in dem derzeit die
weitgrößte afghanische Flüchtlingsgemeinde lebt.
Die Flüchtlings- bzw. die Rückkehrerproblematik in
fghanistan ist eine politische, gesellschaftliche und
konomische Herausforderung, der in der Afghanistan-
ebatte bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt
urde. Seit 2002 sind circa 5 Millionen afghanische
lüchtlinge aus Pakistan und dem Iran in ihre Heimat zu-
ückgekehrt, weiteren 3,1 Millionen in Flüchtlingslagern
roht die Abschiebung nach Afghanistan. Die Aufnahme
nd Integration der Rückkehrer, die größtenteils ohne
chulbildung, Berufsqualifikation und aus vom Krieg
esonders betroffenen Regionen sind, verkompliziert
en ohnehin schon schwierigen Aufbauprozess des Lan-
es.
Schaut man auf die derzeitige Sicherheitslage, so hat
ich diese im Süden und Südosten des Landes weiter
erschärft. In erster Linie sind dort regierungsfeindliche
nd extremistische Kräfte am Werk, die aufgrund ihrer
ahlenmäßigen und waffentechnischen Unterlegenheit
ie direkte Konfrontation mit den Alliierten scheuen und
tattdessen in einem Partisanenkrieg die afghanische Be-
ölkerung tyrannisieren und Staatsbedienstete ermorden.
m Norden, wo die Bundeswehr für die Sicherheit in der
erantwortung steht, ist die Sicherheitslage vergleichs-
eise stabil. Die dortigen Risiken für die Sicherheit und
omit auch für den zivilen Aufbau gehen im Norden
auptsächlich von der Drogenkriminalität aus. Afghanis-
an ist der größte Opiumproduzent weltweit und beliefert
0 Prozent des Weltopiummarktes. Die hohen Gewinne
er Drogenökonomie haben außerstaatliche, kriminelle
16654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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und terroristische Machtsstrukturen etabliert, die in Ge-
stalt der Korruption in staatliche Institutionen ranken
und die Souveränität der Afghanischen Führung unter-
minieren. Darum sollte die Drogenbekämpfung in Af-
ghanistan zu einem unserer wesentlichen Anliegen wer-
den. Ein solches Unterfangen kann aber nur erfolgreich
sein, wenn es gelingt, eine drogenfreie Wirtschaft aufzu-
bauen und den Bauern Alternativen zum Schlafmohnan-
bau aufzuzeigen und sie bei diesem Wechsel zu unter-
stützen, anstatt – wie es die Linke vorschlägt – den
Schlafmohnanbau auch noch zu legalisieren. Dass der
eingeschlagene Weg der richtige ist, beweisen die Fort-
schritte, die in den vergangenen Jahren bei der Drogen-
bekämpfung verbucht werden konnten. Hat auch der
Drogenanbau – gemessen an ganz Afghanistan – im ver-
gangenen Jahr weiter zugenommen, hat sich andererseits
die Anzahl der drogenfreien Provinzen von 6 auf 13
mehr als verdoppelt. Zwar hat in den restlichen 21 Pro-
vinzen der Drogenanbau weiter zugenommen, jedoch
lässt sich – betrachtet man die Sicherheitslage in den ein-
zelnen Provinzen – feststellen, dass zwischen Drogenan-
bau und Sicherheit eine Verbindung besteht. Je höher die
Sicherheit, desto größer der Erfolg der Drogenbekämp-
fung und umgekehrt.
Detlef Dzembritzki (SPD): Das Afghanistan-En-
gagement der Bundesregierung ist immer dann in den
Schlagzeilen, wenn es um die jährlichen Mandatsverlän-
gerungen im Herbst geht. Dies liegt vor allem an der Tat-
sache, dass der Parlamentsvorbehalt für Auslandsein-
sätze der Bundeswehr gilt, nicht aber für die zivile Seite
unseres Afghanistan-Einsatzes. Dadurch entsteht der
Eindruck, wir Parlamentarier seien nur an der militäri-
schen Seite der Mission interessiert. Doch liegt im zivi-
len Wiederaufbau – hier stimme ich dem Antrag der
Grünen zu – der eigentliche Schlüssel für eine langfristig
wirkende friedliche Entwicklung Afghanistans. Auch
wir sind der Ansicht, „die Gewichtung von Mitteln und
Personal kritisch zu hinterfragen und umfassend zu eva-
luieren“, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben. Wir haben
im Rahmen der Taskforce Afghanistan, unserer Arbeits-
gruppe der Fraktion, hierzu Vorschläge gemacht und
werden die Arbeit der Regierung auf diesem Wege auch
weiter konstruktiv begleiten. Ich lade die Vertreter der
Fraktion der Grünen ein, den gemeinsam begonnenen
Diskussionsprozess weiterzuführen und gemeinsam um
die besten Lösungen zu ringen.
Der Wiederaufbau Afghanistans stellt sich gleicher-
maßen als sicherheits- und entwicklungspolitische He-
rausforderung dar, auch wenn der zivile Beitrag und die
militärischen Ausgaben bisher noch in keinem ausgewo-
genen Verhältnis zueinander stehen, ich begrüße es aus-
drücklich, dass die Bundesregierung ihre Hilfe für das
laufende Jahr noch einmal von 100 Millionen – im Jahr
2007 – auf 140 Millionen Euro – im Jahr 2008 – erhöht
hat. Auch andere Partner, allen voran übrigens die USA,
leisten auf diesem Feld Erhebliches. Nicht zu vergessen
das bewundernswerte Engagement vieler Nichtregie-
rungsorganisationen, die unter schwierigsten Bedingun-
gen dem Land dabei helfen, in eine friedliche Zukunft zu
gehen. Auf der Grundlage einer aufgestockten Hilfe
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üssen die finanziellen Mittel und Instrumente des Af-
hanistan-Engagements jedoch besser aufeinander abge-
timmt und stärker zweckgebunden vergeben werden.
n dieser Stelle muss ich der pauschalen Forderung der
raktion der Grünen nach einer Erhöhung der zivilen
ilfsmaßnahmen auf 200 Millionen Euro eine Absage
rteilen. Wir sind zwar auch der Auffassung, dass es eine
chrittweise Anhebung geben muss. Ich verweise aber
uch darauf, dass wir die afghanische Regierung auch
tärker in die Pflicht nehmen müssen, mehr zu tun gegen
orruption und Misswirtschaft. Ich denke, die Konfe-
enz in Paris im Juni 2008 ist hierzu der richtige Ort und
er richtige Zeitpunkt.
Sie stellen in Ihrem Antrag weiterhin fest, dass viele
egmarken des Afghanistan Compact kaum mehr rea-
istisch seien und daher nachgebessert werden müssten.
a, die Ziele waren ambitioniert, teilweise sehr ambitio-
iert und in der Zeitperspektive vielleicht zu optimis-
isch. Ich nenne nur das Beispiel „Entwaffnung der op-
ositionellen militanten Kräfte“, die bis 2007
bgeschlossen werden sollte, oder den Justizaufbau, bei
em wir, die internationale Gemeinschaft, gemeinsam
it der afghanischen Regierung erheblich zulegen müs-
en. Die Tatsache, dass einige der im Afghanistan Com-
act niedergelegten Ziele nicht erreicht wurden, bedeutet
ür mich, dass diese Themen auf der Konferenz von Pa-
is angesprochen werden müssen. In einigen Punkten
uss der Afghanistan Compact eben nachjustiert, müs-
en Fristen und Ziele verlängert, muss die bisherige Ar-
eit überprüft und neu ausgerichtet werden. Die Paris-
onferenz darf keine ausschließliche Pledging-Konfe-
enz sein. Sie muss Bilanz ziehen und verbindlicher als
isher die weitere Umsetzung des Afghanistan Compact
eschließen. Dazu gehört, dass man sich über die not-
endigen personellen, und materiellen Ressourcen ver-
indlich verständigen muss, die bis 2011 zum Beispiel
ür den Aufbau von Polizei, Justiz und Armee, aber auch
en anderen staatlichen Infrastrukturen zur Daseinvor-
orge notwendig sind.
Auch wir setzen uns für eine bessere Koordinierung
er Hilfe ein, Hier müssen wir auch bestrebt sein, neue
nd unkonventionelle Wege zu gehen und pragmatisch
u handeln. Es kann nicht sein, dass es Hilfsangebote
nd Leistungen en masse gibt und die Mission daran
cheitert, dass Koordinierungsprobleme alles überlagern.
ass verstehen weder die Menschen in Afghanistan, die
uf einen langfristigen Frieden setzen, noch unsere eige-
en Wähler. Ich lade die Kolleginnen und Kollegen der
raktion der Grünen zu einem Dialog ein: Lassen Sie
ns weiter gemeinsam überlegen, was wir hier tun kön-
en, um unser Anliegen einer friedlichen Perspektive für
fghanistan voranzubringen – auch in puncto bessere
oordinierung. Zu einer aufrichtigen Prüfung gehört
ber auch, dass wir festhalten müssen: Ein einfaches
ehr an finanzieller Unterstützung wird es nicht brin-
en. Die Mittel müssen gezielt vergeben werden. Auch
ierüber wird in Paris zu reden sein. Die afghanische Re-
ierung muss ihren Beitrag für mehr Verbindlichkeit, Ef-
ektivität und Transparenz leisten sowie mit der interna-
ionalen Gemeinschaft insbesondere das Krebsgeschwür
es Drogenproblems angehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16655
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Überhaupt sollten wir das Problem des Staatsaufbaus
stärker in den Fokus rücken. Ein funktionierender Staat,
Gewaltenteilung, eine funktionierende Justiz und Polizei
dies alles sind Voraussetzungen, die eine Bekämpfung
des Drogenproblems erst möglich machen. Dabei ist die
scheinbar einfache Lösung, den angebauten Mohn für
medizinische Zwecke zu verwenden, ein Vorschlag, mit
dem wir uns auch beschäftigt haben, der aber aus unserer
Sicht nicht zum Ziel führt. Diese Maßnahme würde das
Problem nur verlagern und lediglich zeitlich verschie-
ben. Neben einem kleinen, legalen und staatlich kontrol-
lierten Markt für Mohn würde der illegale Markt weiter
existieren. Es bestünde weiterhin kein Grund, auf alter-
native Produkte umzusteigen.
Beim Thema Drogenbekämpfung hilft nur eine lang-
fristige Strategie, bei der wir aus den positiven Beispie-
len wie Thailand lernen können und – lassen Sie mich
das gleich dazusagen – bei dem wir einen sehr langen
Atem benötigen. Zum Maßnahmenpaket gehört übrigens
auch eine Drogenpolitik bei uns. Schließlich werden die
verarbeiteten Opiumprodukte vornehmlich hier in den
westlichen Industrieländern konsumiert. Wirksam ist al-
lein eine langfristige Strategie. Ein staatliches Programm
zum legalen Mohnanbau wie von der Linksfraktion ge-
fordert, würde nach unseren Erkenntnissen überhaupt
nichts an den Abhängigkeiten ändern. Schließlich sind
viele Bauern durch die Pacht im Voraus bei Drogenbaro-
nen enorm verschuldet und somit auf Jahre gezwungen,
Opium anzubauen. Es gehört zu einer umfassenden Stra-
tegie, die Drogenbarone zu bekämpfen und auch diejeni-
gen, die in Verwaltung, Ministerien, im Parlament Kon-
takte zu diesen Händlern unterhalten, ihrer Aufgaben zu
entheben. Auch dies werden wir unseren afghanischen
Partnern auf allen Ebenen immer wieder sagen: Hier
sind sie in der Pflicht, mehr zu tun.
Es gibt eine enge Verflechtung der Drogenökonomie
mit den Taliban. In einigen Regionen, insbesondere in
Helmand, sind die Taliban für die Bauern Erpresser und
Schutzmacht zugleich. Deshalb gilt es, auch durch mili-
tärische Präsenz Sicherheit zu schaffen. Die Bauern wer-
den dauerhaft nur dann auf den Mohnanbau verzichten
können, wenn sie Alternativen haben und wenn sie sich
sicher sind, dass die internationale Gemeinschaft mittel-
fristig für Sicherheit sorgt; eine Aufgabe, die langfristig
von der afghanischen Polizei übernommen werden
muss. Deshalb ist es so wichtig, Justiz, Polizei und Ar-
mee zügig auszubauen. Ein Großteil der Ausbildung der
Armee seitens der Vereinigten Staaten läuft übrigens un-
ter dem Mandat Operation Enduring Freedom, über das
wir hier schon häufig kontrovers diskutiert haben.
Die einseitige Vernichtung von Anbauflächen – da
sind wir uns einig – führt uns nicht weiter. Sie beraubt
die Bauern ihrer Existenz und treibt viele von ihnen in
die Arme der Neo-Taliban. Wir sind bei diesem Thema
in intensivem Kontakt mit unseren Verbündeten und
werden uns dafür einsetzen, dass hier ein Umdenkungs-
prozess bei den Amerikanern einsetzt.
Lassen Sie mich zum Schluss einen Punkt ansprechen,
den auch Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion der Grünen, angesprochen haben: die Parti-
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ipation und Eigenverantwortung der Afghanen. Es muss
berstes Prinzip aller unserer Bemühungen des afghani-
chen Wiederaufbaus sein, die Partner vor Ort einzubin-
en, zu fördern, auszubilden und ihnen Stück für Stück
igene Verantwortung zu übereignen. Gut bewährt haben
ich die Projekte des afghanischen Solidaritätspaktes,
eil sie eng mit afghanischen regionalen Verantwor-
ungsträgern entwickelt und durchgeführt werden. Neben
er Verbreiterung der Entwicklungsprojekte müssen so-
enannte Leuchtturmprojekte realisiert werden: Der po-
itive Effekt solcher weithin sichtbaren Projekte hat in
fghanistan einen nicht zu unterschätzenden Effekt. Das
eitererzählen spielt besonders in einem Land mit einer
nalphabetenrate von circa 70 Prozent eine wichtige
olle. Auch der Wiederaufbau einer Moschee oder eines
heaters hat dabei eine große Symbol- und Signalwir-
ung.
Die Verwirklichung afghanischer Eigenverantwor-
ung ist das entscheidende Ziel, so auch festgehalten im
fghanistan Pakt. Da die staatlichen afghanischen Insti-
utionen wie die Justiz, das Parlament die Schulen und
niversitäten, die Ministerien, die Verwaltung, die Poli-
ei und Armee trotz einiger beachtlicher Erfolge noch
icht aus eigener Kraft tragen, wird Afghanistan auf die-
en Feldern noch für einen längeren Zeitraum auf unsere
ilfe im zivilen und militärischen Bereich angewiesen
ein.
Harald Leibrecht (FDP): Die sich selbst tragende
tabilisierung Afghanistans, sodass der internationale
errorismus dort nie wieder Unterschlupf finden kann,
leibt das vorrangige Ziel auch unserer Afghanistan-
olitik. Je schneller der Wiederaufbau Afghanistans vo-
anschreitet, desto eher kann auch ernsthaft an eine soge-
annte Exit-Strategie gedacht werden.
Dass Sicherheit und Wiederaufbau Hand in Hand ge-
en, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Dass es in
fghanistan – ich rede hier nicht nur über den Süden
nd Osten – landesweit Gebiete gibt, die nicht frei zu-
änglich sind, weil dort Warlords, Drogenbarone und
aliban herrschen, hat natürlich unmittelbare Auswir-
ungen auf die Wiederaufbaubemühungen. Umso wich-
iger ist es, dass wir die Afghanen in die Lage versetzen,
umindest im polizeilichen Bereich schnellstmöglich die
icherheit im eigenen Land zu garantieren. Hier kom-
en wir dann eben auch an jenen Punkt, wo die Bundes-
egierung endlich handeln muss, wo sie die über die
ahre hinweg immer neu aufgelegten Versprechen zum
ufbau der afghanischen Polizei auch erfüllen muss.
Deutschland ist seit 2001 Führungsnation im diesem
ereich. Im Bericht der Bundesregierung aus dem Jahre
004 hieß es zu dem Thema noch: Die USA und
eutschland haben mit der Ausbildung des einfachen af-
hanischen Polizeidienstes landesweit begonnen. –
eute, 2008, beschränkt die Bundesregierung ihre Tätig-
eit in diesem Bereich auf die Beratung des afghani-
chen Innenministeriums und die Schulung von Füh-
ungspersonal. Einzig deutsche Feldjäger, also Soldaten,
bernehmen im Norden noch einen kleinen Teil der not-
endigen Polizeiausbildung an der Basis. Das ist ein-
16656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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deutig zu wenig. „Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau
und Entwicklung – Kein Wiederaufbau und keine Ent-
wicklung ohne Sicherheit“ – leider gibt es diesen ver-
netzten Ansatz nur auf dem Papier, nicht jedoch in der
Realität.
Hinzu kommt: Die Zahlen, die die Bundesregierung
im Bereich des Polizeiaufbaus immer wieder vollmundig
verkündet, sind im Grunde verschwindend klein, wenn
man sie in Relation zur Größe des Landes und im Ge-
samtkontext betrachtet. 40 Polizisten schicken wir offi-
ziell jedes Jahr nach Afghanistan. Ich wiederhole: 40.
Hinzu kommt, dass in der Realität immer nur ein Teil da-
von vor Ort ist. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass
sich die Bundesregierung mit der Aufgabe der Polizei-
ausbildung in Afghanistan ver- und überschätzt hat, liegt
in der Übertragung dieser Aufgabe auf die europäische
Ebene. Deutschland muss endlich seinen selbst auferleg-
ten Verpflichtungen in Afghanistan richtig nachkom-
men, sonst machen wir uns unglaubwürdig.
Wir brauchen in Afghanistan nicht nur sich selbst tra-
gende Sicherheit, sondern auch einen sich selbst tragen-
den zivilen Aufbau. Mit unserer Hilfe müssen wir die
Afghanen in die Lage versetzten, dass sie zum Beispiel
Schulen und eine echte Infrastruktur selbst bauen kön-
nen. Wenn im Juni in Paris eine weitere Afghanistan-
Konferenz stattfinden wird, dann sollte man sich dort
noch einmal kritisch mit dem Afghanistan-Compact aus-
einandersetzen und prüfen, ob die genannten Ziele wirk-
lich realistisch und erreichbar sind. Es ist zwar richtig,
dass mittel- und langfristig die afghanische Regierung
die Verantwortung für das Land übernehmen muss, aber
wir dürfen uns hinter dem „afghan ownership“ auch
nicht verstecken.
Insgesamt gibt es leider immer noch weitaus mehr
Fragen als Antworten, was die Aufbauarbeit und die
Entwicklung in Afghanistan betrifft. Die Zeit drängt.
Wie sprach Goethe in seinem Faust so treffend? – Der
Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich
Taten sehn! Indes ihr Komplimente drechselt, kann et-
was Nützliches geschehn.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Der Krieg gegen Af-
ghanistan, den die Grünen 2001 selbst mit eingeleitet ha-
ben, hat nicht zu einer friedlichen Entwicklung des Lan-
des geführt, sondern zu anhaltender Gewalt und der
Verstetigung von wirtschaftlichem und sozialem Elend.
Er hat auch keine breiten gesellschaftlichen Emanzipa-
tionsprozesse in Gang gesetzt, wie unter anderem von
den Grünen angekündigt, sondern die Menschen in Af-
ghanistan vielfach neuen Bedrohungen ausgesetzt. Zu
den Taliban – so hat Oxfam jüngst die Wahrnehmung der
Afghaninnen und Afghanen im Rahmen der Studie
„Communitiy Peacebuilding“ in Afghanistan gemessen
– kommt die Bedrohung durch lokale Warlords, Krimi-
nelle und Drogendealer, aber auch durch die internatio-
nalen Truppen selbst.
Immerhin – die Grünen reden in ihrem Antrag die Er-
gebnisse der von ihnen ansonsten unterstützten Militär-
mission nicht schön und weisen auf die vielen damit ver-
bundenen oder zumindest durch sie nicht gelösten
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robleme hin. Ich kann da einen Fortschritt gegenüber
rüheren Verlautbarungen erkennen. So stellen die Grü-
en endlich auch den früher durch ihre eigenen Reprä-
entanten vehement vertretenen Ansatz der sogenannten
ivil-militärischen Zusammenarbeit und auch die Regio-
alen Wiederaufbauteams – PRTs – in Afghanistan in-
rage. Das ist mehr als angebracht. Bereits vor anderthalb
ahren haben Fachleute von Entwicklungsorganisationen
n einer Anhörung im Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
ammenarbeit und Entwicklung auf die massiven Pro-
leme mit diesem Ansatz hingewiesen.
In Afghanistan sind die negativen Konsequenzen des
ivil-militärischen Ansatzes im Rahmen von ISAF deut-
ich erkennbar. Aufgrund der engen Anbindung humani-
ärer und ziviler Organisationen an die militärischen
trukturen – Bereitstellung von Infrastruktur, Vermitt-
ungstätigkeiten, Bereitstellung von Geldern – sind diese
rganisationen für die Bevölkerung häufig nicht mehr
indeutig von den militärischen Einheiten zu unterschei-
en. Zivile Akteure büßen somit Anerkennung und ihre
eutralität ein und werden selbst zum Ziel von Anschlä-
en. Als Folge dieser „Infizierung“ ziviler Hilfsprojekte
urch das Militär haben zahlreiche Hilfsorganisationen
hre Arbeit nicht mehr oder nur noch stark eingeschränkt
eiterführen können und sich aus Afghanistan bzw. der
etreffenden Region zurückziehen müssen.
Die Projekte zivil-militärischer Zusammenarbeit in
fghanistan, die Provincial Reconstruction Teams
PRT –, werden zudem in ihrem Impact überschätzt.
as Ergebnis einer Auswertung von 40 Studien zu PRTs
urch das Institut für Entwicklung und Frieden – INEF –
er Universität Duisburg-Essen und andere attestiert
eine schwache oder gar keine feststellbare Effizienz“
er PRTs im Hinblick auf die Ziele Sicherheit, Stabilisie-
ung, Institutionenbildung und Wiederaufbau. Die Aus-
aben für die zivile und militärische Komponente sind
uch hier einseitig zugunsten des Militärs verteilt – zum
eispiel beim PRT Kunduz in 2004 im Verhältnis von
:1. Es gibt bisher keine Analysen, die den Erfolg, der
en PRTs immer wieder unterstellt wird, untermauern.
nsbesondere gibt es keine Evaluierung seitens der Bun-
esregierung. Hier unterstützen wir die Forderung der
rünen, eine solche vorzulegen.
Je mehr Geld man in den militärischen Bereich inves-
iert, desto weniger bleibt für die zivile Entwicklung üb-
ig. Allein die USA haben für ihr militärisches Engage-
ent in Afghanistan seit 2001 127 Milliarden US-Dollar
usgegeben. Währenddessen warten die Afghaninnen
nd Afghanen nach einem Bericht der ARD von Ende
ärz auf die Auszahlung eines großen Teils der von den
estlichen Gebern versprochenen zivilen Unterstüt-
ungsleistungen. Von den versprochenen 25 Milliarden
S-Dollar sind bislang nur 15 Milliarden tatsächlich in
fghanistan angekommen, und davon flossen
0 Prozent unter anderem in Form von Unternehmens-
ewinnen und Beratergehältern wieder zurück in die Ge-
erländer. Zivile Krisenbearbeitung muss zivil formu-
iert werden. Zivile Instrumente müssen entsprechend
usgestattet, oft überhaupt erst entwickelt werden. Zivile
rojekte müssen in zivile Hände gelegt werden, wo die
ntsprechende Expertise und die langfristige Orientie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008 16657
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rung für das Erreichen struktureller Veränderungen vor-
handen sind und nicht tagesaktuelle Interessen und mili-
tärstrategische Überlegungen dominieren.
Für eine effektive Aufbauhilfe wäre wesentlich, dass
lokale Akteurinnen und Akteure viel stärker einbezogen
werden, als das im Rahmen der zivil-militärischen Zu-
sammenarbeit praktiziert wird bzw. möglich ist. Die un-
terschiedlichen vorhandenen Interessen müssen sich arti-
kulieren und in einen Austausch gebracht werden. Mehr
Partizipation muss organisiert werden. Viel mehr Men-
schen müssen in die Suche nach Lösungen für eine zivile
Krisenprävention einbezogen werden.
Das ist erstens der Anspruch der UN-Resolution 1325
für eine stärkere Beteiligung von Frauen auf allen Ebe-
nen der institutionellen Verhütung, Bewältigung und
Beilegung von Konflikten, den es endlich einzulösen
gilt, und das ist für Die Linke zweitens auch eine
Schlussfolgerung aus der Oxfam-Studie, derzufolge die
– potenziell – gewaltträchtigen Konfliktfelder in Afgha-
nistan so unterschiedlicher Natur sind wie die Wahrneh-
mung der Gewaltakteure durch die Bevölkerung. Großes
Konfliktpotenzial wird solchen Auseinandersetzungen
zugeschrieben, die auf der lokalen Ebene zum Beispiel
um den Zugang zu Wasser und Land oder in bzw. zwi-
schen familiären oder Clan-Strukturen ausgetragen wer-
den. Zugleich weist Oxfam darauf hin, dass die Afgha-
ninnen und Afghanen zur Schlichtung von Konflikten
vorzugweise auf traditionelle Schlichtungsformen zu-
rückgreifen und sich an ihre lokalen Autoritäten, wie die
Ältestenräte, wenden. Hier müssen wir ansetzen.
Entwicklung in Afghanistan kann nicht gegen die Af-
ghaninnen und Afghanen durchgesetzt werden, sondern
nur mit ihnen und vor allem durch sie. Das möchte ich
abschließend anhand unseres Vorschlags erläutern,
Chancen für einen lizenzierten Mohnanbau zu eröffnen.
Angesichts immer neuer Rekordernten ist doch offen-
sichtlich, dass die bisherigen Strategien der Drogenbe-
kämpfung, die entweder ganz direkt repressiv ausgerich-
tet waren – USA – oder Repression mit Substitution
verbanden, wie die der EU, gescheitert sind. Aus dem il-
legalen Drogenanbau speist sich der anhaltende Krieg.
Deshalb schlägt Die Linke vor, Möglichkeiten zu prü-
fen, den legalen lizenzierten und kontrollierten Anbau
von Mohn zu medizinischen Zwecken zu fördern, und die-
sen Anbau in eine Strategie zur diversifizierten regionalen
Entwicklung des ländlichen Raums zu integrieren. Es gibt
Vorbilder für eine solche Maßnahme; darauf verweisen wir
in unserem Antrag. Ziel muss sein, die Bäuerinnen und Bau-
ern aus der Abhängigkeit von Drogendealern und Warlords
zu befreien, ohne sie ihrer wirtschaftlichen Grundlagen zu
berauben.
Wenn es stimmt, dass das größte Gewaltpotenzial in
Konflikten um lokale ökonomische Ressourcen liegt und
in besonderem Maße von den Drogenbaronen ausgeht,
wäre der lizenzierte und kontrollierte Mohnanbau in
meinen Augen eine lokal angepasste Maßnahme, eine
friedliche und sozial nachhaltige Entwicklung in den
ländlichen Räumen Afghanistans einzuleiten.
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Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die öf-
entliche Debatte zu Afghanistan verläuft erneut und
iederholt in den typischen Bahnen: Die Unionsparteien
vorneweg in bajuwarischer Wahlkampflaune CSU-
andesgruppenchef Ramsauer – diskutieren über eine
xit-Strategie am Hindukusch. Die SPD fordert im Ein-
lang mit dem Bundeswehr-Verband mehr Soldaten für
fghanistan. Parallel dazu gibt es Nachrichten, dass bei
iner Anschlagsserie im Süden und Südosten Afghanis-
ans viele Todesopfer zu beklagen sind, darunter viele
olizisten.
Die Meldung der Hilfsorganisation Care Internatio-
al, dass der Mädchenanteil in den Schulen Afghanis-
ans viel zu gering ist, geht dabei völlig unter. Care Inter-
ational berichtet, dass zwar die Zahl der Schüler in
fghanistan insgesamt steigt, was ich als ein positives
rgebnis der zivilen Anstrengungen begrüße, jedoch der
ädchenanteil nicht mitwächst, sondern bei 35 Prozent
onstant verharrt. Hinzu kommt, dass nur 28 Prozent al-
er Lehrer in Afghanistan weiblich sind und zumeist
uch nur in Städten unterrichten. Viele Eltern in der Isla-
ischen Republik Afghanistan zögern aber, ihre Töchter
on einem Lehrer unterrichten zu lassen, oder schicken
hre Töchter nicht in die Schule, da der Weg zu weit und
nsicher ist. Bildungsarbeit und Capacity-Building unter
em Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit sind aber aus-
esprochen wichtig für die Zukunft des Landes und be-
ürfen größter Aufmerksamkeit bei unseren Anstrengun-
en in Afghanistan. Wir brauchen mehr Mädchen in den
chulklassen Afghanistans!
Ich möchte drei Dinge feststellen: Erstens. Die De-
atte um Afghanistan verengt sich immer wieder auf
ine Debatte über militärische Kapazitäten und Mandats-
renzen. Zweitens: Nur Schreckensmeldungen aus Af-
hanistan werden in Deutschland wahrgenommen. Drit-
ens. Eine Auseinandersetzung über die Ziele, Kriterien
nd die strategische Ausrichtung der zivilen, insbeson-
ere der entwicklungspolitischen Aufbauarbeit findet
icht statt.
Wir Grünen haben deswegen diesen Antrag in den
eutschen Bundestag eingebracht. Wir fordern eine öf-
entliche Auseinandersetzung über die entwicklungspo-
itischen Möglichkeiten und Ziele und vor allem: Wir
ordern einen Wechsel in der Afghanistan-Politik der
undesregierung. Wir müssen weg von der Dominanz
es militärischen – hin zu einer massiven Stärkung der
ivilen Aufbau- und Friedensarbeit.
Dazu gehört die sofortige Aufstockung der deutschen
eiträge für die zivile Aufbauarbeit auf mindestens
00 Millionen Euro in diesem Jahr. Wir fordern die Bun-
esregierung auf, dem Deutschen Bundestag einen Stu-
enplan mit klaren, mess- und überprüfbaren Etappen-
ielen für die deutsche Aufbauarbeit vorzulegen. Wir
ordern auch, einen jährlichen Bericht über die Verwen-
ung der entwicklungspolitischen Mittel vorzulegen,
nd wir rufen die Bundesregierung auf, dem Parlament
is Ende des Jahres eine Evaluierung der Arbeit der
eutschen Provincial Reconstruction Teams, PRTs, vor-
ulegen. Uns geht es nicht um eine rein quantitative Ver-
16658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 157. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
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besserung der Aufbauarbeit. Im Zentrum steht für uns
die qualitative Verbesserung.
Lassen Sie uns über die Strategie und Ziele der Auf-
bauarbeit in Afghanistan sprechen. Für uns ist es
elementar, dass die afghanische Eigenverantwortung
– Ownership – mit allen Maßnahmen gestärkt wird. Es
darf nicht länger sein, dass ohne Abstimmung mit und
ohne Beteiligung der Bevölkerung Aufbauarbeit durch-
geführt wird. Es ist richtig und notwendig, bei allen ak-
tuellen Problemen, dass die Afghanen in die Lage ge-
bracht werden, selbstständig und eigenverantwortlich zu
handeln. Dazu gehört auch, dass stärker als bisher Gel-
der der internationalen Gemeinschaft über die afghani-
sche Regierung umgesetzt werden. Die Stärkung der af-
ghanischen Kapazitäten, der weitere systematische
Aufbau effizienter Institutionen dürfen nicht vernachläs-
sigt werden. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass dies vor
dem Hintergrund mangelnder Kapazitäten und steigen-
der Korruption eine schwierige und komplizierte Auf-
gabe ist – und dennoch muss das Fernziel immer im
Blick bleiben: der afghanischen Bevölkerung ihr Land
wieder voll und ganz zurückzugeben.
Viele Fehler sind in den letzten fünf Jahren gemacht
worden, wertvolle Zeit ist verstrichen. Eine spürbare
Verbesserung der Lebenssituation für weite Teile der Be-
völkerung in allen Teilen des Landes ist bis heute ausge-
Strategie zu bestimmen, eine Strategie, die kohärent,
transparent und langfristig angelegt ist.
Das heißt aber auch, dass wir nie nachlassen dürfen,
den inneren Problemen und Schwierigkeiten in diesem
Land unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Wir müssen
im entwicklungspolitischen Ausschuss ganz besonders
darauf achten, uns regelmäßig über die Lage im Land
und die Fortschritte zu informieren. Deswegen wollen
wir auch den jährlichen Bericht, weil die Vergangenheit
lehrt, dass es ein Trugschluss war, zu glauben, die Dinge
in Afghanistan würden sich zum Guten wenden, auch
ohne dass wir unsere eigenen Handlungsansätze immer
und immer wieder überprüfen. Wenn ich an die Fehler
und Mängel in der Polizeiausbildung denke, dann ist
höchste Selbstkritik angesagt. Aber auch in anderen Be-
reichen des zivilen Aufbaus muss die Lernkurve nach
oben zeigen.
Kernpunkte müssen aus unserer Sicht sein: erstens
Bildung, Bildung und nochmals Bildung, zweitens lang-
fristig angelegte Frauen- und Geschlechterpolitik, um
Integration und Gleichstellung voranzubringen – hier ist
hohe Sensibilität, aber auch Hartnäckigkeit angesagt –,
drittens der ökonomische Aufbau des Landes. Deutsch-
land hat hier eine Führungsrolle übernommen. Es gibt
mit der Zuckerfabrik in Baghlan gute Ansätze, aber den-
noch geschieht insgesamt zu wenig. Daher meine Frage:
Welche Ziele sollen anvisiert werden, und wie können
blieben. Warum? Weil die internationale Gemeinschaft
ihr Engagement mit überzogenen Erwartungen, man-
gelnder Einsicht in die afghanischen Strukturen und
ohne eine einheitliche, kohärente Strategie begonnen
hat. Wir stellen fest: Die internationale Staatengemein-
schaft ist aufgerufen, aus ihren Fehlern zu lernen und
jetzt mit Realismus eine neue entwicklungspolitische
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ie Aufgaben der Zukunft gestaltet werden? Die Bun-
esregierung lässt eine klare Linie für einen Kurswech-
el in Afghanistan vermissen. Mit unserem Antrag wird
lar: Wir Grüne sind die politische Kraft im Deutschen
undestag, die den Kurswechsel hin zum zivilen Engage-
ent einfordert, definiert und sich kritisch damit ausein-
ndersetzt.
157. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 24. April 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16