2) Anlage 11
überweisen. – Damit sind Sie wiederum einverstanden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15937
(A) (C)
(B) (D)
absicherung einzuführen. Ich kann mir aber ehrlich ge-
Schultz (Everswinkel), SPD 13.03.2008
ganz zu schweigen. Ihr Antrag gibt darauf überhaupt
keine Antworten. Die Forderungen, die Sie erheben, sindReinhard
sagt nicht vorstellen, wie das im derzeitigen Kongo,
Guinea, Niger, Burkina, Tschad, Sudan und vielen ande-
ren funktionieren soll. Das sind Gesellschaften, in denen
es am Solidargedanken noch fehlt, von den Finanzen
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 13.03.2008
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Ackermann, Jens FDP 13.03.2008
Bülow, Marco SPD 13.03.2008
Caspers-Merk, Marion SPD 13.03.2008
Dr. Däubler-Gmelin,
Herta
SPD 13.03.2008*
Dreibus, Werner DIE LINKE 13.03.2008
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 13.03.2008
Golze, Diana DIE LINKE 13.03.2008
Groneberg, Gabriele SPD 13.03.2008
Großmann, Achim SPD 13.03.2008
Günther (Plauen),
Joachim
FDP 13.03.2008
Hintze, Peter CDU/CSU 13.03.2008
Hochbaum, Robert CDU/CSU 13.03.2008
Dr. Lauterbach, Karl SPD 13.03.2008
Lintner, Eduard CDU/CSU 13.03.2008*
Nitzsche, Henry fraktionslos 13.03.2008
Paula, Heinz SPD 13.03.2008
Pflug, Johannes SPD 13.03.2008
Piltz, Gisela FDP 13.03.2008
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 13.03.2008
Raidel, Hans CDU/CSU 13.03.2008
Roth (Esslingen), Karin SPD 13.03.2008
Schily, Otto SPD 13.03.2008
Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 13.03.2008
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Entwicklungs- und Schwellenländer
verstärkt beim Aufbau und bei Reformen von
sozialen Sicherungssystemen unterstützen und
soziale Sicherung als Schwerpunkt der deut-
schen Entwicklungszusammenarbeit implemen-
tieren (Tagesordnungspunkt 6)
Dr. Karl Addicks (FDP): Bei der Abstimmung über
den Antrag der Koalition werden wir uns heute der
Stimme enthalten. Mehr ist nicht drin, wir wollen damit
auch nur signalisieren, dass wir die Aufgabe erkannt ha-
ben, aber Ihrem Antrag nicht folgen mögen. Dieser An-
trag enthält viel Wunschdenken, viele richtige Erkennt-
nisse, aber so gut wie keine Folgerungen, wie es denn
nun wirklich gehen soll. Immerhin haben Sie, Herr
Riester, in Ihrer letzten Rede dazu keinen Zweifel offen
gelassen über die Riesigkeit der Aufgabe, eine Aufgabe,
die nach Ihren Worten das bisherige Verständnis von
Entwicklungspolitik überschreitet. Da kann ich Ihnen
nur zustimmen. Aber dennoch muss ja irgendwann ir-
gendwie angefangen werden.
Damit wir uns da richtig verstehen: Ich spreche hier
nicht von den Schwellenländern, in denen zum Teil ein-
fache Systeme der sozialen Sicherung, wenn auch nur
für erlauchte Kreise, bereits existieren. Ich spreche hier
und heute von der Riesenaufgabe, in den afrikanischen
Subsahara-Entwicklungsländern eine existenzielle Basis-
Steinbach, Erika CDU/CSU 13.03.2008
Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 13.03.2008
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 13.03.2008*
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
15938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
nichts als Allgemeinplätze, da kann man sich anschlie-
ßen.
Haben Sie denn mal eine Anhaltszahl, was es kosten
würde, zum Beispiel im Niger mit 13 Millionen Einwoh-
nern und einem Haushaltsvolumen von circa 700 Millio-
nen Dollar eine Minimalabsicherung einzuführen? Und
mit welchen Leistungen?
Sie schreiben in Ihrem Antrag, es sei bisher in der
Entwicklungszusammenarbeit zu viel Wert auf die wirt-
schaftliche Entwicklung dieser Länder gelegt worden.
Also, ich möchte davor warnen, nun die wirtschaftliche
Entwicklung zugunsten der sozialen Systeme zu dros-
seln. Die ist doch meistens sowieso schon zu gering.
Und die wollen Sie noch weiter zurückfahren? Das wäre
ein ganz großer Fehler. Im Grunde kann der Aufbau von
Solidarsystemen einzig und allein synchron erfolgen wie
alle anderen Fördermaßnahmen auch, dann wird ein
Schuh draus. Wobei natürlich eine stärkere Wirtschafts-
entwicklung am ehesten eine Finanzierung von einfa-
chen Sozialsystemen ermöglichen wird.
Mit dieser Erkenntnis stehen wir auch nicht allein, das
sehen andere genauso wie wir, zum Beispiel die UN.
Ausgehend von kleinsten Ansätzen muss der Aufbau
dieser Systeme mit der Wirtschaftsentwicklung Hand in
Hand gehen. Und damit muss tatsächlich bald angefan-
gen werden. Die Aufgabe wird durch Zuwarten nicht
kleiner, sondern größer. Aids, Malaria, Tuberkulose und
die anderen Epidemien warten nicht, bis da etwas pas-
siert ist.
Wir werden in den nächsten Jahren, wenn wir unsere
ODA-Quote erfüllen wollen, einen kräftigen Aufwuchs
an Mitteln haben, aber auch der wird nur ein Tropfen auf
den heißen Stein gegenüber der immensen Größe der
Aufgabe sein. Wenn Sie davon 60 Prozent Budgethilfe
vergeben wollen, dann, das kann ich Ihnen jetzt schon
sagen, wird für eine existenzielle Solidarabsicherung
kaum mehr was übrig bleiben. Aber wir wollen jetzt
nicht schon wieder über Budgethilfe streiten. Ich gebe
das nur zu bedenken.
Und wie soll das gehen mit dem informellen Sektor,
der in manchen Ländern 80 oder sogar 90 Prozent der
Wirtschaft ausmacht? Wie soll denn ein soziales Siche-
rungssystem aufgebaut werden in Ländern, wo der
größte Teil der Bevölkerung nicht einmal einen Geburts-
schein oder Ausweispapiere oder irgendeine sonstige
Legitimation hat?
Soll das zuerst nur für Arbeitsplatzinhaber gelten oder
von Anfang an auch für den informellen Sektor? Ich
kann mir nicht vorstellen, dass das für alle gleichzeitig
machbar ist. Auf der anderen Seite könnte auch niemand
ausgeschlossen werden.
Dass man da das deutsche System nicht einfach über-
tragen kann, das ergibt sich eigentlich von selbst. Aber
die Kollegin Pfeiffer hielt unser System in ihrer letzten
Rede noch für einen Exportschlager. Also, da habe ich so
meine Bedenken.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen
– Antrag: Mehr Dynamik und mehr Wettbe-
werb für die deutsche Volkswirtschaft – Ent-
flechtungsregelung in das Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen und europäi-
sches Recht integrieren
(Tagesordnungspunkt 8 a und b)
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Werte Abgeordnete
der FDP, „Mehr Dynamik und mehr Wettbewerb für die
deutsche Volkswirtschaft“ überschrieben Sie ihren letz-
ten Antrag zum Thema Entflechtung. Lassen Sie mich
eines klarstellen – hier liegen wir auf einer Linie –: Auch
die CDU/CSU tritt ein für freien und fairen Wettbewerb.
Wettbewerb ist gut, Wettbewerb sichert den Wohlstand,
die Kreativität, die Innovation und letztlich den Erfolg
der deutschen Marktwirtschaft.
Zunächst eine grundsätzliche Anmerkung: Wir be-
trachten die Vorteile von Wettbewerb immer zu einseitig
aus Verbrauchersicht. In vielen Bereichen haben sich
aber inzwischen Markt- und Machtstrukturen ergeben,
die aus Sicht des Verbrauchers vielleicht noch akzepta-
bel sind, keinesfalls aber aus Sicht der Zulieferer. Neh-
men Sie zum Beispiel den Lebensmittelsektor. Gewiss,
gemessen am Einkommen sind die Ausgaben für Le-
bensmittel in Deutschland nicht hoch. Die Konzentration
hat hier – noch – keine auffälligen Nachteile für den Ver-
braucher. Die Lieferanten sind die Leidtragenden. Der
Mittelstand blutet aus. Der Preisdruck verschlechtert die
Qualität und erhöht die Risiken. Das alles haben wir
über Jahrzehnte nicht im Blick gehabt und haben eigent-
lich vergessen, was Ludwig Erhard mit „Wohlstand für
alle“ im Blick hatte. Auch das ist eine Entwicklung, über
die wir nachdenken müssen.
Gerne will ich mich hier – wie die Antragsteller – auf
den Energiesektor konzentrieren. Hohe Energiepreise
belasten die Verbraucherinnen und Verbraucher und ge-
fährden die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft.
Der Bundeswirtschaftsminister Michael Glos hat das
klar erkannt, mutig thematisiert und ist das Problem ent-
schlossen angegangen. Der Weg zum funktionierenden
Wettbewerb muss ein wohl durchdachter sein. Eine er-
zwungene Eigentumsentflechtung ist derzeit keine prak-
tikable Lösung. Dazu zwei Gründe:
Erstens. Eine verordnete Entflechtung ist ein unver-
hältnismäßiger Eingriff in die Eigentumsverhältnisse der
Stromversorger: Mit großer Sicherheit hätte eine derart
drastische Maßnahme langwierige und harte juristische
Auseinandersetzungen zur Folge, die sich leicht über
mehrere Jahre hinziehen könnten. Die sich daraus erge-
bene Rechtsunsicherheit würde nicht nur im Bereich der
Stromproduktionen zu einem Investitionsstau führen –
gerade in den dringend notwendigen Netzausbau würde
wohl kaum ein großes Unternehmen mehr investieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15939
(A) (C)
(B) (D)
Möchten Sie wirklich den Zerfall der deutschen Energie-
versorgung verantworten müssen? Noch sind wir Welt-
meister in Sachen Versorgungssicherheit.
Zweitens. Keine deutschen Alleingänge in Europa: Es
muss eine für alle gangbare Lösung für ganz Europa ge-
funden werden. EU-Kommissionspräsident Barroso be-
harrt auch weiterhin auf der von ihm geforderten eigen-
tumsrechtlichen Aufspaltung in getrennte Unternehmen
für Produktion und Netzbetrieb. Wir müssen einer EU-
Entscheidung jetzt nicht zuvorkommen. Wenn Deutsch-
land voreilig und im Alleingang dem deutschen Kartell-
amt die Möglichkeit gibt, marktbeherrschende deutsche
Unternehmen zu entflechten, hätte dies wohl fatale Aus-
wirkungen auf die Positionierung der deutschen Strom-
wirtschaft gegenüber der europäischen Konkurrenz. So-
lange es keine europäische Regelung gibt, würden
Investitionen abwandern und sowohl Produktionskapazi-
täten als auch Arbeitsplätze in Deutschland verloren ge-
hen. Internationale Konzerne würden ihren Strom zu-
künftig in den Grenzregionen um Deutschland herum
produzieren, um diesen später in Deutschland teuer zu
verkaufen. Bei Betreibern von Kernkraftwerken ist diese
Tendenz durch eine verstärkte Bautätigkeit in Grenzre-
gionen – wenn auch aus anderen Gründen – bereits heute
zu belegen.
Fazit: Erst wenn alle anderen Maßnahmen gescheitert
sind, darf der Staat es wagen, in das Eigentumsrecht der
Bürger einzugreifen, um den Wettbewerb zu sichern –
als Ultima Ratio also. Davon kann jedoch heute nicht die
Rede sein. Vielmehr befinden wir uns – nicht zuletzt
dank des Einsatzes unseres Bundesministers Glos – auf
dem richtigen Weg. Wir arbeiten derzeit an der Umset-
zung eines konzeptionell durchdachten Gesamtkonzepts,
das Ihnen allen bekannt sein dürfte. Auch gegen den
massiven Widerstand so mancher Konzerne wird dieses
Paket Schritt für Schritt umgesetzt: Der Netzzugang und
der Netzanschluss sind gesetzlich gewährleistet und kön-
nen durch Entscheidungen der Bundesnetzagentur und
vor Gericht durchgesetzt werden. Infolge der Regulie-
rung der Netzentgelte sind die Netzkosten durch Verfü-
gungen der Bundesnetzagentur um bis zu 20 Prozent ab-
gesenkt worden.
Auch haben wir bereits heute eine Form der Entflech-
tung im Energiebereich durchgesetzt. Energieversor-
gungsunternehmen, die sowohl Netze als natürliche Mo-
nopole betreiben als auch in den Wettbewerbsbereichen
Erzeugung und Vertrieb tätig sind, unterliegen bereits
heute den Vorgaben zur organisatorischen Entflechtung.
Dabei muss der Netzbetrieb in einer separaten Gesell-
schaft erfolgen, bei der die Entscheidungsgewalt über das
Netzgeschäft, das Rechnungswesen, die Netz- und Netz-
nutzerinformationen sowie die Buchhaltung getrennt von
den Wettbewerbssparten ist. Mit der Niederspannungs-
und Niederdruckanschlussverordnung sowie der Strom-
und der Gasgrundversorgungsverordnung hat das Ministe-
rium den Wechsel des Strom- und Gasversorgers für
Haushaltskunden wesentlich erleichtert. Jetzt können Ver-
braucher selbst gegen überhöhte Preise vorgehen, indem
sie zu einem günstigeren Anbieter wechseln.
Um den Wettbewerb weiter zu stärken, wurde kürz-
lich ein weiteres Maßnahmenpaket umgesetzt. Es setzt
an drei Punkten an: den Netzen, der Stromversorgung
und der Preismissbrauchsaufsicht. Die am 6. November
2007 in Kraft getretene Anreizregulierungsverordnung
wird schon sehr bald für mehr Effizienz beim Betrieb der
Strom- und Gasnetze sorgen. Bislang wurden die
Netzentgelte auf der Grundlage der Kosten der Betriebs-
führung ermittelt. Ab dem 1. Januar 2009 werden den
Netzbetreibern Obergrenzen für ihre Erlöse vorgegeben.
Bleiben die Netzbetreiber mit ihren Kosten unter diesen
Obergrenzen, können sie die Differenz als Gewinn ein-
behalten. So werden mit der Anreizregulierung im Mo-
nopolbereich der Netze vergleichbare Bedingungen wie
im echten Wettbewerb geschaffen. Faire Netzentgelte
werden die Folge sein.
Die Kraftwerks-Netzanschlussverordnung ist am
30. Juni 2007 in Kraft getreten. Sie räumt Investitions-
hindernisse im Bereich der Stromproduktion beiseite, in-
dem sie den diskriminierungsfreien Anschluss neuer
Kraftwerke ans Stromnetz nicht nur garantiert, sondern
auch beschleunigt und erleichtert. Die eben erläuterten
Maßnahmen entfalten erst mittelfristig ihre volle Wir-
kung. Solange der Wettbewerb noch nicht wie ge-
wünscht funktioniert, bedarf es eines schärferen Kartell-
rechts. Die im November letzten Jahres vom Bundestag
beschlossene Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbs-
beschränkungen erleichtert es den Kartellbehörden,
marktbeherrschenden Energieversorgungsunternehmen
missbräuchlich überhöhte Strom- und Gaspreise nachzu-
weisen. Diese verstärkte Aufsicht gegen Preismiss-
brauch wurde bis zum Jahr 2012 befristet.
Eon denkt unter dem Druck nationaler und europäi-
scher Politik darüber nach, die Netze zu verkaufen und er-
hebliche Produktionskapazitäten abzugeben. Ich sage aber
auch, dass wir uns um die Sicherheit der Netzversorgung
kümmern müssen. Die hohe Versorgungssicherheit in die-
sem Bereich darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Hier
sollte aber der Verkäufer Eon ein entsprechendes Eigenin-
teresse haben. Ohne funktionierende Netze lässt sich näm-
lich kein Strom verkaufen. Gott sei Dank sind hier auch
die Interessen vernetzt.
Wir sollten also die Instrumente wirken lassen, ab-
warten, was die eingeleiteten Maßnahmen bewirken, und
nicht, wie von der FDP gefordert, den letzten Schritt
ganz am Anfang tun.
Rolf Hempelmann (SPD): Die FDP konfrontiert uns
heute mit einem Gesetzentwurf bzw. einem Antrag, mit
dem das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das
GWB, um eine Entflechtungsregelung ergänzt werden
soll. Ganz offenkundig hat die FDP dabei insbesondere
den Stromerzeugungsmarkt in Deutschland im Blick. Sie
geht davon aus, dass ein bestehendes Oligopol von vier
Unternehmen Preiswettbewerb blockiere und letztlich
überhöhte Verbraucherpreise verursache. Deshalb – so
der Lösungsansatz der FDP – müsse das Kartellamt als
Ultima Ratio die Möglichkeit erhalten, marktbeherr-
schende Unternehmen entweder zum Verkauf oder zu-
mindest zur rechtlichen und organisatorischen Abspal-
15940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
tung von Vermögensteilen zwingen zu können. Konkret
sollen dabei „von der Ausgliederung einzelner assets bis
zur Abspaltung ganzer Unternehmens- bzw. Konzern-
teile alle Maßnahmen, die zur Belebung des Wettbe-
werbs geeignet erscheinen, möglich sein“.
Richtig an der Einschätzung der FDP ist, dass wir im
Stromerzeugungsmarkt mit einer oligopolistischen
Marktsituation konfrontiert sind. Dies haben wir erkannt
und daher mit einer ganzen Reihe von Instrumenten
– ich nenne nur die Netzregulierung, die Kraftswerksan-
schlussverordnung oder die bereits erfolgte Verschär-
fung des Kartellrechts – Rahmenbedingungen für eine
Intensivierung des Wettbewerbs gesetzt. Maßnahmen,
wie sie nun von der FDP vorgeschlagen werden, lehnen
wir hingegen ab. Sie sind im Übrigen auch nicht sonder-
lich originell, sondern wiederholen lediglich Forderun-
gen, mit denen sich schon der hessische Wirtschafts-
minister Riehl aus guten Gründen nicht durchsetzen
kann. Diese Ideen werden auch durch Wiederholung
nicht richtiger, vielmehr dürfte ihre Umsetzung weit
mehr Schaden als Nutzen anrichten.
Wir haben gerade Ende vergangenen Jahres hier im
Haus eine Novelle des GWB verabschiedet und damit
den Wettbewerbsrahmen neu justiert. Dabei ist gerade
für den Energiesektor eine wesentliche Stärkung der kar-
tellrechtlichen Missbrauchsaufsicht durchgesetzt wor-
den. Ein Schlüsselelement der Novelle war die vorge-
nommene Umkehr der Beweislast. Liegt der Preis eines
Energieversorgers deutlich über dem eines Vergleichsun-
ternehmens, so ist es nun, anders als in der Vergangen-
heit, an dem Unternehmen, diese Preisdifferenz gegen-
über den Kartellbehörden sachlich zu rechtfertigen. Auf
diese Weise dürfte eine effektive Missbrauchskontrolle
sichergestellt sein und mehr noch: Wir erhoffen uns von
der Verschärfung des GWB auch eine präventive Wir-
kung auf die zukünftige Preisgestaltung der Energieun-
ternehmen.
Inzwischen entfaltet die Novelle erste konkrete Wir-
kungen. Gerade in der vergangenen Woche hat das Bun-
deskartellamt auf der Basis des neuen § 29 GWB Miss-
brauchsverfahren gegen rund 35 Gasversorger wegen
des Verdachts missbräuchlich überhöhter Gaspreise für
Haushalts- und Gewerbekunden eingeleitet. Hintergrund
ist, dass das Kartellamt in einer vorangegangenen bun-
desweiten Untersuchung der Gaspreise teilweise erhebli-
che Preisabweichungen von 25 bis 40 Prozent festge-
stellt hat. Vor diesem Hintergrund rate ich sehr dazu, das
Kartellamt nun seine Arbeit tun zu lassen und die end-
gültigen Ergebnisse der Missbrauchsverfahren abzuwar-
ten, ehe bereits nach weiteren Instrumenten gerufen
wird.
Wichtig ist nämlich auch an dieser Stelle eines noch
einmal ganz deutlich zu unterstreichen: Wir waren uns
bereits im Rahmen der letztjährigen GWB-Novelle einig
und sind auch durch die Öffentliche Anhörung in der
Auffassung bestärkt worden, dass die GWB-Novelle
kein Allheilmittel ist. Sie ist vielmehr ein Übergangsin-
strument, das lediglich eine Brückenfunktion bis zur
Entwicklung eines vollständig funktionierenden Wettbe-
werbs übernehmen kann. Oder anders ausgedrückt: Die
GWB-Novelle ist ein Behelfsinstrument, das wir nur so
lange brauchen, bis unsere strukturellen, eher mittelfris-
tig angelegten Maßnahmen zur Intensivierung des Wett-
bewerbs wirken. Hier nun noch weitere Verschärfungen
vorzunehmen und den Wettbewerbsrahmen schon wie-
der umzugestalten, macht daher keinen Sinn. Auch die
Unternehmen, von denen wir an anderer Stelle zu Recht
dringend benötigte Investitionen einfordern, haben ein
Anrecht auf ein Mindestmaß an Planungssicherheit.
Gegen den Vorschlag der FDP spricht ein Zweites:
seine mangelnde Praktikabilität. Bereits in der ersten Be-
ratung des Antrags ist auf die ganz erheblichen Rechts-
streitigkeiten hingewiesen worden, die eine Umsetzung
der FDP-Forderung geradezu zwangsläufig nach sich
ziehen müsste. Vor dem Hintergrund der Eigentumsga-
rantie des Grundgesetzes würde wohl kaum ein Unter-
nehmen einen solch tief greifenden, bis zu einer Zer-
schlagung reichenden, Eingriff in sein Eigentum klaglos
hinnehmen. Wir würden also sehenden Auges in eine
Klagewelle hineinlaufen und insofern eine Art Beschäf-
tigungsprogramm für Verfassungsjuristen auflegen – der
Sache dient dies nicht. Denn während der zu erwarten-
den langwierigen Auseinandersetzungen wäre mit
Sicherheit keines der von einer Zersplitterung bedrohten
Unternehmen bereit, auch nur einen Cent am Standort
Deutschland zu investieren. Viel eher würden die ent-
sprechenden Investments und die mit ihnen verbundenen
Impulse für Wertschöpfung und Beschäftigung an uns
vorbeigehen oder auf die lange Bank geschoben werden.
Auf die rechtlichen Probleme derartiger Vorschläge hat
übrigens auch Herr Heitzer, der Präsident des Bundes-
kartellamtes, mehrfach hingewiesen. Mit anderen Wor-
ten: Ausgerechnet der Chef jener Behörde, die Sie mit
ihrem Gesetzentwurf zu stärken vorgeben, hält nichts
von dieser Idee. Das sollte Ihnen zu denken geben.
Aber selbst wenn wir diese, in der Tat schwerwiegen-
den, juristischen Bedenken einmal beiseitelassen, sage
ich Ihnen: Ihr Antrag passt nicht in die aktuelle (energie)
wirtschaftspolitische Debatte. Sämtliche Ideen, die auf
eine Zerschlagung von Unternehmen oder auch auf Zu-
baumoratorien für große Konzerne abzielen, weisen in
die Irre. Jedenfalls in der Rhetorik sind Sie mit uns einig,
dass wir unsere Energiepolitik an der Zieltrias von Um-
weltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Wirt-
schaftlichkeit ausrichten wollen. Diese Ziele aber wer-
den wir auf der Grundlage von Zerschlagungsfantasien
nicht erreichen können. Im Gegenteil: Wir brauchen, wie
uns übrigens neutrale Institutionen wie das schon er-
wähnte Bundeskartellamt oder die Bundesnetzagentur
bestätigen, dringend Investitionen in leistungsfähige
Netze, aber auch in neue Erzeugungskapazitäten. Und
dafür sollten wir alle, die zu investieren bereit sind, herz-
lich willkommen heißen – sehr gerne die neuen Anbie-
ter, aber eben auch die Etablierten, ohne deren Finanz-
kraft wir die vor uns liegenden Herausforderungen nicht
werden stemmen können.
Ich will das Gesagte präzisieren:
Erstens. Wir brauchen Investitionen in neue und effi-
ziente Erzeugungskapazitäten, um unsere ambitionierten
Klimaschutzziele zu erreichen. Wenn die CO2-Emissio-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15941
(A) (C)
(B) (D)
nen in Deutschland wie geplant um 40 Prozent bis 2020
abgesenkt werden sollen, dann muss das oberste Gebot
sein, die ältesten und schmutzigsten Kraftwerke mög-
lichst bald abzuschalten. Das aber geht nur, wenn ent-
sprechende Ersatzinvestitionen in klimaverträglichere
Kraftwerke möglich sind und nicht aufgrund neu ge-
schaffener Kartellrechtstatbestände verhindert werden.
Hier gilt: Wer Investitionen in moderne, möglichst auf
KWK-Basis angelegte Kraftwerke mit deutlich höheren
Wirkungsgraden bzw. deutlich geringeren Emissionen
behindert, der tut dem Klima einen Bärendienst.
Zweitens. Wir brauchen Investitionen aber auch zur Auf-
rechterhaltung unserer Versorgungssicherheit. Deutschland
ist heute Stromexportland und soll dies auch bleiben. Um
aber die entsprechende Wertschöpfung und genauso die
Sicherheit unserer Energieversorgung aufrecht zu erhal-
ten, werden in den kommenden Jahren – über alle Effi-
zienzanstrengungen hinaus – Investitionen in einer Er-
zeugungskapazität von 35 000 MW benötigt. Auch vor
diesem Hintergrund dürfen wir kein Unternehmen a priori
von Investitionen ausschließen.
Drittens. Und last, but not least sind Investitionen in
neue Kapazitäten auch aus Gründen der Wirtschaftlich-
keit dringend erforderlich. Die Diskussion um die stei-
genden Strompreise – angemessener wäre eine Debatte
über die Energiepreise insgesamt – ist uns allen bekannt,
und sie wird auch zu Recht geführt. Wir brauchen wett-
bewerbsverträgliche Energiepreise insbesondere wenn
wir die energieverbrauchende Industrie über den Tag hi-
naus am Standort Deutschland halten wollen. Nun aber
ausgerechnet durch eine Unternehmenszerschlagung
preissenkende Impulse zu erwarten, ist eine naive Vor-
stellung. Ich frage mich, woher die FDP diese Annahme
nimmt. Ist es nicht vielmehr so, dass die FDP-Vor-
schläge, indem sie Investitionen jedenfalls der großen
Unternehmen blockieren, eine bestehende Knappheitssi-
tuation verstetigen? Und ist es nicht so, dass in einem
Markt, der „short“ ist, mit Sicherheit keine preissenken-
den Impulse zu erwarten sind? Ich meine: Genau dies
wird passieren, und daher sollten wir alle sehr, sehr vor-
sichtig sein, wenn dieser Tage Vorschläge wie der uns
vorliegende unterbreitet werden.
Wir befinden uns derzeit in einer Situation, in der
dringend notwendige Investitionen in neue Kraftwerke,
aber auch in neue Leitungen, mitunter sehr schwierig
durchzusetzen sind. Das liegt bei manchem Unterneh-
men an der explodierenden Entwicklung der Kraftwerks-
preise, nicht selten sind es aber auch lokale Widerstände,
die die Realisierung von Investitionen verhindern. Wir
alle hätten sicherlich genug zu tun, hier gemeinsam
durch Aufklärung und Kommunikation dabei mitzuhel-
fen, dass wieder ein etwas investitionsfreundlicheres
Klima entsteht. Was wir aber mit Sicherheit nicht tun
sollten, ist, die ohnehin schwierige Lage durch neue ge-
setzliche Regelungen weiter zu verkomplizieren. In die-
sem Sinne wäre auch die FDP gut beraten, ihren Gesetz-
entwurf noch einmal gründlich zu überdenken.
Martin Zeil (FDP): Der Weg zu mehr Konkurrenz im
Energiemarkt – und damit auf Dauer auch wieder zu sin-
kenden Energiepreisen – „ist lang und holprig“, so der
Präsident der Bundesnetzagentur, Matthias Kurth. Einen
ersten Stein wollen wir mit dem von der FDP Fraktion
vorgelegten Gesetzentwurf und mit unserem Antrag aus
dem Weg räumen.
Monopolkommission und Bundeskartellamt haben
immer wieder festgestellt, dass im deutschen Energie-
sektor Monopol- und Oligopolstrukturen vorliegen, die
einen Wettbewerb verhindern und für die hohen Preise
mitverantwortlich sind. Ein Blick auf die Zahlen unter-
mauert dies: In Deutschland kontrollieren die großen
Energieversorger rund 80 Prozent der Kraftwerkskapazi-
tät. Dazu verfügen die vier großen Stromkonzerne neben
der Kraftwerkskapazität über fast 100 Prozent des
Stromnetzes. Das ist einer der größten Hemmschuhe für
mehr Wettbewerb auf dem deutschen Strommarkt. Ne-
ben dem Staat als Preistreiber ist diese Wettbewerbssitua-
tion eine der Hauptursachen für die im europäischen
Vergleich immer noch hohen Endkundenpreise für
Strom. Daran haben weder die rot-grüne noch die
schwarz-rote Bundesregierung etwas geändert.
Es war eher das Gegenteil der Fall: Zum Beispiel sind
die monopolistischen Strukturen im Postsektor von der
Koalition aus CDU, CSU und SPD offenbar politisch ge-
wollt. In den netzgebundenen Märkten setzt der Wettbe-
werb aber eine Konkurrenz der Infrastrukturen voraus,
und so sind für die Märkte für Strom, Gas oder auch die
Eisenbahn andere Konzepte gefragt.
Die EU-Kommission hat verschiedentlich Initiativen
für mehr Wettbewerb auf den Energiemärkten vorgelegt,
wie zum Beispiel die Verordnung des Europäischen Par-
laments und des Rates zur Änderung über die Netzzu-
gangsbedingungen für den grenzüberschreitenden
Stromhandel, die Verordnung des Europäischen Parla-
ments und des Rates zur Einrichtung einer Agentur für
die Kooperation der Energieregulatoren oder die aktuel-
len Pläne, Stromnetz und Stromproduktion strikt zu tren-
nen.
Die Bundesregierung hat daran zwar im Einzelnen
Kritik geübt, ohne aber eine eigene Strategie oder Kon-
zeption zu entwickeln. Bundeswirtschaftsminister Glos
hat als einzigen Beitrag eine kleine GWB-Novelle be-
züglich der Preiskontrolle im Energiebereich vorgelegt
und als großartige Lösung der Wettbewerbsprobleme ge-
priesen. Nun ist das Gesetz in Kraft, und es gibt – wie von
uns und den meisten Sachverständigen vorausgesagt –
keine nennenswerten Tendenzen hin zu mehr Wettbe-
werb oder günstigeren Energiepreisen. Hinzu kommt,
dass das Bundeswirtschaftsministerium mit dafür verant-
wortlich war, dass wichtige Elemente wie die Anreizre-
gulierung immer wieder verschoben wurden.
Am morgigen Freitag debattiert der Bundesrat über
den Antrag des Landes Hessen zum Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe-
schränkungen. Die FDP hat der Union die Arbeit abge-
nommen und einen nahezu identischen Gesetzentwurf,
den wir heute debattieren, in den Deutschen Bundestag
eingebracht. Damit muss insbesondere die Union end-
lich Farbe bekennen. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn
das nicht rot, die Farbe der Monopole und der Staats-
15942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
wirtschaft, sondern gelb, die Farbe der Freiheit und des
Wettbewerbs, wäre.
Die FDP tritt damit der Konzeptionslosigkeit der
Bundesregierung auf dem Gebiet des Kartellrechts ent-
gegen. Wir schaffen mit dem Instrument der Entflech-
tung als Ultima Ratio sozusagen ein Gegenstück zur Mi-
nistererlaubnis und wollen mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf dem Bundeskartellamt die Möglichkeit
geben, marktbeherrschende Unternehmen zum Verkauf
oder zumindest zur organisatorischen und rechtlichen
Abtrennung von Vermögensteilen zu zwingen.
Mit unserem Gesetz wird auch ausgeschlossen, dass
andere Oligopolisten auf dem Markt oder sogar konzern-
eigene Unternehmen als Käufer auftreten. Wir wollen
nichts über das Knie brechen, sondern dem betroffenen
Unternehmen zwei, in besonderen Fällen sogar mehrere
Jahre für die Entflechtung einräumen. Mit dieser parla-
mentarischen Initiative würden wir die Elemente des
Kartellrechts endlich zeitgemäß fortentwickeln. Es ist
zudem eine alte Tradition im amerikanischen Recht, die
wir hier aufgreifen. So gibt es beispielsweise den Sher-
man Antitrust Act in den Vereinigten Staaten bereits seit
1890.
Einzelne deutsche Energiekonzerne gehen bereits die-
sen Weg. Damit rächt sich die Tatenlosigkeit der Bun-
desregierung. Da sie selbst kein Konzept hat, läuft sie
der aktuellen Debatte in Deutschland und Europa hinter-
her.
Es wird von vielen Seiten seit Jahren immer wieder
ins Feld geführt, dass eine eigentumsrechtliche Entflech-
tung einer Enteignung der etablierten Energieunterneh-
men gleichkomme. An diesem Argument ist sicherlich
richtig, dass diese Option in die Eigentumsrechte der
Konzerne eingreift. Wir betonen aber auch die Vorraus-
setzungen, die für eine solche Entflechtung von Unter-
nehmen gegeben sein müssen: Es muss sich erstens um
einen Markt mit gesamtwirtschaftlicher Bedeutung han-
deln. Dies betrifft vor allem Märkte mit Gütern, an de-
nen ein erhebliches versorgungs- und strukturpolitisches
Interesse besteht, zum Beispiel den Energiemarkt. Zu-
dem muss zweitens das betroffene Unternehmen eine
marktbeherrschende Stellung innehaben. Drittens darf
zugleich auf diesem Markt auf absehbare Zeit kein we-
sentlicher Wettbewerb zu erwarten sein.
Wir sagen aber auch, dass eine Entflechtung, also die
eigentumsrechtliche Trennung von Energieproduktion
und -verteilung, erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt
sind und auch nur dann, wenn auf andere Weise kein we-
sentlicher Wettbewerb zu erreichen ist, als politische Lö-
sung angewandt werden soll. Das ist auch etwas anderes
als eine Enteignung im klassischen Sinne. Denn zum ei-
nen schaffen wir die Möglichkeit, dass das betroffene
Unternehmen die Entflechtung maßgeblich mitgestalten
kann, indem es Vorschläge für eine Unternehmensumge-
staltung unterbreitet. Zum anderen stehen diejenigen, die
für einen solchen Schritt plädieren, auch nicht im Ver-
dacht, radikale Enteignungsfanatiker zu sein. So forderte
die Deutsche Bank in einer aktuellen Studie die eigen-
tumsrechtliche Entflechtung. Die DB Research stellt in
dieser Studie fest:
„Insbesondere auf dem Elektrizitätsmarkt wäre die
vollständige Trennung der Erzeugerstufe von den
Netzen ideal, um mehr Wettbewerb in den einzel-
nen Ländern und auf dem europäischen Markt zu
erreichen.“
Und weiter:
„Bis dato ermöglichen die Leistungsmonopole den
Stromkonzernen, die Konkurrenz klein und die
Preise hoch zu halten.“
Insgesamt stehen wir vor einer einfachen Rechnung:
Ein Netzbetreiber, der keinen Strom produziert, hat kein
Interesse, Kapazitäten zurückzuhalten, um Wettbewer-
ber zu benachteiligen. Letztendlich wird sich dies positiv
auf den Strompreis auswirken. Ein reiner Netzbetreiber
wird das Netz effizienter ausbauen. Die meisten Energie-
experten sind sich deshalb einig: Die Grundvorsausset-
zung, dass zwischen den Stromerzeugern überhaupt
Wettbewerb entstehen kann, ist die Trennung von Netz
und Produktion.
Letztendlich bekommen wir sinkende Preise, da sich
erstens der Wettbewerb intensivieren wird und da zwei-
tens die Kosten für die sogenannte Regelenergie sinken,
welche derzeit lediglich innerhalb des Einzugsbereichs
eines der großen Energieversorger abgerechnet wird. Ein
Beispiel: Wenn in meiner Heimat Bayern ein Stromüber-
schuss besteht, im Norden der Republik aber ein Defizit,
dann zahlen die Verbraucher sowohl im Norden als auch
im Süden einen Regelaufschlag, der auf die Netzkosten
umgelegt wird, und das, obwohl der Nettostromüber-
schuss null ist.
Ein weiteres, häufig vorgebrachtes Argument gegen
die Trennung von Netz und Erzeugung bzw. Vertrieb ist
die Gefährdung der Sicherheit der Energieversorgung.
Dieses Argument überzeugt ebenfalls nicht. Verschiede-
nen Studien der EU-Kommission ist zu entnehmen, dass
es in Europa eine Vielzahl von Ländern gibt, in denen
die Trennung von Erzeugung und Netz längst Realität
ist. Im Stromsektor ist dies beispielsweise in elf von
27 EU-Staaten der Fall, im Gassektor in mindestens sie-
ben Ländern. Es gibt aber kein einziges erkennbares Zei-
chen, dass die Versorgungssicherheit in diesen Ländern
gelitten hat. Deshalb gibt es auch bei der EU-Kommis-
sion keine Bedenken, die eigentumsrechtliche Entflech-
tung auf europäischer Ebene durchzusetzen. In Ländern
wie Großbritannien und den Niederlanden, wo es bereits
die Trennung von Stromerzeugung und Netz gibt, ist die
Aufteilung auch relativ konfliktfrei vonstattengegangen.
Kurz- bis mittelfristig ist nicht mit einem Abbau der
Marktzutrittsschranken und damit auch nicht mit mehr
Wettbewerb zu rechnen. Deshalb müssen die verkruste-
ten Marktstrukturen im Energiesektor aufgebrochen
werden. Wir brauchen endlich einen sich selbst tragen-
den, dauerhaften Wettbewerb im Energiemarkt. Aus die-
sem Grunde müssen endliche alle Elemente, von der An-
reizregulierung bis zum Ausbau der Grenzkuppelstellen,
ausgeschöpft werden. Wenn das alles nichts bewirkt,
dann ist „die vollständige Trennung … die sauberste
Lösung“ so der Energiemarktexperte Christian von
Hirschhausen in der aktuellen Wirtschaftswoche.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15943
(A) (C)
(B) (D)
Es geht letztlich um eine Urforderung der sozialen
Marktwirtschaft, nämlich dass Wettbewerb gewährleistet
werden muss. Eine Entflechtungsnorm als Ultima Ratio
ins GWB aufzunehmen, wäre kein Akt der Verstaatli-
chung, sondern ein Mittel, um der freien Marktwirtschaft
zum Durchbruch zu verhelfen. In diesen Bereichen muss
die Bundesregierung ihre Hausaufgaben machen und
endlich ein schlüssiges Konzept vorlegen. Die Union
steht vor einer Richtungsentscheidung, da die von ihr ge-
führten Regierungen in Hessen und Schleswig-Holstein
in dieser Debatte schon wesentlich weiter sind als die
Bundesregierung.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Eon vermeldet eine Stei-
gerung des Konzerngewinns für 2007 um 27 Prozent auf
7,7 Milliarden Euro. RWE steigert sein Betriebsergebnis
um 15 Prozent auf 6,5 Milliarden Euro, obwohl der Kon-
zern 2007 eine halbe Million Kunden verloren hat. Diese
Gewinne haben wir alle bezahlt, mit unserer monatli-
chen Strom- und Gasrechnung. Der Energiemarkt ist ein
Paradebeispiel für vermachtete Strukturen und den Miss-
brauch von Marktmacht. Die Folge sind überteuerte
Preise und eine Energieversorgung, die auf große um-
weltschädliche Kohle- und Atomkraftwerke setzt.
Die Diskussion um diesen Missbrauch hat zu dem
hessischen Gesetzentwurf geführt, den Sie, von der FDP
nun hier parallel in den Bundestag einbringen. Ja, es ist
ein eindeutiges Defizit der deutschen Gesetzgebung,
dass sie keine Entflechtung kennt. Der vorliegende
Gesetzentwurf bietet eine Diskussionsgrundlage, krankt
aber noch an folgenden Stellen:
Sie sagen, Marktmacht und Missbrauch reichten nicht
für Entflechtungsregeln aus. Sie sind der Auffassung, es
sei nur in Erwägung zu ziehen, wenn der Wettbewerb
durch ein Übermass an Martkmacht beschränkt wird und
mit herkömmlichen Mitteln nicht nachhaltig beseitigt
werden könne. Das halten wir für eine zu hohe Hürde.
Das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung muss
selbst Grund genug sein, ein Entflechtungsverfahren ein-
leiten zu können. Es muss dann Sache des Unterneh-
mens sein nachzuweisen, dass kein Missbrauch vorliegt.
Ein Aspekt fehlt ihnen völlig: Während Sie und das
Kartellrecht im Wesentlichen nur auf den Wettbewerb
abzielen, haben wir einen umfassenden demokratiepoli-
tischen Zugang zu dem Thema. Ziel einer Entflechtungs-
regelung muss auch sein, wirtschaftliche Macht zu ver-
hindern. Wirtschaftliche Macht ist auch politische Macht
und gefährdet demokratische Entscheidungsprozesse.
Wir alle erleben doch ständig die Einflussnahme einiger
weniger transnationaler Konzerne bis hin zur Erpressung
der Politik. Neben der von uns bereits viel diskutierten
Macht der Energiekonzerne gilt das insbesondere auch
für die Medien, weil es dort um Macht über Meinungs-
bildung und politische Willensbildung geht.
Der Ministerdispens geht ebenfalls in die falsche
Richtung. Wir haben beim Eon/Ruhrgas Verfahren
exemplarisch gesehen, wie die Ministererlaubnis miss-
braucht wird. Die Verflechtungen zwischen Wirtschaft
und Politik, gerade auch im Energiesektor, sind einfach
zu groß. Die Ministererlaubnis muss abgeschafft wer-
den.
Insofern geht auch ihre Forderung nach Eingriffsmög-
lichkeiten des Wirtschaftsministeriums gegenüber Ent-
flechtung, wenn es um Global Player auf internationalen
Märkten und die Auswirkungen auf ihre Stellung geht,
in die völlig falsche Richtung. Stattdessen sind hier auch
auf europäischer und internationaler Ebene Schritte ge-
gen die Macht der Global Player notwendig.
Dabei ist es wichtig – und das fehlt bei Ihnen völlig –
das Kartellrecht vom reinen Wettbewerbsrecht auf den
Verbraucherschutz auszuweiten. Die Folgen des Miss-
brauchs der Marktmacht tragen ja nicht nur die Konkur-
renten am Markt, sondern meist auch die Verbraucherin-
nen und Verbraucher. Deren Rechte müssen gestärkt
werden. Beim Eingreifen des Bundeskartellamtes wegen
der Einpreisung der CO2-Zertifikate haben nur andere
Unternehmen eine Entschädigung erhalten. Die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, die die Preise letztlich be-
zahlt haben, sind leer ausgegangen.
Deshalb, Kolleginnen und Kollegen der FDP: Den
Ansatz teilen wir, über die Ausführungen müssen wir
noch streiten, wenn Entflechtung zu mehr Demokratie in
der Wirtschaft führen soll.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir begrüßen den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen der
FDP, wie wir bereits den Antrag „Mehr Dynamik und
mehr Wettbewerb für die deutsche Volkswirtschaft –
Entflechtungsregelung in das GWB und europäische
Recht integrieren“, Drucksache 16/4065, positiv gesehen
haben. Ich möchte kurz daran erinnern, dass das Thema
Entflechtung von marktbeherrschenden Unternehmen
schon verschiedentlich im Bundestag durch die SPD in
der zehnten Wahlperiode und die Grünen in der
13. Wahlperiode eingebracht worden ist.
Damit sind wir beim Thema! Für einen dynamischen
Wettbewerb fehlt im deutschen Gesetz gegen die Wett-
bewerbsbeschränkung noch ein Instrument für eine ak-
tive Wettbewerbspolitik. In den angelsächsischen Län-
dern wurden mit dem Instrument der Entflechtung von
Unternehmen sowohl für Unternehmen, die horizontal
eine marktbeherrschende Stellung hatten, als auch für
Unternehmen, die vertikal integriert waren und deshalb
eine marktbeherrschende Stellung hatten, gute Erfahrun-
gen gemacht. Der Wettbewerb auf den jeweiligen Märk-
ten konnte wieder belebt und Innovationen befördert
werden. Stichworte sind AT&T Fernmeldemonopolist in
den USA oder Standard Oil in den USA. Ökonomen
kommen zu der Erkenntnis, dass die aktive struktur-
orientierte Wettbewerbspolitik positiv zu bewerten ist.
Zur Schaffung wettbewerblicher Bedingungen auf Infra-
strukturmärkten oder in Netzökonomien ist eine aktive
Wettbewerbspolitik notwendig. Denn die vorhandenen
Marktstrukturen, beispielsweise in den Energiemärkten,
führen zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs. Um hier
die Wettbewerbsintensität zu steigern, ist eine Entflech-
tung der marktbeherrschenden Unternehmen oder Mo-
nopolisten geboten. Wenn es in Deutschland dieses In-
15944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
strument im GWB schon eher gegeben hätte, dann wäre
das Ziel der Europäischen Kommission, einen europäi-
schen Energiebinnenmarkt zu schaffen, in Deutschland
einfacher umzusetzen gewesen.
Dabei ist die Entflechtung von marktbeherrschenden
Unternehmen in der Regel ein einmaliger Akt, um den
Wettbewerb auf verkrusteten oder vermachteten Märk-
ten wieder zu beleben. Deshalb ist es nur ein ergänzen-
des Instrument im GWB zu den anderen verankerten
Wettbewerbsinstrumenten, wie das Verbot wettbewerbs-
beschränkender Verhaltensweisen oder die Missbrauchs-
aufsicht. Das Instrument der Entflechtung ist aber auch
in Fusionsverfahren relevant, um von vornherein die
Entstehung von Marktmacht zu verhindern. Dieser
Aspekt ist auf europäischer Ebene in Art. 81 und 82 be-
reits verankert. Trotzdem gehen wir an dieser Stelle mit
unseren Forderungen über den Gesetzesentwurf der FDP
hinaus und fordern – wie bereits in unserem Gesetzes-
entwurf zur Änderung des GWB, Drucksache 16/365
von Januar 2006 – die Abschaffung der Ministererlaub-
nis § 42 GWB.
Die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Wirt-
schaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie das
Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher an preis-
werten, ökologischen und qualitativ hochwertigen Gütern
werden am ehesten durch einen wettbewerblichen Ord-
nungsrahmen gewährleistet. In der Vergangenheit wurde
die Ministererlaubnis häufig mit dem Argument, Ein-
schränkungen des Wettbewerbs waren durch die Schaf-
fung multinationaler Konzerne mit Sitz in Deutschland zu
rechtfertigen, begründet. An dieser Idee hält die FDP mit
dem Ministerdispens gemäß § 42 a fest. Wir sind der Mei-
nung, dass der eigentliche Bezugsrahmen der europäische
Binnenmarkt ist und nicht die Schaffung nationaler
Champions! Eine dynamische und innovative Volkswirt-
schaft lebt von ihrer Vielfalt, auch von ihrer Vielfalt an
Unternehmen, die einen fairen Wettbewerb benötigen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Verbots der Vereinbarung von
Erfolgshonoraren (Tagesordnungspunkt 15)
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wir beraten heute in
erster Lesung den Entwurf des Gesetzes zur Neuregelung
des Verbots der Vereinbarung von Erfolgshonoraren. Es
handelt sich dabei um ein Gesetzgebungsvorhaben, das
aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts notwendig geworden ist. Das Bundesverfassungs-
gericht hat mit Beschluss vom 12. Dezember das gegen-
wärtig in der Bundesrechtsanwaltsordnung enthaltene
Verbot der Vereinbarung von Erfolgshonoraren zwar im
Grundsatz bestätigt. Es hat allerdings unter dem Gesichts-
punkt der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG für eine
bestimmte Fallkonstellation Ausnahmen gefordert.
Eine Lockerung dieses Verbots soll dann erforderlich
sein, wenn ein Rechtsuchender aufgrund seiner wirt-
schaftlichen Verhältnisse das Risiko, im Misserfolgsfall
mit den Kosten qualifizierter anwaltlicher Unterstützung
belastet zu bleiben, nicht oder zumindest nicht vollstän-
dig zu tragen vermöge, und ihn dies von der Verfolgung
seiner Rechte abhalte. Das Bundesverfassungsgericht
hat insoweit trotz der bestehenden Institute der Prozess-
kostenhilfe und der Beratungshilfe zugunsten unbemit-
telter Rechtsuchender eine Lücke gesehen, die es zu
schließen gelte. Wir wollen diese Lücke allerdings mit
Augenmaß und möglichst eng begrenzt an den vom Bun-
desverfassungsgericht gemachten Vorgaben schließen.
In den USA haben die Erfolgshonorare für Anwälte,
Contingency Fees, die ursprünglich zur Unterstützung
vermögensloser Kläger gedacht waren, ganz erheblich
zur Etablierung einer Anwaltsindustrie beigetragen. In
den USA sind inzwischen Schadensersatzprozesse nicht
selten Investitionen hochspezialisierter Anwaltskanz-
leien, die zunächst in eigener Regie nach haftungsrele-
vanten und lukrativen Sachverhalten suchen, um sich
erst nach erfolgter Recherche und Kalkulation quasi als
letztem Schritt auch noch nach passenden Klägern umse-
hen.
Bei Erfolgshonoraren, die bis zu 40 Prozent der ins-
gesamt zugesprochenen Summe eines Vergleichs oder
Urteils betragen können, ist dies wahrlich eine unter-
nehmerische Investition in die Zukunft, leider mit ein
paar unerwünschten Schattenseiten. Mehr als nötig
agiert in diesem System der Anwalt wie ein freier Un-
ternehmer, dessen betriebswirtschaftliche Interessen
mir doch zu sehr an erster Stelle stehen. All dies sind
Entwicklungen und Erscheinungen, die nach meiner
festen Überzeugung nicht zu unserer bewährten deut-
schen Rechtstradition passen und die wir tunlichst mei-
den sollten. Amerikanische Verhältnisse – ich habe das
immer wieder betont – wollen wir jedenfalls nicht.
Ich bin dem Bundesverfassungsgericht deshalb außer-
ordentlich dankbar, dass es in seiner Entscheidung den
dem Verbot der Vereinbarung von Erfolgshonoraren zu-
grunde liegenden gesetzgeberischen Erwägungen sozu-
sagen seinen verfassungsgerichtlichen Segen erteilt hat.
Der Schutz der anwaltlichen Unabhängigkeit, das Ver-
trauen der Bevölkerung in die Integrität der Anwalt-
schaft und der Schutz der Rechtsuchenden vor einer
Übervorteilung durch überhöhte Gebührensätze sind
vom Gericht ausdrücklich als legitime Ziele, die eine
Einschränkung der Berufsfreiheit rechtfertigen, bewertet
worden.
Der vorliegende Gesetzentwurf beruht auf Vorschlägen
der Bundesrechtsanwaltskammer und des Deutschen An-
waltsvereins. Während der DAV – wie schon im Verfah-
ren vor dem Bundesverfassungsgericht – für einen weitge-
henden Entfall des Verbots von Erfolgshonoraren plädiert
hatte, war die BRAK für eine strikt an der vom Bundes-
verfassungsgericht verlangten Ausnahmeregelung orien-
tierte Umsetzung eingetreten. Der Gesetzentwurf be-
schreitet einen Mittelweg. Er geht allerdings insoweit über
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinaus, als
er die dort geforderte Ausnahme vom grundsätzlichen
Verbot von erfolgsabhängigen Vergütungen nur als Regel-
beispiel beschreibt. Bundesrat und BRAK befürchten da-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15945
(A) (C)
(B) (D)
her, dass auf diese Weise weitere Möglichkeiten für Er-
folgshonorare eröffnet werden.
Da das Bundesverfassungsgericht in seiner Ent-
scheidung allerdings auch die Möglichkeit eröffnet
hatte, das Verbot von Erfolgshonoraren gänzlich entfal-
len zu lassen, lässt der Gesetzentwurf auch in Fällen, in
denen die Rechtsverfolgung für den Rechtsuchenden
mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden ist, sol-
che Vereinbarungen zu. Wir werden im weiteren Ver-
lauf der Gesetzesberatungen sehr genau prüfen, ob
diese im Regierungsentwurf vorgesehene etwas weitere
Öffnung der Zulässigkeit der Vereinbarung von Er-
folgshonoraren mit unserem Kernanliegen einer engen
Begrenzung auf das verfassungsrechtlich Unabding-
bare vereinbar ist.
Da das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber
aufgegeben hat, bis zum 30. Juni 2008 eine Regelung zu
treffen, ist höchste Eile geboten. Wir werden deshalb im
Rechtssausschuss nach Ostern ein erweitertes Berichter-
stattergespräch durchführen und im Lichte der dort ge-
wonnenen Erkenntnisse zu einem baldigen Abschluss
des Gesetzgebungsvorhabens kommen.
Christoph Strässer (SPD): Ein deutsches Sprich-
wort besagt: Recht haben und Recht bekommen sind
zwei verschiedene Dinge. – Die Rechtsweggarantie, also
der Anspruch eines jeden Bürgers, gerichtliche Hilfe zur
Durchsetzung vermeintlicher Rechtspositionen wahr-
nehmen zu können, ist in einem Rechtsstaat ein hohes
Gut – manchmal auch ein teures. Sein Recht zu bekom-
men, darf aber in einem Rechtsstaat jedenfalls nicht da-
ran scheitern, dass der Rechtsuchende seinen vermeintli-
chen Rechtsanspruch deshalb nicht geltend macht, weil
er es sich nicht leisten kann. Daher gibt es aus guten
Gründen die Prozesskostenhilfe; und das soll in vollem
Umfang auch so bleiben. Es kann aber Fälle geben, in
denen für Rechtsuchende, die wegen ihrer Einkommens-
und Vermögensverhältnisse keine Prozesskosten- oder
Beratungshilfe mehr in Anspruch nehmen können, eine
Rechtsverfolgung zum Beispiel ein so großes finanziel-
les Risiko darstellt, dass sie davon absehen. Deshalb
kann es Sinn machen, Erfolgshonorare für Anwälte in
Ausnahmefällen zuzulassen. Damit würde für Kläger
das finanzielle Risiko sinken, einen Prozess zu führen.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird
deshalb das bislang geltende Verbot von Erfolgshonora-
ren gelockert und es Anwälten und Mandanten künftig
erlaubt, eine erfolgsabhängige Vergütung im Einzelfall
zu vereinbaren, wenn der Rechtsuchende ansonsten da-
von absehen würde oder, schlimmer noch, müsste, seine
Rechte wahrzunehmen.
Mit diesem Entwurf wird aber gleichzeitig klarge-
stellt, dass eine „Amerikanisierung“ unserer Rechts-
ordnung nicht befürchtet werden muss. Eine gesunde
Portion Skepsis gegenüber amerikanischen Erfolgshono-
raren für Rechtsanwälte bleibt durchaus berechtigt.
Denn es gibt sehr wohl gute Gründe für einen zurückhal-
tenden Umgang mit Erfolgshonoraren. Ein Kommentar
zur Rechtsanwaltsordnung von 1920 drückt es noch so
aus: „Als Organ der Rechtspflege darf sich der Rechts-
anwalt nicht zum Gesellschafter einer Partei im Rechts-
streit herabwürdigen.“ Ganz so drastisch möchte ich es
nicht ausdrücken, aber eine gebotene kritische Distanz,
die gewahrt bleiben muss, ist eine unverzichtbare Vo-
raussetzung für eine funktionierende Rechtspflege. Da-
neben muss die Regelung so ausgestaltet sein, dass sie
den Rechtsuchenden vor einer Übervorteilung durch
überhöhte Vergütungssätze schützt und die prozessuale
Waffengleichheit im Auge behält, da der Beklagte im
Prozess nicht über die Möglichkeit verfügt, sein Kosten-
risiko ähnlich zu verlagern. Zudem schützen geregelte
Vergütungssätze, darunter auch gesetzliche Mindestge-
bühren, dass Dumpingpreise die Qualität des Rechtsrats
mindern.
Ein gänzliches Verbot einer erfolgsbasierten Vergü-
tung kann aber gleichermaßen zu unbilligen Ergebnissen
führen, hat zu Recht das Bundesverfassungsgericht ent-
schieden. Es sind eben nicht nur Fälle vorstellbar, in de-
nen das Verbot von Erfolgshonoraren eine qualifizierte
Rechtsberatung und -durchsetzung garantiert. Es ist auch
denkbar, dass durch ein solches ausnahmsloses Verbot
Rechtsverfolgung erschwert oder gar unmöglich ge-
macht wird. Bisher ließ das Gesetz keine Ausnahmen
des Grundsatzes vom Verbot von Erfolgshonoraren zu.
Damit soll und muss Schluss sein. Bis zum 30. Juni 2008
haben wir eine Neuregelung dieses Problems zu be-
schließen.
Welche Fälle sind denkbar, in denen Ausnahmen
vom Grundsatz des Verbots von Erfolgshonoraren Sinn
machen? Das kann für Fälle zutreffen, in denen um
Rechte gestritten wird, die einen wesentlichen Vermö-
gensbestandteil eines Rechtsuchenden ausmachen wie
zum Beispiel bei einem Prozess um einen Erbteil oder
einen Entschädigungsbetrag. Auch hohe, aber streitige
Schmerzensgeldforderungen könnten in bestimmten
Fällen wirtschaftlich nur durchsetzbar sein, wenn der
Geschädigte die Gewissheit hat, im Verlustfall zumin-
dest neben den Kosten des Verfahrens und der gegneri-
schen Anwaltskosten nicht auch noch die Kosten des
eigenen Anwalts tragen zu müssen. Ähnliches kann für
mittelständische Unternehmen gelten, die vor der Frage
stehen, ob sie einen riskanten Bauprozess führen sol-
len, der mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden
ist.
Dass Bedarf an einer moderaten Liberalisierung be-
steht, wird jedenfalls deutlich. Studien haben gezeigt,
dass eine Mehrheit der Anwaltschaft sich für eine Öff-
nung ausspricht und Erfolgshonorare befürwortet. In ei-
ner Befragung gab sogar eine ganze Reihe von Anwälten
an, bereits verbindlich oder unverbindlich schon einmal
Erfolgshonorare vereinbart zu haben. Ein Großteil der
Anwaltschaft sei zudem schon von Mandanten auf die
Möglichkeit von erfolgshonorierter Mandatsübernahme
angesprochen worden. Auch im Hinblick auf die interna-
tionale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Anwalt-
schaft ist eine Liberalisierung zu begrüßen. Denn in
Europa gibt es sehr wohl einen allgemeinen Trend zum
Erfolgshonorar. In vielen europäischen Nachbarländern
sind Erfolgshonorare bereits zulässig oder sind derartige
Bestrebungen im Gange. Der Gesetzentwurf trägt auch
dieser Entwicklung Rechnung.
15946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Er erfüllt die Vorgaben des BVerfG und den Wunsch
der Anwaltschaft, ohne das grundsätzliche Verbot der
Vereinbarung von Erfolgshonoraren in Frage zu stellen.
Die Möglichkeit einer vollständigen Freigabe wäre unter
bestimmten Voraussetzungen nach der Entscheidung des
BVerfG zwar durchaus verfassungskonform gewesen.
Aber wie ich meine, aus guten und genannten Gründen
sieht der Gesetzentwurf davon ab und beschreitet einen
Mittelweg, indem er zwar geringfügig über das vom
BVerfG vorgegebene Minimum hinausgeht, aber vom
Maximum der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten
keinen Gebrauch macht und die Zweckmäßigkeit der
bisherigen Regelung nicht grundsätzlich in Frage stellt.
Für den Fall der Vereinbarung von Erfolgshonoraren
sollen in Zukunft zum Schutz der Rechtsuchenden Auf-
klärungs- und Hinweispflichten normiert werden. So
wird sichergestellt, dass der Rechtsuchende aufgrund ei-
ner asymmetrischen Informationsverteilung nicht über-
stürzt und unüberlegt eine Entscheidung trifft, deren
wirtschaftliche Risiken er nicht abschätzen kann.
Während der Gesetzentwurf in der Anwaltschaft doch
ganz grundsätzlich auf Zustimmung stößt, gibt es hin-
sichtlich einiger dieser formalen Vorschriften im Detail
gleichwohl noch Gesprächsbedarf. Einige der Regelun-
gen gingen zu weit und würden unverhältnismäßig in be-
stehende Praktiken eingreifen. In Stellungnahmen unter
anderem des Bundesrates, des Deutschen Anwaltvereins
und der Bundesrechtsanwaltskammer wurden einige Be-
denken vorgetragen. Die Bundesregierung ist in ihrer
Gegenäußerung bereits auf eine ganze Reihe von Punk-
ten, auch zustimmend, eingegangen. In den anstehenden
Beratungsgesprächen werden wir diese Fragen noch ein-
mal vertiefen. Aber ich bin mir schon jetzt sicher, dass
wir ein Gesetz mit Augenmaß verabschieden werden,
ein Gesetz, das vor allen den Belangen der Rechtsuchen-
den, aber auch der Anwaltschaft Rechnung trägt.
Mechthild Dyckmans (FDP): Die Bundesregierung
hat dargestellt, welche Rahmenbedingungen das
Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zur Neu-
regelung der Erfolgshonorare vorgegeben hat. Das
ausnahmslose Verbot der Erfolgshonorare ist verfas-
sungswidrig. Wir können das Verbot vollständig aufhe-
ben oder müssen, wenn wir dies nicht wollen, zumindest
Ausnahmen von dem Verbot zulassen.
Für die FDP sage ich ganz klar: Für uns haben die
vom Gesetzgeber mit dem Verbot verfolgten Gemein-
wohlziele – Wahrung der Unabhängigkeit des Anwalts,
Schutz der Rechtsuchenden vor Übervorteilung und Her-
stellung der prozessualen Waffengleichheit vor Gericht –
ein hohes Gewicht. Diese Gemeinwohlziele müssen wir
auch bei einer eventuell in naher Zukunft aus Europa auf
uns zukommenden Debatte über Gebührenordnungen
der freien Berufe – also auch der Anwälte – im Auge be-
halten. Zwar hat der EuGH erst im vergangenen Dezem-
ber zum Fall „Cipolla“ entschieden, dass die mitglied-
staatlichen Anwalts-Gebührenregelungen mit dem
europäischen Wettbewerbsrecht vereinbar sind. Trotz-
dem sind auf europäischer Ebene weiterhin Bestrebun-
gen im Gange, die nationalen Gebührenordnungen in-
frage zu stellen. Es ist für uns Liberale wichtig, dass bei
dieser Diskussion nicht allein Aspekte des Wettbewerbs
ausschlaggebend sind. Das Berufsrecht und damit auch
die Gebührenordnung muss auch im Lichte der Interes-
sen der Verbraucher und im vorliegenden Fall im Inte-
resse der Wahrung einer geordneten Rechtspflege gese-
hen werden.
In Abwägung der genannten Gemeinwohlziele
kommt für uns schon aus diesen Gründen eine vollstän-
dige Freigabe von Erfolgshonoraren nicht in Betracht.
Mit der Bundesregierung sind wir der Auffassung, dass
sich unser bisheriges System bewährt hat. Wir brauchen
keine Erfolgshonorare nach amerikanischem Vorbild.
Die Entscheidung zur Übernahme einer Rechtssache
darf nicht primär eine kaufmännisch zu beurteilende In-
vestitionsentscheidung sein. Zwar werden amerikani-
sche Verhältnisse nicht alleine durch die teilweise
Ermöglichung von Erfolgshonoraren entstehen, da exor-
bitante Schadensersatzforderungen und exorbitante An-
waltshonorare in den USA auf das gesamte US-amerika-
nische Rechtssystem zurückzuführen sind. Wir sollten
aber den Anfängen wehren und uns nicht schrittweise
dem amerikanischen Rechtssystem annähern. Ich ver-
weise in diesem Zusammenhang nur auf die europäi-
schen Bestrebungen zur Einführung von Sammelklagen.
Wir brauchen eine Regelung, die es Rechtsuchenden
ermöglicht, durch die Vereinbarung einer erfolgsbasier-
ten Vergütung das finanzielle Risiko einer Klage zumin-
dest teilweise auf den Rechtsanwalt zu verlagern, wenn
sie sonst insbesondere aufgrund ihrer Einkommens- und
Vermögensverhältnisse davon absehen würden, ihre
Rechte geltend zu machen. Daher begrüßen wir es, dass
die Bundesregierung eine Regelung vorschlägt, wonach
auch in Zukunft die Vereinbarung von Erfolgshonoraren
grundsätzlich die Ausnahme sein wird. Der Gesetzent-
wurf ist im Wesentlichen auch bei den beteiligten Krei-
sen auf Zustimmung gestoßen. Zum Teil wird allerdings
gefordert, dass ausschließlich die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse des Mandanten Voraussetzung für die Zulässig-
keit der Vereinbarung von Erfolgshonoraren sein sollen.
Der Gesetzentwurf geht hier etwas weiter, wenn er an
die „besonderen Umstände der konkreten Angelegen-
heit“ anknüpft und die wirtschaftlichen Verhältnisse nur
als einen – wenn auch wichtigen – Umstand ansieht. In
unseren Beratungen im Rechtsausschuss werden wir si-
cherstellen müssen, dass damit nicht ein Einfallstor für
die generelle Vereinbarung von Erfolgshonoraren ge-
schaffen werden soll.
Das Gesetz sieht bei der Vereinbarung von Erfolgsho-
noraren zum Schutze der Mandanten auch besondere In-
formations- und Belehrungspflichten vor. So sind im Ge-
setzentwurf zum Beispiel Informationspflichten zu
finden hinsichtlich einer kurzen Darstellung der wesent-
lichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen, auf
denen die Einschätzung der Erfolgsaussichten beruht,
der Bedingung, bei deren Eintritt die Vergütung verdient
sein soll, und eines Hinweises, dass der Mandant im
Falle des Unterliegens gegebenenfalls die Gerichtskos-
ten und die gegnerischen Kosten zu tragen habe. Die
Bundesregierung hat sich bereits bereit erklärt, die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15947
(A) (C)
(B) (D)
Pflicht zur Angaben der voraussichtlichen gesetzlichen
Vergütung und erfolgsunabhängigen vertraglichen Ver-
gütung noch einmal zu überarbeiten.
Unnötige Bürokratie wollen wir mit diesem Gesetz
nicht schaffen; nur die wirklich sinnvollen und für die
Entscheidung beider Seiten notwendigen Informations-
und Belehrungspflichten sollten Eingang in das Gesetz
finden. Abschließend müssen wir uns auch über die An-
wendungsbereiche der geplanten Regelung klar werden:
Künftig soll es nicht nur möglich sein, Erfolgshonorare
bei den klassischen zivilrechtlichen Konstellationen zu
vereinbaren. Erfolgshonorare sollen – zumindest theore-
tisch – auch bei Familienangelegenheiten, öffentlich-
rechtlichen Streitigkeiten und – dies möchte ich an die-
ser Stelle deutlich machen – im Strafrecht vereinbart
werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat sich
auch mit diesem Aspekt der Erfolgshonorare befasst. Es
hat uns in deutlichen Worten darauf hingewiesen, dass
auf dem Gebiet des Familien- und Strafrechts, aber auch
in weiten Bereichen des öffentlichen Rechts keine Ver-
mögenswerte generiert werden, die den Mandanten in
die Lage versetzen, die Anwaltskosten aufzubringen.
Auch wir sollten uns mit dieser Frage beschäftigen.
Wichtig ist mir hier insbesondere der Umstand, dass
nach dem Gesetzentwurf in der Vereinbarung mit dem
Mandanten auch die wesentlichen tatsächlichen Um-
stände anzugeben sind, auf denen die Einschätzung der
Erfolgsaussichten beruht. Es ist hier jedoch zu beachten,
dass einem Angeklagten nicht einerseits das Recht zum
Schweigen eingeräumt werden kann und andererseits der
Zwang ausgeübt wird, den Sachverhalt korrekt in der
Vergütungsvereinbarung darstellen zu müssen. Hierüber
müssen wir reden.
Ob Schriftformerfordernisse, Informationspflichten
oder Prognoseentscheidungen – wir haben noch etwas
Zeit für unsere Beratungen bis zum Ablauf der Frist, die
uns das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat. Lassen
Sie uns diese sinnvoll nutzen.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Wir beraten
heute einen Gesetzesantrag, weil das Bundesverfas-
sungsgericht die rechtspolitische Entscheidung, Erfolgs-
honorare ausnahmslos zu verbieten, verfassungsrecht-
lich beanstandet hat. Das Gericht hat damit nicht die
rechtspolitische Entscheidung für ein grundsätzliches
Verbot von Erfolgshonoraren bemängelt, sondern nur die
Striktheit dieser Entscheidung gerügt. Daraus ergibt sich
die Aufgabenstellung, auf die wir uns beschränken soll-
ten. Dafür gibt es gute Gründe.
Ich erinnere an die Motivlage bei Einführung des ge-
setzlichen Verbotes für Erfolgshonorare im Jahre 1994.
In der Gesetzesbegründung heißt es:
Bei dem Verbot, ein Erfolgshonorar zu vereinbaren,
steht die Frage der Unabhängigkeit des Anwaltes
im Vordergrund. Sie ist gefährdet, wenn bei der
Führung der Sache wirtschaftliche Erwägungen den
Ausschlag geben könnten.
So klar sah man das einmal, und so klar sieht es
meine Fraktion auch heute noch. Wir meinen, das Gute
am vorgelegten Entwurf ist, dass man im Justizministe-
rium der Versuchung widerstanden hat, die vom Bundes-
verfassungsgericht leicht geöffnete Tür zum Erfolgsho-
norar voll aufzustoßen. Der Regierungsentwurf wählte
eine andere Lösung. Sie besteht darin, zu dem grundsätz-
lichen Verbot einen Ausnahmetatbestand zu schaffen,
der insbesondere sozial schwachen Rechtsuchenden nüt-
zen soll.
Der Ausnahmetatbestand lässt sich allerdings auch
auf eine ganze Reihe von anderen Konstellationen bezie-
hen. In denen müsste es allerdings nicht zwingend um
soziale Fragen gehen. Wir werden im Rechtsauschuss
bei den anstehenden Beratungen also darauf Acht geben,
dass sich der Ausnahmetatbestand im Entwurf nicht
plötzlich in eine allgemeine Öffnungsklausel verwan-
delt. Eine Frage bleibt im Entwurf der Regierung aller-
dings völlig unbehandelt. Das ist die wichtige Frage
nach dem Zusammenhang von Erfolgshonorar und Pro-
zesskostenhilfe. Diesen Zusammenhang greift auch das
Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung, die
dem aktuellen Vorhaben zugrunde liegt, auf. Ich zitiere:
Die Möglichkeit, mit einem Rechtsanwalt ein Erfolgs-
honorar zu vereinbaren, kann das Institut der Prozess-
kostenhilfe nicht ersetzen. Der mittellose Rechtsuchende
darf durch Versagung der Prozesskostenhilfe nicht fak-
tisch dazu gezwungen werden, eine Erfolgshonorarver-
einbarung abzuschließen. Sie sehen also, wie genau das
Gericht aktuelle Tendenzen in der Politik beobachtet und
welche Warnungen es für erforderlich hält. Sie wissen
auch, dass im Rechtsauschuss ein Entwurf des Bundes-
rates zur Begrenzung der Prozesskostenhilfe bereits vor-
liegt. Es ist aber zu allererst Sache des Staates, nicht der
Anwaltschaft, mittellosen oder einkommensschwachen
Personen die Wahrnehmung ihrer Rechtsangelegenhei-
ten zu ermöglichen. Ein Erfolgshonorar kann diese
Pflicht sinnvoll ergänzen, keinesfalls ersetzen. Wer die-
sen Ersatz gleichwohl betreibt, der führt eine Privatisie-
rung staatlicher Fürsorgepflichten auf dem Rücken der
Rechtsuchenden durch. Das ist nicht hinnehmbar und
wird auf unseren heftigen Widerstand stoßen. Sozial-
demokratische Unterstützung ist uns hierbei willkom-
men.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Um es gleich vorwegzunehmen. Ich bin kein Freund da-
von, die Bezahlung von Rechtsbeistand vom späteren
Erfolg abhängig zu machen. Als allgemeines Modell der
Anwaltsvergütung taugt es nicht. Wenn jedoch Lücken
beim Zugang zur Rechtsverfolgung bestehen, müssen
wir sie schließen. Unsere Maxime dabei ist aber: Das
darf nur in begründeten Einzelfällen und nur dann pas-
sieren, wenn der Mandant aus wirtschaftlichen Gründen
von einer ordentlichen Vertretung seiner Interessen ab-
geschnitten wäre. Dass es solche Fälle gibt, zeigt uns die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Für sol-
che Fallkonstellationen brauchen wir eine neue Rege-
lung und wir brauchen Rechtssicherheit.
15948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Das Bundesjustizministerium hat dazu einen Entwurf
vorgelegt, der in die richtige Richtung zielt. Vieles sehen
wir ähnlich. An der Rechtssicherheit muss aber noch ein
wenig gefeilt werden. Wir würden die Regelung gern en-
ger formuliert wissen. Sie wollen das Erfolgshonorar un-
ter „besonderen Umständen“ ermöglichen. Das scheint
uns zu weit zu gehen. Andere als wirtschaftliche Gründe
können die Inanspruchnahme von Rechtsbeistand legiti-
merweise nicht behindern. Wer Einkommen und Vermö-
gen hat, muss dies auf das Risiko einer Niederlage hin
einsetzen. Das sollte die Regel sein. Nur wenn diese Vo-
raussetzungen fehlen, sollen Mandant und Anwalt aus-
nahmsweise eine Sondervereinbarung treffen dürfen.
Mit der jetzigen Formulierung kommt dieser Ausnahme-
charakter des Erfolgshonorars zu wenig zum Ausdruck.
Dies könnte eine Hintertür öffnen, durch die auch solche
Mandanten schlüpfen, die sich sonst einen Anwalt leis-
ten können. Was ist zum Beispiel bei hochriskanten Fäl-
len? Sind es dann auch besondere Umstände, wenn der
Anwalt zum Beispiel wegen einer ungewöhnlich hohen
Leistungsklage bereit ist, sich am Risiko einer Klage ins
Blaue hinein zu beteiligen? Ich meine, hier sollten wir
etwas mehr Rechtsklarheit in das Gesetz bringen und uns
an den Gedanken der Prozesskostenhilfe orientieren.
Auch sollten wir darüber nachdenken, ob man den
Anwendungsbereich nicht allein Verbrauchern vorbehal-
ten sollte. Wer Unternehmer ist, der hat schon jetzt über
Prozesskostenfinanzierer und Versicherer die Möglich-
keit, seine Interessen durchzusetzen. Der Zugang zum
Recht scheint mir hier ausreichend gewährleistet zu sein.
Ein Erfolgshonorar sollte zudem nicht in jeder belie-
bigen Höhe vereinbar sein. Es setzt Fehlanreize zum
übermäßigen Prozessieren, wenn die Höhe des Honorars
nicht in einem angemessenen Verhältnis zur wirtschaftli-
chen Bedeutung der Sache und zu seinem Risiko steht.
Denkbar wäre es auch – da sind wir selbst noch in der
Diskussion – ob nicht eine Vervielfachung der gesetzli-
chen Gebühren in diesen Fällen ausreichend wäre. Die
Großzügigkeit, die Sie eingangs walten lassen, wäre da-
für an anderer Stelle angebracht. Bei der Frage, wie die
Regelung abgeschlossen wird und welche Informations-
pflichten den Rechtsanwalt treffen, lassen Sie leider zu
viel Bürokratie zu. Die Neuregelung muss aber, wenn sie
funktionieren soll, praktikabel sein. Das ist sie bisher
nicht ausreichend.
Für eine Gebührenvereinbarung verlangen sie die
Schriftform, also eine Unterschrift. Zur Arbeitserleichte-
rung sollte jedoch die Textform genügen. E-Mails und
Faxe dürften ausreichen, um die Vereinbarung in Kraft
zu setzen. Am Anfang des Mandats muss selbstverständ-
lich eine Belehrung über die voraussichtliche gesetzliche
Vergütung bzw. die erfolgsunabhängige vertragliche
Vergütung, die Höhe des Erfolgszuschlages, die Erfolgs-
bedingungen, die zum Eintritt des Anspruchs auf ein Er-
folgshonorar führen, erfolgen. Auch muss auf die Kos-
tentragungspflichten im Unterliegensfall sowie die
Gerichtskosten hingewiesen werden. Über die Erfolgs-
aussichten dagegen kann vernünftigerweise zu diesem
frühen Zeitpunkt noch nicht aufgeklärt werden. Wie
wahrscheinlich ein Obsiegen ist, muss sich erst nach Un-
tersuchung des Sachverhalts und eingehender rechtlicher
Prüfung erweisen. Dies gleich am Anfang von den An-
wälten zu verlangen, setzt zu früh an. Im Zweifel müsste
ein Anwalt vor Abschluss der Vereinbarung eine kosten-
lose Vorprüfung übernehmen, um eine sichere Prognose
abgeben zu können. Das kann es nicht sein, was Sie mit
ihrem Gesetzesentwurf wollen.
Nicht vollständig schlüssig erscheinen mir auch die
vorgeschlagenen Rechtsfolgen für eine nichtige Gebüh-
renvereinbarung. Hier müsste unterschieden werden, ob
der Anwalt oder der Mandant das Scheitern zu verant-
worten hat. Ist Letzteres der Fall, weil dieser beispiels-
weise über seine Vermögensverhältnisse getäuscht hat,
sollte im Erfolgsfall weiterhin die vereinbarte Vergütung
zu zahlen sein. Andernfalls besteht die Gefahr, dass
Mandanten, die es später bereuen, ihren Anwalt an der
Streitsumme beteiligt zu haben, die Vereinbarung künst-
lich platzen lassen. Das alles sind Fragen, über die wir
uns im Rechtsausschuss noch verständigen werden. Aus
unserer Sicht muss auch noch über weitere Detailrege-
lungen gesprochen werden. So muss meines Erachtens
darüber nachgedacht werden, was in den nicht seltenen
Fällen geschuldet wird, in denen ein Anwalt einen Teil-
erfolg erzielt. Klarzustellen ist weiterhin, dass eine Ver-
gütungsvereinbarung auch zur Abwehr von Angriffen
und nicht nur zur Geltendmachung von Ansprüchen ge-
troffen werden kann. In der Tendenz aber liegen unsere
Einschätzungen nah beieinander und deshalb sehe ich
den kommenden Erörterungen mit Zuversicht entgegen.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Mit dem Entwurf eines Ge-
setzes zur Neuregelung des Verbots der Vereinbarung
von Erfolgshonoraren tragen wir geänderten Gegeben-
heiten des Rechtsberatungsmarktes Rechnung.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber
aufgegeben, bis Mitte dieses Jahres, 30. Juni 2008, eine
Neuregelung zu treffen, nach der Erfolgshonorare zu-
mindest dann zugelassen werden müssen, wenn „der
Rechtsanwalt mit der Vereinbarung einer erfolgsbasier-
ten Vergütung besonderen Umständen in der Person des
Auftraggebers Rechnung trägt, die diesen sonst davon
abhielten, seine Rechte zu verfolgen“; Beschluss vom
12.12.2006 – 1 BvR 2576/04, Tz. 97. Erfolgshonorare
müssen daher zugelassen werden zugunsten von Bürge-
rinnen und Bürgern, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen
Verhältnisse ansonsten ihre Rechte nicht verfolgen könn-
ten. Das Bundesverfassungsgericht hat aber zugleich be-
sonders betont, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist,
darüber zu entscheiden, ob er an einem weitestgehenden
Verbot von Erfolgshonoraren festhalten möchte oder ob
er das Verbot – so ausdrücklich das Gericht – „völlig
aufgeben oder an ihm nur noch unter engen Vorausset-
zungen, wie etwa im Fall unzulänglicher Aufklärung des
Mandanten, festhalten“ möchte; Tz. 110.
Die Gegebenheiten des Rechtsberatungsmarktes spre-
chen dafür, Erfolgshonorare in – etwas – weiterem Um-
fang zuzulassen, als es durch das Verfassungsrecht zwin-
gend gefordert ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15949
(A) (C)
(B) (D)
Es gibt viele Hinweise dafür, dass für Erfolgshono-
rare ein Bedarf existiert. Obwohl Erfolgshonorare abso-
lut verboten sind, haben nach eine Studie des Soldan-
Instituts 8 Prozent der befragten Anwältinnen und An-
wälte eingeräumt, Erfolgshonorare fallweise zu verein-
baren; AnwBI. 2006, 50. Zwar haben sich 45 Prozent der
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in einer Befra-
gung dafür ausgesprochen, dass Erfolgshonorare nur in
dem vom Bundesverfassungsgericht geforderten Aus-
nahmefall – Bedürftigkeit des Mandanten – erlaubt wer-
den. 55 Prozent sprechen sich aber für eine weitere Öff-
nung aus, 42 Prozent sogar für eine völlige Aufhebung
des Verbots; Hommerich/Kilian, Brennpunkte des an-
waltlichen Berufsrechts – Das Soldan Berufsrechtsbaro-
meter, NJW 2007, 2308, 2314. Auch der Blick über die
Grenzen bestätigt, dass anwaltliche Erfolgshonorare als
Vergütungsform bei uns anerkannt werden sollten: Welt-
weit stellen wir fest, dass erfolgsbasierte Anwaltsvergü-
tungen zunehmend zugelassen werden.
Die Gegebenheiten des Rechtsberatungsmarktes strei-
ten daher dafür, einen Mittelweg zu gehen, so wie es
auch der Deutsche Anwaltverein vorgeschlagen hat. Ein
Erfolgshonorar sollte nicht nur dann vereinbart werden
dürfen, wenn ein Rechtsuchender aufgrund seiner wirt-
schaftlichen Verhältnisse darauf angewiesen ist, eine er-
folgsbasierte Vergütung zu vereinbaren, um anwaltliche
Hilfe zu erhalten. Auch Rechtsuchende, für die die
Rechtsverfolgung mit erheblichen finanziellen Risiken
verbunden ist – etwa ein mittelständischer Unternehmer,
der vor der Frage steht, ob er einen riskanten Bauprozess
führt – sollten die Möglichkeit erhalten, mit der Verein-
barung eines Erfolgshonorars ihr Kostenrisiko zu be-
grenzen.
Die Anwaltschaft wendet sich heute dagegen, bei der
Vereinbarung von Erfolgshonoraren zum Schutz der
Rechtsuchenden Informationspflichten zu begründen.
Dies überrascht. Die ersten Reaktionen auf die Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts waren noch anders.
Eine Neuregelung, so eine Pressemeldung des DAV,
„müsse ... auch umfangreiche Informationspflichten des
Anwalts vorsehen“; Pressemeldung DAV Nr. 13/07.
Die Möglichkeit, ein Erfolgshonorar zu vereinbaren,
eröffnet für alle Vertragsbeteiligten Chancen und Verant-
wortung. Der Regierungsentwurf verlangt daher, dass „die
wesentlichen tatsächlichen Umstände und rechtlichen Er-
wägungen kurz darzustellen [sind], auf denen die Ein-
schätzung der Erfolgsaussichten beruht“; § 4 a Abs. 3 Satz
1 RVG-E. Die Rechtsuchenden – übrigens auch der An-
walt – erhalten damit Klarheit. Dabei braucht nur das fest-
gehalten zu werden, was im Zeitpunkt des Vertragsschlus-
ses bekannt ist. Ermittlungs- und Prüfungspflichten des
Anwalts vor Vertragsschluss werden nicht begründet. Für
eine Befürchtung, Anwältinnen und Anwälte könnten
durch unverhältnismäßige Informationspflichten belastet
werden, besteht also kein Anlass.
Erfolgshonorare sollen und werden keine „Regelform“
der Anwaltsvergütung sein. Aber die Vertragsbeteiligten
sollen Spielraum erhalten, um die Besonderheiten ihres
individuellen Falles bei ihrer Vergütungsvereinbarung be-
rücksichtigen zu können. Damit passen wir das anwalt-
liche Berufsrecht an die Erfordernisse und Gegebenheiten
des Rechtsberatungsmarktes an.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Innovative Arbeitsförderung ermöglichen –
Projektförderung nach § 10 SGB III zulas-
sen
– Lokale Entscheidungsspielräume und pass-
genaue Hilfen für Arbeitssuchende sichern
(Tagesordnungspunkt 16 und Zusatztagesord-
nungspunkt 5)
Peter Rauen (CDU/CSU): Heute erleben wir wieder
einmal – was zumindest den Antrag der Linken betrifft –
den zwanghaften Versuch, den prosperierenden Arbeits-
markt mit fruchtlosen Beschäftigungsmaßnahmen über-
ziehen zu wollen. Dieser Versuch bezeugt wirtschaftli-
che Unkenntnis und politische Unvernunft: Wir reden
heute zum wiederholten Mal über das Projekt „Teilzeit
Plus“, das in den Jahren 2002 bis 2004 unter anderem in
Dresden veranstaltet und vor über vier Jahren – zu Recht –
beendet wurde.
In diesem Projekt sollten Unternehmen bei mangel-
hafter Auftragslage ihre Mitarbeiter in einer 50:50 Lö-
sung an öffentliche Vereine im Rahmen einer ABM-Lö-
sung ausleihen dürfen, um diese damit im laufenden
Arbeitsverhältnis halten zu können.
Nach Aussage der örtlichen Arbeitsagentur war die-
ses Projekt von vornherein lediglich gedacht für Kleinst-
betriebe, wie zum Beispiel Projektierungsbüros, und
selbst dies sollte in einem überschaubaren Rahmen statt-
finden. Von flächendeckender Wirtschaftsförderung war
insofern keineswegs die Rede. Hintergedanke war zu-
dem, in öffentlich geförderten Projekten unabgerufene
Fachkräfte zu platzieren, um dort deren Fachwissen ge-
zielt einbringen zu können. Schnell wurde bei dieser
Maßnahme allerdings offenkundig, dass für einen sinn-
vollen Ablauf des Modells eine bezahlte Koordinations-
stelle unabdingbar gewesen wäre, was wiederum die
Kosten in die Höhe getrieben hätte.
Letzten Endes trug sich das ganze Projekt auch orga-
nisatorisch nicht und hätte einer dauerhaften Fremd-
finanzierung bedurft. Somit blieb es beim Versuch. Da-
raus nun ein Erfolgsmodell linker Denkart machen zu
wollen, ist schon erschreckend realitätsfern. Unverfroren
hingegen ist, dass die Linken uns vorgaukeln wollen,
dass sie sich um die Belange des Mittelstandes kümmern
könnten. Weiß doch nun wirklich jeder, wie zutiefst ab-
lehnend gerade die Linken dem Mittelstand und mittel-
ständischem Unternehmergeist entgegentreten. Nicht
ohne bewußte Zielsetzung wurden deshalb mittelständi-
sche Unternehmungen gerade im gelebten Sozialismus
– also in ihrer DDR – drangsaliert und letztendlich ab
1972 Stück für Stück verboten. Das Endergebnis dieser
15950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
sozialistischen Wahnvorstellung ist allgemein bekannt:
Völliger wirtschaftlicher Zusammenbruch!
Die offensichtliche Tatsache, dass sich seit dem Jahre
2005 die Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes und
der deutschen Wirtschaft erheblich geändert haben, wird
von ihrer, der linken Seite ebenso gänzlich ignoriert. Ich
meine sogar, die arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedin-
gungen haben sich nicht nur ein Jahr nach Beendigung
des Projektes, sondern eben wegen Beendigung solcher
Projekte eindeutig positiv verändert. Doch bei den Lin-
ken gilt weiterhin das Motto, dass nicht sein kann, was
nicht sein darf.
Zur Auffrischung Ihres Gedächtnisses hier nur kurz
wenige Fakten: Die Zahl der sozialversicherungspflich-
tig Beschäftigten stieg in den letzten zwei Jahren – De-
zember 2005 bis Dezember 2007 – um über eine Mil-
lion, während sie in den vier Jahren zuvor – also in der
Zeit der Teilzeit Plus-Projekte – um 1,655 Millionen zu-
rückgegangen war. Die Bruttolöhne sind in den vergan-
genen zwei Jahren um 43 Milliarden Euro gestiegen,
netto 17 Milliarden Euro, in den vier Jahren zuvor
gerade einmal um 24 Milliarden Euro, netto 12,7 Mil-
liarden Euro. Die Rücklagen der Rentenversicherung stie-
gen in den zwei Jahren unserer Regierung von 1,7 Milliar-
den Euro auf 11,5 Milliarden Euro.
Zur Erinnerung: Im Oktober 2005 musste der Finanz-
minister der Rentenversicherung einen Kredit gewähren,
um die Renten überhaupt auszahlen zu können. Tatsäch-
lich konnten wir zu Anfang 2008 den Gesamtsozialversi-
cherungsbeitrag auf unter 40 Prozent senken. Eine Maß-
nahme, die nicht nur Monat für Monat Geld in die
Taschen der Bürger bringt, sondern auch gleichzeitig Ar-
beitsplätze schafft, Arbeitsplätze, die an keinem Tropf
öffentlicher Mittel hängen. Mit diesen Fakten wird un-
zweifelhaft klar, dass sich die Umstände seit Ende des
Modellversuches in Dresden grundlegend geändert ha-
ben. Doch die Antragsteller leben offensichtlich noch in
einer illusionären Welt, wie es diese heute gar nicht
mehr gibt.
Gleichwohl war und ist die seit 1998 nach § 10 SGB III
geregelte Freie Förderung ein bedeutsamer Schritt in
Richtung Dezentralisierung und Regionalisierung der
aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die Arbeitsämter hatten
und haben immer noch die Möglichkeit, in konkreten
Fällen und zeitlich begrenzt, bis zu zehn Prozent ihres
örtlichen Eingliederungstitels für Neuansätze, Modell-
versuche und das Schließen von Regelungslücken zu
verwenden. Im Übrigen wurde auf eine Rechtsverord-
nung, die es der Bundesregierung erlauben würde, Ein-
fluss auf die Ausgestaltung der Maßnahmen und die Ent-
scheidung über die Vergabe der Mittel zu nehmen,
bewusst verzichtet.
Dies kann allerdings keine generelle Aufforderung
zur Umverteilung von Fördermitteln darstellen, so wie
dies laut Antrag der Linken geschehen soll: Gelder, die
durch die Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung
aufgebracht wurden, sollen nach dieser Vorstellung ver-
teilt werden, um damit einen künstlichen – nicht lebens-
fähigen – Arbeitsmarkt „am staatlichen Tropf“ und so-
mit am Leben zu erhalten. Die dadurch entstehenden
Wettbewerbsverzerrungen werden billigend, wenn nicht
sogar bewusst, in Kauf genommen.
Das bedeutet kurz gesagt: Dort, wo zwei halbe Stellen
für Tischler vom Amt finanziert werden, wird zugleich
ein bis dahin regulär angestellter Tischler arbeitslos. Das
kann nun wirklich nicht Sinn der Sache sein. Dabei ist
die diesbezügliche Sperrklausel im Gesetz – § 10 SGB
III, Absatz 1, Satz 3 – eindeutig geregelt und keinesfalls
zu übersehen:
Bei Leistungen an Arbeitgeber ist darauf zu achten,
Wettbewerbsverfälschungen zu vermeiden.
Aus gutem Grund hat deshalb auch der Bundesrech-
nungshof zuvor ausufernde Praktiken im Zusammen-
hang mit der Freien Förderung erfolgreich angemahnt:
Die Agenturen förderten die Projekte unabhängig
vom Eingliederungserfolg und schufen zumeist nur
befristete Beschäftigungen. Förderaufwand und
nachhaltige Eingliederung standen in keinem ange-
messenen Verhältnis. Die BA gab nur unzureichend
vor, wie die Projekte zu gestalten waren. … Die
Bundesagentur für Arbeit hat … die Projektförde-
rung ausgesetzt und wird die Freie Förderung auf
Individualhilfen beschränken
so der Ergebnisbericht des Bundesrechnungshofs 2006.
Dieser Bericht läßt an Klarheit wenig zu wünschen
übrig, und es war im wahrsten Sinne des Wortes eine
„weise“ Entscheidung der Bundesagentur, darauf zu rea-
gieren.
Auch von der Bundesagentur sind die Anweisungen
klar und deutlich:
Die freien Leistungen dürfen weder in ihrer Ausge-
staltung und Ausrichtung an die Stelle der Regel-
leistungen treten noch die dort getroffenen Voraus-
setzungen aushebeln. Sie dürfen auch gesetzliche
Leistungen nicht aufstocken. Es ist unzulässig, im
Rahmen eines Programms, mit der freien Förde-
rung eine regionale Regelleistung zu schaffen.
Wenn also die Linken nun behaupten, die Freie För-
derung sei durch „Anweisung von oben“ generell abge-
schafft worden, ist dies schlichtweg falsch. Sie wurde le-
diglich auf ein sinnvolles, zielführendes und konkretes
Maß beschränkt. Waren 2003 insgesamt 17 116 Perso-
nen in der Freien Förderung, wurden im Jahr 2006 zu-
sammen 25 340 Personen durch die Freie Förderung un-
terstützt. Das ist ein Drittel mehr als zuvor! Streuen Sie
also den Menschen keinen Sand in die Augen, indem sie
so tun, als gäbe es dieses Instrument gar nicht mehr.
An dieser Stelle, so meine ich, sollten wir die Gele-
genheit nutzen und dem Vorstandschef der Bundesagen-
tur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, und seinen Mitstrei-
tern dafür danken, dass sie durch erfolgreiche Arbeit die
Effizienz und die Finanzen der Agentur in eine gute Ord-
nung gebracht haben. Die seinerzeit eingeleitete Umge-
staltung des Arbeitsamtes als eine 100 000 Mitarbeiter-
Behörde hin zur BA heutiger Erscheinung ermöglichte
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15951
(A) (C)
(B) (D)
uns unter anderem die Senkung der Arbeitslosenversi-
cherungsbeiträge auf nunmehr 3,3 Prozent.
Ein kurzes Wort noch zum Antrag der Grünen und zum
Instrument der „Weiteren Leistungen“: Ich kann die Argu-
mentation des Baden-Württembergischen Ministeriums
für Arbeit und Soziales, wie diese in der Ausschussdruck-
sache 938 ausgeführt ist, durchaus nachvollziehen, geht es
hier doch gerade darum, mit maßgeschneiderten Hilfen
– vor Ort – Menschen, die lange arbeitslos sein mussten,
wieder in eine vernünftige Stellung zu bringen. Hier
sehe ich noch ausgiebigen Diskussionsbedarf und er-
warte im Ausschuss eine zielgerichtete und praktikable
Lösung für die Menschen, die unserer Unterstützung be-
dürfen.
Insofern muss uns allen eine Tatsache bewusst sein:
Die Wirtschaft ist natürlich kein Selbstzweck. Der
Mensch steht und bleibt im Mittelpunkt des Wirtschaf-
tens. Es ist aber unsere Aufgabe, den Unternehmen, die
Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, die freie Ausübung
ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten zu gewährleisten. Erst
dort – und nur dort –, wo selbst das potentielle Markt-
ergebnis nicht akzeptabel sein kann, dürfen wir eingrei-
fen, um Fehlentwicklungen zu verhindern. Das Verteilen
von Geldern der Beitragszahler im Gießkannenprinzip
ist jedenfalls keine sinnvolle Lösung.
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Zunächst wende
ich mich dem Antrag der Linken zu, der fordert, die Pro-
jektförderung nach § 10 SGB III zuzulassen. Ich könnte
es mir einfach machen und meine Rede vom 29. März
2007 vortragen. Damals beschäftigte sich der Bundestag
bereits mit ihrem Anliegen. Hätte er seinerzeit zur Ab-
stimmung gestanden, wäre ihr Antrag abgelehnt worden.
Mittlerweile wurde er im Fachausschuss beraten, hat
dort die Mehrheit nicht überzeugt – und so wird es heute
auch sein. Denn die Begründung ist nicht richtiger ge-
worden und die Forderung geht auch ein Jahr später in
die falsche Richtung.
Wenn für ein Politikfeld der Begriff „innovativ“ zu
Recht verwendet werden kann, dann ist es das Feld der
Arbeitsmarktpolitik. Seit 2003 hat es eine Fülle neuer In-
strumente gegeben, ja sogar so viele, dass wir nunmehr
viele gute Gründe dafür haben, den „Instrumentenkas-
ten“ aufzuräumen, zu bündeln und uns statt auf viele auf
einige erfolgreiche konzentrieren zu wollen. Dafür fin-
den wir nicht nur im Parlament große Zustimmung, ge-
rade die Praktiker vor Ort halten das für richtig.
Die von ihnen angesprochene Projektförderung ist ein
Unterfall der freien Förderung. Welcher gesetzlichen Re-
gelung unterliegt sie? Die Agenturen für Arbeit können
bis zu 10 Prozent der im Eingliederungstitel enthaltenen
Mittel für Ermessenleistungen der aktiven Arbeitsmarkt-
förderung einsetzen, um die Möglichkeiten der gesetz-
lich geregelten, aktiven Arbeitsmarktförderung durch
freie Leistungen der aktiven Arbeitsförderung zu erwei-
tern.
Schauen wir auf die Zahl der Förderfälle, stellen wir
fest: Das Instrument wird genutzt. 2005 hatten wir etwa
80 000 Förderfälle, 2006 bereits über 100 000 und in
diesem Jahr bis Februar 2008 schon über 11 000 Fälle.
Offenkundig braucht weder das Parlament noch die
Agentur für Arbeit ihren Antrag. Ich begrüße ausdrück-
lich, dass die BA klugerweise auch die Förderung von
Projekten in dem gesetzlich gegebenen Rahmen wieder
nutzt, zum Beispiel im Rahmen präventiver Förderung
in Schulen, um neue Wege zu erproben.
Meine Damen und Herren von den Linken, seit Ein-
bringung Ihres Antrages hat sich der Arbeitsmarkt weiter
gut entwickelt. War schon damals das genannte Projekt
„Teilzeit plus“ in Dresden nicht mehr arbeitsmarktkon-
form, so trifft diese Kritik heute noch deutlicher.
Schon deutlich mehr auf der Höhe der Zeit ist da die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist sogar so zeit-
nah, dass ihr Antrag erst gestern auf unsere Tische flat-
terte. Aber schnell ist nicht immer auch richtig. Was ha-
ben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, gemacht? Sie haben einen unbestritten vorhan-
denen Klarstellungsbedarf in der Anwendung des § 16
Absatz 2 SGB II genutzt und sich vehement auf die Seite
der Kritiker und Bedenkenträger gestellt. Das kennen
wir von Ihnen. Das ist nicht mutig, sondern nur einfach.
Aber genau das ist ein Privileg der Opposition.
Wir können und wollen es uns nicht ganz so einfach
machen. Was haben wir getan? Zunächst haben wir zur
Kenntnis nehmen müssen, dass es tatsächlich die Finan-
zierung von Maßnahmen auf der Grundlage des § 16
Abs. 2 SGB II gegeben hat, die eine andere Finanzie-
rungsquelle hätten haben müssen. Das hat der Bundes-
rechnungshof zu Recht gerügt. Dennoch wären von einer
restriktiven Auslegung des § 16 Abs. 2, weitere Einglie-
derungsleistungen, erfolgreiche, innovative und bereits
ausgezeichnete Projekte betroffen. Dies will auch die
SPD-Bundestagsfraktion so nicht hinnehmen. Deshalb
haben wir uns unverzüglich an das Ministerium gewandt
und sind, so bewerte ich die Konsultation, in einem kon-
struktiven Gespräch, um Lösungen zu erarbeiten. Was ist
uns dabei besonders wichtig?
Wir wollen auch weiterhin jungen Menschen eine
Perspektive auf einen Hauptschulabschluss eröffnen,
auch wenn eine anschließende Ausbildung noch nicht
„in trockenen Tüchern“ ist. Da stimmen wir mit ihnen
überein. Optimistischer als Sie sehe ich jedoch, wie zü-
gig wir die bereits erwähnte „Instrumentendebatte“ ab-
schließen werden. Aber Sie brauchen ja diese Zweifel,
um Ihre aktuelle Kritik anbringen zu können. Sicher
werden Sie die überarbeiteten Förderinstrumente noch in
diesem Jahr würdigen können.
Sie werden feststellen, dass sie so ausgestaltet sein
werden, dass die Instrumente grundsätzlich flexibler und
passgenauer angewendet werden können, dass sie die so-
zialintegrativen Ansätze des SGB II berücksichtigen und
den individuellen Erfordernissen von Arbeitsuchenden
gerechter werden.
Wenn ich damit den Punkt vier Ihrer Forderungen zi-
tiere, was sie hoffentlich erkannt haben, dann signali-
siere ich Ihnen damit, dass wir bereits bevor Sie diesen
Antrag gestellt haben eine kluge Weiterentwicklung un-
serer Arbeitsmarktpolitik in Gang gesetzt haben.
15952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Bleibt mir abschließend noch der Hinweis, dass in
den Fragen der finanziellen Rückforderung für rechts-
widrig erbrachte Leistungen nach § 16 Abs. 2 Satz 1
SGB II zumindest in Teilen auf Rückerstattung verzich-
tet wurde. Aber gerade weil wir eine rechtskonforme
Leistungsgewährung weder hier noch an anderer Stelle
infrage stellen, legen wir als SPD-Bundestagsfraktion
viel Wert darauf, dass am Ende der Instrumentendebatte
klare Strukturen, einfache Instrumente und individuelle
Lösungen stehen, dass so viel Standardisierung wie
möglich, aber auch so viel individueller Entscheidungs-
spielraum wie nötig eröffnet wird. Wir wollen eindeutige
Verantwortlichkeit bei der Erreichung der Ziele und eine
bessere Vernetzung von SGB III und SGB II.
Qualität ist das Schlüsselwort für die von uns ge-
wünschten Änderungen. Daran werden wir jeden Vor-
schlag messen.
Jörg Rohde (FDP): Mit Ihrem heute zur Abstim-
mung vorliegenden Antrag liegen Sie, werte Kollegin-
nen und Kollegen der Linken in einem Punkt richtig. Es
ist zweifellos richtig, dass die freie Förderung im
SGB III ausgeweitet werden sollte. Denn in der freien
Förderung liegen die Chancen für passgenaue, individu-
elle und flexible Projekte zur Wiedereingliederung in
den Arbeitsmarkt. Wir sind uns auch einig darin, dass
die Vermittlung Langzeitarbeitsloser in Arbeit nur regio-
nal und dezentral sowie mit innovativen, flexiblen In-
strumenten gelingen kann. Vor diesem Hintergrund ist es
in der Tat nicht nachzuvollziehen, dass die Bundesagen-
tur für Arbeit die Projektförderung auf Eis gelegt hat. So
gesehen würden wir dem vorliegenden Antrag heute
gerne zustimmen, können dies im Ergebnis aus mehre-
ren Gründen jedoch nicht, sondern werden uns darum
enthalten. Wir können nicht zustimmen, weil Ihr Antrag
zwar in die richtige Richtung zielt, aber auf bestenfalls
halbem Wege stehen bleibt, nämlich allein bei der Pro-
jektförderung. Letztlich wollen Sie von den Linken an
einem System herumdoktern, das einfach nur abge-
schafft gehört. Ich meine die Bundesagentur für Arbeit.
In ihrer jetzigen Form hat sich die Mammutbehörde
BA nicht bewährt. Hier werden unzählige Aufgaben
mehr schlecht als recht verwaltet, die viel besser von den
Kreisen und Kommunen übernommen werden sollten.
Die FDP im Deutschen Bundestag fordert deshalb seit
langem die Abschaffung der Bundesagentur für Arbeit
und eine grundlegende Neuorganisation und Kommuna-
lisierung der Jobvermittlung.
Jeder Arbeitgeber, jeder Arbeitsuchende und jeder lo-
kale und regionale Arbeitsmarkt in Deutschland ist an-
ders. Deshalb müssen sich auch die Jobvermittlungsstra-
tegien unterscheiden und müssen auf diese Unterschiede
eingehen. Was in der Stadt München funktioniert, muss
noch lange nicht im ländlichen Raum Frankens klappen.
Hier wie dort müssen ganz unterschiedliche Brücken
zwischen Arbeitsuchenden und Arbeitgebern gebaut
werden. Die Projektförderung kann dabei eine konstruk-
tive Rolle spielen und sollte von der BA nicht nur umge-
hend wieder in Kraft gesetzt werden, sondern auch aus-
geweitet werden. Erfolgreich entfalten kann sich
Projektförderung aber nur dann, wenn die Kommunen
mit der Jobvermittlung vertraut werden. Denn niemand
kennt seine Kunden – gleich ob Arbeitgeber oder Jobsu-
cher – besser als die Kommune. Die Bundesagentur und
die Argen werden hier immer hinterherhinken, weil sie
letztlich viel zu weit vom Kunden und seinen individuel-
len Bedürfnissen entfernt sind.
Eine leistungsstarke Jobvermittlung ist die eine Seite
der Medaille, wir dürfen aber die andere Seite nicht ver-
gessen: Nämlich die der Arbeitgeber.
Jede Jobvermittlung kann nur erfolgreich sein, wenn
die Arbeitgeber, also vor allem die mittelständischen Un-
ternehmen, wirtschaftlich auf sicherem Boden stehen, ver-
lässliche Rahmenbedingungen haben und auch die nöti-
gen Spielräume für neue Investitionen – und damit neue
Jobs – haben. Wir brauchen ein einfaches und gerechtes
Steuersystem, mehr Flexibilität im Kündigungsschutz,
bessere schulische und berufliche Bildung sowie einen
flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in die Rente. Wenn
wir diese positiven Rahmenbedingungen schaffen, be-
kommen wir auch die Sockelarbeitslosigkeit in den Griff
und werden viel weniger auf Förderinstrumente in der Ar-
beitsmarktpolitik angewiesen sein.
Katja Kipping (DIE LINKE): Wollen wir eine Ar-
beitsförderung, die auch den Regionen und regionalen
Akteuren am Arbeitsmarkt einen Spielraum für innova-
tive Projekte ermöglicht? Wenn ja, dann wäre der § 10
des Ditten Buches Sozialgesetzbuch geeignet. Er ermög-
licht genau diesen Spielraum. Er ermöglicht die Umset-
zung kreativer und innovativer Ideen, die sich an den
konkreten Bedingungen der Region orientieren.
Dies wird zum Beispiel durch das Projekt „Teilzeit
Plus“ in Dresden belegt, das von 2002 bis 2004 von der
Arbeitsagentur finanziell unterstützt wurde. Mit diesem
Projekt wurden zwar keine neuen Arbeitsplätze geschaf-
fen, aber immerhin die Beschäftigten in Handwerksbe-
trieben vor der Erwerbslosigkeit bewahrt. Das Projekt
„Teilzeit Plus“ wurde in Zusammenarbeit der Kreishand-
werkerschaft, eines Umweltzentrums und der Arbeits-
agentur durchgeführt. Es waren 200 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter aus 38 Handwerksbetrieben und 48 Ver-
eine beteiligt. Das Ziel des Projekts war es, die Abfede-
rung von betrieblichen Auftragsschwankungen mit der
Ausführung gesellschaftlich sinnvoller Arbeiten zu ver-
binden. Wenn in den Handwerksbetrieben die Auftrags-
lage zurückging, arbeiteten die Beschäftigten für eine
gewisse Zeit nur noch verkürzt für ihre Firma und in der
restlichen Zeit für einen gemeinnützigen Verein. Die Ar-
beitsagentur hat für die Zeit, die die Beschäftigten für
die Vereine arbeiteten, die Lohnzahlung übernommen.
Für die Betriebe und die dort Beschäftigten hatte dieses
Projekt den Vorteil, dass trotz konjunktureller Schwan-
kungen keine Entlassungen vorgenommen werden muss-
ten und der Betrieb weiter existieren konnte. Die Vereine
konnten auf qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter zurückgreifen, die für sie gemeinnützige Arbeiten
erledigten. Darüber hinaus wurden Wettbewerbsverzer-
rungen vermieden, da die Kreishandwerkerschaft das
Projekt selbst mit verwaltete und sowohl die Unbedenk-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15953
(A) (C)
(B) (D)
lichkeitsbescheinigungen für die Gemeinnützigkeit und
Zusätzlichkeit der Arbeiten in den Vereinen ausstellte als
auch die Auftragslage der Handwerksbetriebe im Blick
hatte.
„Teilzeit Plus“ wird von allen Beteiligten sehr positiv
beurteilt und musste trotzdem aufgrund einer Geschäfts-
anweisung der Bundesagentur für Arbeit eingestellt wer-
den, da sie die Möglichkeit der Projektförderung zu-
gunsten von Individualförderungen ab 2003 ausgesetzt
hat. Obwohl die Projektförderung sowohl für die Be-
triebe als auch die Beschäftigten wie beschrieben posi-
tive Effekte haben kann, findet sie seitdem nicht mehr
statt. Die Win-win-Situation für alle Beteiligten wird
durch eine Geschäftsanweisung der Bundesagentur un-
terbunden. Wir fordern, dass die Bundesregierung sich
aktiv in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Ar-
beit dafür einsetzt, dass die Aussetzung der Möglichkeit
der innovativen Projektförderung nach § 10 des SGB III
umgehend zurückgenommen wird.
Was wir brauchen ist eine innovative Arbeitsförde-
rung, die sich an den Erfordernissen und Möglichkeiten
der Akteure auf dem Arbeitsmarkt orientiert. Grundsätz-
lich aber brauchen wir eine Arbeitsförderung, die nicht
auf Abschreckung der Erwerbslosen durch Repressionen
zielt, sondern die Erwerbslose ermutigt, eigene Arbeits-
förderungsprojekte zu entwickeln oder sich selbst einen
Arbeitsplatz in Arbeitsförderungsprojekten auszusu-
chen. Für diesen innovativen Ansatz gibt es einen
Namen: Arbeitsmarkt von unten. Er orientiert auf die
verstärkte Teilhabe und Selbstbestimmung der Erwerbs-
losen, setzt auf deren soziale und berufliche Kompetenzen
statt auf schikanöse Repressionen, wie sie bei Hartz IV an
der Tagesordnung sind.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Immer wenn es darum geht, dezentrale Strukturen und
lokale Kompetenzen zu stärken, hat die schwarzrote
Koalition offensichtlich ein Problem. Das belegen die
beiden hier vorliegenden Anträge. Sie wurden im Ab-
stand von ungefähr einem Jahr gestellt und zeugen von
denselben Problemen: Der Angst der Bundesregierung
vor Kontrollverlust und ihrem Misstrauen gegenüber
denjenigen, die vor Ort mit den Arbeitslosen arbeiten
und das Ziel haben, für sie neue Perspektiven zu eröff-
nen.
Dabei geht es zunächst um die freie Förderung des
SGB III. Dieses von Rotgrün eingeführte innovative In-
strument zieht immer dann, wenn neue Ansätze und Pro-
jekte erprobt oder Regelungslücken gefüllt werden sollen.
Seit dem 1. März 2007 ist nach einer Geschäftsanweisung
der Bundesagentur für Arbeit die Möglichkeit der Projekt-
förderung ausgesetzt worden. Das gilt nach wie vor, auch
wenn im Ausschuss alle Fraktionen das hohe Lied der
Projekte gesungen haben. Im Ergebnis ist die Projektför-
derung zwar gesetzlich verankert, aber faktisch nicht
möglich. Das ist ein Unding und Drückebergerei der ver-
antwortlichen Bundesregierung, die mit einer Rechtsver-
ordnung einen Rahmen setzen könnte.
Ungleich schwerwiegender ist aber nun die rigorose
Beschränkung der sogenannten weiteren Leistungen des
Sozialgesetzbuches II durch die Bundesregierung. Die
bisher vorhandene Möglichkeit, flexibel und vor Ort auf
die spezifischen Problemlagen bestimmter Zielgruppen
und Hilfebedürftiger einzugehen, wird so zunichtege-
macht. Wird die Bundesregierung nicht gestoppt, stehen
viele erfolgreiche Integrationsansätze für besonders
schwer integrierbare Zielgruppen vor dem Aus. Das sind
beispielsweise: kombinierte Beschäftigungs- und Qualifi-
zierungsmaßnahmen für Migranten, sozialpädagogisch
betreute berufliche Orientierungshilfen für Jugendliche,
Maßnahmen zum Nachholen von Schulabschlüssen für
junge Erwachsene, kombinierte Ausbildungs- und Kin-
derbetreuungsangebote für alleinerziehende junge Müt-
ter, sozialpädagogische Begleitungen oder aufsuchende
Angebote der Jugendberufshilfe zur Verhinderung von
Verwahrlosung und Verarmung.
Die Begrenzung der „weiteren Leistungen“ auf Ein-
zelfallhilfen bedeutet, dass diese Fördermaßnahmen be-
endet werden müssen. Kofinanzierte Angebote, die zum
Beispiel gemeinsam mit der Jugendhilfe konzipiert und
finanziert wurden, sind ebenfalls nicht mehr ohne Weite-
res möglich. Gewachsene Strukturen und Kooperationen
werden zerstört.
Die Bundesregierung begründet ihre Vorgehensweise
mit der missbräuchlichen Nutzung der „weiteren Leis-
tungen“, die sie zukünftig verhindern will. Dabei schießt
sie jedoch weit übers Ziel hinaus. Im Ergebnis blockiert
die Bundesregierung eine dezentrale und zielgruppen-
orientierte Integrationspolitik und damit den ganzheitli-
chen Hilfeansatz, der gerade Ziel und Aufgabe des SGB II
ist.
Die Bundesregierung muss ihren restriktiven Katalog
für erlaubte „weitere Leistungen“ sofort wieder zurück-
ziehen, damit die passgenauen Hilfen für Arbeit-
suchende nicht eingestellt werden müssen. Die von der
Bundesregierung in Aussicht gestellte mögliche Über-
nahme besonders innovativer Ansätze im Zuge der Re-
form des arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkastens
reicht nicht. Bis diese Reform kommt, sind die aufge-
bauten Strukturen und Kooperationen längst zerstört.
Ich hoffe sehr, dass sich diese Haltung in den Aus-
schussberatungen durchsetzen wird. Denn nicht nur wir
Grünen, die Träger der Grundsicherung, die Kommunen,
die Länder, die Wohlfahrtsverbände und zahlreiche andere
Träger sind dieser Meinung. Auch die arbeitsmarktpoliti-
sche Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Andrea
Nahles ist auf unserer Seite. In einem Schreiben an Bun-
desarbeitsminister Scholz vom Januar schlug sie vor „zu
prüfen, ob eine geänderte Rechtsauslegung … zum jetzi-
gen Zeitpunkt notwendig und sinnvoll ist. Vielmehr soll-
ten wir die Überlegungen hier in den größeren Kontext im
Rahmen des geplanten Gesetzes zur Straffung des Instru-
mentenkastens stellen. … Eine anderslautende Regelung
jetzt und heute im SGB II könnte so verstanden werden,
dass die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Viel
spricht für das Argument, dass die Arbeitsuchenden im
SGB II aufgrund ihrer besonderen Situation andere Hilfen
benötigen als Personen, die gerade erst arbeitslos gewor-
den sind …“
15954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Frau Kollegin Nahles, in dieser Sache passt kein Blatt
Papier zwischen uns und ich setze sehr auf Ihr Engage-
ment im Ausschuss. Gemeinsam werden wir die Bun-
desregierung sicherlich zum Umdenken bringen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Einfuhrverbot für den gentechnisch
veränderten Mais MON810 anordnen und den
Verkauf von MON810-Saatgut stoppen (Tages-
ordnungspunkt 17)
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat
sich bereits mehrfach mit den in dem Antrag geforderten
Maßnahmen zu dem gentechnisch veränderten Mais
MON810 beschäftigt. Die Antragsteller fordern wieder-
holt ein Einfuhrverbot sowie ein Verkaufsverbot für
MON810-Saatgut. Als Begründung wird immer wieder
angeführt, es gäbe neue wissenschaftliche Studien, die
Zweifel an der gesundheitlichen und ökologischen Un-
bedenklichkeit belegen sollen.
Ausdrücklich stelle ich wiederholt fest: Das oberste
Gebot einer Zulassung gilt uneingeschränkt, nach der die
Sicherheit für Mensch, Tier und Umwelt gewährleistet
sein muss. Unter dieser Zielsetzung hat das BVL mit Be-
scheid vom 27. April 2007 das teilweise Ruhen der Ge-
nehmigung zum Inverkehrbringen von MON810 ange-
ordnet. Danach durfte Saatgut von MON810 erst dann
wieder zu kommerziellen Zwecken abgegeben werden,
wenn der Inhaber der Genehmigung dem BVL einen den
aktuellen Anforderungen entsprechenden Beobachtungs-
plan für MON810 vorgelegt hat. Hintergrund für den Er-
lass war, dass aus Sicht des BMELV noch nicht alle
Zweifel endgültig ausgeräumt wurden, dass der Anbau
von MON810 keine Gefahr für die Umwelt bedeuten
kann. Um solche eventuellen Gefahren frühzeitig entde-
cken zu können, wurde die eingehendere Beobachtung
gefordert.
Derzeit lagen und liegen keine Belege dafür vor, dass
von MON810 tatsächlich Gefahren für die Umwelt aus-
gehen. Der Erlass der Maßnahme war also allein vom
Vorsorgegedanken geprägt. Vom Zulassungsinhaber
wurde anordnungsgemäß ein Plan zur Überwachung des
Anbaues von MON810 vorgelegt, der nach Einschät-
zung des BMELV den gestellten Anforderungen ent-
spricht. Zusätzliche Prüfbitten des Bundesamtes für Na-
turschutz, die in dem vorliegenden Plan nicht abgedeckt
werden konnten, werden im Zuge einer überwachungs-
begleitenden Forschung vonseiten des BVL abgedeckt.
Hierbei handelt es sich vor allem um die Beobachtung
von Langzeiteffekten auf Bodenorganismen und Nicht-
Ziel-Tiere. Damit wurde die Schutzmaßnahme gegen-
standslos und Saatgut der Linie MON810 kann seit De-
zember 2007 in Deutschland wieder vertrieben werden.
Von den Antragstellern wird und wurde bereits mehr-
fach auf neue Erkenntnisse hingewiesen, die besondere
gesundheitliche und ökologische Risiken im Zusammen-
hang mit dem Anbau von MON810 belegen sollen.
Diese sind jedoch nach den Ergebnissen intensiver Re-
cherchen und erneuter, mehrfacher Überprüfung der ein-
schlägigen wissenschaftlichen Untersuchungen, insbe-
sondere der EFSA und des BVL, nicht bestätigt. Zudem
sind während der zehnjährigen Anbauzeit von MON810
keinerlei Schäden an Mensch, Tier oder der Umwelt
festgestellt worden. Dieses entspricht de facto einem
Langzeitexperiment.
Dem vorliegenden Antrag kann aus diesen genannten
Gründen nicht zugestimmt werden.
Ausdrücklich möchte ich feststellen, dass Zulassun-
gen ausschließlich nach den festgelegten, wissenschafts-
basierten Sicherheits- und Anwendungsvorschriften aus-
gesprochen werden sollen. Ich stimme damit der
Forderung von Bundesminister Seehofer zu, den politi-
schen Entscheidungsprozess in den EU-Gremien zu ver-
einfachen und auf eine objektive, wissenschaftliche
Grundlage zu stellen. Es ist nicht hinnehmbar, dass in
diesem Bereich nach Mehrheiten und aktuellen Stim-
mungen entschieden wird. Zielgerichtete, erfolgsorien-
tierte Forschung verlangt verlässliche Rahmenbedingun-
gen. Dies gilt insbesondere auch für die Grüne
Gentechnik, die hinsichtlich der absehbaren Herausfor-
derungen bei der Erzeugung von Pflanzen als Lebens-
mittel und Pflanzen für die stoffliche und energetische
Verwertung enorme Potenziale birgt. Diese Chancen
nicht zu nutzen, wäre gerade für den Hightechstandort
Deutschland verhängnisvoll.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Wir haben bereits
gefordert, den Anbau von MON810 auszusetzen. Diese
Forderung wiederhole ich hiermit; denn seit Bekannt-
werden des Monitoringplans von Monsanto bzw. der ge-
naueren Umstände dieses Monitorings hat sich eine neue
Sachlage ergeben: Der Plan scheint das Papier nicht
wert, auf dem er steht.
Wir haben uns gemeinsam mit unserem Koalitions-
partner zum Schutz von Mensch und Umwelt als obers-
tes Ziel des Gentechnikrechts verpflichtet. Gemeinsam
haben wir gemäß diesem Ziel das Gentechnikrecht no-
velliert – im Bestreben, den Bestand der gentechnik-
freien Landwirtschaft zu schützen und gleichzeitig den
Anbau von solchen GVO-Pflanzen, deren Unbedenk-
lichkeit für Gesundheit und Umwelt bewiesen ist, zu er-
leichtern.
Bei MON810 ist zweifelhaft, ob diese Voraussetzun-
gen erfüllt sind. Der von Monsanto vorgelegte Monito-
ringplan ist nicht geeignet, für eine aussagekräftige und
auswertbare Beobachtung der Umweltauswirkungen zu
sorgen. MON810 ist weder auf Basis der aktuellen wis-
senschaftlichen Erkenntnisse noch auf Grundlage der
derzeit geltenden rechtlichen Bestimmungen bewertet
worden. Neben Frankreich haben auch Ungarn, Grie-
chenland, Österreich und Polen nationale Einfuhr- bzw.
Anbauverbote für MON810-Mais erlassen. Sie berufen
sich dabei auf die Schutzklausel des Art. 23 der EU-Frei-
setzungsrichtlinie 2001/18/EG. Die Schutzklausel er-
möglicht den Mitgliedstaaten ein vorübergehendes Ver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15955
(A) (C)
(B) (D)
bot des Einsatzes eines bestimmten GVO, wenn neue
oder zusätzliche Informationen über diesen GVO vorlie-
gen, die zum Zeitpunkt der Zulassung noch nicht vorla-
gen. Im Falle von MON810 liegt die Zulassung auf EU-
Ebene bereits zehn Jahre zurück. Die lange Liste der
Studien, die seitdem neue Erkenntnisse ergeben haben,
lässt sich dem Schreiben des BVL vom 27. April 2007
an Monsanto entnehmen. Diese Liste ist nicht komplett.
So gibt es auch neue Untersuchungen zum Bt-Toxin-
Gehalt von MON810-Pflanzen, die neben drastischen
Schwankungen feststellen, dass die vom Anbieter ange-
gebenen Werte nicht mit den tatsächlich auf dem Acker
produzierten Mengen übereinstimmen.
Die Freisetzungsrichtlinie 90/220/EWG, nach der
MON810 damals zugelassen wurde, ist inzwischen
durch die neue Richtlinie 2001/18/EG abgelöst worden.
Sie schreibt einen Plan zur Beobachtung der Umweltaus-
wirkungen vor. Die Überwachung der Umweltauswirkun-
gen wird bisher nicht in geeigneter Weise durchgeführt.
Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-
mittelsicherheit, BVL, hatte mit Verfügung vom
27. April 2007 das Ruhen der Inverkehrbringensgeneh-
migung angeordnet. Dort hieß es:
Der Genehmigungsinhaber lässt Landwirte, die
MON 810 anbauen, einen Fragebogen ausfüllen, in
dem allgemeine Anbaudaten sowie verschiedene
Parameter abgefragt werden. Diese Fragebögen
sind ein nützliches Instrument für eine rein visuelle
Erfassung agronomisch relevanter Aspekte der An-
baufläche. Sie sind aber nicht geeignet, statistisch
auswertbare Daten zu Umweltauswirkungen auf
Agrarflächen und in der Umgebung, zum Beispiel
auf Nichtzielorganismen, zu liefern. Fragebögen
stellen somit ein ergänzendes Element dar, können
aber ein Monitoring nach der Richtlinie 2001/18/EG
nicht ersetzen.
Aufgrund von neuen Informationen und zusätzlichen
wissenschaftlichen Erkenntnissen bezüglich der Nicht-
zielorganismen und der Neubewertung bereits vorliegen-
der Informationen sah das BVL „berechtigten Grund zu
der Annahme, dass der Anbau von MON810 eine Gefahr
für die Umwelt darstellt“. Auch wenn Monsanto inzwi-
schen einen Monitoringplan vorgelegt hat, hat sich an
dieser Situation nichts geändert. Dennoch hat das BVL am
6. Dezember 2007 das Inverkehrbringen von MON810
wieder zugelassen.
Zentraler Teil des aktuellen Monitoringplans von
Monsanto sind jene Fragebögen, von denen es im BVL-
Schreiben vom 27. April 2007 heißt, dass sie zur Daten-
sammlung über Umweltauswirkungen ungeeignet seien.
Das Bundesamt für Naturschutz, BfN, hat den Beobach-
tungsplan stark kritisiert und sieht die Auflagen des BVL
nicht bzw. nur unzureichend erfüllt. Laut Anordnung des
BVL sollte der Plan mehrere für die Risikoeinschätzung
relevante Prüfpunkte berücksichtigen wie den Verbleib
des von MON810 produzierten Gifts im Boden sowie
dessen Auswirkungen auf Bodenorganismen und Boden-
funktion als auch Auswirkungen des Gifts auf Nichtziel-
organismen.
Der vorgelegte Monitoringplan sieht keine fallspezifi-
sche, sondern nur eine allgemeine Beobachtung vor. Um
dem „berechtigten Grund zu der Annahme, dass der An-
bau von MON810 eine Gefahr für die Umwelt darstellt“
nachzugehen und die Auflagen des BVL-Schreibens
vom 27. April 2007 zu erfüllen, ist aber eine fallspezifi-
sche Beobachtung nötig. Studien belegen die schädliche
Wirkung des Gen-Maises auf Schmetterlingslarven;
mögliche negative Auswirkungen auf die Umwelt kön-
nen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen
werden. Laut BfN sollten als Minimum gezielte Beob-
achtungen hinsichtlich der Auswirkungen des Gen-Mai-
ses auf Schmetterlinge, aquatische Organismen wie Kö-
cherfliegenlarven und die Exposition und den Verbleib
des von dem Gen-Mais produzierten Gifts in die Umwelt
durchgeführt werden. Für die Überwachung der Um-
weltwirkungen sieht der Plan die Abfrage bereits beste-
hender Monitoringprojekte wie das Tagfaltermonitoring,
das Brutvogelmonitoring oder das Bienenmonitoring
vor. Monsanto will diese Daten auswerten und dem BVL
zur Kenntnis geben.
Diese Projekte werden mit öffentlichen Geldern fi-
nanziert, teilweise wird die Arbeit durch Ehrenamtliche
geleistet. Bisher wurden die Beteiligten nicht von Mon-
santo darüber informiert, dass ihre Projekte nun Teil des
Monitoringplans werden sollen. Auch eine Beteiligung
an der Finanzierung der Projekte scheint nicht geplant zu
sein. Offen ist auch, wie die teilweise in nicht gentech-
nikspezifischen Projekten und durch Laien gesammelten
Daten standardisiert werden können, damit sie überhaupt
für GVO-Monitoring aussagekräftig sind und verglichen
und bewertet werden können. Nach Meldungen des
Spiegel von dieser Woche ist eine Bereitstellung dieser
Daten mit den im Monitoringplan aufgeführten
Beobachtungsnetzwerken wie dem Deutschen Jagd-
schutzverband, dem Dachverband Deutscher Avifaunis-
ten oder dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung,
UFZ, überhaupt nicht vereinbart worden. Da die UFZ
nicht einmal Beobachtungsräume im Umfeld von
MON810-Anbauflächen hat, ist es gar nicht möglich, für
das MON810-Monitoring relevante Daten zu erheben.
Es gibt viele Gründe, die für eine Aussetzung des An-
baus von MON810 sprechen. Der Anbau muss untersagt
werden, bis die genannten Voraussetzungen erfüllt sind,
und das muss schnell gehen. Deshalb stimmen wir dem
Antrag der Grünen nicht zu. Die Prüfung neuer Informa-
tionen über ein mögliches Gefährdungspotenzial dauert
uns zu lange. Der Anbaustopp muss noch vor der Aus-
saat erfolgen. Es kann den Landwirten nicht zugemutet
werden, dass ihnen erst nach wochen- oder monatelan-
gem Prüfungs- und Diskussionsprozess dann im laufen-
den Anbau die Vermarktung von MON810 untersagt
wird.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Schutz
von Mensch und Umwelt hat auf allen Ebenen Vorrang.
Daher ist es völlig unverständlich, wenn die Grünen
heute ein Einfuhrverbot für den gentechnisch veränder-
ten Mais der Sorte MON810 sowie ein Verkaufsverbot
für das Saatgut fordern. Diese Sorte wurde zehn Jahre
lang weltweit ohne jegliche Beanstandung angebaut. Die
15956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
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(B) (D)
Grünen nennen in ihrem Antrag kein einziges Beispiel
für eine Gefährdung von Umwelt oder der Gesundheit
von Menschen oder Tieren durch Anbau oder Verzehr
dieser Sorte. Warum also sollte diese Sorte verboten
werden? Es seien Zweifel an der Unbedenklichkeit auf-
gekommen, heißt es im Antrag. Aber diese Zweifel wer-
den nicht benannt. Die Grünen nehmen sie offensichtlich
nicht einmal so ernst, dass sie ausführen, worin die
Zweifel begründet liegen. Sie nennen stattdessen Län-
der, die MON810 verboten haben. Doch bevor man sich
Verboten anschließt, sollte man zumindest deren Grund-
lage prüfen. Gerade angesichts der zehnjährigen positi-
ven Erfahrung mit dieser Sorte ist eine solche Prüfung
– wenn es um die Sache geht – selbstverständlich. Neh-
men wir als ein Beispiel den Forschungsbericht des Bun-
desumweltamtes von Österreich, erschienen im Dezem-
ber 2007. Es ist kein Forschungsbericht, sondern eine
Literaturstudie. Auf 31 Seiten erfolgt eine dürftige Zu-
sammenfassung der Literatur. Die Literaturstudie ent-
spricht inhaltlich der Risikobewertung von MON810,
die im Juni 2006 das Bundesamt für Naturschutz erstellt
hatte. Das Bundesamt für Verbraucherschutz hatte im
selben Monat Kernaussagen der Stellungnahme ein-
drucksvoll widerlegt mit dem Fazit: „Das BVL kann aus
den bisherigen Publikationen keine spezifischen (schäd-
lichen) Wirkungen des MON810-Mais auf die Umwelt
erkennen.“
Angesichts dieser klaren Aussage ist verständlich,
dass der sogenannte BVL-Erlass vom 27. April 2007
vom Minister gegen die Fachmeinung des BVL durchge-
setzt wurde. In diesem Erlass wurde nach der Aussaat
von MON810 ein Verkaufsverbot für MON810 verfügt.
Die FDP hat dies scharf kritisiert, weil völlig unbegrün-
det die Bevölkerung geängstigt wurde. Der damalige
Präsident des BVL ist für seine Unterschrift unter den
Erlass mit einer Abteilungsleiterstelle im Ministerium
belohnt worden. Der Erlass wurde im Dezember, da er-
kennbar unbegründet, aufgehoben. Es gibt somit keinen
nachvollziehbaren, sachlichen Grund für ein Verbot der
Sorte MON810. Der Antrag der Grünen ist daher als
Dienstleistung für ihre Klientel zu werten. Er steht in ei-
ner Linie mit ihrer üblichen Verbotspolitik. Sie fordern
ein Verbot für ein Produkt, das sich über zehn Jahre be-
währt hat. Die FDP lehnt den Verbotsantrag ab.
Gleichzeitig kritisieren wir das Vorgehen von Mon-
santo bei der Organisation des Umweltmonitoring. Die
behördliche Auflage, ein Umweltmonitoring durchzu-
führen, muss erfüllt werden. Die Umweltbeobachtung
des Anbaus von MON810 muss entsprechend der Richt-
linie 2001/18/EG sowie der ergänzenden Leitlinie und
der Leitlinie der EFSA erfolgen. Nach unserer fachli-
chen Einschätzung ist es sinnvoll, dafür bestehende Mo-
nitoringsysteme zu nutzen. Es ist jedoch eine selbstver-
ständliche Pflicht des Unternehmens Monsanto, die
einzelnen Verbände und Institutionen, die bisher schon
unter unterschiedlichen Gesichtspunkten ein Umwelt-
monitoring betreiben, von Anfang an in die Überlegun-
gen zum geforderten Umweltmonitoring einzubeziehen.
Bereits am 6. Dezember des letzten Jahres hatte Mon-
santo dem Bundesamt für Verbraucherschutz einen Mo-
nitoringplan vorgelegt und fünf deutsche Institutionen
benannt, deren Monitoringsysteme genutzt werden soll-
ten. Drei Monate später teilt das dort genannte Helm-
holtz-Zentrum für Umweltforschung mit, dass Monsanto
noch keinen Kontakt aufgenommen habe. Ein derartig
laxer Umgang mit der Vereinbarung zum Umweltmoni-
toring ist eine Missachtung der zuständigen Behörden,
der gesetzlichen Vorschriften und der Institutionen, de-
ren Dienstleistungen Monsanto nutzen wollte. Vor die-
sem Hintergrund sollte Monsanto alternative Überlegun-
gen für sein Umweltmonitoring anstellen. Institutionen,
die auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen sind, wer-
den ihren ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern nicht zumuten wollen, mittelbar für ein Unter-
nehmen zu arbeiten, das es nicht einmal für nötig
befunden hat, die Institutionen darüber zu informieren.
Das Unternehmen Monsanto wird weltweit wegen
seines Umgangs mit der Öffentlichkeit sowie mit Ver-
tragspartnern scharf kritisiert. Es hätte guten Grund, in
Deutschland einen auf gegenseitigen Respekt angelegten
Umgang zu zeigen. Das vorliegende Beispiel zeigt, dass
dies nicht der Fall ist. Die FDP unterscheidet anders als
andere politische Mitbewerber zwischen dem Vorgehen
von Monsanto und der Züchtungsmethode Grüne Gen-
technik. Wie Patrick Moore, der Mitbegründer von
Greenpeace und deren langjähriger Präsident es darge-
stellt hat, stehen den rein theoretischen Risiken der Züch-
tungsmethode Grüne Gentechnik zahlreiche praktische
Vorteile gegenüber. Die FDP will diese nutzen. Wir haben
in unserem Antrag „Biotechnologische Innovationen im
Interesse von Verbrauchern und Landwirten weltweit nut-
zen – Biotechnologie ein Instrument zur Bekämpfung
von Armut und Hunger in den Entwicklungsländern“
zahlreiche Beispiele genannt für die Vorteile der Züch-
tungsmethode und deren Möglichkeiten, gerade in Län-
dern der Dritten Welt die Armut zu lindern und die Er-
nährungssituation zum Beispiel durch den Goldenen
Reis zu verbessern. Auch in Deutschland bieten die BT-
Mais-Sorten die Chance, zugleich mit der Bekämpfung
des Maiszünslers auch die Futterqualität zu verbessern,
weil Sekundärinfektionen durch Pilze vermieden wer-
den, der Gehalt an kanzerogenen Pilzgiften vermindert
wird. Der Anbau von BT-Mais ist naturverträglicher als
die Bekämpfung des Maiszünslers durch chemischen
Pflanzenschutz. Es muss auch in Deutschland möglich
sein, die Vorteile und Chancen der Züchtungsmethode
Grüne Gentechnik zu nutzen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Diese Woche
schrieb der SPIEGEL: „Genmais ohne Überwachung?“
Damit war nicht die fehlende parlamentarische Kontrolle
gemeint. Um diese kümmert sich die Fraktion Die Linke
schon! Nein, die Meldung spielte auf den von Monsanto
vorgelegten Monitoringplan zur Umweltbeobachtung
des Genmais MON810 an. Der Plan sei lückenhaft und
zur Überwachung der Umweltwirkungen des Genmais
völlig ungenügend. Das kritisieren Umwelt- und Ver-
braucherschutzorganisationen schon seit Wochen. Der
Monitoringplan basiert auf Daten von bestehenden Um-
weltbeobachtungen. In diesen werden Tagfalter, Wild-
tiere, Bienen und Brutvögel beobachtet. Übrigens größ-
tenteils ehrenamtlich! Natürlich sind das keine Studien,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15957
(A) (C)
(B) (D)
die den spezifischen Anforderungen an Überwachungs-
untersuchungen für Risiken im Zusammenhang mit dem
kommerziellen Anbau von genetisch veränderten Pflan-
zen genügen. Laut Aussagen der Expertinnen und Ex-
perten, die in diesen Monitoringprogrammen arbeiten,
liegen nicht mal Genmaisfelder in der Nähe der Be-
obachtungsflächen! Da frage ich mich: Wie soll etwas
effektiv überwacht werden, wenn im Umkreis kilometer-
weit keine Beobachtungen stattfinden? Oder wenn die
Untersuchungen überhaupt nicht dazu geeignet sind, die
Wirkung des transgenen Maispollens zum Beispiel auf
das Bodenleben zu erfassen? Ein ernst gemeintes, wirk-
sames Monitoring sieht ganz anders aus. Zur Heilung
der Defizite im Monsanto-Überwachungsprogramm,
wird nun von der Bundesregierung eine anbaubeglei-
tende Forschung beauftragt. Die Linke sagt dagegen:
Wenn Monsanto keinen wirksamen Überwachungsplan
vorlegen kann, darf auch kein MON810 ausgesät wer-
den! Schon deshalb, weil es sich hier ja nicht mal um
Forschungsanbau handelt, sondern um kommerziellen
Anbau.
Die Linke hat zu dieser Problematik am Mittwoch
eine Kleine Anfrage gestellt. Ich bin gespannt, was die
Bundesregierung antworten wird. Wir wollen wissen,
warum das Bundesamt für Verbraucherschutz und Le-
bensmittelsicherheit (BVL) den Verkauf von MON810-
Saatgut wieder zugelassen hat. Die vom BVL vorge-
brachte Begründung für diese Entscheidung überzeugt
nämlich nicht nur mich nicht. Der vom US-Multi vorge-
legte Monitoringplan ist mit dem Vorsorgeprinzip nicht
vereinbar und darf daher nicht als Grundlage für den
kommerziellen Anbau dieser Risikotechnologie genutzt
werden!
MON810 ist eine „never ending story“: Der Genmais
ist schon seit Jahren in der Kritik. Er schafft Unfrieden
in den Dörfern, gefährdet die gentechnikfreie Landwirt-
schaft und bietet keine Lösungen für die durchaus aner-
kannten agrartechnischen Probleme. Unsere Aufgabe als
Gesetzgeber ist nicht, die Interessen der Saatgutmultis
durchzusetzen. Wir müssen Schaden von der Gesell-
schaft abwenden! Es führt aus Sicht der Linken in die
Irre, wenn die landwirtschaftliche Zukunft Deutsch-
lands konzernfreundlich von genetisch veränderten
Pflanzen abhängig gemacht wird. Dieses Jahr sind circa
4 423 Hektar mit Genmais bestellte Äcker beim BVL
angemeldet worden. Das sind 0,03 Prozent der landwirt-
schaftlichen Nutzfläche. Also fast nichts. Oft werden
viele der angemeldeten Flächen gar nicht genutzt. Aber
ob ein Anbau überhaupt stattfinden darf, hängt auch von
uns ab.
Findet der vorliegende Antrag auf ein vorläufiges
Verbot des Anbaus eine Mehrheit, dann kann rechtzeitig
vor der Aussaat die Notbremse gezogen werden. Die na-
tionale Schutzklausel basierend auf Art. 23 der Freiset-
zungsrichtlinie bietet die Möglichkeit für solche vorläu-
figen Verbote. Vielleicht sollte sich Minister Seehofer
mal mit dem ebenfalls konservativen französischen Prä-
sidenten Nicolas Sarkozy ernsthaft austauschen. Der hat
sich bereits klar gegen eine weitere Nutzung des Gen-
mais MON810 ausgesprochen und die nationale Schutz-
klausel genutzt. Lernen Sie Französisch, Herr Minister!
Übrigens gibt es bei MON810 nicht nur Probleme mit
der gentechnikfreien Landwirtschaft oder der Imkerei.
Leider hat die Koalition es versäumt, bei der Novellie-
rung des Gentechnikgesetzes am Anfang dieses Jahres
den Schutz von ökologisch sensiblen Gebieten zu verbes-
sern. Eine Studie des brandenburgischen Landwirt-
schaftsministeriums hat kürzlich ergeben, dass der trans-
gene Maispollen durchaus einen Effekt auf Schutzgebiete
und die darin lebenden Tiere und Pflanzen hat. Es wird
empfohlen, mindestens 1 000 Meter Abstand einzuhalten
um die geschützten Tiere nicht zu gefährden. Da man sich
dabei nicht auf die Bundesregierung verlassen kann, wird
das brandenburgische Landwirtschaftsministerium aktiv
und verabredet mit den Genbauern freiwillige Sicher-
heitsabstände zu den ökologisch sensiblen Gebieten. Da-
mit entgehen die Landwirte auch dem Problem, dass Un-
tere Naturschutzbehörden den Umbruch des Genmais
anordnen könnten – wie im vergangenen Jahr geschehen.
Ich finde das Engagement des Brandenburger Ministe-
riums – übrigens SPD-geführt – sinnvoll, auch wenn wir
Linke eine gesetzliche Regelung gefordert hatten.
Anscheinend sieht nicht nur Die Linke den Anbau
von MON810 kritisch: Drei Fraktionen in diesem Haus
lehnen MON810 ab. Die Grünen beschreiben ihre
Gründe im vorliegenden Antrag. Auch die SPD-Fraktion
meldet sich regelmäßig kritisch zu Wort. Der stellvertre-
tende Fraktionsvorsitzende Ulrich Kelber sagte vor vier
Wochen – Zitat: „Wir erwarten von Landwirtschaftsmi-
nister Seehofer, dass er MON 810 verbietet.“ Zitat Ende.
Die Gentechnikexpertin der Sozialdemokraten Elvira
Drobinski-Weiß mahnte diese Woche zur Eile – Zitat:
„Der Anbaustopp muss noch vor der Aussaat erfolgen.“
Zitat Ende.
Gut: Ich nehme Sie beim Wort, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion. Haben Sie Mut und verlas-
sen Sie ihre großkoalitionäre Zwangsjacke zugunsten ei-
nes längst überfälligen Moratoriums! Die Linke stimmt
dem Antrag jedenfalls zu.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Genmais MON810 geht in diesem Jahr – wenn auch auf
sehr wenigen Flächen – bereits in die dritte Anbau-
saison, und das ist Landwirtschaftsminister Seehofer zu
„verdanken“.
Zunehmend bedenkliche Studien belegen das Risiko
der Gensaat: kanadische und französische Studien, aber
genauso eine aktuelle Untersuchung des Landesumwelt-
amtes Brandenburg. Die Ergebnisse der Studie im Natur-
park Märkische Schweiz, die im Februar veröffentlicht
wurde, belegen, dass sich die Maispollen sehr viel weiter
verbreiten als bisher vorausgesetzt. Ein Abstand von
mindestens 1 000 Metern dürfe an keiner Stelle unter-
schritten werden, um die Schmetterlinge und andere ge-
fährdete Arten zu schützen. Andere Laboruntersuchun-
gen zum Beispiel zum Genmais BT 176 zeigen auf, dass
bereits äußerst geringe Pollenkonzentrationen des Gen-
mais genügen, um den Tod der Schmetterlinge herbeizu-
führen.
Vor diesem Hintergrund ist der Umgang von Minister
Seehofer mit der Zulassung von MON810 ein Akt der
15958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
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Willkür zugunsten von Monsanto. Aufgrund des öffent-
lichen Druckes der Grünen wurde vom zuständigen Bun-
desamt für Verbraucherschutz der Verkauf des Genmais
im Frühjahr 2007 gestoppt, weil der Genmais „ein Ri-
siko für die Umwelt“ darstellt: nach der erfolgten Aus-
saat, versteht sich. Und im Dezember 2007 unter skanda-
lösen Umständen vor der neuen Aussaat im April
wieder zugelassen. Bedingung für diese Wiederzulas-
sung war nach Angaben des BVL die Vorlage eines Mo-
nitoringplans durch Monsanto. Doch statt eines eigenen
Monitoring-Plans gab Monsanto die Untersuchungen ah-
nungsloser Umwelt- und Jagdverbände an. Diese (Deut-
sches Bienenmonitoring des ImkerBundes, Tagfaltermo-
nitoring der Umweltverbände, das Monitoring des
Dachverbandes Deutscher Avifaunisten und des Deut-
schen Jagdschutzverbandes) empören sich darüber, dass
sie von der Industrie nicht einmal in Kenntnis gesetzt
wurden und ihre Untersuchungen nicht im Mindesten für
ein Gentechnik-Monitoring geeignet seien. Der Präsi-
dent des konservativen Jagdschutzverbandes, der ehe-
malige Landwirtschaftsminister Borchert, CDU-MdB
schreibt: „… dass unser Verband zu keinem Zeitpunkt
von Monsanto in der Angelegenheit kontaktiert bzw.
über das geplante Vorhaben in Kenntnis gesetzt worden
ist. Insofern ist unser WILD-Projekt in dem Monitoring-
plan ohne unser Wissen oder gar Einverständnis benannt
worden.“ Des Weiteren schreibt er, dass „in keinem un-
serer jährlich publizierten WILD-Berichte das Thema
GVO (gentechnisch veränderte Organismen) erwähnt
wurde“. Der Jagdschutzverband verlangt wie die ande-
ren Verbände vom Bundesminister eine Auskunft darü-
ber, aufgrund welcher Erkenntnisse das BVL zu seinen
Schlussfolgerungen gelangt sei und ob überhaupt eine
Eignungsprüfung der fünf benutzten Monitorings für ein
GVO Monitoring vorliege.
Auch ohne diese Antwort der Bundesregierung zu
kennen: Diese Art der einseitigen Vertretung der Gen-
tech-Konzerninteressen verträgt sich nicht mit Rechts-
staatlichkeit und Verfassung. Dort heißt es in Art. 20 a:
„Der Staat schützt in Verantwortung für die kommenden
Generationen (auch) die natürlichen Lebensgrundlagen
und die Tiere (…)“. Die Menschen, die sich um Umwelt
und Gesundheit berechtigt sorgen, fühlen sich durch die
Verschlechterung des Gentechnikgesetzes und die omi-
nöse Wiederzulassung mehr und mehr in die Ohnmacht
getrieben. So wird Minister Seehofer auch zu verantwor-
ten haben, wenn sich dieses Gefühl in den Protestaktio-
nen entlädt. Eine solche Situation darf nicht entstehen.
Inzwischen kommen wie in Bayern mehr als 700 Men-
schen – auch die Bauern im Deutschen Bauernverband –
zu den Gentechnikwiderstandsveranstaltungen und grün-
den gentechnikfreie Regionen.
In der dreisten, die Meinung der Bevölkerung und die
Risiken ignorierenden Vorgehensweise der Bundesregie-
rung und Minister Seehofers liegt die Erklärung für den
Absturz der CSU bei den letzten Wahlen, nicht beim
Nichtraucherschutz. Wenn die Bundesregierung einen
Rest an Glaubwürdigkeit behalten will, muss der Anbau
des Genmais MON810 umgehend vor der Aussaat ge-
stoppt werden. Was sagte Seehofer noch im Januar 2008
auf der ersten internationalen Agrarministerkonferenz
zur Grünen Woche: „Da schrillen bei mir alle Alarm-
glocken!“ Er forderte in diesem Zusammenhang eine
Sonderrolle Deutschlands und hat vor einem zunehmen-
den Gentechnikanbau in Deutschland aus wirtschaftli-
chen Zwängen gewarnt. Den Reden müssen dann auch
die Taten folgen.
Wir fordern die Bundesregierung auf: den Verkauf
von MON810-Saatgut zu stoppen, aufgrund der neuen
und zusätzlichen Informationen im Hinblick auf die Ge-
fährdung von Menschen oder der Umwelt ein Ruhen der
Inverkehrbringensregelung für Produkte aus MON810
entsprechend Art. 23 der RL 2001/18/EG einzuleiten,
sich auf EU-Ebene gegen eine Neuzulassung von
MON810 einzusetzen, sich für eine Verbesserung des
EU-Zulassungsverfahrens für gentechnisch veränderte
Pflanzen einzusetzen wie unter anderem dafür, dass die
Verfahren für die Öffentlichkeit transparenter werden
und dass wissenschaftliche Bedenken nationaler Behör-
den der EU-Länder und unabhängiger Experten stärker
als bisher berücksichtigt und einbezogen werden.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Mahnungen des Sachverständigen-
rates ernst nehmen – Mehr Freiheit wagen
(Tagesordnungspunkt 18)
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Im traurigen Mo-
nat November war’s – da haben Sie, liebe Kollegen von
der FDP, uns diesen Antrag vorgelegt. Darin fordern Sie
die Bundesregierung auf, die Mahnungen des Sachver-
ständigenrates ernst zu nehmen und mehr Freiheit zu wa-
gen. Nach der Debatte und den Beratungen in den betei-
ligten Ausschüssen liegt nun die Beschlussempfehlung
des federführenden Wirtschaftsausschuss vor, der dazu
rät, diesen Antrag abzulehnen. Um es kurz zu machen:
Dem ist nur wenig hinzuzufügen.
Natürlich nehmen wir den Bericht des Sachverständi-
genrates ernst und ignorieren ihn nicht; das ist schon mal
ein grundlegender Irrtum. Darum stimmen im Übrigen
auch die Aussagen des Sachverständigenrates zur Ent-
wicklung der Wachstumsraten mit denen der Bundes-
regierung überein. Die Regierung hat von Anfang an
sehr moderate Schätzungen vorgelegt. Wir lassen uns
eben lieber von einer positiven Entwicklung überra-
schen, statt beständig nach unten korrigieren zu müssen.
Das Gutachten ist auch ein Beleg für den Erfolg die-
ser Großen Koalition: eine Million weniger Arbeitslose
als noch im Herbst 2005 nach sieben Jahren Rot-Grün;
eine Million mehr Menschen, die wieder einer Beschäf-
tigung nachgehen. Darüber hinaus liegt die Zahl der Er-
werbstätigen insgesamt bei über 40 Millionen – ein his-
torischer Wert. Zudem sinkt die Staatsquote auf etwa
45 Prozent, und die Neuverschuldung geht kontinuier-
lich gen null. Insgesamt können wir also auf eine sehr
gute Bilanz für die erste Halbzeit der Koalition blicken.
Die Sachverständigen bestärken uns in unserem Handeln
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15959
(A) (C)
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und fordern uns auf, den eingeschlagenen Weg der Re-
formen weiterzugehen. Das ist eine Aufforderung, der
wir gerne nachkommen, und darum können Sie sicher
sein, dass wir das auch tun werden.
Ein großer Teil der Forderungen, die Sie, liebe Kolle-
gen von der FDP, stellen, hat sich erledigt; denn wir ha-
ben sie bereits in die Tat umgesetzt. Der andere Teil Ihrer
Forderungen ist schlichtweg abzulehnen; denn er würde
uns klar vom Kurs abbringen, also weg von unserem Re-
formweg, und damit würden wir nicht zuletzt auch den
Rat der Sachverständigen ignorieren. Das kann ja auch
nicht in Ihrem Interesse liegen.
Lassen Sie mich Ihnen ein prägnantes Beispiel geben.
Sie fordern, dass die Beitragsmittel der BA nicht in den
Bundeshaushalt „verschoben“ werden sollen. Da darf
ich Sie beruhigen: Natürlich werden diese Gelder nicht
hin- und hergeschoben. Die Überschüsse der BA gehö-
ren dahin, wo sie hergekommen sind, nämlich zurück in
die Taschen der Beitragszahler. Darum entlasten wir Ar-
beitgeber und Arbeitnehmer, und darum haben wir den
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung noch einmal von
4,2 Prozent auf nun 3,3 Prozent abgesenkt. An dieser
Stelle möchte ich auch darauf hinweisen, dass aufgrund
der positiven Lage eine weitere Absenkung des Beitrags-
satzes möglich ist; vielleicht gelingt es uns sogar, unter
die 3-Prozent-Grenze zu kommen. Zudem haben wir da-
mit unser Ziel, die Lohnnebenkosten endlich wieder un-
ter die 40-Prozent-Marke zu senken, erreicht. Damit
machen wir Arbeit günstiger und ermöglichen die Schaf-
fung weiterer Arbeitsplätze. Mit der Senkung der Bei-
träge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf zuerst
4,2 Prozent und nun um weitere 0,9 Prozent haben wir
übrigens die stärkste Absenkung der Lohnnebenkosten
vorgenommen, die jemals von einer Bundesregierung
beschlossen worden ist.
Das Wichtigste aber bleibt für uns die damit erzielte
tatsächliche Nettoentlastung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer; denn ihnen bleibt nun mehr netto von ih-
rem Lohn in der Geldbörse. Konkret bedeutet das für ei-
nen durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer eine
Entlastung von mehr als 270 Euro im Jahr.
Dagegen sieht Ihre Bilanz ja nicht ganz so rosig aus,
wenn ich beispielsweise an die Zeit der gelb-roten Koali-
tion in meiner Heimat denke. In Rheinland-Pfalz können
Sie mit Herrn Beck gemeinsam auf eine „glanzvolle
Bilanz“ ordnungspolitischer Arbeit zurückschauen. Ich
habe hier einige Höhepunkte für Sie: Im gesamten Zeit-
raum von 1947 bis 1990, also inklusive Wiederaufbau
nach dem Zweiten Weltkrieg, hat das Land Rheinland-
Pfalz insgesamt 10 Milliarden Euro Schulden gemacht.
In den 13 Jahren Ihrer Regierungszeit, also von 1991 bis
2003, haben Sie diese Schulden lässig verdoppelt und es
in den 13 Jahren auf traurige 24 Milliarden Euro ge-
bracht. – Bis Ende 2005 wurde ein Schuldenstand von
rund 6 350 Euro je Einwohner erreicht. Das ist bundes-
weit beispiellos. Dies bedeutet seit Ende 1991 – hier lag
der Schuldenstand bei 2 954 Euro pro Kopf – einen Zu-
wachs um 3 396 Euro. Das sind 115 Prozent in 14 Jah-
ren, das sind insgesamt 14,509 Milliarden Euro Schul-
den. – Solange Sie im Landtag in Mainz gesessen haben,
ist die Zahl der Arbeitslosen von 76 000 auf das Dop-
pelte, nämlich auf 147 000 Arbeitslose, angestiegen. –
Obendrein haben Sie die Bezirksregierungen abgeschafft
und sich lieber gegen eine bürgerfreundliche, ortsnahe
Verwaltung und für eine bürokratische, zentralistische
Neuorganisation entschieden. – Das nenne ich „Er-
folge“.
Vielleicht sollten Sie aber auch einfach etwas gründli-
cher lesen: Der Sachverständigenrat schreibt, dass es
aufgrund der Krise an den Finanzmärkten zu einer Ver-
langsamung des Aufschwungs gekommen ist und wir
deshalb für das kommende Jahr mit einem Wirtschafts-
wachstum von nur 1,9 Prozent rechnen können. Dann
aber kommt die eigentliche Aussage:
Diese Abschwächung ist aber kein Indiz dafür, dass
der Aufschwung zum Erliegen kommt oder gar eine
Rezession bevorsteht.
Man sollte Zitate eben nicht aus dem Zusammenhang
reißen, um ihren Inhalt damit zu verfälschen.
Wir können, denke ich, stolz sein auf das, was wir
bisher erreicht haben. Dies ist für uns aber noch lange
kein Grund, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Wir
werden weiter alles dafür tun, damit der Aufschwung
sich verfestigt und die positive Entwicklung für die
Menschen in diesem Land weiter anhält. Das ist der Auf-
trag, den wir mit der Wahl angenommen haben, und den
werden wir auch ausführen.
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Die FDP
folgt frommen Bräuchen und hat sich kollektiv eine Ent-
giftungskur gegönnt. Das Heilfasten wurde eingeleitet
mit einem Fasteneinlauf. Der Erfolg war durchschla-
gend: Alles, was die FDP in den letzten Jahren an neoli-
beralen Giften im Fettgewebe und in den Knochen ange-
lagert hatte, wurde mobilisiert. Alles Gift muss raus.
Und was sich da alles findet: Der Schutz von Unter-
nehmen mit strategischer Bedeutung vor Staatsfonds
wird abgelehnt. Freie Fahrt für Staatsfonds. – Ein neuer
Akzent im Freiheitsbegriff der FDP. Ablehnung von
Mindestlöhnen. Freie Fahrt für Lohndumping. Freiheit
vom existenzsichernden Einkommen als FDP-Pro-
gramm. Kein Staatsanteil an der Bundesdruckerei, weil
die Sicherheitsphilosophie des Unternehmens, das fäl-
schungssichere Personalausweise druckt, natürlich Pri-
vatsache ist.
Natürlich kommt auch Angedautes zum Vorschein,
wie das berühmte „einfache und gerechte Steuersystem“
oder die „kapitalgedeckte Pflegeversicherung“. So ist
das bei Einläufen.
Alles in allem: Das Gift ist raus. Die FDP fühlt sich
erleichtert. Wir lehnen ab und spülen runter.
Nachdem die Herren Westerwelle und Pinkwart sich
offen für neue Berührungsflächen in der Parteienland-
schaft zeigen, ist es nur konsequent, zu entschlacken und
Ballast abzuwerfen. Mal sehen, was kommt.
Rainer Brüderle (FDP): Der Sachverständigenrat
zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwick-
15960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
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(B) (D)
lung soll die Bundesregierung wissenschaftlich fun-
diert beraten und deren Urteilsbildung bei wirtschafts-
politischen Fragestellungen erleichtern. Die derzeitige
schwarz-rote Bundesregierung schlägt bei ihrer Mei-
nungsbildung die Mahnungen der Wirtschaftsweisen
aber offenkundig einfach in den Wind.
Das gute Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre
hat mittlerweile zu mehr Beschäftigung und zu einer ver-
besserten Haushaltslage geführt. Grundlage für diese po-
sitive Entwicklung waren die boomende Weltwirtschaft,
moderate Lohn- und Tarifabschlüsse in den vergangenen
Jahren, erhebliche Umstrukturierungen der deutschen
Unternehmen und letztlich auch die Arbeitsmarktrefor-
men der vergangenen Legislaturperiode. Statt diesen
Weg fortzusetzen, dreht die Große Koalition das Rad
jetzt wieder zurück.
Die Verlängerung der Arbeitslosengeldzahlungen für
Ältere ist nur vermeintlich sozial. Tatsächlich senkt eine
solche Maßnahme die Wiederbeschäftigungschancen äl-
terer Menschen, wenn sie arbeitslos geworden sind. Und
dass Arbeitgeber solche Regelungen gern für Frühver-
rentungen nutzen, ist uns allen hinlänglich bekannt. Die
meisten Unternehmen haben ihre Hausaufgaben besser
gemacht als die Regierung. Sie haben ihre internationale
Wettbewerbsfähigkeit in den vergangenen Jahren gefes-
tigt oder zurückgewonnen, trotz des starken Euro.
Um unseren Wohlstand langfristig zu sichern, reicht
es aber nicht, wenn unsere Produkte auf den Märkten
dieser Welt erfolgreich sind. Deutschland muss auch im
internationalen Standortwettbewerb Erfolg haben. Wenn
Kapital und gut ausgebildete Menschen aus Deutschland
in andere Länder abwandern, muss uns das zu denken
geben. Diese Abwanderung zu verhindern, sollte die
Aufgabe der Bundesregierung sein. Langfristig entschei-
det die Attraktivität Deutschlands als Wirtschaftsstand-
ort über unseren Wohlstand. Langfristig nützt uns eine
von der Weltwirtschaft geborgte konjunkturbedingt boo-
mende Exportnachfrage nicht viel, wenn die Weltkon-
junktur wieder schwächer wird.
Alle Wachstumsprognosen für dieses Jahr liegen
deutlich unter dem des vergangenen Jahres. Die Bundes-
regierung geht in ihrer offiziellen Prognose jetzt von
1,7 Prozent aus und liegt damit noch am oberen Rand
der Vorhersagen. Den privaten Konsum, auf den die
Bundesregierung ihre Hoffnung gesetzt hatte, hat sie mit
der Mehrwertsteuererhöhung selbst ausgebremst. Stei-
gende Steuern und Sozialabgaben und eine relativ hohe
Inflation von mehr als 3 Prozent am Jahresende 2007
und immer noch 2,8 Prozent in diesem Januar haben die
wirtschaftliche Situation durchschnittlich Verdienender
weiter getrübt. Die Mehrwertsteuererhöhung nützt nur
den neuen Ausgabenwünschen der Regierung; den Bür-
gern und der Wirtschaft schadet sie.
Deshalb braucht Deutschland endlich wieder eine
konsistente wirtschaftspolitische Reformagenda, die auf
Wettbewerb und Subsidiarität setzt, mehr unternehmeri-
sche und persönliche Freiheit unterstützt und die sozia-
len Sicherungssysteme zukunftsfähig macht. Wir brau-
chen keinen Protektionismus in Deutschland. Das
Außenwirtschaftsgesetz muss internationalen Handel
und Investitionen unterstützen und nicht unterbinden.
Wir brauchen Wettbewerb und keine Monopole. Was die
Regierung bei der Post veranstaltet, ist eine Politik ge-
gen Wachstum und gegen Arbeitsplätze. Das Umsatz-
steuerprivileg der Deutschen Post AG verzerrt den Wett-
bewerb. Es gehört abgeschafft. Mit den Mindestlöhnen
zementiert die Regierung das Postmonopol dauerhaft.
Das garantiert keinen Arbeitsplatz, das vernichtet Ar-
beitsplätze im großen Stil. Die entlassenen Briefträger
der Post-Konkurrenten können sich für ihre Kündigung
bei der Bundesregierung bedanken.
Wir müssen die Arbeitsmärkte flexibler machen und
dürfen nicht mit Mindestlöhnen zusätzlich in den Markt-
prozess eingreifen. Es darf gerade nicht das Ziel sein,
den Staatseinfluss in der Wirtschaft zu vergrößern. Über-
all dort, wo der Staat seine Finger im Spiel hat, geht es in
der Wirtschaft schief. Die Krise der IKB ist dabei nur
das aktuellste Stichwort.
Der politische Zickzackkurs der Bundesregierung ist
das Gegenteil einer solchen abgestimmten Reformpoli-
tik. Deutschland braucht endlich wieder eine politische
Führungsverantwortung, für die „mehr Freiheit wagen“
nicht nur ein gebrochenes Wahlversprechen ist.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Mit ihrem Antrag
fordert die FDP die Bundesregierung auf, die Mahnung
des Sachverständigenrats ernst zu nehmen. Diese Mah-
nung lautet: „Das Erreichte nicht verspielen.“
Es stellt sich die Frage: Was haben wir erreicht? Das
Wirtschaftswachstum hat in den letzten beiden Jahren
deutliche zugenommen, nach einer langen Phase der
Stagnation. Auf den Abschwung folgte ein Aufschwung.
Ist das eine Errungenschaft, die man bewahren könnte?
Nur dann, wenn man davon ausgeht, dass es sich nicht
um eine zyklische Erholung handelt, sondern um einen
anhaltenden Wachstumsschub. Ich habe da meine Zwei-
fel.
Der Aufschwung führte zu mehr Beschäftigung und
zu weniger Arbeitslosigkeit. Auch dies ist nicht unge-
wöhnlich. Die entscheidende Frage ist: Wie stark steigt
die Zahl der Beschäftigten im Aufschwung, und wie
stark fällt sie im folgenden Abschwung? Aktuell stieg die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung um 716 000.
Im vergangenen Aufschwung waren es 645 000. Es ent-
stehen also nicht mehr Arbeitsplätze, als es in einem
Wirtschaftsaufschwung üblich ist. Die Agenda 2010 hat
kein Beschäftigungswunder ausgelöst. Man darf sich
nicht davon blenden lassen, dass die Arbeitslosigkeit
deutlich stärker zurückgegangen ist. Dies erklärt sich
nicht aus einem Mehr an Beschäftigung, sondern aus ei-
nem Weniger an Erwerbspersonen. Langfristig geht die
Entwicklung in die falsche Richtung: Im Abschwung
nach dem Jahr 2000 sind mehr Arbeitsplätze vernichtet
worden, als jetzt geschaffen wurden.
Will man die erreichte Beschäftigung nicht verspie-
len, muss man sie sichern. Das würde bedeuten: den
Kündigungsschutz stärken, Leiharbeit und geringfügige
Beschäftigung in gute Arbeit umwandeln, also in unbe-
fristetete, sozialversicherungspflichtige, tariflich ent-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15961
(A) (C)
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lohnte Arbeitsverhältnisse. Dies ist natürlich nicht die
Form von Freiheit, die die FDP in ihrem Antrag wagen
will.
Wer gehört zu den Gewinnern des Aufschwungs? Die
Beschäftigten sind es nicht. Ihre Nettolöhne sind in die-
sem Aufschwung real um 1,5 Prozent gesunken. Das ist
sehr ungewöhnlich. Im Aufschwung davor waren sie
noch um 8 Prozent gestiegen. Noch dramatischer ist die
Entwicklung bei den Rentnerinnen und Rentnern und bei
anderen Sozialeinkommensbeziehern. Die Sozialleistun-
gen wurden insgesamt um fast 6 Prozent gekürzt. Wenn
im Aufschwung Löhne und Sozialleistungen zurückge-
hen, müssen die Gewinn- und Vermögenseinkommen
dramatisch steigen. Das sind sie auch, real um 25 Pro-
zent. Erreicht wurde, mit den Worten des Deutschen In-
stituts für Wirtschaftsforschung, eine „dauerhafte Polari-
sierung der verfügbaren Einkommen“. Ist das die
Errungenschaft, die es nicht zu verspielen gilt?
Der Aufschwung ist labil. Die FDP sorgt sich zu
Recht. Er ist fast ausschließlich vom Export getragen,
zyklische Ersatzinvestitionen kamen hinzu. Beim Kon-
sum hat kein Aufschwung stattgefunden. Das konnte er
auch nicht. Es besteht nun mal ein Zusammenhang zwi-
schen Einkommensverteilung und Konsumentwicklung,
den weder der Sachverständigenrat noch die FDP zur
Kenntnis nehmen wollen. Für die meisten Menschen
geht es nicht darum das Erreichte nicht zu verspielen,
sondern das Verlorene zurückzugewinnen.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
seinem Gutachten mit dem Titel „Das Erreichte nicht
verspielen“ warnt der Sachverständigenrat zur Begut-
achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vor der
Absage an oder der Verschiebung von Reformen in den
Sozialversicherungssystemen und vor einer Aufgabe des
Ziels der Haushaltskonsolidierung. Nach dem Herbst-
gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute ist dies der
zweite dringende Appell der maßgeblichen Wirtschafts-
experten an die Bundesregierung, die Reformziele nicht
aus den Augen zu verlieren.
Der Höhepunkt des Konjunkturaufschwungs ist mit
der mäßigen Wachstumsprognose von 1,9 Prozent für
2008 im Vergleich zu der erwarteten Wachstumspro-
gnose für 2007 von 2,6 Prozent laut Sachverständigenrat
bereits überschritten. Der Börsencrash vom 21. Januar
hat deutlich gemacht, dass die Politik nicht weiter mit
Aufschwungszenarien planen kann. Die anhaltende
Phase des konjunkturellen Aufschwungs muss konse-
quent zur Haushaltskonsolidierung genutzt werden, weil
sonst im nächsten Abschwung der Konjunktur eine dra-
matische Finanzsituation für die öffentliche Hand ent-
steht. Diese Hinweise müssen wir sehr ernst nehmen.
Der Sachverständigenrat weist zu Recht auf die Re-
formdividende hin, die wesentlich auf die strukturellen
Reformen während der Regierungsjahre der rot-grünen
Koalition zwischen 1998 und 2005 zurückzuführen ist.
Der Sachverständigenrat lehnt deshalb richtigerweise
das Vorhaben der Großen Koalition ab, die Bezugszeit
des Arbeitslosengeldes I wieder zu verlängern und die
Rentenreform abzuschwächen. Kritisiert werden auch
Vorhaben wie der Gesundheitsfonds. Zugleich warnen
die Sachverständigen vor einem neuen Protektionismus,
der ausländische Investoren abschreckt. Deutschland
braucht mehr, nicht weniger Finanzströme.
Der Bundesregierung muss jetzt zu einer wirtschafts-
politisch begründeten Gesamtstrategie umsteuern und
die Strukturreformen in allen sozialen Sicherungssyste-
men fortsetzen, um sie für die Erfordernisse der Zukunft
fit zu machen und zu einer dauerhaft stabilen Senkung
der Lohnnebenkosten zu kommen. Besonders drängend
ist eine gezielte und spürbare Absenkung der Lohnne-
benkosten im unteren Einkommensbereich durch das
grüne Progressivmodell, durch das wesentliche Beschäf-
tigungseffekte generiert werden können.
Zugleich muss das Gutachten des Sachverständigen-
rates differenziert bewertet werden. Es reicht nicht aus,
die durchgesetzten Reformen beizubehalten oder – wie
die FDP in ihrem Antrag – einfach die Forderungen des
Sachverständigenrates eins zu eins zu übernehmen. Die
erfolgten Reformschritte müssen ausgewertet werden,
um Nachsteuerungsbedarfe zu erkennen. Eine Neujustie-
rung der Arbeitsmarktreformen darf nicht einfach die
Uhren zurückdrehen, sondern muss Lösungen für neue
Herausforderungen bieten. Dazu gehört auch die Defini-
tion von verbindlichen Standards wie Mindestlöhnen.
Viele Wirtschaftsexperten weisen darüber hinaus zu
Recht auf die deutlichen Beschäftigungs- und nachhalti-
gen Wachstumspotenziale hin, die eine ökologische
Neuausrichtung des Wirtschaftens verspricht. Das igno-
riert die FDP, und diese Blickweise zählt auch nicht zu
den Stärken des Sachverständigenrates.
Die FDP nimmt mit ihrem Antrag pauschal positiv
auf das Jahresgutachten Bezug und leitet hieraus ihre be-
kannten politischen Forderungen ab. So fordert sie unter
anderem eine Reduzierung der arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen, eine Flexibilisierung des Kündigungs-
schutzes und eine allgemeine Absage an Mindestlöhne.
Der Antrag der FDP verbleibt weitestgehend in pro-
grammatischen Allgemeinplätzen. Die Kritik an der
Bundesregierung ist in weiten Bereichen nicht falsch,
kann dann aber nicht in Plattitüden wie „mehr Freiheit
wagen“ zusammengefasst und mit dem Abbau von Ar-
beitnehmerrechten garniert werden. Es ist einfach falsch
und fahrlässig, so undifferenziert zu argumentieren.
Mittlerweile sind nicht nur 74 Prozent der Bürgerin-
nen und Bürger für die Einführung von Mindestlöhnen,
sondern auch 68 Prozent der FDP-Wähler. Und das aus
gutem Grund: Schließlich müssen wirtschaftliche Fort-
schritte auch bei den Menschen ankommen. Niemandem
ist geholfen, wenn wir ein Heer von schlecht bezahlten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben, die dann
noch ergänzende staatliche Leistungen beziehen müssen,
um über die Runden zu kommen. Deswegen ist auch die
platte Forderung nach Flexibilisierung des Kündigungs-
schutzes falsch. Alle Gutachten zum Thema sagen uns:
Es lässt sich weder eine negative Auswirkung des Kün-
digungsschutzes auf die Wirtschaft nachweisen noch po-
sitive Auswirkungen, wenn wir ihn runterfahren. Aber
das Signal an die Menschen ist fatal: Heuern und Feuern –
und Arbeiten zu Dumpinglöhnen.
15962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Daher kann die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
diesem Antrag nicht zustimmen. Wir teilen die Einschät-
zung, dass wir uns intensiv mit den Forderungen des
Sachverständigenrates auseinandersetzen müssen. Das
versäumt die Bundesregierung und lässt viele gute und
wichtige Vorschläge der Experten in der Schublade ver-
stauben. Uns ist aber auch nicht geholfen, wenn wir mit
dem Holzhammer auf Arbeitnehmerrechte einschlagen
und die Menschen zu miesen Bedingungen beschäftigen.
Eine Wirtschaftspolitik, bei der nichts ankommt bei den
Menschen führt zu guter Rendite, aber zu einer Gesell-
schaft, die immer weiter auseinanderdriftet. Spätestens
nach Nokia sollte die FDP gemerkt haben, dass ein plat-
ter Neoliberalismus heute weder hilfreich ist noch die
Menschen überzeugt.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: E.ON-Netz in die öf-
fentliche Hand übernehmen (Tagesordnungs-
punkt 19)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Der Antrag der
Linken ist keine große Überraschung. Auf jedes Ereignis
in Politik und Wirtschaft kommt bei den Linken der re-
flexartige Ruf nach dem Staat. Zur Erinnerung an die
Schulzeit: Ein Reflex ist die Reaktion eines Organismus
auf einen bestimmten Reiz ohne Einschaltung des Ge-
hirns. Aber was ist denn auch von einer Partei zu erwar-
ten, die einmal einen Staat trug, der bis unter die Bettde-
cken seiner Bürger herumgeschnüffelt hat? Was Sie hier
fordern, ist nichts anderes, als das Rad der Geschichte
wieder zurückzudrehen. Davor kann ich nur warnen.
Ich möchte noch einmal daran erinnern, wo wir ei-
gentlich herkommen. Seit 1998 wächst der Energiemarkt
sukzessive zu einem Binnenmarkt zusammen. Die Vor-
teile, die den Verbrauchern durch den EU-weiten Wett-
bewerb bei anderen Produkten und Dienstleistungen
schon lange zugute kamen, sollten sich auch für Strom
und Gas umsetzen. Leider ist insbesondere Deutschland
unter der damaligen rot-grünen Regierung mit angezoge-
ner Handbremse gestartet. Zwar sind bis 2001/2002 die
Strompreise gesunken, aber das war eher ein Marktberei-
nigungseffekt der großen vier Erzeuger als wirklicher
Wettbewerb. Der verhandelte Netzzugang hemmte jede
Entwicklung, vom Gassektor will ich gar nicht erst re-
den.
Mit der EnWG-Novelle im Jahr 2005 haben wir einen
Paradigmenwechsel im Energiemarkt eingeläutet. Der
Union ist es im Vermittlungsverfahren durch Regulie-
rung der Netze und ein vereinfachtes Marktmodell im
Gasbereich gelungen, dem Wettbewerb mit dem Gesetz
wichtige Impulse zu geben. Seit November 2005 ist die
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni-
kation, Post und Eisenbahnen, kurz Bundesnetzagentur,
BNetzA, per Gesetz der neutrale Schiedsrichter, der die
Netzentgelte vorab anhand eines präzisen Kostenkata-
logs genehmigt und für einen fairen Zugang zu den Net-
zen sorgt. Das heißt, staatliche Regulierung wurde auf
den Bereich eingeschränkt, wo die Mechanismen des
Marktes versagt haben. Dazu gehört der natürliche Mo-
nopolbereich der Netze, nicht aber die Erzeugung oder
der Vertrieb. Und das Netz bleibt ein Monopol, egal ob
in staatlicher oder privater Hand. Deshalb bleibt uns
durch den Vorschlag der Linken kein Stück weit die Re-
gulierung erspart. Dem Wettbewerb ist durch eine staat-
liche Übernahme der Netze nicht geholfen.
Wir brauchen eine Regulierung, die diesem natürli-
chen Monopol entsprechende Rahmenbedingungen setzt
und einen Als-ob-Wettbewerb darstellt. Hier haben wir
gehandelt und sind den Weg des regulierten Netzzugan-
ges gegangen. Die Ex-ante- und die Anreizregulierung
sind Markenzeichen des Paradigmenwechsels. Damit
wurde klar der Pfad zu mehr Wettbewerb betreten. Das
ist zukunftsweisend und trägt bereits erste Früchte: Die
Netznutzungsentgelte für normale Haushaltskunden sind
im letzten Jahr um 1 Cent pro Kilowattstunde – von
7,7 Cent auf 6,7 Cent – gesunken. Der Anteil der Netz-
nutzungsentgelte an den Stromkosten ist von über
38 Prozent auf 32 Prozent zurückgegangen. Wir haben
für den Wettbewerb noch weitere Dinge getan: Erstens.
Private Stromverbraucher können ihren Lieferanten so
einfach wie ihr Bankkonto wechseln.
Zweitens. Wir schaffen mehr Wettbewerb bei der
Stromerzeugung. Denn wir brauchen neue Kraftwerke
und vor allem solche von neuen Anbietern.
Drittens. Der Netzbetreiber muss sich künftig an sei-
nen effizientesten Wettbewerbern messen lassen. Das
schaffen wir durch die so genannte Anreizregulierung.
Damit haben wir die Weichen gestellt, dass weitere Effi-
zienzpotenziale bei den Netzen gehoben werden.
Viertens. Solange der Wettbewerb jedoch noch nicht
wie gewünscht funktioniert, brauchen wir kurzfristig
eine Schärfung der kartellrechtlichen Missbrauchsauf-
sicht. Daher hat das BMWi eine Novelle des Gesetzes
gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB, auf den Weg
gebracht, die am ersten Januar 2008 in Kraft getreten ist.
Das Kartellamt hat seinen neuen Handlungsspielraum
direkt genutzt und Verfahren gegen 35 Gasversorger ein-
geleitet. Das ist im Sinne Ludwig Erhards, der einen
starken Staat dort wollte, wo er den Wettbewerb stützt.
Nun müssen die marktbeherrschenden Energiekonzerne
nachweisen, dass ihre Strom- und Gaspreise gerechtfer-
tigt sind.
Natürlich haben wir auch noch ein Stück Weg vor
uns. Die staatlich administrierten Abgaben und Belastun-
gen sind mit über 40 Prozent des Haushaltsstrompreises
noch deutlich zu hoch. Zudem müssen die bisher einge-
führten Anreiz- und Steuerinstrumente besser aufeinan-
der abgestimmt werden. Schließlich wollen wir nicht ein
gesetzgeberisches Dickicht schaffen, das ähnlich un-
durchdringlich und ineffizient ist wie das Steuerrecht.
Schon heute werden zu viele Stellen im Namen des Kli-
maschutzes parallel gefordert und gefördert, belohnt und
bestraft. Dazu ist der Emissionshandel als zentrales In-
strument des Klimaschutzes zu stärken.
Das sind komplexe Maßnahmen, die nicht immer ein-
fach zu verstehen sind. Dazu braucht man Gehirn. Aber
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15963
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nur durch mehr Wettbewerb sind optimal die Potenziale
zu nutzen, die in der Wirtschaft stecken. Die Linken
wollen mit ein paar Beamten das leisten, wozu Tausende
motiviere Marktteilnehmer bereitstehen. Sie wollen den
Staatshaushalt mit zusätzlichen Geldern belasten. Im-
merhin würde der Kauf des deutschen Stromnetzes über
100 Milliarden Euro kosten. Nicht damit eingerechnet
sind mehrere Milliarden Euro, die dringend in das
Stromnetz investiert werden müssen. Dieses Geld will
die Linke den Kommunen aufbürden. Das ist ein verant-
wortungsloser Umgang mit Steuergeldern und eine un-
geheuerliche Belastung für die nächsten Generationen.
Und nicht einmal der Strom wird dadurch billiger. Dort
wo sich das Stromnetz in öffentlichen Händen befindet,
sind die höchsten Strompreise zu zahlen. Die Beispiele
Schiene und Autobahn zeigen auch, wozu staatliche Be-
teiligung führt: zu Investitionsstau.
Nein, für die Union ist eindeutig: Wir schaffen An-
reize, dass mehr Anbieter in das Netz einspeisen können
und damit mehr Wettbewerb entsteht. Denn bei der Er-
zeugung ist das eigentlich preistreibende Oligopol, das
unbedingt geknackt werden muss. Die Entscheidung von
Eon, seine Stromnetze zu verkaufen, ist eine reine Unter-
nehmensentscheidung. Wenn sich ein Versorger freiwil-
lig von seinem Netz trennen will, wird er nicht aufgehal-
ten. Der Vorschlag der EU-Kommission geht aber weit
darüber hinaus. Brüssel will eine zwangsweise Abtren-
nung der Netze. Diesen Schritt lehnt die Bundesregie-
rung ab und hat auf EU-Ebene mit dem „dritten Weg“ ei-
nen vernünftigen Vorschlag unterbreitet. Sie hat dabei
die volle Unterstützung der Union.
Die von der EU-Kommission erwünschten Effekte
sind empirisch nicht belegbar. In Großbritannien etwa,
wo die Übertragungsnetze längst abgetrennt wurden, lie-
gen die Großhandelspreise für Strom seit Monaten konti-
nuierlich über den deutschen. Briten und Niederländer
konnten die Abtrennung der Verteilnetze vergleichs-
weise leicht durchsetzen, befanden sich diese doch in der
öffentlichen Hand. In Deutschland dagegen ist ein sol-
cher Schritt verfassungsrechtlich außerordentlich be-
denklich.
Art. 14 des Grundgesetzes – Schutz des Eigentums –
bildet einen hohen Schutzwall um die Netze. Ich be-
fürchte eine tiefgreifende Entflechtung verzögert die Li-
beralisierung erheblich. Jahrelanger Rechtsstreit ist vor-
programmiert. Rechtsunsicherheit behindert notwendige
Investitionen. Sie würden auch kein neues Auto kaufen,
wenn sie wüssten, dass der Staat es ihnen in einem hal-
ben Jahr abnimmt. Bevor wir europaweit nun zum
nächsten Sprung ansetzen, sollten wir lieber erstmal
schauen, ob der zweite Schritt vollständig getan wurde.
Das Zweite EU-Binnenmarktpaket ist noch gar nicht in
allen Mitgliedstaaten umgesetzt worden. In vielen Nach-
barländern, beispielsweise in Frankreich oder Spanien,
existieren merkwürdige Konstrukte, um die Strompreise
etwa für die Industrie staatlich zu senken. Hier entstehen
Wettbewerbsverzerrungen, die nicht vereinbar sind mit
einem liberalen Markt.
Deutschland hat in Europa die größte Netzstabilität
und die wenigsten Ausfallzeiten. Dieser Standard muss
gehalten werden. Gleichzeitig ist das Stromnetz eine der
Hauptschlagadern Deutschlands. Wenn dies nicht funk-
tioniert, gehen die Lichter aus. Darum hat Deutschland
ein vitales Interesse daran wer das Netz besitzt. Hier set-
zen wir uns für eine Ergänzung des Außenwirtschaftsge-
setzes ein, damit Mitsprache- und Einspruchmöglichkei-
ten entstehen, sobald 25 Prozent und mehr Anteile am
Stromnetz den Besitzer wechseln. Auch das gehört zu
den Rahmenbedingungen. Aber es sind nur Rahmenbe-
dingungen, die der Staat setzt, damit sich der Markt in
die richtige Richtung entfaltet. Es sind keine Fesseln, die
das Stromnetz an den Staat binden und zu einer sozialis-
tischen Steuerung führen. Natürlich kontrolliert der Staat
das Stromnetz nicht zu 100 Prozent. Das dies einer Par-
tei, die 40 Jahre lang jede Bewegung ihrer Bürger zu
100 Prozent kontrolliert hat, nicht passt, ist klar.
Die CDU ist die Partei der sozialen Marktwirtschaft.
Sie hat mit Ludwig Erhard die soziale Marktwirtschaft in
der Nachkriegszeit gegen vielfache Widerstände durch-
gesetzt und die Bundesrepublik Deutschland mit ihr er-
folgreich gemacht. Die CDU lehnt sozialistische und an-
dere Formen des Kollektivismus ab. Darum haben wir
auch begonnen den Energiemarkt in Deutschland so zu
formen, dass auch auf ihm die soziale Marktwirtschaft
gilt. Nur so ist eine konkurrenzfähige und sozialverträg-
liche Energieversorgung auf Dauer zu erreichen.
Der Antrag der Linken ist nicht marktwirtschaftlich
und schon gar nicht sozial und wird deshalb von der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion abgelehnt.
Rolf Hempelmann (SPD): Wir haben es heute mit
einem sehr aktuellen Thema zu tun: dem vom Eon-Kon-
zern angekündigten Verkauf seines Netzbetriebs. Diese
Nachricht hat insbesondere im Blätterwald einige Aufre-
gung und auch Erstaunen ausgelöst. Ich denke aber, dass
sich die Überraschung über diese Entscheidung jeden-
falls bei allen, die die aktuelle Diskussion genau verfol-
gen, in Grenzen gehalten haben dürfte. Wir wissen, dass
die Unternehmen derzeit eine Reihe von Optionen prü-
fen, wie zukünftig mit dem Netzgeschäft umzugehen ist.
Und dazu gehört selbstverständlich auch die Möglichkeit
eines Verkaufs.
Diese Überlegungen haben mehrere Ursachen. Eine
davon ist sicherlich die 2005 durch die Novelle des
Energiewirtschaftsgesetzes bzw. die Einrichtung der
Bundesnetzagentur, BNetzA, ausgelöste Kontrolle der
Netznutzungsentgelte. Dieses Regulierungsinstrument
funktioniert; gerade im Strombereich haben wir bereits
in der ersten Entgeltgenehmigungsrunde Absenkungen
der beantragten Netzentgelte in einer Höhe von rund
2,5 Milliarden Euro erlebt. Mindestens für den Bereich
der Übertragungsnetzbetreiber hat die BNetzA mit ihren
Entscheidungen vom Januar dieses Jahres deutlich ge-
macht, dass sie willens ist, den eingeschlagenen Weg
fortzusetzen. Kürzungen von bis zu 29 Prozent gegen-
über den Anträgen sprechen, so denke ich, eine sehr
deutliche Sprache.
Wir befinden uns also erkennbar in einer Situation, in
der die Zeiten der Monopolrenditen offenkundig vorbei
sind. Man könnte auch sagen: Politik und Regulierungs-
15964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
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behörden sind in ihrem Bestreben, Kostensenkungs-
potenziale im Netzbereich zu erschließen, erfolgreich.
Dass damit umgekehrt für die großen, aber auch für die
kleinen Netzbetreiber die Attraktivität des Netzgeschäfts
nicht eben zunimmt, dürfte auf der Hand liegen und ei-
nen wesentlichen Einfluss auf Entscheidungen wie die
heute zu diskutierende haben.
Darüber hinaus haben wir alle mitbekommen, dass
die Eon-Entscheidung zum Netzverkauf in erheblichem
Umfang durch Prozesse auf europäischer Ebene beför-
dert oder zumindest beschleunigt worden ist. Da war
zum einen das seit längerem laufende EU-Kartellverfah-
ren gegen Eon, das die Kommission im Falle eines Netz-
verkaufs offenbar einzustellen bereit ist. Ich meine, dass
es schon berechtigt ist, an dieser Stelle einmal nachzu-
fragen, ob es denn wirklich opportun ist, wenn hier
Dinge, die eigentlich nur sehr wenig miteinander zu tun
haben, von der Kommission zur Durchsetzung ihrer In-
teressen instrumentalisiert werden.
Da war zum anderen die Debatte um eine eigentums-
rechtliche Entflechtung vertikal integrierter Energiekon-
zerne, wie sie von der Kommission in ihrem im September
letzten Jahres vorgestellten Energiebinnenmarktpaket
gefordert worden ist. Diese Debatte hat in den zurücklie-
genden Wochen noch einmal deutlich an Fahrt aufge-
nommen, auch durch die Tatsache, dass acht Mitglied-
staaten – darunter Deutschland und Frankreich – ein
Alternativkonzept, einen dritten Weg, vorgestellt haben.
Dieses Alternativmodell, das den bestehenden Regulie-
rungsrahmen verschärfen und insbesondere organisatori-
sche Maßnahmen zur Steigerung der Unabhängigkeit der
Netzgesellschaften sowie konkrete Vorgaben für den Be-
reich der Netzinvestitionen umfassen würde, hätte zu-
gleich den Vorteil, ohne tief greifende Eingriffe in beste-
hende Eigentumsstrukturen auszukommen.
In dieser Auseinandersetzung hat die Eon-Entschei-
dung die Position der Kommission sicherlich nicht gerade
geschwächt. Dennoch: Bis heute ist uns die Kommission
den Nachweis schuldig geblieben, dass die Eigentum-
sentflechtung tatsächlich Vorteile im Sinne der Verbrau-
cher mit sich bringt. Jedenfalls im Blick auf die bislang
vorliegenden empirischen Daten ist eher vom Gegenteil
auszugehen. Nimmt man etwa einen seriösen Vergleich
der Strompreise vor, dann ergibt sich folgendes Bild:
2006 lag der Strompreis ohne Steuern und Abgaben im ei-
gentumsrechtlich entflochtenen Italien bei 16,7 Cent/
kWh, und exakt derselbe Preis war auch im oft zitierten
Musterland des energiewirtschaftlichen Wettbewerbs, im
Großbritannien, zu entrichten. In Deutschland dagegen
lag der Preis auf der Grundlage einer informatorischen
und operationellen, aber eben nicht eigentumsrechtlichen
Entflechtung bei 11,8 Cent und damit beinahe ein Drittel
unter dem von Italien und Großbritannien. Selbst wenn
man in Rechnung stellt, dass es auch Staaten mit Eigen-
tumsentflechtung gibt, in denen die Preise wie zum Bei-
spiel in Dänemark oder Schweden geringfügig unterhalb
des deutschen Niveaus liegen, geht kein Weg an der Er-
kenntnis vorbei, dass die Unterstellung eines Kausalzu-
sammenhangs von Eigentumsentflechtung und Preisen
schlechterdings nicht aufrechtzuerhalten ist.
Ganz ähnlich sieht es übrigens auch bei den Netz-
investitionen aus. Die Kommission geht hier – analog
zur Frage der Preise – davon aus, dass eine Eigentums-
entflechtung günstige Auswirkungen auf die Investi-
tionstätigkeit der Netzbetreiber und damit auf die Netz-
sicherheit insgesamt haben würde. Ein Gutachten der
Unternehmensberatung A. T. Kearny, das diese Frage
genauer analysiert, kommt zu anderen Ergebnissen: Mit
Ausnahme von National Grid in Großbritannien ist keine
Korrelation zwischen der gewählten Entflechtungs-
variante und der Investitionstätigkeit der Netzbetreiber
zu erkennen.
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass
sich die Frage der Netzinvestitionen noch verschärfen
würde, wenn die Kommission ihre Forderung nach einer
Eigentumsentflechtung ohne die Aufnahme einer etwai-
gen dritten Option gegen die Unternehmen durchsetzen
würde. Die Folge wären möglicherweise langwierige ju-
ristische Auseinandersetzungen, während derer wohl
kaum ein Netzbetreiber noch ausreichend in den Ausbau
und Erhalt seines Netzes investieren würde. Demgegen-
über hätten Modelle wie die aktuell diskutierte Variante
einer Netz AG, in die die verschiedenen Übertragungs-
netzbetreiber ihre Netze einbringen würden und die auch
weitere Kapitalgeber umfassen würde, sicherlich den
Vorteil, dass sie auf freiwilliger Basis erfolgen und die
Gefahr eines Investitionsattentismus verringern würden.
Im Unterschied zu den Antragstellern von der Linken
bin ich fest davon überzeugt, dass eine solche privatwirt-
schaftliche Organisation der Netzgesellschaft erhebliche
Vorteile gegenüber einer Verstaatlichung hätte. Alle Er-
fahrung zeigt doch, dass der Staat, wo immer er in eine
quasi-unternehmerische Rolle geschlüpft ist, nicht eben
erfolgreich gewesen ist. Unternehmen in öffentlicher
Hand haben sich nicht dadurch ausgezeichnet, dass sie
besonders kosteneffizient agieren und sich privaten Un-
ternehmen gegenüber als überlegen erweisen. Im Gegen-
teil. Weil das so ist, sage ich an die Adresse der Linken:
Schuster bleib bei deinem Leisten. Wir in der Politik
sollten, wie wir das im Rahmen der Netzregulierung ja
auch erfolgreich tun, in der Tat klare Rahmenbedingun-
gen setzen. Das operative Geschäft aber sollten wir doch
denjenigen überlassen, die über die notwendige unter-
nehmerische Kompetenz verfügen.
Diese Präferenz für eine privatwirtschaftliche Lösung
macht übrigens nicht nur vor dem Hintergrund der Frage
der Kosteneffizienz einigen Sinn. Ich glaube vielmehr,
dass auch unser aller Interesse an einer auch weiterhin
hohen Netzqualität und -sicherheit am ehesten auf dieser
Basis erfüllt werden kann. Wir benötigen in den kom-
menden Jahren massive Investitionen in den Ausbau un-
serer Netze. Diese Investitionen wird es nicht geben
ohne Investoren, die bereit sind, Milliardenbeträge in die
Hand zu nehmen. Anders als Die Linke bin ich davon
überzeugt, dass sich diese Mittel am ehesten von einem
privatwirtschaftlich organisierten Netzbetreiber und
eben nicht von der öffentlichen Hand werden aufbringen
und effizient einsetzen lassen.
Das allerdings hat auch zur Voraussetzung, und zwar
unabhängig davon, ob eine etwaige Netzgesellschaft pri-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15965
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vat oder öffentlich organisiert wäre, dass wir auch
zukünftig Rahmenbedingungen gestalten, die angemes-
sene, aber eben auch auskömmliche Renditen ermögli-
chen. Ein „race to the bottom“, das früher oder später
zwangsläufig zulasten der Netzqualität gehen müsste,
kann in niemandes Interesse liegen. Im Gegenteil: Wir
alle wissen, dass die Ansprüche an die Netze aufgrund
einer immer dezentraleren Struktur der Stromeinspei-
sung, aber auch wegen des zunehmenden internationalen
Stromhandels in den nächsten Jahren erheblich steigen
werden. Dafür brauchen wir leistungsfähige und investi-
tionsstarke Netzbetreiber. Die Verstaatlichung der Netze,
wie sie der Linken vorschwebt, ist kaum der geeignete
Weg, um den vor uns liegenden Herausforderungen ge-
recht zu werden.
Gudrun Kopp (FDP): „Um es gleich vorweg zu sa-
gen: Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den hier und
heute zu beratenden Antrag der Fraktion Die Linke
„Eon-Netz in die öffentliche Hand übernehmen“ ab. Wir
lehnen ihn ab, weil er ökonomisch falsch ist; offenbart,
dass die Linkspartei aus der Geschichte nichts gelernt
hat; einen Anschlag auf die soziale Marktwirtschaft dar-
stellt.“
Vom Titel des Antrags abgesehen sind diese ersten
Zeilen meiner heutigen Rede identisch mit dem, was ich
in der vorletzten Woche zu einem anderen Antrag der
Fraktion Die Linke hier im Hohen Hause vorgetragen
habe. Dies zeigt, dass die Linkspartei offenbar nicht in
der Lage ist, sich aus den Fesseln der Vergangenheit zu
lösen. Es nutzt aber weder den Menschen in Deutschland
noch irgendwelchen abstrakten Verteilungsphantasien,
wenn Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Lin-
ken, hier jede Woche zu jedem Thema die immergleiche
Lösung vortragen: nämlich die Verstaatlichung der Pro-
duktionsmittel! Was bei Marx schon falsch war und im
vergangenen Jahrhundert Hunderte von Millionen Men-
schen in den ökonomischen Abgrund und – das sollte
nicht vergessen werden – den millionenfachen Tod ge-
trieben hat, das kann kein Rezept für die Zukunft sein.
Solange Sie Ihren Sozialismusphantasien zur Verskla-
vung der Menschheit anhängen, können Sie nicht auf die
Zustimmung der FDP rechnen.
Eine Verstaatlichung von Energienetzen – sei es im
Übertragungsnetzbereich, im Verteilnetzbereich oder in
beiden – löst nicht ein einziges Problem, das wir heute
auf den Energiemärkten haben, es schafft lediglich neue.
Die Energienetzwirtschaft kennt so gut wie keinen paral-
lelen Netzbau, weshalb dieser Sektor zu Recht als natür-
liches Monopol bezeichnet wird. Natürliche Monopole
tendieren immer dazu, Kosten zu produzieren, völlig un-
abhängig davon, wer dieses Monopol betreibt. Das wäre
auch und gerade bei einem öffentlichen Unternehmen
nicht anders. Und genau deshalb ist es unabdingbar, dass
diese Monopole staatlich reguliert werden. Dies ge-
schieht in Deutschland seit 2005 durch die Bundesnetz-
agentur, die ihre Sache nach unserer Meinung ganz aus-
gezeichnet macht. Dafür meinen herzlichen Dank an
Herrn Kurth und seine Mitarbeiter, die diese schwierige
Aufgabe übernommen haben.
Dies allein zeigt schon, dass eine Verstaatlichung der
Übertragungsnetze uns wettbewerbspolitisch keinen
Schritt weiterbringen würde. Dafür entstünde aber eine
ganze Reihe neuer Probleme:
So müsste zunächst einmal ein Enteignungsverfahren
durchgeführt werden für diejenigen Netze, die nicht frei-
willig veräußert werden. Dafür sieht unser Grundgesetz
zu Recht hohe Hürden vor, die zu überschreiten vermut-
lich Jahre in Anspruch nehmen würde, in denen kein
Cent in den dringend notwendigen Ausbau der Netze in-
vestiert würde. Auch bleibt unbeantwortet, woher das
Geld für eine solche Transaktion kommen soll. Soll der
Bund, der noch immer aufgrund einer verfehlten Haus-
haltspolitik jedes Jahr neue Schulden aufnimmt, die
Steuern erhöhen, um diese Milliardenbeträge zusam-
menzubringen? Und wenn ja, welche Steuern wollen Sie
erhöhen?
Darüber hinaus bringen öffentliche Unternehmen im-
mer ganz spezifische Probleme mit sich, die jeder von
uns von seinen örtlichen Sparkassen oder Unternehmen
wie der Deutschen Post AG oder Telekom kennt. Zu-
nächst einmal werden diese Betriebe – das ist im kom-
munalen Bereich deutlich zu erkennen – allzu gern be-
nutzt als Versorgungsposten für verdiente Parteifreunde,
die nach Parteienproporz eingesetzt werden – nicht im-
mer zum Vorteil der Unternehmen. Ferner werden diese
Unternehmen nicht selten mit sachfremden Aufgaben
überfrachtet.
Unter dem Strich bleibt festzuhalten: Liebe Kollegen
und Kolleginnen von der Linkspartei, lassen Sie sich
doch einmal was Neues einfallen. Jedes erdenkliche Pro-
blem immer gleich mit Steuererhöhungen, Verstaatli-
chung und Regulierung zu beantworten, mag zwar ihre
Kommunistenfreunde in Westdeutschland erfreuen, ein
Beitrag zur Lösung energiewirtschaftlicher Probleme ist
das nicht.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Jahrelang hat die Eon AG
gemeinsam mit den anderen Stromkonzernen die Bun-
desregierung vorgeschickt, in Brüssel gegen eine Ent-
flechtung von Stromproduktion und Transport zu kämp-
fen. Pünktlich zum Energierat, an dem genau über diese
Frage verhandelt werden sollte, kam der Paukenschlag:
Ohne vorher mit der Bundesregierung gesprochen zu ha-
ben, kündigt Eon an, sich von seinem Übertragungsnetz
zu trennen. Eon tanzt der Bundesregierung auf der Nase
herum und macht sie in Brüssel lächerlich.
Bis zu 8 Milliarden Euro, das ist die Strafe, die Eon
laut Medienberichten droht – wegen illegaler Preisab-
sprachen und Behinderung des Wettbewerbs. Die bei
Eon von der EU-Kommission beschlagnahmten Akten
enthalten offenbar hinreichende Beweise für den Markt-
machtmissbrauch. Und nun die Absprache zwischen der
EU-Kommission und Eon: Brüssel verzichtet auf die
Strafe, wenn sich Eon von seinem Übertragungsnetz und
von Kraftwerkskapazitäten in Höhe von 4 800 Megawatt
trennt. Das ist ein fauler Deal; in dieser Hinsicht stimme
ich mit Minister Glos völlig überein. Eon darf nicht mit
einem politischen Kuhhandel aus der Verantwortung ent-
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lassen werden. Wer die Stromkundinnen und Stromkun-
den betrügt, muss bestraft werden.
Was soll nun aber mit den Netzen passieren? Sie wur-
den in der Vergangenheit heruntergewirtschaftet. Der
Blackout im November 2005, der auf dem Gebiet der
RWE passierte, war nur eine Vorwarnung. Die Netze
sind völlig veraltet. Ihre übliche Nutzungsdauer wird auf
50 Jahre angesetzt. Laut Bundesnetzagentur haben die
220 KV-Masten im Durchschnitt das Alter von 50 Jah-
ren, manche sind sogar 80 bis 85 Jahre alt. Die Strom-
konzerne haben fleißig überhöhte Netznutzungsgebüh-
ren kassiert, aber kaum in die Netze investiert. Dies
gefährdet die Versorgungssicherheit und behindert den
Ausbau regenerativer Energien. Es ist doch im Sinne des
Klimaschutzes unerträglich, dass bei starkem Wind, also
genau dann, wenn viel Windstrom produziert werden
könnte, die Windanlagen abgeschaltet werden müssen,
weil das Netz von Eon den Strom nicht aufnehmen kann.
Jahrelang haben sie den Ausbau der Netze in die Regio-
nen, in denen regenerativer Strom produziert wird,
verzögert. Und warum? Weil der saubere Strom eine un-
angenehme Konkurrenz für die Atom- und Kohlever-
stromer wie Eon ist.
Der Betrieb der Netzinfrastruktur muss gesamtgesell-
schaftlichen Zielen dienen. Aufgabe ist eine möglichst
sichere, bezahlbare, umweltverträgliche, verbraucher-
freundliche und effiziente Versorgung der Allgemein-
heit. Das Beispiel Eon zeigt, dass diese Ziele mit einem
privatwirtschaftlichen Netzbetrieb nicht zu erreichen
sind: Die Netze sind überaltert, die Durchleitungsgebüh-
ren viel zu hoch, der Einsatz regenerativer Energien wird
behindert und bezahlen müssen dies alles die Verbrau-
cher und Verbraucherinnen mit völlig überteuerten
Strompreisen. Auch dieses Jahr vermeldet Eon wieder
eine Gewinnsteigerung von 27 Prozent auf 7,7 Milliar-
den Euro. Hauptursache: die hohen Strompreise.
Aufgrund des überragenden Allgemeinwohlinteresses
darf das Übertragungsnetz von Eon weder in die Hände
privater Finanzspekulanten noch anderer privater Inves-
toren fallen. Auch diese würden nur versuchen, mög-
lichst hohe Profite mit dem Netz zu erzielen. Die Strom-
netze gehören – genauso wie die Straßen und das
Schienennetz – in die öffentliche Hand. Diese ist dafür
am besten geeignet. Sie kann die Ziele, der sicheren und
effizienten Stromversorgung mit den Zielen der sauberen
und bezahlbaren Versorgung am besten vereinigen. Die
Investitionsmittel für den nötigen Ausbau und der Er-
neuerung der Netze können weiterhin über die Nut-
zungsentgelte refinanziert werden. Die öffentliche Hand
muss aber keine höchstmögliche Rendite mit den Netzen
erzielen. Sie kann deshalb die Preise senken. Und was
am wichtigsten ist: Sie kann den Netzbetrieb auf die
energiepolitischen Ziele von Klimaschutz und Atomaus-
stieg ausrichten.
Eon hat die Verpflichtungen, die mit dem Netzbetrieb
verbunden sind, nicht in ausreichendem Maße erfüllt.
Dies ist ein Missbrauch der Netzinfrastruktur, der eine
Enteignung oder Vergesellschaftung im Sinne des
Grundgesetzes rechtfertigt. Zur Entschädigungsfrage
stellt die Deutsche Bank völlig zu Recht fest, dass die
Energieriesen die hohen Gewinne und ihr Kapital un-
rechtmäßig mit Monopolrenditen erwirtschaftet haben.
Damit haben sie ihre Entschädigung für die Enteignung
schon vorab kassiert. Deshalb: Lassen Sie uns jetzt die
Chance nutzen und das Netz der Eon AG in die öffentli-
che Hand überführen.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Von Wettbewerb auf dem Energiemarkt können wir
ernsthaft nicht reden. 90 Prozent der Stromerzeugung
wird durch die großen Vier – Eon, EnBW, Vattenfall und
RWE – abgedeckt, und sie halten das ganze Übertra-
gungsnetz. Die Wettbewerber klagen über Hindernisse
beim Netzanschluss. Der Bundesnetzagentur und dem
Bundeskartellamt fehlen Mittel und Personal. Die Ver-
braucherinnen und Verbraucher klagen über steigende
Energiepreise.
Ownership Unbundling: Die Trennung von Netz und
Energieerzeugung ist dringend geboten, damit die Neuen
– insbesondere auch die Anbieter von Strom aus regene-
rativen Energiequellen – auf dem Strommarkt eine
Chance haben und die Hindernisse aus dem Weg ge-
räumt werden, die die Großen gesetzt haben. Wir müs-
sen auch das Oligopol der Großen bei der Energieerzeu-
gung brechen. Bündnis 90/Die Grünen fordert, sie so
lange zum Verkauf von Kraftwerken zu zwingen, bis
ihre Übermacht abgebaut ist.
Die EU fordert den Wettbewerb massiv ein und dringt
auf Ownership Unbundling. Was macht die Bundesre-
gierung? Statt die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher zu vertreten und den Wettbewerb zu stär-
ken, kämpft Minister Glos auf totem Gleis weiter in
Brüssel für seinen dritten Weg. Dabei hat sich seit eini-
gen Tagen die Lage völlig verändert. Eon fällt dem Wirt-
schaftsminister in den Rücken. Um sich vor drohenden
Kartellverfahren zu schützen, geht Eon in die Offensive
und bietet seinerseits an, sein Übertragungsnetz zu ver-
kaufen. Das wirft ohne Zweifel die Frage auf, ob hier ein
fauler Deal vorliegt. Nichtsdestotrotz öffnen sich da-
durch aber neue Chancen für den Wettbewerb. Auch
Vattenfall denkt laut nach, wie es weitergehen soll und
ob das eigene Netz an den Markt gebracht werden soll.
Diese Entwicklung ist absolut positiv zu bewerten.
Damit – und mit einem weiteren Unbundling-Engage-
ment der EU – kommt Bewegung in den starren Energie-
markt. Jetzt gilt es, Konzepte zu entwickeln, um den
Energiemarkt neu zu ordnen.
Der Antrag der Linken zur Verstaatlichung des Eon-
netzes bringt in der Sache gar nichts. Im Klartext: Eon
bewegt sich zögerlich, darum wird sein Netz enteignet.
Was ist mit RWE, mit Vattenfall, mit EnBW? Da
schweigt sich die Linksfraktion aus. Was würde das
Bundesverfassungsgesetz zu einer Lex Eon sagen? Eine
Sozialisierung lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln,
sondern muss gut begründet werden. Auch der Gleich-
heitsgrundsatz kann hier nicht einfach missachtet wer-
den. Aber selbst bei einer Enteignung aller Netze wird
nicht von heute auf morgen alles gut. Vermutlich wären
jahrelange Prozesse die Folge, während derer dann nie-
mand mehr ins Netz investiert, weil die Lage unklar ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15967
(A) (C)
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So einfach darf man es sich auch nicht machen, dass ein
VEB Netze dann alles gut werden lassen würde.
Die Netze reichen nicht, wie sie sind. Wir brauchen
Investitionen: an den Grenzkuppelstellen, bei den Wind-
parks, bei neuen umweltfreundlichen Kraftwerken. Dazu
brauchen wir Know-how, Geld und Verantwortungsbe-
wusstsein. Das Know-how gibt es jetzt schon bei den
Netzabteilungen der Großen. Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter lassen sich in neue Strukturen einbinden. In-
vestoren fürs Netz sind gesucht. Die müssen wir moti-
vieren – und mit klaren Regeln dafür sorgen, dass keine
einseitige Dominanz besteht. Deshalb müssen die gro-
ßen Vier ihre Netze abgeben. Ziel muss sein, die Netze
in eine gesamtdeutsche Netzgesellschaft zu integrieren.
Dabei muss der Staat die Regeln setzen. Das heißt aber
nicht, bis ins letzte Unternehmensglied die Verwaltungs-
struktur des öffentlichen Dienstes umzusetzen. Wir müs-
sen klare Entscheidungen für einen wettbewerbsgerech-
ten Netzausbau auf der Zielebene der Netzgesellschaft
umsetzen. Dafür brauchen wir einen ordnungspolitisch
starken Staat, der vernünftig mit den Investoren zusam-
menarbeitet.
Die Probleme sind klar, auch die Anforderungen der
EU. Mit platten Anträgen für der einer Lex Eon ist nie-
mandem geholfen. Wir brauchen jetzt vernünftige Pläne
für eine deutsche Netzgesellschaft, und wir brauchen
eine Bundesregierung, die im Bereich Energie, Wettbe-
werb und Verbraucherschutz endlich ihrer ordnungspoli-
tischen Verantwortung gerecht wird.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Erwerbsarmut ver-
hindern – Einkommen stärken – Wohngeld jetzt
verbessern (Tagesordnungspunkt 20)
Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir diskutieren
heute einen Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen, den diese Fraktion am 13. Februar 2008, also
erst kürzlich, in den Deutschen Bundestag eingebracht
hat. Der Antrag der Grünen hat zum Ziel, das Wohngeld
für die Bezieher geringerer Einkommen zu erhöhen.
Nun ist die Reform des Wohngeldrechts in den letzten
Monaten bereits verstärkt in den Fokus parlamentari-
scher Beratungen gelangt. Im Koalitionsvertrag vom
11. November 2005 hatten CDU, CSU und SPD das Ziel
formuliert, das Wohngeldrecht durch Bund und Länder
zügig mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfachung zu
überprüfen. Im Mittelpunkt hierbei stand die Prämisse,
das Wohngeld werde weiterhin der sozialen Absicherung
des Wohnens dienen. Wohngeld sei keine Subvention,
sondern eine Fürsorgeleistung. So steht es im Koali-
tionsvertrag und daran halten wir auch fest.
In Umsetzung der Ziele dieses Vertrages hat die Bun-
desregierung im September vergangenen Jahres den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Wohngeld-
rechts und zur Änderung anderer wohnungsrechtlicher
Vorschriften vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf hat zum
Ziel, das Wohngeldrecht fortzuentwickeln und im Voll-
zug zu vereinfachen. Hintergrund ist, dass die sogenann-
ten Transferleistungsempfänger, also unter anderem die
Empfänger von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe, seit
dem 1. Januar 2005 vom Bezug von Wohngeld ausge-
schlossen sind. Die Kosten für die Unterkunft dieses
Personenkreises werden seitdem im Rahmen der jeweili-
gen Transferleistung berücksichtigt.
Seit Januar 2005 hat deswegen die Zahl der Wohn-
geldempfänger deutlich abgenommen. Im Jahr 2006 ha-
ben knapp 666 000 Haushalte Wohngeld erhalten. 2004,
vor der Reform, lag die Zahl noch bei knapp 2,3 Millio-
nen Haushalten. Die finanziellen Aufwendungen für das
Wohngeld sind von 5,1 Millionen Euro im Jahre 2004
auf 1,1 Millionen Euro im Jahre 2006 zurückgegangen.
Zugleich hat aber die Zahl derjenigen Haushalte zuge-
nommen, die ergänzend Arbeitslosengeld II in Form der
sogenannten Kosten der Unterkunft beziehen. Diese
Leistungen sind im Vergleich zum Wohngeld vielfach
höher. Weil jedoch die Kosten für die Unterkunft eine
kommunale Leistung darstellen, findet derzeit eine Kos-
tenverlagerung auf die Kommunen statt. Von dieser Kos-
tenverlagerung profitieren der Bund und die Länder.
Deshalb ist eine Erhöhung des Wohngeldes auch im ur-
eigenen Interesse unserer Kommunen; denn so stärken
wir deren Finanzkraft und deren politische Handlungsfä-
higkeit.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung des Deutschen Bundestages hat am 12. Dezember
2007 eine umfangreiche Expertenanhörung durchge-
führt. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Anhörung
ist vom Ausschuss zwischenzeitlich noch nicht vorge-
nommen worden. Dafür bedarf es angesichts der umfas-
senden Stellungnahmen der Experten auch noch einiger
Zeit. Wir wollen eine Gesetzesnovelle, die in erster Linie
den Empfängern des Wohngeldes nützt und ihnen ge-
recht wird. Schnellschüsse lehnen wir von der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion in diesem Zusammenhang ab.
Sicherlich ist es die Aufgabe einer Oppositionsfrak-
tion, die Arbeit der Bundesregierung kritisch zu beglei-
ten. Wenn allerdings von den Grünen in dem heute zu
diskutierenden Antrag formuliert wird, der von der Bun-
desregierung vorgelegte Entwurf des Gesetzes zur Ände-
rung des Wohngeldrechts ziele lediglich auf eine Verein-
fachung von Verwaltungsabläufen ab und sei mangels
einer Leistungsnovelle nicht geeignet, das Wohngeld als
ein den Leistungen des SGB II vorgelagertes System zu
stärken, so muss dies schon verwundern.
Bereits am 17. Januar 2008, also rund einen Monat
vor Einreichung des Antrages der Grünen, haben mein
Kollege Dirk Fischer und ich erklärt, dass eine Wohn-
gelderhöhung auf der Tagesordnung steht und die CDU/
CSU-Fraktion dem offen gegenübersteht. Wir haben da-
mit bereits kurz nach dem Jahreswechsel die von den
Grünen jetzt erst geforderte Leistungsnovelle beim
Wohngeldrecht zusammen mit unserem Koalitionspart-
ner angeschoben. Wir hielten es also schon früh für
gerechtfertigt, die im Ausschuss beratene Wohngeldno-
velle um eine weitere Leistungskomponente zu ergän-
zen. Nachzulesen ist dies in unserer Presseerklärung
15968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
vom 17. Januar. Die Grünen scheinen hier ein wenig die
Zeit verschlafen zu haben; anders ist der heute hier in
Rede stehende Antrag nicht zu deuten.
Das Konzept der Bundesregierung zur Erhöhung des
Wohngeldes liegt bereits seit dem 22. Februar auf dem
Tisch. Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht die Entlas-
tung der Hauptbezieher von Wohngeld. Dies sind seit
Einführung des Arbeitslosengeldes II nunmehr in erster
Linie viele Arbeitnehmer mit geringem Einkommen so-
wie Rentner. Seit 2001 sind die Mieten um 7 Prozent, die
kalten Betriebskosten um 7 Prozent und die warmen Be-
triebskosten um 32 Prozent angestiegen. Die Mietbelas-
tung bei Haushalten mit niedrigem Einkommen liegt
heute durchschnittlich bei 35 Prozent des Gesamtein-
kommens und damit deutlich über der Mietbelastung im
Bundesdurchschnitt, die bei etwa 25 Prozent liegt. Wir
werden deshalb geringverdienende Arbeitnehmer und
Rentner bei der Bewältigung dieses Kostenanstiegs an-
gemessen unterstützen.
Das Konzept der Bundesregierung sieht hierzu eine
Erhöhung des Wohngeldes um insgesamt 520 Millionen
Euro vor. Von der Verbesserung werden ab 2009 rund
850 000 Haushalte profitieren. Eine Familie mit zwei
Kindern könnte dann rund 80 Euro mehr im Monat er-
halten. Das bedeutet eine Steigerung gegenüber jetzt um
etwa 70 Prozent. Insgesamt wird das Wohngeld im
Durchschnitt von 90 auf 150 Euro steigen. Dies zeigt:
Die von der Großen Koalition geplante Wohngelderhö-
hung hilft Haushalten mit geringem Einkommen. Die
CDU/CSU-Fraktion begrüßt daher das geplante Gesetz-
gebungsvorhaben.
Über den Antrag der Grünen werden wir in den Aus-
schussberatungen zu befinden haben.
Sören Bartol (SPD): In Ihrem Antrag fordern die
Grünen die Bundesregierung auf, das Wohngeld jetzt zu
verbessern – eine richtige Forderung. Darüber herrscht
Konsens in diesem Haus. Das wollen wir alle. Aktuell
aber ist diese Forderung Ihres Antrags vom 13. Februar
2008 nicht mehr. Am 22. Februar hat Bundesminister
Tiefensee sein Konzept für eine Wohngelderhöhung vor-
gestellt. Nach der Einigung der Fraktionsspitzen von
CDU/CSU und SPD auf der Klausurtagung vom
26./27. Februar wird das Konzept zur Wohngelderhö-
hung nun vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ausgearbeitet.
Das Konzept sieht eine Erhöhung um insgesamt
520 Millionen Euro vor. Für die Empfängerinnen und
Empfänger bedeutet das eine durchschnittliche Erhö-
hung ihrer Wohngeldleistung um rund zwei Drittel. Eine
Familie mit zwei Kindern würde rund 80 Euro mehr er-
halten, eine Rentnerin ca. 42 Euro mehr. Insgesamt wird
das Wohngeld im Schnitt von 90 auf 150 Euro steigen.
Eine Leistungsverbesserung des seit 2001 nicht mehr er-
höhten Wohngeldes war nicht zuletzt vor dem Hinter-
grund des im Wohngeld- und Mietenbericht 2006 der
Bundesregierung konstatierten Mietanstiegs von
10 Prozent, vor allem aber aufgrund der in diesem Zeit-
raum mit mehr als 30 Prozent überproportional gestie-
genen Energiepreise dringend erforderlich geworden.
Mittel- und langfristig haben wir mit dem CO2-Gebäu-
desanierungsprogramm und der Einführung des Energie-
ausweises eine adäquate und nachhaltige Antwort auf
das Problem der steigenden Energiekosten gefunden. Er-
gänzend dazu brauchen wir jetzt eine Erweiterung des
Wohngeldes, um Geringverdiener und Rentner zu unter-
stützen, für die hohe Nebenkostenabrechnungen ein Ar-
mutsrisiko bedeuten. Maßstab dabei muss deshalb die
Warmmiete sein. Hierbei gilt es, eine Lösung zu finden,
die sowohl sozial- als auch energiepolitisch sinnvoll ist.
Das von Bundesminister Tiefensee vorgestellte auf drei
Säulen basierende Konzept wird beidem gerecht. Dazu
sieht es – wie unter anderem auch im vorliegenden An-
trag gefordert – die Umstellung des Wohngeldsystems
von einem Bruttokaltmieten- auf ein Warmmietenkon-
zept vor. Damit werden die Heizkosten in die berück-
sichtigungsfähige Miete einbezogen. Anreize zum Ener-
giesparen bleiben trotzdem bestehen, da immer nur ein
Teil der Warmmiete erstattet wird. Zudem werden die
Miethöchstbeträge um 10 Prozent angehoben. Diese An-
hebung ermöglicht die Berücksichtigung höherer Mieten
bei der Wohngeldberechnung; das ist eine bei der Um-
stellung auf Warmmieten notwendige flankierende Maß-
nahme, da sonst die Einbeziehung der Nebenkosten bei
mehr als 60 Prozent der Empfänger ins Leere laufen
würde. Drittens ist eine Anhebung der Wohngeldtabel-
lenwerte um 10 Prozent vorgesehen. Hinzu kommt die
Zusammenfassung der Höchstbeträge für Miete in einer
Kategorie auf Neubauniveau. Der Wegfall der Baual-
tersklassen bedeutet für rund zwei Drittel der Haushalte,
die Wohngeld empfangen, eine finanzielle Verbesserung.
Das von Bundesminister Tiefensee vorgestellte Kon-
zept entspricht sowohl dem Ergebnis der Sachverständi-
genanhörung zum Wohngeldänderungsgesetz vom
12. Dezember 2007 als auch den Forderungen der Bau-
und Wohnungspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion,
die in der Debatte um die Novelle des Wohngeldgesetzes
klargestellt hatten, dass der im Gesetzentwurf zum
Wohngeldänderungsgesetz zentralen Verwaltungsverein-
fachung eine deutliche Leistungsverbesserung folgen
muss. Die in der Anhörung geäußerten Bedenken bezüg-
lich des erweiterten Haushaltsbegriffs und der gesamt-
schuldnerischen Haftung wurden im BMVBS ebenfalls
berücksichtigt, die entsprechenden Änderungen im Ge-
setzentwurf vorgenommen.
Für die Wohngeldempfängerinnen und -empfänger
bedeuten die vorgesehen Änderungen eine durchschnitt-
liche Erhöhung ihrer Wohngeldleistung um bis zu zwei
Drittel. Eine Familie mit zwei Kindern würde rund
80 Euro mehr erhalten, eine Rentnerin 42 Euro mehr.
Insgesamt wird das Wohngeld im Schnitt von 90 auf
150 Euro steigen. Finanziert wird die Erhöhung zu je
200 Millionen von Bund und Ländern. Hinzu kommen
die im laufenden Verfahren zur Wohngeldvereinfachung
vereinbarten 120 Millionen. Die Länder haben bereits ihre
Zustimmung signalisiert. Damit wird sichergestellt, dass
das Wohngeld seiner Intention, einkommensschwachen
Haushalten ein familiengerechtes und angemessenes
Wohnen zu ermöglichen, auch weiterhin gerecht wird.
Insbesondere Geringverdiener und Rentnerinnen und
Rentner, die angesichts der gestiegenen Miet- und Ener-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15969
(A) (C)
(B) (D)
giekosten bei der derzeitigen Gesetzeslage, die eine Be-
zuschussung der Heizkosten ausschließt, an ihre Gren-
zen stoßen, werden so entlastet. Davon profitieren vor
allem strukturschwache Regionen im Osten, wo der An-
teil der im Jahr 2006 bundesweit 691 119 Wohngeld-
haushalte an Privathaushalten mit 2,9 Prozent fast dop-
pelt so hoch ist wie im Westen mit l,5 Prozent.
Wohngeld ist ein zielgenaues sozialpolitisches Instru-
ment. Seine Stärkung ist so wichtig wie folgerichtig: Wir
brauchen starke, dem Transfersystem vorgelagerte Leis-
tungen, wenn wir wieder mehr Menschen aus dem ALG-II-
Bezug herausholen wollen. Auch im Hinblick auf die
sogenannten Aufstocker, die ergänzend zu ihrem Ein-
kommen Hartz-IV-Leistungen beziehen müssen, ist ein
attraktives, um die genannten Punkte erweitertes Wohn-
geld zentral. Das Problem: Leistungen zu den Kosten der
Unterkunft sind heute in vielen Fällen finanziell attrakti-
ver als Wohngeld. Bei einer Wohngeldreform muss es
deshalb auch darum gehen, die bestehende Gerechtig-
keitslücke zu ALG-II-Empfängern, bei denen die Kosten
der Unterkunft komplett übernommen werden, zu schlie-
ßen. Die Erhöhung des Wohngeldes muss außerdem so
gestaltet sein, dass Erwerbstätige mit niedrigem Ein-
kommen nicht mehr als Aufstocker unter das SGB II fal-
len. Derzeit erhalten 274 000 Haushalte nach dem
SGB II ausschließlich Unterkunftskosten. Um das zu än-
dern, brauchen wir Leistungen, die dem staatlichen
Transfersystem vorgelagert sind. Eine davon ist das
Wohngeld. Doch ich möchte an dieser Stelle auf eine
weitere zu sprechen kommen: Noch immer bedeuten
Kinder in Deutschland ein Armutsrisiko, insbesondere
für Menschen mit geringem Einkommen. Es ist daher
vorgesehen, neben dem Wohngeld auch den Kinderzu-
schlag auszubauen. Künftig sollen mehr Personen mit
geringem Einkommen von ihm profitieren. Die Pläne
der Familienministerin von der Leyen sehen vor, dass
weitere 150 000 Kinder von Familien mit geringem Ein-
kommen den Kinderzuschlag erhalten sollen. Dazu soll
die Mindesteinkommensgrenze gesenkt werden. Mit der
Neuregelung würden dann insgesamt 250 000 Kinder er-
reicht. Der Zuschlag in der Höhe von 140 Euro monat-
lich pro Kind soll verhindern, dass Familien nur wegen
der Ausgaben für ihre Kinder unter Hartz IV fallen. Zu-
sammen mit einem erhöhten Kinderzuschlag kann das
Wohngeld dazu beitragen, Geringverdiener wieder aus
dem ALG-II-Bezug herauszuholen. Die Einführung ei-
nes flächendeckenden Mindestlohns ist und bleibt ein
weiteres zentrales Element zur Verhinderung von Er-
werbsarmut in Deutschland.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt das Konzept
zur Wohngeldverbesserung von Bundesminister Tiefensee.
Unser Ziel ist, dass die Wohngelderhöhung am 1. Januar
2009 in Kraft tritt.
Patrick Döring (FDP): Um es vorweg zu nehmen:
Die FDP-Fraktion wird den Antrag der Grünen ableh-
nen; dies nicht in erster Linie wegen der wohngeldrecht-
lichen Aspekte, sondern vor allem wegen der Forderung
nach der Einführung von Mindestlöhnen.
Zum Wohngeld: Viele Anregungen im vorliegenden
Antrag zur Novellierung des Wohngeldgesetzes sind
richtig und werden von mir und meiner Fraktion aus-
drücklich geteilt. Dazu zählt insbesondere die Anhebung
des Wohngeldes. Der Zweck des Wohngeldgesetzes ist
es, Menschen mit geringen Einkommen so zu unterstüt-
zen, dass sie mit ihrem Einkommen und dem Wohngeld
als Zuschuss ihren Lebensunterhalt finanzieren können.
Mit diesem Ziel wurde zuletzt zum 1. Januar 2001 das
Wohngeld angehoben. Bislang erfolgt die Zahlung von
Wohngeld als Zuschuss allein auf die Kaltmiete.
In den letzten Jahren hat sich die Struktur der Miet-
zahlungen aber drastisch verändert. Zum einen sind die
Kaltmieten gestiegen. Da liegt aber nicht das ganz große
Problem für viele Haushalte. Ganz deutliche Zusatzbe-
lastungen sind durch die Kostenexplosion bei den Ener-
giepreisen eingetreten, an denen auch die Grünen in ih-
rer Zeit in der Bundesregierung mitgewirkt haben.
Natürlich haben auch andere Belastungen der letzten und
der aktuellen Bundesregierung, wie beispielsweise die
Erhöhung der Mehrwertsteuer, dazu geführt, dass es nun
Menschen gibt, die es nicht wagen, die Heizung anzu-
stellen, weil sie Angst haben, die Rechnung nicht bezah-
len zu können. Daher ist es angesichts dieser neuen
zusätzlichen Belastungen nicht nur erforderlich, das
Wohngeld insgesamt anzuheben, sondern in die Berech-
nungsgrundlage – mit Deckelung – auch die Heizkosten
und Kosten für Warmwasser einzubeziehen.
Es sind auch viele andere Punkte zu diskutieren, da-
runter der wohngeldrechtliche Haushaltsbegriff und die
gesamtschuldnerische Haftung für zu viel gezahltes
Wohngeld. Mit dem jetzigen Vorschlag zum Wohngeld-
gesetz belastet die Bundesregierung das Wohnen in Stu-
denten-WGs oder sogenannten Alten-WGs mit einem
Haftungsrisiko, das die Bereitschaft zum Wohnen in ei-
ner WG sinken lassen wird. Diejenigen, die es können,
nehmen sich dann lieber eine eigene Wohnung. Dass da-
durch insgesamt erheblich mehr Wohngeld zu zahlen
sein würde, ist die logische Konsequenz.
Man wird – ohne zu übertreiben – dem bisherigen
Entwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des
Wohngeldrechts attestieren dürfen, dass er völlig an der
Realität vorbeigeht und, da er keine Erhöhung des
Wohngeldes vorsieht, nicht geeignet ist, die Ziele des
Wohngeldes zu erreichen. Denn um ein angemessenes
und familiengerechtes Wohnen sicherzustellen, sind Er-
höhungen erforderlich. Dass der zuständige Minister
dies inzwischen auch so sieht, freut die Liberalen.
Wir werden daher, wenn die Ankündigungen zutref-
fen, ja auch schon bald einen – hoffentlich stark – über-
arbeiteten Entwurf der Bundesregierung diskutieren dür-
fen.
Aus Sicht der FDP-Fraktion muss klar sein – und da-
rauf werden wir in der kommenden Debatten immer wie-
der hinweisen: Es ist nicht richtig, wenn inzwischen in
vielen Fällen und nicht nur als Ausnahme die Summe
aus Arbeitslosengeld II und den Kosten der Unterkunft
mehr beträgt als die Summe aus einem geringen Ein-
kommen und Wohngeld oder einem geringen Arbeitslo-
sengeld I und Wohngeld. Das setzt die falschen Anreize.
15970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Daher fordert die FDP-Fraktion schon seit langem eine
Erhöhung des Wohngeldes.
So gut meine Fraktion und ich den meisten wohn-
geldrechtlichen Forderungen der Grünen zustimmen
können, so wenig teilen wir ihre Position zum Mindest-
lohn – das werden Sie erwartet haben.
Gleich drei Mal haben die Antragsteller die wenig
glückliche Verknüpfung zwischen Mindestlohn und
Wohngeld in ihrem Antrag verankert. Darüber können
wir nicht hinwegsehen. Die FDP-Fraktion hat immer
wieder deutlich gemacht, warum Mindestlöhne der fal-
sche Weg sind: Liegen die Mindestlöhne unter dem
Marktniveau, sind sie wirkungslos. Liegen sie darüber,
kosten sie Arbeitsplätze. Treffen sie genau das Maß, sind
sie nutzlose Regulierung.
Wenn wir annehmen dürfen – und sonst macht die
ganze Debatte darüber keinen Sinn –, dass die Befürwor-
ter des Mindestlohns einen Mindestlohn weit über dem
Marktpreis anstreben, muss man feststellen, dass Sie
sich wieder einmal aktiv für die Vernichtung von Ar-
beitsplätzen in Deutschland einsetzen und vielen Men-
schen die Möglichkeit zur Teilhabe am Arbeitsmarkt
nehmen. So haben wir es gerade erst im Postsektor er-
lebt.
Den Menschen, die aufgrund der Einführung eines
Mindestlohns ihren Arbeitsplatz verloren haben, hilft
dann auch die Erhöhung und Verbesserung des Wohn-
geldes nur noch während der Zeit, in der ein Anspruch
auf Arbeitslosengeld I besteht. Danach bleibt nur das
ALG II. Und das bedeutet: Das Ziel bei der Erneuerung
und Verbesserung des Wohngeldrechts, nämlich dass
weniger Menschen auf die Zahlung von Arbeitslosen-
geld II angewiesen sind, das konterkarieren die Grünen
in ihrem Antrag durch die Forderung nach der Einfüh-
rung von Mindestlöhnen. Das entwertet die erwähnten
guten Ansätze zum Wohngeldgesetz völlig und findet
daher auch nicht die Zustimmung der FDP-Fraktion.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Circa 700 000 Wohn-
geldempfängerinnen und Wohngeldempfänger in der
Bundesrepublik Deutschland erhalten gegenwärtig auf-
grund ihres geringen Familieneinkommens einen Zu-
schuss zur Kaltmiete. Dieser ist trotz nachweislich ge-
stiegener Steuern und Abgaben sowie Reallohnverlusten
seit 2001 nicht mehr dynamisiert worden, obwohl so-
wohl die Mieten als auch die Nebenkosten, vor allem die
warmen Betriebskosten, förmlich explodiert sind.
Die Linke hat immer wieder eine Anpassung gefor-
dert und kritisiert, dass die ursprüngliche Wohngeld-
novelle an der Realität und der Lage der Betroffenen
vollkommen vorbeigeht. Deshalb hatte die Opposition
auch eine Anhörung gefordert. Dort verrissen selbst die
von der Großen Koalition bestellten Gutachter den Ge-
setzentwurf, der keinerlei Verbesserung für die Wohn-
geldempfänger vorsah. Lediglich die Verwaltung konnte
von einigen bürokratischen Verbesserungen profitieren.
Herr Bundesminister Tiefensee hat nun im Ergebnis
der Wohngeldanhörung einen neuen Entwurf der Wohn-
geldnovelle seitens der Bundesregierung angekündigt.
Die Linke begrüßt dabei die Ankündigung des Bundes-
ministers Wolfgang Tiefensee, das Wohngeld durch-
schnittlich um 70 Prozent bzw. 60 bis 80 Euro im Monat
zu erhöhen. Die Ankündigung von Bundesbauminister
Tiefensee erfüllt eine wesentliche Forderung der Linken
nach einer deutlichen Erhöhung des Wohngeldes.
Gesetz ist die Ankündigung damit aber noch lange
nicht, und noch liegt dem Parlament keine neue Wohn-
geldnovelle vor. Wie so oft werden wir uns also auf quä-
lende und lange Auseinandersetzungen mit – und ich
denke auch innerhalb – der Großen Koalition einstellen
müssen. Wir warnen allerdings die Bundesregierung vor
einer Rolle rückwärts. Sollten sich die Ankündigungen
vom Vorabend der Hamburg-Wahl als Wahlkampfge-
klingel herausstellen, lassen Ihnen die Betroffenen und
auch wir das nicht durchgehen.
Damit das Wohngeld wieder einen verlässlichen und
wirksamen Beitrag zur Entlastung einkommensschwa-
cher Haushalte leisten kann, hält die Linke ihre Forde-
rungen nach vollständiger Anerkennung der Kosten für
Heizung und Warmwasser als Bestandteil der Miete bei
der Berechnung des Wohngeldes, nach regelmäßiger An-
passung des Wohngeldes an die Mieten- und Lohnent-
wicklung – Dynamisierung – und nach Erhöhung der
Einkommensgrenzen der Wohngeldberechtigten auf-
recht. Das würde die Zahl der Wohngeldberechtigten er-
höhen und die Aufstockerhaushalte, die heute durch die
Argen und Optionskommunen betreut werden, reduzie-
ren oder zumindest begrenzen. Mit ihren Niedriglöhnen
können diese nicht mehr ihre Miete bezahlen und müs-
sen ergänzend Kosten der Unterkunft beantragen, eine
Entwicklung, für die auch Bündnis 90/Die Grünen mit
Ihrer Zustimmung zu Hartz IV Verantwortung tragen.
Wenn Bündnis 90/Die Grünen uns durch neue Einsich-
ten dabei helfen wollen, die Wirkung der Hartz-Gesetze
zu überwinden, dann stehen wir beide zumindest in die-
ser Frage auf der gleichen Seite. Wir stehen dem Antrag
daher positiv gegenüber und signalisieren Zustimmung
zu diesem Antrag, der für uns im ersten Schritt in die
richtige Richtung weist.
Die Linke geht in ihren Forderungen jedoch weiter,
wie ich soeben bereits zum Ausdruck gebracht habe. Wir
werden bei Vorlage der Wohngeldnovelle durch die Bun-
desregierung – das sei hier schon angekündigt – einen
entsprechenden Entschließungsantrag einbringen. Res-
sortübergreifend ist dabei darauf zu achten, dass die
positiven Veränderungen im Wohngeld auch mit den be-
absichtigten Kindergeldzuschlägen und anderen sozial-
politischen Maßnahmen der Bundesregierung abge-
stimmt werden.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mehrfach hat Bundesminister Wolfgang Tiefensee die
Erhöhung des Wohngelds angekündigt. Angeblich haben
sich die Koalitionsfraktionen und Ministerien ja auch
schon auf ein Konzept geeinigt. Eine Ergänzung oder ein
neuer Entwurf des Wohngeldgesetzes liegt bisher aber
noch nicht vor. Bei den Ankündigungen zur Erhöhung
des Wohngelds handelt es sich also nur um leere Ver-
sprechen!
Wir wollen nach den vielen Worten endlich Taten se-
hen, damit sich die Situation der Geringverdiener und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15971
(A) (C)
(B) (D)
vieler Rentner schnellstmöglich bessert. Man darf Men-
schen, die jeden Cent umdrehen und jede Ausgabe genau
planen müssen, nicht länger warten lassen. Deshalb be-
antragen wir, das Wohngeld jetzt zu verbessern. Wir for-
dern eine unverzügliche Erhöhung des Wohngeldes und
die Einbettung der Wohngeldreform in eine Gesamtstra-
tegie zur Vermeidung von Erwerbsarmut. Denn nur so
können wir sicherstellen, dass möglichst viele Men-
schen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, künftig
nicht mehr auf ergänzende staatliche Fürsorgeleistungen
angewiesen sind. Wir brauchen eine Gesamtstrategie
zur Vermeidung von Erwerbsarbeit mit Mindestlöhnen
und mit progressiv gestaffelten Sozialabgaben. Die ge-
ringen Einkommen müssen entlastet werden.
Bündnis 90/Die Grünen fordern, das Wohngeld dyna-
misch an die Mieten- und Einkommensentwicklung an-
zupassen und zu erhöhen, damit es seine Entlastungswir-
kung wieder erfüllen kann. Die sogenannte zweite Miete
– Warmwasser- und Heizkosten – muss in die Berech-
nung des Wohngeldanspruchs einbezogen und anteilig
erstattet werden. Vor dem Hintergrund des Klimawan-
dels und drastisch steigender Energiepreise setzen wir
uns für kostenlose Energieberatungen und ein Bonussys-
tem ein. So wird ein zusätzlicher Anreiz zum Energie-
sparen geschaffen und Haushalte mit besonders gerin-
gem Energieverbrauch werden belohnt.
Keiner weiß, ob es sich bei den Ankündigungen von
Bundesminister Wolfgang Tiefensee nur um wahltakti-
sche Luftbuchungen vor den Wahlen in Hessen, Nieder-
sachsen und Hamburg gehandelt hat. Die Versprechungen
des Verkehrsministers gefährden die Planungssicherheit
für die Kommunen. Denn die Höhe des von Bund und
Ländern zu zahlenden Wohngeldes hat erheblichen Ein-
fluss auf die kommunalen Ausgaben für die Kosten der
Unterkunft bei Hartz-IV-Empfängerinnen und „Aufsto-
ckern“. Die Kommunen werden durch die steigende
Zahl der Hartz-IV-„Aufstocker“ finanziell übermäßig
stark belastet, da sie den Löwenanteil der Unterkunfts-
kosten tragen. Die finanziellen Spielräume für andere
kommunale und soziale Aufgaben schrumpfen zusam-
men. Hier gilt es die Kommunen zu entlasten.
Herr Minister Tiefensee, machen Sie ihre Ankündi-
gung wahr! Folgen Sie der Einschätzung der Sachver-
ständigen aus der Anhörung im Verkehrsausschuss! Eine
Anpassung des Wohngelds an das heutige Mieten- und
Einkommensniveau sowie an die gestiegenen Lebens-
haltungskosten ist dringend notwendig. Lassen Sie die
Menschen nicht länger warten! Erhöhen Sie das Wohn-
geld jetzt!
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Medizinische Versorgung der Bundeswehr
an die Einsatzrealitäten anpassen – Kompe-
tenzzentrum für posttraumatische Belas-
tungsstörungen einrichten
– Adäquate Behandlungs- und Betreuungska-
pazitäten für an posttraumatischen Belas-
tungsstörungen erkrankte Angehörige der
Bundeswehr
(Tagesordnungspunkt 21 a und b)
Monika Brüning (CDU/CSU): Wir beraten heute
über zwei Anträge, welche sich mit der Thematik der
Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen
– PTBS – bei Soldatinnen und Soldaten beschäftigen.
Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten eine hervor-
ragende Arbeit. Die Einsätze der Bundeswehr in den
verschiedensten Kriegs- und Krisenregebieten der Welt
nehmen zu. Hierbei sieht sie sich ständig neuen Einsatz-
realitäten gegenüber, Einsatzrealitäten, die insbesondere
eine gesteigerte Gefährdungslage mit sich bringen. Dies
wird uns derzeit besonders in Afghanistan vor Augen ge-
führt.
Mit der Zunahme der Auslandseinsätze und den damit
verbundenen besonderen Anforderungen an die Soldatin-
nen und Soldaten gehen häufig psychische Belastungen
einher. Die extremen Belastungssituationen über Ver-
kehrs- und Minenunfälle bis hin zu Terroranschlägen, mit
denen die meist jungen Menschen in Einsätzen im Aus-
land konfrontiert werden, dürfen nicht unterschätzt wer-
den. Bisher wurden bereits rund 700 Soldaten in Bundes-
wehrkrankenhäusern wegen einer posttraumatischen
Belastungsstörung behandelt. Das entspricht etwa einem
Prozent aller Soldaten, die im Ausland waren. Feldstu-
dien von Streitkräften anderer Nationen – USA, Nieder-
lande, Skandinavien – haben jedoch gezeigt, dass circa
4 bis 5 Prozent aller Soldaten im Einsatz von PTBS be-
troffen sind. Für die Bundeswehr, eine „Einsatzarmee im
Werden“, fehlen noch entsprechende Erhebungen. Da-
rüber hinaus sind die langfristigen Folgen dieser Erkran-
kung im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der
Bundeswehr noch nicht hinreichend erforscht.
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt
es sich um eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes
Ereignis oder eine außergewöhnliche Bedrohung. Nach
den beiden Weltkriegen sagte man über Soldaten, die zit-
terten, nicht schlafen konnten und sprachlos am Tisch
saßen, sie hätten das „Kriegszittern“ oder eine „Schüt-
zengrabenneurose“. Seit dem Vietnam-Krieg ist die Be-
zeichnung „Posttraumatische Belastungsstörung“ ein
feststehender Begriff und meint, dass ein Mensch nach
einem extrem belastenden Ereignis psychisch erkrankt.
Die Symptome von PTBS sind vielfältig. Nicht immer
reagiert die Psyche sofort. Manche Soldaten merken erst
Jahre nach dem Einsatz, dass sie traumatisiert sind.
Nicht jeder, dem ein potenziell traumatisches Ereignis
widerfährt, entwickelt eine posttraumatische Belastungs-
störung. Die PTBS entsteht nicht aufgrund erhöhter psy-
chischer Labilität des Betroffenen. Auch psychisch voll-
kommen gesunde und in sich gefestigte Persönlichkeiten
können eine PTBS entwickeln. Nichtsdestotrotz nimmt
die Anzahl der Soldaten, die an einer PTBS erkranken,
zu. Viele Soldaten sind betroffen, lassen sich jedoch aus
den verschiedensten Gründen nicht behandeln. Auch der
15972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Wehrbeauftragte hat diesen nicht unerheblichen Aspekt
in seinen Jahresbericht aufgenommen. So berichtet er,
dass Wehrpsychologen davon ausgehen: „Viele Soldaten
fühlen sich nach wie vor stigmatisiert, wenn sie sich be-
handeln lassen.“
Die Bundeswehr bereitet ihre Soldaten auf die Ein-
sätze in den Krisenregionen sehr sorgfältig vor. Bei der
Vorbereitung verfügt sie auch über ein medizinisch-psy-
chologisches Stresskonzept, durch dessen Hilfe sich die
Soldaten darauf vorbereiten, mit Stress und psychischer
Belastung umzugehen. Bei auftretenden PTBS wird die
Behandlung schwerpunktmäßig im Bundeswehrkran-
kenhaus Hamburg durchgeführt, wo 33 Betten in der
Abteilung Psychiatrie zur Verfügung stehen. Darüber hi-
naus stehen im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
weitere 27 Betten und in den Bundeswehrkrankenhäu-
sern Ulm und Berlin 25 bzw. 30 Betten bereit. Dies
reicht jedoch nicht aus. Um den Betroffenen umfassend
helfen zu können, besteht weiterhin großer Handlungs-
bedarf insbesondere bei der Sensibilisierung und Be-
wusstseinsbildung für das Krankheitsbild PTBS, ausrei-
chenden und umfassenden Behandlungskapazitäten und
-konzepten und der Erforschung des Krankheitsbildes im
besonderen Kontext der Auslandseinsätze der Bundes-
wehr.
In den uns vorliegenden Anträgen werden viele rich-
tige Fakten erörtert. Unter anderem wird die Schaffung
eines Kompetenzzentrums angedacht. Dies wäre ein
möglicher Ansatz. Ich denke jedoch, dass wir keine vor-
schnellen Maßnahmen ergreifen, sondern zunächst eine
umfassende Analyse der Problematik und erforderlichen
Maßnahmen vornehmen sollten.
Einen guten Schritt in die richtige Richtung haben wir
im vergangenen Jahr im Bereich der Versorgung mit der
Verabschiedung des Einsatzweiterverwendungsgesetzes
gemacht. Mit dem Gesetz wurden Regelungen für eine
Wiedereinstellung in den Fällen vorgesehen, in denen
die gesundheitliche Schädigung durch eine Auslandsver-
wendung erst nach Beendigung des Dienstverhältnisses
erkannt wird. Der PTBS wird hier also bereits weitge-
hend Rechnung getragen.
Eine PTBS belastet nicht nur die Betroffenen, sondern
hat auch erhebliche Auswirkungen auf das familiäre Um-
feld. Wir dürfen unsere Soldaten und ihre Angehörigen
nicht damit alleinlassen. Wir müssen uns deshalb vorran-
gig der Problematik psychischer Belastungen durch die
neuen Einsatzrealitäten der Bundeswehr annehmen. Dies
sollte auf einer soliden und umfassenden Analyse basie-
ren.
Die CDU/CSU-Fraktion empfiehlt deshalb die Über-
weisung beider Anträge an die federführenden Aus-
schüsse.
Petra Heß (SPD): Die Fraktionen der FDP und der
Linken fordern – wenn auch aus unterschiedlichen Moti-
ven und mit unterschiedlichen Herleitungen – die An-
passung der medizinischen Versorgung innerhalb der
Bundeswehr an die Einsatzrealitäten und die Einrichtung
von Kompetenzzentren für die Erforschung und die Be-
handlung sogenannter posttraumatischer Belastungsstö-
rungen. Während sich die FDP bei der Begründung ihrer
Forderung relativ nüchtern an die Fakten hält, nimmt
Die Linke ihren Antrag erneut zum Anlass, ihre grund-
sätzliche Ablehnung einer deutschen Armee, der deut-
schen Außen- und Sicherheitspolitik und der Politik der
NATO zum Ausdruck zu bringen.
Davon einmal abgesehen, liegen die Forderungen der
beiden Anträge relativ nah beieinander. Im Wesentlichen
werden folgende Maßnahmen gefordert: erstens die fort-
laufende Anpassung der medizinischen und vor allem
der psychologischen Betreuungs- und Behandlungskapa-
zitäten an den tatsächlichen Bedarf, zweitens die Ein-
richtung einer anonymen Beratung und Betreuung von
Betroffenen und deren Familien durch Errichtung von
Hotlines und eines 24-Stunden-Bereitschaftsdienstes,
drittens die Errichtung eines Kompetenz- und For-
schungszentrums zur Behandlung von PTBS an einem
oder mehreren Bundeswehrkrankenhäusern und den re-
gelmäßigen fachmedizinischen Erfahrungsaustausch mit
zivilen Stellen und den entsprechenden Sanitätseinrich-
tungen der anderen alliierten Streitkräfte, viertens Aus-
bildung und Schulung von Bundeswehrmedizinern zur
Erkennung von PTBS und zur zeitnahen Hilfe und Aus-
bildung sogenannter Peers als Ansprechpartner im Ein-
satz, damit zeitnah Hilfe bei psychischen Problemen er-
folgen kann, fünftens bessere Vorbereitung der
Soldatinnen und Soldaten auf mögliche Stresssituationen
im Einsatz und deren Bewältigung, sechstens die Ver-
besserung der Nachsorge durch a) Ausweiten der Frage-
bögen – psychische Belastung –, b) Erfassen auch der
ausscheidenden Soldaten, der freiwillig länger Dienen-
den etc., c) Gewähren von mehrtägigen Erholungspha-
sen nach dem Einsatz und vor allem d) zeitnahe Durch-
führung der Einsatznachbereitung und siebtens zeitnah
die notwendigen Maßnahmen wie Erhebungen und Be-
fragungen durchführen, um die Behandlung für PTBS
geschädigte Soldatinnen und Soldaten fortlaufend ver-
bessern und den Einsatzbedingungen anpassen zu kön-
nen.
Auch der Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr
2007 sieht in der angemessenen Behandlung der zuneh-
menden Zahl von Soldatinnen und Soldaten, die an einer
PTBS leiden, eine Herausforderung, die zeitnah ange-
nommen werden muss. Problematisch beurteilt der Be-
richt vor allem die Tatsache, dass viele Soldatinnen und
Soldaten sich durch einen Besuch beim Psychologen
nach wie vor stigmatisiert sehen und auch Nachteile in
ihrer Laufbahnentwicklung befürchten. Der Ausbau der
Erforschung und Behandlung von Traumata innerhalb
der Bundeswehr und die zügige Ermittlung und, falls
notwendig, Anpassung der Kapazitäten werden ebenfalls
in dem Bericht angemahnt.
Damit steht die Frage im Raum: Wird nicht genug für
die im Einsatz befindlichen und aus dem Einsatz zurück-
kehrenden Soldatinnen und Soldaten und deren Familien
getan, und was muss verbessert werden, um eine gelin-
gende Wiedereingliederung der Soldatinnen und Solda-
ten in ihren Alltag zu erreichen? Und hier reicht ein
nüchterner Blick auf die Faktenlage, um festzustellen,
die geforderten Maßnahmen sind im Aufbau befindlich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15973
(A) (C)
(B) (D)
oder existieren bereits, werden laufend fortentwickelt
und verbessert und damit den „Erfordernissen der Ein-
sätze immer wieder angepasst“.
Dabei konzentrieren sich die einsatzvorbereitenden
Maßnahmen vor allem auf den Aspekt der Prävention:
Eine möglichst realitätsnahe Ausbildung soll die Solda-
tinnen und Soldaten mit dem vertraut machen, was sie
im Einsatz erwartet, alle möglichen Gefahrenlagen und
Maßnahmen zum Selbstschutz werden dabei genaues-
tens erörtert. Hier wird jeder Soldat auf die besonderen
Anforderungen seines Einsatzdienstpostens vorbereitet,
die er oder sie im Einklang mit den Einsatzregeln – Rules
of Engagement – zu erfüllen hat. Jeder Soldat, der in den
Einsatz geht, wird darüber hinaus über seine Möglich-
keiten zur persönlichen Gesundheitsvorsorge und den
Umgang mit Stress informiert. Ganz wesentlich ist in
diesem Zusammenhang natürlich auch das Lernen von
Stressbewältigungstechniken.
Zahlreiche Soldaten werden darüber hinaus am Zen-
trum für Innere Führung in Stressbewältigung geschult
und sollen als Multiplikatoren – Peers – wirken. Hier
sorgt die Bundeswehr also gleich von zwei Seiten vor,
indem sie zum einen aufklärt, zum anderen zahlreiche
Soldaten speziell für den Umgang mit Stress im Einsatz
schult, die dann vor Ort den Kameraden als Ansprech-
partner zur Seite stehen.
Im Einsatz steht die psychische Stabilisierung der
Soldatinnen und Soldaten dann an erster Stelle. Zeigt ein
Soldat während des Einsatzes Verhaltensauffälligkeiten,
so sollen diese sogenannten Multiplikatoren erste Hilfe
leisten und den Betroffenen über weitere Hilfsangebote
bereits im Einsatz informieren. Hier stehen dem Solda-
ten Gespräche mit einem Seelsorger oder Arzt, der eben-
falls in der Erkennung und Beurteilung von Belastungs-
störungen geschult ist, respektive einem Truppen-
psychologen offen. Die Einsatznachbereitung ergänzt
den präventiven Ansatz der Einsatzvorbereitung, indem
sie ein weiteres Bündel an Maßnahmen bereithält, um je-
dem einzelnen Soldaten und jeder einzelnen Soldatin
eine möglichst gelungene Rückkehr in den Alltag zu er-
möglichen.
Die Maßnahmen reichen von einsatznaher Erholung
von besonders belasteten Soldaten und präventiven Ku-
ren – „Kolbow“-Kur – nach besonders belastenden Er-
eignissen bis hin zu einem Pflichtbesuch an einem zwei-
bis dreitägigen Einsatznachbereitungsseminar, das hel-
fen soll, die Eindrücke aus dem Einsatz zu verarbeiten
und diesen innerlich abzuschließen.
Selbstverständlich sind wir uns da einig, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Opposition, dass
eine erfolgreiche Einsatznachsorge jeden Soldaten und
jede Soldatin erfassen und vor den möglichen negativen
Nachwirkungen eines Einsatzes so weit als möglich be-
wahren muss.
Auch muss in diesem Zusammenhang dafür Sorge ge-
tragen werden, dass eine aus psychischen Gründen not-
wendige vorzeitige Rückkehr aus dem Einsatz dem be-
troffenen Soldaten oder der betroffenen Soldatin nicht
zum Schaden in seiner Laufbahn gereicht oder ihn vor
den Kameraden stigmatisiert. Stigmatisierungsängste
und die Angst vor einem Karriereknick müssen hierbei
noch stärker fokussiert werden, damit jeder Soldat und
jede Soldatin die angebotene Hilfe in jedem Fall in An-
spruch nimmt. Hier bedarf es tatsächlich weiterer An-
strengungen, da absehbar ist, dass die Belastungen, de-
nen unsere Soldatinnen und Soldaten in Zukunft
ausgesetzt sein werden, eher zu als abnehmen werden.
Probleme einer umfassenden Einsatznachsorge sind
aber nicht nur Stigmatisierungsängste, sondern auch die
Erfassung aller Zeitsoldaten, Reservisten und Wehr-
pflichtigen, falls diese nach dem Einsatz unmittelbar zu
ihrer Ausbildung oder Arbeitsstelle zurück müssen. Tre-
ten trotz der genannten Maßnahmen bei Soldatinnen und
Soldaten posttraumatische Belastungsstörungen auf, so
ist eine qualitativ hochwertige und effektive Behandlung
ambulant oder stationär an Bundeswehreinrichtungen
oder an zivilen Einrichtungen möglich. Dabei sind die
Kapazitäten für Diagnostik und Therapie derzeit ausrei-
chend vorhanden und nicht in vollem Umfang ausge-
schöpft. Auch die Kooperation und die Forschung auf
dem Gebiet der PTBS werden intensiv betrieben und ge-
lebt.
Es findet hier ein reger Erfahrungsaustausch mit zivi-
len Einrichtungen und Krankenhäusern statt, und jeder
außerhalb einer Bundeswehreinrichtung behandelte Pa-
tient erweitert das Wissen der Bundeswehr, indem seine
Therapie am Ende der Behandlung von der Bundeswehr
von der zivilen Einrichtung erfragt, erfasst und für die
eigenen Arbeit ausgewertet wird. Auch der internatio-
nale Erfahrungsaustausch wird gepflegt, und Ergebnisse
anderer Behandlungsmethoden werden laufend berück-
sichtigt.
Abschließend lassen Sie mich noch ein paar Worte zu
der immer wieder erwogenen Errichtung eines For-
schungszentrums sagen: Die Prüfung zur Einrichtung ei-
nes Forschungszentrums ist zu begrüßen, allerdings darf
nicht nur einer Krankenhausabteilung ein Name überge-
stülpt werden. Die Errichtung eines Forschungszentrums
wäre nur mit einer erheblichen Aufstockung des Perso-
nals und der Stellen machbar, da nicht in bestehende
Strukturen immer mehr Aufgaben hineinprojiziert wer-
den können. Deshalb bin ich gespannt auf das Ergebnis
einer Prüfung und stehe dem Ansinnen grundsätzlich po-
sitiv gegenüber.
Elke Hoff (FDP): Ich bin froh, dass dieser Antrag der
FDP-Bundestagsfraktion so schnell den Weg in den
Deutschen Bundestag gefunden hat und damit auch zü-
gig im Verteidigungsausschuss behandelt werden kann.
Denn das Thema Posttraumatische Belastungsstörungen
– PTBS – gewinnt an Bedeutung. Daher bin ich auch
froh, dass der Wehrbeauftragte in seinem in der letzten
Woche vorgestellten Bericht dem Thema einen promi-
nenten Platz einräumt. Der Bericht hat eine zentrale For-
derung unseres Antrages aufgegriffen, nämlich die
Schaffung eines Kompetenzzentrums an einem der Bun-
deswehrkrankenhäuser.
Die Ursache für die zunehmende Bedeutung von
PTBS liegt auf der Hand: Immer mehr Soldaten werden
15974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
im Rahmen der Auslandseinsätze mit Situationen kon-
frontiert, die tiefe Spuren hinterlassen können. Insbe-
sondere die Einsätze in Afghanistan haben die Truppe
stark verändert. So mussten laut General Viereck, Be-
fehlshaber des Einsatzführungskommandos, allein
200 Soldaten jährlich aufgrund des psychischen Drucks,
vor allem durch die andauernde Terrorgefahr, vorzeitig
nach Hause geschickt werden.
Die mittel- und langfristigen Folgen solcher Extrem-
situationen, mit denen die Soldatinnen und Soldaten nach
ihrem Einsatz zu kämpfen haben, sind Depressionen, Ge-
reiztheit und Suchtprobleme. Bei besonders belastenden
Vorfällen, wie beispielsweise einer Geiselnahme oder dem
Tod von Kameraden, können Posttraumatische Belas-
tungsstörungen auftreten. Dabei handelt es sich in aller
Regel um eine verzögerte Reaktion auf ein sehr belasten-
des Ereignis oder eine Situation von außergewöhnlicher
Bedrohung. Sie werden auch als „Rückkehrer-Trauma“
bezeichnet.
Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr, die an PTBS in der Folge eines Auslandseinsatzes
erkranken, hat in den vergangenen Jahren stetig zuge-
nommen. In den Jahren 2004/2005 hat sich die Zahl der
PTBS-betroffenen Soldaten gegenüber den Vorjahren
nahezu verdreifacht. Besonders bei Soldatinnen und Sol-
daten aus dem ISAF-Kontingent treten vermehrt PTBS-
Erkrankungen auf. Die aktuellen Zahlen für die Jahre
2006 und 2007 wurden bislang noch nicht veröffentlicht.
Es ist aber aufgrund der verschärften Sicherheitslage in
Afghanistan anzunehmen, dass die Zahl der PTBS-Er-
krankungen weiter steigen wird.
An PTBS erkrankte Soldatinnen und Soldaten werden
schwerpunktmäßig im Bundeswehrkrankenhaus Ham-
burg behandelt. Dort stehen für die circa 7 600 Soldaten,
die sich derzeit im Auslandseinsatz befinden, lediglich
33 Betten in der Abteilung Psychiatrie zur Verfügung.
Dieses Kontingent muss für eine stationäre Behandlung
sowohl von PTBS als auch anderer stressbedingter psy-
chischer Erkrankungen ausreichen. Ergänzend hierzu
stehen im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz noch
einmal 27 Betten und in den Bundeswehrkrankenhäu-
sern Ulm und Berlin 25 bzw. 30 Betten bereit. Das
scheint mir langfristig nicht auszureichen. Die Zahl der
stationären Behandlungskapazitäten für psychische Er-
krankungen darf nicht länger auf Basis des Streitkräfte-
umfangs geplant werden. Da dieser in den letzten Jahren
sinkt, sind die Behandlungskapazitäten nach dem Rasen-
mäherprinzip in allen Fachbereichen der Bundeswehr-
krankenhäuser reduziert worden. Die Bundesregierung
lässt hier eine bedarfsgerechte Schwerpunktsetzung ver-
missen. Denn die Bedeutung psychischer Erkrankungen
innerhalb der Bundeswehr ist trotz sinkenden Streitkräf-
teumfangs deutlich gestiegen. Daher muss die Bundesre-
gierung den wirklichen Bedarf ermitteln und die Be-
handlungskapazitäten dementsprechend anpassen.
Ferner liegt die Zahl der gemeldeten und statistisch
erfassten PTBS-Erkrankungen in den deutschen Streit-
kräften bei circa 1 Prozent und damit auffällig niedrig.
Mit circa 4 bis 5 Prozent liegt dieser Wert in den Streit-
kräfteverbänden anderer Staaten weitaus höher, wie Stu-
dien aus den USA, den Niederlanden und den skandina-
vischen Ländern belegen. Daher kann eine hohe
Dunkelziffer an PTBS-Betroffenen unter den Bundes-
wehrsoldaten angenommen werden. Gründe für ein Ver-
schweigen der Erkrankung können unter anderem die
Furcht der betroffenen Soldaten vor Stigmatisierung und
Laufbahnnachteilen sein. Daher ist es in Zukunft wich-
tig, Verfahren zu etablieren, durch die den Betroffenen
auch rasche anonyme Hilfe gewährleistet werden kann.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, Bera-
tungsangebote einzurichten, die von PTBS-Betroffenen
anonym in Anspruch genommen werden können. Dazu
sollte aus unserer Sicht eine 24-Stunden-Hotline und ein
anonymer 24-stündiger psychologischer Bereitschafts-
dienst für die Soldatinnen und Soldaten gehören.
Die Vermeidung und Behandlung von PTBS-Erkran-
kungen wird zukünftig einen wichtigen Bereich der mili-
tärisch-medizinischen Versorgung unserer Soldatinnen
und Soldaten im Auslandseinsatz darstellen. Daher sollte
ein „Kompetenzzentrum“ für PTBS an einem der Bundes-
wehrkrankenhäuser eingerichtet werden, in dem Aufklä-
rungs- und Forschungsarbeit zusammenlaufen können.
Dies könnte auch den Wissenstransfer und Erfahrungsaus-
tausch zwischen deutschen Bundeswehrärzten und Medi-
zinern aus anderen internationalen Streitkräfteverbänden
verbessern. Ohne Zweifel haben insbesondere unsere
amerikanischen Partner langjährige und schmerzhafte Er-
fahrungen in diesem Bereich sammeln können, die wir
nutzen sollten. Ferner besteht so die Möglichkeit, dass
dort Ausbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen für Kom-
mandeure, Einheitsführer und Betriebsärzte besser gebün-
delt und veranstaltet werden können.
Die medizinisch-psychische Versorgung für die Sol-
datinnen und Soldaten muss den neuen Einsatzrealitäten
angepasst werden. Die Erfüllung der Fürsorgepflicht er-
fordert ein umfassendes Gesamtkonzept hinsichtlich der
Vorsorge, Behandlung und Nachsorge von Posttraumati-
schen Belastungsstörungen. Die hier bestehenden Defi-
zite müssen durch die Bundesregierung schnellstmöglich
ausgeräumt werden. Daher bitten wir um Unterstützung
unseres Antrages zum Wohle unserer Soldatinnen und
Soldaten.
Inge Höger (DIE LINKE): Die Mehrheiten im Bun-
destag haben sich seit Anfang der 1990er-Jahre dafür
entschieden, aus der Bundeswehr eine „Armee im Ein-
satz“ zu machen. Wer Soldatinnen und Soldaten in mehr
Regionen und in immer gefährlicheren Situationen ein-
setzt, der kalkuliert auch Opfer ein: Opfer unter der Zi-
vilbevölkerung im Einsatzgebiet, aber auch Opfer bei
den Bundeswehrangehörigen. Neben Toten und Men-
schen mit physischen Verletzungen gibt es vermehrt
auch psychische Schäden. Seit den Auslandseinsätzen in
den 90er-Jahren traten immer mehr Posttraumatische
Belastungsstörungen – PTBS – auf.
Seelische Verletzungen und psychologische Erkran-
kungen gefährden und belasten zurückkehrende Solda-
tinnen und Soldaten, deren Angehörige und ihre soziale
Umgebung. Obwohl dieses Problem aus anderen Län-
dern längst bekannt ist und spätestens seit den Balkan-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15975
(A) (C)
(B) (D)
einsätzen auch in Deutschland nicht mehr zu übersehen
war, wurde es dennoch weitgehend ignoriert.
Leider unterblieb bisher die Entwicklung eines umfas-
senden Betreuungs- und Rehabilitationskonzepts für ein-
satzbedingte psychische Erkrankungen. Die Probleme
der Soldaten und Soldatinnen nach der Rückkehr aus
dem Auslandseinsatz wurden nicht in ausreichendem
Maße ernst genommen. Der Fokus beim Umgang mit
PTBS lag bis jetzt meist auf der Sicherstellung der Erfül-
lung des militärischen Auftrags. Wegen PTBS wurden in
den Jahren von 1995 bis 2006 rund 640 Soldaten in Bun-
deswehrkrankenhäusern behandelt. Das ist ungefähr 1 Pro-
zent der Soldatinnen und Soldaten, die im Ausland wa-
ren. Experten schätzen die Zahl behandlungsbedürftiger
psychischer Störungen bei den Rückkehrerinnen und
Rückkehrern auf 10 bis 20 Prozent. Diese Größenord-
nungen sind auch aus anderen Staaten mit Truppen in
vergleichbaren Einsätzen bekannt, wie etwa in den Nie-
derlanden oder Schweden.
Um bessere Hilfe und Vorbeugung zu ermöglichen
fordert Die Linke unter anderem eine umfassende Be-
darfsermittlung für Betreuungs- und Behandlungskapazi-
täten. Direkt Hilfe für Betroffene und Angehörige kann
eine Hotline bieten. Dieses Modell hat sich bei den nie-
derländischen Streitkräften bereits bewährt. Auch aus-
scheidende und bereits ausgeschiedene freiwillige Wehr-
dienstleistende genauso wie Soldatinnen und Soldaten
auf Zeit und Berufssoldatinnen und -soldaten müssen in
die Hilfen einbezogen werden. In allen Bundeswehrkran-
kenhäusern sollen Psychotraumazentren für die statio-
näre Behandlung mit ausreichender Bettenzahl einge-
richtet werden. Grundsätzlich gilt jedoch: Solange sich
die Bundeswehr weiterhin an militärischen Interventio-
nen beteiligt, wird es trotz aller Präventionsmaßnahmen
weiter zu PTBS bei Soldatinnen und Soldaten kommen.
Den Forderungen des FDP-Antrages kann ich mich
weitgehend anschließen. Im Gegensatz zur FDP sieht
Die Linke in den Auslandseinsätzen jedoch keine we-
sentliche strategische Aufgabe der Bundeswehr. Der An-
trag der Fraktion Die Linke verbindet die Forderung
nach einer umfassenden Hilfe und Vorbeugung von
PTBS-Erkrankungen mit einer klaren Ablehnung von
Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Für diesen Antrag
bitten wir – auch im Interesse der Soldatinnen und Sol-
daten sowie der Angehörigen – um Unterstützung.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr dienen alle der
Kriegs- und Gewalteindämmung im Auftrag der Verein-
ten Nationen. Die völkerrechtliche Legalität und sicher-
heitspolitische Notwendigkeit solcher Einsätze gegen
den Krieg ändert nichts daran, dass sie mit erheblichen
physischen und psychischen Belastungen für die Solda-
tinnen und Soldaten einhergehen. Im Einsatz müssen sie
mit der Gefahr von Anschlägen und Minen leben, im
schlimmsten Fall gar mit Tod oder Verwundung rechnen,
aber auch die ständige soziale Kontrolle oder die feh-
lende Intimsphäre im Einsatz sowie die Trennung von
der Familie, Probleme mit den Kindern oder dem Partner
bzw. der Partnerin werden von den Soldaten und Solda-
tinnen als erhebliche, manchmal extreme Belastung er-
lebt. Soldaten und Soldatinnen müssen mit diesen Belas-
tungen umgehen und sie bewältigen können.
Die erste Unterstützung dabei muss von der jeweili-
gen soldatischen Einheit und den unmittelbaren mili-
tärischen Vorgesetzen kommen: ein Gruppenklima von
Solidarität und Offenheit, das Rückhalt gerade in Kon-
fliktsituationen gibt und wo Probleme, Ängste und psy-
chische Belastungen nicht als Schwächen abgekanzelt
werden. Das Notwendige ist aber längst nicht hinrei-
chend. Es braucht genauso eine angemessene Ausbil-
dung in Stressbewältigungsstrategien und ein Netz zur
psychosozialen Betreuung, Begleitung und Beratung.
Deshalb ist es richtig, dass in den vergangenen Jahren
die Einsatzvorbereitung, -begleitung und -nachberei-
tung sukzessive ausgebaut und verbessert wurde. Auch
die verbesserten Reintegrationsangebote für Soldaten
und Soldatinnen sowie ihre Angehörigen nach der Rück-
kehr aus dem Einsatzland sind positiv.
Im Bereich Prävention ist bereits Vieles geschehen.
Das reicht aber längst nicht aus. Gerade im Zusammen-
hang mit posttraumatischen Belastungsstörungen müs-
sen wir endlich vorankommen. Mit der Verschärfung der
Einsatzbedingungen kommen zunehmend mehr Soldaten
und Soldatinnen mit psychischen Problemen aus Aus-
landseinsätzen zurück. Die Zahl der Soldaten und Solda-
tinnen mit posttraumatischen Belastungsstörungen hat
sich in den vergangen Jahren nahezu verdreifacht. Waren
2003 noch 48 Soldaten und Soldatinnen mit PTBS in Be-
handlung, so waren es 2005 bereits 146 Fälle. Insgesamt
sind laut jüngstem Bericht des Wehrbeauftragten bisher
rund 700 Soldaten und Soldatinnen mit der Diagnose
„PTBS“ nach einem Auslandseinsatz behandelt worden.
Das verbreitetste Symptom sind Flashbacks, plötzliche,
quälend echte Erinnerungen an das traumatisierende
Geschehen. Sie können sich verschieden äußern. Die Be-
troffenen leiden unter Schlafstörungen und Konzentra-
tionsschwierigkeiten. Sie sind oft reizbar und neigen zu
Wut-, manchmal auch zu Gewaltausbrüchen. Depressio-
nen, Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch
können die Folge sein. Ursache des Traumas sind drama-
tische Erlebnisse, die Konfrontation mit Tod und Ver-
wundung, das Gefühl von Angst und Hilflosigkeit,
Situationen, wie sie in den internationalen Einsätzen der
Bundeswehr zur Friedenssicherung immer häufiger vor-
kommen.
Trotz des Anstieges an posttraumatischen Belastungs-
störungen hat das Verteidigungsministerium den Ernst
der Lage noch nicht hinreichend erkannt. Man beruhigt
sich damit, dass die bisherigen 700 Betroffenen nicht
einmal ein Prozent der zurückgekehrten Soldaten und
Soldatinnen darstellen. Im Vergleich zu den US-ameri-
kanischen oder britischen Streitkräften ist diese Zahl tat-
sächlich vergleichsweise gering. Die Dunkelziffer für
die Bundeswehr liegt laut Expertenmeinung jedoch um
ein Mehrfaches höher. Auch der Wehrbeauftragte geht
davon aus, dass die Anzahl der Bundeswehrsoldaten und
-soldatinnen mit posttraumatischen Belastungsstörungen
vier Mal so hoch ist. Das liegt zum einen daran, dass die
Statistik weder die Reservisten noch die freiwillig Län-
gerwehrdienstleistenden erfasst, die nach Ende des Aus-
15976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
landseinsatzes aus der Bundeswehr ausgeschieden sind.
Es liegt zum anderen auch daran, dass die Symptome oft
erst mit deutlicher Zeitverzögerung nach Monaten oder
manchmal gar nach Jahren auftreten oder aber sich die
Betroffenen aus Angst vor Stigmatisierung und Karriere-
nachteilen, wenn überhaupt, dann erst sehr spät melden.
Der Zunahme an PTBS-Fällen nach Auslandseinsät-
zen stehen die zu geringe Anzahl hauptamtlicher Trup-
penpsychologen sowie ärztlicher Psychotherapeuten ge-
genüber. Das ist nicht hinnehmbar. Der Wehrbeauftragte
fordert zu Recht, dass zur Erkennung und Behandlung
von PTBS qualifiziertes Personal bereits vor Ort im Ein-
satz notwendig ist. Eine schnelle Reaktion auf extreme
Grenz- und Gewalterfahrungen kann dazu beitragen,
psychische Belastungen abzumildern. So genannte Peers
sind als Ansprech- und Gesprächspartner deshalb hilf-
reich und notwendig. Sie sind aber ebenso wenig wie die
Truppenpsychologen für die Behandlung ausgebildet.
Das können nur Mediziner und Medizinerinnen mit ent-
sprechender Ausbildung in der Psycho-Traumatologie.
Hier muss viel mehr getan werden. Mit der bisherigen
geringen Anzahl an Dienstposten für ärztliche Psycho-
therapeuten an den Bundeswehrkrankenhäusern ist das
nicht zu machen. Sie fehlen dort bereits jetzt. Deshalb
halte ich viele Forderungen in den Anträgen der FDP
und der Linken, wie den Ausbau der Betreuungs- und
Behandlungskapazitäten für PTBS-Betroffene oder auch
die Einrichtung eines Kompetenz- und Forschungszen-
trums zur Behandlung von PTBS, für richtig und not-
wendig. Ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen hätte
diesen Forderungen mehr Gewicht verleihen können. Im
Laufe der weiteren parlamentarischen Beratungen be-
steht aber immer noch die Möglichkeit, zu einem frak-
tionsübergreifenden Beschluss zu kommen. Im Sinne
der betroffenen Menschen wäre das wünschenswert. Un-
abhängig davon wäre aber auf jeden Fall die Bildung ei-
ner Berichterstattergruppe des Verteidigungsausschusses
zur PTBS-Problematik angebracht.
Abschließend möchte ich einen weiteren wichtigen
Aspekt im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrun-
gen ansprechen: Als erstes stehen Politiker und Parla-
ment in der Verantwortung, jeden Einsatz von Streitkräf-
ten sorgsam abzuwägen. Die Soldatinnen und Soldaten
müssen dem Auftraggeber Politik begründet vertrauen
können. Das ist eine entscheidende Voraussetzung dafür,
Einsatzbelastungen bewältigen zu können.
Wenn die Politik Soldatinnen und Soldaten in gefähr-
liche Einsätze schickt, dann müssen wir uns auch über
die Konsequenzen im Klaren sein. Nicht zuletzt geht es
dabei immer auch um so zentrale Fragen wie die nach
den Auswirkungen von Einsatzerfahrungen auf die Sol-
datinnen und Soldaten und wie sie sich mit diesen nach
der Rückkehr aus dem Einsatz in unserer Gesellschaft
wieder integrieren können. Diejenigen, die im Sinne des
Friedensauftrages des Grundgesetzes einen wichtigen
Beitrag zur kollektiven Friedenssicherung leisten, haben
daher jedes Recht auf entsprechende Präventions- und
Unterstützungsmaßnahmen. Das ist politische Maßgabe.
Ebenso wenig dürfen wir jedoch die Menschen in den
Ländern und Regionen, in denen die Bundeswehr einge-
setzt ist, aus dem Blick verlieren. Sie sind durch Krieg,
Vertreibung und massive Menschenrechtsverletzungen
meist selbst schwer belastet und traumatisiert. Wer vor
Ort in Krisenregionen war, weiß nur allzu gut, dass es
ohne eine Stärkung der Zivilgesellschaft, ohne Wahr-
heitsfindung, Versöhnung und soziale Neuordnung kei-
nen nachhaltigen Frieden geben kann. Entscheidend ist
dafür auch die Integration ehemaliger Soldaten und
Kriegsveteranen. Auch sie müssen mit ihren Erfahrun-
gen und Erlebnissen einen entsprechenden Ort in den
Gesellschaften finden können. Sonst bleibt das Gewalt-
potenzial enorm. Im Bereich der Versöhnungsarbeit leis-
ten gerade kleine, aber wichtige Projekte des Zivilen
Friedensdienstes – ZFD – mit wenig Personal und Mit-
teln Enormes. Deshalb ist es ausgesprochen kurzsichtig
und unklug, wenn solche Ansätze und Projekte nur in
der Dimension „Tropfen auf dem heißen Stein“ gefördert
werden. Und ausgesprochen destruktiv ist, dass be-
währte ZFD-Projekte zur Integration ehemaliger Kämp-
fer in Serbien und Bosnien-Herzegowina seitens der
Bundesregierung keine Unterstützung mehr bekommen
sollen. In Zeiten der viel beschworenen „vernetzten
Sicherheit“ ist das in keiner Weise nachvollziehbar.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Keine EU-Export-
subventionen für Schweinefleisch in Entwick-
lungsländer (Tagesordnungspunkt 22)
Anette Hübinger (CDU/CSU): Seit dem 30. Novem-
ber 2007 werden von der Europäischen Union wieder Ex-
porterstattungen für Schweinefleischteile – zu welchen
beispielsweise Schlachthälften, Teilstücke und Schweine-
bäuche zu zählen sind – gewährt. Diese Verordnung geht
auf eine Initiative der Europäischen Kommission zurück
und wurde im zuständigen Verwaltungsausschuss von den
EU-Mitgliedstaaten Ende vergangenen Jahres beschlos-
sen. Seit dem Inkrafttreten dieser Verordnung können
Ausfuhren von Schweinefleisch in alle Staaten außer-
halb der EU mit bis zu 54 Euro pro 100 Kilogramm sub-
ventioniert werden. Eine Entscheidung, die kurz vor
Abschluss der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwi-
schen der EU und den AKP-Staaten getroffen wurde, die
aus entwicklungspolitischer Sicht und den damit verbun-
denen Bemühungen, Agrarsubventionen abzubauen, auf
den ersten Blick befremdlich und kontraproduktiv er-
scheint.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert im vor-
gelegten Antrag einerseits, die Festsetzung von Export-
erstattungen für Schweinefleisch rückgängig zu machen,
und andererseits, auf Exportsubventionen für Agrarpro-
dukte in Entwicklungsländer grundsätzlich zu verzich-
ten. Ein Petitum der Entwicklungsländer, mit dem sich
die WTO seit längerem auseinandersetzt. In meinen Au-
gen sprechen Sie in Ihrem Antrag, sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, auf
der einen Seite richtigerweise die entwicklungspolitische
Relevanz der Wiedereinführung von Exporterstattungen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15977
(A) (C)
(B) (D)
für Schweinefleisch an, auf der anderen Seite ignorieren
Sie aber weitgehend die agrar- bzw. außenhandelspoliti-
sche Dimension dieser Entscheidung. Es wird deutlich,
dass Sie die vorliegende Problematik zu einseitig be-
trachten, und dies wird einer umfassenden Analyse zur
Notwendigkeit bzw. zu den Auswirkungen der Export-
subventionierung von Schweinefleisch nicht gerecht.
Unstrittig ist, dass in der EU eine schwierige Marktlage
und ein damit verbundener Preisdruck auf Schweine-
fleisch zu konstatieren ist. Dieser Entwicklung entge-
genzuwirken, war unausweichlich. Die zuvor einge-
führte Regelung zur privaten Lagerhaltung war der erste
Schritt. Im Rahmen dieser Maßnahme werden für die
private Lagerhaltung je nach Teilstück und nach Mona-
ten gestaffelte Zahlungen gewährt, um das Missverhält-
nis von zyklusbedingten niedrigen Schweinefleischprei-
sen und steigenden Futtermittelkosten auszugleichen.
Diese bis Ende Juni 2008 verlängerte Maßnahme hat
maßgeblich dazu beigetragen, den Markt zu entlasten.
Sie reicht jedoch allein nicht aus, um die schwierige
Marktlage zu bereinigen. Die Wiedereinführung der Ex-
porterstattungen ist somit als weiterführende Maßnahme
anzusehen, um die nicht zu verleugnenden Martkschwie-
rigkeiten in Bezug auf Schweinefleisch zu bewältigen.
Weiterhin darf in diesem Zusammenhang nicht ver-
gessen werden, dass sich die europäischen Bauern im in-
ternationalen Agrarmarkt bewegen. So ist Deutschland
nach den USA, Frankreich und den Niederlanden viert-
größter Agrarexporteur der Welt. Im Bereich Schweine-
fleisch ist Deutschland sogar europaweit führend. Der
starke Rückgang des US-Dollars bzw. der steigende
Wert des Euros in den vergangenen Monaten hatte aller-
dings zur Folge, dass die europäischen Schweinefleisch-
exporteure gegenüber ihren internationalen Konkurren-
ten – zum Beispiel Brasilien, Kanada und den USA –
mehr und mehr an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Auch
als Reaktion auf diese Problematik war die Wiederein-
führung der Exporterstattungen für Schweinefleisch not-
wendig. Nicht zuletzt deuten die erzielten Exporterfolge
nach Russland oder China darauf hin, dass das Instru-
ment der Exportförderung greift und solange die interna-
tionalen Hauptkonkurrenten im Bereich des Agrarsek-
tors mit Subventionen arbeiten, wäre es vonseiten der
EU fahrlässig, die europäischen Schweinefleischprodu-
zenten mit ungleichen Mitteln auf dem internationalen
Agrarmarkt antreten zu lassen. Im Hinblick auf die ent-
wicklungspolitische Dimension muss die Thematik äu-
ßerst differenziert betrachtet werden. Grundsätzlich ist
festzuhalten, dass der Beschluss zur Wiedereinführung
von Exportsubventionen für Schweinefleisch in alle
Länder außerhalb der EU WTO-rechtlich im Rahmen
der erlaubten Möglichkeiten liegt. Die WTO-Ministerin-
nen und -Minister einigten sich zwar 2005 in Hongkong
auf eine Abschaffung der Exportsubventionen bis Ende
2013, allerdings tritt dieser Beschluss erst infolge eines
Endergebnisses der Doha-Welthandelsrunde in Kraft.
Seit Herbst 2007 wird – im Besonderen im Agrarbereich –
fieberhaft nach Kompromissen gesucht, die auch den
Abbau jeglicher Formen von Exportunterstützung be-
treffen.
Die EU hat im Laufe der Verhandlungen deutlich ihre
Kompromissbereitschaft zum Ausdruck gebracht, und
mit Blick auf eine Einigung bin ich optimistisch, dass
sich ein tragfähiger Kompromiss auf Basis des Vor-
schlags von Botschafter Falconer durchsetzen wird. Bis
die WTO-Verhandlungen abgeschlossen sind und die
dann international geltenden Regelungen angewendet
werden können, müssen nach meiner Ansicht andere
Wege gefunden werden, um die Interessen der europäi-
schen Agrar- bzw. Außenhandelspolitik mit den Forde-
rungen der Entwicklungspolitik in Einklang zu bringen.
In Europa haben wir uns für den Weg entschieden, in
den WTO-konformen Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men – EPAs – und Interimsabkommen die Zusammen-
arbeit mit AKP-Staaten in Handelsfragen neu zu gestalten.
Die abgeschlossenen EPAs beinhalten dabei zwingend
Regelungen, welche Exportsubventionen vonseiten der
EU – auch in Bezug auf Schweinefleisch – ausschließen.
Auch einige abgeschlossene Interimsabkommen be-
inhalten diese Regelung, wenn deren Aufnahme ge-
wünscht wurde. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit,
Schweinefleisch als sensibles Produkt zu klassifizieren.
Somit greifen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
zwischen der EU und den AKP-Staaten schon jetzt Re-
gelungen auf, die für den im Rahmen der WTO abge-
stimmten Welthandel noch in weiter Zukunft liegen und
machen die Schutzdimensionen der so oft gescholtenen
EPAs deutlich.
Lassen Sie mich am Beispiel Afrikas verdeutlichen,
um welche Größenordnungen es sich beim subventio-
nierten Schweinefleischexport handelt. 1999 lag der
subventionierte Export bei 50 Prozent. Bis heute ist er
auf 5 Prozent zurückgegangen. Exporte nach Afrika
– Hauptabnehmer sind dabei Angola und Südafrika –
machen circa 3 Prozent aller EU-Exporte aus. Zudem
importiert Südafrika hauptsächlich gefrorenes Fleisch
und Angola vor allen Dingen Würste. Die neu eingeführ-
ten Exporterstattungen von 0,31 Euro pro Kilo beziehen
sich aber auf unverarbeitetes Schweinefleisch. Der ma-
ximale Erstattungsbetrag von 0,54 Euro pro Kilo gilt da-
gegen für gesalzene und getrocknete Ware – zum Bei-
spiel Parma- und Serranoschinken – und besteht schon
seit längerer Zeit. Die befürchtete Marktverdrängung
einheimischer Kleinproduzentinnen und Kleinproduzen-
ten kann nicht dadurch verhindert werden, dass sich die
EU einseitig weltweit geltende Wettbewerbsbeschrän-
kungen auferlegt und die Konkurrenten wie Brasilien
und die USA weiterhin diese Märkte bedienen. Vielmehr
muss die Entwicklungspolitik bis zu einer WTO-Rege-
lung dafür Sorge tragen, die Wettbewerbsnachteile klein-
bäuerlicher Schweineproduktion in Afrika als Folge
fehlender Investitionen in die notwendigen Vermark-
tungstrukturen vor Ort aufzuarbeiten. An diesem Punkt
anzusetzen ist in meinen Augen erfolgversprechender,
als ein europäisches Verbot von Exporterstattungen in
Entwicklungsländer zu fordern, welches über die bereits
eingegangenen und noch einzugehenden Verpflichtun-
gen in den EPAs hinausgeht.
Die Zusage der EU gegenüber den 78 AKP-Staaten
bis 2013 alle Formen von Agrarsubventionen auslaufen
zu lassen, gilt weiterhin. Die Bundesregierung und die
15978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Mitgliedstaaten der EU werden sich im Rahmen der
WTO-Verhandlungen für eine schnelle Einigung einset-
zen, die auch eine internationale Abschaffung jeglicher
Formen von Exporterstattungen beinhaltet. Ohne die
gleichen Spielregeln im internationalen Agrarmarkt ist
es heute jedoch noch nicht möglich – auch im Interesse
der europäischen Bauern – gänzlich auf Exportsubven-
tionen für Agrarprodukte zu verzichten. Zumal die Ziel-
richtung der Maßnahme vor allem auf den russischen
Markt ausgerichtet ist.
Dieser Aspekt, sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen von Bündnis 90/Die Grünen, fehlt in Ihrem Antrag
gänzlich. Des Weiteren verkennen Sie in Ihrem Antrag,
dass für die AKP-Staaten mit den EPAs bzw. Interimsab-
kommen Möglichkeiten vorliegen, schon jetzt – unab-
hängig von den zukünftigen Ergebnisse der Doha-Welt-
handelsrunde – Handelbeziehungen zur EU aufzubauen,
welche Exporterstattungen vonseiten der EU ausschlie-
ßen.
Aus diesen Gründen lehnt die CDU/CSU-Fraktion
den Antrag der Bündnis 90/Die Grünen ab.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Der Antrag der Grünen
geht dem Grunde nach in die richtige Richtung. 2005
hatte die EU im Rahmen der WTO-Welthandelsrunde in
Hongkong zugesichert, ihre Exportsubventionen bis
2013 abzubauen. Wenn die EU jetzt im November ver-
gangenen Jahres die Wiedereinführung von Exporterstat-
tungen für unverarbeitetes Schweinefleisch beschlossen
hat, dann kann man nicht sagen, dass das mit der in
Hongkong eingeschlagenen Richtung in Einklang zu
bringen wäre. Bei allem Verständnis für die schwierige
Lage auf dem Schweinefleischmarkt, die offenbar Hilfe-
leistungen seitens der EU erforderlich gemacht hat,
bleibt doch festzuhalten, dass der Griff in die Subventi-
onsschatulle der falsche Weg ist.
Nun ist es beim Schweinefleisch so, dass die subven-
tionierten Exporte zu weiten Teilen nach Russland, Ja-
pan und Osteuropa und nur in äußerst geringem Maße in
Entwicklungsländer gehen. Allein auf Russland entfal-
len 32 Prozent der gesamten EU-Schweinefleischex-
porte. Der Anteil des nach Afrika exportierten Schwei-
nefleisches beträgt dagegen weniger als 3 Prozent der
gesamten Exportmenge. Davon geht das meiste Fleisch
nach Angola, ein kleiner Rest überwiegend nach Süd-
afrika. Europa exportiert somit mehr Schweinefleisch
nach Kroatien als insgesamt in Entwicklungsländer. In-
sofern würde ich auch die Lage bei den Exporterstattun-
gen für Schweinefleisch nicht ganz so schwarzsehen,
wie das im Antrag der Grünen dargestellt wird. Die Aus-
wirkungen für die Bauern in Afrika werden voraussicht-
lich kaum spürbar, Märkte in Entwicklungsländern so
gut wie nicht beeinträchtigt sein. Zudem kann man die
Hoffnung haben, dass sich der saisonal schwankende
Schweinefleischmarkt in Europa wieder erholt und die
Exporterstattungen schnell wieder zurückgefahren wer-
den können.
Dennoch halte ich es für richtig, dass man sich jede
Subvention, die entgegen der Aussagen von Hongkong
heimlich durch die Hintertür wieder eingeführt wird, ge-
nau anschaut. So gesehen ist der Grünen-Antrag zu-
nächst einmal ein dankenswerter Beitrag. Wir müssen
jetzt darauf achten, dass die Schweinefleischsubventio-
nierung nicht lediglich der Auftakt für weitere Stützun-
gen auch in anderen Bereichen ist und so ein erfolgrei-
cher Abschluss der Doha-Runde gefährdet wird. Wir
werden also Herrn Seehofer und seinen europäischen
Kollegen genau auf die Finger schauen.
Beim Schweinefleisch werden wir Minister Seehofer
beim Wort nehmen, wenn er sagt, dass die Exporterstat-
tungen lediglich der Überbrückung der aktuell schwieri-
gen Lage dienen sollen. Es kann jedenfalls nicht sein,
dass das, was in zähen Verhandlungen 2005 durchgesetzt
worden ist, jetzt wieder infrage stehen soll. Der Be-
schluss von Hongkong, die Exportsubventionen bis 2013
zu beenden, war ein Erfolg und hat uns dem Ziel, den
Welthandel gerechter zu gestalten, ein kleines Stückchen
näher gebracht. Sicher hätte man sich einen früheren
Ausstieg aus dem europäischen Subventionswahnsinn
gewünscht. Das war aber leider nicht durchzusetzen.
Es wird also noch eine Weile dauern, bis die Export-
subventionen auslaufen, aber immerhin ist ein Ende in
Sicht. Dann werden hoffentlich die zahllosen Negativbei-
spiele für die schlimmen Folgen europäischer Agrarex-
portsubventionen Geschichte sein. So bedroht beispiels-
weise nach wie vor in Burkina Faso subventioniertes
Milchpulver aus Europa die Existenz vieler Milchbauern,
die gegen die Dumpingpreise nicht konkurrieren können.
Europäisches Milchpulver ist dort pro Liter weniger als
halb so teuer wie ein Liter einheimische Frischmilch. Den
Luxus, das heimische Produkt zu kaufen, wird sich in
Burkina Faso kaum jemand leisten können. Ähnliches
gilt für den Geflügelmarkt. Hähnchenteile, die sich in Eu-
ropa nicht verkaufen lassen, werden tiefgefroren nach Af-
rika verschifft. Dort werden sie – Subventionen sei dank –
zu Schleuderpreisen unters Volk gebracht. Viele Fami-
lien, die von der Hühnerhaltung gelebt haben, haben so
ihre Existenz verloren. Wohlgemerkt sind es beim Hühn-
chenfleisch nicht die Exportsubventionen, sondern die in-
ternen Stützungen des Getreides und somit des Hühner-
futters, die neben dem europäischem Konsumverhalten
für diese Verzerrungen verantwortlich sind.
Wir sehen die Folgen dieser verqueren Subventions-
politik nicht nur im Nahrungsmittelsektor, sondern auch
in anderen Bereichen und mit anderen Protagonisten. In
Westafrika hängt das Leben von 15 Millionen Kleinbau-
ern von der Baumwollproduktion ab. In den USA hinge-
gen gibt es nur ein paar Tausend Baumwollfarmer.
Trotzdem erhalten diese paar Tausend Farmer 5 Milliar-
den US-Dollar an Subventionen pro Jahr. In den USA
wird jedes Kilo Baumwolle allein mit 50 Cent subven-
tioniert, während in Benin ein Farmer ein Kilo Baum-
wolle überhaupt nur für 40 Cent verkaufen kann. Diese
Bauern haben kaum eine Chance, ihre Ware auf dem
Weltmarkt zu fairen Bedingungen zu verkaufen. Ebenso
wie Europa müssen also auch die USA ihre Subventions-
politik dringend überprüfen. Die OECD-Staaten haben
im vergangenen Jahr 349 Milliarden US-Dollar an
Subventionen im Agrarsektor ausgezahlt. Das ist verhee-
rend. Im Vergleich dazu beträgt übrigens die gesamte öf-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15979
(A) (C)
(B) (D)
fentliche Entwicklungszusammenarbeit aller OECD-Län-
der zusammen nicht einmal ein Drittel dieser Summe.
Für die AKP-Staaten sind die noch immer laufenden
EPA-Verhandlungen ein Hoffnungsschimmer. In den Ab-
kommen wird festgeschrieben, dass für die Produkte, die
liberalisiert werden, keine Exportsubventionen mehr ge-
zahlt werden. Man kann also nur hoffen, dass die bislang
abgeschlossenen Interimsabkommen schnellstmöglich in
eine endgültige, nachhaltig entwicklungsorientierte Form
gebracht werden. Zahlreiche Exportstützungen könnten
dann bereits vor dem Endzeitpunkt 2013 zumindest in
diesen Regionen als erledigt betrachtet werden.
Wir brauchen wirkliche Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen zwischen der EU und den AKP-Staaten. Die
Betonung liegt hier eindeutig auf dem Begriff „Partner-
schaft“. Nachdem Ende vergangenen Jahres nicht zuletzt
durch die Art der Verhandlungsführung auf europäischer
Seite einiges an Porzellan zerbrochen wurde, müssen die
Verhandlungen nun auf Augenhöhe und im gegenseiti-
gen Einverständnis weitergeführt werden, um verloren
gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Von einem
fairen Welthandel, von einer gerechten Gestaltung der
Globalisierung werden wir alle profitieren. Wir werden
uns daher weiter dafür einsetzen, der unsinnigen Sub-
ventionspolitik ein Ende zu bereiten. Das, was Ende No-
vember in Brüssel für den Export von Schweinfleisch
entschieden wurde, ist Politik von gestern.
Manfred Zöllmer (SPD): Die Lage auf dem Markt
für Schweinefleisch ist weiterhin sehr angespannt. Die
Preise sind in den letzten Wochen zwar leicht gestiegen,
sie decken aber nicht die bei der Produktion entstande-
nen Kosten. Am stärksten betroffen sind die Ferkeler-
zeuger. Die Ferkelpreise bewegen sich schon seit gerau-
mer Zeit auf einem sehr niedrigen Niveau. Ursächlich
für diese Entwicklung sind die stark gestiegenen Futter-
mittelpreise und das, was in der ökonomischen Theorie
zutreffend als „Schweinezyklus“ bezeichnet wird.
Die deutsche Schweinewirtschaft ist für die Landwirt-
schaft insgesamt von großer Bedeutung. Deutschland ist
vom Nettoimporteur von Schweinefleisch zu einem Net-
toexporteur geworden. Unsere Zielsetzung bleibt auch
weiterhin eine Stärkung des Veredelungsstandortes
Deutschland. Von daher darf uns diese Entwicklung nicht
gleichgültig lassen.
Die Strategie der Bundesregierung, den Absatz für die
Erzeugung im stärkeren Maße im Export zu finden, ist
grundsätzlich richtig. Die verbesserte Marktöffnung in
Richtung Russland und China hat zu einer Entlastung
auf den Märkten beigetragen. Die Exportmöglichkeiten
nach Japan und Südkorea zu verbessern, ist ein Schritt
in die richtige Richtung. Wir unterstützen die Bundesre-
gierung nachdrücklich bei diesen Bemühungen.
Die von der EU eingeleitete Maßnahme, in Deutsch-
land bis zu 13 000 Tonnen Schweinefleisch im Rahmen
der privaten Lagerhaltung vom Markt zu nehmen, ist
richtig. Dies trägt zu einer deutlichen Entlastung auf
dem Markt für Schweinefleisch bei. Dieses Instrument
sollte von den Marktteilnehmern auch entsprechend ge-
nutzt werden.
Zusätzlich wurde von der Kommission beschlossen,
Exporterstattungen für unverarbeitetes Schweinefleisch
in Höhe von 31,10 Euro je 100 kg einzuführen. Nach
den geltenden WTO-Regeln kann die EU pro Jahr insge-
samt 588 000 Tonnen Schweinefleisch mit Exporterstat-
tungen exportieren. Bisher wurde die Quote zu rund
40 Prozent ausgenutzt.
Diese Exportsubventionen sind staatliche Leistungen
mit dem Ziel, preisgünstigere Exporte zu ermöglichen.
Die Exporteure erhalten dadurch einen Wettbewerbsvor-
teil gegenüber Anbietern aus anderen Ländern. Export-
subventionen sind seit langer Zeit heftig umstritten. Sie
verzerren internationale Preisrelationen und haben häu-
fig schädliche Auswirkungen für lokale Erzeugermärkte.
Eine ganze Reihe von Entwicklungsländern haben sich
zu Recht über die negativen Auswirkungen von Export-
erstattungen beklagt. Es gibt viele Beispiele dafür, dass
lokale Märkte, besonders in Afrika, nachhaltig beschä-
digt wurden. Die Auswirkungen für die lokalen Erzeuger
und die Nahrungsmittelversorgung waren teilweise ex-
trem negativ, sinkende Einkommen und steigende Armut
häufig die Folge.
Die EU hat deshalb bei den WTO-Verhandlungen in
Hongkong im Rahmen der laufenden Doha-Runde die
Abschaffung aller handelsverzerrenden Exportsubven-
tionen für landwirtschaftliche Güter bis 2013 angeboten.
Dieses Angebot war verbunden mit der Forderung, par-
allel alle Exportförderinstrumente, auch durch Staats-
handelsunternehmen, sowie die Nahrungsmittelhilfe zur
Überschussbeseitigung abzuschaffen. Ziel war es, den
Entwicklungsländern im Rahmen der Doha-Entwick-
lungsrunde entgegenzukommen und faire Handelsbedin-
gungen für landwirtschaftliche Produkte zu schaffen.
Das jetzt zusätzlich angewandte Instrument der Ex-
porterstattung für Schweinefleisch ist deshalb ein Rück-
fall in längst überwunden geglaubte Zeiten handelsver-
zerrender Praktiken. Das Versprechen der EU bei den
Verhandlungen in Hongkong muss eingehalten werden.
Dies gilt auch dann, wenn die Exporte von Schweine-
fleisch in Entwicklungsländer, insbesondere in afrikani-
sche Länder, sich auch jetzt auf einem niedrigen Niveau
bewegen. Es bleibt ein falsches Signal.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen formuliert zu
Recht Kritik am Verhalten der Kommission. Es gibt Al-
ternativen zu diesem Instrument. Eine verstärkte Export-
förderung ohne Exporterstattungen ist möglich; das hat
die Bundesregierung mit ihren Initiativen in Richtung
Russland, China, Japan und Südkorea gezeigt. Der An-
trag der Grünen beschränkt sich allerdings nicht auf Ex-
porterstattungen. In der Antragsbegründung wird ein un-
qualifizierter Rundumschlag gegen die Produktion von
Schweinefleisch in Deutschland gestartet. Dies hat mit
dem eigentlichen Sachverhalt nichts zu tun. Wir werden
deshalb den Antrag ablehnen.
Hellmut Königshaus (FDP): Es ist sehr bedauer-
lich, dass wir dieses wichtige Thema erst zu so später
15980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Stunde im Parlament debattieren können. Es ist schade,
dass der Koalitionsmehrheit in diesem Hause augen-
scheinlich die Sensibilität für dieses wichtige Thema
fehlt. Das Thema der EU-Exportsubventionierungen ist
von grundsätzlicher Bedeutung für die Verbraucher in
Europa, vor allem aber auch für die Produzenten in Ent-
wicklungsländern.
Überhaupt: Es mutet schon merkwürdig an, dass wir
über das Thema „EU-Exportsubventionen für Schweine-
fleisch“ in Zeiten von steigenden Nahrungsmittelpreisen
noch diskutieren müssen. Subventionen sind schon an
sich ein Übel. Aber diese Subventionen sind in Zeiten
steigender Nahrungsmittelpreise nun wirklich völlig
überholt.
Milch, Brot, Fleisch – alles wird bei uns teurer. Und
dazu trägt die EU mit ihrer Förderpolitik auch noch bei,
indem sie mit viel Geld in Europa hergestellte Lebens-
mittel auf dem Weltmarkt geradezu verschleudert. Die
Hälfte des EU-Haushalts geht für Agrarsubventionen
drauf. Jedes Jahr werden mehr als 900 Millionen Euro
nur dafür ausgegeben, dass zum Beispiel Milch, Ge-
treide, Geflügel, Schweine- und Rindfleisch zu billigsten
Preisen außerhalb der EU abgesetzt werden. Allein für
Getreide plant die EU-Kommission 62 Millionen Euro
Fördermittel ein. Und für Zucker sollen noch einmal
440 Millionen Euro dazu kommen. Für Milch und
Milcherzeugnisse sind es 276 Millionen, für Geflügel
91 Millionen Euro. Und die Liste geht noch weiter. Die
Verbraucher zahlen dabei doppelt: Erst mit den Steuern
für die Subventionen und dann an der Kasse für überteu-
erte Lebensmittel. Die Welthandelsorganisation sagt,
dass EU-Exportsubventionen den Weltmarkt kaputtma-
chen und verhindern, dass ärmere Länder am Markt be-
stehen können. Zu Recht. Mit den niedrigen Preisen kön-
nen die Produzenten in den Entwicklungsländern nicht
mithalten. Aus Verantwortung gegenüber den Verbrau-
chern und Solidarität mit den Ländern der Dritten Welt
gehören die Exportsubventionen für Lebensmittel abge-
schafft.
Wir haben schon früh Vorschläge gemacht, diese dop-
pelte Verschwendung und Marktverzerrung zu beseiti-
gen. Unser Modell der Kulturlandschaftsprämie wurde
schon auf dem FDP-Bundesparteitag 2001 einstimmig
beschlossen. Kernpunkt des Modells ist die Stärkung der
unternehmerischen Landwirtschaft durch eine Entkoppe-
lung der Prämien von der Produktion. Landwirte sollen
für ihre Leistungen zur Pflege und für den Erhalt der
Kulturlandschaft honoriert werden. Landwirte produzie-
ren für die nachfragenden Märkte unter Einhaltung der
Fachgesetze im Tier-, Umwelt- und Verbraucherschutz.
Dadurch würde Bürokratie abgebaut, Überschüsse wür-
den verringert und notwendige entwicklungs- und han-
delspolitische Korrekturen vorgenommen sowie der EU-
Haushalt deutlich entlastet. Das FDP-Modell einer Kul-
turlandschaftsprämie wurde mit der Umsetzung der EU-
Agrarreform 2005 in Deutschland und der Europäischen
Union verwirklicht. Damit hat die FDP mit ihrem Mo-
dell den Grundstein für eine marktwirtschaftlichere Aus-
richtung der Gemeinsamen Agrarpolitik gelegt. Die
FDP-Fraktion setzt sich vor diesem Hintergrund für die
Abschaffung der EU-Exportsubventionen ein, insbeson-
dere weil diese zu massiven Handelsverzerrungen vor al-
lem gegenüber Entwicklungsländern führen. Darunter
leiden dort insbesondere deren Landbevölkerung und die
kleinbäuerlichen Betriebe, die auf den Export von agra-
rischen Rohstoffen und den damit verbundenen Einnah-
men besonders angewiesen sind. Freier Handel ist fairer
Handel. Von einem freien Handel profitieren vor allem
die Entwicklungsländer und die kleinbäuerliche Land-
wirtschaft. Deshalb ist es aus agrar- und entwicklungs-
politischer Sicht wichtig und notwendig, dass die lau-
fende WTO-Runde zu einem weiteren Abbau des
Agrarprotektionismus in allen beteiligten Ländern führt.
Flankierend müssen die kleinbäuerlichen Betriebe in den
Entwicklungsländern über die verschiedenen Entwick-
lungshilfeorganisationen besonders unterstützt werden.
Es ist also vollkommen klar, dass wir auch in diesem
Einzelfall – der EU-Exportsubventionen für Schweine-
fleisch – bei unserer Haltung bleiben werden: wir lehnen
sie ab. Insofern sind wir mit dem Grundtenor des An-
trags von Bündnis 90/Die Grünen einverstanden.
Schwieriger wird es da schon mit der Forderung, die
Exporterstattungen für Schweinefleisch rückgängig zu
machen. Darüber werden wir im Ausschuss noch disku-
tieren müssen, wie so etwas funktionieren soll. Aber es
sei schon jetzt angemerkt, dass wir Rechtssicherheit und
Verlässlichkeit nicht nur von den Regierungen der Ent-
wicklungsländer verlangen dürfen, sondern dies vor
allem auch selbst praktizieren müssen. Eine Rückab-
wicklung staatlicher Fehlleistungen zulasten der daran
unschuldigen Landwirte lehnen wir ab.
Um die Krise am Schweinemarkt zu beheben, sind
aus unserer Sicht marktwirtschaftliche Instrumente ge-
eigneter. Dazu sind insbesondere die „hausgemachten“
Probleme, die mit der Setzung falscher Rahmenbedin-
gungen durch die Bundesregierung zu tun haben, zu än-
dern. Insbesondere die Kostentreiberei durch die Wettbe-
werbsverzerrungen der Schweinehaltungsverordnung
und den geplanten „Tierschutz-TÜV“ sind hier zu nen-
nen. Wer wie die Bundesregierung eine innovations-
feindliche Politik zulasten der Landwirtschaft und der
Biotechnologie in Deutschland und Europa betreibt, darf
sich auch nicht über teurere Futtermittel beklagen. Denn
in den Hauptwettbewerbsländern der EU sind die Kosten
für Futtermittel auch wegen der Nutzung neuer GVO-
Sorten deutlich niedriger. Dieser Kostenvorteil für Land-
wirte in den USA, Kanada und Brasilien wird durch die
zögerliche Genehmigungspolitik der EU mit Unterstüt-
zung der Bundesregierung verstärkt und macht bis zu
50 Euro je Tonne Futter aus, also ungefähr den Betrag,
mit dem die EU mit Subventionen den Exportpreis
drückt.
Es ist bedauerlich, dass die Fraktion Die Grünen ihren
ansonsten sehr vernünftigen Antrag ideologisch über-
frachtet, indem sie erneut moderne Tierhaltung diskredi-
tiert, die ihrem Ideal vom „ökologischen Landbau“ nicht
entspricht.
Wir werden uns also im Ausschuss beraten müssen,
ob wir in dieser Frage zu einer gemeinsamen Position
kommen können. Ausschließen möchte ich das nicht,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008 15981
(A) (C)
(B) (D)
denn dem Grundgedanken des Antrags stimmen wir zu:
EU-Exportsubventionen gehören abgeschafft.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Es ist nicht akzeptabel,
dass die Europäische Union mit Zustimmung der Bun-
desregierung ihre hausgemachten Probleme in alle Welt
exportiert. Die Bundesregierung hat im EU-Verwal-
tungsrat der Wiedereinführung der Ausfuhrerstattungen
für den Export von unbehandeltem Schweinefleisch zu-
gestimmt. Das ist ökologisch unsinnig und entwick-
lungspolitisch unverantwortlich.
Die Schriftliche Frage unserer Fraktion, ob die Zu-
stimmung der deutschen Delegation im EU-Verwal-
tungsrat mit dem BMZ abgestimmt war, hat uns das fe-
derführende Landwirtschaftsministerium schlicht nicht
beantwortet. Deswegen frage ich Frau Wieczorek-Zeul
hier ganz direkt: War die Zustimmung der deutschen De-
legation zur Wiedereinführung der Ausfuhrerstattungen
für Schweinefleischexporte mit Ihrem Haus koordiniert?
Und wenn ja: Haben Sie die kritischen Stimmen von ent-
wicklungspolitischen Organisationen gehört? Wie stel-
len Sie sich dazu? Das BMELV hat uns auch die Frage
nach der Entwicklungsverträglichkeit dieser Maßnahme
nur sehr ausweichend beantwortet: mit dem lapidaren
Verweis darauf, dass die Exporte ja nur zu einem sehr
kleinen Teil nach Afrika, zu einem wesentlich größeren
Teil jedoch zum Beispiel nach Russland gingen. So ig-
norant kann man nicht mit existenziellen Ängsten in den
Abnehmerländern und mit der fundierten Kritik von
Fachleuten umgehen. Dabei müssten wir viel grundsätz-
licher über die Ordnung der Landwirtschaft in der EU
und des Agrarhandels weltweit diskutieren:
Europäische Landwirte müssen in Europa die Mög-
lichkeit haben, ihre Märkte zu finden und die Preise zu
erzielen, die sie benötigen, um ihre Existenz zu sichern.
Von den Ausfuhrerstattungen profitieren nur die Fleisch-
exporteure, die offensichtlich in der Lage sind, mit ihren
Lobbyisten die Politik zu bestimmen. Unter dem Preis-
verfall, der durch das Anheizen der Überschussproduk-
tion ausgelöst wird, leiden aber vor allem die kleinen
und mittleren Betriebe, die für die lokalen und regiona-
len Märkte in der EU produzieren.
Das ist auch ein entwicklungspolitischer Irrsinn. Auf
dem WTO-Ministertreffen in Hongkong Ende 2005 hatte
die EU den Abbau ihrer Agrarexportsubventionen bis
2013 angekündigt. Darauf haben sich die Verhandlungs-
partner in den Ländern des Südens und viele entwick-
lungspolitische Organisationen verlassen. Die Wieder-
einführung der Ausfuhrerstattungen für Schweinefleisch
widerspricht streng genommen nicht den Zusagen von
Hongkong, aber sie ist ein Signal, das vollkommen in die
falsche Richtung geht: eine kurzfristige Maßnahme,
selbstverschuldete eigene Probleme auf Kosten Schwä-
cherer zu lösen.
Erstens können auch Exportvolumen, die aus der Per-
spektive des Exportweltmeisters klein erscheinen, als Im-
porte in Afrika gewaltigen Schaden anrichten, das wissen
wir aus vielen Bereichen des Agrarhandels zwischen der
EU und Afrika. Zudem nehmen die Schweinefleischex-
porte nach Afrika zu, wie der EED in einem Brief, der
auch den Kollegen und Kolleginnen von den Koalitions-
fraktionen zugegangen sein dürfte, aufzeigt. Bereits vor
der Wiedereinführung der Subventionen verdrängen die
Schweinefleischimporte aus der EU in Afrika im großen
Stil lokale Produzenten und nehmen ihnen die Existenz-
grundlage. Dazu kommt: Auch in Russland führen die
EU-Exportsubventionen zu Marktverzerrungen und zu
Verdrängung zuungunsten lokaler Produzenten.
Zweitens ist diese Art der „Problemlösung“ durch die
EU kurzsichtig und ökologisch irrsinnig: Die Überpro-
duktion an Schweinefleisch und der damit verbundene
Preisnachlass sind ja nicht „höhere Gewalt“, sonder Er-
gebnis einer falschen Politik. Ich nenne nur die Vereinfa-
chung der Genehmigungsverfahren für Schweinemast-
anlagen und die Aufhebung der Flächenbindung der
Tierhaltung in der Agrarinvestitionsförderung.
Immer neue Großanlagen wie zum Beispiel die
Schweinemastanlage in Hassleben mit 80 000 Stallplät-
zen werden gefördert und erhöhen den Fleischberg, den
hierzulande keiner will. Wir wollen auch nicht, dass in
Deutschland Schweine mit gentechnisch verändertem
Importsoja aus Brasilien gefüttert werden, um sie nach
Asien zu exportieren. Exportsubventionen nach Russ-
land oder in andere Teile der Welt lösen keine Probleme
sondern bilden Anreize für zusätzliche Produktion und
Überschüsse. Und die Gülle, die dabei anfällt, bleibt
hier und stellt mittlerweile eines der größten ökologi-
schen Probleme der Agrarwirtschaft hierzulande dar.
Deshalb unterstützen wir den hier vorliegenden Antrag
der Grünen, die Agrarexportsubventionen für Schweine-
fleisch zurückzunehmen und grundsätzlich die Ausfuhr
in Entwicklungsländer von der Subventionierung auszu-
nehmen. Die Perspektive muss weiterhin und vor allem
glaubwürdig auf die Abschaffung der Agrarexportsub-
ventionen gerichtet sein.
Zur Erinnerung: Die Bundesregierung hat den UN-
Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Men-
schenrechte ratifiziert, mit dem sie in Art. 11 das Men-
schenrecht auf angemessene Nahrung völkerrechtlich
verbindlich anerkennt, und auch die freiwilligen Leitli-
nien der FAO zum Menschenrecht auf Nahrung unter-
stützt. Diese fordern in Teil III: „Internationale Maßnah-
men, Aktionen und Verpflichtungen“ alle Staaten unter
anderem dringend dazu auf, ihre Anstrengungen zur Re-
duzierung – mit dem Ziel des Abbaus – sämtlicher For-
men von Exportsubventionen zu verstärken. Mit ihrer
Verteidigung der Exportsubventionen für Schweine-
fleisch verstößt die Bundesregierung demnach gegen ihre
völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz des Men-
schenrechtes auf Nahrung.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Frage, welche Auswirkungen Subventionen in der Land-
wirtschaft und dabei gerade Exportsubventionen auf
Entwicklungsländer haben, beschäftigt die Politik schon
mehr als 20 Jahre. Schon in den 80er-Jahren haben uns
Wissenschaftler und Nichtregierungsorganisationen en
detail im Einzelfall nachgewiesen, wie Märkte insbeson-
dere in afrikanischen Ländern negativ von einer unsinni-
15982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 151. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
gen, unfairen europäischen Subventionspolitik massiv
geschädigt werden.
Und nach all den Erfahrungen fragt man sich wirk-
lich: Warum gelingt es nicht, andere Formen der Unter-
stützung der Landwirtschaft zu finden und auch ohne in-
ternationales Abkommen und neue WTO-Regeln auf
Im vorliegenden Antrag nun wird diese Fehlentwick-
lung beschrieben am Beispiel der EU-Exportsubventio-
nen für Schweinefleisch. Auch für diese gilt einmal mehr:
Die Wiedereinführung von Schweinefleischexportsub-
ventionen durch die EU ist aus entwicklungspolitischer,
handelspolitischer und agrarpolitischer Sicht völlig un-
sinnig. Exportsubventionen in AKP-Länder, vor allem
Subventionen zu verzichten, die neben den erwähnten
Nachteilen für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern auch
einen nicht hinnehmbaren Umgang mit Steuermitteln
mit sich bringt? Und auch der Blick auf die Profiteure
dieser Form der Subventionierung wird uns nicht leicht
gemacht. Politische Initiativen unserer Fraktion, transpa-
rent zu machen, wer besonderes Interesse an diesen Sub-
ventionen hat, wird mit Verweis auf den Datenschutz ab-
gelehnt.
Ob subventionierte Rindfleischexporte nach Süd-
afrika oder Tomatenmark und Reis nach Ghana, das Mus-
ter ist immer das Gleiche. Eine Politik, die die Bedin-
gungen für die lokale Landwirtschaft verschlechtert. Wer
sich mit Entwicklungspolitik beschäftigt, hat nie wirk-
lich einsehen können, wieso eine Bäuerin in der Nähe ei-
ner afrikanischen Stadt, sagen wir in Mosambik, nicht in
der Lage ist, mit Produkten zu konkurrieren, die in diese
Stadt aus Europa importiert werden. Dass afrikanische
Regierungen im Einzelfall nicht von den Möglichkeiten
Gebrauch machen, gegen diese „Dumping-Exporte“ vor-
zugehen, erschwert die Situation. Auch dort ist das Inte-
resse, „günstige Lebensmittel“ gerade in den städtischen
Räumen anzubieten, gelegentlich höher als eine gezielte
Politik zur Förderung der eigenen Landwirtschaft.
All dies fällt zusammen mit der nicht zu bestreitenden
Tatsache, dass auch heute zwischen 60 und 70 Prozent
der Bevölkerung in Subsahara-Afrika von der Landwirt-
schaft und dem daraus zu erzielenden – kargen – Ein-
kommen abhängig sind. Die Weltbank hat in ihrem
Weltentwicklungsbericht die Bedeutung der ländlichen
Entwicklung und der Landwirtschaft wiederentdeckt.
Dort heißt es unter anderem: „Im 21. Jahrhundert bleibt
die Landwirtschaft fundamental für eine nachhaltige
Entwicklung und die Armutsbekämpfung. Drei von vier
Menschen in Entwicklungsländern leben in ländlichen
Regionen –; 2,1 Milliarden Menschen leben von weniger
als zwei Dollar am Tag und 880 Millionen Menschen
von weniger als 1 Dollar am Tag – für die Mehrzahl die-
ser Menschen hängt das Leben von der Landwirtschaft
ab.“ Die internationale Gebergemeinschaft räumt mitt-
lerweile ein, dass sie zu lange die Entwicklung des länd-
lichen Raums zu wenig befördert und unterstützt hat.
Die EU verfolgt ihrem Selbstverständnis nach das Ziel
einer kohärenten Politik zwischen den verschiedenen
Politikfeldern. Sie hat einen ersten Kohärenzbericht vor-
gelegt, in dem auf die Probleme hingewiesen wird zwi-
schen der Handels-, Agrar- und Entwicklungspolitik.
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
nach Afrika, sind besonders schädlich. Viele Staaten dort
verfügen nicht über ausreichende Kapazitäten, um die
Auswirkungen subventionierter Exporte zu kontrollieren
und handelspolitische Gegenmaßnahmen einzusetzen.
Schon durchschnittliche Preise der EU-Exporte liegen
mit 0,44 Euro pro Kilo weit unter den Kosten, zu denen
einheimische Mäster in Westafrika und Zentralafrika
produzieren können, so hat es uns der Evangelische Ent-
wicklungsdienst anhand von Zahlen der FAO vorgerech-
net. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation
der Vereinten Nationen geht beispielsweise von durch-
schnittlichen Produktionskosten von 1,72 Euro pro Kilo
aus.
Die EU hat in der laufenden Welthandelsrunde ange-
boten, die Exportsubventionen auslaufen zu lassen. Nun
wissen wir alle, dass es noch kein Abkommen in der lau-
fenden Welthandelsrunde gibt. Im Jargon der Bürokratie
wird nun darauf verwiesen, dass die Ministererklärung
von Hongkong eine Abschaffung der Exporterstattungen
erst bis Ende 2013 festlegt. Bis dahin bestünde weiter die
Möglichkeit, bei Bedarf das „marktsteuernde Instrument
der Exporterstattungen“ anzuwenden. Eine zutreffende
Beschreibung für eine falsche Politik. Eine Politik, die
sich die EU von 2006 bis 2007 rund 273,6 Millionen
Euro hat kosten lassen, in Form von Ausgaben für Erstat-
tungen. Dies betrifft sowohl die Ausfuhr in Industrie- als
auch in Entwicklungsländer.
In Beschlüssen zur Exportsubventionierung und der
fortgesetzten Praxis zeigt sich, dass die EU kein aufrech-
ter Makler ist. Sie setzt ein falsches Signal und beschä-
digt die Märkte in Entwicklungsländern.
Diese Form der Unterstützung für die Großproduzen-
ten fördert eine widersinnige Agrarpolitik, die zum Bau
von riesigen Tierfabriken führt. Sie orientieren sich of-
fensichtlich nicht an der Marktnachfrage, der Absatz ih-
rer Produkte lässt sich offensichtlich nur durch Dumping-
preise sicherstellen. Gerade in einer Zeit, in der die Preise
für viele Agrargüter auf hohem Niveau sind, gehören Ex-
portsubventionen zu den Interventionen, die besser heute
als morgen beendet werden müssen. Zustimmende Ent-
wicklungspolitikerinnen und Politiker finden sich schnell
für solch eine Forderung. Doch bislang haben es nicht nur
in Frankreich, sondern auch bei uns einflussreiche Agrar-
lobbyisten immer noch verstanden, ihren Interessen Ge-
hör zu verschaffen. Agrarexportsubventionen gehören
ohne Wenn und Aber abgeschafft.
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2, 0, T
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151. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 13. März 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11