3) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15669
(A) (C)
(B) (D)
Sager, Krista BÜNDNIS 90/ 06.03.2008
findung beschäftigt. Lange Zeit schien für das Geflecht
unterschiedlicher Interessen keine Lösung in Sicht, dieDIE GRÜNEN
Mitgliedstaaten mit all ihren Gremien und nicht zuletzt
Hunderte nationaler und internationaler Interessengrup-
pen mit den Verhandlungen, der Ausarbeitung, den Neu-
verhandlungen und nicht enden wollender Kompromiss-
Roth (Heringen),
Michael
SPD 06.03.2008
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Dr. Berg, Axel SPD 06.03.2008
Blumentritt, Volker SPD 06.03.2008
Bollen, Clemens SPD 06.03.2008
Bülow, Marco SPD 06.03.2008
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 06.03.2008
Freitag, Dagmar SPD 06.03.2008
Gleicke, Iris SPD 06.03.2008
Golze, Diana DIE LINKE 06.03.2008
Großmann, Achim SPD 06.03.2008
Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.03.2008
Heil, Hubertus SPD 06.03.2008
Herrmann, Jürgen CDU/CSU 06.03.2008
Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 06.03.2008
Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.03.2008
Humme, Christel SPD 06.03.2008
Kumpf, Ute SPD 06.03.2008
Meckel, Markus SPD 06.03.2008
Müntefering, Franz SPD 06.03.2008
Nitzsche, Henry fraktionslos 06.03.2008
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.03.2008
Paula, Heinz SPD 06.03.2008
Raab, Daniela CDU/CSU 06.03.2008
Raidel, Hans CDU/CSU 06.03.2008
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
ses Sammelübersicht 369 zu Petitionen (Tages-
ordnungspunkt 29 j, Drucksache 16/8207)
Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen, dass unser Votum „Nein“ lautet.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1907/
2006 (REACH-Anpassungsgesetz) (Tagesord-
nungspunkt 14)
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Im Jahr 2001 nahm
die EU-Chemikalienverordnung REACH, eines der bis-
her größten und umfassendsten Gesetzesvorhaben der
Europäischen Union, ihren Anfang.
In den darauf folgenden Jahren waren die Europäi-
sche Kommission, das Europäische Parlament, die EU-
Dr. Scheer, Hermann SPD 06.03.2008
Schuster, Marina FDP 06.03.2008
Dr. Schwanholz, Martin SPD 06.03.2008
Steinbach, Erika CDU/CSU 06.03.2008
Strothmann, Lena CDU/CSU 06.03.2008
Dr. Tabillion, Rainer SPD 06.03.2008
Wächter, Gerhard CDU/CSU 06.03.2008
Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 06.03.2008
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
15670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
gegensätzlichen Umwelt-, Gesundheits- und Wirt-
schaftsaspekte waren einfach nicht auf einen Nenner zu
bringen.
Doch die EU hat die Frage, ob sie sich mit diesem
Jahrhundertgesetzeswerk nicht schlicht und ergreifend
übernommen hat, klar und eindeutig für sich beantwor-
tet: Die REACH-Verordnung wurde nach jahrelangen,
intensiv geführten Diskussionen und Verhandlungen am
18. Dezember 2006 vom Europäischen Parlament und
vom Ministerrat verabschiedet und trat am 1. Juni 2007
in Kraft.
Mit der Verordnung wurde das europäische Chemika-
lienrecht in Europa grundlegend neu geschrieben und
vereinheitlicht. Zuvor waren die circa 100 000 bereits
auf dem Markt befindlichen Chemikalien trotz des Ver-
suchs, sie über eine eigenständige Verordnung von 1993
zu erfassen, weitgehend ungeprüft geblieben. Das neue
System basiert auf folgenden Eckpfeilern: Mit REACH
wird erstmals für 30 000 Chemikalien eine systema-
tische Prüfung auf ihre Umwelt- und Gesundheitswir-
kungen vorgeschrieben. Hersteller und Importeure regis-
trieren die Stoffe, die sie in Mengen ab 1 Tonne pro Jahr
herstellen. Die Industrie übernimmt Verantwortung für
die sichere Verwendung ihrer Stoffe entlang der Liefer-
kette und empfiehlt Risikomanagementmaßnahmen. Der
Einsatz besonders besorgniserregender Stoffe kann von
einer Zulassung durch die EU-Kommission abhängig ge-
macht werden.
In der Praxis bedeuten diese Regelungen im Kern:
Zukünftig dürfen Stoffe als solche, wie auch in Zuberei-
tungen oder in Erzeugnissen, nur dann in der EU herge-
stellt oder in Verkehr gebracht werden, wenn sie nach
den Bestimmungen der Verordnung registriert worden
sind. Im Rahmen der Registrierung ist ein Stoffdossier
mit bestimmten Informationen für den Verbraucher ein-
zureichen. Der Umfang der einzureichenden Informa-
tionen richtet sich nach der Menge, in welcher der Stoff
pro Jahr produziert oder importiert wird. Verwendungen
von Stoffen mit bestimmten gefährlichen Eigenschaften
können einem Zulassungsverfahren unterworfen wer-
den, das heißt, herstellende oder den Stoff verwendende
Unternehmen können einen Zulassungsantrag stellen.
Über diesen wird dann die neue Chemikalienagentur mit
Sitz in Helsinki und die Europäische Kommission ent-
scheiden. Zulassungspflichtige Stoffe dürfen dann nur
noch für die in einem solchen Zulassungsverfahren posi-
tiv beschiedenen Verwendungen eingesetzt werden. Durch
die neu gewonnene Informationslage wird der Schutz
von Bevölkerung und Umwelt – wie Abfall, Boden-
schutz, Immissionsschutz – deutlich verbessert.
Bei der Ausarbeitung dieser Regelungen ist es zu un-
serer großen Erleichterung gelungen, die richtige Ba-
lance zwischen Interessen der Wirtschaft und der Ver-
braucher zu finden. Dieser Umstand ist auf die
tatkräftige Mitwirkung der neuen deutschen Bundesre-
gierung zurückzuführen, die unermüdlich dazu beigetra-
gen hat, einen ausgewogenen, sehr tragfähigen Kompro-
miss zu REACH auszuhandeln.
Die Änderungen gegenüber dem 2003 von der Euro-
päischen Kommission vorgelegten Entwurf haben vor
allem auf eine Verringerung des bürokratischen Auf-
wands und der damit verbundenen Reduktion der Kosten
für Unternehmen abgezielt. So wurde zum Beispiel von
einer Befristung der Zulassung ohne triftigen Grund, wie
ursprünglich vorgesehen und vom Europäischen Parla-
ment vehement gefordert, abgesehen. Die Substitutions-
pflicht wurde realistisch handhabbar gemacht und der
Schutz des geistigen Eigentums sogar auf ein Niveau he-
raufgesetzt, das das des Gemeinsamen Standpunkts
überschreitet. Die globale Wettbewerbssituation der EU
wurde berücksichtigt und Abwanderungstendenzen von
Unternehmen bzw. der Abbau von Arbeitsplätzen ver-
hindert werden.
Gleichzeitig wurden aber auch zentrale Aspekte des
Gesundheits- und Umweltschutzes berücksichtigt. Auf
diese Weise wurde ein großer Fortschritt im sicheren
Umgang mit gefährlichen Chemikalien erzielt.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die REACH-
Verordnung, wie sie im Juni in Kraft getreten ist, ist ein
vernünftiger Kompromiss, der deutlich die Handschrift
deutscher Interessen trägt und deshalb von der CDU/
CSU-Fraktion begrüßt wurde. Wir haben uns erfolgreich
dafür stark gemacht, den ursprünglich vorgelegten
REACH-Entwurf von völlig unpraktikablen Forderun-
gen an die europäischen Unternehmen zu befreien und
den Aufwand verhältnismäßig zu gestalten. Schließlich
wollen wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unterneh-
men nicht gefährden.
Bei aller Erleichterung, die wir im Gesetzgebungspro-
zess erreicht haben, wird allerdings mit Blick auf die Um-
setzungspraxis eines ganz deutlich: Der Umfang und die
Komplexität des neuen Chemikalienrechts stellt beson-
ders für kleine und mittlere Unternehmen, KMU, in der
Praxis eine hohe Hürde dar. Diese Entwicklung wider-
spricht unseren Bestrebungen nach Bürokratieabbau und
wird von mir mit Sorge betrachtet. Es kann nicht sein,
dass es zu einem deutlichen Mehraufwand auf nationaler
Ebene kommt, wobei die Gründung der Euro-päischen
Chemikalienagentur, ECHA, gerade mit der Aussicht auf
eine Entlastung der nationalen Ebene beschlossen wurde.
Darüber hinaus scheint es – entgegen ursprünglicher Pla-
nungen – so zu sein, dass der Personalbedarf der ECHA
deutlich höher zu veranschlagen ist.
Vor diesem Hintergrund halte ich es für unerlässlich,
dass wir in engem Kontakt mit den betroffenen Unter-
nehmen bleiben, problematische Regelungen überprüfen
und Vorschläge zugunsten einer zumutbaren Voll-
zugsaufwands zu unterbreiten.
Nachdem die großen Streitfragen auf europäischer
Ebene gelöst werden konnten, ist es das Ziel des nun
vorliegenden Gesetzentwurfes, die zwingend erforderli-
che Anpassung des deutschen Chemikalienrechts an die
Vorgaben der REACH-Verordnung 1907/2006/EG vor-
zunehmen. Zwar bedarf REACH aufgrund des Verord-
nungscharakters keiner Umsetzung in nationales, deut-
sches Recht. Jedoch müssen die erforderlichen
bürokratischen Voraussetzungen für einen effektiven
Vollzug der REACH-Verordnung in Deutschland ge-
schaffen werden. Dazu gehört, überflüssig gewordene
Vorschriften des deutschen Chemikalienrechts – wie in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15671
(A) (C)
(B) (D)
der Chemikalien-Prüfnachweisverordnung – aufzuheben
und durch die europäische Verordnung abzulösen.
Ferner werden Änderungen im Chemikaliengesetz und
der Chemikalien-Kostenverordnung vorgenommen. Da-
bei geht es im Wesentlichen um die Schaffung von Re-
gelungen, die bestimmen, welche Behörden in unserem
Land für welche nach der REACH-Verordnung zugewie-
senen Aufgaben zuständig sein sollen, welche Straf- und
Bußgeldbewehrungen im Falle von Verstößen gegen
REACH fällig werden sollen und wie der Informations-
austausch zwischen den Behörden geregelt werden soll.
Nach den großen Debatten auf EU-Ebene ist es nun
also unsere Aufgabe, die Umsetzung von REACH im
Alltag so effizient und effektiv wie möglich sicherzustel-
len. Zu dieser sachlichen Abarbeitung noch offener
Punkte anlässlich der Umsetzung soll das REACH-An-
passungsgesetz, welches wir heute in Erster Lesung de-
battieren, beitragen. Oberstes Ziel muss dabei sein,
REACH so praktikabel wie möglich für die Betriebe um-
zusetzen und den reinen Verwaltungsvollzug mit mög-
lichst wenig Aufwand zu betreiben. Ich bin der Ansicht,
dass dies der Bundesregierung mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf gelungen ist.
Dies möchte ich unter Bezugnahme auf die Inhalte
des Entwurfes und bisherige Stellungnahmen beteiligter
Akteure verdeutlichen: Aufgrund des unterschiedlichen
Inkrafttretens einzelner REACH-Teile befasst sich das
REACH-Anpassungsgesetz nur mit den Vorschriften, die
am 1. Juni 2008 wirksam werden. Diese stellen den
Großteil der Vorschriften dar und betreffen vor allem die
Registrierung, Bewertung – Stoffsicherheitsberichte – und
Zulassung von Stoffen.
Hinsichtlich des Vollzugsaufwands und sonstiger
Kosten haben beteiligte Bundesbehörden und Bundes-
länder aufgrund eines Zuwachses an Überwachungsauf-
gaben einen erhöhten Personalbedarf bekundet. Durch
die Streichung nationaler Vorschriften werden zwar kos-
tenträchtige Pflichten für die Wirtschaft abgeschafft. Der
Abbau geht allerdings mit der Einführung von Informa-
tionspflichten und Registrierungsverfahren auf der EU-
Ebene einher.
Die wesentlichen Änderungen betreffen Regelungen
bei den Zuständigkeiten, den Sanktionen und dem Voll-
zug. Im Bereich der Zuständigkeitsregeln werden Bun-
desaufgaben in Zusammenhang mit der REACH-Verord-
nung der „Bundesstelle für Chemikalien“ in ihrer neuen
Funktion als „Nationale Auskunftsstelle“ zugeordnet.
Die übrigen Behörden – wie das Umweltbundesamt,
UBA, das Bundesinistut für Risikobewertung, BfR, und
die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin,
BAuA, fungieren als Bewertungsstellen und unterstüt-
zen sich und die Bundesstelle in fachlicher Hinsicht. Die
Aufgabenzuweisung zwischen Bund und Ländern orien-
tiert sich an der bisherigen Systematik.
In Zusammenhang mit den Zuständigkeitsregelung
halte ich es für angebracht, dass nicht nur zwischen Bun-
desbehörden und Ländern eine enge Abstimmung er-
folgt, sondern auch die Erfahrungen und die Kenntnisse,
die die Industrie in der Praxis macht, zugunsten einer
pragmatischen und kooperativen Umsetzung Berück-
sichtigung finden.
Bei den Sanktionsregelungen geht es vor allem um
folgende Neuregelungen: Verstöße gegen REACH, be-
sonders § 27 b, werden mit Freiheitsstrafen bis zu fünf
Jahren bei Vorsatz und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr
bzw. Geldbußen bis zu 100 000 Euro bei Fahrlässigkeit
geahndet. Im Gegensatz zu ursprünglichen Planungen
begrüße ich es, dass in der überarbeiteten Fassung einige
Straftatbestände durch Bußgelder ersetzt wurden. Vor
dem Hintergrund der Komplexität der REACH-Verord-
nung und der großen Herausforderung, die diese für un-
sere Unternehmen – vor allem zu Beginn der Umsetzung –
darstellt, halte ich dies für gerechtfertigt. Grundsätzlich
ist in diesem Zusammenhang sicherzustellen, dass eine
Benachteiligung deutscher Unternehmen durch unter-
schiedliche Sanktionen in anderen EU-Mitgliedstaaten
ausgeschlossen ist.
Bei den Vollzugsregelungen halte ich folgende As-
pekte für wichtig: Bisherige Regelungen bleiben weitge-
hend unverändert, aber die Mitwirkung von Zollbehör-
den wird mit dem Ziel festgeschrieben, die Weitergabe
von Informationen an Landesbehörden zu erleichtern.
Dass der vorliegende Entwurf der Bundesregierung
eine gute Grundlage darstellt, zeigt auch die Stellung-
nahme des Bundesrates und die Tatsache, dass die Bun-
desregierung den Änderungsvorschlägen des Bundesra-
tes größtenteils zustimmt. Das Einverständnis wird nur
in einem Punkt gestört, hier geht es eine gesonderte Auf-
führung einer Informationspflicht, die aus Sicht der Bun-
desregierung nicht notwendig ist und ausreichend aus
der Neufassung des § 22 Abs. 1 hervorgeht.
Über alle diese Detailaspekte werden wir in den jetzt
beginnenden parlamentarischen Beratungen noch einmal
sprechen können. Wichtig und entscheidend ist, dass wir
eine aufwendige und die betroffene Wirtschaft schon
jetzt stark forderne EU-Verordnung in unserem eigenen
Verantwortungsbereich so schlank und effizient wie
möglich umsetzen. Daran sollten wir uns beim weiteren
Beratungsverfahren halten.
Heinz Schmidt (Landau) (SPD): Vor 15 Monaten
hat die Europäische Union eine umfangreiche Neuord-
nung des Chemikalienrechts auf den Weg gebracht.
REACH heißt die Verordnung, die im Juni 2007 in
Kraft getreten ist und nun für alle Mitgliedsländer der
EU gilt und nun Zug um Zug umzusetzen ist. Das Kür-
zel steht für Registrierung, Bewertung und Zulassung
von Chemikalien. Die Anforderungen an chemische
Stoffe, die in Europa auf den Markt kommen, werden
umso größer, je höher das Produktionsvolumen der je-
weiligen Stoffe ist. Je höher das Risiko, das bei einem
Stoff erwartet wird, umso größer der Aufwand für
Tests, Bewertung und gegebenenfalls für die Zulas-
sung. Mit diesem neuen Ansatz wird der Umgang mit
Chemikalien sicherer. Denn insgesamt erhalten wir
mehr Klarheit über die Risiken, die von den einzelnen
Chemikalien ausgehen können. Auch in Deutschland
wird der Schutz umfassender, da künftig nicht nur neu
entwickelte Chemikalien unter die Verordnung fallen.
15672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Auch sogenannte Altstoffe, die bereits seit Jahren am
Markt gehandelt werden, werden von den neuen Rege-
lungen erfasst – ein wichtiger Unterschied zur heute
geltenden Praxis. Denn gegenwärtig werden nur neue
Stoffe einer vergleichbar strengen Überprüfung unter-
zogen. Der Schutz der menschlichen Gesundheit und
der Umwelt werden dadurch deutlich verbessert.
Der 1. Juni 2008 ist ein wichtiger Stichtag bei der Um-
setzung der neuen Verordnung. An diesem Tag startet der
zentrale Mechanismus von REACH. Ab dann beginnt die
Registrierung, Bewertung und Zulassung in der Praxis.
Die Unternehmen müssen nach einem vorgegebenen Zeit-
plan alle Chemikalien anmelden, die in den Geltungsbe-
reich von REACH fallen. In den Monaten seit Inkrafttre-
ten der Verordnung gab es noch viel Aufklärungsbedarf
für einzelne Branchen und für einzelne Unternehmen. In
diesem Implementierungsprozess konnten viele Fragen
geklärt und auch Befürchtungen ausgeräumt werden. Mit
Blick auf einige beteiligte Unternehmen und deren im
Vorfeld geäußerte Horrorszenarien kann man sogar sagen:
Aus Konfrontation ist Kooperation geworden.
Ich möchte an dieser Stelle einmal die überaus enga-
gierte Unterstützung durch die zuständigen Abteilungen,
Referate und Stellen im Bundesumweltministerium und
den zuständigen Bundesbehörden hervorheben. Hier ha-
ben sich die zuständigen Fachleute vorbildlich und nach-
haltig für ein Gelingen von REACH eingesetzt. Unter-
nehmen, die sich mit ihren spezifischen Problemen an
das Ministerium gewandt haben, haben dort geduldige
und konstruktive Unterstützung erfahren. Dies hat dazu
beigetragen, auch bei den eher skeptisch eingestellten
kleinen und mittleren Unternehmen die Akzeptanz für
REACH zu verbessern. Grund genug, dafür auch einmal
Dank zu sagen.
All das ist der Hintergrund für das REACH-Anpas-
sungsgesetz, das wir heute diskutieren. REACH ist zwar
unmittelbar geltendes europäisches Recht. Trotzdem
muss auch Deutschland sein bisheriges Chemikalien-
recht an die neuen Bestimmungen anpassen. So müssen
zum Beispiel im Chemikaliengesetz etliche Vorschriften
gestrichen werden, die durch REACH überholt sind. Au-
ßerdem muss geregelt werden, welche Stellen die neuen
Aufgaben und Anforderungen nach der REACH-Verord-
nung übernehmen. Mit dem Umweltbundesamt, dem
Bundesinstitut für Risikobewertung und mit der Bundes-
anstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin werden die
gleichen deutschen Stellen mit der Chemikaliensicher-
heit betraut sein, die das auch heute schon sind. Hinzu
kommt künftig eine Bundesstelle für Chemikalien, die
Auskunftsstelle für das Thema sein wird. All diese Stel-
len werden der Europäischen Chemikalienagentur in
Helsinki zuarbeiten, die einen europaweit einheitlichen
Umgang mit Chemikalien sicherstellen wird. Schließlich
wird auch dafür gesorgt, dass die neue Verordnung auch
eingehalten wird Abweichungen von den neuen Rechts-
normen werden mit Strafen und Bußgeldern belegt. Es
können drastische Bußgelder verhängt werden. Und wer
wegen eines Verstoßes gegen REACH das Leben oder
die Gesundheit eines anderen gefährdet, muss mit einer
Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen. In weni-
gen Wochen beginnt also die systematische Erfassung
von mehr als 30 000 Chemikalien. In wenigen Jahren ha-
ben wir bedeutend mehr Informationen über die Eigen-
schaften und Risiken der chemischen Stoffe, die bei uns
gehandelt und verwendet werden. Der 1. Juni 2008 ist
daher ein guter Tag für den Gesundheitsschutz, für den
Verbraucherschutz und für den Schutz der Umwelt in
Europa. Ein guter Tag für uns alle!
Michael Kauch (FDP): Mit dem REACH-Anpas-
sungsgesetz wird die deutsche Rechtslage mit der euro-
päischen Verordung synchronisiert. Die FDP hat immer
die Zielsetzung von REACH unterstützt – eine neue eu-
ropäische Chemikalienpolitik, die Umwelt und Gesund-
heit effektiv schützt. Für uns Liberalen stand dabei aber
auch im Mittelpunkt, dass die neuen europäischen Vor-
schriften unbürokratisch und mittelstandsfreundlich sein
müssen. Diese Voraussetzungen erfüllt die 2006 be-
schlossene REACH-Verordnung leider nicht in dem
Maße, wie wir uns das auch im Sinne der deutschen Un-
ternehmen gewünscht hätten.
Ein wichtiger Kernpunkt der REACH-Verordnung ist
die Registrierung. Zukünftig dürfen Stoffe als solche,
wie auch in Zubereitungen oder in Erzeugnissen, nur
dann in der EU hergestellt oder in Verkehr gebracht wer-
den, wenn sie nach den Bestimmungen der Verordnung
registriert worden sind. Zu begrüßen ist, dass im Verlauf
des europäischen Gesetzgebungsverfahrens einige für
die Praxis wichtige Verbesserungen gegenüber ursprüng-
lichen Plänen erreicht werden konnten. Doch es bleibt
festzuhalten, REACH ist eine enorme Herausforderung
für die chemische Industrie. Zahlreiche zusätzliche
Tests, die Erstellung von nach Expertenauffassungen
über 80 000 Registrierdossiers und einem geschätzten
Aufwand von mehr als 2 Milliarden Euro sind zu erwar-
ten. Wir bleiben dabei, dieser Umfang wäre in diesem
Ausmaß nicht notwendig gewesen wären.
Es ist zu befürchten, dass manche Stoffe und Pro-
dukte schlichtweg vom Markt verschwinden werden,
ohne dass dies aus Gründen des Umwelt- oder Gesund-
heitsschutzes erforderlich wäre. Sie rechnen sich dann
einfach wegen geringer Gewinnmargen nicht mehr.
Nach Branchenangaben ist davon auszugehen, dass 5 bis
10 Prozent der Stoffe künftig nicht mehr in Europa pro-
duziert und vermarktet werden können. Eine Folgekon-
sequenz: Für die Zubereiter und Weiterverarbeiter, meist
mittelständische Unternehmen, bedeutet das einen er-
heblichen Anpassungsbedarf von Rezepturen mit zusätz-
lichen Kosten.
Ob die Bestimmungen von REACH durch die Unter-
nehmen in der Praxis so umgesetzt werden können, wird
sich erst noch zeigen. Die Vorgaben zur Registrierung,
Risikobewertung und Kommunikation in der Produkt-
kette sind komplex. 100 Seiten Verordnung und über
3 000 Seiten Leitlinien – „REACH Implementation Pro-
jects“, sogenannte RIPs – machen REACH schwer hand-
habbar. Die FDP ist in Sorge um insbesondere kleinere
und mittlere Unternehmen der Branche. Umso wichtiger
ist, dass nationale Vorschriften die Betroffenen nicht
noch weiter belasten, sondern möglichst sogar entlasten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15673
(A) (C)
(B) (D)
Der vorliegende Entwurf zum Anpassungsgesetz
steht nach unserer Ansicht grundsätzlich im Einklang
mit den Vorgaben von REACH. Das Anpassungsgesetz
ist auch notwendig, um die deutsche Rechtslage in die-
sem Bereich anzupassen. Allerdings gibt es Stimmen,
die kritisieren, dass im Gesetzentwurf nicht immer deut-
lich werde, ob Änderungen im Chemikaliengesetz auch
durch die REACH-Verordnung bedingt sind. Bei einigen
Vorschriften bestehen Zweifel. Es gibt noch Klärungsbe-
darf. Eine 1:1-Umsetzung muss garantiert sein. Darüber
sollten wir in der Ausschussberatung des Gesetzentwur-
fes reden.
Es besteht aus unserer Sicht zudem noch Diskussions-
bedarf bei der Ausgestaltung der nationalen Auskunfts-
stelle. Nach dem Gesetzentwurf soll diese Aufgabe von
der Bundesstelle für Chemikalien übernommen werden.
Die nationale Auskunftsstelle soll nach Vorgabe der
REACH-Verordnung Hersteller, Importeure und nachge-
schaltete Anwender beraten. Das Pilotprojekt des Lan-
des Nordrhein-Westfalen hat Wege aufgezeigt, wie die
Kompetenzen und Erfahrungen von Unternehmen und
Behörden bei der Ausgestaltung der Auskunftsstelle
gleichermaßen aufgenommen werden können. Schließ-
lich soll sie Unternehmen bei der Umsetzung von
REACH helfen. Das kann sie aber nur, wenn sie selbst
über ausreichenden Hintergrund aus der Praxis verfügt.
Insgesamt bewerten wir den Gesetzentwurf als not-
wendig und grundsätzlich positiv. Allerdings gibt es
noch offene Fragen, die wir im Ausschuss klären müs-
sen. Die FDP schließt sich darüber hinaus aber dem
Appell der Branche an, auch andere durch REACH be-
troffene Vorschriften zu bereinigen und rechtliche
Schnittstellen beispielsweise zu Regelungen des Arbeits-
schutzes zu klären.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das REACH-
Anpassungsgesetz hat im Wesentlichen die Aufgabe, alle
deutschen Doppelregelungen, die sich durch die Verab-
schiedung der EU-Chemikalienverordnung REACH er-
geben haben, zu streichen. Daneben werden die Informa-
tionswege bezüglich REACH zwischen Bund und
Ländern festgelegt. Das ist der erste Schritt zur Umset-
zung der Verordnung. Weitere REACH-Anpassungsge-
setze werden sicher folgen, beispielsweise nach der Ver-
abschiedung der EU-Verordnung, die die Etablierung
des vorgesehenen weltweiten einheitlichen Einstufungs-
und Kennzeichnungssystems für alle chemischen Stoffe
und Gemische in Europa zum Inhalt hat.
Wir wissen, dass dieses REACH-Anpassungsgesetz
in enger Abstimmung zwischen dem BMU und den Län-
dern in der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Chemika-
liensicherheit, BLAC, entwickelt worden ist. Und wir
wissen auch, dass der Rahmen für die Anpassungen klar
durch REACH vorgegeben wurde. Dementsprechend
könnte man dem Gesetzentwurf zustimmen, wenn man
formal an die Sache herangehen würde.
Das tun wir aber nicht. Denn auch die beste Umset-
zung bleibt schlecht, wenn die Vorgabe mies ist. Und das
ist eben bei der REACH der Fall. Die Chemikalienver-
ordnung REACH ist letztlich ein harter Schlag gegen die
Interessen der Verbraucher und Verbraucherinnen und
der Umwelt. Aus einem vormals weitgehend fortschritt-
lichen Verordnungsentwurf der Europäischen Kommis-
sion wurde im Gesetzgebungsverfahren in Brüssel ein
im Wesentlichen an den Interessen der Chemieindustrie
ausgerichtetes Gesetz. Insbesondere die Bundesrepublik
hat an der Verwässerung mitgewirkt. Vertreter der Bun-
desregierung und EU-Spitzenbeamte aus Deutschland
traten im Rat und in der EU-Kommission als Repräsen-
tanten der heimischen chemischen Industrie auf. Ähnlich
verhielten sich die Abgeordneten von Union, SPD und
FDP im EU-Parlament.
Mit einem Vorstoß des Umweltausschusses des Euro-
paparlaments im Vorfeld der zweiten Lesung versuchten
verbraucherfreundliche Abgeordnete das Ruder in letzter
Minute herum zu reißen, leider weitgehend erfolglos.
Auch die Änderungsanträge der Fraktion der Linken im
Europaparlament, GUE/NGL, sowie der Grünen in der
zweiten Lesung wurden abgelehnt.
Aus Verbrauchersicht wird sich nun nur leider wenig
an der bestehenden Gesetzeslage ändern. Wichtigstes
Minus: Die Industrie wird nicht, wie ursprünglich vorge-
sehen, verpflichtet, alle gefährlichen Stoffe zu ersetzen.
Auch wenn Alternativen vorhanden sind, können
krebserregende, fortpflanzungsschädigende und andere
gefährliche Chemikalien weiter vermarktet und in All-
tagsprodukten verwendet werden. Lediglich langlebige,
sich in der Natur anreichernde Chemikalien sollen aus-
getauscht werden, sofern es für sie Alternativen gibt.
Zudem wird der Industrie auch künftig erlaubt, entschei-
dende Sicherheitsdaten zu ihren Chemikalien zurückzu-
halten.
Bislang wurden nur etwa 4 000 Stoffe darauf geprüft,
ob sie Gesundheit oder Ökosysteme schädigen. Auf dem
EU-Markt befinden sich jedoch etwa 100 000 soge-
nannte Altstoffe, die vor 1981 auf den Markt kamen.
Etwa 30 000 davon werden gegenwärtig mit mehr als ei-
ner Tonne Jahresproduktion eingesetzt. Mit ihnen läuft
faktisch ein Großversuch an Mensch und Umwelt. Mit
der neuen Chemikalienverordnung müssen lediglich
12 000 gründlich überprüft werden. Die europäischen
Chemiekonzerne haben nichts unversucht gelassen, um
beim langwierigen Gesetzesverfahren die wirtschaftli-
chen Interessen der Chemiekonzerne durchzusetzen.
Leider waren sie erfolgreich. Darum werden wir uns
beim ersten Anpassungsgesetz und auch bei den weite-
ren enthalten.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun das deut-
sche Chemikalienrecht an die Vorgaben der europäi-
schen Chemikalienverordnung REACH angepasst wer-
den, die am 18. Dezember 2006 nach langem Ringen
endgültig verabschiedet wurde. Mit der Verabschiedung
im Dezember 2006 ging ein jahrelang dauernder zäher
Prozess vorläufig zu Ende, der bereits 1999 mit einer
entsprechenden Initiative der deutschen Ratspräsident-
schaft seinen Anfang genommen hatte.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an die Aus-
gangssituation erinnern: Ausgangspunkt der Reformini-
15674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
tiative war das Fehlen von Daten für circa 100 000 Alt-
stoffe – Stoffe, die vor 1981 angemeldet wurden –, die
aber zur Beurteilung der Auswirkungen auf die mensch-
liche Gesundheit und die Umwelt unerlässlich sind.
Diese Altstoffe stellen etwa 97 Prozent aller derzeit ver-
markteten Stoffe dar und mussten bis 1993 weder ge-
prüft noch bewertet werden.
Mit der 1993 in Kraft getretenen Altstoffverordnung
hatte die EU zwar den Versuch unternommen, dieses De-
fizit zu beheben, die Regelung erwies sich aber als aus-
gesprochen langwierig und ineffizient. In etwas mehr als
10 Jahren konnten nur circa 30 Stoffe abschließend be-
wertet werden. Die europäische Rechtslage war außer-
dem nicht nur durch Unübersichtlichkeit und eine feh-
lende Systematik gekennzeichnet – mehr als 40 Rechts-
vorschriften konkurrierten miteinander –, sondern auch
durch fehlende Innovations- und Substitutionsanreize.
Für neu zugelassene Stoffe – circa 3 700 seit 1981 – und
Altstoffe existieren verschiedene, unterschiedlich an-
spruchsvolle Regelungen.
Mit REACH sollte nun all dies besser werden. Nach
ersten ambitionierten Entwürfen wurde der Verord-
nungsentwurf aber nach und nach zugunsten kurzfristi-
ger wirtschaftlicher Ziele abgeschwächt, sodass im Er-
gebnis das, was wir heute anpassen, nicht das ist, was
wir eigentlich notwendigerweise anpassen müssten. Mit
REACH ist letztlich nicht viel mehr herausgekommen
als ein kleiner bescheidener Schritt in die richtige Rich-
tung. Es wird eine gewisse rechtliche Vereinheitlichung
erreicht, die Hersteller grundsätzlich verpflichtet, Daten
zu liefern, und sicherlich werden auch für die eine oder
andere Chemikalie zusätzliche notwendige Daten gene-
riert.
Aber: Gemessen an dem, was eigentlich notwendig
wäre, ist das Ergebnis enttäuschend. Es wird dem Ziel
eines echten Paradigmenwechsels in der Chemikaliensi-
cherheit nicht gerecht. Ich will an dieser Stelle nur einige
Beispiele nennen. So wird der eigentliche Ansatz von
REACH – wonach nur solche Chemikalien auf dem
Markt vertrieben werden dürfen, zu denen ausreichende
Daten zu Verfügung stehen – für den Großteil der Alt-
stoffe nach wie vor nicht erreicht. Auch dürfen unter
REACH weiterhin Krebs erregende, Fruchtbarkeit schä-
digende und hormonell wirksame Chemikalien verwen-
det werden, obwohl sichere Alternativen existieren. Vo-
rrausetzung für eine weitere Verwendung ist lediglich,
dass die Produzenten erklären, dass sie diese „angemes-
sen kontrollieren“ können.
Aber nicht nur die Regelung für die existierenden Alt-
stoffe ist unbefriedigend. Quasi im Gegenzug zur vorge-
sehenen besseren Erfassung von Altstoffen wurde bei
Zulassung von Neustoffen erheblich dereguliert mit
heute noch nicht absehbaren Auswirkungen. Vor allem
dem unrühmlichen Engagement des Bundeskanzleram-
tes auf europäischer Ebene ist es zu verdanken, dass For-
derungen der deutschen chemischen Industrie nach Ab-
schwächung der Verordnung sprichwörtlich noch in
letzter Minute Berücksichtigung fanden.
In der Summe ist aus REACH ein mit Kompromissen
überfrachtetes Regelwerk geworden, das keine echte
Verbesserung zur derzeitigen Rechtslage erwarten lässt.
Damit wurde einerseits die große Chance vertan, den
Schutz von Umwelt und Gesundheit deutlich zu verbes-
sern und andererseits der europäischen Chemieindustrie
mit Anreizen zur Produktion von ungefährlichen Stoffen
im internationalen Wettbewerb einen Vorteil zu ver-
schaffen.
Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit: Das REACH-Anpassungsgesetz, das wir heute in
erster Lesung behandeln, dient der Durchführung der
Ende 2006 in Brüssel verabschiedeten EG-REACH-Ver-
ordnung, die allen ein Begriff sein wird.
Die REACH-Verordnung stellt das Chemikalienrecht
in der Europäischen Union auf eine völlig neue rechtli-
che Grundlage und bedeutet zugleich eine inhaltliche
Weiterentwicklung, deren Bedeutung kaum zu über-
schätzen ist. Die Wissenslücken insbesondere bezüglich
der Langzeitwirkungen von Chemikalien werden syste-
matisch geschlossen. Eine geordnete Information über
Stoffrisiken innerhalb der Lieferkette ermöglicht auf al-
len Ebenen der Wirtschaft einen besseren, verantwortli-
cheren Umgang mit Stoffen. Das neu gewonnene Wissen
wird zur Entwicklung fortschrittlicher Produkte beitra-
gen. Zugleich setzt REACH starke Anreize, besonders
gefährliche Stoffe von vornherein zu vermeiden. Es geht
um die für moderne Umweltpolitik prägende Symbiose
von Umwelt- und Wettbewerbsaspekten: Bessere Pro-
dukte dienen dem Schutz von Umwelt, Verbrauchern
und Arbeitnehmern und eröffnen zugleich Wettbewerbs-
chancen zuhause und weltweit.
Die Durchführung von REACH bedeutet für alle Be-
teiligten – Unternehmen wie Behörden – eine große He-
rausforderung. Dies gilt gerade in der derzeitigen An-
fangsphase, in der noch viele Details unklar sind. Eine
wichtige Hilfe, die wir in dieser Phase leisten können, ist
deshalb die rechtzeitige Klärung der Spielregeln und
Rahmenbedingungen für die Durchführung der Verord-
nung in Deutschland. Es war der Bundesregierung vor
diesem Hintergrund ein großes Anliegen, diesen Gesetz-
entwurf so vorzulegen, dass er noch vor dem Wirksam-
werden der Kernbereiche der REACH-Verordnung – Re-
gistrierung, Bewertung, Zulassung – am 1. Juni 2008
verabschiedet werden kann. Damit verbunden ist die
Entscheidung, sich abzeichnende weitere Regelungsan-
liegen – Anpassung an kommende EG-Regelungen zur
Kennzeichnung und zu Bioziden, Einstellung des Stoff-
rechts in das UGB – zunächst unberücksichtigt zu las-
sen. Dies ist während der Bundesratsberatungen teil-
weise kritisch kommentiert worden. Letztlich hat der
Bundesrat aber seine Hinweise zu weiter gehendem
Überarbeitungsbedarf auf die auch von der Bundesregie-
rung beabsichtigten weiteren Rechtsetzungsverfahren
bezogen. Das ist sachgerecht, und entsprechend hat die
Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung Stellung ge-
nommen.
Bei den Behördenzuständigkeiten knüpft der Entwurf
eng an das bestehende System an: Die Überwachung
liegt bei den Ländern. Für die Informationskontakte zur
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15675
(A) (C)
(B) (D)
EG, für die zahlreichen Mitwirkungsakte auf Gemein-
schaftsebene und für die wichtige Aufgabe der nationa-
len Auskunftsstelle, die die Unternehmen hinsichtlich
ihrer Pflichten beraten soll, sind dagegen die Chemika-
lienbehörden des Bundes zuständig. Der Bund über-
nimmt damit einen großen Teil der Verantwortung für
die effektive und gleichmäßige Umsetzung der REACH-
Verordnung in Deutschland und Europa. Mit dieser Ver-
antwortung verbunden ist auch das Erfordernis einer
Aufstockung des eingesetzten Personals, deren Einzel-
heiten sich aus den Kostenaussagen des Gesetzentwurfs
ergibt. Dieser Verantwortung müssen wir uns jedoch
stellen, daran führt kein Weg vorbei.
REACH ist eines der ehrgeizigsten und zugleich
chancenreichsten umweltpolitischen Gesetzeswerke in
der Geschichte der EU. Es ist nun die Aufgabe der Un-
ternehmen, der neuen Europäischen Chemikalienagentur
in Helsinki und der Mitgliedstaaten, REACH mit Leben
zu erfüllen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wich-
tiger Schritt dazu, dass dies in Deutschland gelingt.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: 20 Jahre nach Ha-
labdscha – Unterstützung für die Opfer der
Giftgasangriffe (Tagesordnungspunkt 15)
Holger Haibach (CDU/CSU): Die oftmals innenpo-
litisch motivierten Auseinandersetzungen um den Krieg
der Amerikaner und ihrer Verbündeten im Irak haben be-
sonders in Deutschland völlig in Vergessenheit geraten
lassen, welche Situation vor diesem Krieg im Irak ge-
herrscht hat. Mit Saddam Hussein war dort ein Diktator
an der Macht, der sein Land mit unvorstellbarer Grau-
samkeit und Härte geführt hat, der nicht vor Repressio-
nen, vor Folter und Unterdrückung, ja nicht einmal vor
Mord und Massenmord zurückgeschreckt ist; der seinen
Nachbarn nicht nur mit Krieg gedroht, sondern sogar,
wie im Falle Kuwaits, tatsächlich mit Krieg überzogen
hat. Dass Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem Antrag
heute auf eines der schwersten Verbrechen dieses Re-
gimes gegen Menschen und die Menschlichkeit auf-
merksam machen, ist beachtlich.
Zur Erinnerung: Bei einem Giftgasangriff auf die
hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt Halabdscha
im Jahre 1988 haben nach unterschiedlichen Schätzun-
gen etwa 5 000 Menschen den Tod gefunden, viele von
ihnen Frauen, Kinder und ältere Menschen. Weitere
10 000 Menschen starben an den Folgeschäden oder tru-
gen lebenslange Gesundheitsschäden davon, darunter
Nervenlähmungen, Tumorbildungen, Lungen- und Seh-
schäden. Als ob dies nicht schon schlimm genug gewe-
sen wäre, hätte die Weltöffentlichkeit beinahe nichts von
diesem grausamen Massaker erfahren. Nur durch Zufall
kamen westliche Journalisten und Wissenschaftler kurz
nach dem Angriff in die Region und konnten dessen Fol-
gen dokumentieren. Dass dieses Verbrechen von allen
Fraktionen dieses Hauses auf das Schärfste verurteilt
wird, steht, so meine ich, völlig außer Frage. Es steht
auch außer Frage, dass unser Mitgefühl und auch unsere
Anteilnahme den Opfern jenes Angriffs gilt wie all den-
jenigen, die unter dem diktatorischen Herrschaftsregime
Saddam Husseins zu leiden hatten.
Selbstverständlich stellt sich auch die Frage, ob alles
getan worden ist, um denen, die unter Saddam Hussein
zu Opfern geworden sind, zu helfen oder zumindest ihre
Not zu lindern. Ich bin weit davon entfernt, alte Debatten
in Deutschland wieder aufleben zu lassen. Aber mit
Krieg und Frieden innenpolitisch Kapital zu schlagen,
wie es 2002 geschehen ist, wohl wissend, was im Irak
passiert, hinterlässt gerade angesichts des heutigen An-
trags, doch einen schalen Beigeschmack.
Ein Weiteres will ich hier betonen. Es steht außer
Frage, dass deutsche Firmen durch ihre Lieferungen
dazu beigetragen haben, dass Saddam Hussein erst dazu
in die Lage versetzt wurde, solche Giftgasangriffe wie
den auf Halabdscha zu verüben. Das ist schlimm und es
ist zu verurteilen und es hat ja auch in Deutschland zu
den entsprechenden Prozessen geführt. Insofern ist der
Begriff des Bedauerns, den die Antragssteller verwen-
den, ein adäquater. Sofern allerdings hieraus eine Mit-
verantwortung der deutschen Bundesregierung abgelei-
tet werden soll, würde ich für meine Fraktion
widersprechen wollen. Dies widerspräche auch der bis-
herigen Haltung von Bündnis 90/Die Grünen, zumindest
ihres ehemaligen Außenministers Joschka Fischer. Der
hatte nämlich auf eine Anfrage der Linken, damals noch
PDS, aus dem Jahr 2001 die Bundesregierung antworten
lassen, ich zitiere – Drucksache 14/5720 –: „Die aus-
schließliche Verantwortung für die Vorfälle von Halab-
dscha liegt bei der irakischen Regierung. Eine wie auch
immer geartete Mitverantwortung der Bundesregierung
besteht nicht.“ – Soweit Joschka Fischer im Jahre 2001.
Ein weiterer Punkt, der in der Begründung des An-
trags angesprochen wird, ist die Frage der Hilfe für die
Opfer vor Ort. Zitat: „Die Opfer erhielten keinerlei Zu-
wendungen.“ Soweit dies die Bundesregierung betrifft,
ist diese Feststellung nicht richtig. Folgt man der oben
bereits erwähnten Antwort auf die Kleine Anfrage und
erkundigt man sich nach der aktuellen Situation, so er-
gibt sich folgendes Bild: Im Jahre 1991 und in den dar-
auffolgenden Jahren war die Bundesrepublik größter Ge-
ber humanitärer Hilfe in dieser Region. So wurden zum
Beispiel im Frühjahr 1991 im Rahmen der umfang-
reichsten deutschen Hilfsaktion, die jemals von der Bun-
desregierung außerhalb der deutschen Grenzen durchge-
führt wurde, für Maßnahmen zur Verbesserung der
humanitären Lage der von der irakischen Armee verfolg-
ten Kurden aus dem Bundeshaushalt 415 Millionen DM
zur Verfügung gestellt. Über zwei Luftbrücken wurden
durch die Bundeswehr und zahlreiche deutsche Nichtre-
gierungsorganisationen Hilfsgüter in den Nordirak trans-
portiert und verteilt. Außerdem begann eine umfangrei-
che medizinische Betreuung und die Versorgung mit
Trinkwasser. Weitere Hilfsmaßnahmen umfassten die
Rückführung der kurdischen Flüchtlinge in ihre Heimat,
der Wiederaufbau zerstörter Dörfer und die Einrichtung
von Basisgesundheitsdiensten. Im Rahmen der Hilfe
wurden von 1993 bis 1997 aus dem Haushalt des Auswär-
tigen Amtes Mittel in Höhe von über 13 Millionen DM
15676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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zur Verfügung gestellt. Im Jahre 1998 wurden Aktivitä-
ten von Nichtregierungsorganisationen im Zentralirak
und dem kurdisch besiedelten Nordirak mit einem Be-
trag von 1,845 Mio DM gefördert.
Auch gegenwärtig steht die Bundesregierung zu ihrer
damals übernommenen Aufgabe. So sind bereits in den
vergangenen Jahren – seit dem Sturz des alten Regimes
vom Auswärtigen Amt verschiedene Maßnahmen zur
konstruktiven Vergangenheitsbewältigung für Irakerin-
nen und Iraker und zum Umgang mit dem Erbe der Dik-
tatur Saddam Husseins finanziert worden. Beides ist aus
meiner Sicht ein wichtiger Bestandteil der deutschen
Wiederaufbauhilfe für den Irak, der insbesondere kurdi-
schen Irakerinnen und Iraker zugute gekommen ist.
Insofern bin ich der Meinung, dass die Bundesregie-
rung auch ohne eine Verantwortung für die schreckli-
chen Ereignisse vor 20 Jahren einen entscheidenden Bei-
trag zur Linderung der Folgen – und um mehr kann es
kaum gehen – geleistet hat. Die Herausforderung, vor
der wir alle im Irak stehen, ist es, stabile Verhältnisse zu
ermöglichen in einem Staat, der selbst in der Lage ist,
seinen Aufgaben in einem demokratischen Rahmen
nachzukommen und seine Bürgerinnen und Bürger da-
vor zu schützen, dass ein Verbrechen wie das in Halab-
dscha nie wieder verübt werden kann. Denn zu gesell-
schaftlichem Frieden im Irak gehören zweifelsohne auch
die Aufarbeitung der eigenen Geschichte und die Aner-
kennung vergangenen Unrechts.
Deutschland hat sich der Aufgabe gestellt, hieran teil-
zuhaben, durch finanzielle, logistische, aber auch imma-
terielle Unterstützung. Für meine Fraktion kann ich sa-
gen, dass dies auch weiterhin unsere Unterstützung
findet. Daher sehe ich der Beratung dieses wichtigen
Antrags in den Ausschüssen mit großem Interesse entge-
gen.
Uta Zapf (SPD): Der 16. März ist ein Tag der Erinne-
rung an das grausame Schicksal der Kurden im Irak, an
unendliches Leiden durch Verfolgung, Vertreibung, an
Massenmord und an den Giftgaseinsatz von Saddam
Hussein gegen sein eigenes Staatsvolk, die Kurden. Die-
ser Tag erinnert uns an einen Genozid ungeheuren Aus-
maßes. Am 16. März befehligte der Cousin des Dikta-
tors, Ali Hassan Al-Madschid, den Giftgasangriff auf die
kurdische Stadt Halabdscha im Irak, ebenso auf zwei
weitere Dörfer. Nerven- und Senfgasbomben töteten
8 000 Menschen. Ali Hassan Al-Madschid mit dem Bei-
namen „Chemie-Ali“ wurde im Juni 2007 vom Sonder-
tribunal für die Verbrechen Saddam Husseins zum Tode
verurteilt.
Tausende Menschen leiden noch heute unter diesem
Trauma und unter den gesundheitlichen Folgen. Haut-
krebs, Leiden der Atemwege, Augenleiden, Unfrucht-
barkeit, Missbildungen an Neugeborenen, Krebs und
Leukämie sind die Spätfolgen. 100 000 Kurden flohen
damals in die Türkei und in den Iran. Halabdscha ist das
dramatischste Ereignis in einer Jahrzehnte andauernden
Verfolgung, die die irakischen Kurden zu erleiden hat-
ten. Zwangsvertreibungen, Massenverhaftungen und
Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Tausende
verschwanden und kamen bei Angriffen der Armee ums
Leben. Hunderte von kurdischen Dörfern wurden durch
Armeepanzer niedergewalzt und ebenfalls mit chemi-
schen Waffen angegriffen. Im Jahre 1988 gab es einen
systematischen Genozid gegen Kurden. Ein Rachefeld-
zug sondergleichen gegen die Kurden brach nach dem
Waffenstillstand zwischen Iran und Irak los. Die Kurden
hatten sich auf die Seite Irans gestellt. Die sogenannte
Anfal-Kampagne begann. Mehr als 180 000 Menschen
fielen ihr zum Opfer. Männer und männliche Jugendli-
che wurden ermordet, Frauen und Kinder aus den Dör-
fern vertrieben und unter unmenschlichen Bedingungen
in Ghettos gehalten.
Ich selber habe bei meinem Besuch im Nordirak 1993
die Massengräber gesehen und mit den Anfal-Witwen
gesprochen. Im Jahr 1988 diskutierte der Deutsche Bun-
destag mehrfach über diese Verbrechen. Am
21. September 1988 gab es im Bundestag eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema. Viele der Redner und Redne-
rinnen kennzeichneten diese Verbrechen eindeutig als
Völkermord.
Gleichzeitig war eine durchgängige Forderung, das in
Genf verhandelte Chemiewaffenübereinkommen endlich
zum Abschluss zu bringen. Es dauerte noch bis 1993, bis
dieses Abkommen gezeichnet wurde – von 130 Staaten
zugleich. Heute fehlen noch 12 Staaten weltweit, zum
Beispiel Syrien, Ägypten, Libanon und Nord-Korea;
Irak hat angekündigt, dem CWÜ beizutreten.
Damals, 1988, galt die Genfer Konvention von 1925
gegen den Einsatz von Chemiewaffen. Damals bezeich-
nete aber auch der UNO-Botschafter der Arabischen
Liga, Clovis Mahsud, den Kampf der irakischen Streit-
kräfte gegen Kurden als interne Angelegenheit und be-
hauptete, die Genfer Konvention verbiete den Einsatz
chemischer Waffen nur gegen einen äußeren Feind, nicht
aber im Inneren.
Was die Ächtung von Chemiewaffen betrifft, ist fast
die ganze Welt inzwischen einig. Mit der Chemiewaffen-
konvention haben wir das internationale Völkerrecht ab-
gesichert.
In der Frage des Völkermordes tut sich die Internatio-
nale Staatengemeinschaft immer noch unendlich schwer.
Weder gibt es eine Einigung auf die Definition von Völ-
kermord, noch befestigt das Völkerrecht das Recht auf
Intervention – humanitäre Intervention mit militärischen
Mitteln – im Fall von Vertreibung und Völkermord. Ru-
anda, Kosovo und Darfur mögen als Stichworte gelten.
Die UNO hat die „Responsibility to Protect“, die Ver-
pflichtung zu schützen, in einem umfangreichen Exper-
tenbericht diskutiert. Dieser Bericht sieht eine Verpflich-
tung zum handeln, um einen Diktator, ein inhumanes
Regime daran zu hindern, Menschen seines Machtbe-
reichs umzubringen oder sie Bedingungen auszusetzen,
in denen sie umkommen müssen, wenn ihnen andere
Staaten nicht zur Hilfe kommen.
„Die Souveränität eines Staates umfasst nicht die
Souveränität von Massenmördern, ihre eigenen Leute
umzubringen.“ Dies ist ein Zitat meines ehemaligen
Kollegen Freimut Duve aus einer Debatte des Bundesta-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15677
(A) (C)
(B) (D)
ges vom 17. April 1991. Auch damals ging es um die
irakischen Kurden. In der Folge des Golfkrieges waren
2 Millionen in die Berge an der Grenze zur Türkei geflo-
hen. In der Folge der UN-Resolution 688 wurde eine da-
mals auch von der SPD geforderte Sicherheitszone im
Nordirak eingerichtet, in der die kurdische Bevölkerung
einigermaßen Schutz fand.
Bis heute hat die Internationale Staatengemeinschaft
das unerträgliche Spannungsverhältnis zwischen dem
Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegen-
heiten eines Staates, der Respektierung der staatlichen
Souveränität und dem unabdingbarnotwendigen Gebot,
Massenvertreibungen und Völkermord zu verhindern,
nicht lösen können.
Heinrich Böll hat das 20. Jahrhundert das Jahrhundert
der Flüchtlinge genannt. Heute wissen wir, dass das
21. Jahrhundert in noch höherem Maße diese Bezeich-
nung zu verdienen droht. Wir haben immer noch nicht
entschieden, welche Konsequenzen wir aus den Kata-
strophen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts
im Völkerrecht ziehen werden. Ethnische Konflikte,
neue Nationalismen, ungelöste Minderheitenkonflikte,
Religionskriege und Konflikte um knappe Ressourcen
wie Wasser und Nahrung spielen sich unter unseren Au-
gen ab und werden immer wieder zu Massenmord und
Vertreibung führen.
„Responsibility to Protect“ – die Verpflichtung, Men-
schen vor Gewalt zu schützen – muss in den Mittelpunkt
völkerrechtlicher Erwägungen zur Fortentwicklung des
Völkerrechts rücken.
Wir fühlen mit den Opfern und Angehörigen des Gift-
gasangriffs auf Halabdscha. Die Bundesrepublik
Deutschland hat den irakischen Kurden mit humanitärer
Hilfe seit 1991 geholfen. Zwischen 1993 und 1997 wur-
den 13 Millionen DM an Hilfe zur Verfügung gestellt.
Für 2008 plant das Auswärtige Amt in den kurdischen
Städten Arbil und Sulaymania jeweils ein Zentrum für
die Behandlung von Traumapatienten einzurichten.
Diese Einrichtungen kommen auch Opfern der Anfal-
Kampagne zugute. In Dohuk wird ein Anfal-Zentrum
gefördert werden, das der öffentlichen Darstellung der
Giftgasangriffe in Kurdistan dient – 20 Jahre nach den
Verbrechen.
Ich wünsche mir, dass die Internationale Staatenge-
meinschaft in Zukunft solche Katastrophen und Verbre-
chen verhindern kann.
Harald Leibrecht (FDP): Der schreckliche Giftgas-
angriff auf die Stadt Halabdscha im kurdischen Nordirak
am 16. März 1988 hat auch heute, 20 Jahre später, nichts
von seinem Grauen verloren. Die Bilder von den ent-
stellten Gesichtern vergaster Kinder, von verbrannten
Körpern und verzweifelten Menschen auf der Flucht
sind nicht vergessen.
Die gesamte FDP-Fraktion verurteilt diesen men-
schenverachtenden Angriff sowie die weiteren Angriffe
auf kurdische Dörfer und Siedlungen im Rahmen der
„Anfal-Operationen“ durch das Regime von Saddam
Hussein und drückt allen Opfern und ihren Angehörigen
zum Jahrestag ihr Mitgefühl aus. Bis zu 5 000 Menschen
wurden allein in Halabdscha auf qualvolle Weise ermor-
det, den gesamten „Anfal-Operationen“ fielen nach
internationalen Schätzungen insgesamt zwischen 50 000
und 100 000 Kurden zum Opfer. Es war eine der
schrecklichsten Stationen jenes Krieges gegen die eigene
Bevölkerung, die eine Gruppe wahnsinniger Machthaber
im Irak über sehr lange Zeit geführt hat. Noch heute
macht das Schicksal aller Opfer von Halabdscha und ih-
rer Angehörigen tief betroffen, und wir nehmen Anteil
an dem großen Leid, das sie in dieser langen Zeit ertra-
gen mussten. Auch heute noch sind die Folgen dieser
Barbarei überall zu spüren. Haut-, Atemwegs- und
Krebserkrankungen sowie Missbildungen sind die im-
mer noch erschreckend realen und massiven Langzeit-
folgen der Angriffe.
Viele Schicksale von Ermordeten und Vermissten
blieben unaufgeklärt und lassen die Angehörigen bis
heute nicht zur Ruhe kommen. Es liegt deshalb nun auch
an uns, den diesjährigen 20. Jahrestag als Anlass für ein
aktives Gedenken und als Mahnmal gegen das Vergessen
zu begreifen. Man kann die Ereignisse von Halabdscha
nicht rückgängig machen. Aber man kann die richtigen
Schlüsse daraus ziehen: Das Gedenken an Halabdscha
sollte uns dazu veranlassen, uns endlich wieder vermehrt
um eine weltweite Abrüstung und eine größere Effizienz
der Kontrolle von Massenvernichtungswaffen zu küm-
mern.
Was den von den Kollegen der Grünen eingebrachten
Antrag zur Bereitstellung von Mitteln zur medizinischen
und psychologischen Nachsorge der Opfer und ihrer An-
gehörigen angeht, so halten wir dies für ein ehrbares und
sinnvolles Anliegen. Man muss es nur auf der richtigen
Ebene ansiedeln. Es ist nicht zu entschuldigen, dass
deutsche Firmen durch die Lieferung von technischem
Know-how und sogenannten Dual-Use-Gütern einen
Aufbau von Saddam Husseins C-Waffenarsenal mit er-
möglicht haben. Dieser Verantwortung muss man sich
stellen.
Richtig ist, dass deutsche Firmen eine Mitverantwor-
tung an der Tragödie von Halabdscha tragen. Einige von
diesen Firmen wurden in Deutschland deshalb auch
schon gerichtlich belangt. Dies gleichzusetzen mit einer
staatlichen Verantwortung sehe ich offen gestanden al-
lerdings skeptisch. Wir alle kennen doch genug promi-
nente Beispiele für Fondsgründungen deutscher Firmen,
die sich in der Vergangenheit an schweren Menschen-
rechtsverletzungen mitschuldig gemacht haben. Wenn
ein Weg der Nachsorge für die Opfer von Halabdscha
sinnvoll ist, dann muss sich der Blick zunächst wieder an
jene deutschen und nicht irakischen Firmen wenden, die
die Aufrüstung Saddam Husseins mit C-Waffen erst er-
möglicht haben.
Ich denke, wir sollten auf dieser Basis den Antrag der
Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Ausschuss
ganz sorgfältig prüfen und die Möglichkeiten des Aus-
schusses auch einmal nutzen, einen Antrag so zu verän-
dern, dass am Ende eine gemeinsame Beschlussfassung
stehen kann.
15678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Norman Paech (DIE LINKE): 20 Jahre nach
dem Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabdscha
beschäftigt sich der Deutsche Bundestag heute zum
zweiten Mal mit diesem furchtbaren Verbrechen von
Saddam Hussein. Er wurde hingerichtet, bevor er in ei-
nem Prozess zur Verantwortung gezogen werden konnte.
Dennoch sind die Fakten klar und unbestritten: Saddam
Hussein und sein Cousin Ali Hassan Al-Majid sind ver-
antwortlich für die mehr als 5 000 Todesopfer und wei-
tere schätzungsweise 7 000 bis 10 000 lebensgefährlich
Verletzte. Zahlreiche internationale Firmen – davon min-
destens 60 deutsche – haben sich durch die Beteiligung
am Aufbau der irakischen Giftgasindustrie und mit der
Lieferung der notwendigen Chemikalien mitschuldig an
diesem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht.
Presseberichten zufolge stammten etwa 70 Prozent der
damaligen Giftgasanlagen aus der Bundesrepublik.
Auch heute noch ist Halabdscha gezeichnet. Der An-
griff auf die Stadt war nur ein Teil des als „Anfal“-Of-
fensive in die Geschichtsbücher eingegangenen Vernich-
tungsfeldzuges gegen die Kurden. Insgesamt kostete er
wohl mehr als 100 000 Menschen das Leben, es wurden
2 000 Dörfer zerstört und zahllose Menschen vertrieben.
Human Righls Watch bezeichnete dieses Massenverbre-
chen als Völkermord.
Noch im Dezember 2005 verurteilte ein Gericht in
Den Haag einen niederländischen Geschäftsmann für die
Lieferung von Chemikalien an den Irak zu 15 Jahren
Haft wegen Beteiligung an dem Giftgasangriff, der laut
Gerichtsurteil die Merkmale eines Völkermordes erfülle.
Dennoch sah sich der Bundestag im Jahr 2002 nicht in
der Lage, ebenfalls von Völkermord zu sprechen. In der
Bundesrepublik wurden seinerzeit lediglich gegen sie-
ben Mitarbeiter deutscher Firmen gerichtliche Verfahren
eröffnet, die Mitte der 90er-Jahre mit geringen Bewäh-
rungsstrafen, Einstellung des Verfahrens oder Freispruch
endeten – kein Ruhmesblatt der deutschen Justiz.
Unabhängig von der juristischen Einordnung dieses
Giftgasanschlages ist es jedoch erschreckend, dass bis
heute keine ausreichende Entschädigung geleistet wor-
den ist, um den Opfern eine angemessene medizinische
und ökonomische Hilfe zu gewährleisten. Die Bundes-
regierung hat zwar für die notleidende kurdische Bevöl-
kerung im Nordirak von 1990 bis 1997 rund 430 Millio-
nen DM für humanitäre Hilfe bereitgestellt und den
internationalen Hilfsorganisationen UNHCR, IKRK und
UNICEF zukommen lassen. Dennoch gehört Halab-
dscha heute noch zu den ärmsten Gebieten des Iraks, wie
auch in einem Reisebericht der Kolleginnen Claudia
Roth und Winfried Nachtwei zu lesen ist. In Halabdscha
müssen die Menschen noch immer ohne eine umfas-
sende und ausreichende medizinische Versorgung leben.
Die typischen Folgeerkrankungen eines solchen Giftgas-
anschlages, die wir vor allem seit dem Vietnam-Krieg
kennen, wie Lungen- und Hautkrebs, Leukämie, Fehlge-
burten und Missbildungen, posttraumatische Probleme,
quälen die Bevölkerung immer noch.
Das Verbrechen an den Menschen in Halabdscha
wirkt nach 20 Jahren immer noch fort, und wir dürfen
uns seinen Folgen nicht entziehen. Deutschland steht in
der Verantwortung, weil deutsche Unternehmen nach-
weislich am Aufbau der irakischen Giftgasindustrie be-
teiligt waren. Deshalb dürfen wir es nicht nur bei Reden
im Parlament belassen. Es ist notwendig, dass wir ver-
antwortlich Hilfe leisten, und zwar nicht nur symbolisch.
Wir müssen substanzielle Hilfe leisten, die die Leiden
der Überlebenden wirksam und nachhaltig lindert. Des-
halb unterstützt die Linke den vorliegenden Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Als ich im letzten Sommer mit Winfried
Nachtwei Halabdscha besuchte und das Meer von Grab-
steinen sah, unter denen die Getöteten des Massakers
vom 6. März 1988 begraben sind, waren die Bilder
schlagartig wieder da: Bilder von entsetzlichen Verbre-
chen, die an diesem Ort verübt wurden, von getöteten
Menschen, von vielen Frauen, Kindern, Alten und von
Verletzten und Fliehenden. Es war ein Moment der tie-
fen Trauer um die Getöteten, ein Moment des Mitemp-
findens mit ihren Angehörigen und den überlebenden
Opfern, die heute noch unter den Folgen leiden – phy-
sisch und psychisch.
Der Moment der Trauer war für uns als Abgeordnete
des Deutschen Bundestags aber auch ein Moment der
Beklemmung und der Scham: Scham darüber, dass der
Anschlag mit Waffen verübt wurde, die das Saddam-
Regime mit Unterstützung auch aus Deutschland entwi-
ckelt hatte, Scham über Firmen, die illegal Material ge-
liefert haben, Scham über verantwortungslose Manager,
die bedenkenlos Profiten nachjagten, und Scham auch
über Exportgesetze, die das mit ermöglicht haben.
Umringt von vielen Menschen wurde uns klar, dass
der Besuch einer deutschen Delegation 19 Jahre nach
dem Anschlag viel zu spät kam – zumal keine Unterstüt-
zung für den Ort geleistet wird. Umso wichtiger ist es,
dass des Massakers von Halabdscha heute, am 20. Jah-
restag, im Bundestag gedacht wird. Über 5 000 Men-
schen starben bei den Giftgasangriffen der irakischen
Armee auf Halabdscha. Angriffsziel waren neben den
Kurden auch die während des Iran-Irak-Krieges in der
Stadt stationierten iranischen Soldaten. Getroffen wurde
vor allem die Zivilbevölkerung. Tausende Verletzte flo-
hen über die Landesgrenze und wurden zum Teil im Iran
behandelt. Einige von ihnen konnten später im Ausland
behandelt werden.
Halabdscha reiht sich ein in eine lange Liste von Ver-
brechen der Saddam-Diktatur, unter der gerade die Kur-
den immer wieder zu leiden hatten. Einsätze der iraki-
schen Armee richteten sich gezielt gegen ganze
kurdische Dörfer, wobei ebenfalls Giftgas zum Einsatz
kam. Im Rahmen der sogenannten Anfal-Kampagnen
kamen zwischen 1986 und 1989 nach kurdischen Schät-
zungen bis zu 182 000 Menschen ums Leben.
Der verantwortliche ehemalige irakische Verteidi-
gungsminister Ali Hassan Al-Madschid wurde im Juni
2007 im Zusammenhang mit den sogenannten Anfal-
Angriffen auf kurdische Dörfer von einem irakischen
Sondergericht zum Tode verurteilt. Letzten Freitag
wurde entschieden, das Urteil innerhalb eines Monats zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15679
(A) (C)
(B) (D)
vollstrecken. Das irakische Gericht stufte die Anfal-
Angriffe, die den Höhepunkt der systematischen Unter-
drückungs- und Mordpolitik gegen die irakischen Kur-
den darstellte, als Genozid ein.
Dass die Verbrechen jetzt von der Justiz aufgearbeitet
und die Täter bestraft werden, ist gut und richtig. Die
heutigen Probleme der Menschen in der Region werden
dadurch aber längst nicht gelöst. Das wird einem vor Ort
schlagartig klar. Wer Halabdscha heute besucht, könnte
fast meinen, der Angriff habe nicht vor 20 Jahren, son-
dern erst kürzlich stattgefunden.
Viele Bewohner leiden noch heute unter den gesund-
heitlichen Folgen der Giftgase. Viele von ihnen leben
unter skandalösen Bedingungen. Schutt und Staub, be-
schädigte Gebäude und eine unzureichende Infrastruktur
sind eine völlig unhaltbare Umgebung für die zahlrei-
chen Opfer der Angriffe, darunter viele Lungenkranke.
Entschädigungen und Hilfe erhielten die Bedürftigen nur
in geringem Maße von der kurdischen Regierung. Die
medizinische Versorgung ist absolut unzureichend und
unangemessen für die Schwere der erlittenen Verletzun-
gen.
Als deutsche Parlamentarier wurden wir in Halab-
dscha auch gefragt, warum nie Hilfe aus Deutschland
kam. Die Menschen dort wissen sehr wohl um die Rolle
deutscher Firmen beim Aufbau des C-Waffen-Arsenals
von Saddam Hussein. Niemand hat uns angeklagt; aber
wir wurden gefragt: Warum gibt es keine Hilfe aus
Deutschland, nicht ein einziges kleines Projekt? Und ich
muss Ihnen sagen: Wir hatten keine Antwort auf die
Frage, warum nichts für die Entwicklung der Stadt, für
die Gesundheitsversorgung der Menschen getan wurde.
Schon mit begrenzten Mitteln könnte man hier ein
menschliches und wichtiges Zeichen setzen.
Wenn wir hier im Bundestag der Folgen der schreckli-
chen Angriffe auf Halabdscha gedenken, dann sollten wir
auch gemeinsam über ein solches Zeichen nachdenken
und uns Gedanken machen über deutsche Unterstützung
für Hilfe vor Ort. Ich erwarte von der Bundesrepublik
endlich Initiativen der Unterstützung für die Betroffenen.
Die völlige Abwesenheit Deutschlands in der Region ist
mir absolut unverständlich und durch nichts zu rechtfer-
tigen. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam dazu beitragen
können, den Menschen im Nordirak und all jenen, die un-
ter den Verbrechen Saddam Husseins gelitten haben und
noch heute leiden, besser helfen zu können, und dass
diese Debatte ein Anstoß dafür ist.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für eine erleichterte
Anerkennung von im Ausland erworbenen
Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen (Ta-
gesordnungspunkt 17)
Marcus Weinberg (CDU/CSU): Unser Land blickt
auf eine lange und prägende Migrationstradition mit
zahlreichen Beispielen erfolgreicher Integration zurück.
Diesen historischen Erfahrungsschatz werden wir sehr
viel stärker als bisher für die wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Interessen Deutschlands, auch angesichts
des demografischen Wandels und des weltweiten Wett-
bewerbs um die besten Köpfe, für einen positiven und
pragmatischen Umgang mit Zuwanderung und Integra-
tion nutzen. Dafür ist eine nachhaltige Integrationspoli-
tik dringend erforderlich.
Integration kann nicht verordnet werden. Sie erfordert
Anstrengungen von allen, vom Staat und der Gesell-
schaft, die aus Menschen mit und ohne Migrationshin-
tergrund besteht. Maßgebend ist zudem die Bereitschaft
der Zuwandernden, sich auf ein Leben in unserer Gesell-
schaft einzulassen. Im Zuge der wachsenden Internatio-
nalisierung von Arbeits- und Absatzmärkten sind es ins-
besondere international tätige Großunternehmen, die in
betriebswirtschaftlichem Interesse Zielsetzung und Leit-
linien des Diversity-Managements adaptieren und damit
gleichzeitig auch eine Vorreiterrolle bei der Herstellung
innerbetrieblicher Chancengleichheit einnehmen.
Einige dieser Unternehmen haben Ende 2006 die Ini-
tiative „Charta der Vielfalt“ ins Leben gerufen, die von
der Bundesregierung unterstützt wird. Auch auf EU-
Ebene wird Diversity-Strategien sowohl im Zusammen-
hang der Sozial- und Beschäftigungspolitik als auch im
Kontext der Chancengleichheitspolitik ein wichtiger
Stellenwert beigemessen. Vor diesem Hintergrund und
anknüpfend an die „Charta der Vielfalt“ führt die Beauf-
tragte 2007/2008 mit Mitteln des Europäischen Sozial-
fonds eine Kampagne „Vielfalt als Chance“ durch, die
auf die bessere Berücksichtigung von Menschen mit Mi-
grationshintergrund in der betrieblichen und öffentlichen
Einstellungs- und Personalpolitik zielt.
Im Zusammenhang von Globalisierung und gesell-
schaftlicher Pluralisierung ist nicht nur die Wirtschaft
immer stärker auf differenzierte sprachliche und inter-
kulturelle Kenntnisse von Beschäftigten angewiesen,
sondern auch der Öffentliche Dienst, der mit seinen An-
geboten einer zunehmend differenzierten Nachfrage
nach öffentlichen Dienstleistungen Rechnung zu tragen
hat. Vor diesem Hintergrund haben sich die Bundesre-
gierung und die Länder im Integrationsplan verpflichtet,
ihre Einstellungspraxis zu überprüfen und eine gezieltere
Personalrekrutierung zu betreiben.
Die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Migran-
ten ist im Zuge der aktuellen Konjunktur dann zwar ge-
sunken, aber laut Mikrozensus liegt die durchschnittliche
Erwerbsbeteiligung von Personen mit Zuwanderungshin-
tergrund mit rund 68 Prozent, Migrantinnen 58 Prozent,
deutlich unter der von Personen ohne Migrationshinter-
grund (75 Prozent). Fehlende oder unzureichende Sprach-
kenntnisse, berufliche Abschlüsse und Qualifikationen
tragen in hohem Maße dazu bei.
Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräfte-
mangels hat sich die Arbeitsgruppe „Wissenschaft –
weltoffen“ des Nationalen Integrationsplans unter ande-
rem mit dem Potenzial der qualifizierten Migrantinnen
und Migranten befasst, die bereits in Deutschland leben,
aber bisher keinen qualifizierten Arbeitsmarktzugang
haben. Thematisiert wurden insbesondere auch die weit-
15680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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gehenden Probleme bei der Anerkennung und Bewer-
tung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen
und -nachweisen.
Angaben zum Qualifikationsniveau von Zuwandern-
den bei der Einreise nach Deutschland lassen sich nicht
machen, da berufliche und schulische Qualifikationen
bei der Ankunft nicht erhoben werden. Die Daten des
Mikrozensus 2005 geben zwar Auskunft über die Quali-
fikationsstruktur der Bevölkerung mit Migrationshinter-
grund, differenzieren aber nicht nach im Ausland oder
Inland erworbenen Abschlüssen. Auch in der Datenauf-
nahme der Bundesagentur für Arbeit zu den formalen
Qualifikationen sind nur deutsche bzw. in Deutschland
anerkannte Berufsabschlüsse vorgesehen; selbst auslän-
dische Hochschulabschlüsse gehen bei fehlender Aner-
kennung nicht in die formalen Qualifikationsprofile der
Arbeitslosen ein.
Nach Schätzungen der Universität Oldenburg leben in
Deutschland zurzeit allein rund 500 000 zugewanderte
Akademiker und Akademikerinnen, deren Abschluss
nicht anerkannt wurde und die deshalb unqualifizierten
oder nicht ausbildungsadäquaten Tätigkeiten nachgehen.
Diese Nichtanerkennung beruflicher Qualifikationen er-
schwert bzw. verhindert nicht nur individuell die Auf-
nahme einer dem Bildungsstand entsprechenden Er-
werbstätigkeit, sondern bedeutet in volkswirtschaftlicher
Perspektive, dass erhebliche Qualifikationsressourcen
im Erwerbssystem brachliegen.
Das Anerkennungswesen für im Ausland erworbene
Berufs- und Hochschulabschlüsse in Deutschland ist
noch unübersichtlich. Auf EU-Ebene wird im Rahmen
des Bologna-Prozesses die Vergleichbarkeit von Hoch-
schulabschlüssen vorangetrieben, auch für den Bereich
der beruflichen Abschlüsse. Auf einer Tagung des Euro-
päischen Rates in Barcelona im Jahr 2002 hat der Euro-
päische Rat sowohl eine engere Zusammenarbeit im
Universitätsbereich als auch die Verbesserung der Trans-
parenz und Methoden zur gegenseitigen Anerkennung
von Berufsbildungssystemen gefordert. Mit der Einfüh-
rung eines Europäischen Qualifikationsrahmens, EQR,
sollen unter anderem die Vergleichbarkeit und ein Rah-
men für die Anerkennung von Qualifikationen im Be-
reich der allgemeinen und beruflichen Bildung erstellt
und umgesetzt werden, siehe auch die Lissabonkonven-
tion, ein am 11. April 1997 von der Bundesrepublik
Deutschland unterzeichnetes Übereinkommen über die
Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich
in der europäischen Region; veröffentlicht im Bundesge-
setzblatt Jahrgang 2007 Teil II Nr. 15. Die Zentralstelle
für ausländisches Bildungswesen, ZAB, im Sekretariat
der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder
in der Bundesrepublik Deutschland ist die zuständige
Stelle für Angelegenheiten der Bewertung und Einstu-
fung ausländischer Bildungsnachweise. Sie erbringt be-
ratende und informatorische Dienstleistungen für die mit
der Anerkennung ausländischer Bildungsnachweise be-
fassten Stellen in der Bundesrepublik Deutschland, zum
Beispiel Ministerien, Behörden, Hochschulen, Gerichte;
sie hat selbst keine Entscheidungsbefugnisse.
Zu den wesentlichen Aufgaben der Zentralstelle zählt,
dass sie auf Anfrage der zuständigen Stellen die auslän-
dischen Bildungsnachweise individueller Antragsteller
bewertet, dass sie allgemeine Äquivalenzgrundlagen und
Einstufungsempfehlungen für ausländische Bildungs-
nachweise erstellt. Diese Empfehlungen können gele-
gentlich den Charakter verbindlicher Regelungen erhal-
ten, wenn sie durch eine gemeinsame Entschließung der
Kultusministerkonferenz, KMK, gebilligt werden. Wei-
tere Obliegenheiten der Zentralstelle für ausländisches
Bildungswesen sind zum einen die Unterstützung der zu-
ständigen Stellen bei der Vorbereitung bilateraler Ab-
kommen mit den Regierungen ausländischer Staaten
über die gegenseitige Anerkennung von Bildungsnach-
weisen und zudem eine allgemeine Informations- und
Dokumentationstätigkeit im Hinblick auf ausländische
Bildungssysteme. Der Betrieb einer Datenbank zur An-
erkennung ausländischer Bildungsnachweise ist im Auf-
bau.
Die mit der Zentralstelle zusammenarbeitenden Insti-
tutionen und Behörden sind: die Kultus- und Wissen-
schaftsministerien der Länder in der Bundesrepublik
Deutschland. Diese sind unter anderem zuständig für all-
gemeine Angelegenheiten des Hochschulzugangs, für
die Bewertung von Studienabschlüssen von Lehrern und
die Erteilung der Genehmigung zur Führung ausländi-
scher akademischer Grade, für besondere Gremien der
Kultusministerkonferenz, die sich mit internationalen
Angelegenheiten des Bildungswesens befassen, für Uni-
versitäten und andere Einrichtungen des Schul- und
Hochschulbereichs, die in Einzelfällen der Hochschulzu-
lassung und der Einstufung ausländischer Antragsteller
um Rat fragen, zudem für andere Ministerien und nach-
geordnete Behörden, die für die berufliche Anerkennung
von Bildungsabschlüssen zuständig sind, zum Beispiel
die für das Gesundheitswesen zuständigen Ministerien
der Länder, für Stipendien vergebende Stellen, ausländi-
sche Institutionen, die Auskünfte über das deutsche Bil-
dungswesen und über die Anerkennung von Studienleis-
tungen und Hochschulabschlüssen für ausländische
Studierende in der Bundesrepublik Deutschland erbitten
und Organisationen für den Studentenaustausch.
Um ihre verschiedenartigen Funktionen sachgerecht
erfüllen zu können, ist die Zentralstelle verpflichtet, eine
solide Basis verlässlicher und aktueller Informationen
bereitzuhalten. Zu diesem Zweck führt sie eine Refe-
renzbibliothek, die wesentliche Aspekte des ausländi-
schen Bildungswesens im internationalen Maßstab ab-
deckt. Die Zentralstelle führt ein Archiv des deutschen
Bildungswesens mit Schwerpunkt in der Sammlung der
verschiedensten Studien- und Prüfungsordnungen sowie
weiterer Ausbildungsregelungen; eine Sammlung aller
verfügbaren Literatur – Zeitschriften, Bücher, Kataloge
usw. –, die sich mit ausländischen Bildungssystemen
oder Gesellschaft, Kultur und Berufsleben betreffenden
Angelegenheiten befassen, und außerdem hat die Zen-
tralstelle ein Informationsnetzwerk aufgebaut, welches
auch die deutschen und ausländischen Botschaften ein-
bezieht. Die Zentralstelle arbeitet unter anderem auf die-
sen Gebieten auch eng mit den nationalen Äquivalenz-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15681
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zentren der Mitglieder des Europarats und der EU
zusammen.
Sie gibt für den Dienstgebrauch der zuständigen Stel-
len in der Bundesrepublik Deutschland Veröffentlichun-
gen zum ausländischen Bildungswesen heraus: Auslän-
dische Bildungsnachweise und ihre Bewertung in der
Bundesrepublik Deutschland, „Bewertungsvorschläge“:
Diese mehrbändige Loseblattsammlung dient als Ar-
beitsgrundlage für den Hochschulzugang ausländischer
Studienbewerber; sie wird ein- bis zweimal jährlich ak-
tualisiert und enthält neben den jeweiligen Bewertungs-
empfehlungen Übersichten über das Notensystem sowie
Hinweisen zur Berechnung von Gesamtnoten, eine aus-
führliche Auflistung der ausländischen, für den Hoch-
schulzugang berechtigenden Zeugnisse sowie für eine
Reihe von Ländern eine knappe Darstellung des Schul-
systems. Seit Frühjahr 2003 sind die „Bewertungsvor-
schläge“ in der Datenbank ANABIN unter „Hochschul-
zugang“ verfügbar.
Gesetzliche Vorgaben zu den Anerkennungsverfahren
(Beruf) gibt es nur für Spätaussiedler und Spätaussiedle-
rinnen, die einen Rechtsanspruch auf Anerkennungsver-
fahren in allen Berufen haben, sowie hinsichtlich
bestimmter Berufe auch für Unionsbürger und Unions-
bürgerinnen. In weiten Teilen sind Zuwandernde für die
Anerkennung ihrer Qualifikationen auf den freien Markt
und damit auf die Bereitschaft und Fähigkeit individuel-
ler Arbeitgeber verwiesen, fremdsprachige Zeugnisse zu
akzeptieren und ausländische Ausbildungen zu bewer-
ten. Problematisch ist dies – angesichts Hunderter von
Ausbildungsberufen im dualen System – insbesondere
bei Berufsausbildungen und Meisterabschlüssen.
Die formale Vergleichbarkeit von Berufsausbildungen
und die gegenseitige Anerkennung beruflicher Zeug-
nisse ist bilateral nur mit Österreich, Frankreich und der
Schweiz – nur Handwerk – geregelt. Die Kammern bie-
ten hier allerdings in vielen Fällen informelle Hilfestel-
lungen und Anerkennungsmöglichkeiten an. Hier wird
nachgebessert, mit Hilfe der Einführung des Europäi-
schen Qualifikationsrahmens EQR.
Auch für Akademiker und Akademikerinnen mit aus-
ländischem Abschluss, die unmittelbar einen Arbeits-
marktzugang suchen, fehlt ein einheitliches Anerken-
nungsverfahren; die Zuständigkeiten der Zentralstelle
für ausländisches Bildungswesen und der Hochschulen
für die sogenannte akademische Anerkennung, das heißt
die Anerkennung von Studienzeiten, Studienleistungen,
akademischen Abschlüssen und Graden, liegen in der
Beratung und Bewertung, nicht in der Anerkennung.
Im Bereich der reglementierten Berufe, in denen der
Berufszugang entweder durch Bundesgesetz, unter ande-
rem Rechts- oder Gesundheitsberufe, oder durch Länder-
recht, unter anderem Erziehungsberufe und Ingenieure
bzw. Architekten, geregelt ist, scheitern Drittstaatsange-
hörige regelmäßig daran, dass ihnen – anders, zum Bei-
spiel als Unionsbürgerinnen und -bürgern – bestimmte
Anerkennungsinstrumente, wie individuelle Eignungsprü-
fungen nicht zur Verfügung stehen. Sowohl im Bereich
der Anerkennung von Bildungsnachweisen und ausländi-
schen Abschlüssen als auch bei den erforderlichen An-
passungsqualifizierungen ist vieles zu verbessern. Die
Anerkennungsverfahren sollen auf der Grundlage ver-
gleichbarer und für alle Betroffenen nachvollziehbarer
Standards transparenter gestaltet, die Lesbarkeit der An-
erkennung von Studienabschlüssen und anderen Qualifi-
kationsnachweisen verbessert, die Standardisierung von
Prüfungsanforderungen und der Aufbau von Anerken-
nungsinformationssystemen vorangetrieben werden.
Das bestehende Angebot zur Nach- und Anpassungs-
qualifizierung ist weiter auszubauen, zu differenzieren
und für weitere Zielgruppen zu öffnen. Dies gilt auch für
das Akademikerprogramm und die Maßnahmen des
„Garantiefonds Hochschulbereich“, mit denen der Bund
seit mehr als zwanzig Jahren zugewanderte Akademiker
und Akademikerinnen in den ersten Jahren nach der Ein-
reise nach Deutschland bei der beruflichen Integration
unterstützt bzw. auf ein Hochschulstudium vorbereitet.
Ergänzend ist für gezielte Qualifizierungsmaßnahmen zu
plädieren; für zugewanderte Akademiker und Akademi-
kerinnen ohne Aussicht auf eine ausbildungsadäquate
berufliche Position, um ihnen zumindest einen Berufs-
einstieg auf mittlerer Ebene zu ermöglichen.
Bund, Länder und die Wirtschaft haben sich im Natio-
nalen Integrationsplan verpflichtet, Anerkennungsver-
fahren und Maßnahmen zu optimieren. Die Länder beto-
nen, dass im Ausland erworbene „Schul-, Bildungs- und
Berufsabschlüsse volkswirtschaftlich besser genutzt
werden“ müssen und in diesem Zusammenhang auch
Teilanerkennungen und gezielte Nachqualifizierungen
sinnvoll wären.
Der Bund verpflichtet sich, seine Maßnahmen zur An-
passungs- und Nachqualifizierung zuwandernder Akade-
miker und Akademikerinnen zielgruppenspezifisch wei-
terzuentwickeln, und das BAMF legt ein Konzept zur
beruflichen Integration zugewanderter Akademikerinnen
und Akademiker vor, das sich insbesondere auf die Opti-
mierung der Anerkennungsverfahren von Bildungs- und
Berufsabschlüssen, unter anderem in Zusammenarbeit
mit der Kultusministerkonferenz, sowie auf Angebote der
fachlichen und sprachlichen Nachqualifizierung bezieht.
Die Industrie- und Handelskammern erklären sich bereit,
ihre Leistungen zur Anerkennung von im Ausland erwor-
benen Qualifikationen vor allem im Bereich der gutach-
terlichen Stellungnahmen zu ausländischen Zeugnissen
weiter zu verbessern.
Abschließend sei hier noch auf das im Oktober 2006
angelaufene Modellprojekt des Bundes „AQUA – (zuge-
wanderte) Akademikerinnen und Akademiker qualifizie-
ren sich für den Arbeitsmarkt“ hingewiesen. Es steht für
die Ablösung der am Rechtsstatus von Migrantinnen und
Migranten orientierten Förderstrategien der Vergangen-
heit. AQUA bereitet zugewanderte und deutsche Ar-
beitslose mit akademischer Vorqualifikation mittels ge-
meinsamer Maßnahmen in verschiedenen Berufsfeldern
auf Arbeitsplätze mit gehobenen Anforderungen vor.
Anknüpfungspunkt für das Modell ist der Erfolg des
Akademikerprogramms, das mit relativ kurzen Förde-
rungen – 12 bis 15 Monate – eine hohe Überleitungs-
quote, rund 70 Prozent, aus der Förderung in den ersten
Arbeitsmarkt erreicht, als Zielgruppenprogramm aber
15682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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für deutsche Arbeitslose nicht zugänglich ist. Neben der
Vermittlung fachbezogener Kenntnisse und Kompeten-
zen zielt AQUA darauf, den Deutschspracherwerb der
Zugewanderten zu intensivieren und die interkulturellen
Kompetenzen beider Gruppen zu verbessern. Erprobt
wurde das Modell bisher in vier Berufsfeldern, seit Ok-
tober 2007 ist AQUA deutlich ausgeweitet worden und
umfasst nun 13 Berufsfelder.
Erwähnt werden soll hier zudem der 2006 mit Unter-
stützung des Europäischen Flüchtlingsfonds initiierte
Studiengang „Interkulturelle Bildung“ an der Universität
Oldenburg, der Zugewanderten, deren akademischer Ab-
schluss in Deutschland nicht anerkannt wurde, einen
deutschen Bachelor-Abschluss ermöglicht. Dieses Ange-
bot, das bisher Anpassungsqualifikationen in Pädagogik,
Sozialpädagogik und Sozialwissenschaften umfasst, wird
perspektivisch auf andere Studiengänge – Informatik,
Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften – aus-
geweitet.
Eine deutliche Verbesserung der Arbeitsmarktintegra-
tion von Menschen mit Migrationshintergrund ist so-
wohl aus sozial- und gesellschaftspolitischen als auch
aus volkswirtschaftlichen Gründen geboten. Auch ange-
sichts der demografischen Entwicklung und des Rück-
gangs des Arbeitskräfteangebots in Deutschland ist es
Anliegen von Politik und Wirtschaft, die Erwerbsbeteili-
gung der Migrantenbevölkerung gezielt zu erhöhen und
insbesondere zur Verbesserung der Qualifikationsstruk-
tur des Erwerbspersonenpotenzials mit Migrationshin-
tergrund beizutragen.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung be-
schlossen, im Rahmen der europäischen Beschäftigungs-
strategie bei der Umsetzung des Bundesprogramms zum
Europäischen Sozialfonds für die Förderperiode 2007
bis 2013 „ein besonderes Augenmerk auf migrationspo-
litische Aspekte“ zu richten und den Nationalen Integra-
tionsplan durch eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen be-
sonders zu unterstützen.
Gesine Multhaupt (SPD): „Putzfrauen mit Doktorti-
tel“ so überschrieb ein bekanntes Wochenmagazin im
Herbst letzten Jahres einen Artikel, in dem die Anerken-
nung ausländischer Diplome in Deutschland thematisiert
wurde.
In der Tat, wir brauchen in Deutschland nicht nur
dringend ein verbessertes Bildungswesen, insbesondere
müssen wir außerdem die Chancen der hier geborenen
Migrantinnen und Migranten erweitern, und: Wir müs-
sen uns auch um die große Zahl von Migrantinnen und
Migranten kümmern, die im Erwachsenenalter einge-
wandert sind und hier – wenn überhaupt – nicht in ihrem
erlernten Beruf, sondern in einem anderen, schlechter
qualifizierten Berufsfeld, tätig sind.
Die Anerkennung von im Ausland erworbenen Ab-
schlüssen steht unmittelbar im Zusammenhang mit der
Integration von Fachkräften aus dem Ausland. Grund-
sätzlich begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion die Zu-
wanderung von ausländischen Fachkräften. Wir sehen
darin eine große Chance und wollen ihre Fähigkeiten
und Fertigkeiten gern annehmen.
Wir wissen alle, dass wir aus demografischen Grün-
den Zuwanderung brauchen und auch wollen. Da genügt
es nicht, Menschen aus allen Teilen der Welt nach
Deutschland einzuladen, sie müssen hier auch eine neue
Heimat finden. Das heißt unter anderem, dass die Inte-
gration in den Arbeitsmarkt unmittelbar mit der Qualifi-
kation, die diese Menschen bereits erworben haben, ver-
knüpft ist. Integration erfordert daher eine sachgerechte
Anerkennung der bereits erworbenen Qualifikationen und
Fähigkeiten.
Differenzierte bzw. genauere Angaben zum Qualifi-
kationsniveau von Zuwanderern bei der Einreise liegen
uns nicht vor, da diese Daten bei der Einreise nicht erho-
ben werden.
Wie auch im Antrag erwähnt, leben nach Schätzun-
gen der Universität Oldenburg 500 000 zugewanderte
Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland, de-
ren Abschluss nicht anerkannt wurde und die deshalb
unqualifizierten oder nicht ausbildungsadäquaten Tätig-
keiten nachgehen.
Die Anerkennung von Abschlüssen ist ein sehr weit
reichendes Thema: Auf der europäischen Ebene ist die
Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes und Ar-
beitsmarktes ein wichtiges Ziel. Die Gemeinschaft hat
immer wieder mit neuen Initiativen Verfahren und Richt-
linien zur Anerkennung von Qualifikationen entwickelt,
um Mobilitätshindernisse zu beseitigen.
Gestatten Sie mir, die einzelnen Anerkennungsverfah-
ren kurz zu skizzieren: Die Anerkennung schulischer
Leistungen, die im Ausland erbracht wurden, beschränkt
sich lediglich auf die Anerkennung von Schulabschlüs-
sen. Bei Leistungen innerhalb einer noch fortzusetzen-
den Schullaufbahn findet kein formelles behördliches
Anerkennungsverfahren statt. Über die Einstufung in die
an einer deutschen Schule fortzusetzende Schullaufbahn
entscheidet vielmehr die jeweilige Schulleitung in Ab-
sprache mit der örtlichen Schulbehörde, den Schülern
und ihren Eltern in der Regel im Anschluss an einen Pro-
beunterricht.
Für die Gleichstellung mit dem deutschen Haupt-
schulabschluss ist der Nachweis des Besuches von min-
destens neun aufsteigenden Klassen an allgemeinbilden-
den Schulen mit hinreichendem Unterricht zumindest in
der Muttersprache, in Mathematik, einem naturwissen-
schaftlichen und einem sozialkundlichen Fach erforder-
lich.
Um eine Gleichstellung mit dem deutschen mittleren
Bildungsabschluss zu erreichen, ist der erfolgreiche Be-
such von mindestens zehn aufsteigenden Klassen an all-
gemeinbildenden Schulen sowie hinreichender Unter-
richt in der Muttersprache, einer Fremdsprache, in
Mathematik, einer Naturwissenschaft sowie in einem so-
zialkundlichen Fach erforderlich. Abweichende Rege-
lungen für Aussiedler gibt es nicht. Bei ausländischen
Sekundarschulabschlüssen wird geprüft, ob der Ab-
schluss im Herkunftsland ein Hochschulstudium ermög-
licht. Prinzipiell eröffnen solche Abschlüsse dann auch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15683
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den Hochschulzugang in Deutschland, wenn auch auf
unterschiedliche Weise wie bei Abschlüssen nach zwölf-
jähriger allgemeiner Schulform, bei Abschlüssen poly-
technischer Schulen usw.
Nicht alle ausländischen Bildungssysteme sind mit
dem deutschen so weit kompatibel, dass sie einen direk-
ten Hochschulzugang in Deutschland eröffnen. Ab-
schlüsse aus außereuropäischen Ländern erfordern häu-
fig den Besuch eines Universitätsvorbereitungskurses an
einem deutschen Studienkolleg. Dort wird dann mit der
abschließenden Feststellungsprüfung eine – fachgebun-
dene – Hochschulreife erworben. Ein begonnenes Stu-
dium befreit in der Regel von der Feststellungsprüfung
und es besteht die direkte fachgebundene Hochschulzu-
gangsqualifikation. Personen, die bereits ein Hochschul-
studium abgeschlossen haben, stehen alle Studiengänge
an den Hochschulen in Deutschland offen.
Problematisch wird es in der Tat bei Ausbildungsbe-
rufen im dualen System und Meisterabschlüssen. Die
formale Vergleichbarkeit von Berufsausbildungen und
die gegenseitige Anerkennung beruflicher Zeugnisse
sind nur selten – wie beispielsweise mit Österreich,
Frankreich und der Schweiz – geregelt. Bei der Aner-
kennung ausländischer Berufsqualifikationen wird zwi-
schen reglementierten und nicht reglementierten Berufen
unterschieden. Das hat zur Folge, dass der Zugang zu ei-
nem reglementierten Beruf, die Möglichkeit seiner Aus-
übung und die Führung einer entsprechenden Berufsbe-
zeichnung – zum Beispiel Arzt, Ingenieur, Friseurmeister –
ausschließlich von der behördlichen Anerkennung der
beruflichen Qualifikation, die im Ausland erworben
wurde, abhängt. Die Anerkennung von reglementierten
Berufen muss bei der zuständigen Stelle des Bundeslan-
des, in dem man wohnt, beantragt werden.
Vorteile aus der Anerkennung einer beruflichen Qua-
lifikation ergeben sich darin, dass damit die gesetzlichen
Voraussetzungen erfüllt werden können, die es einem er-
möglichen, in diesem Beruf als Angestellter oder An-
gestellte oder selbstständig arbeiten zu können. Eine
Anerkennung bietet zudem die Möglichkeit, Weiterbil-
dungsangebote und Umschulungsmaßnahmen in An-
spruch nehmen zu können.
Ich halte die Transparenz von Informationen insbe-
sondere für Drittstaatenangehörige für problematisch, so
wie es auch im 7. Bericht der Beauftragten der Bundes-
regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in
Deutschland zum Ausdruck gebracht wird. Dort heißt es
weiter, dass „in weiten Teilen Zuwandernde für die An-
erkennung ihrer Qualifikationen auf den freien Markt
und damit auf die Bereitschaft und Fähigkeit individuel-
ler Arbeitgeber verwiesen werden“. Bei den reglemen-
tierten Berufen, in denen der Berufszugang entweder
durch Bundesgesetz, wie beispielsweise bei Gesundheits-
berufen oder durch Ländergesetze geregelt ist, wie bei-
spielweise bei Erziehungsberufen oder Ingenieuren,
scheitern Drittstaatenangehörige daran, dass ihnen be-
stimmte Anerkennungsinstrumente, wie individuelle Eig-
nungsprüfungen nicht zur Verfügung stehen. Für poten-
zielle Arbeitgeber und für die betroffenen Zuwanderer
sind die Regelungen unübersichtlich und verwirrend. In
nicht reglementierten Berufen kommt erschwerend
hinzu, dass fremdsprachige Zeugnisse von Arbeitgebern
mit Skepsis beurteilt werden, weil sie das Bildungssys-
tem des Herkunftslandes nicht kennen.
Im Hochschulbereich haben wir auf der EU-Ebene im
Rahmen des Bologna-Prozesses die Vergleichbarkeit
von Abschlüssen stetig vorangetrieben. Mit Bachelor
und Master werden international anerkannte Abschlüsse
erlangt. Umgekehrt ermöglicht diese Harmonisierung
auch die Anerkennung ausländischer Hochschulab-
schlüsse. Zumal diese Entwicklung dazu führen wird,
dass die Abschlussarten nicht mehr als fremd empfunden
werden.
Aber auch hier haben wir noch das Problem, dass
Akademikern und Akademikerinnen mit ausländischem
Abschluss ein einheitliches Anerkennungsverfahren
fehlt. Die konkrete Einstufung der jeweils vorgelegten
Zeugnisse erfolgt durch die zuständigen Landesbehör-
den.
Diese konkreten Beispiele zeigen deutlich, dass für
die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüs-
sen eine Vielzahl an Verbesserungen notwendig ist. Eine
Bündelung der Informationen über im Ausland erwor-
bene Schulabschlüsse erfolgt über die Zentralstelle für
ausländisches Bildungswesen im Sekretariat der Kultus-
ministerkonferenz.
Trotzdem stecken wir bei den angesprochenen The-
men in einem Dilemma: Auf der einen Seite wollen wir
Zuwanderung von qualifizierten Kräften, die hier auch
in den Arbeitsmarkt adäquat integriert werden. Auf der
anderen Seite können wir in einer Arbeitswelt, in der im-
mer höhere Qualifikationsanforderungen gestellt wer-
den, unsere Standards nicht aufweichen.
Hierzu haben wir bereits einiges unternommen. Bund,
Länder, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände haben
sich im Nationalen Integrationsplan verpflichtet, Aner-
kennungsverfahren und Maßnahmen zu verbessern. Tei-
lanerkennungen und gezielte Nachqualifizierungen sind
geplant. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt dieses
Vorhaben. Wir unterstützen die Arbeitsgruppe „Wissen-
schaft – weltoffen“ des Nationalen Integrationsplans in
ihren Bemühungen, die Anerkennungsverfahren auf
Grundlage vergleichbarer und für alle Betroffenen nach-
vollziehbarer Standards transparenter zu gestalten. Das
gilt für die Anerkennung von Studienabschlüssen und
anderen Qualifikationsnachweisen sowie für Prüfungs-
anforderungen und den Aufbau von Informationssyste-
men.
Wir werden uns dafür einsetzen, dass die bestehenden
Angebote zur Nach- und Anpassungsqualifizierung aus-
gebaut werden. Um die Potenziale der Zuwanderer zu
nutzen, werden wir gezielte Qualifizierungsmaßnahmen
für zugewanderte Akademiker ohne Aussicht auf eine
ausbildungsadäquate berufliche Position verbessern. Da-
mit erreichen wir für die Betroffenen einen Berufsein-
stieg auf der mittleren Ebene und verhindern, wie ein-
gangs erwähnt, dass promovierte Zuwanderer hier als
Putzfrauen arbeiten müssen.
15684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
Ich habe vorhin bereits die Universität Oldenburg in
meinem Wahlkreis erwähnt. An dieser Stelle möchte ich
auch insbesondere den 2006 mit Unterstützung des Euro-
päischen Flüchtlingsfonds initiierten Studiengang „Inter-
kulturelle Bildung“ nennen. Hier haben Zugewanderte,
deren akademischer Abschluss in Deutschland nicht an-
erkannt wurde, die Möglichkeit, einen deutschen Bache-
lor zu erhalten. Ein einmaliges Angebot, das bisher An-
passungsqualifikationen in Pädagogik, Sozialpädagogik
und Sozialwissenschaften umfasst und perspektivisch
auf andere Studiengänge wie Informatik, Naturwissen-
schaften und Ingenieurwissenschaften ausgeweitet wer-
den soll.
Durch die gesetzlichen Vorgaben sowie beispiels-
weise durch die Einführung des Europasses ist das Infor-
mationsangebot innerhalb der EU für bestimmte Berufe
und für Spätaussiedler relativ verbessert worden.
Die Rechtsgrundlagen werden bei der Bewertung der
unterschiedlichen ausländischen Hochschulzugangsqua-
lifikationen durch die Zentralstelle für ausländisches Bil-
dungswesen in Form genereller Empfehlungen berück-
sichtigt. Diese Empfehlungen werden seit Mitte 2003
nebst weiteren Dokumenten in einer Datenbank verfüg-
bar gemacht. Über ausländische Schul- und Notensys-
teme kann man sich dort auf den öffentlich zugänglichen
Seiten der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen
informieren. In den jeweiligen Bewertungsvorschlägen
eines Landes sind in den Rubriken „Zeugnisbewertung“
und „Abschlüsse“ wesentliche Hinweise zur Einordnung
ausländischer Schulzeugnisse sowie zum Hochschulbe-
reich vermerkt.
Mit der Lissabonner Anerkennungskonvention ist
nicht nur die akademische Anerkennung verbessert wor-
den, sondern auch im Bereich der akademischen Ab-
schlüsse zu beruflichen Zwecken. Zumindest innerhalb
der EU werden durch den Europäischen Qualifikations-
rahmen innerhalb der Union die Kenntnisse, Fertigkeiten
und Kompetenzen der Menschen zuverlässiger ver-
gleichbar sein.
Die Debatte zeigt, dass die Anerkennung von im Aus-
land erworbenen Abschlüssen umfangreicher ist als im
Antrag dargestellt. Gemeinsam können wir sicher schon
heute feststellen, dass das Problem richtig analysiert ist,
besteht und in gemeinsamen Anstrengungen gelöst wer-
den muss. Nur in Zusammenarbeit mit verschiedenen
Ministerien auf Bundesebene, mit den Ländern, der
Wirtschaft und weiteren Akteuren werden wir Stück für
Stück die Stolpersteine im Berufsleben von Migranten
und Migrantinnen abbauen.
Patrick Meinhardt (FDP): Je globalisierter die Welt
wird, desto wichtiger ist es, Bildungshürden abzubauen.
Deswegen sind die Fragen der gegenseitigen Anerken-
nung bildungspolitisch enorm wichtig.
Was die Europäische Union angeht, ist diese Diskus-
sion schon weit fortgeschritten. Wir müssen hier unsere
Vorstellungen aktiv einbringen, statt auf das zu reagie-
ren, was uns von Europa vorgegeben wird. Bereits seit
einiger Zeit wird in der Europäischen Union an der Ent-
wicklung eines sogenannten Europäischen Qualifika-
tionsrahmens gearbeitet. Wir müssen uns nur immer
wieder klarmachen, worum es dabei geht: Abschlüsse
vergleichbar machen und die Freizügigkeit fördern, um
so Mobilität zu fördern, jungen Menschen eine Bil-
dungs- und Ausbildungsperspektive zu geben – in
Deutschland und in Europa. Wenn beispielsweise Erzie-
herinnen und Erzieher ihren Beruf in Deutschland über
eine berufliche Ausbildung erlernen und in den meisten
anderen europäischen Ländern nicht, ist es sinnvoll, dass
es einen Rahmen geben wird, in dem die Gleichwertig-
keit der Ausbildung festgestellt wird. Die Ausbildung
darf nicht europäisch zementiert werden, sondern es
muss gelten: Vielfalt der Wege zum gleichen Ziel –
keine Gleichmacherei! Wir wollen keine Europäisierung
der Ausbildung, wir wollen die europäische Anerken-
nung vergleichbarer Bildungs- und Ausbildungswege.
Problematischer gestaltet sich leider sichtlich die An-
erkennung der Abschlüsse von Zuwanderern aus Län-
dern außerhalb der EU. Hier ist ein klarer Handlungsbe-
darf zu sehen. In der Tat muss der Zugang zum
Arbeitsmarkt für diese Menschen sachgerecht eingestuft
werden, und zwar zügig. Insofern ist auch dieses Ansin-
nen der Linken grundsätzlich richtig. Klassisch ist nur
wiederum, wie die Linke auf diese Herausforderung re-
agiert: Mit Rechtsansprüchen für alle und ausschließlich
staatlichen und bürokratischen Maßnahmen. Wann ver-
stehen Sie endlich? Nicht mehr Bildungsdiktate, sondern
mehr Bildungsfreiheit und Vielfalt der Wege eröffnen
neue Chancen. Ja, wir müssen dafür sorgen, dass Zu-
wanderer leichter in den deutschen Arbeitsmarkt inte-
griert werden können. Ja, das hat nicht nur etwas mit ih-
ren Sprachkenntnissen zu tun. Ja, es muss auch geprüft
werden, wie ihre in ihren Heimatländern erworbenen
Berufsbilder hier anerkannt werden können. Es muss da-
bei aber vor allem auch darauf geachtet werden, dass die
Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsab-
schlüssen nicht zulasten von Qualität und Sicherheit der
beruflichen Standards hier in Deutschland führt.
Der Antrag der Linken benachteiligt all diejenigen,
die einen anspruchsvollen Bildungsgang in Deutschland
absolviert haben. Die Notwendigkeit einer Anerkennung
der ausländischen Studiengänge bzw. deren Abschlüsse
wird von den Linken höher eingestuft als die Absiche-
rung der Standards in Deutschland. Das ist der falsche
Weg. So wird die berufliche Perspektive aller Migranten
zunichtegemacht. Denn wer will sich denn dann noch
von einem Mediziner mit nichtdeutschem Abschluss
operieren lassen, wer über eine Brücke fahren, deren
strukturelle Integrität von einem Statiker mit ausländi-
schem Diplom berechnet wurde? Es zeigt sich eben mal
wieder: Eine gute Idee wird unter dem falschen Geist
zum Bumerang und so zu einem Irrweg: Nicht mit uns!
Genauso würde es sich mit der beruflichen Bildung
verhalten. Das System der dualen Berufsausbildung ist
ein deutscher Exportschlager. Wenn die Vorstellung der
Linken umgesetzt werden würde, würde dieses Erfolgs-
modell komplett ausgehöhlt werden. Und genau für das
Gegenteil kämpfen wir! Im Sinne einer guten Bildung
und Ausbildung der jungen Menschen in diesem Land
können wir es uns nicht leisten, dass Bildungsabschlüsse
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15685
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aufgeweicht werden und das Niveau abgesenkt wird.
Deshalb lehnt die FDP-Fraktion diesen Antrag im Sinne
der Bildungsgerechtigkeit ab.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Im Dezember 2007
stellte die Beauftragte der Bundesregierung für Migra-
tion, Flüchtlinge und Integration, Frau Böhmer fest, dass
vor allem Migrantinnen und Migranten in dieser Gesell-
schaft abgehängt sind. Nach wie vor entscheiden in die-
sem Land Geldbeutel und Herkunft über die Bildungs-
karriere und den weiteren Lebensweg. Mit unserem
Antrag wollen wir ein Ende der Sonntagsreden. Den vie-
len Worten sollen endlich auch Taten folgen! In der öf-
fentlichen Debatte wird Migrantinnen und Migranten
immer wieder vorgeworfen, sich nicht integrieren zu
wollen. Es würde ein Rückzug in Parallelgesellschaften
vollzogen. Ein wesentliches Problem bei der Beschäfti-
gung und beim Arbeitsmarktzugang für Migrantinnen
und Migranten ist aber, dass ihre im Ausland erworbe-
nen Qualifikationen und Schul-, Bildungs- und Berufs-
abschlüsse nicht oder nur teilweise und häufig nur unter
erschwerten Bedingungen anerkannt werden.
Nach Schätzungen der Uni Oldenburg leben in
Deutschland allein etwa 500 000 zugewanderte Akade-
mikerinnen und Akademiker, deren Abschluss hierzu-
lande nicht anerkannt wird und die auch aufgrund dessen
häufig unqualifizierten Tätigkeiten nachgehen müssen.
Von gut ausgebildeten Fachkräften ganz zu schweigen.
So ist die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Mi-
granten hierzulande doppelt so hoch wie die der Gesamt-
bevölkerung. Migrantinnen und Migranten befinden sich
vorwiegend in sogenannten prekären Arbeitsverhältnis-
sen, zumeist im Niedriglohnbereich. 38 Prozent der
Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger haben in die-
sem Land einen Migrationshintergrund. Jede fünfte Per-
son mit Migrationshintergrund muss Grundsicherungs-
leistungen in Anspruch nehmen. Bei Personen ohne
Migrationshintergrund ist es nur jede 14. Während die
Armutsrisikoquote in der Bevölkerung ohne Migrations-
hintergrund bei fast 12 Prozent liegt, liegt sie bei Mi-
grantinnen und Migranten bei 28 Prozent. Dies bestärkt
die verdrehte Sichtweise von Armut als ursächlich
(auch) „ethnisches“ Problem, wodurch allgemeine Vor-
urteile verstärkt werden. Diese schlagen wiederum Mi-
grantinnen und Migranten als Diskriminierungen insbe-
sondere auch bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzver-
gabe entgegen.
Meine Fraktion nimmt nicht einfach hin, dass Mi-
grantinnen und Migranten ihre Potenziale und Fähigkei-
ten in diese Gesellschaft nicht gleichermaßen einbringen
können. Mit unserem Antrag schlagen wir eine Vielzahl
von Lösungsmöglichkeiten vor. Die spezielle Situation
der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse
muss auch im Rahmen der Diskussionen um einen Na-
tionalen Qualifikationsrahmen spezifisch aufgegriffen
werden. Wir schlagen vor, dass das Bundesinstitut für
Berufsbildung (BIBB), in enger Zusammenarbeit mit der
Kultusministerkonferenz (KMK), regierungsunabhängi-
gen Sachverständigen und allen maßgeblichen Akteuren
wie Migrantinnen- und Migrantenorganisationen, Be-
rufsverbänden, Gewerkschaften usw. ein Konzept entwi-
ckelt, mit dem die Anerkennung im Ausland erworbener
Qualifikationen bzw. von Schul-, Bildungs- und Berufs-
abschlüssen sowie Hochschulzugangsberechtigungen
bundesweit vereinheitlicht, vereinfacht, erleichtert und
beschleunigt wird.
Andere Länder gehen mit guten Beispielen voran. Dä-
nemark hat beispielsweise ein Kompetenzzentrum für
Zuwandernde eingerichtet, das berufliche Qualifikatio-
nen bewertet und auch praktisch testet. Schweden testet
berufliche Qualifikationen in Betrieben und zertifiziert
sie anschließend. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Wir schlagen vor, ein ähnliches System hierzulande ein-
zuführen. So soll eine vereinfachte Anerkennung im
Rahmen von speziellen Lehrgängen möglich sein, die
dann durch die im Rahmen des Lehrgangs erworbenen
Zusatzqualifikationen „endgültig“ wird. Außerdem soll
Migrantinnen und Migranten mit ausländischen Bil-
dungsabschlüssen die Möglichkeit eröffnet werden, von
gegebenenfalls vereinfachten Abschlussprüfungen im je-
weiligen Fachbereich ohne vorherige Ausbildung bzw.
vorheriges Studium Gebrauch machen zu können.
Wir schlagen in unserem Antrag außerdem vor, dass
auch Ergänzungsqualifizierungen möglich sein müssen,
die beispielsweise durch die Bundesagentur für Arbeit
finanziell gefördert werden müssen. Die unübersichtli-
che Struktur in Deutschland verhindert allzu oft, dass
Migrantinnen und Migranten sich über ihre rechtlichen
und beruflichen Möglichkeiten informieren können.
Dem muss durch eine gezielte Berufsberatung für Mi-
grantinnen und Migranten Abhilfe geschaffen werden.
Die Berufsberatung muss auch Vermittlungsversuche in
Berufe entsprechend der im Ausland erworbenen Quali-
fikation beinhalten.
Bis ein bundesweit einheitliches, vereinfachtes Sys-
tem der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qua-
lifikationen erreicht wird, halten wir es für notwendig,
ein Berichtssystem zu etablieren. Nur indem die Bundes-
regierung jährlich ihre Fortschritte darstellen muss,
kommt es aus unserer Sicht zu schnellen Verbesserungen
der Situation von Migrantinnen und Migranten. Wir for-
dern sie auf, endlich aktiv zu werden. Beenden sie den
unhaltbaren Zustand, dass Akademikerinnen und Akade-
miker und ausgebildete Fachkräfte wegen der Nichtaner-
kennung ihres Abschlusses in der Bundesrepublik als
ungelernte Arbeitskräfte gelten und ins soziale Abseits
abgeschoben werden.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bei der Anerkennung von Schul-, Bildungs- und Berufsab-
schlüssen, die im Ausland erworben wurden, bestehen in
der Tat in Deutschland Schwierigkeiten. Zu oft ist der Aner-
kennungsprozess zu mühsam und erweist sich damit als
echte Integrationshürde.
Es ist daher richtig und wichtig, dass die Fraktion Die
Linke dieses Thema mit einem Antrag hier im Bundes-
tag aufgreift. Ich freue mich auf eine differenzierte Bera-
tung darüber im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung.
15686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Zusammenarbeit
der EU mit Russland stärken (Tagesordnungs-
punkt 18)
Manfred Grund (CDU/CSU): Die russische Präsi-
dentschaftswahl bietet uns gleich in mehrfacher Hinsicht
Anlass, uns mit den Beziehungen zu Russland zu be-
schäftigen. Sie bietet nicht nur einen Anlass, um die
künftige Entwicklung Russlands zu hinterfragen. Sie
bietet uns auch einen Anlass, um über unsere eigene Po-
litik nachzudenken.
Über die Wahl und ihre Umstände ist schon viel ge-
sagt und geschrieben worden. Ich war selbst schon oft
als Wahlbeobachter der OSZE im Einsatz, auch schon in
Russland. Ich bedauere sehr, dass die Voraussetzungen
dafür diesmal nicht gegeben waren.
Der künftige Präsident Medwedew ist ein Mann des
Kremls. Er ist der Wunschnachfolger Putins. Insofern
steht er in der Kontinuität der bisherigen Politik. Zugleich
hat er auch Reformbereitschaft signalisiert. Deshalb soll-
ten wir in der Wahl Medwedews vor allem eine Chance
sehen. Kontinuität und Reform sind nicht notwendiger-
weise Widersprüche. Die Probleme, die Medwedew an-
gesprochen hat, treffen den Kern russischer Eigeninteres-
sen. So, wie sie auch der Kreml selbst immer betont hat.
Ein starkes Russland braucht nicht nur einen starken
Staat. Ohne größere Entfaltungsspielräume für die wirt-
schaftliche und gesellschaftliche Dynamik kann die Mo-
dernisierung Russlands nicht wirklich gelingen.
Frei und fair waren die Wahlen nicht. Trotzdem gibt
es in der Bevölkerung viel Unterstützung für Putin und
Medwedew. Das ist auch nachvollziehbar. Putins Herr-
schaft steht für einen Zurückgewinn an Stabilität, für
wirtschaftlichen Aufschwung. Und für ein neues Selbst-
bewusstsein.
Aber es ist auch wahr, dass mancher Fortschritt nur
vordergründiger Natur ist. Nach den Krisen der neunzi-
ger Jahre war es das erklärte Ziel Präsident Putins, dem
Staat neue Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Doch eine
gestärkte Vertikale der Macht bedeutete nicht weniger
Korruption, sondern oft nur weniger Kritik. Machtstruk-
turen mögen geschaffen werden, um reale Probleme zu
lösen. Aber Machtstrukturen schaffen auch Interessen.
Daher war nicht nur die Zentralisierung der politischen
Macht problematisch, sondern auch ihre Verflechtung
mit den großen Staatsunternehmen. Das zeigt sich nir-
gendwo deutlicher als in der Öl- und Gasindustrie. Heute
hat Russland an der politischen Kontrolle über Trans-
portwege und Vorkommen offenbar ein größeres Inte-
resse als an deren Erschließung oder der Erneuerung ei-
ner oft maroden Infrastruktur.
Russland steht vor einem Scheideweg. Seine künftige
Führung wird vor der Entscheidung stehen, welchem Ziel
sie Vorrang einräumt: der Wahrung staatlicher Kontroll-
möglichkeiten oder der wirtschaftlichen und gesellschaft-
lichen Modernisierung; denn für seine wirtschaftliche
Modernisierung wird Russland Investitionen brauchen,
die ohne eine Liberalisierung und ohne eine Stärkung der
rechtsstaatlichen Garantien nicht zu erlangen sind.
Heute füllen Öl- und Gaseinnahmen die Kassen des
russischen Staates; und sie vermindern den Reform-
druck, der auf ihm lastet. Ein starkes und modernes
Russland wird sich jedoch auf Dauer nicht vorrangig auf
Nuklearwaffen und Rohstoffe stützen können.
Auf lange Sicht steht Russland vor gewaltigen geopo-
litischen und demografischen Herausforderungen. Um
sie bewältigen zu können, wird Russland einen hand-
lungsfähigen Staat brauchen. Aber es wird auch die Sta-
bilität brauchen, die nur eine funktionierende Zivilge-
sellschaft und eine starke Wirtschaft gewährleisten
können. Und Russland wird eine langfristige Perspektive
der Partnerschaft und der Integration in den Westen
brauchen.
Es ist nicht die Stärke Russlands, die uns Sorgen be-
reiten müsste, sondern seine Schwächen. Auch deshalb
bedarf es vonseiten Europas verstärkter Integrationsan-
gebote. In dieser Zielsetzung ist dem Antrag voll und
ganz zuzustimmen.
Wir müssen aber auch die Perspektive Russlands im
Blick haben. Dabei haben wir zu berücksichtigen, dass
Russland oft einem anderen Verständnis von Sicherheit
folgt als seine Partner in der EU. Sicherheit durch Inte-
gration: Das ist das Konzept von NATO und EU. Aber
zur Einbindung Russlands haben wir noch keinen hinrei-
chenden Ansatz gefunden.
Auch deshalb definiert Russland seine Sicherheit
noch vorrangig militärisch und seine Interessen macht-
politisch. Aus diesem Grund begreift Moskau auch die
Osterweiterungen nicht nur der NATO, sondern auch der
EU oft genug als gegen sich gerichtet.
Russland sieht seine Einflusssphären erodieren. Mos-
kau versucht, diesen Prozess nicht zuletzt mit machtpoli-
tischen Instrumenten aufzuhalten. Damit mag der Kreml
oft nur einem defensiven Impuls folgen. Doch er ver-
stärkt so auf längere Sicht nur sein strategisches Di-
lemma. Denn er stärkt damit letztlich nur die zentrifuga-
len Kräfte an seiner Peripherie
Je mehr aber Russland seine Interessen bedroht sieht,
desto notwendiger wird auch eine starke und dann eben
auch eher autoritäre Staatsführung erscheinen. Auf diese
Weise hängen die außen- und innenpolitische Entwick-
lung Russlands zusammen. Abkommen wie der AKSE-
Vertrag mögen für den Augenblick durchaus dem russi-
schen Sicherheitsbedürfnis entgegenkommen. Im Prin-
zip folgen sie allerdings einem bereits anachronistischen
Konzept von Sicherheit. Die sicherheitspolitischen He-
rausforderungen haben sich längst gewandelt. Wir brau-
chen Sicherheit miteinander und nicht voreinander.
Noch aber bestimmen unterschiedliche Sichtweisen
und Wahrnehmungen die Beziehungen wesentlich mit.
Moskaus Außenpolitik konzentriert sich auf zwischen-
staatliche Interessen. Wir thematisieren in sehr viel stär-
kerem Maße innerstaatliche Missstände. Aber damit ist
auch das Risiko von Missverständnissen verbunden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15687
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Denn es gibt die Gefahr, dass Kritik als subtile, wenn
nicht subversive Form einer Politik erscheint, mit der
letztlich eigene Interessen verfolgt werden. Natürlich ist
Kritik an den inneren Verhältnissen Russlands oft be-
rechtigt. Nur müssen wir dabei auch eine Sprache fin-
den, die beide Seiten verstehen.
Zu einer kohärenten Strategie gegenüber Russland
müssen wir auch in der EU vielfach erst noch finden.
Was wir brauchen, ist vor allem ein realistisches Ver-
ständnis der gegenseitigen Interessen. Dazu gehört die
Feststellung, dass es für den Augenblick auch Interes-
sengegensätze gibt. Ich nenne nur die Entwicklung des
Kosovo, Transnistrien, eingefrorene Konflikte im Kau-
kasus oder auch die Differenzen um die Raketenabwehr.
Wir sollten dazu bereit sein, diese Auseinandersetzungen
respektvoll, selbstbewusst und offen auszutragen.
Wenn ich hier von Interessen spreche, meine ich
nicht, dass wir zwischen Werten und Interessen in unse-
rer Außenpolitik abwägen müssen. Vielmehr sollten wir
bei unserer Zusammenarbeit auf diejenigen russischen
Eigeninteressen bauen, die sich von unseren Werten gar
nicht trennen lassen. Denn ohne Liberalisierung wird
eben auch die Modernisierung Russlands ins Stocken ge-
raten.
Wir brauchen ein Höchstmaß an Engagement mit
Russland – in wirtschaftlicher Hinsicht und zwischen
den Zivilgesellschaften. Davon werden mehr Impulse
für den inneren Wandel Russlands ausgehen als von al-
lem Reformdruck, der von außen kommt.
Die Interessen Russlands, der EU und auch Deutsch-
lands sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden.
Die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten ist dafür nur
das offensichtlichste Beispiel. Dabei stellt sich nicht nur
die Frage, ob diese Abhängigkeit für politische Interes-
sen ausgenutzt werden könnte. Weit wichtiger ist die
Frage, wie diese Interessen definiert werden.
Wir können diese Abhängigkeiten nicht beseitigen. Und
wir sollten das auch gar nicht wollen. Aber wir können das
Engagement mit Russland so vertiefen, dass unsere Bezie-
hungen von einem starken Fundament gemeinsamer Inte-
ressen getragen werden. Interessenverflechtung muss das
Leitbild unserer Strategie gegenüber Russland sein.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Nach den
beiden Wahlen in Russland erwarten Deutschland und
die Europäische Union mit großer Spannung, wie der
neue Präsident Dmitrij Medwedew und die Staats-Duma
nach den Wahlen ihr Verhältnis zur Außenwelt definie-
ren. Sie werden dabei die zentrale Frage beantworten:
War das manchmal ruppige Verhalten gegenüber einigen
Nachbarn dem Wahlkampf geschuldet oder setzt sich ein
neues Rollenspiel fest, ein Muster, das die Anrainer auch
auf längere Sicht erschreckt? Entscheidend wird sein,
wie die politische Elite sich den großen Aufgaben stellt,
die Russland lösen muss.
Immerhin: Russland könnte versucht sein, sich diesen
Aufgaben zu entziehen. Die Rohstoffpreise könnten
Schmiermittel dieser Versuchung sein. Gerade hier zeigt
sich auch die Falle, in der sich die russische politische
Elite befindet. Bis auf längere Sicht hat Russland die
Wahl, die eigene Zukunft auf ein Modell zu verengen –
Petro-Staat zu werden. Sollte die Elite ausschließlich
dieses Ziel verfolgen, würde sie die wirklichen Heraus-
forderungen verfehlen. Wer sich die Effizienzprobleme
allein bei der Förderung von Rohstoffen oder bei ihrem
Transport anschaut, dem wird klar, dass Russland vor
gewaltigen Anstrengungen steht. Russland muss endlich
sich auf einen für seine Verhältnisse angemessenen Mo-
dernisierungspfad begeben und das Tempo der Verände-
rung beschleunigen.
Eine Zeit der tiefgreifenden Reformen steht Russland
bevor: Die Bildungslandschaft muss sich ändern, die
Verkehrsinfrastruktur, das Gesundheitswesen, die öffent-
lichen Institutionen und die politischen Systeme. Die
Rationalisierungspotenziale müssen voll ausgeschöpft
werden und die Industriezweige erneuert. Wer aber wird
die Region sein, mit der diese Aufgaben in enger Zusam-
menarbeit am besten bewältigt werden können? Aus rus-
sischer Sicht kommen nur zwei angrenzende Partner in-
frage, China und die Europäische Union. Moskau hat die
Wahl.
Die eigenen Interessen werden Russland dazu drän-
gen, die Partnerschaft mit der EU zu verstärken. Das chi-
nesische Entwicklungsmodell mag auf den ersten Blick
ökonomisch attraktiv erscheinen. Mit dem zweiten, dem
rationalen Blick wird deutlich, warum das europäische
Entwicklungsmodell den russischen Interessen stärker
entgegenkommt. Zum einen verbindet Europa den öko-
nomischen Fortschritt mit der Idee der sozialen Gerech-
tigkeit und zum anderen mit der ökologischen Reform.
Schließlich ist der gesamte Modernisierungsprozess im
europäischen Selbstverständnis nur denkbar mit dem
ständig erweiterungsbereiten Konzept der politischen
Partizipation. Modernisierung ist in Europa ohne Demo-
kratisierung nicht zu haben.
Die Europäische Union wird am 10. März ihr Ange-
bot zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen er-
neuern. Das ist ein gutes Zeichen.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt
einige Hinweise dafür, wie die Zusammenarbeit der EU
mit Russland gestärkt werden könnte. Unter dem Ab-
schnitt II wird in acht Punkten konkretisiert, was Bünd-
nis 90/Die Grünen von der Bundesregierung fordert, da-
mit sie „sich bilateral und im Rahmen der Europäischen
Union einzusetzen“ habe, um die Beziehungen zur Rus-
sischen Föderation zu verbessern. Für die SPD-Bundes-
tagsfraktion stelle ich fest: Die Bundesregierung geht in
ihrem Handeln weit über diese Forderungen hinaus.
Im Abschnitt III erhebt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen weitere Forderungen an die Bundesregierung,
„im Rahmen von Europäischer Union und NATO“ zu-
sätzliche politische Schritte zu unternehmen. Auch hier
gilt: Energisch handelt die Bundesregierung seit langem,
nicht allein die hier beschriebenen Forderungen zu erfül-
len. Mehr noch: Die Bundesregierung geht über diese
Forderungen hinaus und engagiert sich dafür, im Rah-
men der Europäischen Union eine neue Ostpolitik zu
entwerfen, damit eine gesamteuropäische Ordnung ent-
15688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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steht, in der Freiheit und Gerechtigkeit, Fortschritt und
Frieden, Wirklichkeit werden.
Wenn ich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion den
Antrag kritisch werte, so freue ich mich doch darauf,
dass der Auswärtige Ausschuss sich mit diesem Antrag
noch einmal im Detail befassen wird. Wir bitten deshalb
darum, den Antrag an die Ausschüsse zur weiteren Bera-
tung zu überweisen.
Harald Leibrecht (FDP): Nicht nur die amerika-
nischen Vorwahlen werden derzeit von den beiden
Schlagworten „Hoffnung“ und „Wandel“ dominiert. Nein,
dieselben Worte hört man gegenwärtig auch in Bezug auf
Russland und den neuen Präsidenten Dmitrij Medwedew.
Aber ist diese Hoffnung auf einen Wandel wirklich ge-
rechtfertigt in Bezug auf Russland?
Nun, die Worte, die man vor und während der Wahl
von Herrn Medwedew hören konnte, weisen durchaus in
diese Richtung. Erstaunlich offen und selbstkritisch hat
er vor seiner Wahl auf Missstände und Probleme in
Russland hingewiesen und versichert, alles Notwendige
zu tun, um diese zu beseitigen. Aber wird der neue Präsi-
dent seinen Worten auch Taten folgen lassen? Kann er es
überhaupt? Nun, an seinem Willen, Russland positiv zu
verändern, zweifle ich gar nicht – eher an seinen Mög-
lichkeiten.
Es gibt zwei wesentliche Faktoren, an denen Herr
Medwedew scheitern könnte: erstens an Wladimir Putin
und zweitens am sogenannten russischen System. Hinzu
kommt: Die so häufig gepriesene Stabilität allein reicht
nicht, um Russland nach dem Willen Putins bis zum
Jahre 2020 zu „einem der globalen Spitzenreiter“ zu ma-
chen.
Damit diese Stabilität nicht vollkommen in Stillstand
mündet, müssen Probleme wie Rechtsnihilismus und
Korruption in Russland schnellstens angegangen wer-
den. Greifen werden Veränderungen dort aber nur dann,
wenn sie nicht wie bisher nur von oben angeordnet, son-
dern auch von den Menschen im Land mitgetragen wer-
den.
Damit die angekündigten Reformen nicht im Sumpf
der russischen Bürokratie untergehen, ist es wichtig,
dass das russische Volk nicht länger von Staatsseite
drangsaliert und absolut kontrolliert wird. Echte und
nachhaltige Veränderungen sind nur mit einer Zivilge-
sellschaft möglich, die frei denken und politisch mitge-
stalten kann.
Ich möchte an dieser Stelle aber nicht nur die innen-
politische Lage Russlands ansprechen. Die nächsten
Monate und Jahre werden zeigen, was in Medwedew
wirklich steckt und ob Russland fähig und bereit ist, ein
moderner, globaler Spitzenreiter zu werden. Stattdessen
möchte ich jetzt noch etwas zur Zusammenarbeit zwi-
schen der EU und Russland sagen; denn das ist ein Be-
reich, in dem der Amtsantritt Medwedews wirklich eine
Neuerung bringen könnte. Denn wie der designierte rus-
sische Präsident bereits angekündigt hat, wird er sich
verstärkt der Außenpolitik widmen. Dies lässt sowohl
auf eine entspanntere Politik mit den USA als auch mit
der Europäischen Union hoffen.
Herr Medwedew hat ja bereits seinen Willen signali-
siert, enger mit der der EU zusammenarbeiten zu wollen.
Dabei kann nur von Vorteil sein, dass er kein Kind des
russischen Geheimdienstes ist und er somit nicht in je-
dem Fremden einen Feind sieht. Einen positiven Anfang
für eine zukünftige konstruktive Zusammenarbeit zwi-
schen der EU und Russland sehe ich in dem Angebot
Russlands, dringend benötigte Hubschrauber für die EU-
Schutztruppe im Tschad bereitzustellen. Aber auch die
Europäische Union ist aufgerufen, ihren Umgang mit
Russland neu auszurichten. Auch wenn es innerhalb der
EU-Mitglieder immer wieder verschiedene Interessen in
Bezug auf Russland geben wird, so darf sich die EU hier
nicht spalten lassen. Nicht in der Gemeinschaft abge-
stimmte nationale Alleingänge darf es in Zukunft nicht
mehr geben.
Wenn die Europäische Union in Russland einen be-
rechenbaren und verlässlichen Partner haben will, muss
sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Transparenz
und Konsens sind das Erfolgsrezept der EU. Warum
sollte das, was zu Sicherheit und Wohlstand in ganz Eu-
ropa geführt hat, nicht auch für Russland funktionieren?
Deutschland kann und muss hierbei eine wichtige – eine
vermittelnde – Rolle einnehmen.
Wir begrüßen es daher, dass Bundeskanzlerin Merkel
am Samstag der Einladung der russischen Regierung
Folge leistet und nach Moskau reist, um das neue Füh-
rungsduo Medwedew-Putin zu treffen. Bedauerlich ist
nur, dass offenbar keine Zeit bleibt, um sich auch mit an-
deren Persönlichkeiten, zum Beispiel aus den Reihen der
oppositionellen Kräfte, zu treffen. So positiv und hoff-
nungsvoll die derzeitigen Zeichen auch sind, so sollten
wir doch nicht vergessen, dass es in Russland weiterhin
große demokratische Defizite gibt und dass die Wahl
Medwedews weder frei noch fair war.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): „Eine gerechte, ge-
samteuropäische Friedensordnung vom Atlantik bis nach
Wladiwostok, jetzt sollte es endlich Wirklichkeit wer-
den!“ Dieser kluge Satz stammt nicht von Willy Brandt,
er ist auch nicht eine Losung der Friedensbewegung, die-
ser Satz stammt von Bundesaußenminister Steinmeier.
Sollte die deutsche Außenpolitik sich auf den Weg zu ei-
ner europäischen Ostpolitik begeben, würde Die Linke
sich in Zukunft auf Herrn Steinmeier beziehen, so wie
sich die Linke auf Willy Brandt bezieht.
Mein Kollege Wolfgang Gehrcke hat im Namen mei-
ner Fraktion bereits eine Neuauflage der Konferenz über
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Rahmen
der OSZE gefordert. Wir müssen endlich wieder über
Abrüstung auf unserem Kontinent reden.
Ich habe die Rede des Außenministers vor der Willy-
Brandt-Stiftung aufmerksam gelesen. Leider habe ich
eine bedeutende Aussage des großen Sozialdemokraten
Brandt vermisst: „Von deutschem Boden darf nie wieder
Krieg ausgehen“. Warum zitiert er diesen Satz nicht?
Der Außenminister bezieht sich auf die KSZE und die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15689
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Charta von Paris. Der KSZE-Vertrag duldet Grenzverän-
derungen in Europa nur im gegenseitigen Einverneh-
men. Warum verletzt die Bundesregierung mit der Aner-
kennung des Kosovo diesen Vertrag so eklatant?
Wer diese Fragen nicht beantworten möchte, der wird
Russland nicht verstehen. Ich meine, das Verständnis
Russlands ist im Interesse Europas, so wie ein guter
Schachspieler sein Gegenüber verstehen muss, um sei-
nen nächsten Zug zu planen. Der Antrag der Grünen ge-
nügt weder diesem noch Steinmeiers Anspruch: An kei-
ner Stelle gestehen sie Russland berechtigte Sorgen über
seine Sicherheitsinteressen zu. Die Ausdehnung der
NATO an Russlands Grenzen im Westen und zuneh-
mend im Süden wird nicht erwähnt. Die NATO-Avancen
der USA gegenüber Georgien, Aserbaidschan und Ar-
menien werden ignoriert. Sie ignorieren damit aber nicht
nur Russland, sondern gefährden eine gesamteuropäi-
sche Friedensordnung.
Serbien verfügt über eine demokratische Regierung
und war bereit, dem Kosovo Autonomie zu geben. Russ-
land musste bereits einmal gegen Ende des Jugoslawien-
Krieges den Abwasch für die NATO erledigen. Die Bun-
desregierung aber wollte die große jugoslawische Tragö-
die mit der einseitigen Anerkennung fortsetzen. Der spa-
nische Außenminister verglich dies mit dem Irakkrieg.
In der Tat, ohne das Kosovo hätte es den Irakkrieg so
nicht gegeben. Russland hat in beiden Konflikten eine
vorbildliche Rolle eingenommen, weil es seit dem Ende
des Kalten Krieges gelernt hat, dass sich Hochmut ge-
genüber dem Völkerrecht eines Tages rächen wird.
Der Versuch der USA, Europa über das Raketenab-
wehrsystem zu spalten. Ich habe ihn in Ihrem Antrag
nicht gefunden. Die Kritik an der NATO, dass der KSE-
Vertrag bislang nicht ratifiziert wurde. Ich habe erfolglos
gesucht.
Lassen sie mich auch noch ein paar Worte zur Ener-
gieaußenpolitik verlieren: Meine Fraktion steht für die
Energiewende statt heißer Kriege. Wir müssen gewaltige
Investitionen in neue Energien mobilisieren. Es gibt aber
eine große Verwirrung: Europa ist darauf angewiesen,
dass Russland in seine Energieinfrastruktur investiert.
Sie wünschen sich eine engere Zusammenarbeit bei der
Energiepolitik. Für beides brauchen Sie einen staatlichen
Ansprechpartner. Gleichzeitig fordern Sie unablässig die
Privatisierung des Zugangs zum Energiesektor. Wie
möchten Sie denn Russland zur Kooperation bewegen,
wenn Ihr Ansprechpartner nicht mehr Medwedew son-
dern Roman Abramowitsch heißt? Sie sehen doch, wo-
hin private Energiekartelle in Europa führen. Wir brau-
chen stattdessen einen multilateralen Energiedialog.
Die Russen haben Dimitrij Medwedew zum Präsiden-
ten bestimmt. Der politische Wettbewerb in Russland
war eingeschränkt. Wir alle wünschen uns, dass dies in
Zukunft anders wird. Es gibt trotz unserer Sorge an der
Fairness der russischen Wahlen aber keinen Zweifel,
dass die große Mehrheit der Russen Kontinuität
wünscht.
Wir stellen große Erwartungen an den Präsidenten,
insbesondere was die Unabhängigkeit der Justiz anbe-
langt. Wir verurteilen die Einschränkung der Pressefrei-
heit, ob durch staatliche Organe, wie in Russland, oder
wirtschaftliche Macht, wie in den USA oder Europa. De-
mokratien sind immer absolut, oder sie sind nicht. Un-
sere Stimme hätte daher größeres Gewicht in Russland,
wenn wir nicht nur die Worte Willy Brandts, sondern die
des Bundespräsidenten Gustav Heinemann beherzigen
würden: Wer immer nur mit dem Finger auf andere
zeigt, auf den zeigen drei Finger zurück.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Dass die Bundeskanzlerin schon am Sonn-
abend, also weniger als eine Woche nach der Bestäti-
gung Dimitrij Medwedews als Nachfolger Putins, nach
Moskau reist, ist richtig. Russland ist und bleibt einer
der wichtigsten Partner- und Nachbarstaaten der Europäi-
schen Union; es hat gebührende Aufmerksamkeit ver-
dient. Eine Bewertung des Vorgangs am 2. März als de-
mokratische Wahl ist mit diesem Besuch hoffentlich
nicht gemeint, sondern einfach die Anerkennung der
Tatsachen. Noch besser wäre es allerdings, wenn Frau
Merkel nicht allein reiste, sondern zusammen mit Nicolas
Sarkozy und Gordon Brown. Dieser Wunsch ist natürlich
nicht wörtlich gemeint, sondern er soll ausdrücken, dass
die wichtigste Forderung an die EU ist, ihr größtes Defi-
zit im Verhältnis zu Russland zu beheben, nämlich man-
gelnde Geschlossenheit.
Warum wurde die staatliche Unterstützung für die
Ostseepipeline ohne ausreichende Konsultation mit den
Anrainerstaaten zwischen Russland und Deutschland
ausgehandelt und verkündet? Die Berechtigung dieses
Vorwurfs, der sich ja durchaus auch an die rot-grüne,
also unsere damalige eigene Regierung richtet, hat sich
in den letzten zweieinhalb Jahren mehrfach bestätigt.
Jüngste Folge ist das drohende Scheitern des bisherigen
Finanzierungsmodells, weil sich die EU wegen der poli-
tischen Ablehnung des Projekts durch einige ihrer Mit-
gliedstaaten nicht auf einen zinsverbilligten Kredit der
Europäischen Investitionsbank einigen kann. Warum
musste Polen nach dem offensichtlich politisch motivier-
ten russischen Importstopp für polnische Fleischerzeug-
nisse erst ein Veto gegen die Neuverhandlung des Part-
nerschafts- und Kooperationsabkommens einlegen? Eine
derart demonstrative Uneinigkeit der EU zu provozieren,
ist nicht nur der seinerzeitigen – zugegeben – wenig di-
plomatischen Kaczynski-Regierung anzulasten, sondern
auch Ergebnis mangelnder Solidarität innerhalb der EU.
Bilaterale Abkommen von EU-Staaten mit Russland
unterlaufen immer wieder geltende EU-Absprachen
oder -Interessen. Genannt seien nur beispielhaft die grie-
chische Weigerung, einem EU-Vorschlag für Verbin-
dungsoffiziere an den Grenzen der separatistischen Ge-
biete in Georgien zuzustimmen, um Russland nicht zu
verärgern, oder die Unterzeichnung eines Abkommens
von Gazprom mit Bulgarien zur Trassierung der Kon-
kurrenz-Pipeline zu Nabucco – dies unter aktiver Beteili-
gung des italienischen Energiekonzerns ENI.
Ohne eine geschlossene Haltung der EU kann das po-
litisch wie wirtschaftlich zentralistisch organisierte
Russland die einzelnen EU-Staaten immer wieder ge-
geneinander ausspielen. Denn natürlich werden partiku-
15690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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lare Interessen bedient, wenn ein gemeinsames Vorgehen
zum Nutzen aller nicht in Sicht ist. Diese Erkenntnis ist
so banal wie bisher folgenlos, die EU droht ein Papierti-
ger zu werden. Es ist kein Wunder, wenn russische Poli-
tiker sie nicht ernst nehmen. Aber es ist ein Problem –
nicht nur für die EU und ihre unmittelbaren Interessen,
sondern auch für die Partner in Russland selbst, die an
einer Annäherung an die EU und an ihren Standards in-
teressiert sind.
Die sogenannten Wahlen verliefen nach quasi-sowje-
tischem Muster: Zur Kandidatur wurde nur zugelassen,
wen der Kreml tolerierte. Die überregionalen elektroni-
schen Medien, vollständig staatlich kontrolliert, warben
ausschließlich für den von Präsident Putin ernannten
Nachfolger Dimitrij Medwedew und räumten anderen
Kandidaten kaum Platz ein. Die Nichtregierungsorgani-
sation „Golos“ dokumentierte versuchten Stimmenkauf,
vor Wahlbeginn bereits mit Stimmzetteln gefüllte Wahl-
urnen und den Ausschluss von Wahlbeobachtern anderer
Parteien. Vor allem in der Provinz und in der Armee
wurde offenbar Druck ausgeübt, Medwedew zu wählen.
In Anbetracht des weit verbreiteten Desinteresses an ei-
ner Wahl, die bereits entschieden war, scheint auch die
Wahlbeteiligung von fast 70 Prozent mehr als unwahr-
scheinlich. Oppositionelle gehen davon aus, dass die
Wahlergebnisse wie auch bei den Dumawahlen vom
Kreml vorgegeben werden. Das bedeutet: Trotz absehba-
ren eindeutigen Siegs für Mewedew wurden die Wahlen
dennoch manipuliert. All dies erinnert an die Inszenie-
rungen aus sowjetischen Zeiten – etwas moderner ge-
stylt, etwas subtiler und damit auch von außen schwerer
als die Farce erkennbar, die es dennoch ist.
Es war deshalb richtig, dass ODIHR und diesmal
auch die Parlamentarische Versammlung der OSZE sich
nach massiver Behinderung der geplanten Langzeitbeob-
achtung durch die russischen Behörden entschieden ha-
ben, auf eine Wahlbeobachtung zu verzichten. Die Regu-
larien der OSZE sind verbindlich, und sie sind ein
schützenswertes Gut. Dem offensichtlichen Versuch des
Kremls, sie zu unterlaufen und zu schwächen, darf nicht
nachgegeben werden. Der kooperative Anspruch der
OSZE, entstanden im Kalten Krieg, ist kein Freibrief für
Beliebigkeit. Dies gilt umso mehr für den Europarat als
einer Organisation, die ausdrücklich auf dem Konsens
demokratischer und menschenrechtlicher Werte beruht.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates ent-
sandte eine Delegation zur Beobachtung des Wahlver-
laufs. Ihre Bewertung war: Die Wahlergebnisse entspre-
chen dem Willen der Wählerschaft, aber das – Zitat –
„demokratische Potenzial der Wählerschaft wurde nicht
ausgeschöpft“. Mit dieser sehr diplomatischen Formulie-
rung bestätigte sie zwar indirekt die Bewertung der Wah-
len als Farce. Aber klare Worte wären angebrachter ge-
wesen.
Dass aller Wahrscheinlichkeit nach eine Mehrheit für
Medwedew auch unter normalen Bedingungen zustande
gekommen wäre, ist keine Entschuldigung für man-
gelnde Fairness und verbreitete Manipulationen. Wahlen
sind Wahlen und keine bloßen Stimmungsbilder. Prog-
nosen über die zukünftige Politik sind weitgehend spe-
kulativ. Medwedew hat kein ausformuliertes Programm.
Seine kritischen Aussagen zur Korruption und zur Justiz
unterscheiden sich nicht von denen Putins vor acht Jah-
ren. Der Umstand, dass er selbst nicht aus dem Geheim-
dienst kommt, heißt wenig. Denn seine bisherige Karri-
ere ist durch absolute Loyalität zu Putin gekennzeichnet.
Er ist Aufsichtsratsvorsitzender von Gazprom, eines
Konzerns, der nicht zuletzt den Reichtum und die Inter-
essen des Kremls auch im Ausland wahren soll. Medwe-
dews liberales Image ist vor allem ein Produkt der PR-
Strategie des Kremls. Aber selbst wenn es, was keiner
weiß, berechtigt sein sollte: Er hat die Hypothek einer
auf tönernen Füßen stehenden Stabilität zu tragen, die
Putin hinterlässt.
Neben der grassierenden Korruption, der Rechtsunsi-
cherheit und dem wachsenden bürokratischen Wasser-
kopf liegen die zukünftigen Aufgaben vor allem im Be-
reich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die einseitige
Branchenstruktur der russischen Wirtschaft macht sie
von der Rohstoffwirtschaft abhängig. Die Inflation
steigt, und die dem Wahlkampf geschuldete Subventio-
nierung der Lebensmittelpreise muss in wenigen Mona-
ten wieder aufgehoben werden. Auch die Energiepreise
werden noch immer massiv subventioniert, was die un-
geheure Energieverschwendung fördert. Die Investitio-
nen in die Rohstoffförderung sind unzureichend. Der
Energieverbrauch ist extrem hoch, die Energieeffizienz
extrem niedrig. Bildungs- und Gesundheitswesen sind
unterversorgt. Vor allem die staatlich kontrollierten Be-
triebe sind chronisch ineffizient. Zwar ist der Wohlstand
der Bevölkerung in den letzten Jahren insgesamt gestie-
gen, aber die soziale Schere hat sich immer weiter geöff-
net.
Viele Beobachterinnen und Beobachter, vor allem im
westlichen Ausland, leiten aus Medwedews bisherigen
Äußerungen, wie der Kritik am „Rechtsnihilismus“ in
Russland und seinem Plädoyer für die Entwicklung der
Zivilgesellschaft, Hoffnungen auf Veränderungen ab.
Aber nur wenn Medwedew Worte in Taten umsetzt,
Rechtssicherheit und das Rechtsverständnis in Russland
stärkt und der Zivilgesellschaft tatsächlich wieder mehr
Raum gibt, kann er das politische System Russlands öff-
nen, dadurch stärken und auf eine solidere Basis stellen.
Das von Putin installierte System zur Stabilisierung
des Staates hat grundsätzliche Schwächen. Die starke
Zentralisierung führt zu einem aus sowjetischen Zeiten
bekannten Mangel an Feedbackmechanismen. Und die
Zuspitzung auf eine Person macht das ganze System äu-
ßerst anfällig. Vielleicht ist diese Erkenntnis ein Grund
für Putins Versuch, ein zweigeteiltes Modell einzufüh-
ren. Der Präsident hat weitreichende Kompetenzen, auch
wenn er weniger durchsetzungsfähig als Putin sein mag.
Demgegenüber ist der Ministerpräsident sehr einge-
schränkt und diente bisher als eine Art Punchingball für
Fehler und Missstände. Diese Funktion will Putin sicher
nicht besetzen. Schon musste der gegenwärtige und noch
bis Mai amtierende Ministerpräsident dem Vernehmen
nach seine Büros räumen, um der Renovierung einer
ganzen Etage nach Wünschen des neuen Herrn Platz zu
machen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15691
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Solange wir weitgehend auf Geschichten dieser Art
angewiesen sind, um feststellen zu können, wer in Russ-
land etwas zu sagen hat, ist eines klar: Begriffe wie Be-
rechenbarkeit, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und De-
mokratie, und damit auch ein Begriff wie „strategische
Partnerschaft“ bekommen, angewandt auf das heutige
Russland, eine ganz neue Bedeutung.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Verbot des Neonazi-
Schulungszentrums und Vereins „Collegium
Humanum“ prüfen (Tagesordnungspunkt 20)
Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Es gibt
für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion keinen Zweifel,
dass Vereine, die sich zum Sammelbecken organisierter
Holocaustleugner entwickelt haben oder von Anfang an
darauf ausgerichtet waren, keinen Platz in unserer frei-
heitlich-demokratischen Gesellschaft beanspruchen kön-
nen. Insofern begrüßen wir das Anliegen des vorliegen-
den Antrages ausdrücklich. Denn mit wem haben wir es
hier zu tun?
Das Collegium Humanum ist nach Ansicht aller Ex-
perten nichts anderes als ein Sammelbecken organisier-
ter Holocaustleugner. Seine Vereinsliegenschaften die-
nen Revisionisten und Neonazis als Anlaufpunkt. Die
aggressive Propagierung der Holocaustleugnung erfolgt
in Seminaren, sonstigen Veranstaltungen und Publikatio-
nen nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in
anderen Bundesländern. Vertreter des Collegiums reisten
auf die sogenannte Holocaust-Konferenz im Iran und
sprechen in einer ihrer Publikationen allen Ernstes von
der „Lösung der Judenfrage“. Das ist nicht nur wider-
lich, sondern ohne jeden Zweifel weit jenseits dessen,
was unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft er-
tragen kann und ertragen muss. Das Collegium Huma-
num ist jedoch nicht alleine. Es ist eng verflochten mit
dem „Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens
des Holocaust Verfolgten“. Dieser Verein dient, und das
sagt schon sein Name, keinem anderen Zweck als der
Verwirklichung des Straftatbestandes der Volksverhet-
zung. Wenn ich sage, dass wir das Anliegen der Grünen
teilen, dann heißt das leider auch, dass der Antrag unse-
res Erachtens trotz alledem zu kurz greift, und zwar an
zwei zentralen Stellen. Erstens fordern die Grünen zwar
die Prüfung eines Verbotes des Vereins Collegium Hu-
manum, vergessen aber zugleich, die Prüfung eines Ver-
botes des „Vereins zur Rehabilitierung der wegen Be-
streitens des Holocaust Verfolgten“ zu fordern. Für
diesen Verein gilt jedoch das Gleiche wie für das Colle-
gium. Ein eventuelles Verbot des Collegiums macht nur
Sinn, wenn beide Vereine zugleich ihre Umtriebe ein-
stellen müssen. Es ist sogar darüber hinaus zu fragen, ob
es nicht noch weitere Vereine im Dunstkreis des Colle-
giums gibt, die eines kritischen Blickes bedürfen. Zwei-
tens. Sie fordern, im Benehmen mit den zuständigen
Ministerien darauf hinzuwirken, dass dem Collegium
Humanum die steuerrechtliche Gemeinnützigkeit ab-
erkannt wird. Ich verstehe Ihren Punkt. Auch die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion plädiert ohne Wenn und Aber
dafür, dass extremistische Vereine nicht gemeinnützig
sein können. An dieser Stelle muss ich aber auch eine
Lanze für unsere Finanzministerien brechen. Man tut
sich von Berlin aus leicht, sich über die Gemeinnützig-
keit zu erregen. Und wir erregen uns ja auch mit Fug und
Recht, weil eigentlich nicht nachzuvollziehen ist, wie
extremistische Vereine den Stempel der Gemeinnützig-
keit bekommen können, wo sie doch tatsächlich gemein-
schädlich sind. Aber wir sind auch ein Rechtsstaat. Und
auch die Frage nach der Gemeinnützigkeit muss sich
letztlich in einem rechtsstaatlichen Verfahren bewähren.
Es ist im Einzelfall oft äußerst schwer, den Verdacht auf
extremistische Umtriebe einer Organisation mit Bewei-
sen zu untermauern, die gerichtsfest sind. So muss die
Finanzbehörde in jedem Einzelfall ganz konkret nach-
weisen, dass zum Beispiel Volksverhetzungen der Ver-
einsvertreter dem Verein als eigene Handlungen zuzu-
rechnen sind. Unseres Erachtens kann dieser Nachweis
im Falle des Collegium Humanum gelingen. Jedoch
müssen wir den zuständigen Ministerien auch zugeste-
hen, dass sie diese Prüfungen sauber und konsequent
durchziehen. Und das dauert manchmal eben leider seine
Zeit. Das ist aber immer noch besser, als mit Schnell-
schüssen zu riskieren, dass extremistische Organisatio-
nen vor Gericht obsiegen. Denn das wäre Wasser auf die
Mühlen der Extremisten. Dies bitte ich nur stets zu be-
denken. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der fes-
ten Überzeugung, dass wir keine Vereine in Deutschland
dulden können, die unsere verfassungsmäßige Ordnung
zu unterminieren versuchen. Gerade deshalb bitten aber
alle demokratischen Fraktionen in diesem Hohen Haus
auch darum, die Extremismusbekämpfung mit offenen
Augen zu betreiben.
Wolfgang Spanier (SPD): Seit Jahren ist das Colle-
gium Humanum in Vlotho, im ostwestfälischen Kreis
Herford, ein Zentrum alter und junger Nazis. Mit dem
Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des
Holocaust Verfolgten wurde im Collegium Humanum
eine internationale Sammlungsbewegung der Holocaust-
leugner gegründet. Ein ständiger Referent in den letzten
Jahren im Collegium Humanum ist Horst Mahler, be-
kannt für seine antisemitischen Hetzreden und Weltver-
schwörungstheorien. Das Collegium Humanum wird
bundesweit von NPD-Anhängern, militanten Neonazis,
Auschwitzleugnern und Nationalrevolutionären benutzt.
Auch die ostwestfälische Neonaziszene nutzt das Colle-
gium Humanum für Veranstaltungen und für Schulungs-
seminare.
Seit langem wird aus der Bürgerschaft heraus das Ver-
bot und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit des Col-
legium Humanum gefordert. Unsere Demokratie muss
wehrhaft sein gegen ihre rechtsextremen Feinde. Ein
Verbot des Collegium Humanum wäre ein wichtiges und
richtiges politisches Signal. Es ist aber nicht nur staatli-
ches Handeln gefordert. Notwendig ist ein Engagement
gegen Rechtsextreme auf allen politischen Ebenen, von-
seiten aller demokratischen Parteien und aller Bürgerin-
nen und Bürger. Das Vlothoer Bündnis gegen das Colle-
15692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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gium Humanum ist ein ermutigendes Beispiel. Die
Bürgerinnen und Bürger in Vlotho – an der Spitze der
Bürgermeister dieser Stadt, Bernd Stute – wenden sich
entschieden gegen dieses Nazi-Zentrum. Neben der
Stadt Vlotho und dem Bürgermeister haben sich alle
Ratsfraktionen, alle Kirchengemeinden, der DGB, die
weiterführenden Schulen, die Vlothoer Weiterbildungs-
einrichtungen sowie zahlreiche Vereine und Gruppen zu
einem Bündnis zusammengeschlossen.
Als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des
Kreises Herford habe ich das demokratische Engage-
ment dieses Bündnisses immer unterstützt. Ich unter-
stütze selbstverständlich die Initiative des Bundestages,
in der noch einmal bekräftigt wird, das Verbot des Colle-
gium Humanum zu prüfen und durchzusetzen. Ich unter-
stütze dieses Anliegen nicht nur persönlich, sondern ich
spreche hier auch für die gesamte SPD-Bundestagsfrak-
tion und selbstverständlich auch für die Sozialdemokra-
tinnen und Sozialdemokraten in Vlotho und im Kreis
Herford.
Christian Ahrendt (FDP): Die Forderung nach ei-
nem Verbot des Schulungszentrums und seinem Träger-
verein Collegium Humanum, die die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem heute zur Debatte stehenden Antrag
stellt, zeigt deutlich das Bedürfnis und die Notwendig-
keit, Rechtsextremismus intensiv bekämpfen zu wollen.
Diese Forderung begrüßen wir.
Der Verein wird jedoch bereits vom Verfassungs-
schutz beobachtet. Ein Verbotsverfahren wird vorberei-
tet. Man muss sich daher die Frage stellen, wie man am
erfolgversprechendsten gegen einen rechtsextremisti-
schen Verein vorgehen kann. Überreaktionen und über-
stürztes Handeln bringen uns da nicht weiter. Eine parla-
mentarische Initiative gibt den Extremisten eine neue
Plattform in der Öffentlichkeit und einen Nährboden für
propagandistische Aktivitäten. Damit könnte der Verein
mittelbar gestärkt werden. Zudem könnte sich der Verein
in der Zeit gesetztreu verhalten oder die Zeit dazu nut-
zen, Vereinsvermögen auf andere Träger zu verteilten.
Unstrittig gehören verfassungsfeindliche Körperschaf-
ten verboten. Die Politik muss jedoch auch mit vollstem
Engagement an der Bekämpfung der Ursachen von
Rechtsradikalismus arbeiten. Ein wichtiges Ziel soll da-
her auch sein, über Rechtsextremismus nicht mit erhobe-
nem Zeigefinger zu informieren, sondern auf Aufklä-
rung und nachhaltige Prävention zu setzen. Daneben
müssen alle den Verein fördernden Mittel und Möglich-
keiten abgeschnitten werden. Strafbare Handlungen
müssen unnachgiebig verfolgt und geahndet werden.
Holocaustleugnungen und schamlose Verherrlichung des
Nationalsozialismus, die die politischen Aussagen des
Collegium Humanum prägen, dürfen nicht tatenlos ge-
duldet werden.
Zu betonen ist, dass das Collegium Humanum keine
reine Schulungsstätte ist. Es wird eine Politik betrieben,
die sich im Wirken mehrerer Vereine manifestiert. Ne-
ben dem Trägerverein gibt es noch den Verein Gedächt-
nisstätte und den Verein zur Rehabilitierung der wegen
des Bestreitens des Holocaust Verfolgten, von dem eine
internationale Sammlungsbewegung von Holocaustleug-
nern angestrebt wird. Schließlich gibt es den aktuellen
Presseberichten zur Folge die Bauernhilfe e. V., an die
das Vermögen des Collegium Humanum für den Fall ei-
nes Verbots überschrieben würde. Laut Satzung fördert
sie zwar den ökologischen Landbau, hat jedoch perso-
nelle Verknüpfungen mit dem Collegium Humanum.
Man sieht also, wie perfide die rechtsextremistischen
Vereine agieren. Unbegreiflich ist daher, warum solchen
Vereinen die Gemeinnützigkeit nicht aberkannt wird.
Das Zentrum erfüllt regional und bundesweit eine wich-
tige Funktion für die rechte Szene. Es ist umso skandalö-
ser, dass dieser Umstand zu der vermeintlichen Hürde
führt, dass sich für die staatliche Förderung niemand
verantwortlich fühlt. Obgleich seit Jahrzehnten neona-
zistische und antisemitische Aktivitäten des Vereins be-
kannt sind, sind die Behörden untätig geblieben.
Das muss man sich erst auf der Zunge zergehen las-
sen: Während der Verfassungsschutz die Akademie als
rechtsextrem einstuft, weil Hitler als Friedenspolitiker
angepriesen und der Holocaust geleugnet wird, wird
zeitgleich das Collegium Humanum vom Finanzamt ge-
fördert, indem es dem Verein den Siegel der Gemeinnüt-
zigkeit verleiht. Das bedeutet, dass der braune Klub von
der Steuerpflicht befreit ist und seinen Spendern Quit-
tungen fürs Finanzamt ausstellen darf. Für den Status der
Gemeinnützigkeit muss die Körperschaft nach dem Ge-
setz einen anerkannten gemeinnützigen Zweck fördern.
Im Fall des Collegium Humanum hat das zuständige Fi-
nanzamt Herford die Förderung der Erziehung, Volks-
und Berufsbildung sowie Studentenhilfe bescheinigt. Ein
Überbieten dieser grotesken und absurden Situation ist
kaum denkbar.
Mit der Aberkennung der Gemeinnützigkeit geht
auch die Forderung einher, strengere Voraussetzungen
an den Titel der Gemeinnützigkeit und deren bessere
Kontrolle zu schaffen.
Die Bundesregierung muss der Verherrlichung des Na-
tionalsozialismus konsequent entgegentreten und voll-
umfänglich Maßnahmen zur Prävention und Strafverfol-
gung ausschöpfen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wer die Presse zum Col-
legium Humanum verfolgt, könnte denken, dieses Zen-
trum der Volksverhetzer und Antisemiten sei erst kürz-
lich eröffnet worden. Denn jahrelang störte sich fast
niemand an den regelmäßigen Treffen von Alt- und Neo-
faschisten in Vlotho.
Tatsächlich handelt es sich beim Collegium Huma-
num um eines der ältesten, seit den 60er-Jahren genutz-
ten Tagungshäuser der extremen Rechten. Faschisten
von der NPD über die sogenannten Freien Kamerad-
schaften bis zu esoterisch ausgerichteten Nazikreisen
tummeln sich dort im Wochentakt. Mit dem ausgerech-
net zum Jahrestag der Reichspogromnacht 2003 ins Le-
ben gerufenen „Verein zur Rehabilitierung der wegen
Bestreitens des Holocaust Verfolgten“ wurde das Colle-
gium Humanum zum regelrechten Zentrum der Holo-
caustleugner aus aller Welt. Eine Vielzahl Mitarbeiter
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15693
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und Referenten des Collegium Humanum sind bereits
wegen Volksverhetzung und ähnlicher einschlägiger De-
likte vorbestraft.
Das Collegium Humanum und der Verein der Holo-
caustleugner sind also nicht erst seit gestern ein Pro-
blem. Ich frage mich daher, warum die vorangegangene
sozialdemokratische Landesregierung von Nordrhein-
Westfalen hier nicht gehandelt hat. Oder warum die Grü-
nen nicht bereits während ihrer Zeit in der Bundesregie-
rung einen entsprechenden Antrag zum Verbot des Col-
legium Humanum eingebracht haben.
Insbesondere kritisiere ich die Informationspolitik der
Bundesregierung und der nordrhein-westfälischen Lan-
desregierung. Die Fraktion Die Linke im Bundestag und
auch die Grünen im Landtag von NRW haben wiederholt
Anfragen zum Collegium Humanum gestellt.
Der Innenminister von NRW, Ingo Wolf, bestreitet
schlicht die Zuständigkeit seines Ministeriums, da das
Collegium Humanum durch eine Publikation bundesweit
tätig sei. Vor einem Jahr fragten wir daher, ob die Bun-
desregierung die Ansicht des nordrhein-westfälischen
Innenministeriums teilt, dass ein Verbot des Collegium
Humanum im Zuständigkeitsbereich des Bundesinnen-
ministeriums liegt. Aus sogenannten operativen Grün-
den wollte die Bundesregierung schon diese Frage nach
der Zuständigkeit nicht beantworten. Natürlich gab es
auch keine Antwort auf unsere Frage, welche Verbots-
möglichkeiten es denn gäbe.
Das nordrhein-westfälische Finanzministerium wies
eine Anfrage nach der Gemeinnützigkeit des Collegium
Humanum mit dem Hinweis auf das Steuergeheimnis ab.
Recherchen der Tagesschau brachten diese Gemeinnüt-
zigkeit ans Licht. Volksverhetzung, Holocaustleugnung
und Antisemitismus sind also steuerlich absetzbar.
Die Bundesregierung hatte in ihrer Antwort auf die
Große Anfrage der Linksfraktion zum Thema Rechtsex-
tremismus im Frühjahr 2007 erklärt: „Die Vermeidung
der steuerrechtlichen Anerkennung der Gemeinnützig-
keit von verfassungswidrigen Körperschaften ist Teil der
ganzheitlichen Strategie der Bundesregierung“ gegen
Rechtsextremismus. Im Falle des Collegium Humanum
hat diese ganzheitliche Strategie offenbar bislang nicht
gegriffen.
Im Dezember letzten Jahren verkündete die Innenmi-
nisterkonferenz dann vollmundig, rechtsextremen Verei-
nen die Gemeinnützigkeit entziehen zu wollen. Was hier
als neue Maßnahmen gegen Rechtsextremismus ange-
priesen wurde, war allerdings schon seit Jahren gültiger
Beschluss des Bundestages. Es wurde schlicht Wähler-
täuschung betrieben, bisherige Versäumnisse sollten
durch vorgetäuschten Aktionismus offenbar unter den
Tisch gekehrt werden.
Das Bundesinnenministerium ist daher aufgefordert,
Stellung zu beziehen, warum solche seit langem existie-
renden Beschlüsse zur Aberkennung der Gemeinnützig-
keit und sonstiger staatlicher Förderung rechtsextremer
Vereinigungen auf das Collegium Humanum bislang
noch keine Anwendung fanden. Wir haben dazu jetzt er-
neut eine Kleine Anfrage gestellt.
Laut Presseberichten will Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble „in Kürze“ das Collegium Huma-
num und den „Verein zur Rehabilitierung der wegen Be-
streitens des Holocaust Verfolgten“ verbieten. Das wäre
zu begrüßen, ein solches Verbot ist längst überfällig.
Da diese Verbotsabsichten vom Bundesinnenministe-
rium noch nicht offiziell bestätigt wurden, schließt sich
Die Linke dem hier vorliegenden Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen an.
Aber ich fordere Rechenschaft von der Bundesregie-
rung, warum bislang die immer wieder versprochenen
Maßnahmen gegen Vereine wie das Collegium Huma-
num keine Anwendung fanden. Die Fraktion Die Linke
hat es satt, sich von der Bundesregierung im Kampf ge-
gen Rechtsextremismus mit Floskeln und Textbaustei-
nen abspeisen zu lassen. Wir wollen endlich Taten sehen.
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Re-
pression macht aus Nazis keine Demokraten. Verbote
sollten stets das letzte Mittel der Auseinandersetzung mit
Rechtsextremismus sein; denn Meinungsfreiheit ist ein
hohes Gut in unserem Rechtsstaat. Bündnis 90/Die Grü-
nen gehen deshalb mit Verbotsforderungen sehr zurück-
haltend um; sie bleiben für uns die Ausnahme. Wir sagen
aber auch ganz klar: Meinungsfreiheit muss dort enden,
wo Verfassungsfeinde die demokratische Gesellschaft
zerschlagen wollen und vor Straftaten wie Volksverhet-
zung nicht zurückschrecken.
Das Collegium Humanum e. V. ist ein rechtsextremes
Schulungszentrum mit Sitz in Vlotho. Der Verein be-
treibt offensiv rechtsextreme Propaganda und ist ein zen-
traler Sammelpunkt der Holocaustleugner. Diese Tatsa-
che bestätigte auch die Bundesregierung in ihrer Antwort
auf eine Kleine Anfrage der grünen Bundestagsfraktion.
Dort heißt es:
Für die revisionistische Szene bietet das Collegium
Humanum organisatorische und ideologische Un-
terstützung. Einzelne deutsche Teilnehmer an der
Holocaust-Konferenz sind als Verfasser von Beiträ-
gen in der Publikation des CH, Lebensschutz-Infor-
mationen – LSI – Stimme des Gewissens (LSI) auf-
gefallen.
Die Leiterin des Collegium Humanum, Ursula
Haverbeck-Wetzel, wurde mehrfach wegen Volksverhet-
zung strafrechtlich belangt. Ungeniert bezweifelt sie den
Holocaust, zum Beispiel in der Rheinischen Post im Ja-
nuar 2008 mit den Worten: „Ich weiß nicht, ob der Völ-
kermord an den Juden tatsächlich stattgefunden hat.“
Angesichts solcher Statements wundert es nicht, dass
auch der Antisemit und Holocaustleugner Horst Mahler
immer wieder ein gern gesehener Referent im Vlothoer
Nazi-Zentrum ist.
Als Veranstaltungsort spielt das Collegium Humanum
für die ultrarechte Szene eine wichtige Rolle. Dort fin-
den Seminare, Tagungen, Konzerte und Schulungen
statt. Das Zentrum wird zum Beispiel von der NPD-na-
hen Deutschen Akademie genutzt, von der rechtsextre-
men Gesellschaft für Publizistik, den Machern des Blat-
tes „wir selbst – Zeitschrift für nationale Identität“ oder
15694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
(A) (C)
(B) (D)
freien Neonazi-Kameradschaften. Das Zusammentreffen
vieler Nazi-Akteure dort fördert die Vernetzung der
Szene, bundesweit und auch international.
Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung
auf, die Voraussetzungen für ein Verbotsverfahren zu
prüfen. Bei einem positiven Prüfergebnis – von dem wir
ausgehen – erwarten wir das zügige Einleiten eines Ver-
fahrens.
Mir wurde mehrfach die Frage gestellt, warum sich
der Bund um einen Verein in Vlotho kümmern sollte.
Das sei doch Ländersache. Schön wäre es, wenn sich die
Aktivitäten des Collegium Humanum nur auf Vlotho be-
grenzen würden! Doch leider haben wir es mit einer
überregionalen Präsenz zu tun. Veranstaltungen des
Nazi-Zentrums finden zumindest in Nordrhein-Westfa-
len und Thüringen statt, wie die Bundesregierung bestä-
tigte. Außerdem trägt das Collegium Humanum stark zur
politischen Zusammenarbeit der rechtsextremen Szene
bei. Dort sind derzeit vier Vereine angesiedelt. Einer da-
von nennt sich Verein zur Rehabilitierung der wegen des
Bestreitens des Holocaust Verfolgten. Der Name ist Pro-
gramm. Gegründet wurde dieser Verein zum Jahrestag
der Reichsprogromnacht am 9. November 2003. Die
Liste der Vereinsgründer liest sich wie das „Who’s who“
internationaler Geschichtsverfälscher. Weiterhin ist zum
Beispiel auch der Verein Gedächtnisstätte e. V. im säch-
sischen Borna angegliedert. Sein Ziel ist die Umkehr der
Schuldfrage am Zweiten Weltkrieg. Die Gefallenen der
Deutschen Wehrmacht sollen einen Gedenkort erhalten.
Auf der Internetseite liest man dazu: „Helfen Sie mit,
dass diese Schande des Verdrängens endlich ein Ende
findet und die Opfer eine würdige Gedächtnisstätte be-
kommen“. Von der Schande, welches Grauen und Ver-
derben von Hitlerdeutschland ausging, ist dabei nicht die
Rede.
Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen unakzepta-
bel, dass das Collegium Humanum jahrelang den Status
eines gemeinnützigen Vereins hatte und vielleicht sogar
noch immer hat. Solche Nazi-Aktivitäten dürfen nicht
hingenommen und sogar steuerlich gefördert werden.
Alle zuständigen Behörden müssen künftig mehr Wach-
samkeit für solche Vereine entfalten.
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass Verbote
nicht das Hauptproblem aus der Welt schaffen können.
Das Hauptproblem ist das rassistische, antisemitische,
intolerante Denken in weiten Teilen der Bevölkerung.
Ohne diese Einstellungen hätten Parteien wie die NPD
oder Vereine wie das Collegium Humanum nicht einen
solchen Zulauf. Prävention muss also unser erstes Ziel
sein. Wir brauchen mehr attraktive, demokratische Ange-
bote, die den Menschen Alternativen zur rechtsextremen
Ideologie aufzeigen. Es gibt viele engagierte Initiativen,
die in ihrer Umgebung etwas gegen die Vorherrschaft
von Nazi-Gruppen tun. Sie brauchen mehr Hilfe, Zu-
spruch und Geld. Deshalb treten Bündnis 90/Die Grünen
konsequent für eine dauerhafte politische und finanzielle
Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements ge-
gen Rechtsextremismus ein.
Dennoch gibt es Ausnahmen, in denen Prävention zu
spät kommt und staatliche Repression ausgeübt werden
muss. Das Collegium Humanum ist eine solche Aus-
nahme. Die Ziele dieses Vereins sind mit unseren Grund-
gesetzwerten nicht vereinbar. Aktivitäten deutscher
Holocaustleugner tragen nicht nur gefährliche Fehlinfor-
mationen und -haltungen in die Gesellschaft; sie schaden
auch dem Ansehen unseres Landes in der Welt.
Im Fall des Collegium Humanum ist ein Verbot nicht
nur gerechtfertigt, sondern auch geboten. Die Demokra-
tie muss seinem Treiben einen Riegel vorschieben, um
langfristig unsere Gesellschaft in ihrer Meinungsfreiheit
und Vielfalt zu erhalten.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für eine wirksamere
Kontrolle der Geheimdienste (Tagesordnungs-
punkt 21)
Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wenn wir über
Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle der Nach-
richtendienste debattieren, sollten wir uns zunächst kurz
vor Augen führen, worüber wir eigentlich sprechen.
Die Nachrichtendienste leisten einen wichtigen Bei-
trag zur Verteidigung unserer freiheitlich demokra-
tischen Grundordnung. Wir müssen unsere Freiheit
schützen und brauchen die wehrhafte Demokratie. Nur
wer die Gefahren für unsere Freiheit kennt, kann sie be-
kämpfen. Und nur wer ein verlässliches Bild von der Ge-
fährdungslage im In- und Ausland hat, kann die notwen-
digen Schritte zum Schutz unserer Freiheit einleiten.
Unser Land, unsere Freiheit und damit wir alle sind auf
besondere nachrichtendienstliche Erkenntnisquellen an-
gewiesen. Wir als demokratischer Staat brauchen Nach-
richtendienste.
Ich denke, in diesem Punkt besteht zwischen allen de-
mokratischen Parteien ein breiter, grundlegender Kon-
sens. Bezeichnenderweise kommen die Vorschläge zur
Abschaffung demokratisch kontrollierter Nachrichten-
dienste von der Linken.
Genauso richtig ist aber auch, dass sich die Nachrich-
tendienste nicht in einem rechtsfreien Raum bewegen.
Sie sind Teil der Exekutive und als solche an Recht und
Gesetz gebunden. Auch für die Nachrichtendienste gilt
der Grundsatz: Nichts geht ohne und nichts geht gegen
das Gesetz.
Wie alle staatliche Macht muss sich auch die Tätigkeit
der Nachrichtendienste demokratisch legitimieren. Dies
ist Ausdruck des Demokratieprinzips gemäß Art. 20
Grundgesetz: Alle Macht geht vom Volke aus. Wir – das
Parlament – sind Sachwalter des Volkes. Es geht also um
die legitimatorische Verknüpfung zwischen Exekutive
und Parlament. Es geht um die Schaffung von Vertrauen
in die Nachrichtendienste. Diesen Aspekt müssen wir im-
mer im Auge behalten. Parlamentarische Kontrolle richtet
sich nicht gegen die Nachrichtendienste. Sie ist nicht Aus-
druck von Misstrauen, sondern Voraussetzung für Ver-
trauen. Sie ist Voraussetzung für Vertrauen in die Dienste
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15695
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und gleichermaßen Vorraussetzung für Vertrauen in un-
sere demokratischen Institutionen – in unser Parlament.
In diesen beiden Punkten – der Notwendigkeit von
Nachrichtendiensten einerseits und der Erforderlichkeit
von parlamentarischer Kontrolle andererseits – besteht
sicherlich ein weitgehender Konsens. Dabei wird deut-
lich, dass das Transparenzprinzip des Parlaments und
das Geheimhaltungsbedürfnis der Nachrichtendienste in
ein Spannungsverhältnis treten. Es gilt, dieses Span-
nungsverhältnis vernünftig auszutarieren, ohne dass das
eine Interesse zugunsten des anderen geopfert werden
muss. Hier setzt meine Kritik am vorliegenden Antrag
an. Ihr Antrag ist in der Sache unausgewogen und fach-
lich unausgereift. Er ist sachlich schlecht, weil er den be-
sonderen Bedürfnissen der nachrichtendienstlichen Ar-
beit nach Geheimhaltung und Geheimschutz nicht
gerecht wird. Sie gefährden mit Ihren Vorschlägen die
Funktions- und Kooperationsfähigkeit der Dienste. Es
liegt in der Natur der Sache, dass es nachrichtendienstli-
che Vorgänge gibt, die nicht öffentlich behandelt werden
können. Es ist staatspolitisch unverantwortlich, sensible
Vorgänge, die die Sicherheit unseres Landes betreffen,
auf dem offenen Markt auszutragen. Wenn man prinzi-
piell von der Geheimhaltung abgeht, sind auch Gefähr-
dungen für individuelle Rechtsgüter nicht mehr auszu-
schließen. Eine Kontrolle, die auf dem offenen Markt
stattfindet, würde die Arbeit der Dienste konterkarieren
und letztlich vollends lahmlegen. Wenn Sie das wollen,
sollten sie das auch offen sagen.
Nein, in meinen Augen ist es gut, dass die Kontrolle
einem besonderen Gremium, dem Parlamentarischen
Kontrollgremium, das einer strengen Geheimhaltung un-
terliegt, vorbehalten ist. Parlamentarische Kontrolle
muss die besonderen Bedürfnisse nachrichtendienstli-
cher Arbeit nachzeichnen. Ich denke daher, dass wir am
Grundsatz der Geheimhaltung festhalten müssen, wenn
wir die Funktionsfähigkeit der Dienste nicht aufs Spiel
setzen wollen. Wenn wir die Kontrolle wirklich verbes-
sern wollen, so müssen wir das unter den Bedingungen
der Geheimhaltung schaffen.
Schließlich ist Ihr Beschlussantrag fachlich unausge-
reift. Was Sie hier betreiben, ist reine Schaufensterpoli-
tik. Sie liefern eine beliebige Absichtserklärung, die wir-
kungslos in der Luft verpufft. Es muss die Frage erlaubt
sein, was wir denn erreichen würden mit Ihrem Antrag.
Wenn man wirklich etwas verbessern will, dann muss
man sich die Arbeit machen und einen Gesetzesentwurf
vorlegen. Dieser Antrag ist wirkungslos und deshalb
kein ernsthafter Beitrag.
Deshalb sagen wir als Union: Ja, wir wollen eine Ver-
besserung des bestehenden Kontrollsystems. Wir sehen
in der Tat konkreten Veränderungsbedarf, der unter-
schiedliche Bereiche erfasst. Von der Gewährleistung
der Rechtzeitigkeit der Information des Gremiums bis
hin zu Einzelfragen der Befugnisse setzen wir uns für
Verbesserungen der Kontrolle ein. Wir werden dazu in
nächster Zeit konkrete gesetzgeberische Vorschläge ma-
chen.
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, es stellt sich die Frage, warum Sie einen solchen
Antrag jetzt, zu diesem Zeitpunkt, vorlegen. Warten wir
doch erst einmal die Ergebnisse des – im Übrigen von
Ihnen initiierten – BND-Untersuchungsausschusses ab.
Dort wollen wir doch feststellen, ob und inwieweit im
Bereich des BND aus parlamentarischer Sicht Reformen
notwendig sind. Im Übrigen hat der BND selbst gerade
durch die jüngsten Organisationsentscheidungen bewie-
sen, dass man dort bereit und offen für Veränderungen
ist.
Klar ist für mich aber eines: Was geheim ist, muss
auch geheim bleiben. Um die Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter nicht an Leib und Leben zu gefährden und die
für unsere innere Sicherheit existenziell wichtigen Er-
kenntnisse befreundeter Dienste weiter zu erhalten, muss
Geheimes geheim bleiben. Es liegt in der Natur der Sa-
che, dass nachrichtendienstliche Vorgänge nicht öffent-
lich behandelt werden können. Das PKGr als geheim ta-
gendes Gremium wird also benötigt.
Ich bestreite nicht, dass die parlamentarische Kon-
trolle der Nachrichtendienste hier und da verbesserungs-
bedürftig ist. Wo es sinnvoll und notwendig ist, wollen
wir die Ausweitung der Kontrollrechte des in der westli-
chen Welt einmaligen Parlamentarischen Kontrollgremi-
ums weiter diskutieren. Frühere Information und mehr
Öffentlichkeit sind vorstellbar. Nachjustierungen müssen
aber auf den Ergebnissen des BND-Untersuchungsaus-
schusses basieren und dürfen diesen nicht vorgreifen.
Für solch eine kritische Überprüfung des Status quo ist
dieser Ausschuss im Übrigen da. Es ist gerade seine
Aufgabe, bestehende Defizite in der parlamentarischen
Kontrolle der Nachrichtendienste aufzuzeigen und gege-
benenfalls Änderungsvorschläge zu unterbreiten. Lassen
Sie uns den Abschlussbericht des BND-Untersuchungs-
ausschusses abwarten und seine Ergebnisse dann ge-
meinsam und konstruktiv abarbeiten.
Dr. Max Stadler (FDP): Seit Tagen wird landauf,
landab intensiv darüber diskutiert, dass im großen Um-
fang die Möglichkeiten des Bankensystems in Liechten-
stein auch von Deutschen dazu genutzt wurden, Steuern
in erheblicher Höhe zu hinterziehen. Die FDP ist selbst-
verständlich der Auffassung, dass solche Delikte wie
alle anderen Straftaten auch verfolgt und bestraft werden
müssen. Ebenso wie bei allen anderen Straftaten sind da-
bei die rechtsstaatlichen Regeln strikt einzuhalten.
Ob dies der Fall war, erscheint allerdings sehr zwei-
felhaft. Die für Steuerdelikte richtigerweise zuständige
Steuerfahndung hat ihre Ermittlungen gemeinschaftlich
mit dem Bundesnachrichtendienst durchgeführt. Letzte-
rer ist unstrittig für die Aufklärung von Steuerhinterzie-
hung nicht zuständig.
Die Einhaltung der jeweiligen Kompetenzen ist
durchaus sehr wichtig: Die Steuerfahndung ist bei ihren
strafrechtlichen Ermittlungen an die Vorschriften der
Strafprozessordnung gebunden. Dies darf nicht dadurch
umgangen werden, dass in Strafverfahren plötzlich ge-
heimdienstliche Ermittlungsmethoden einfließen, indem
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der Bundesnachrichtendienst über den Umweg der
„Amtshilfe“ beigezogen wird. Genau dies ist aber im
Fall Liechtenstein geschehen. Es handelt sich also um ei-
nen in jeder Hinsicht bedeutsamen Vorgang aus der Tä-
tigkeit des Bundesnachrichtendienstes. Deshalb bestand
für die Bundesregierung die gesetzliche Verpflichtung,
das Parlamentarische Kontrollgremium hierüber zu un-
terrichten. Dies ist nicht rechtzeitig geschehen.
Dieser aktuelle Vorgang zeigt, dass die Arbeit des
Parlamentarischen Kontrollgremiums dringend reform-
bedürftig ist. Die deutschen Nachrichtendienste haben
zur Erfüllung ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit in
den letzten Jahren immer mehr Befugnisse bekommen.
Demgemäß muss auch die parlamentarische Kontrolle
effektiver werden. Hierfür hat die FDP-Bundestagsfrak-
tion am 5. April 2006 einen eigenen Gesetzentwurf zur
Änderung des Kontrollgremiumgesetzes eingebracht.
Es ist ein nahezu skandalöses Versäumnis der Großen
Koalition, dass dieser konkrete Reformvorschlag der
FDP bisher keine Zustimmung bei der SPD und der
CDU/CSU gefunden hat. Während bei einzelnen Unions-
abgeordneten durchaus Gesprächsbereitschaft bestand,
wollte die SPD mit dem fadenscheinigen Argument,
man müsse erst die Beendigung des BND-Untersu-
chungsausschusses abwarten, das Thema auf die lange
Bank schieben. Das geht jetzt nicht mehr, weil die Bun-
desregierung das Kontrollgremium in der Liechtenstein-
Affäre zum wiederholten Male missachtet hat und nun-
mehr endlich auch die Sozialdemokraten einsehen, dass
das Parlament sich eine faktische Schwächung der Kon-
trollrechte nicht mehr länger bieten lassen kann.
Deswegen ist es erfreulich, dass endlich fraktions-
übergreifende Gespräche vereinbart werden konnten.
Die FDP wird auf der Basis des eigenen Gesetzentwur-
fes dazu beitragen, dass am Ende eine gemeinsame Lö-
sung stehen könnte, mit der das Parlament seine Kon-
trollbefugnis gegenüber der Bundesregierung und den
Nachrichtendiensten besser erfüllen kann.
Auch aus dem heute zu beratenden Antrag der Grü-
nen „Für eine wirksamere Kontrolle der Geheimdienste“
können dabei einige Gedanken in die im April beginnen-
den fraktionsübergreifenden Gespräche eingeführt wer-
den. Somit ist festzustellen, dass die FDP das Grundan-
liegen des Antrags der Grünen teilt, jedoch nicht bei
allen Einzelfragen den Lösungsvorschlägen der Grünen
zustimmt. Dies heute im Detail zu erörtern, erübrigt sich,
da ja – wie schon dargestellt – schon in der übernächsten
Sitzungswoche die Berichterstattergespräche zu der
überfälligen Reform beginnen.
Die FDP enthält sich daher der Stimme hinsichtlich
des Antrages der Grünen. Das Reformvorhaben als sol-
ches werden wir aber mit aller Kraft vorantreiben.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Angesichts der
riesigen Defizite, die wir bei der demokratischen Kon-
trolle der Geheimdienste haben, ist der Antrag der Grü-
nen kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen
Stein. Zu diesem schmalen Antrag gibt es aber eine noch
schmalere Beschlussempfehlung des Innenausschusses.
In der Begründung hierzu heißt es, es liege in der Natur
der Sache, nachrichtendienstliche Vorgänge nicht öffent-
lich zu behandeln. Wer wollte schon einem solchen Ar-
gument widersprechen? Das Wort von der Natur der Sa-
che dient bekanntlich dazu, den Diskurs zur Sache zu
ersetzen. Der Diskurs ergäbe schnell, dass zumindest
staatliche Rechtsbrüche unter keinen Umständen ge-
heimhaltungsbedürftig sein dürfen.
Aber was ist das für eine Sache, um deren Natur es
hier wirklich geht? Die Sache – das ist das Grundgesetz.
Dessen Natur ist der demokratische Verfassungsstaat. Im
demokratischen Verfassungsstaat sind einzige Ursache
und Ursprung aller staatlichen Macht der Wille des Vol-
kes. Im demokratischen Verfassungsstaat darf es daher
keine Nischen oder dunklen Ecken für irgendeine staatli-
che Macht geben, die ohne Legitimierung oder Kontrolle
existiert. Eine solche Macht wäre undemokratisch und
deswegen verfassungsfeindlich. Das ist die Natur der Sa-
che. Der Diskurs endet also nicht mit der Natur der Sa-
che, sondern beginnt mit ihr. Diesen Diskurs benötigen
wir dringend. Hierfür kann der Antrag der Grünen allen-
falls einen Anfangsimpuls darstellen.
Um das Ausmaß der notwendigen Veränderungen be-
urteilen zu können, müssen Sie einfach nur die Wirklich-
keit zur Kenntnis nehmen. Schätzungsweise 10 000 Mit-
arbeiter der drei deutschen Geheimdienste sollen wir als
Parlamentarisches Kontrollgremium kontrollieren. Le-
diglich neun Mitglieder, die nur alle drei Wochen für we-
nige Stunden zusammenkommen, sollen das ohne eigene
Mitarbeiter bewerkstelligen. Es liegt auf der Hand, dass
eine Kontrolltätigkeit unter diesen Bedingungen zu kei-
nem nennenswerten Erkenntnisgewinn führen kann. Ich
erinnere noch einmal an Isaak Newton: „Was wir wissen,
ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, ein Ozean.“
In der Natur der Sache liegt dabei auch, dass dem
Kontrolleifer aufseiten der Vertreter der Regierungspar-
teien natürliche Grenzen gesetzt sind. Das ist schlecht,
weil es an starken Minderheitenbefugnissen im Gre-
mium fehlt. Wenn also die Regierungsfraktionen – ihrer
natürlichen Neigung folgend – die Regierung nicht kon-
trollieren wollen, findet überhaupt keine Kontrolle statt,
weil dann auch die Oppositionsfraktionen ihrer Kontroll-
möglichkeiten beraubt werden. Bei diesen Kontrollbe-
dingungen, besteht die Kontrolle darin, zu hoffen, dass
die Regierung ihrer gesetzlichen Bringschuld nach-
kommt und von sich aus berichtet, was objektiv bedeut-
sam ist. Das heißt: Allein der zu Kontrollierende be-
stimmt den Kontrollgegenstand.
Stellen Sie sich einen Strafprozess vor, in dem allein
der Verteidiger über Art und Umfang der Beweiserhe-
bung bestimmt. Der Freispruch für den Angeklagten
wäre stets garantiert. Genauso verhält es sich im Kon-
trollgremium: Der Freispruch für die Regierung ist stets
gesichert. Wenn dann aber – entgegen aller Erwartung –
das Gremium dennoch von Rechtsbrüchen erfährt, hilft
dies für die politische Kontrolle herzlich wenig. Denn es
fehlt dem Gremium an den nötigen Sanktionsmitteln, um
die festgestellten Rechtsbrüche zu ahnden. Daran hindert
es die Schweigepflicht. Die Mitglieder des Gremiums
müssen also ihr Wissen behalten. Sie dürfen es mit ins
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15697
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Grab nehmen. Da ruht es dann sanft und nützt nieman-
dem.
In der Natur der Sache liegt es deswegen, diesen Zu-
stand, der einer Demokratie gänzlich unwürdig ist, end-
lich zu beenden. Nicht zaghaftes Herumwerkeln an den
bestehenden gesetzlichen Regelungen ist notwendig,
sondern eine grundlegende und umfassende Reform der
Geheimdienstkontrolle. Wir werden Ihnen dazu dem-
nächst ein Ablösegesetz im Entwurf vorlegen, das den
Titel „Kontrollgesetz“ zu Recht trägt.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Es ist jetzt drei Wochen her, da durfte ich aus dem
Fernsehen erfahren, dass dem Bundesnachrichtendienst
ein Superdeal von einmaliger Dimension gelungen war.
Er soll für 5 Millionen Euro Liechtensteiner Bankdaten
gekauft und über tausend deutsche Steuersünder entlarvt
haben. Gezeigt wurde die morgendliche Hausdurchsu-
chung bei Herrn Zumwinkel. Gegen weitere bedeutende
Personen und gar Banken sollen sich die Ermittlungen
richten. Schlagzeilen und Titelgeschichten in Magazinen
folgten mit immer neuen Einzelheiten der jahrelangen
Operation des Bundesnachrichtendienstes. Der Bundes-
tag beschäftigte sich mit der Affäre in einer Aktuellen
Stunde. Sie löste heiße Diskussionen nicht nur im Ham-
burger Wahlkampf aus. Bald wurde auch über die Frage
diskutiert: Durfte der BND das überhaupt? Hat er in den
Grenzen seiner gesetzlichen Aufgaben und Befugnisse
gehandelt?
Als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgre-
miums war ich auf die Informationen aus den Medien
angewiesen. Vor der Fernsehsendung gab es nicht den
geringsten Hinweis der Bundesregierung an das Parla-
ment. Wieder einmal musste die rechtzeitige parlamenta-
rische Kontrolle der Tätigkeit des BND schon deshalb
scheitern, weil die Bundesregierung nicht unterrichtet
hatte, obwohl es sich doch ganz offensichtlich um einen
Vorgang von besonderer Bedeutung handelte. Die zwei-
jährige Operation des BND war verschwiegen worden,
obwohl die Bundesregierung verpflichtet ist, dem PKG
genau über solche Vorgänge von besonderer Bedeutung
bei den Diensten zeitnah zu berichten. Genau diese For-
mulierung steht in § 2 PKG-Gesetz.
So kann die parlamentarische Kontrolle der Dienste
durch das PKG nicht funktionieren. Viele Affären des
BND in den letzten Jahren zeigen dies. Deshalb muss
sich der Bundestag immer wieder mit diesen befassen.
Ein Untersuchungsausschuss bemüht sich seit nunmehr
zwei Jahren um Aufklärung, Klarheit und Wahrheit. Es
geht um nichts weniger als um die Bespitzelung von
Journalisten und deren Anwerbung durch den BND in
Deutschland, um deutsche BND-Spione in Bagdad wäh-
rend des Irakkrieges und um die Verstrickungen der
deutschen Geheimdienste in Machenschaften der US-
Dienste.
Die Kontrolltätigkeit des PKG muss effektiver und
besser werden. Darüber sind sich die Mitglieder aller
Fraktionen einig. Gerade in den letzten Tagen haben sie
wieder und wieder in Interviews Reformen und Verbes-
serungen der Arbeitsmöglichkeiten des Gremiums gefor-
dert und angekündigt.
Vor einem Jahr waren die Vertreter aller Fraktionen
auf einem Podium der Konrad-Adenauer-Stiftung ver-
sammelt und haben unisono Veränderungen angekün-
digt. Das Ob war unstreitig, nur zum Wie gab es unter-
schiedliche Auffassungen. Geschehen ist aber nichts.
Und ich fürchte, in dieser Legislaturperiode wird auch
nichts mehr geschehen. Alle warten und vertrösten auf
die Zeit nach dem Ende der Arbeit des Untersuchungs-
ausschusses.
Zudem wird, wie es derzeit aussieht, die Arbeit dieses
Ausschusses noch lange dauern. Dann bliebe kaum noch
Zeit für die Erarbeitung der notwendigen Gesetzesände-
rungen. Und es wird Wahlkampf sein. Keine besonders
gute Zeit für die Formulierung der notwendigen Gesetze.
Deshalb lassen Sie uns jetzt handeln. Der Worte sind ge-
nug gewechselt; jetzt müssen den Ankündigungen und
Versprechungen Taten folgen. Die Grünen haben dazu
Vorschläge vorgelegt, die wir heute beraten: Im PKG-
Gesetz muss festgeschrieben werden, was ein „Vorgang
von besonderer Bedeutung“ ist. Kriterien müssen ins
Gesetz, die verhindern, dass die Bundesregierung sich
„rauszieht“.
So ist ein „Vorgang von besonderer Bedeutung“ im-
mer dann anzunehmen, wenn das Kanzleramt informiert
und eingebunden wurde. Diese Voraussetzung lag vor in
all den Affären, die der Untersuchungsausschuss unter-
sucht, und auch im Fall des Kaufs der Bankdaten aus
Liechtenstein. Außerdem müssen Sanktionen her für den
Fall, dass die Bundesregierung nicht oder falsch oder un-
vollständig unterrichtet. Wir schlagen vor, dass das Gre-
mium dann seine entsprechende Feststellung mit einer
Wertung öffentlich macht und Konsequenzen für die
Verantwortlichen vorschlägt.
Aber die rechtzeitige, vollständige und wahre Infor-
mation durch die Bundesregierung ist nur eine Voraus-
setzung für die Kontrolltätigkeit des Gremiums. Weitere
Verbesserungen sind notwendig. So geht es um mehr
Transparenz der Arbeit dieses Gremiums. Es kann zum
Beispiel nicht angehen, dass die PKG-Mitglieder immer
noch nicht ihren eigenen Fraktionsvorsitzenden berich-
ten dürfen, etwa über besonders problematische Vor-
gänge. Die Mitglieder des Gremiums müssen auch die
Möglichkeit haben, mit einzelnen Wertungen und Kritik
an die Öffentlichkeit zu gehen.
Bedeutsame Fälle wie der Vorgang BND/Liechten-
stein darf nicht einfach in der PKG „versacken“, sodass
die Öffentlichkeit sich fragen muss: Was war denn da
nun eigentlich dran? Wir Grüne halten es vielmehr für
erforderlich, dass die PKG-Mitglieder solche Vorgänge
nicht nur öffentlich bewerten dürfen, sondern auch über
den Sachverhalt – selbstverständlich unter Wahrung der
notwendigen Geheimhaltung für Einzelheiten – als sol-
chen sprechen dürfen. Sonst wird die Kontrolle auch
durch die Öffentlichkeit zu Recht als unbefriedigend und
fragwürdig – im wahrsten Sinn des Wortes – wahrge-
nommen.
15698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
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Die Öffentlichkeit und die Bevölkerung haben einen
Anspruch darauf, zu erfahren, was die Volksvertreter in
solchen Fällen denn nun herausbekommen und festge-
stellt haben. Diese Information kann auch dazu beitra-
gen, die Gemüter zu beruhigen, wenn sich einiges auf-
klärt, was vielleicht ganz anders in der Zeitung stand.
Die Arbeitsmöglichkeiten der Abgeordneten im Kon-
trollgremium müssen entscheidend verbessert werden.
Es ist gar nicht einzusehen, warum die Abgeordneten ge-
rade bei dieser wichtigen Kontrolltätigkeit nicht Mitar-
beiter zur Unterstützung hinzuziehen dürfen.
Die Unzufriedenheit über die Mängel bei der Kon-
trolltätigkeit dieses parlamentarischen Gremiums ist all-
gemein und bestand auch bei ehemaligen Mitgliedern
wie etwa den Kollegen Struck, Zeitlmann und Neumann,
wie man aus deren öffentlichen Äußerungen entnehmen
konnte. Wir Grüne haben vor fast genau 2 Jahren als
erste Fraktion in dieser Legislaturperiode erneut die Ini-
tiative ergriffen und einen Antrag eingebracht mit einem
Bündel von Maßnahmen, um die Kontrolle der Geheim-
dienste wirksamer zu gestalten. Dafür werbe ich weiter-
hin heftig um Ihre Zustimmung. Ich bin irritiert darüber,
dass dieser Antrag in den Fachausschüssen erst sehr
lange schmorte und dann durch Union und SPD einfach
nur abgelehnt wurde bei bloßer Enthaltung von FDP und
Linken.
Gerade in diesen Tagen wird einmal wieder intensiv
über Glaubwürdigkeit diskutiert. Es muss nicht nur hier
im Haus Befremden auslösen, sondern mehr noch
Glaubwürdigkeitszweifel bei der Bevölkerung, wenn
seit Jahren nicht nur irgendwelche Fachpolitiker, son-
dern auch Fraktionsspitzen und Minister völlig einhellig
bessere Kontrollmöglichkeiten über die Dienste fordern,
jedoch zurückzucken und eben dies ablehnen, sobald es
konkret zu werden droht. Dies wäre – über diesen Anlass
hinaus – insgesamt ein sehr schlechtes Signal der Politik
und insbesondere der Regierungskoalition, sozusagen
nur den Mund zu spitzen, aber dann nicht zum Pfeifen
bereit zu sein. Heute können Sie pfeifen, indem Sie un-
serem Antrag zustimmen. Danach könnten wir uns über
alle Einzelheiten der Ausgestaltung im Rahmen der Be-
ratung eines konkreten Änderungsgesetzes verständigen.
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
nd 91, 1
2, 0, T
22
148. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8