Herr Präsident! Meine Damen und Herre
Jahr hat Deutschland durch die Wahrnehmung der EU-
tzung
12. Dezember 2007
3.00 Uhr
Präsidentschaft in besonderer Weise Verantwortung für
Europa getragen. Die Ausgangssituation vor zwölf Mo-
naten war denkbar schwierig: Europa war weitgehend
orientierungslos, Skepsis und Ratlosigkeit hatten sich
breitgemacht, und die Zustimmung der Bürgerinnen und
Bürger zu Europa war nur mit sehr viel gutem Willen er-
kennbar. In dieser Situation hat sich die Bundesregie-
rung für die deutsche Ratspräsidentschaft ein klares Ziel
gesetzt: Wir wollten eine Neuausrichtung und eine Neu-
begründung der Europäischen Union anstoßen. Heute
können wir, glaube ich, feststellen: Genau das ist gelun-
gen.
Wir waren gemeinsam nicht nur gut darin, uns Ziele
zu setzen. Wir haben es gemeinsam auch geschafft, diese
Ziele zu erreichen. Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann
schließe ich dieses Haus, Sie alle, ausdrücklich mit ein.
Ich möchte diese Debatte als Gelegenheit nutzen, um Ih-
nen für Ihre große Unterstützung in diesem Jahr ein
herzliches Dankeschön zu sagen.
Wir haben viel erreicht: Die Europäische Union hat
sich globaler Zukunftsthemen angenommen. Beispiel-
haft dafür ist die Energie- und Klimapolitik. Europa
war, ist und bleibt Vorreiter beim Klimaschutz. Europa
text
hat erkannt, dass es sich beim Schutz des Klimas und
beim Zugang zu Energie um zwei zentrale Herausforde-
rungen für die Menschheit handelt. Diese Erkenntnis be-
stimmt unsere Verhandlungsposition bei den gegenwär-
tig laufenden Klimaschutzberatungen auf Bali, an denen
auch der Bundesumweltminister teilnimmt. Wir dürfen
uns aber keinen Illusionen hingeben; denn die eigentli-
che Arbeit für den Klimaschutz beginnt erst nach der
Konferenz auf Bali. Der Weg zu einem Abkommen im
Anschluss an das Kioto-Abkommen unter dem Dach der
Vereinten Nationen wird sehr steinig sein. Mehr denn je
wird es dabei auf eine entschlossene Haltung Europas
und all seiner Mitgliedstaaten ankommen.
ll bei der CDU/CSU und der SPD)
hr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
en Bürgerinnen und Bürgern Europas aber
n! In diesem
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Stets aufs Neue müssen wir es schützen und dafür eintre-
ten. Deshalb ist gar nicht hoch genug einzuschätzen,
dass die Zustimmung der Bevölkerung in Deutschland
zur Europäischen Union in diesem Jahr auf einem Zehn-
jahreshoch ist. Das müssen wir halten, stärken und festi-
gen.
Kurzum: In Europa ist wieder mehr Schwung und Le-
ben gekommen. Das ist das Ergebnis unserer gemeinsa-
men Arbeit hier in Berlin und überall in Deutschland. Es
ist aber wahrlich nicht nur das Ergebnis der Arbeit von
uns Politikern. Nein, ohne die vielen Menschen, die sich
ehrenamtlich für Europa starkgemacht haben, ginge vie-
les nicht. Deshalb möchte ich bei dieser Gelegenheit
auch ihnen den ausdrücklichen Dank der Bundesregie-
rung und – ich bin mir ganz sicher – auch Ihren Dank sa-
gen.
Die größte Herausforderung für unsere Präsident-
schaft war die Reform der Verträge der Europäischen
Union. Ich habe vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt:
Es wäre ein historisches Versäumnis, wenn es uns nicht
gelänge, den Reformprozess bis zur Europawahl 2009 zu
einem guten Ende zu führen. – Die Folgen wären kaum
auszudenken gewesen. Umgekehrt können wir heute sa-
gen: Dass uns am Ende der Durchbruch zu einem
Reformvertrag gelungen ist, ist für die Zukunft Euro-
pas von historischer Bedeutung.
Unsere Arbeit zur Erreichung dieses Ziels hat sich ge-
lohnt. Wir haben es geschafft, für die Reform ein umfas-
sendes und präzises Mandat zu vereinbaren; kaum je-
mand hat dies vor einem Jahr für möglich gehalten. Der
Erfolg, zu dem wir morgen unsere Unterschriften leisten
können, liegt auch in unserer engen Zusammenarbeit mit
der portugiesischen Ratspräsidentschaft begründet, die
dieses Mandat innerhalb weniger Monate in einen neuen
Vertragstext überführt hat. Morgen werden der Bundes-
außenminister und ich in Lissabon den neuen Vertrag un-
terschreiben.
Ich neige jetzt wahrlich nicht zu übertriebener Eupho-
rie. Aber ich glaube, wir können gemeinsam festhalten:
Dieser Tag markiert einen historischen Erfolg für Eu-
ropa, und er wird im Rückblick vielleicht einmal als eine
entscheidende Wegmarke bei der Herstellung von mehr
Handlungsfähigkeit in Europa angesehen werden.
Nach seiner Ratifizierung wird der Vertrag von Lissa-
bon die Reihe der Vertragsreformen von Maastricht über
Amsterdam und Nizza abschließen. Anders als seine
Vorgänger lässt dieser Vertrag keine Fragen offen. Er
holt die bei der großen Erweiterung des Jahres 2004
nicht erfolgten Reformen der Organe der Europäischen
Union nach. Er nimmt die in den letzten zwei Jahren laut
gewordenen Bedenken und Sorgen der Bürgerinnen und
Bürger auf. Er bündelt die unterschiedlichen Konzepte
und Vorstellungen von der Europäischen Union, die es in
den Mitgliedstaaten gibt. Damit schafft er die Grundlage
für die neue Europäische Union im 21. Jahrhundert.
Selbstverständlich: Mit der Unterzeichnung des Ver-
trages ist die Arbeit noch nicht endgültig abgeschlossen,
auch in Deutschland nicht. Es folgt das Ratifizierungs-
verfahren im Bundesrat und in diesem Hause. Die Bun-
desregierung wird die dazu notwendigen Gesetzentwürfe
in der nächsten Woche verabschieden. Ich wünsche mir,
dass die parlamentarischen Verfahren in Deutschland bis
Mitte Mai 2008 erfolgreich abgeschlossen werden kön-
nen.
Ich bin zuversichtlich, dass die Ratifizierung des Ver-
trages auch in den anderen Mitgliedstaaten erfolgen
wird. So könnten wir unter Beweis stellen: Wir kommen
voran, wenn wir einig sind. Europa gelingt eben nur ge-
meinsam.
Das dürfen wir niemals vergessen oder aus den Augen
verlieren, so mühsam manche Diskussion auch sein mag.
Gewinner sind beide, Europa genauso wie die National-
staaten. Lassen Sie mich das an fünf Beispielen verdeut-
lichen:
Erstens. Die Europäische Union wird demokratischer.
Zum einen wird das Europäische Parlament gestärkt,
zum anderen erhalten die nationalen Parlamente mehr
Mitspracherecht in europäischen Gesetzgebungsverfah-
ren. Bundestag und Bundesrat werden in Zukunft früh-
zeitig und umfassend über anstehende Gesetzesinitia-
tiven informiert. Lehnt eine Mehrheit der nationalen
Parlamente einen EU-Vorschlag ab, dann müssen sich die
Organe der Europäischen Union mit diesem Votum zwin-
gend beschäftigen. Dies kann auch dazu führen, dass der
Vorschlag fallen gelassen wird. Zum ersten Mal können
also die nationalen Gesetzgeber zu einem sehr frühen
Zeitpunkt unmittelbaren Einfluss auf die europäische
Gesetzgebung nehmen. Das bedeutet natürlich auch, dass
wir uns noch intensiver als früher mit europäischen Vor-
haben beschäftigen werden. Auf diese Weise finden – da-
von bin ich überzeugt – europapolitische Themen eher
Eingang in die öffentliche Diskussion, und so spielt sich
Europapolitik nicht nur in Brüssel ab, sondern sie wird
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2007 13799
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
auch hier bei uns in Berlin greifbarer. Das heißt nichts
anderes, als dass Europa näher an die Bürgerinnen und
Bürger heranrückt. Ich denke, es ist eine gute Bewegung,
die mit diesem Vertrag möglich wird.
Die nationalen Parlamente werden sicher auch intensiv
von der Möglichkeit Gebrauch machen, zu überprüfen, ob
die Europäische Union im jeweiligen Fall überhaupt tätig
werden soll. Das heißt, es wird auch die Aufgabe dieses
Hauses sein, darauf zu achten, dass es nicht zu einer
schleichenden Ausweitung der EU-Tätigkeiten kommt,
wo sie nicht erforderlich oder rechtlich gar nicht abgesi-
chert ist.
Dies führt mich unmittelbar zu meinem zweiten
Punkt. Der neue Vertrag unterscheidet deutlich die
Zuständigkeiten der Europäischen Union von denen der
Mitgliedstaaten. Diese Unterscheidung war immer ein
deutsches Anliegen. Wir haben das seit langem vertre-
ten. Ich halte das für ein wirklich wichtiges Ergebnis
dieses neuen Vertrages. Der Vertrag macht außerdem
klar: Zuständigkeiten der Europäischen Union können
wieder an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden,
wenn dies vernünftig erscheint. Das heißt also, Kompe-
tenzzuteilung ist nicht mehr eine Einbahnstraße – von
den Nationalstaaten nach Europa –, sondern auch der
umgekehrte Weg ist möglich. Das ist etwas, was ich für
sehr vernünftig halte. Wenn nämlich gestern etwas von
der Union besser als von den Nationalstaaten geregelt
werden konnte, dann heißt das noch lange nicht, dass das
über 10, 20, 30 oder 40 Jahre weiter so bleiben muss.
Auch kann es nicht sein, dass Kompetenzzuwächse im-
mer nur in eine Richtung gehen. Ich glaube, das ent-
spricht ganz besonders unserem, dem deutschen, Subsi-
diaritätsverständnis, und das macht vor allem das
Handeln der Europäischen Union nachvollziehbarer. Das
ist natürlich unverzichtbar, um die Verantwortlichkeiten
wieder besser zum Ausdruck zu bringen. Die Bürger Eu-
ropas haben – das ist zumindest meine Überzeugung –
einen Anspruch darauf, zu wissen, wer wofür warum
verantwortlich ist.
Drittens. Ab 2014 gilt im Rat – darum haben wir
lange gestritten – die sogenannte doppelte Mehrheit.
Das heißt, bei Entscheidungen fällt neben der Zahl der
Staaten auch die Zahl der Bürger eines Landes gleichbe-
rechtigt ins Gewicht. Dadurch wird die jeweilige Bevöl-
kerungsgröße der Mitgliedstaaten angemessen berück-
sichtigt, und so wird das Einstimmigkeitsprinzip endlich
auf das Notwendige eingeschränkt. Mehrheitsentschei-
dungen werden auf einer fairen Grundlage ausgeweitet.
Kurzum: Die doppelte Mehrheit wird der Legitimierung
der Entscheidungen sehr helfen. Allerdings sage ich
auch voraus: Wenn Mehrheitsentscheidungen gefällt
werden, wird sich Deutschland nicht immer zu 100 Pro-
zent durchsetzen können. Auch das wird eine Erfahrung
sein, die wir machen werden. Gut an der Mehrheitsent-
scheidung ist, dass wir nicht jeden mitnehmen müssen,
wenn uns etwas wichtig ist; schlecht ist, dass wir manch-
mal das Gefühl haben werden, dass wir etwas nicht er-
reichen konnten.
Viertens. Der neue Vertrag erleichtert die verstärkte
Zusammenarbeit einer Gruppe von Mitgliedstaaten in
bestimmten Politikbereichen. Damit ist eine Weiterent-
wicklung der Europäischen Union innerhalb des EU-
Vertragsrahmens möglich. Dies gibt uns die notwendige
Beweglichkeit in einer sehr groß gewordenen Union, ei-
ner Union von Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen
Stärken, Wünschen und Interessen. Eines ist mir aller-
dings sehr wichtig: Gruppenspezifische Kooperationen
müssen immer im allgemeinen Einvernehmen erfolgen.
Der Zugang zu einer engeren Zusammenarbeit einer
Ländergruppe muss prinzipiell für alle offenbleiben; es
darf kein Europa der geschlossenen Gesellschaften ge-
ben. Wenn wir dies beachten, wird dieses Arbeitsprinzip
uns nach vorn bringen. Die ersten Diskussionen dazu
werden wir in Bezug auf die Kooperation im Mittel-
meerraum haben. Aber wenn wir dieses Prinzip nutzen,
kann das viele Vorteile für die Arbeit innerhalb der Euro-
päischen Union bringen.
Fünftens. Der Vertrag wird der Europäischen Union
der 27 Mitgliedstaaten über institutionelle Neuerun-
gen mehr Gesicht und eine klare Stimme verleihen.
Denn zum einen wird es einen gewählten Präsidenten
geben, der den Treffen der Staats- und Regierungschefs
zweieinhalb Jahre lang vorsitzen wird. Das verleiht der
Ratsarbeit automatisch mehr Kontinuität. Man denkt
nicht mehr nur in Halbjahreszeiträumen, sondern durch
die Amtszeit des Ratspräsidenten wird in längeren Zeit-
räumen gedacht werden. Zum anderen wird dem Rat der
Außenminister ein Hoher Vertreter für Außen- und Si-
cherheitspolitik vorsitzen; er wird zugleich Vizepräsi-
dent der Kommission sein. Damit gibt es in der Außen-
und Sicherheitspolitik eine Verzahnung. Die Doppeltä-
tigkeit fällt weg, was sehr vernünftig ist. Aber es gibt
auch neue Konstellationen im Hinblick auf das Parla-
ment. Ich verweise nur darauf, dass die Kommission
vom Parlament bestätigt wird. Der Hohe Vertreter wird
vom Rat bestimmt, ist Vizepräsident der Kommission,
und damit muss indirekt auch das Parlament bezüglich
des Hohen Vertreters konsultiert werden. Das heißt, die
Statik innerhalb der europäischen Institutionen wird sich
verändern. Das gilt auch für den Ratspräsidenten, der die
Interessen der Mitgliedstaaten in besonderer Weise ver-
treten muss. Wir werden – das sage ich als Vertreterin ei-
nes Mitgliedstaats im Rat – darauf achten, dass er unsere
Interessen vertritt und nicht zu viel gemeinsame Sache
mit der Kommission macht. Auch das wird ein Erfah-
rungsweg sein, den wir uns anschauen werden.
Sollte der Vertrag – was wir ja wollen – zum 1. Januar
2009 in Kraft treten, dann müssen beide Ämter im
nächsten Jahr mit geeigneten Persönlichkeiten besetzt
13800 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2007
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
werden. Beide Ämter werden Europa gerade im interna-
tionalen Rahmen mehr Gewicht geben.
Meine Damen und Herren, es gibt viele weitere
Gründe, warum der Vertrag von Lissabon ein histori-
scher Schritt ist. Wir brauchen sie hier nicht alle im
Einzelnen aufzuzählen. Denn mindestens ebenso wichtig
ist es, sich bewusst zu machen, dass wir jetzt die Mög-
lichkeiten ausschöpfen müssen, die in dem neuen Ver-
trag stecken. Noch wichtiger ist, dass Europa nun die
Hände frei hat, um sich der zentralen Frage der Ausge-
staltung seiner neuen Rolle in einer globalen Welt zuzu-
wenden. Denn wir leben als Kontinent ja nicht im luft-
leeren Raum. Die anderen Länder der Erde warten nicht
auf uns, was ihre wirtschaftliche Entwicklung anbelangt.
Wir müssen unsere Interessen bündeln und sie dann auch
durchsetzen.
Deshalb ist es sehr wichtig, dass der Europäische Rat
übermorgen eine gemeinsame Erklärung aller Mitglied-
staaten zur Globalisierung verabschieden wird. Darin
werden die wichtigsten Herausforderungen für Europa
noch einmal genannt. Dazu gehört die Wettbewerbsfä-
higkeit und die Frage, wie wir sie erhalten können. Wir
müssen es besser als bisher schaffen, gegen unfairen
Wettbewerb von außen vorgehen zu können. Ich glaube,
das ist nicht irgendeine Aufgabe. Diese Aufgabe hat
auch damit zu tun, dass wir das Vertrauen der Bürgerin-
nen und Bürger Europas in das europäische Sozialstaats-
modell wirklich stärken können.
Denn wenn wir die Menschen nicht vor unfairem Wett-
bewerb schützen können, wenn wir unsere Interessen
nicht durchsetzen können, dann wird auch die soziale
Marktwirtschaft oder das Sozialstaatsmodell unter
Druck geraten. Die Bürgerinnen und Bürger werden uns
nach dem Ergebnis fragen und nicht nach den guten Ab-
sichten.
Zur Rolle Europas in der Globalisierung gehört auch
die Außen- und Sicherheitspolitik. Um unsere Sicher-
heitsinteressen gemeinsam effektiv vertreten zu können,
brauchen wir zweierlei: den politischen Willen und die
notwendigen Fähigkeiten und Mittel. Ein aktuelles Bei-
spiel ist – darüber ist mit dem Außenminister in den
Ausschüssen gerade diskutiert worden – die Frage des
Status des Kosovo. Mit dieser Frage wird sich der Euro-
päische Rat, nachdem die Außenminister das am Montag
getan haben, übermorgen noch einmal beschäftigen. Lei-
der, müssen wir sagen, sind die Verhandlungen zwischen
Belgrad und den Kosovo-Albanern ohne Erfolg zu Ende
gegangen. Aber es ist außerordentlich wichtig, diesen
Verhandlungsprozess dazwischengeschaltet zu haben,
wirklich alles versucht zu haben und vielleicht ein paar
Kontakte etabliert zu haben. Ich möchte an dieser Stelle
dem Verhandlungsführer für die Europäische Union,
dem Deutschen Wolfgang Ischinger, danken. Er hat viel
Fantasie und viel Kraft in diese Sache gelegt.
Jetzt kommt es darauf an, dass die Europäische Union
geschlossen für eine friedliche und stabile Entwicklung
der Region eintritt. Die Europäische Union muss und
wird sich ihrer Verantwortung stellen. Es besteht für
mich überhaupt kein Zweifel: Wollen wir Europäer un-
sere Interessen in der Welt vertreten, dann müssen wir
unsere Fähigkeiten im Rahmen der Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik verstärken und auch besser koordinie-
ren, wie wir an vielen Beispielen sehen.
Meine Damen und Herren, das, was wir in der Euro-
päischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik machen,
darf aber nicht in Konkurrenz zur NATO geschehen. Wir
müssen es schaffen, die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik als Ergänzung, als Stärkung der at-
lantischen Sicherheitspartnerschaft zu verstehen, und dies
beim Aufbau der Europäischen Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik berücksichtigen.
Ein großer Vorteil der Europäischen Union ist dabei,
dass sie gleichermaßen über militärische wie über zivile
Mittel verfügt. Wir müssen beides in die richtige Ba-
lance bringen. Dafür müssen wir unter anderem unsere
Instrumente der zivilen Krisenprävention stärken.
Wahrlich nicht nur, aber auch unter diesem Gesichts-
punkt verdienen die Beziehungen Europas zu Afrika un-
ser aller Aufmerksamkeit. Es kann gar nicht oft genug
gesagt werden: Afrika ist ein Kontinent der Zukunft. Sie
haben verfolgen können, wie Europäer und Afrikaner
auf dem EU-Afrika-Gipfel am vergangenen Wochen-
ende durchaus offene Worte gesprochen haben. Aber ich
darf Ihnen sagen: Es war eine außerordentlich konstruk-
tive Atmosphäre. Es gab keine Tabus, weder in Bezug
auf die Einhaltung der Menschenrechte noch in Bezug
auf das künftige Gesicht des neuen Afrika noch in Bezug
auf den Abschluss notwendiger Handelsabkommen. Bei
den Verhandlungen über die Handelsabkommen spielt
sich das ab, was wir von allen Verhandlungen kennen:
dass wenige Tage vor dem Ende bestimmter Fristen jede
Seite noch einmal für ihre Interessen kämpft. Deshalb
würde ich keinen Pessimismus aufkommen lassen. Jeder
weiß, wir brauchen diese Handelsabkommen; das weiß
die afrikanische Seite, und das weiß auch die europäi-
sche Seite. Insofern bin ich da sehr optimistisch.
Ein wichtiges Ergebnis des Lissabonner Gipfels vom
Wochenende ist, dass wir eine wirklich neue, strategi-
sche Partnerschaft eingehen. Was wir verabschiedet ha-
ben, ist ein Meilenstein für die Beziehungen unserer bei-
den Kontinente. Wir werden uns in drei Jahren wieder
treffen. Jetzt müssen wir das, was wir abgemacht haben,
konkret umsetzen. Am Beispiel der Entwicklungszusam-
menarbeit sehen wir: Europa kann in vielen Bereichen
– auch durch Aufgabenteilung und Spezialisierung –
sehr viel an Wirksamkeit gewinnen. Das ist zum Wohle
beider Kontinente. Ich habe das Gefühl, das muss uns
gelingen. Ansonsten schaffen wir es nämlich nicht, die
Millenniumsziele zu erreichen. Denn das, was erreicht
werden muss, muss auch abrechenbar sein. Da kann
nicht jeder der 27 Mitgliedstaaten der EU im Hinblick
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2007 13801
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
auf das Erreichen der Millenniumsziele irgendetwas in
jedem der 54 afrikanischen Staaten machen, ohne dass
wir einen Überblick haben, was bei wem wie passiert.
Der EU-Afrika-Gipfel hat noch einmal gezeigt, was
Leitprinzip bzw. Grundsatz der Bundesregierung ist: Die
deutsche Außenpolitik ist wertegebunden. Wirtschaftli-
che Interessen vertreten und für Demokratie und Men-
schenrechte eintreten, das sind für uns zwei Seiten ein
und derselben Medaille unserer Außen- und Europapoli-
tik.
Wir sind uns doch darüber im Klaren: Freiheit und Tole-
ranz sowie Demokratie und Menschenrechte sind die
Fundamente eines menschenwürdigen Zusammenle-
bens. Man kann diese Werte nicht relativieren. Es gibt
sie nur ganz oder gar nicht. Durch sie wird der nötige
Raum für die Entfaltung des Einzelnen und damit auch
dafür geschaffen, soziales Gleichgewicht und wirtschaft-
lichen Erfolg zu ermöglichen.
Es versteht sich daher von selbst, dass uns die Grund-
rechtecharta der Europäischen Union bei den Arbeiten
am Reformvertrag besonders am Herzen lag. Ich freue
mich, dass sie heute im Europäischen Parlament in Straß-
burg noch einmal feierlich proklamiert wird. In ihr sind
die gemeinsamen Werte und grundlegenden Rechte nie-
dergelegt, die der europäischen Geschichte – auch unter
großen Opfern, wie wir alle wissen – abgerungen wur-
den. Diese Grundrechtecharta wird zusammen mit dem
neuen Vertrag rechtskräftig. Durch sie werden die Or-
gane der Europäischen Union wie auch die Mitgliedstaa-
ten bei der Umsetzung des Rechts der Union gebunden.
Nur ein Europa, das sich zu seinen Werten bekennt, wird
seinen Weg erfolgreich weitergehen können.
Für ein Europa in diesem Geist wird Deutschland auch
in Zukunft seine besondere Verantwortung wahrnehmen.
Meine Damen und Herren, gemeinsam mit unseren
Partnern haben wir in diesem Jahr viel erreicht, und zwar
nicht mehr und nicht weniger als die Neuausrichtung
und Neubegründung der Europäischen Union – ganz
so, wie wir es uns zu Beginn dieses Jahres vorgenom-
men hatten. Das ist ein Weg, auf dem es sich weiterzuge-
hen lohnt, ein Weg, auf dem wir Politiker die Bürgerin-
nen und Bürger für jeden Schritt und jeden Fortschritt
gewinnen wollen und auch gewinnen müssen – aus ei-
nem einzigen Grund: weil wir wissen, dass das erneuerte
Europa unser aller Zukunft ist.
Herzlichen Dank.