2) Anlage 22
igung
7 (D), letzter Absatz, der
lesen: „Deswegen machen
genau das verhindern soll,
t benutzt wird, um Preise
dnis 90/Die Grünen zu Pro-
stimmung über den von der
ten Gesetzentwurf zur Än-
ungsgesetzes und anderer
tschädigungsrechts.
it und Soziales empfiehlt in
g auf Drucksache 16/6985,
ndesregierung auf Druck-
Abgeordneter und de
DIE GRÜNEN
Kennzeichnung gente
tierischen Produkten
– Drucksache 16/6944
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, L
Verbraucherschutz (f)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12885
(A) (C)
(B) (D)
Wieczorek-Zeul, SPD 08.11.2007
nicht nur rund 400 000 zuschussberechtigte Landwirte
am Bundeszuschuss partizipieren würden, sondern alleHeidemarie
die von Verbänden und Trägern erstellt wurden und die
Gegenstand einer Anhörung waren, der Bundeszuschuss
als Einnahmeposten in das Lastenausgleichsverfahren
eingebracht. Das hätte zur Folge, dass – anders als bisher –
Thönnes, Franz SPD 08.11.2007
Wicklein, Andrea SPD 08.11.2007
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Dr. Akgün, Lale SPD 08.11.2007
Amann, Gregor SPD 08.11.2007
Andres, Gerd SPD 08.11.2007
Beckmeyer, Uwe SPD 08.11.2007
Bismarck, Carl-Eduard
von
CDU/CSU 08.11.2007
Connemann, Gitta CDU/CSU 08.11.2007
Dreibus, Werner DIE LINKE 08.11.2007
Ernst, Klaus DIE LINKE 08.11.2007
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
08.11.2007
Irber, Brunhilde SPD 08.11.2007
Knoche, Monika DIE LINKE 08.11.2007
Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
08.11.2007
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
08.11.2007
Kunert, Katrin DIE LINKE 08.11.2007
Dr. Lauterbach, Karl SPD 08.11.2007
Müntefering, Franz SPD 08.11.2007
Nitzsche, Henry fraktionslos 08.11.2007
Reichenbach, Gerold SPD 08.11.2007
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
08.11.2007
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 08.11.2007
Strothmann, Lena CDU/CSU 08.11.2007
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Klaus Brähmig (CDU/CSU)
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Modernisierung des Rechts der land-
wirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG)
(Tagesordnungspunkt 15)
Dem von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung werde ich zu-
stimmen.
Es sind dringende Anpassungen vorzunehmen, um
das System der agrarsozialen Sicherungen zukunftsfest
zu gestalten. Trotz der 3,65 Milliarden Euro, mit denen
der Bund die LSV im Jahre 2006 unterstützte, klagen die
Versicherten über eine zu hohe Beitragsbelastung. Der
Bundesrechnungshof stellt fest, dass der Strukturwandel
in der LSV unvermindert anhält, und die Zahl der akti-
ven Versicherten und der landwirtschaftlichen Betriebe
nimmt jedes Jahr ab. Des Weiteren wurden die Ziele der
Organisationsreform des Jahres 2001 nicht erreicht, die
LSV arbeitet nicht wirksam und wirtschaftlich. Mit der
Reform wurde ein tragfähiger Kompromiss gefunden,
der es ermöglicht, die Zukunft der LSV zu vertretbaren
Beiträgen zu sichern.
Die Einführung und Ausgestaltung des Lastenaus-
gleichs ist ein Kernelement dieser Reform. Auch wenn
es auf den ersten Blick so scheint, dass die nord- und ost-
deutschen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften
am stärksten davon betroffen sind, müssen dennoch alle
Beteiligten in der Land- und Forstwirtschaft sowie im
Gartenbau über den Lastenausgleich, von dem mittelfris-
tig alle profitieren werden, innergemeinschaftliche Soli-
darität im Berufsstand üben.
Ferner wurde in einer Reihe von Modellrechnungen,
Winkelmeier-Becker,
Elisabeth
CDU/CSU 08.11.2007
Wolf (Frankfurt),
Margareta
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
08.11.2007
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
12886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Beitragszahler der landwirtschaftlichen Unfallversiche-
rung. Der ohnehin ab 2010 abgesenkte Bundeszuschuss
müsste also auf eine sehr viel größer werdende Zahl Be-
rechtigter verteilt werden. Für die Arbeitsgruppe Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz der CDU/
CSU- und SPD-Bundestagsfraktion steht fest, dass zu-
nächst der im Gesetz festgeschriebene Lastenausgleich
ohne den Bundeszuschuss umgesetzt werden muss. Erst
im Anschluss daran kommt es wie bisher zu einer Bei-
tragssenkung für die zuschussberechtigten Landwirte
durch die Gewährung des Bundeszuschusses, der auch
weiterhin auf Basis der beitragsbelastbaren Ertragswerte
errechnet werden soll und aus dem Beitragsbescheid er-
sichtlich sein muss. Diesen Sachverhalt haben beide Ar-
beitsgruppen in der Schlussberatung des Ausschusses
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am
Mittwoch, dem 7. November 2007, im Rahmen einer
Protokollnotiz noch einmal herausgestellt.
Damit es nicht zu übermäßigen Belastungen einzelner
Regionen kommt, wurde ein Kompromiss gefunden, der
vorsieht, dass ein Übergangszeitraum für die Jahre 2010
bis 2014 festgelegt wird, in dem das Umlagevolumen
schrittweise erhöht wird.
Aufgrund dieses Kompromisses kann ich trotz meiner
Bedenken diesem Gesetzentwurf zustimmen, da dadurch
die Belastungen der Berufsgenossenschaften und Unter-
nehmer in Nord- und Ostdeutschland auf ein angemesse-
nes Niveau reduziert werden und die zukunftssichere
Ausgestaltung der landwirtschaftlichen Sozialversiche-
rungen mit stabilen Beiträgen erreicht wird. Vor allem
zeigt der Kompromiss aber auch, dass die Solidarität des
Berufsstandes noch funktioniert. Selbstverständlich wer-
den sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
mit den Auswirkungen der befristeten Abfindungsaktion
für Kleinrenten im Jahre 2010 noch einmal beschäftigen
müssen, da von ihrer Inanspruchnahme der Erfolg der
Reform der LSV abhängt.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Peter Jahr, Katharina
Landgraf und Volkmar Uwe Vogel (alle CDU/
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der land-
wirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG)
(Tagesordnungspunkt 15)
Am Donnerstag, den 8. November, werde ich dem
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der landwirt-
schaftlichen Sozialversicherung zustimmen.
Es sind dringende Anpassungen vorzunehmen, um
das System der agrarsozialen Sicherungen zukunftsfest
zu gestalten. Trotz der 3,65 Milliarden Euro, mit denen
der Bund die LSV im Jahre 2006 unterstützte, klagen die
Versicherten über eine zu hohe Beitragsbelastung. Der
Bundesrechnungshof stellt fest, dass der Strukturwandel
in der LSV unvermindert anhält und die Zahl der aktiven
Versicherten und der landwirtschaftlichen Betriebe jedes
Jahr abnimmt. Des Weiteren wurden die Ziele der Orga-
nisationsreform des Jahres 2001 nicht erreicht; die LSV
arbeitet nicht wirksam und wirtschaftlich.
Mit der Reform wurde ein tragfähiger Kompromiss
gefunden, der es ermöglicht, die Zukunft der LSV zu
vertretbaren Beiträgen, zu sichern. Die Einführung und
Ausgestaltung des Lastenausgleichs ist ein Kernelement
dieser Reform. Auch wenn es auf den ersten Blick so
scheint, dass die nord- und ostdeutschen landwirtschaft-
lichen Berufsgenossenschaften am stärksten davon be-
troffen sind, müssen dennoch alle Beteiligten in der
Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau über den
Lastenausgleich, von dem mittelfristig alle profitieren
werden, innergemeinschaftliche Solidarität im Berufs-
stand üben.
Ferner wurde in einer Reihe von Modellrechnungen,
die von Verbänden und Trägern erstellt wurden und die
Gegenstand einer Anhörung waren, der Bundeszuschuss
als Einnahmeposten in das Lastenausgleichsverfahren
eingebracht. Das hätte zur Folge, dass – anders als bisher –
nicht nur rund 400 000 zuschussberechtigte Landwirte
am Bundeszuschuss partizipieren würden, sondern alle
Beitragszahler der landwirtschaftlichen Unfallversiche-
rung. Der ohnehin ab 2010 abgesenkte Bundeszuschuss
müsste also auf eine sehr viel größer werdende Zahl Be-
rechtigter verteilt werden. Für die Arbeitsgruppe Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz der CDU/
CSU- und SPD-Bundestagsfraktion steht fest, dass zu-
nächst der im Gesetz festgeschriebene Lastenausgleich
ohne den Bundeszuschuss umgesetzt werden muss. Erst
im Anschluss daran kommt es wie bisher zu einer Bei-
tragssenkung für die zuschussberechtigten Landwirte
durch die Gewährung des Bundeszuschusses, der auch
weiterhin auf Basis der beitragsbelastbaren Ertragswerte
errechnet werden soll und aus dem Beitragsbescheid er-
sichtlich sein muss. Diesen Sachverhalt haben beide Ar-
beitsgruppen in der Schlussberatung des Ausschusses
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am
Mittwoch, dem 7. November 2007, im Rahmen einer
Protokollnotiz noch einmal herausgestellt.
Damit es nicht zu übermäßigen Belastungen einzelner
Regionen kommt, wurde ein Kompromiss gefunden, der
vorsieht, dass ein Übergangszeitraum für die Jahre 2010
bis 2014 festgelegt wird, in dem das Umlagevolumen
schrittweise erhöht wird.
Aufgrund dieses Kompromisses kann ich trotz meiner
Bedenken diesem Gesetzentwurf zustimmen, da dadurch
die Belastungen der Berufsgenossenschaften und Unter-
nehmer in Nord- und Ostdeutschland auf ein angemesse-
nes Niveau reduziert werden und die zukunftssichere
Ausgestaltung der landwirtschaftlichen Sozialversiche-
rungen mit stabilen Beiträgen erreicht wird. Vor allem
zeigt der Kompromiss aber auch, dass die Solidarität des
Berufsstandes noch funktioniert. Selbstverständlich wer-
den sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
mit den Auswirkungen der befristeten Abfindungsaktion
für Kleinrenten im Jahre 2010 noch einmal beschäftigen
müssen, da von ihrer Inanspruchnahme der Erfolg der
Reform der LSV abhängt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12887
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Maria Michalk (CDU/CSU)
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Modernisierung des Rechts der land-
wirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG)
(Tagesordnungspunkt 15)
Am Donnerstag, dem 8. November, werde ich dem
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der landwirt-
schaftlichen Sozialversicherung zustimmen. Es sind
dringende Anpassungen vorzunehmen, um das System
der agrarsozialen Sicherungen zukunftsfest zu gestalten.
Trotz der 3,65 Milliarden Euro, mit denen der Bund die
LSV im Jahre 2006 unterstützte, klagen die Versicherten
über eine zu hohe Beitragsbelastung. Der Bundesrech-
nungshof stellt fest, dass der Strukturwandel in der LSV
unvermindert anhält. Die Zahl der aktiven Versicherten
und der landwirtschaftlichen Betriebe nimmt jedes Jahr
ab. Des Weiteren wurden die Ziele der Organisationsre-
form des Jahres 2001 nicht erreicht. Die LSV arbeitet
nicht wirksam und wirtschaftlich.
Mit der Reform wurde ein tragfähiger Kompromiss
gefunden, der es ermöglicht, die Zukunft der LSV zu
vertretbaren Beiträgen zu sichern. Die Einführung und
Ausgestaltung des Lastenausgleichs ist ein Kernelement
dieser Reform. Auch wenn es auf den ersten Blick so
scheint, dass die nord- und ostdeutschen landwirtschaft-
lichen Berufsgenossenschaften am stärksten davon be-
troffen sind, müssen dennoch alle Beteiligten in der
Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau über den
Lastenausgleich, von dem mittelfristig alle profitieren
werden, innergemeinschaftliche Solidarität im Berufs-
stand üben. Damit es nicht zu übermäßigen Belastungen
einzelner Regionen kommt, wurde ein Kompromiss ge-
funden, der vorsieht, dass ein Übergangszeitraum für die
Jahre 2010 bis 2014 festgelegt wird, in dem das Umlage-
volumen schrittweise erhöht wird. Dadurch werden die
Belastungen der Berufsgenossenschaften und Unterneh-
mer in Nord- und Ostdeutschland auf ein angemessenes
Niveau reduziert. Aufgrund dieses Kompromisses kann
ich trotz meiner Bedenken diesem Gesetzentwurf zu-
stimmen.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Florian Toncar, Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, Uwe Barth, Ernst Burgbacher, Rainer
Brüderle, Patrick Döring, Jörg van Essen,
Miriam Gruß, Michael Kauch, Harald
Leibrecht, Michael Link (Heilbronn), Markus
Löning, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Dirk
Niebel, Detlef Parr, Jörg Rohde, Frank
Schäffler, Marina Schuster, Carl-Ludwig Thiele
und Christoph Waitz (alle FDP) zur Abstim-
mung über den Antrag: Bei der 62. Generalver-
sammlung der Vereinten Nationen ein Zeichen
für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe
setzen (Tagesordnungspunkt 19)
Die Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche
Bestrafung, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Das
Eintreten für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe
ist ein wichtiger Bestandteil deutscher und europäischer
Politik.
Ich unterstütze ausdrücklich den Inhalt des Antrags
„Bei der 62. Generalversammlung der Vereinten Natio-
nen ein Zeichen für die weltweite Abschaffung der
Todesstrafe setzen“. Die Forderung Nr. 9 ist allerdings
missverständlich und daher kontraproduktiv. Der aus-
drückliche Verweis auf Polen als einziges direkt anzu-
sprechendes Land erweckt den Anschein, als ob Polen
die Ablehnung der Todesstrafe als Fundament der
europäischen Werteordnung anzweifle. Dies ist nicht der
Fall.
Zwar ist richtig, dass die alte polnische Regierung
eine Einigung auf europäischer Ebene für einen „Euro-
päischen Tag gegen die Todesstrafe“ verhinderte. Dieses
Verhalten war ausgesprochen kritikwürdig, da so die Ge-
legenheit für ein klares europäisches Signal gegen die
Todesstrafe ungenutzt verstrich.
Jedoch hat in Polen mittlerweile eine neue Regie-
rung ihr Amt angetreten, die bereits jetzt erkennen
lässt, dass sich ein solches Vorgehen nicht wiederholen
wird. Aus heutiger Sicht ist daher keine weitere geson-
derte Einflussnahme auf Polen notwendig. Eine ent-
sprechende Initiative gegenüber der neu gewählten pol-
nischen Regierung ist daher nicht angezeigt. Sie könnte
deren erklärte Bemühungen im Hinblick auf eine Ver-
besserung der Beziehungen erschweren.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Axel Berg (SPD) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Finanzierung der Beendigung des subven-
tionierten Steinkohlebergbaus zum Jahr 2018
(Steinkohlefinanzierungsgesetz) (Tagesordnungs-
punkt 21 a)
Die Abstimmung über den zwischen den Regierungen
der Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland und der
Bundesregierung sowie der IG Chemie und der Ruhr-
kohle AG gefundenen Kompromiss, der in Form des so-
genannten Steinkohlefinanzierungsgesetzes in den Deut-
schen Bundestages eingebracht worden ist, bringt mich
in ein Dilemma.
Grundsätzlich ist die Beendigung der Subventionie-
rung des Steinkohlebergbaus zu begrüßen. Ich werde den
Gesetzentwurf mit beschließen und die beiden Anträge
der Oppositionsparteien ablehnen, bin aber persönlich
der Ansicht, dass nur der technisch schnellstmögliche
Ausstieg sinnvoll ist, denn jede Förderung weiterer
12888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Tonnen Kohle ist sowohl ökonomisch als auch ökolo-
gisch nicht zu verantworten.
Die beim Abbau der Steinkohle entstehenden CO2-
Emissionen ergeben beinahe ein Viertel der von der In-
dustrie und dem Stromerzeugungssektor in der zweiten
Handelsperiode des Emissionshandels (2008 bis 2012)
zu erbringenden Reduktionsmengen. Beim Abbau von
Steinkohle im Tagebau fallen deutlich weniger Emissio-
nen an. Damit würde eine absolute Reduktion im globa-
len Maßstab bei einem frühzeitigen Ausstieg möglich
sein. Bedenkt man, dass mit demselben Finanzierungs-
aufwand zur Erschließung einer Tonne heimischer Stein-
kohle drei Tonnen Irnportkohle gekauft werden können,
erschließt sich auch die ökonomische Sinnhaftigkeit des
Abbaus von heimischer Steinkohle nicht.
Die im Gesetzentwurf festgeschriebene Vollkostende-
ckung der heimisch geförderten Steinkohle entspricht
nicht mehr einer modernen Förderung. Es sollte – wenn
man die Maßgabe nimmt, dass das Ende des Bergbaus in
Deutschland 2018 wirklich stattfindet – über ein
„Benchmarksystem“ diskutiert werden, das sich an den
durchschnittlichen Förderkosten in diesem Sektor orien-
tiert. Damit wäre gewährleistet, dass die Bergbaube-
triebe mit den höchsten Förderkosten als erste geschlos-
sen werden. Dem Bund entstünden dadurch deutlich
weniger Förderkosten.
Nach der dem Gesetzentwurf vorausgegangenen
KPMG-Studie sind die vollständigen Ewigkeitskosten
überhaupt nicht berechnet, die für eine solche Entschei-
dung zu berücksichtigen sind. Das geht auch gar nicht,
weil sie ihren Namen zu Recht tragen. Beispielsweise
das Flöz unter dem Rhein, in das Wasser einbricht, das
permanent herausgepumpt werden muss. Hört man auf
mit Pumpen, fällt der Rhein herunter mit der Folge, dass
halb Nordrhein-Westfalen unter Wasser liegt. Man muss
pumpen, solange der Rhein fließt – also ewig. Von über
2 000 ehemaligen Bergwerken weiß man nicht mal
mehr, wo genau sie sind und welche Bergschäden von
ihnen noch ausgehen werden. Die durch den Börsengang
des weißen Bereichs der früheren RAG in Form der Evo-
nik AG erzielten Erlöse werden in der RAG-Stiftung
nicht ausreichen, um diese Kosten zu tragen. Damit ist
die Konstruktion nicht nachhaltig, denn sie bedeutet nur
den einmaligen Aufbau eines Kapitalstocks, der zudem
kaum in der notwendigen Weise wachsen kann. Es reicht
schon rein rechnerisch nicht aus, die werthaltigen
Bestandteile der ehemaligen RAG und den Bergbau ge-
geneinander so aufzurechnen, dass im Endeffekt eine
positive Zahl herauskommt. Damit ist der residuale Be-
zahler, der für die Zahlungen im Endeffekt geradestehen
muss, wenn die Summen nicht ausreichen, natürlich der
Steuerzahler. Das Unternehmen Evonik wird so mit die-
ser einmaligen Zahlung aus der unternehmerischen Ver-
antwortung entlassen.
Als allererste Prämisse hätte nicht das Herstellen ei-
nes Konzerns im Ruhrgebiet angestrebt werden müssen.
Es gibt überhaupt keine wirtschaftliche Erkenntnis, die
darauf hindeutet, dass es ein werthaltiger Weg für eine
Region sein soll, einen starken Spieler künstlich zu er-
zeugen. Die starken Unternehmen, die wirklich von
Weltruf in unserer und vielen anderen Volkswirtschaften
sind, haben das selbst auf die Beine gestellt. Das Silicon
Valley beispielsweise, das immer herangezogen wird für
die Clusteridee, ist endogen entstanden und gerade nicht
künstlich durch eine Clusterstrategie erzeugt worden.
Ein Unternehmen, das selbst zu einem Weltmarktführer
wird, ist eine gute Anlage für eine Region. Aber einfach
zu sagen, wir stellen ein großes Unternehmen her und
dann geht es der Region besser, ist volkswirtschaftlich
nicht durch Argumente gedeckt. Deshalb hätte es sich
angeboten zu sagen, man verfolgt ernsthaft auch die
Überlegungen des Einzelverkaufs der werthaltigen Be-
standteile, um den Anfangserlös so gut als möglich zu
maximieren. Deshalb hat die Frage nach der Sozialisie-
rung der Kosten bei gleichzeitiger Privatisierung der Ge-
winne ihre Berechtigung, solange nicht durch den An-
fangserlös versucht wird, alles an Geld herauszuholen,
was man hätte rausholen können.
Zusätzlich kommen hierzu die Schäden, die durch den
fortgesetzten Bergbau angerichtet werden. Es ist keines-
wegs so, dass die Förderung der Arbeitnehmer, gleichbe-
deutend sein muss mit einer Förderung der Produktion
von Steinkohle. Beide Arten von Förderungen haben
nichts miteinander zu tun. Wenn man die heimische
Steinkohleförderung bis 2012 einstellen würde, könnte
man rein rechnerisch Klimagase einsparen in einer Höhe
von ungefähr 7,5 Millionen Tonnen CO2. Das ist ein er-
heblicher Teil dessen, wozu wir uns im Kioto-Protokoll
an volkswirtschaftlichen Einsparungen verpflichtet ha-
ben, selbst wenn man von Immobilienschäden und ande-
ren Schäden absieht, die der fortgesetzte subventionierte
Steinkohlebergbau anrichtet. Allein beim Punkt Klima
könnte man schon einiges gewinnen, wenn man einfach
die beiden Dinge Förderung und Forderung trennen
würde. Es ist eine politische Entscheidung, die noch
existierenden Unternehmen in eine privatrechtliche
Struktur zu überführen und diese aus ihrer unternehmeri-
schen Verantwortung zu entlassen.
Der Bergbau hat in den beiden Bundesländern Nord-
rhein-Westfalen und Saarland eine lange Tradition; dies
darf bei einem Ausstieg nicht vergessen werden. Den be-
troffenen Regionen eine zukunftsorientierte, zeitnahe
und nachhaltige Perspektive zu eröffnen, ist Aufgabe der
Politik. Vor allem die im Bergbau tätigen Menschen sol-
len eine in die Zukunft orientierte Perspektive erhalten.
Eine Überführung in innovative und nachhaltige Be-
schäftigung sollte eigentlich Grundbestreben des Aus-
stiegsbeschlusses sein.
Selbst wenn man der Annahme folgt, dass nicht alle
durch betriebsbedingte Kündigungen arbeitslos werden-
den Beschäftigten wieder in den Arbeitsmarkt zu inte-
grieren wären, blieben den öffentlichen Kassen ca.
1 Million Euro pro Arbeitnehmer, die für Ausgleichs-
maßnahmen verwendet werden könnten, wenn wir uns
schneller aus dem Steinkohlebergbau zurückzögen. Dies
würde sich aus den wegfallenden Subventionen ergeben.
Hier mangelte es an dem Willen der Politik, einen sol-
chen Schritt konsequent zu gehen. Es bliebe genügend,
um den Arbeitnehmern im Bergbau eine Perspektive zu
schaffen – insbesondere auch beim Reparaturbergbau –
und gleichzeitig noch Geld freizusetzen für die Förde-
rung erneuerbarer Energien, insbesondere für die For-
schung in erneuerbaren Energien oder in Bildung und
Forschung allgemein und in Wissenstransfer.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12889
(A) (C)
(B) (D)
Nach Aussage der Bundesregierung (Bundestags-
drucksache 16/4393) werden von der bisherigen RAG
derzeit noch 1 500 Personen im sogenannten „Schwar-
zen Bereich“ ausgebildet. Hier sollte der notwendige
Wissenstransfer an kommende Generationen zur Ein-
schätzung und Bewirtschaftung der alten Bergwerke als
Maß für die Anzahl der bereitzustellenden Ausbildungs-
plätze angelegt werden. Der Rest der in der Branche täti-
gen oder zurzeit in Ausbildung befindlichen Arbeitneh-
mer sollte in zukunftsträchtige Industrien im Bereich
Effizienz- oder Erneuerbare-Energien-Technologien
überführt werden.
Die von den Kompromissparteien geäußerten Ab-
sichtserklärungen, gemeinsam an einem zukunftsfähigen
Strukturwandel zu arbeiten, ist in meinen Augen zu we-
nig. Schließlich wissen wir seit vierzig Jahren, dass der
deutsche Steinkohleabbau weder umweltfreundlich noch
wirtschaftlich ist. Hier sollten konkrete Zahlen die Ab-
sichten unterstreichen. So könnten die Politik und die
beteiligten Unternehmen den Sorgen der Betroffenen,
die bei einem Strukturwandel entstehen, mit einer positi-
ven zukunftsfähigen Perspektive begegnen.
Die Region Ruhrgebiet ist deswegen so weit hinten-
dran, weil sie den Umschwung nicht rechtzeitig ge-
schafft hat und der Strukturwandel so lange dauert. Das
nicht trotz, sondern wegen der Bemühungen, das Ende
lange hinauszuzögern. Es handelt sich bei der Steinkoh-
leförderung rein technisch um nichts anderes als um eine
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Wir wissen sehr gut aus
vielfältigen empirischen Untersuchungen in verschie-
densten Bereichen, dass Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
men schon mittelfristig schlecht sind. Hier setzt bei-
spielsweise auch die Agenda 2010 an. Sie sind schlecht
für die Beteiligten, weil sie selbst vom Markt ferngehal-
ten werden. Sie sind schlecht für die jeweilige Region,
weil sie sich dem Strukturwandel nicht schnell genug
stellen, sie sind schlecht für die Volkswirtschaft, weil sie
bezahlt werden müssen.
Die beste Strategie, um eine langfristige sozialver-
trägliche Entwicklung zu erreichen, ist, Investitionen in
neue rentable Arbeitsplätze zu generieren und zu unter-
stützen. Das sind Investitionen in Bildung und in Infra-
struktur, die dann entsprechend auch zusätzliche Be-
schäftigungsmöglichkeiten nach sich ziehen.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Alexander Dobrindt, Rita
Pawelski, Andreas G. Lämmel, Eckhardt
Rehberg, Dr. Georg Nüßlein und Hartmut
Koschyk (alle CDU/CSU) zur Abstimmung
über die Beschlussempfehlung zu der Verord-
nung der Bundesregierung: Fünfte Verordnung
zur Änderung der Verpackungsverordnung
(Tagesordnungspunkt 26)
Wir unterstützen das Ziel der Novelle, die „Trittbrett-
fahrerei“ einzudämmen, dass heißt, durch die Vollstän-
digkeitserklärung werden künftig auch die Unternehmen
eingebunden, die sich bisher überhaupt nicht oder nur
teilweise an den Entsorgungskosten ihrer Verkaufsver-
packungen beteiligt haben.
Die Anhörung am 10. Oktober 2007 hat allerdings ge-
zeigt, dass dem sogenannten Trennungsmodell nur mit
Bedenken zugestimmt werden kann. Die vorgesehene
„Zwangsmitgliedschaft“ in einem der dualen Systeme
für Hersteller und Vertreiber von Verkaufsverpackungen,
die beim privaten Endverbraucher anfallen, widerspricht
dem Grundsatz der individuellen Produktverantwortung
und stellt insofern einen Systembruch dar, der rechtlich
und ordnungspolitisch bedenklich ist. Es ist auch zu be-
fürchten, dass der Anschluss- und Benutzungszwang zu
einer Oligopolbildung dualer Systeme mit entsprechen-
den Kostensteigerungen für die Verbraucher führt.
Wir bitten deshalb die Bundesregierung, die sektora-
len und gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der
Novelle sorgfältig zu beobachten und bei sich abzeich-
nenden Fehlentwicklungen eine grundsätzliche Neuaus-
richtung der Verpackungsentsorgung vorzuschlagen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Großen Anfrage: Stärkung
der sozialen und ökologischen Verantwortung
von Unternehmen (Tagesordnungspunkt 14)
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Diese Debatte bietet
eine gute Gelegenheit, einmal grundsätzlich über die
Aufgabe und das Selbstverständnis von Unternehmern in
unserer Wirtschaftsordnung zu sprechen. Denn da – das
merkt man der Linken in ihrer Großen Anfrage deutlich
an – bestehen zwischen Ihnen und den übrigen Fraktio-
nen dieses Hauses doch gewaltige Unterschiede in der
Auffassung. Das verwundert nicht: Wer unsere Wirt-
schaftsordnung im Grunde ablehnt, wessen Programm es
ist, Unternehmen zu enteignen, und wer wie Ihr Partei-
vorsitzender Bisky auf Ihrem Vereinigungsparteitag die
Systemfrage gestellt hat, der hat ein grundlegend fal-
sches Bild von der Verantwortung des Unternehmers in
der freien Marktwirtschaft.
Halten wir fest: Die zentrale Funktion des Unterneh-
mers in der Marktwirtschaft ist es, unter Wettbewerbsbe-
dingungen Gewinne zu erwirtschaften. Genau diese
Hauptaufgabe ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass
sichere Arbeitsplätze entstehen und Wohlstand geschaf-
fen wird. Und um sichere Arbeitsplätze zu schaffen, müs-
sen Unternehmen schon sehr genau darauf schauen, dass
sie nicht durch Umweltverschmutzung, Bilanzfälschung,
die Ausbeutung ihrer Mitarbeiter, durch Kinderarbeit
oder Ähnliches ihr eigenes Geschäftsmodell gefährden.
Das ist Teil eines verantwortungsvollen Unternehmer-
tums, denn die Verbraucher reagieren heute sehr sensibel
auf negative Schlagzeilen aus Unternehmen: Ich nenne
als jüngstes Beispiel nur den amerikanischen Beklei-
dungshersteller GAP, dessen Zulieferer Kinder in Indien
beschäftigte und der daraufhin zehntausende Kleidungs-
stücke mit der Begründung vom Markt genommen hat,
12890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
man wolle nicht riskieren, Produkte aus Kinderarbeit zu
verkaufen.
Es zeigt sich also, dass Imageprobleme gerade bei
Markenherstellern gravierende unternehmerische Folgen
haben. Einmal wird das Vertrauen der Marke beschädigt,
aber auch Investoren wenden sich ab, was die Entwick-
lung einer Firma noch viel mehr beeinträchtigen kann.
Gewinnabsicht und gesellschaftliche sowie ökologische
Verantwortung von Unternehmen sind somit keine Wi-
dersprüche. Es zeigt sich sogar, dass sich Unternehmen,
die ihr gesellschaftliches Umfeld im Blick haben, meis-
tens besser als ihre Wettbewerber entwickeln.
Der Fall GAP – andere Beispiele möchte ich hier gar
nicht anführen – hat gezeigt, dass sich die soziale und
ökologische Verantwortung von Unternehmen am besten
im einem marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen stär-
ken lässt. Und dabei haben selbstverständlich Nichtregie-
rungsorganisationen, aber besonders die eigenen Mitar-
beiter und deren Interessenvertreter eine ganz besondere
Aufgabe der Kontrolle und Aufsicht. Es ist zumindest
wirksamer, als ständig nach neuen gesetzlichen Regelun-
gen zu rufen: Es zeigt sich bei sozialen und ökologischen
Fragen, dass die Selbstreinigungskräfte des Marktes auch
hier am besten funktionieren.
Ich will das anhand einiger Beispiele, die aus der Ant-
wort der Bundesregierung stammen, erläutern. Denn es
zeigt sich immer stärker, welche Vorteile die Globalisie-
rung gerade auch für Entwicklungs- und Schwellenlän-
der bringt. Auch Sie von den Linken sollten endlich die
Vorteile der Globalisierung anerkennen und nicht die bü-
rokratische und ineffiziente Planwirtschaft ohne privates
Unternehmertum als Abschluss und Glanzstück aller
ökonomischen Entwicklung sehen. Denn wenn es feh-
lendes Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Men-
schen und der Natur gegeben hat, dann in den Planwirt-
schaften des Ostblockes. Dort herrschten unmenschliche
Arbeitsbedingungen, und dort wurde ohne Rücksicht auf
die natürlichen Ressourcen alles in Grund und Boden ge-
wirtschaftet. Die Folgen sehen wir heute noch. Sie ler-
nen einfach nichts dazu!
Ich will Ihnen das einfach hier zur Kenntnis geben:
Der weltweite Wohlstand steigt gegenwärtig, und es sind
zu einem großen Teil multinationale Unternehmen, die
daran einen Anteil haben: Multinationale Unternehmen
bringen Kapital in Entwicklungsländer, das dort drin-
gend gebraucht wird. Die gesamten Investitionen nur der
deutschen Unternehmen in Entwicklungsländern lagen
2005 bei über 32 Milliarden Euro. Multinationale Unter-
nehmen schaffen Arbeitsplätze: Deutsche Unternehmen
beschäftigten 2005 in Entwicklungsländern rund
640 000 Arbeitnehmer. Deren Lohn liegt dabei auch
noch häufig über dem landesüblichen Niveau, was in der
Wertschöpfungskette wiederum Einkommen für weite
Millionen von Menschen schafft. Multinationale Unter-
nehmen fördern die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitar-
beiter und tragen damit zur allgemeinen Verbesserung
des Ausbildungsstandes vor Ort bei. Und multinationale
Unternehmen ermöglichen ihren Gastländern Zugang zu
dringend benötigtem Know-how. Damit werden auch
Umwelt- und Energiespartechnologien in diesen Län-
dern verbreitet.
Man könnte diese Aufzählung fortsetzen, aber es
zeigt sich schon hier: Als lokale Partner engagieren sich
die Unternehmen in den allermeisten Fällen für die Ge-
sellschaft am Investitionsstandort. Da sie sowohl zu
Hause als auch im Gastland unter der Beobachtung einer
kritischen Öffentlichkeit stehen, können sie sich gar
keine Fehler erlauben. Das ist die Realität.
Nichtsdestoweniger gibt es noch Entwicklungen, die
ein zwischenstaatliches Eingreifen erfordern. Und hier
hat die deutsche Ratspräsidentschaft und der G-8-Vorsitz
unter unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel wichtige
Signale gesetzt: Auf dem G-8-Gipfel vom 6. bis 8. Juni
dieses Jahres in Heiligendamm wurde beschlossen, das
Thema Corporate Social Responsibility (CSR), also gute
Unternehmensführung, zu einem Zukunftsthema gerade
in Schwellen- und Entwicklungsländern zu machen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle festhalten: Das Be-
wusstsein, dass ökonomischer Erfolg und die soziale und
ökologisch verträgliche Gestaltung der Globalisierung
eng zusammengehören, wächst sowohl bei den jeweili-
gen nationalen Regierungen als auch bei den internatio-
nal tätigen Konzernen. Das hat die Bundesregierung in
ihrer Antwort auf die Anfrage auch klar festgestellt.
Ich möchte noch auf einen innenpolitischen Aspekt
dieser Anfrage eingehen, den ich in der aktuellen Lage
für besonders erwähnenswert halte. Es geht um Entlas-
sungen, Firmenschließungen und Firmenverlagerungen
ins Ausland sowie um die damit verbundene hohe Ar-
beitslosigkeit in der Vergangenheit. Indem Ihre Anfrage
schon vor etwa einem Jahr geschrieben wurde, geht sie
noch von ganz anderen Erfahrungen und Erwartungen
aus, als wir sie heute bei uns in Deutschland vorfinden.
Ich unterstelle das jetzt einmal: Diese Große Anfrage ist
wahrscheinlich noch unter dem starken Eindruck der ver-
gangenen rot-grünen Bundesregierung geschrieben wor-
den: Mit 5 Millionen Arbeitslosen, einer bisher nicht
gekannten Staatsverschuldung, Abwanderung hochquali-
fizierter Wissenschaftler und Zukunftsangst weiter Teile
der Bevölkerung. Seit die Union die Bundesregierung
führt, hat sich inzwischen viel getan. Die Arbeitslosigkeit
sinkt, wir haben einen ausgeglichenen Haushalt vor Au-
gen, die Beschäftigungsquote befindet sich auf einem
historischen Höchststand. Das ist erfreulich und das Er-
gebnis richtiger Politik. Vor allem ist es aber nicht das Er-
gebnis staatlicher Regulierung. Wie Politik auf dem Ver-
ordnungsweg soziale Verantwortung diktieren soll, das
bleibt das Geheimnis der Linken. Aber wahrscheinlich
wollen Sie immer noch den „Neuen Menschen“ schaffen.
Dass Ihnen dabei jedes Mittel recht ist, hat das Spitzel-
und Unterdrückungssystem im real existierenden Sozia-
lismus gezeigt.
Wir stellen uns den Herausforderungen der Globali-
sierung und sind davon überzeugt, dass gerade der Pri-
vatsektor und die Wirtschaft in partnerschaftlicher Zu-
sammenarbeit dazu beitragen werden, eine nachhaltige
und gerechte Weltwirtschaft zu verwirklichen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12891
(A) (C)
(B) (D)
Garrelt Duin (SPD): Die Forderung der Linken nach
einer CSR-Pflicht für Unternehmen steht konträr zu dem
Bestreben der Bundesregierung, die Bürokratie in
Deutschland abzubauen. Damit würde ein Bürokra-
tiemonster geschaffen werden, das die gelebte Politik in
unserem Land lähmen würde.
Wir brauchen keine CSR-Knebelverträge für die Un-
ternehmen. Das gesellschaftliche Potenzial von CSR
muss allgemein mehr Anerkennung erfahren und ausge-
baut werden, und das auf freiwilliger Basis. Denn für ein
Unternehmen gibt es kein besseres Aushängeschild, als
soziale Verantwortung zu übernehmen, ihr Engagement
für gesellschaftspolitische Verantwortung zu stärken und
regen Austausch zu pflegen.
Genau das passiert. Gerade die vielen kleineren und
mittelständischen Unternehmen leben die gesellschaftli-
che Verantwortung vor Ort. Der Mittelstand hinkt hier
aber leider in seiner Kommunikation gelebter gesell-
schaftlicher Unternehmensverantwortung den Groß-
unternehmen hinterher.
Das Engagement der mittelständischen Unternehmen
wird allzu oft von den Negativschlagzeilen der Großun-
ternehmen überschattet. Es geschieht viel Gutes im „stil-
len Kämmerlein“; denn gerade im Mittelstand nehmen
viele Unternehmer ihre gesellschaftliche Verantwortung
mit viel Herz wahr. Das CSR-Engagement des Mittel-
stands beginnt hier bei den Mitarbeitern. Dabei geht es
um Punkte wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
oder Beschäftigung älterer Arbeitnehmer, dem soge-
nannten Altersmix der Belegschaften in den Unterneh-
men.
Als Beispiel möchte ich an dieser Stelle den Famili-
enservice Weser-Ems nennen: Seit 1997 setzt sich dieser
Verein für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein.
In Kooperation mit dem Mittelstand vor Ort werden hier
Kinderbetreuungsmöglichkeiten für die Beschäftigten
vermittelt. Der Familienservice hatte damals eine Vorrei-
terrolle inne und hat gezeigt, dass gerade von einer
strukturschwachen Region wie Ostfriesland Innovatio-
nen ausgehen können. Mittlerweile haben sich
95 Unternehmen und öffentliche Verwaltungen diesem
Projekt angeschlossen. Ein weiteres Beispiel: das Volks-
wagenwerk in Emden. Auch hier wird den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern Tagesbetreuung für ihre Kinder an-
geboten. Oder das Emder Unternehmen „Anker
Schifffahrt“. Dort werden seit Jahren sehr gute Erfahrun-
gen mit der Einstellung älterer Arbeitnehmer gemacht.
Das Unternehmen hat gerade wieder fünf Arbeitnehmer
über 50 eingestellt. Das macht immerhin 10 Prozent der
gesamten Belegschaft aus. Diese Beispiele, die wahr-
scheinlich stellvertretend für viele mittelständische Un-
ternehmen bundesweit stehen, machen eines deutlich:
Staat, Bürger und Unternehmen sind Partner, die zusam-
mengehören und die gemeinsam handeln sollten.
Soziale Verantwortung von Unternehmen heißt
Engagement nach Innen wie nach Außen und darf nicht
zu einem reinen Imageträger verkommen. Soziale Ver-
antwortung ist für diese mittelständischen Betriebe kein
Marketinggag. Hier wird CSR in die Praxis umgesetzt.
Wichtiger als die blinde Forderung nach mehr Geset-
zen ist das praktische Zusammenwirken der Akteure vor
Ort. Diese brauchen unsere Unterstützung, aber keine
neue Bürokratie!
Katja Mast (SPD): Als Landeskind Baden-Württem-
bergs weiß ich: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Bei uns im Ländle kommt hinzu: Aber joh nit drüber
schwätze!
Trotzdem engagieren sich Unternehmen über das nor-
male Maß hinaus. Vor Ort kennt man die auch, zum Bei-
spiel bei mir zu Hause: Der Bäcker Wiskandt ermöglicht
eine Lesebibliothek in Huchenfeld, die Metallschlauch-
firma Witzenmann fördert die Kletterhalle, der Schmuck-
etuihersteller Wild gründet eine Kulturstiftung mit
5 Millionen Euro Startkapital, die Nieferner Elektro-
firma Pretema fördert Schüler im Enzkreis, die es
schwerer haben als andere. Das Technikunternehmen
Seuffer in Calw setzt sich für die musische Jugendbil-
dung im Verein Obenauf ein. Erst gestern hat es einem
Gymnasium im Nordschwarzwald Musikinstrumente zur
Verfügung gestellt.
Ob die Firmen wissen, dass ihr gesellschaftliches
Engagement neudeutsch „Corporate Social Responsibi-
lity“, CSR, heißt und Kofi Annan den Global Compact
gegründet hat, glaube ich eher nicht. Aber das ist hier
auch egal. Wichtig ist: Sie machen mehr als andere, und
das gilt es zu fördern und transparent zu machen – auch
vonseiten der Politik.
Aber gerade für uns Parlamentarier ist doch klar: Das
soziale und ökologische Gesicht der Globalisierung
müssen wir in einer Doppelstrategie gestalten. Ich be-
tone Doppelstrategie – mit einem Pflicht- und einem
Kürteil: Pflicht ist unser Engagement in internationalen
Organisationen, wie den Vereinten Nationen und der Eu-
ropäischen Union. Dort begegnen wir der Globalisierung
mit demokratischen Strukturen und setzen ökologische
und soziale Mindeststandards, beispielsweise bei der
EU-Dienstleistungsrichtlinie, der ILO-Kernarbeitsnorm
oder dem Seearbeitsübereinkommen. Wir setzen damit
bewusst ein demokratisches Gegengewicht zum freien
Spiel der Kräfte. Damit demokratisieren wir täglich ein
Stück mehr die Globalisierung, wenngleich wir wissen:
Es dauert noch lange, bis überall die gleichen Sozialstan-
dards gelten. Oder glaubt irgendjemand hier an ein bal-
diges Elterngeld auf Madagaskar?
Hier ein gutes Beispiel für sozialdemokratisches Ar-
beiten in übernationalen Gremien: Walter Riester hat für
die parlamentarische Versammlung des Europarates die
Weiterentwicklung der Sozialcharta vorangetrieben,
Franz Müntefering hat dafür gesorgt, dass die deutsche
Regierung diese am Ende der EU-Ratspräsidentschaft
unterzeichnete. Wir als Parlament können nun bald dafür
sorgen, dass sie ratifiziert wird. Dann haben wir wieder
ein Stück mehr an internationaler Verbindlichkeit herge-
stellt, übrigens – alle Parteien haben diese europäische
Sozialcharta unterstützt – auch ihre Vertreter.
Ich sagte: Wir brauchen eine Doppelstrategie, um das
soziale und ökologische Gesicht der Globalisierung zu
12892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
gestalten: Die Kür ist neben bundesweiten Gesetzen,
Richtlinien in der EU und Abkommen in den Vereinten
Nationen Freiwilligkeit. Zum Glück gab es schon immer
Unternehmen, die mehr tun als gesetzlich vorgeschrie-
ben ist. Denn nur dadurch sind doch auch unsere sozia-
len Errungenschaften durchsetzbar gewesen. Ich weiß
nicht, wie lange wir heute arbeiten müssten, hätte es
Robert Bosch nicht gegeben, der schon 1906 den acht-
stündigen Arbeitstag eingeführt hat.
Wir Sozialdemokraten finden es gut, wenn ein Unter-
nehmen wie Faber-Castell darauf besteht, in China im
Werk eine Arbeitnehmervertretung zu wählen, obwohl
es dort keine gesetzliche Grundlage dafür gibt. Das ist
ein Leuchtturm, den wir nach vorne stellen müssen.
Denn nur so verändern wir die Realität. Und genau das
ist das Ziel des Corporate-Social-Responsibility-Forums
von Franz Müntefering, das im nächsten Jahr startet.
Spannend ist doch: Was verstehen wir hier in
Deutschland unter gesellschaftlich verantwortlichem
Verhalten von Unternehmen? Was ist gut? Wo sind die
Lücken beim Handeln? Sind nun die Produkte bei uns
alle so produziert, dass sie den internationalen Ab-
kommen entsprechen? So weit sind wir leider noch nicht
– aber wir arbeiten dran – mit unserer Doppelstrategie:
Pflicht und Kür.
Gesetze erlassen, das können wir gut als Politik, ver-
walten auch. Aber Politik als gestaltender Moderator,
um global und lokal Dinge zu verändern, Freiwilligkeit
zu fördern und Transparenz herzustellen, das ist das qua-
litativ Neue an der CSR-Strategie. Diese Herausforde-
rung nehmen wir von der ältesten Partei Deutschlands,
der SPD, gerne an. Wir wollen gestalten.
Heinz-Peter Haustein (FDP): „Nicht die Tatsachen
machen das Leben schwer, sondern unsere Bewertung
der Tatsachen.“ – Dieser Ausspruch des griechischen
Philosophen Epiktet brachte mich unwillkürlich gedank-
lich an die große Anfrage der Linken heran: „Stärkung
der sozialen und ökologischen Verantwortung der Unter-
nehmen.“ Als ich dann mal näher reingeschaut habe, ist
mir klar geworden: Es geht hier um eine pauschale Ver-
urteilung der Konzerne und letztlich auch des Mittel-
stands. Mit Ihrer Geißelung der Unternehmen als verant-
wortungslose Heuschrecken helfen Sie niemandem. Im
Gegenteil: Sie täuschen die Menschen über die Wirk-
lichkeit hinweg. Sie vergessen immer wieder, dass
Globalisierung nichts ist, was uns irgendjemand gegen
unseren Willen aufnötigt. Die Globalisierung, das Zu-
sammenwachsen und der Wettbewerb der weltweiten
Volkswirtschaften, hat schon vor Jahrhunderten begon-
nen und wird auch künftig weiter voranschreiten. Als
spanische Seefahrer Südamerika erschlossen, war es bil-
liger, Erze von dort nach Europa zu bringen als sie selbst
zu fördern. Dies brachte den Erzbergbau zum Erliegen.
Die Eisenbahn machte die Menschen mobil, verfestigte
die Globalisierung.
Sie werden die Globalisierung auch nicht aufhalten,
aus einem einfachen Grund: Die Menschen sehen die
Vorteile der Globalisierung, sie nutzen die sich bieten-
den Möglichkeiten größerer Mobilität. Man kauft eben
in der Regel das billigere Gerät, ohne zu fragen wo und
wie es hergestellt wurde. Natürlich hat das Grenzen,
zeigt aber: Globalisierung ist Realität. Wir können sie
nicht stoppen, es sei denn, sie wollen wieder Mauer und
Stacheldraht um unser Land ziehen. Und wie bei jeder
Sache gibt es auch hier zwei Seiten: Da entwickelt
Deutschland den Transrapid und rein zufällig kommt ein
ähnliches Fahrzeug in China auf den Markt. Bei mir im
Erzgebirge im Raum Seiffen, Deutschneudorf, werden
Räuchermännchen, Nussknacker, Pyramiden und
Schwibbögen mit viel Herz und künstlerischem Ge-
schick produziert. Ein halbes Jahr später kommen diese
Artikel baugleich aus China auf den deutschen Markt,
nicht in gleicher Qualität, aber um 80 Prozent billiger.
Bitter! Doch ich bin sicher, dass sich selbst in diesem
schwierigen Umfeld Original gegen Plagiat durchsetzten
wird.
Die andere Seite sind Chancen und Möglichkeiten,
die ein internationaler Markt bietet. Denken wir an die
Automobilindustrie: Nur weil Zulieferer aus Tschechien
Teile an VW liefern, kann Volkswagen noch mit der
Konkurrenz aus Japan und Korea mithalten. Deutsche
Unternehmen müssen also Teile der Produktion ins Aus-
land verlagern, um insgesamt wettbewerbsfähig zu blei-
ben. Dies schafft und erhält Arbeitsplätze. Um aber bei
diesen Herausforderungen mithalten zu können, muss es
auch große international arbeitende Konzerne geben.
Die fallen nicht vom Himmel. Sie entwickeln sich nach
und nach, wie sich auch die Globalisierung entwickelt.
Es ist auch eine gewisse Größe notwendig, um im inter-
nationalen Wettbewerb bestehen zu können. Ein Global
Player, wie diese Unternehmen genannt werden, hat
auch eine sehr lokale Wirkung. Er ist im Wirtschaftspro-
zess integriert. Viele Mittelständler und Handwerker
profitieren als Subunternehmer und/oder Partner von den
Aufträgen der Konzerne, auch von ausländischen Kon-
zernen, die in Deutschland arbeiten. Es ist also ein Ge-
ben und Nehmen zwischen Konzernen und kleinen Be-
trieben. Und deshalb ist es unfair, den Konzernen soziale
und ökologische Kälte vorzuwerfen.
Vor diesem Hintergrund muss es unsere Aufgabe als
Parlament sein, den Boden dafür zu bereiten, dass sich
noch mehr große Konzerne in unserem Land ansiedeln,
mehr Unternehmen gründen. Der Dünger dafür sind zum
Beispiel ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuer-
system, Senkung der Lohnnebenkosten, ein beweglicher
Arbeitsmarkt und weniger Bürokratie. Das funktioniert,
wenn man es will. Doch leider redet die Regierung nur
darüber, anstatt endlich mal zu handeln.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Antwort der Bundes-
regierung auf die Große Anfrage der Linken zur sozialen
und ökologischen Unternehmensverantwortung ist ein
Schlag ins Gesicht all derer, die sich für wirksame sozi-
ale und ökologische Regeln gegen den globalen Share-
holder-Value-Kapitalismus einsetzen. Zwar formuliert
die Regierung Bekenntnisse zur sozialen Verantwortung
und auch zur Regelungspflicht des Gesetzgebers. Doch
bei jeder einzelnen Maßnahme beharrt sie auf der Frei-
willigkeit der Unternehmen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12893
(A) (C)
(B) (D)
Gerade für die Kolleginnen und Kollegen der SPD, ist
dies ein politisches Armutszeugnis. In ihrem neuen Pro-
gramm heißt es: Damit der Markt seine positive Wir-
kung entfalten kann, bedarf es Regeln, eines sanktionsfä-
higen Staates, wirkungsvoller Gesetze und einer fairen
Preisbildung. – Davon findet man in Antwort der Regie-
rung nichts. Im Gegenteil: Nehmen Sie zum Beispiel
OECD-Leitlinien für Unternehmen: Sie werden in der
Antwort immer wieder als wichtiges Instrument ge-
nannt. Mit den Stimmen der SPD hatte sich die Enquete-
Kommission „Globalisierung“ für Rechtsverbindlichkeit
und bessere Verfahren zur Überprüfung ausgesprochen.
Die Regierung beharrt wieder auf der Freiwilligkeit.
Hier wie bei vielen ihrer Antworten auf Forderungen
von Gremien der Vereinten Nationen, Gewerkschaften
und Nichtregierungsorgansationen gilt: Solange Sie am
Mythos freiwilliger Unternehmensverantwortung fest-
halten, ist Ihr Gerede von „gerechter Globalisierung“
nicht mehr wert als die vielen bunten Broschüren trans-
nationaler Konzerne zu ihrer sozialen und ideologischen
Verantwortung.
Geradezu armselig sind Ihre Antworten auf die mit
dem globalen Kapitalismus gewachsene Machtstellung
der transnationalen Konzerne: Ob Telekom, Allianz,
Opel oder Deutsche Bank – stellvertretend für viele ha-
ben sie sich in den letzten Jahren vor allem mit Massen-
entlassungen oder Ausgliederungen einen Namen ge-
macht. Mit der Androhung von Produktionsverlagerung
oder konzerninterner Konkurrenz um die Produktion
neuer Modelle – erzwingen Konzerne einen Unterbie-
tungswettlauf um die schlechtesten sozialen und auch
ökologischen Standards. Trotzdem sieht Herr
Müntefering, keinen Bedarf an gesetzlichen Schritten.
Da heißt es: „Der Arbeitgeber kann grundsätzlich frei
entscheiden, ob und wie er das Unternehmen umgestaltet
oder Betriebsteile oder das Unternehmen insgesamt ver-
äußert oder schließt.“ Angesichts der Realität von Zehn-
tausenden von Beschäftigten ist das blanker Zynismus.
Wir fordern sie auf, hier die Mitbestimmungsrechte
von Gewerkschaften und Betriebsräten gegenüber Mas-
senentlassungen, bei Ausgliederungen und Verkäufen zu
erweitern. Grotesk und lächerlich wirken dann Ihre Ant-
worten zur Rolle der Finanzmarktakteure, der Heuschre-
cken und anderer.
Mit ihrem Einfluss hat sich die Shareholder-Value-
Orientierung, also die alleinige Orientierung an hohen
Renditewerten in den Unternehmen durchgesetzt. Men-
schenrechte, soziale und ökologische Interessen, aber
auch langfristige Investitionen in die Zukunft des Unter-
nehmens geraten mehr und mehr ins Abseits. Unterneh-
men selbst sind zum Handelsobjekt geworden, aus deren
An- und Verkauf Profit gezogen wird. Sie streiten zwar
gewisse Probleme nicht völlig ab, wollen diese aber vom
Markt selbst über „verantwortungsvolle Investments“
sowie durch freundliche Dialogrunden lösen lassen. Er-
zählen Sie das alles den Telekom-Beschäftigten, die fünf
Wochen gegen Lohnsenkungen, Arbeitszeitverlängerung
und Ausgliederung streiken mussten.
Wahrlich stumpfe Waffen, die Sie den Menschen an-
bieten. Mit fairer Arbeit und ökologischer Erneuerung
hat das alles nichts zu tun. Mit Weiterentwicklung des
Sozialstaats und seiner Anpassung an die Globalisierung
erst rechts nicht. Sie machen die Menschen hilflos und
die Politik unmündig. Sie setzen die Menschen der Er-
pressung durch transnationale Konzerne aus. Sie machen
sogar Regierungen demgegenüber machtlos. Stattdessen
brauchen wir Reformen, die Konzerne und Finanz-
marktakteure wieder in soziale und ökologische Verant-
wortung einbinden.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Staat ist in der Lage, die soziale und ökologische
Verantwortung von Unternehmen zu stärken. Er muss
dies allerdings, damit dies zielgerichtet geschieht, im
Rahmen ordnungspolitischer Grundsätze und durch das
Setzen von Anreizen machen.
Eine Volkswirtschaft ohne soziale und ökologische
Verantwortung beraubt sich ihrer eigenen Grundlagen.
Viele Unternehmen haben das erkannt und setzen mit der
Corporate Social Responsibility, CSR, diese Verantwor-
tung in konkrete Unternehmensziele um. Der Global
Compact, zu dem sich international 3 100 Unternehmen
verpflichtet haben, definiert zehn solcher Ziele: von der
Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer bis hin zu ökologischen Zielen, zum Verbot der
Kinderarbeit, zur Absage an Korruption und zur Beseiti-
gung von Diskriminierung bei Anstellung und Beschäfti-
gung.
Bündnis 90/Die Grünen wollen die soziale und ökolo-
gische Verantwortung der Unternehmen fördern. Zu ei-
ner solchen Förderung gehört auch die Vernetzung und
Betreuung der entsprechenden Projekte. Wir haben heute
bereits über unseren Antrag zum Vergaberecht debattiert,
den wir Grünen in den Bundestag eingebracht haben.
Dieser enthält einerseits eine Entbürokratisierung der
Vorgaben zu den Vergabeverfahren. Andererseits schafft
er entsprechend dem von der EU vorgegebenen Rahmen
die Möglichkeit für die verschiedenen staatlichen Ebe-
nen, bei der Vergabe selbst Ziele im Sinne der CSR zu
definieren.
Im Ergebnis können Städte, Gemeinden und der Bund
dadurch die Nachfrage für solche Unternehmen stärken,
die CSR umsetzen. Hiermit begegnen wir auch der Ge-
fahr, dass Unternehmen durch die mit CSR verbundenen
Kosten und Standards Vergabenachteile entstehen. Eine
solche Reform des Vergaberechtes ist nicht zu unter-
schätzen. Die Marktmacht der öffentlichen Hand ist
groß: Die Aufträge der öffentlichen Verwaltung und öf-
fentlicher Unternehmen an die private Wirtschaft ma-
chen in Deutschland rund 17 Prozent des Bruttoinlands-
produkts aus, etwa 360 Milliarden Euro pro Jahr.
Politik muss aber auch Regeln setzen, wo eine Selbst-
kontrolle nachweislich nicht weiterführt. Zur Bekämp-
fung von Korruption schlagen wir die Einführung eines
Korruptionsregisters vor. Unternehmen, die sich der
Korruption schuldig gemacht haben, sollen so keine öf-
fentlichen Aufträge mehr erhalten. Und: Die Zahl der
Aufsichtsratsmandate muss auf fünf pro Person be-
grenzt, der Übergang vom Vorstand in den Aufsichtsrat
desselben Unternehmens untersagt werden.
12894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
CSR wächst aus der Eigeninitiative der Unternehmen.
Es wäre falsch, bis ins Detail Unternehmensziele vorge-
ben zu wollen und Eigendynamik zu verhindern. Dem
Staat kommt hier neben der Ordnungsfunktion gegen
Korruption und der Schaffung von Anreizen durch die
Vergabe eine aktive Ermutigungsfunktion zu, zum Bei-
spiel durch die Förderung entsprechender Initiativen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Geschlechtersensible
und effiziente Haushaltspolitik einführen
(Tagesordnungspunkt 16)
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Wir debattieren
heute über einen Antrag zum geschlechtergerechten Ma-
nagement öffentlicher Finanzen, der von Ihnen, verehrte
Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion, impli-
ziert, dass die Bundesregierung sich auf dieses Thema
nicht einlassen würde. Diesem Vorwurf trete ich ent-
schieden entgegen.
Das Bundesfamilienministerium hat im Auftrag der
letzten Bundesregierung eine Machbarkeitsstudie in
Auftrag gegeben, um Möglichkeiten der Einführung von
Gender Budgeting – oder besser: geschlechtergerechtem
Management öffentlicher Finanzen – zu identifizieren.
Diese liegt dem Bundesministerium vor und wird zurzeit
geprüft. Das wissen Sie, verehrte Kolleginnen und Kol-
legen der Grünen, sehr wohl.
Das Prinzip der Gleichstellung von Frauen und Män-
nern als durchgängiges Leitprinzip des öffentlichen Han-
delns bedeutet, die unterschiedlichen Interessen von
Frauen und Männern von vornherein zu berücksichtigen,
um das Ziel der Gleichstellung von Frauen und Männern
effektiv umsetzen zu können.
Dazu gehört natürlich auch die geschlechterdifferen-
zierte Analyse der öffentlichen Haushalte. Gemeint ist
ein Bündel von Instrumenten, mit denen der Haushalt
auf seine Wirkungen für die Gleichstellung zwischen
den Geschlechtern hin überprüft werden kann. Dem
Haushalt kommt der Umsetzung der Gleichstellung von
Frauen und Männern als durchgängiges Leitprinzip des
öffentlichen Handelns besondere Bedeutung zu: Er muss
die unterschiedlichen Effekte auf Männer und Frauen in
ihren unterschiedlichen Lebenslagen und mit ihren viel-
fältigen Erwartungen und Bedürfnissen in den Blick
nehmen. Dazu gehören natürlich auch die unterschied-
lichen Effekte auf die verschiedenen Generationen im
Sinne von Genarationenbilanzen.
Mit der Verteilung der Ressourcen im Haushaltsplan
werden Aufgabenstellungen definiert und Prioritäten ge-
setzt, und somit das Ziel Gleichstellung im Bereich der
Finanz- und Haushaltspolitik.
Wir stehen vor großen Herausforderungen: Gerade in
Zeiten, in denen das wirtschaftliche Wachstum zunimmt,
die Prognosen für Deutschland günstig sind und der
Staat wieder mehr Geld einnimmt, reden wir sofort über
die Verteilung. Auf der anderen Seite steht immer noch
die Haushaltskonsolidierung im Mittelpunkt. Wir dürfen
zukünftige Generationen nicht mit Schuldenbergen be-
lasten. Gender Budgeting kann dabei als Analyse- und
Controllinginstrument helfen, Prioritätensetzungen zu
erarbeiten und ihre Umsetzung zu kontrollieren, aber es
darf allerdings auch nicht überbewertet werden.
Auch auf europäischer Ebene sind die Veränderungen
in unserer Gesellschaft vielfältig: Demografischer Wan-
del, Mobilität, Migration – hier sind Reaktionen und
zum Teil massives Gegensteuern gefragt. Die Auswir-
kungen dieser Themenfelder beeinflussen auch die Rol-
lenverteilung zwischen Frauen und Männern in der Fa-
milie und im Beruf sowie die Sozialsysteme. Auch soll
unser Handeln Wirkung zeigen.
Mehr denn je sind deshalb Wirkungsanalysen und
Steuerungsinstrumente gefragt, um ohne Bürokratie oder
zumindest ohne ein Mehr an Bürokratie mit effizientem
Mitteleinsatz den Bedürfnissen von Frauen und von
Männern in diesen Veränderungsprozessen nachhaltig
und zielgerichtet Rechnung zu tragen. Eine zielgenauere
Verwendung von Mitteln kann auch ein Weg sein, ver-
nünftige und durchsetzbare Sparvorschläge zu entwi-
ckeln und umzusetzen.
Bei der Verteilung von Geldern sollten wir darauf
achten, dass Frauen und Männer Gewinn und Nutzen
von der Verwendung von Haushaltsmitteln haben. Ein
gutes Beispiel hierfür sind das neue Elterngeld, bei dem
neben den regulären zwölf Monaten auch zwei weitere
Partnermonate eingeführt wurden, oder auch die Diskus-
sion zum Ausbau der Kinderbetreuung von unter Drei-
jährigen, die zugleich eine Diskussion um den Einsatz
von öffentlichen Mitteln zur Schaffung von mehr Wahl-
freiheit und damit für mehr Chancengerechtigkeit für
Frauen und Männer ist.
In Deutschland hat man sich 2002 dazu entschlos-
sen, den Haushalt gleichstellungsorientiert zu planen.
Für die Durchführung der gleichstellungspolitischen,
geschlechterdifferenzierten Abschätzung der Gesetzes-
folgen – § 2 in Verbindung mit § 44 GGO – hat das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend in Ergänzung der geschäftsordnungsrechtlichen
Vorgaben eine Arbeitshilfe erstellt. Danach ist in einer
ersten Verfahrensstufe eine gleichstellungspolitische
Relevanzprüfung vorzunehmen. Sofern diese zu dem
Ergebnis führt, dass Gleichstellungsrelevanz vorliegt,
folgt eine vertiefte Hauptprüfung; ergibt die Vorprü-
fung hingegen, dass keine Gleichstellungsrelevanz ge-
geben ist, folgt keine weitere Untersuchung. Letzteres
konnte zum Beispiel für den Haushalt 2007 bejaht wer-
den, sodass eine weitere Prüfung entfallen konnte.
Neben der praktischen Umsetzung, die also schon
jetzt erfolgt, liegt dem Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, wie bereits erwähnt, die
Machbarkeitsstudie mittlerweile vor und wird gegenwär-
tig geprüft. Es ist geplant, ihre Ergebnisse und weitere
Konsequenzen im Ressortkreis zu diskutieren. Dabei
wird auch die Frage ihrer Veröffentlichung entschieden
werden. Dass sowohl die Ergebnisse als auch eine mög-
liche Veröffentlichung erst von der Bundesregierung or-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12895
(A) (C)
(B) (D)
dentlich und ressortübergreifend geprüft werden, bevor
sie zur öffentlichen Disposition stehen, wird meines Er-
achtens gerade der hohen Wertigkeit dieses sensiblen
Themas gerecht.
Gender Budgeting betrifft alle an der Haushaltsauf-
stellung Beteiligten. Daher muss der Nutzen für mög-
lichst viele klar erkennbar sein. Es darf kein bürokrati-
sches Monstrum geschaffen werden. Aufgeblähte
komplizierte Verfahren wären das Ende von Gender
Budgeting, bevor es überhaupt begonnen hat.
Die Bundesregierung fördert seit einigen Jahren das
Gender-Kompetenz-Zentrum an der Humboldt-Univer-
sität in Berlin, weil sich gezeigt hat, dass externe Unter-
stützung bei der Gewinnung von Gender-Kompetenz
sinnvoll und erforderlich ist. Die Website des Zentrums
ist nach Sachgebieten und Handlungsfeldern unterteilt.
Damit bieten sich gezielt Möglichkeiten, für bestimmte
Themen- und/oder Arbeitsbereiche zumindest Grundin-
formationen zu erhalten.
Die Bundesregierung hat außerdem auf ihrer Website
ein Wissensnetz eingerichtet und bietet dort ihre Arbeits-
hilfen, zum Beispiel die zur Rechtsetzung. Mit dem
„Fahrplan der Europäischen Kommission für die Gleich-
stellung von Frauen und Männern 2006–2010“ wurde
das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen ver-
ankert, das Expertisen bereitstellen, den Wissensstand
erhöhen und das Thema Gleichstellung stärker ins öf-
fentliche Blickfeld rücken soll.
Wie die Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen in ih-
rem Antrag außerdem anerkannt haben, hat die Bundes-
regierung im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft mit
einer Fachkonferenz mit dem Titel „Die Verteilung
machts – Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit durch
geschlechtersensible Haushalte“ dieses Thema ausge-
leuchtet.
Auch andere europäische Länder haben eine gleich-
stellungsorientierte Haushaltsplanung eingeführt. Welt-
weit existieren bereits in 50 Ländern Gender-Budgeting-
Initiativen. Trotzdem steckt das geschlechtergerechte
Management öffentlicher Finanzen noch in den Kinder-
schuhen, aus denen es zum Beispiel mit Hilfe der Fach-
tagung herauswachsen soll.
Mit Fachteilnehmern aus unterschiedlichen Ländern
wurden die Konzepte und Erfolge dieser Länder als
Best-Practice-Beispiele vorgestellt und diskutiert. Die
Mitgliedstaaten der EU und die europäische Ebene kön-
nen sich beim Thema Gleichstellungspolitik den Ball ge-
genseitig zuspielen. Gleichstellungsorientiertes Manage-
ment öffentlicher Finanzen müssen auf allen Ebenen
öffentlicher Haushalte erprobt und seine Chancen und
Grenzen genau sondiert werden. Dabei sind auf Ebene
der Kommunen andere Möglichkeiten gegeben als auf
der Ebene der nationalen Haushalte oder bei der Aufstel-
lung und beim Controlling der Haushalte der Europäi-
schen Union.
Eine erste und sehr wichtige Schlussfolgerung der
Diskussionen auf der Tagung war jedoch auch, dass Ge-
schwindigkeit nicht das Hauptkriterium bei den Umset-
zungsvorschlägen sein darf. Verbindlichkeit, Seriosität,
Passgenauigkeit, Angemessenheit, Nutzenorientierung –
das sind Kriterien, die bei der Implementierung von
Gender Budgeting vor allem zu beachten sind. Auch
müssen die Aspekte des geschlechtergerechten Manage-
ments öffentlicher Haushalte in die bestehenden Abläufe
integriert werden, die in Politik und Verwaltung bekannt
sind. Die Dokumentation zur Tagung soll demnächst
veröffentlicht werden, dann können wir einzelne Punkte
gerne diskutieren.
Viele der Forderungen aus Ihrem Antrag sind jedoch
durch das Handeln der Bundesregierung obsolet, und be-
vor jetzt die Bundesregierung im Schnellschuss zu ei-
nem bestimmten Handeln verpflichtet wird, sollten wir
diese Dokumentation mit den Schlussfolgerungen ab-
warten.
Christel Humme (SPD): Haushaltsentscheidungen
sind immer auch ein Ausdruck von Machtverhältnissen.
Das war die Feststellung einer österreichischen Profes-
sorin im Rahmen einer Konferenz der FES. Das sehe ich
auch so. Deshalb ist für uns Frauen interessant: Wohin
fließt das Geld im Bundeshaushalt? Wer profitiert da-
von? Wird damit die Gleichstellung von Männern und
Frauen gefördert? Oder werden Rollen zugewiesen oder
gar strukturell verfestigt? Auf europäischer Ebene sind
diese Fragestellungen schon seit Jahren ein wichtiges
Thema.
Es geht um die zentrale Frage: Wie können ge-
schlechtersensible Haushalte entwickelt und umgesetzt
werden? Das ist ein Thema, das unter der Überschrift
„Gender-Budgeting“ diskutiert wird.
Es gibt auch schon erste Schritte, die die Umsetzung
einleiten sollen. So haben sich die Finanzminister der
EU-Länder bereits im Herbst 2001 auf ein gemeinsames
Vorgehen verständig, bis zum Jahr 2015 Gender-Budge-
ting europaweit umzusetzen. In der Bundesrepublik
steckt dieses Thema auf Bundesebene allerdings immer
noch in den Kinderschuhen und kommt erst langsam ins
Bewusstsein. Daran muss sich etwas ändern; die heutige
Debatte kann dazu einen Beitrag leisten.
Die rot-grüne Bundesregierung unter der zuständigen
Ministerin Renate Schmidt hat im April 2005 eine
Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, wie ein ge-
schlechtergerechter Haushalt auf Bundesebene realisiert
werden könnte. Jetzt – nach zwei Jahren – liegen die Er-
gebnisse der Studie endlich vor und sind auf der Home-
page des Familienministeriums zu lesen. Die meiner An-
sicht nach hervorragenden umfangreichen Analysen und
Vorschläge, die dort gemacht werden, dürfen natürlich
nicht in der Schublade verschwinden, sondern müssen
genutzt werden.
Im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft hat
Frau Ministerin von der Leyen dankenswerterweise eine
europäische Fachkonferenz zu dem Thema „Die Vertei-
lung macht's – Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit
durch geschlechtersensible Haushalte“ organisiert und
sich so dem Thema genähert. Das Fazit der Veranstal-
tung ist dokumentiert und lautet:
12896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Geschlechterorientierte Haushalte sind Abbild und
Voraussetzung erfolgreicher, gleichstellungsorien-
tierter Politik. Sie dokumentieren, dass Reformen
Diskriminierungen abbauen wollen und wo dies
noch nicht gelingt. Ein soziales Europa stellt sich
der Aufgabe, den gesellschaftlichen Wandel mit
seinen Folgen für Frauen, für Frauen und Männer,
für das Verhältnis der Geschlechter und für die
Gleichberechtigung aufzunehmen und zu gestalten.
Das ist aus unserer Sicht nur zu unterstreichen.
Mittlerweile müsste es sich eigentlich von selbst ver-
stehen, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern
als durchgängiges Prinzip auf allen Entscheidungsebe-
nen beachtet wird. Ein Prinzip, das unter dem Begriff
„Gender-Mainstreaming“ bekannt geworden ist.
Wir haben dafür viele eindeutige Rechtsgrundlagen,
von denen ich die drei wichtigsten in diesem Zusammen-
hang nenne: Seit 1994 verpflichtet sich der Staat in Art. 3
Abs. 2 GG für die Durchsetzung der tatsächlichen
Gleichstellung zu sorgen. 1999 hat die damalige Bun-
desregierung auf europäischer Ebene den Amsterdamer
Vertrag ratifiziert und sich verpflichtet, das Gender-
Mainstreaming-Prinzip einzuführen. Das hat dazu ge-
führt, dass es seit September 2000 eine Gemeinsame Ge-
schäftsordnung, GGO, der Bundesministerien gibt, in
der sich die Ministerien verpflichten, alle Maßnahmen
daraufhin zu prüfen, wie sie unter dem Aspekt der För-
derung der Gleichstellung auf Männer und Frauen
wirken. Eine geschlechtergerechte Sprache gehört im
Übrigen dazu. Dieses vereinbarte Prinzip des Gender-
Mainstreaming hat mittlerweile zu vielen Erfolgen ge-
führt.
Geschlechtersensible Haushalte, das heißt „Gender-
Budgeting“ ist nichts anderes als die konsequente An-
wendung des Gender-Mainstreaming im Haushaltspro-
zess. Es sollen geschlechterbezogene Informationen für
den Haushalt auf allen Ebenen konkret nutzbar gemacht
werden. Damit können alle haushaltsrelevanten Maß-
nahmen daraufhin untersucht werden, wie konsequent
sie tatsächlich zur Gleichstellung von Frauen und Män-
nern beitragen. Es soll damit auch die Frage nach den
gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen beantwor-
tet werden. Das heißt auch: Wie sieht die gesellschaft-
liche Verteilung von Geld und Zeit, von bezahlter und
unbezahlter Arbeit aus? Mit diesem Verfahren erreichen
wir eine sehr hohe Transparenz.
So leicht die Formulierung des Ziels eines geschlech-
tergerechten Haushalts ist, umso schwieriger scheint
eine konkrete und schnelle Umsetzung. Deshalb kann
die Veröffentlichung der Machbarkeitsstudie nicht gleich
der unmittelbare Startschuss für die konkrete Umsetzung
sein.
Um was es aber gehen muss, ist die Einleitung eines
Denk-, aber auch Umsetzungsprozesses. Dabei sind die
aktuellen Ergebnisse der europäischen Fachkonferenz
des Ministeriums genauso hilfreich wie die umfangrei-
che Machbarkeitsstudie.
Die Tatsache, dass sich die Ministerien bereits mit
Gender-Mainstreaming auseinandergesetzt und Instru-
mente zum Beispiel der Gesetzesfolgenabschätzung ent-
wickelt haben, zeigt, dass wir nicht bei null anfangen
müssen, wenn wir Gender-Budgeting einführen wollen.
Gerade wenn es um Gleichstellung geht, wird oft das
Argument angeführt, das Ganze sei zu bürokratisch. Das
lassen wir nicht gelten. Denn wir wissen, es geht: Vorrei-
ter auf diesem Gebiet war Australien. Dort wurde 1984
damit begonnen, durch ein Women’s-Budget herauszu-
finden, wie sich Haushalt und Regierungshandeln kon-
kret auf Frauen und Mädchen auswirken.
Glücklicherweise hat sich inzwischen auch in Europa
viel getan. Österreich ist mit gutem Beispiel vorange-
gangen. Dort beschäftigt sich derzeit beispielsweise eine
Arbeitsgruppe mit der Einführung eines Gender-Budge-
ting-Prüfverfahrens im Finanzministerium. In Schweden
wurde bereits vor fünf Jahren mit der Umsetzung eines
gleichstellungsorientierten Haushalts begonnen. In
Großbritannien engagiert sich seit 1989 die Women’s
Budget Group. Frankreich, Belgien und die nordischen
Staaten haben Schritte zum Gender-Budgeting eingelei-
tet. In der Schweiz wird in einem ersten Schritt die unbe-
zahlte Arbeit, die nicht nur dort überwiegend von Frauen
geleistet wird, in die volkswirtschaftliche Gesamtrech-
nung mit einbezogen.
Berlin hat als erstes und bisher einziges Bundesland
das Prinzip des geschlechtersensiblen Haushalts mit dem
Doppelhaushalt 2006/07 konsequent umgesetzt. Kom-
munen wie München haben sich ebenfalls dieser Heraus-
forderung gestellt.
Wir sollten all diese Erfahrungen nutzen und uns auch
auf Bundesebene schrittweise auf den Weg machen.
Bundesfinanzminister Peer Steinbrück brachte es bei der
eingangs erwähnten Konferenz der FES treffend auf den
Punkt:
Wir brauchen ein sehr viel stärkeres Bewusstsein
für Gleichstellungsbelange in allen Fachpolitiken,
im Gegensatz zu einer alleinigen Zuständigkeit des
Ressorts für Frauen- oder Gleichstellungspolitik.
Dem ist im noch bestehenden Jahr der Chancen-
gleichheit nichts hinzuzufügen.
Ina Lenke (FDP): In Deutschland bezahlen Steuer-
bürger und -bürgerinnen und Unternehmen im Jahr
540 Milliarden Euro, aufgeteilt auf Bund, Länder und
Kommunen. Das Geld wird ausgegeben. Wir alle kennen
die vielfältigen Aufgaben und Verpflichtungen, die der
Staat hat. Aber werden sie auch für die größte Gruppe
der Gesellschaft – die Frauen – und deren besondere
Aufgaben in der Gesellschaft, wie zum Beispiel Kinder-
erziehung und -betreuung und Strukturen für die Verein-
barkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit gerecht
verteilt? Auf der kommunalen Ebene höre ich mehr von
den hohen Kosten für Kinderbetreuung, nie aber vom
politischen Auftrag des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, in dem
allen staatlichen Ebenen die Aufgabe zukommt, die tat-
sächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern zu fördern.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12897
(A) (C)
(B) (D)
Die Grünen hatten in ihrer Regierungszeit von 1998
bis 2005 mit der SPD eine gute Möglichkeit, geschlech-
tersensible Haushaltspolitik einzuführen. Warum hat das
nicht geklappt?
Interessant ist die Aussage in dem Antrag der Grünen,
dass die EU eine Entschließung „Gender Budgeting“
verabschiedet hat, die in den Ländern auf lokaler, regio-
naler und nationaler Ebene umgesetzt werden soll. Die
Aussage, dass auf EU-Ebene lediglich „die Möglichkei-
ten geprüft werden sollen, auch Gender Budgeting ein-
zuführen“, ist doch sehr vage. Deshalb fehlt in Ihrem
Antrag die Forderung an die EU-Kommission, erst ein-
mal selbst für bessere gendergerechte Verhältnisse zu
sorgen und nicht einfach einen Beschluss für die Mit-
gliedsländer zu verabschieden.
Die politischen Forderungen der Grünen sind in dem
Antrag sehr weich formuliert. Was mich bei Ihnen wun-
dert! Da soll eine Studie öffentlich diskutiert werden, da
sollen konkrete Schritte geprüft werden, da soll sicher-
gestellt werden, dass ein Austausch der Ressorts ermög-
licht wird. Wo bleiben die konkreten Vorschläge von Ih-
nen? Die vermisse ich in Ihrem Antrag.
Meine Zustimmung haben Sie bei Ihrer Kritik, dass
eine Machbarkeitsstudie zur Umsetzung von Gender
Budgeting in Auftrag gegeben wurde, die jetzt von der
Bundesregierung immer noch unter Verschluss gehalten
wird.
Beim Verteidigungshaushalt ist die Frage nach Gen-
der Budgeting für manche nicht nachvollziehbar. Wenn
ich dazu ein Beispiel nenne, wird es klarer: Seit 2001 ha-
ben Frauen das Recht, bei der Bundeswehr Dienst zu
tun. Damit einher geht natürlich auch die Vereinbarkeit
von Dienst und Familie.
Ende 2006 wurde das Soldatinnen- und Soldaten-
Gleichbehandlungsgesetz verabschiedet und zusätzlich
noch durch den Generalinspekteur der Bundeswehr mit
einer „Teilkonzeption Vereinbarkeit von Familie und
Dienst in den Streitkräften“ unterfüttert. Wie heißt es in
der Teilkonzeption? „Sofern die rechtlichen, finanziellen
und materiellen Rahmenbedingungen gegeben sind, sol-
len (…)“. Im Budget des Verteidigungshaushaltes spie-
gelt sich dies nicht wider.
Als frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfrak-
tion der FDP bin ich für eine geschlechtersensible und
effektive Haushaltspolitik und die Umsetzung von der
Theorie in die Praxis. Dabei muss Balance gehalten wer-
den zwischen dem Anspruch und der Umsetzung einer
gendergerechten Haushaltsführung und der Frage nach
dem bürokratischen Aufwand, den Kosten und der Wir-
kung der Maßnahme.
Österreich hat zum Beispiel dieses Prinzip eingeführt,
um seinen Staatshaushalt auf seine Wirkung für Gleich-
stellung zwischen den Geschlechtern zu überprüfen.
Weltweit existieren bereits in 50 Ländern Gender-Bud-
geting-Initiativen. Das sollte auch bei uns möglich sein.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Die Linke unter-
stützt den Antrag der Grünen. Ich möchte auch gleich ei-
nen Verbesserungsvorschlag einbringen, damit der An-
trag noch etwas konkreter und anschaulicher wird. Sie
schreiben in Ihrem Antrag, dass gute Beispiele anderer
Länder einbezogen werden sollen. Da sollten wir nicht
den gleichen Umweg machen wie in der Bildungspolitik.
Sie erinnern sich, dass Heerscharen von Bildungspoli-
tiker nach Finnland fuhren, um das dortige Schulsystem
kennenzulernen. Dabei hätte man sich bloß die POS
– die Polytechnische Oberschule – aus DDR-Zeiten et-
was unvoreingenommener anschauen müssen. So hätte
man Reisekosten gespart und wäre zu ähnlichen Ergeb-
nissen gekommen. Bauer Korl, ein Mecklenburger Ka-
barettist, hat die Abkürzung POS als „Pisa ohne Schwie-
rigkeiten“ übersetzt. Da hat er den Nagel auf den Kopf
getroffen!
Wenn Herr Steinbrück wissen will, wie ein geschlech-
tergerechter Haushalt funktioniert, muss er nur eine
Fahrkarte nach Berlin-Lichtenberg lösen. In meinem
Wahlkreis können die Bürgerinnen und Bürger direkt
über die Verwendung ihrer Steuergelder entscheiden. Im
Rahmen des Bürgerhaushaltes ist Gender Budgeting be-
reits integriert.
Was heißt das konkret? Die Haushaltsanalyse hat zum
Beispiel ergeben, dass Mädchen und Frauen die Sportan-
lagen des Bezirkes unterdurchschnittlich nutzen. Durch
gezielte Investitionen und gezielte Vergabe von Sport-
stätten gibt es jetzt viel mehr aktive Sportlerinnen in
Lichtenberg. Das ist für mich geschlechtersensible Haus-
haltspolitik.
Mir ist klar, dass Herr Steinbrück die Erfahrungen der
Lichtenberger Bürgermeisterin, Christina Emmrich,
nicht eins zu eins umsetzen kann, doch die Budgetanaly-
sen zeigen, dass es eine Benachteiligung von Frauen bei
der Verwendung von Steuergeldern gibt. Der geschlech-
terblinde Haushalt verstärkt regelmäßig bestehende Un-
gleichheiten. Das haben Politikerinnen und Politiker in
über 40 Ländern erkannt, bloß die Bundesregierung hat
sich auf diese Entwicklung noch nicht eingestellt. Die
Bundesregierung ist untätig, obwohl sich die EU-Fi-
nanzminister verpflichtet haben, bis 2015 Gender Bud-
geting in allen EU-Ländern umzusetzen.
Warum ist diese Koalition immer so schwerfällig und
unwillig, wenn es um mehr Gerechtigkeit bei der Vertei-
lung von Steuergeldern geht? Auf eine kleine Anfrage
der Linken zu dem Thema antwortete die Bundesregie-
rung, dass das Haushaltsgesetz 2007 keine Gleichstel-
lungsrelevanz habe. Das ist doch borniert und hinter-
wäldlerisch.
Ich hoffe, dass die Frauen in der SPD- und in der
CDU-Fraktion sich des Themas Geschlechtergerechtig-
keit im Bundeshaushalt annehmen. Im Haushaltsaus-
schuss ist von 15 Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion
nur eine Frau in dem Ausschuss. Die SPD hat immerhin
fünf Frauen. Es wird Zeit, dass mehr Frauen sich mit der
Verteilung der Steuergelder beschäftigen. Ich würde
mich freuen, wenn die Ministerinnen dem Finanzminis-
ter vormachen, wie aus einem geschlechtsblinden Haus-
halt ein geschlechtergerechter Haushalt werden kann.
Die Unterstützung der Linken haben Sie.
12898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Geschlechtersensible Haushaltspolitik –
vielleicht fragen Sie sich, was das denn sein könnte?
Nun, es ist der Versuch, den Begriff „Gender Budgeting“
ins Deutsche zu übertragen.
Wir hören ja des Öfteren von den Schwierigkeiten mit
den Anglizismen – allerdings nur, wenn es um Gleich-
stellung geht; die Hedgefonds und das Benchmarking
sind davon unbehelligt. Gender Budgeting ist wiederum,
einfach gesagt, Gender Mainstreaming auf den Haushalt
angewandt. Gender Mainstreaming muss ich in diesem
Kreis wohl nicht erklären; das kennt ja inzwischen selbst
Bundestagspräsident Dr. Lammert.
Der Haushalt legt die politischen Prioritäten fest und
ist damit auch ein wichtiger Ansatzpunkt für Geschlech-
tergerechtigkeit. Es muss analysiert werden, wohin die
Mittel fließen, wem sie zugute kommen und ob das von
uns politisch so gewollt ist. Wahrscheinlich werden wir
dann Prioritäten verändern und Mittel anders verteilen.
Ich glaube nämlich nicht, dass der Bundeshaushalt ge-
schlechtsneutral ist.
Gender Budgeting kann mehr Gerechtigkeit schaffen
und mehr Zielgenauigkeit. Wir werden mit den gleichen
Mitteln effizienter und transparenter arbeiten können.
Darin liegt für mich der Charme von Gender Budgeting.
Wir haben ja nun endlich die Machbarkeitsstudie in
den Händen. Noch unter Rot-Grün in Auftrag gegeben,
verbrachte sie viele Monate in Schubladen, ehe sich die
Ministerin dazu durchringen konnte, sie ans Licht der
Öffentlichkeit zu lassen. Aber sie scheint lichtscheu ge-
blieben zu sein, veröffentlicht nur im Internet, allerdings
nur auffindbar, wenn man genau weiß, wo sie liegt –
keine Pressemitteilung, kein Begleittext, nichts. Beim
Finanzministerium: keine Spur. Schade, als Herr
Steinbrück Ministerpräsident war, hat NRW die Auf-
nahme von Gender Budgeting ins Haushaltsgesetz be-
schlossen; da hätten wir uns ein wenig mehr Einsatz ge-
wünscht.
Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie
versuchen offensichtlich, die Studie so schnell und un-
auffällig wie möglich wieder in die Schublade zurückzu-
legen. Dabei finden sich auf den 234 Seiten interessante
Vorschläge. Am leichtesten lassen sich personenbezo-
gene Förderungen analysieren: Fördert das Auswärtige
Amt Schulen in Regionen, in denen Koedukation nicht
erwünscht ist, müssen neben Jungenschulen auch Mäd-
chenschulen finanziert werden. Wenn Sie mich fragen,
müssten oft sogar mehr Mädchenschulen gefördert wer-
den. Darüber könnten wir dann diskutieren.
Die Forschungsgruppe macht auf eine wesentliche
Voraussetzung für Gender Budgeting aufmerksam: die
Akzeptanz. Einige Häuser haben sich der Zusammen-
arbeit sogar komplett verweigert, wie das Verteidigungs-
ministerium, und da wäre es nötig. Es nützt doch nichts,
wenn zwar Konzepte zur Vereinbarkeit von Familie und
Dienst in den Streitkräften geschrieben werden, aber
dann keinerlei Mittel eingestellt werden.
Die der Studie vorangestellten „Anmerkungen der
Bundesregierung“ sind nicht sonderlich motivierend. Da
heißt es, es bedürfe „noch der Klärung grundsätzlicher
Fragen“. Die Vorschläge seien „zum Teil mit erhebli-
chem bürokratischem Aufwand verbunden“. Vielleicht
verstehe ich hier etwas falsch, aber ein engagierter Auf-
bruch klingt anders.
Dabei müssen Sie aktiv werden. Die EU verlangt das
von ihren Mitgliedstaaten, und viele Länder haben be-
reits konkrete Maßnahmen entwickelt. Während der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft gab es als einziges
gleichstellungspolitisches Projekt eine Konferenz zu
Gender Budgeting. Ergebnis: eineinhalb Seiten unver-
bindlichster „Schlussfolgerungen“. Wo wir gerade beim
Thema Finanzen sind: Ein verantwortungsvoller Um-
gang mit Steuergeldern sieht anders aus.
Wir fordern Sie auf, die Ergebnisse der Studie öffent-
lich zu diskutieren. Suchen Sie den Austausch mit ande-
ren EU-Ländern! Unterziehen Sie ausgewählte Ausga-
ben- und Einnahmenarten der Ressorts einer Gender-
Budgeting-Analyse! Beginnen Sie! Die Einführung von
Gender Budgeting wird ein längerfristiger Prozess sein.
Fangen wir damit an!
Eine Studie zu verbergen, eine große Konferenz fast
klandestin abzuhalten und sich ansonsten mit dem Bloß-
keine-Bürokratie-Mantra der Debatte zu entziehen, ist
kein sinnvoller Politikstil. Unterstützen Sie ein Instru-
ment, das zu mehr Zielgenauigkeit, mehr Transparenz
und mehr Gerechtigkeit führen wird!
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Anträge:
– Fortsetzung der Beteiligung deutscher
Streitkräfte an der Friedensmission der Ver-
einten Nationen im Sudan (UNMIS) auf
Grundlage der Resolution 1590 (2005) des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom
24. März 2005 und weiterer Mandatsverlän-
gerungen durch den Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen
– Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an der AU/UN Hybrid Operation in
Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Reso-
lution 1769 (2007) des Sicherheitsrats der
Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Wir beraten
heute Abend über die Fortsetzung der Beteiligung deut-
scher Soldaten an der Friedensmission der Vereinten Na-
tionen im Sudan – UNMIS –, an der auch deutsche
Streitkräfte seit mehr als zwei Jahren beteiligt sind und
über die – neue – Beteiligung von deutschen Soldaten an
einer zweiten Mission, dieses Mal einer Mission aus
Vereinten Nationen und Afrikanischer Union in Darfur,
UNAMID.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12899
(A) (C)
(B) (D)
Herr Staatsminister Erler hat vorgetragen, wie es zu
diesen Missionen gekommen ist; er hat die mit der
UN-Charta und den Beschlüssen des UN-Sicherheits-
rates übereinstimmende völkerrechtliche Grundlage dar-
gelegt und auch begründet, warum beide Missionen poli-
tisch notwendig und sinnvoll sind. Wir teilen diese
Auffassung und unterstützen beide Anträge auch ange-
sichts der schwerwiegenden Risiken für Leben und Ge-
sundheit der beteiligten Soldaten, die dem Deutschen
Bundestag bei der Entscheidung über solche Missionen
immer vor Augen stehen müssen.
Die Lage im Sudan ist – wir hören und sehen das täg-
lich in den Nachrichten – außerordentlich problematisch.
Die politischen Spannungen zwischen dem Norden und
dem Süden drohen wieder in offene gewaltsame Ausein-
andersetzungen zurückzufallen. Die Gewalt und Über-
fälle, Unrecht, schwerste Menschenrechtsverletzungen
und Vertreibungen in Darfur wie auch die häufig
schreckliche Lage der vielen Flüchtlinge und IDPs im
Darfur und jenseits der Grenzen im Tschad und in der
Zentralafrikanischen Republik verlangen die Aufmerk-
samkeit und auch die Hilfe der Weltöffentlichkeit. Bei
meinem Besuch in Lagern für Darfur-Flüchtlinge, aber
auch IDPs im Tschad an der Grenze zu Darfur vor eini-
gen Wochen haben das Elend und auch die begründeten
Ängste der Menschen dort mit ihren schrecklichen
Schicksalen einen bleibenden Eindruck bei mir hinter-
lassen. Ihnen muss geholfen werden. Das versuchen die
Vereinten Nationen auf ganz unterschiedlichen Wegen:
durch Hilfen für die Flüchtlinge, durch Appelle und die
Unterstützung von Verhandlungen unter Einbeziehung
erfahrener Sonderberichterstatter und durch die Ein-
schaltung des Internationalen Strafgerichtshofs. Es muss
darum gehen, auf dem Verhandlungsweg Lösungen für
die komplexen Problemen zu finden, die den Menschen
in der Region das friedliche Miteinanderleben ermögli-
chen. Dazu ist auch der Beitrag der Länder erforderlich,
die – wie etwa die Volksrepublik China, aber auch an-
dere Staaten – wirtschaftliche Interessen in der Region
verfolgen.
UNMIS versucht seit mehreren Jahren nicht ohne Er-
folg, dazu beizutragen, das Abgleiten des trotz Friedens-
abkommens weiter bestehenden Konflikts zwischen der
Zentralregierung in Khartoum und dem Südsudan in er-
neute gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern.
Das ist auch weiterhin erforderlich. Die deutsche Beteili-
gung an UNMIS hat sich in den vergangenen Jahren als
notwendig und nützlich erwiesen. Herr Staatsminister
Erler hat uns das Ausmaß und die Kosten der jetzt zu
verlängernden Beteiligung vor Augen geführt. Die müs-
sen wir tragen.
Die zweite Mission in Verantwortung von UN und
AU, die sogenannte Hybridmission UNAMID auf der
Grundlage der Resolution 1769/2007 des UN-Sicher-
heitsrates, braucht die Beteiligung der deutschen Solda-
ten in dem dargelegten Umfang ebenfalls, um dabei zu
helfen, wenigstens das an Zurückdrängung von Gewalt
und damit an Vorbereitung politischer Verhandlungen
über die komplexen Konflikte in Darfur und darüber hi-
naus in der Region sicherzustellen, was mit militärischen
Möglichkeiten erreicht werden kann.
Wir hoffen, dass UNAMID zum Ziel führen kann,
und halten die Beteiligung deutscher Soldaten insbeson-
dere beim Lufttransport im Einsatzgebiet von UNAMID,
aber auch für Beratungs- und Hilfsaufgaben für sinnvoll.
Zugleich allerdings unterstreichen wir, was auch die
Bundesregierung mehrfach zum Ausdruck gebracht hat,
dass nämlich der Schwerpunkt des Engagements der
Weltöffentlichkeit für die gequälten Menschen in Darfur
in der Ermöglichung und Unterstützung tragfähiger poli-
tischer Lösungen liegen muss.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Integrierte Planung
für Schiene und Straße im Rheingraben –
Gesamtverkehrskonzept Südbaden (Tagesord-
nungspunkt 18)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Die Bahn-
strecke durch den Oberrheingraben von Mannheim bis
Basel ist Teil einer der bedeutendsten und am stärksten
genutzten Nord-Süd-Verbindungen im europäischen
Eisenbahnverkehr. Schon heute ist diese Strecke mit
130 Prozent Auslastung überbelastet. Und für die Zu-
kunft wird ein weiterer deutlich ansteigender Bedarf für
diese Schienenstrecke prognostiziert. So soll bis zum
Jahr 2025 der Verkehr gegenüber heute um rund 50 Pro-
zent zunehmen. Dies betrifft vor allem die Güterver-
kehre.
Diese bedeutende Eisenbahnstrecke muss und soll da-
her von heute zwei auf künftig vier Gleise ausgebaut
werden. Teilweise ist dieser Ausbau bereits erfolgt. Für
den Streckenabschnitt von Offenburg bis Basel sind die
Planrechtsverfahren eingeleitet. In einem Abschnitt be-
steht bereits Baurecht und kürzlich wurde für den in die-
sem Abschnitt liegenden Katzenbergtunnel erfolgreich
der Tunneldurchstich gefeiert. Zwischen Offenburg und
Karlsruhe ist der Rastatter Tunnel bestandskräftig plan-
festgestellt und sollte möglichst bald realisiert werden.
Ab der deutsch-schweizerischen Grenze Richtung
Süden betreibt die Schweiz mit der Neuen Eisenbahn-
Alpentransversale ihrerseits ein großes Schienenver-
kehrsbauprojekt, zu dem vor allem zwei neue Eisen-
bahntunnel unter dem Lötschberg und unter dem
Gotthard gehören. Im Vertrag von Lugano haben die
Bundesrepublik Deutschland und die Schweizer Eidge-
nossenschaft sich zu einem gemeinsam abgestimmten
Schienenausbau verpflichtet.
Im dichtbesiedelten Oberrheingraben stellt der Aus-
bau von bislang zwei auf vier Bahngleise eine große He-
rausforderung für eine umwelt- und anwohnergerechte
Planung dar. Die Städte und Gemeinden entlang der
Rheintalbahn fordern ebenso wie die betroffenen Bürge-
rinnen und Bürger, dass beim Bahnausbau auf ihre städ-
tebaulichen Belange, auf den Schutz der Menschen vor
Lärm und anderen Beeinträchtigungen in besonderer
Weise Rücksicht genommen wird. Dieses Anliegen ist
voll und ganz zu unterstützen.
12900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Nun hat die FDP zu einigen Anliegen der Region am
Oberrhein einen Antrag im Deutschen Bundestag vorge-
legt. Erlauben Sie mir den Hinweis: Dieser FDP-Antrag,
der sich an die Bundesregierung wendet, kommt etwas
spät. Denn wir befinden uns in allen im Antrag erwähn-
ten Streckenabschnitten in bereits eingeleiteten Plan-
rechtsverfahren, in die politisch zurzeit gar nicht einge-
griffen werden darf. Vielmehr geht es jetzt darum, dass
die Trassenalternativen und Änderungswünsche in den
Verfahren sachgerecht bearbeitet werden. Und dazu gibt
es konkrete Ansatzpunkte und Initiativen, die leider im
FDP-Antrag überhaupt nicht erwähnt werden:
Erstens. Auf meine Initiative hin haben im August
dieses Jahres das für die Infrastruktur zuständige Vor-
standsmitglied der DB AG, Stefan Garber, und der Vor-
stand der DB-Netz, Oliver Kraft, die Region am Ober-
rhein besucht und mit Abgeordneten des Landes und des
Bundes, Vertretern der Landesregierung von Baden-
Württemberg, dem Regierungspräsidium von Freiburg
und den Bürgermeistern die Forderungen und Anregun-
gen zur Bahnplanung besprochen. Zuvor fand zum glei-
chen Thema ein Gespräch mit den Bürgerinitiativen in
Berlin statt. Ergebnis ist: Die Bahn prüft jetzt im Detail
die Vorschläge für einen Güterzugtunnel in Offenburg,
für eine autobahnparallele Führung einer Güterzugtrasse
im Bereich zwischen Offenburg und Freiburg und die so
genannte Bürgertrasse im Markgräflerland. Es ist ein
großer Erfolg, dass nicht nur eine Abschichtung der
Planvarianten erfolgt, sondern endlich zu den von den
Städten und Gemeinden vorgeschlagenen Alternativen
konkrete Untersuchungen und Planungen durchgeführt
werden.
Zweitens. Für den Lärm- und Erschütterungsschutz
und ebenso für die Beurteilung von Trassenvarianten ist
von größter Bedeutung, welche Zugzahlen den Planun-
gen zugrunde gelegt werden. Es ist der Initiative ver-
schiedener Abgeordneter und des Regierungspräsidenten
von Freiburg zu verdanken, dass jetzt die Zugzahlen für
das Jahr 2025 erhoben werden. Dieses Gutachten wird
demnächst vorgelegt. Ab dann wird die Bahn nicht mehr
wie bisher die Zugzahlen für das Jahr 2015, sondern die
voraussichtlich höheren Zahlen für 2025 den Planungen
zugrunde legen müssen. Das ist ein wichtiger Erfolg, um
Veränderungen bei den Planungen bewirken zu können.
Der Landesregierung von Baden-Württemberg ist zu
danken, dass sie die Finanzierung dieses Gutachtens
übernommen hat.
Drittens. Die Landesregierung von Baden-Württem-
berg hat die Einsetzung einer Projektarbeitsgruppe unter
dem Vorsitz des für die Verkehrspolitik zuständigen In-
nenministers Heribert Rech beschlossen, die die Forde-
rungen und Anregungen der Städte und Gemeinden so-
wie der Bürgerinitiativen zusammenstellen soll und ein
Spitzengespräch von Ministerpräsident Günter Oettinger
mit Herrn Mehdorn und Herrn Tiefensee vorbereiten
soll. Ich freue mich, dass die Landesregierung und vor
allem der Ministerpräsident des Landes Baden-Württem-
berg sich mit einer eigenen Arbeitsgruppe für die Be-
lange der Städte und Gemeinden an der Rheintalbahn
engagiert. Da die FDP an der Landesregierung von Ba-
den-Württemberg beteiligt ist, gehe ich davon aus, dass
sie ihre Vorstellungen und Anregungen in diese Arbeits-
gruppe einbringt und nicht nur Anträge im Bundestag
stellt. Es wäre schön, wenn seitens der FDP dazu auch
etwas zu hören oder zu lesen wäre. Die Bewährungs-
probe, ob man eine Sache wirklich ernst nimmt, muss
man zuerst dort bestehen, wo man regiert.
Viertens. Die von den Städten und Gemeinden sowie
den Bürgerinitiativen vorgeschlagenen Trassenalternati-
ven werden auch zu Mehrkosten beim Aus- und Neubau
der Rheintalstrecke führen. Leider sagt die FDP dazu in
ihrem Antrag gar nichts. Und damit ist dieser Antrag ei-
gentlich nichts wert, denn die politische Nagelprobe ist
nicht beim Abfassen lyrisch schöner Anträge zu beste-
hen, sondern beim Haushalt. Die Koalitionsfraktionen
von CDU/CSU und SPD wissen, dass wir mehr Finanz-
mittel für den Ausbau der Schieneninfrastruktur benöti-
gen. Dass wir es auch ernst meinen, zeigt unser Antrag
bei den derzeit laufenden Beratungen über den Bundes-
haushalt 2008, die Schienenausbaumittel allein für das
kommende Jahr deutlich zu erhöhen.
Zusammenfassend zeigen diese Aktivitäten, dass
auch ohne Bundestagsanträge gute Fortschritte erzielt
wurden, um den Belangen der Städte und Gemeinden im
Planungsprozess besser gerecht zu werden. Ich finde,
dass wir Abgeordneten aus der Region am Oberrhein ge-
meinsam mit den Städten, Gemeinden und Bürgerinitia-
tiven an einem Strang ziehen sollten. Wir sollten uns
nicht mit ständig neuen Presseerklärungen oder Ankün-
digungen gegenseitig die Show stehlen wollen. Gemes-
sen werden wir an dem, was wir konkret in unserer je-
weiligen Verantwortung tun und dann auch tatsächlich
erreichen. Die Region am Oberrhein ist eine der schöns-
ten Gegenden Deutschlands mit lebens- und liebenswer-
ten Städten und Gemeinden. Wir wollen, dass das so
auch in Zukunft bleibt. Dafür arbeiten wir.
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Lärm stresst.
Lärm kann krank machen. Ruhezonen sind rar. Über
80 Prozent der Bevölkerung Deutschlands fühlen sich
durch Lärm belästigt. Die Belastung durch Verkehrslärm
wird stärker als in der Vergangenheit als gravierende
Einschränkung der Lebensqualität empfunden. In unse-
rer hektischen und lauten Welt wird Lärm zunehmend
als störend und als Beeinträchtigung der Kommunika-
tion, der Konzentration und der Erholung wahrgenom-
men. Trotz einer positiven Einstellung zur Mobilität sind
die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr bereit, Ver-
kehrslärm hinzunehmen.
Verkehrslärm ist zu einer zentralen Akzeptanzfrage
für die Verkehrsentwicklung aller Verkehrsträger gewor-
den. Bei jeder geplanten Infrastrukturmaßnahme gibt es
dieses Dilemma: Auf der einen Seite wollen wir die Ver-
kehrsinfrastruktur ausbauen, um dem Zuwachs an Ver-
kehr gerecht zu werden und wie im Rheingraben mehr
Güterverkehr auf die Schiene zu bringen. Das macht
auch ökologisch und ökonomisch Sinn. Zum anderen
müssen die Belastungen der Anwohner möglichst gering
gehalten werden. Ein wichtiges Ziel unserer Verkehrs-
politik ist es, mehr Transport auf die Schiene zu bringen.
Das gilt sowohl für Personen als auch für Güter. Aber
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12901
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mit jedem Wagen und jedem zusätzlichen Container, der
mit dem Zug transportiert wird, steigt der Lärm an der
Schiene. Die Forderung der Bürgerinitiativen und der
Anwohner nach ausreichendem Lärmschutz ist gut nach-
vollziehbar. Deshalb wollen wir mehr Lärmschutz an
Verkehrswegen und besonders an der Schiene!
Wir wollen auch eine Verbesserung der Trasse entlang
der Neu- und Ausbaustrecke Karlsruhe–Basel. Die Tras-
sierung der Neubaustrecke ist durch die raumordnerische
Entscheidung des Landes im Grunde vorgegeben. Das
Vorhaben hat die gesamten vorgelagerten Verfahren wie
auch die Raumordnung durchlaufen. Von den zuständi-
gen Landesbehörden sind in diesem Verfahren autobahn-
parallele Varianten verworfen worden. Der Bund hat
keine Möglichkeit, in die laufenden Planfeststellungs-
verfahren einzugreifen. Eine politische Entscheidung für
oder gegen eine bestimmte Lösung ist im laufenden Ver-
fahren nicht möglich. Die Prüfung einer Maßnahme wird
durch das Eisenbahnbundesamt durchgeführt. Innerhalb
der Planfeststellung müssen immer Varianten untersucht
werden. Es stehen derzeit zwei Gutachten aus. Die Lan-
desregierung von Baden-Württemberg hat eine neue
Verkehrsprognose in Auftrag gegeben. Neue Ergebnisse
können Anhaltspunkte für vertiefende Untersuchungen
sein. Wir warten die Ergebnisse ab.
Wir haben dafür gesorgt, dass alle neuen relevanten
Daten in die laufenden Planfeststellungsverfahren einge-
hen werden. Das bedeutet: Wenn bei dem Prognosehori-
zont 2025 höhere Zugzahlen zu erwarten sind, müssen
diese Zahlen Grundlage für die Variantenuntersuchun-
gen sein. Kommt das Eisenbahnbundesamt bei dieser
Prüfung zu dem Schluss, dass eine bestimmte Investition
notwendig ist, um das Projektziel zu erreichen, und dass
sie dazu noch wirtschaftlich ist, so finanziert der Bund
diese Investitionen.
Ich begrüße es sehr, dass der Bundesverkehrsminister
Wolfgang Tiefensee zugesagt hat, eine gleichrangige
und gleichtiefe Untersuchung der Varianten in Offen-
burg, nämlich die A-3-Trasse und den Tunnel, zu ge-
währleisten. Ich begrüße auch, dass die DB Netz AG
sich bereit erklärt hat, Alternativplanungen vertieft zu
untersuchen, um damit für die laufenden Planfeststel-
lungsverfahren eine solide Entscheidungsgrundlage zu
schaffen.
Die Bürgerinnen und Bürger sowie die Kommunen
können sich unmittelbar an den Anhörungen in Rahmen
der Planfeststellungsverfahren beteiligen. Diese Einwen-
dungen müssen im laufenden Planfeststellungsverfahren
abgearbeitet werden. Ich sage es noch einmal: Wir wol-
len eine Verbesserung der Trassenführung.
Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen
der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion pflegen
wir den Dialog mit den Bürgerinitiativen und den betrof-
fenen Anwohnern vor Ort. Wir haben in vielen Gesprä-
chen mit dem Bundesverkehrsministerium, mit dem Ei-
senbahnbundesamt und mit der Deutschen Bahn AG die
Problematik entlang der Rheintalbahn von Karlsruhe
nach Basel deutlich gemacht und die besondere Situation
geschildert. Die Sensibilisierung zu dem Thema ist all-
gemein sehr hoch. Wir werden die betroffenen Anwoh-
ner auch weiterhin unterstützen.
Die von der FDP in ihrem Antrag vorgeschlagenen
Alternativen, wie die Parallelführung entlang der Auto-
bahn, würden dazu führen, dass die Planungsverfahren
neu aufgerollt werden müssten. Das würde einen völli-
gen Planungsstopp der laufenden Verfahren bedeuten.
Haben Sie sich diese Konsequenzen Ihrer Forderungen
eigentlich bewusst gemacht? Die Verzögerungen, die da-
durch entstehen würden, sind verkehrspolitisch nicht zu
vernachlässigen. Sie brächten die Bundesrepublik
Deutschland in die Situation, dass sie ihren vertraglichen
Verpflichtungen gegen über der Schweiz, nämlich ge-
mäß dem Vertrag von Lugano den NEAT-Zulauf zu ge-
währleisten, nicht nachkäme.
Der Antrag, den die FDP-Fraktion in den Deutschen
Bundestag eingebracht hat, trägt den hochtrabenden
Titel „Integrierte Planung für Schiene und Straße im
Rheingraben – Gesamtverkehrskonzept Südbaden“. Un-
ter einem Gesamtverkehrskonzept stelle ich mir einen
integrierten Ansatz vor, der alle Verkehrsträger ein-
schließt und miteinander verknüpft. Der Inhalt des FDP-
Antrages auf anderthalb Seiten verdient noch nicht ein-
mal den Namen „Konzeptchen“, geschweige denn die
Titulierung „Gesamtverkehrskonzept Südbaden“.
Die FDP fordert den Bund in ihrem Antrag auf, in ein
laufendes Planfeststellungsverfahren einzugreifen. Hät-
ten die Antragsschreiber ein Einführungsseminar zum
Thema „Wie plant der Bund Schienenwegen?“ besucht,
wüssten sie, dass der Bund keine Möglichkeit hat, in ein
laufendes Planfeststellungsverfahren einzugreifen.
Dass die von der FDP vorgeschlagenen Alternativen
Mehrkosten voraussichtlich in Höhe von über 1 Milli-
arde Euro bedeuten, soll auch nicht unerwähnt bleiben.
So viel zu der Qualität des FDP-Antrages.
Wir schreiben keine kläglichen Anträge wie die FDP,
sondern setzen uns aktiv für Verkehrslärmschutz ein. Die
Belastung durch Verkehrslärm nehmen wir sehr ernst. So
haben wir zum Beispiel die Mittel für das Lärmsanie-
rungsprogramm an bestehenden Schienenwegen von
50 Millionen Euro auf 100 Millionen Euro angehoben
und legen im Haushalt für 2008 nochmals zu. Das ist
eine Mittel-Erhöhung um 100 Prozent und ein deutliches
Zeichen. Im Bundeshaushalt 2008 fördern wir erstmals
lärmmindernde Maßnahmen zur Umrüstung von Schie-
nengüterfahrzeugen. Wir wollen einen schnelleren Ein-
bau von leiseren Kunststoff-Bremsen erreichen. Die he-
rausragende Lärmquelle ist das Rollgeräusch, das im
Rad-Schiene-Kontakt bei Güterwagen entsteht. Im Ge-
gensatz zu den herkömmlichen Grauguss-Bremssohlen
werden die Radlaufflächen der Güterwagen von Ver-
bundstoff-Bremssohlen nicht aufgeraut, so dass ein er-
heblich ruhigerer Radlauf erzielt wird. Die vollständige
Umrüstung aller Güterfahrzeuge wird einige Zeit in An-
spruch nehmen, aber die Lärmminderung, die wir damit
erreichen werden, ist enorm. Dies wird die Anwohner an
Schienenstrecken in ganz Deutschland erheblich von
Lärm entlasten. Darüber hinaus muss eine europäische
Lösung angestrebt werden, damit auch die ausländischen
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Güterwagen auf unserem Schienennetz diesen Anforde-
rungen gerecht werden.
Der Aus- und Neubau der Schienenstrecke von Karls-
ruhe nach Basel ist ein wichtiges Infrastrukturprojekt für
Baden-Württemberg. Ziel der Baumaßnahme ist die Ka-
pazitätserhöhung und Qualitätsverbesserung dieser
Hauptabfuhrstrecke. Sie ist Teil einer ersten durchgehen-
den Nord-Süd-Verbindung im Hochleistungsnetz der
Deutschen Bahn AG und zugleich ein wichtiges Binde-
glied für den weiterführenden Verkehr in die Schweiz
sowie zur Schnellbahn Paris-Ostfrankreich-Südwest-
deutschland. Die Maßnahme steht in engem Zusammen-
hang mit der Inbetriebnahme des Lötschberg-Basis-
tunnels und des Gotthard-Basistunnels in der Schweiz.
Beide Strecken, Basel–Mailand via Bern und
Basel–Mailand via Chiasso, müssen wir ertüchtigen, um
der zu erwartenden Steigerung des Güterverkehrs zu be-
gegnen.
Die kapazitätsmäßige und qualitative Verbesserung
der Strecke wird durch den Bau einer zweigleisigen
Neubaustrecke mit einer Höchstgeschwindigkeit von bis
zu 250 Stundenkilometer weitgehend parallel zu der be-
stehenden Strecke erreicht. Eine Ausnahme bildet hier
die Strecke Karlsruhe–Rastatt und die Güterumfahrung
Freiburg. Der viergleisige Ausbau stellt für die Rheintal-
bahn eine wesentliche Änderung nach § 1 der 16. Bun-
des-Immissionsschutzverordnung dar. Damit haben die
Anwohner einen Rechtsanspruch auf Schallschutzmaß-
nahmen für alle vier Gleise.
Einige Probleme halte ich bei der Autobahnvariante
für ungeklärt. So ist zum Beispiel der Flächenbedarf des
Trassenverlaufs noch größer als bereits 1992 angenom-
men. Die Umfahrung von Autobahnauffahrten und Rast-
plätzen ist genauso schwierig wie die Kreuzung zum
Beispiel von Baggerseen, die ein wichtiges Naherho-
lungsgebiet für die Region darstellen.
Ich warne davor, großzügig andere Trassenverläufe
vorzuschlagen und damit die Belastungssituation nur zu
verlagern. Unser Ziel ist ein umweltgerechter und scho-
nender Ausbau der Rheintalbahn sowie ein möglichst
hoher Schutz der Anwohner vor Lärm. Populistische
Anträge der Opposition helfen in der Sache nicht weiter.
Ernst Burgbacher (FDP): Nachdem auf verschiede-
nen Veranstaltungen, insbesondere auf der Großkundge-
bung in Freiburg am 7. Oktober, auch von Vertretern von
CDU und SPD Unterstützung für die Forderungen der
Bürgerinitiativen zugesichert wurde, ist es jetzt an der
Zeit, auch im Parlament Farbe zu bekennen. Zu Recht
hat die IG Bohr, die Interessengemeinschaft Bahnprotest
an Ober- und Hochrhein, eindringlich den Primat der Po-
litik angemahnt. Die Politik muss ihre Verantwortung
wahrnehmen; daher legt die FDP-Bundestagsfraktion
heute den Antrag „Integrierte Planung für Schiene und
Straße im Rheingraben – Gesamtverkehrskonzept Süd-
baden“ vor. Wenn die Mehrheit des Hauses diesem Kon-
zept zustimmt, wird die Umsetzung der Forderungen
deutlich erleichtert werden.
Ausdrücklich will ich den in der IG Bohr vereinten
Bürgerinitiativen für ihre Arbeit und ihren Einsatz dan-
ken. Ihnen geht es nicht darum, einfach etwas zu verhin-
dern, sondern sie legen konstruktive Vorschläge vor.
Dies verdient unseren großen Respekt.
Beim Ausbau der Rheintalbahn handelt es sich nicht
nur um ein Jahrhundertbauwerk, diese Trasse wird noch
viel länger Bestand haben. Umso wichtiger ist es, die be-
rechtigten Sorgen der Menschen in der Region ernst zu
nehmen und eine für Mensch und Natur zukunftsfähige
Lösung zu finden. Das viergleisige Trassenteilstück Of-
fenburg–Basel ist Teil einer Hauptverkehrsader Europas,
die Rotterdam mit Genua, die Nordsee mit dem Mittel-
meer verbindet. Es handelt sich also keineswegs um ein
rein südbadisches, sondern um ein deutsches, ja europäi-
sches Problem. Der Verkehrskorridor im Rheingraben ist
Bestandteil des transeuropäischen Verkehrsnetzes. Da-
her ist der Bundestag hier in der Pflicht. Die Trasse, so
wie sie derzeit geplant ist, wird für die Menschen in der
Rheinebene unzumutbare Lärmbelästigungen mit sich
bringen, sie wird auch die wertvollen Kulturlandschaften
am Oberrhein in ihrem Wert deutlich mindern. Um zu ei-
nem menschen- und umweltverträglichen Bahnausbau
zu kommen, muss die vorgesehene Trassenführung ge-
ändert werden.
Wir anerkennen – nach dem ökologisch und ökono-
misch richtigen Grundsatz: Personen und Güter von der
Straße auf die Schiene! – ausdrücklich die Notwendig-
keit der Optimierung der Strecke Karlsruhe–Basel als
Teil der europäischen Nord-Süd-Magistrale und damit
auch die Notwendigkeit des dritten und vierten Gleises
zwischen Offenburg und Weil. Wir wollen die Verträge
mit der Schweiz erfüllen. Deshalb sind jetzt rasche Ent-
scheidungen vonnöten.
Die Menschen in Südbaden erwarten zu Recht, dass
ihren Bedürfnissen nach Lärmschutz und nach einer
landschaftsverträglichen Verkehrsplanung Rechnung ge-
tragen wird. Eine Beeinträchtigung der Anwohner durch
Lärm, Flächenverbrauch und gegebenenfalls auch Ein-
griffe in das Eigentumsrecht werden unvermeidbar sein.
Die Akzeptanz dieser Eingriffe kann jedoch in entschei-
dender Weise erhöht werden, wenn auf die Bedürfnisse
des Umwelt- und Lärmschutzes mit integrierten Lö-
sungsansätzen bei der Verkehrswegeplanung und insbe-
sondere der Trassenführung geantwortet wird.
Um eine Zerschneidung der Stadt Offenburg zu ver-
hindern, ist die Unterfahrung in einem Tunnel erforder-
lich. Für den Rheingraben südlich von Offenburg bis zur
Einmündung in die Westumfahrung Freiburgs ist die
Verlagerung der Neubautrasse an die Bundesautobahn 5,
also eine Bündelung von Schiene und Straße, die beste
Lösung. Durch die Bündelung der Linienführung von
Straße und Schiene werden die Auswirkungen auf
Mensch und Umwelt am wirkungsvollsten reduziert. Im
Westen Freiburgs bis zum Nordportal des Mengener
Tunnels muss eine Trassenabsenkung angestrebt werden.
Vom Südportal des Mengener Tunnels bis südlich von
Buggingen ist eine teilgedeckelte Tieflage notwendig.
Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich mit allem
Nachdruck für eine menschen- und umweltgerechte Pla-
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nung der neuen Trasse ein, aber auch für die generelle
Lärmreduktion im gesamten Schienennetz nach dem ak-
tuellen Stand der Bahntechnik. Die FDP fordert alle
Fraktionen, insbesondere aber die Regierungsfraktionen,
auf, der Bundesregierung einen Prüfauftrag, in Abstim-
mung mit der Landesregierung Baden-Württemberg, der
Deutschen Bahn AG und dem Eisenbahnbundesamt, für
die genannten Maßnahmen zu erteilen. Außerdem for-
dern wir zeitnah einen Bericht über den Planungsstand
und die Vorstellungen der Bundesregierung zur Realisie-
rung einer landschaftsgerechten Trassenführung und ei-
nes größtmöglichen Lärmschutzes für die Anwohner-
schaft.
Ich hoffe sehr, dass Union und SPD nicht nur bei
Großkundgebungen mit den betroffenen Anwohnern
schöne Reden halten, sondern hier im Parlament ihren
Worten auch die entsprechenden Taten folgen lassen und
dem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion zustimmen
werden.
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Wir kommen
nicht daran vorbei und auch die Linke wiederholt es in-
zwischen gebetsmühlenartig: Der Güterverkehr wird
sich in den nächsten Jahren verdoppeln! Und wie die
FDP in ihrem Antrag schreibt: Das Mengenwachstum
des Güterverkehrs übertrifft alle Erwartungen. Der Wa-
renfluss nimmt zu. Konsumenten – sofern sie Arbeit ha-
ben und sich die Produkte leisten können – freuen sich
über Elektronik, Haushaltswaren und Spielzeug und
über das, was da in unzähligen Containern zu uns he-
rüberschwappt.
Es landet in den Seehäfen an und muss im Land ver-
teilt werden, vorzugsweise auf der Schiene, die wieder
im Wachstumstrend liegt. Deshalb sagt es auch die Linke
immer wieder: Wir müssen unsere Schienen für diese
Transportmengen fit machen. Dazu gehört es, die Schie-
nenwege auszubauen. Dies ist auch im badischen Ober-
rheingraben bei der Strecke Karlsruhe–Offenburg–Weil
am Rhein–Basel geplant. Sie ist die wichtigste Verbin-
dung von der Nordsee in die Schweiz und nach Italien.
Sie soll künftig von zwei Gleisen auf vier erweitert wer-
den. Doch mehr Züge bedeuten auch mehr Lärm. Davon
betroffen sind wiederum die Anrainer solcher Strecken
wie der Oberrhein-Linie.
Die alte Strecke windet sich mitten durch Ortschaften
und Städte. Und mit dem Bau der weiteren Gleise ver-
schärft sich das Problem. Viele Bürgerinitiativen wenden
sich nun gegen die offiziellen Ausbaupläne. Sie fordern
– zu Recht – eine Alternativplanung, bei der weniger
Menschen betroffen wären. Die in der „IG Bahn-Protest
am Ober- und Hochrhein“ vereinten Initiativen haben
ihre Vorschläge erst kürzlich in der baden-württembergi-
schen Landesvertretung vorgestellt. Diese sind kurz zu-
sammengefasst: eine Tunnellösung für Offenburg, die
Bündelung von Schiene und Autobahn auf einer Alterna-
tivtrasse und Trassenabsenkungen in Freiburg und bei
Mengen.
Diese Vorschläge beinhalten vor allem die Auswir-
kungen von Verkehrslärm auf so wenig Menschen wie
möglich.
Trotzdem sollte nicht verhehlt werden, dass all das,
was von den Initiativen gefordert wird, die Baukosten
von heute schon 4,6 Milliarden Euro um weitere
720 Millionen Euro nach oben treibt. Zwar können wir
das Geld auf mehrere Jahre verteilen. Doch woher neh-
men? Die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen fordern
mehr Geld für Lärmschutz, CDU/CSU und SPD 50 Mil-
lionen Euro, die Grünen das Doppelte. Ich denke, es
werden sich Töpfe finden, um auch die lärmmindernde
Alternativplanung im Rheingraben zu finanzieren, auch
wenn schon für einige Abschnitte das Planfeststellungs-
verfahren läuft.
Auf der erwähnten Veranstaltung in der Landesvertre-
tung sagte es Staatssekretär Kasparick deutlich: Im Ab-
wägeverfahren der Bürgereinsprüche ist es durchaus
möglich, die vorgeschlagenen Änderungen in die Plan-
feststellung zu nehmen. Diese Vorschläge der Initiativen
vor Ort haben die Freien Demokraten in ihrem Antrag
aufgenommen. Für diese Politik, sich im Sinne der be-
troffenen Bürger einzusetzen, möchte ich Sie loben,
liebe Kolleginnen und Kollegen vom liberalen Bahn-
steig. Da ist die Linke mit Ihnen ausnahmsweise mal ei-
ner Meinung, und daher tragen wir Ihren Antrag mit.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir sprechen hier heute über einen Antrag der FDP zum
Ausbau der Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel.
Mit dem Bau des 3. und 4. Gleises für den Güterverkehr
auf der Schiene wird ein europäisches Großprojekt in
Angriff genommen. Die Bundesrepublik hat sich zu die-
sem Kapazitätsausbau verpflichtet. Mit dem Staatsver-
trag von Lugano 1996 stehen wir der Schweiz gegenüber
im Wort, den Ausbau der Zulaufstrecke zum Lötschberg-
und Gotthardtunnel sicherzustellen. Dieser Ausbau ist
dringend erforderlich – aus verkehrspolitischen Gründen
wie aus Gründen des Klima- und Umweltschutzes. Kann
der geplante Güterverkehr nicht auf der Schiene stattfin-
den, dann wird er über die Straße rollen. Damit würden
die Menschen, die Umwelt und die Landschaft viel stär-
ker belastet. Bündnis 90/Die Grünen haben ein zentrales
Anliegen: Wir wollen möglichst schnell möglichst viel
Güterverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern.
Dazu brauchen wir den Kapazitätsausbau im Rheingra-
ben dringend. Der Ausbau der Rheintalbahn wird auch
zu einer deutlichen Entlastung der Anwohner an der Alt-
strecke führen. Diese Entlastung begrüßen wir sehr, da
sie Tausenden von Anwohnern zugutekommt. Zurzeit
wird gerade in der Region Freiburg mit dem Lärmsanie-
rungsprogramm des Bundes die Situation an einzelnen,
besonders belasteten Punkten der Altstrecke entschärft.
Das ist im Sinne des Lärmschutzes sehr zu begrüßen.
Letztlich ist das aber nur ein Tropfen auf den heißen
Stein, weil es sich hier um freiwillige „Reparaturmaß-
nahmen“ ohne gesetzlichen Anspruch handelt.
Auch mit dem vergleichsweise umweltfreundlichen
Transportmittel Bahn kommen große Belastungen auf
Mensch und Umwelt im Rheingraben zu. Was können
wir realistischerweise tun, um diese Belastungen so ge-
ring wie möglich zu gestalten?
12904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
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Der beste und auch günstigste Weg beim Lärmschutz
ist die Vermeidung der Entstehung von Lärm. Die Ver-
meidung der Lärmentstehung durch neue leisere Wagen
und durch Umrüsten des Altmaterials ist der effizienteste
und günstigste Weg, die Güterzüge leiser zu machen. Ein
europaweites Umrüstprogramm nach dem heutigen
Stand der Technik würde eine Halbierung des Lärms be-
deuten. Für relativ wenig Geld lässt sich das Bremssys-
tem jedes alten Waggons umrüsten. So entsteht ein
Lärm, der vom menschlichen Ohr nur noch halb so laut
wahrgenommen wird. Im Juni wurde dieses Umrüstpro-
gramm hier im Bundestag beschlossen. Da sind wir alle
dafür. Für diesen sehr sinnvollen Weg haben wir uns er-
folgreich eingesetzt. Für die tatsächliche und europa-
weite Umsetzung bis zur Inbetriebnahme des 3. und
4. Gleises der Rheintalbahn – u. a. durch die Einführung
lärmabhängiger Trassenpreise – werden wir kämpfen.
Nun zu den vier Forderungen zu einzelnen Streckenab-
schnitten im Antrag der FDP. Diese vier Forderungen
übernimmt die FDP von den Bürgerinitiativen im Rhein-
graben. Da die in Absatz 2 an die Bundesregierung ge-
richteten Forderungen in der Gesamttendenz richtig
sind, werden wir dem FDP-Antrag zustimmen. Wir
schließen uns einer sorgfältigen Prüfung der einzelnen
Forderungen generell an, auch wenn wir manche Details
anders sehen.
Nun noch eine Bewertung im Detail: Zu Forderung
eins: Die bisherige Planung zu Offenburg kann so nicht
bleiben, da die bereits hohe Belastung der Offenburger
Innenstadt sich noch drastisch verschärft. Offenburg ist
ohne Zweifel der problematischste Punkt der gesamten
Neubaustrecke mit den meisten direkt betroffenen An-
wohnern. Wir fordern eine detaillierte Prüfung einer
Tunnel-Lösung für Offenburg unter Berücksichtigung
des Lärm- und Erschütterungsschutzes sowie des inner-
städtischen Flächenverbrauchs. Zu Forderung zwei: Eine
Bündelung der Linienführung von Offenburg bis Frei-
burg von Neubaustrecke und A 5 halten wir Grünen für
die sinnvollste Variante der Trassenführung. Diese muss
im Planfeststellungsverfahren gleichrangig mit anderen
Varianten im Hinblick auf Landschaftsverbrauch, Lärm-
schutz und Betriebssicherheit geprüft werden. Zu Forde-
rung drei: Die zusammen mit anderen baulichen Maß-
nahmen vorgeschlagene teilweise Trassenabsenkung im
Freiburger Streckenabschnitt soll geprüft werden. Dieses
für eine deutliche Lärmreduzierung vorgeschlagene
Maßnahmenbündel stellt eine klare Verbesserung der
bisherigen Bahnplanungen dar. Das Maßnahmenpaket,
das in einer von den betroffenen Kommunen finanzier-
ten Ingenieursstudie im Detail erarbeitet wurde, verdient
eine sorgfältige Prüfung im Planfeststellungsverfahren.
Zu Forderung vier: Auch eine Trassenabsenkung mit
Teildeckelung des Streckenabschnitts vom Südportal des
Mengener Tunnels bis südlich von Buggingen soll ge-
prüft werden. Die ursprüngliche Maximalforderung, die-
sen Streckenabschnitt ganz zu untertunneln, wird nicht
mehr erhoben. Das begrüßen wir.
Unser abschließendes Fazit: Wir begrüßen das Nach-
hintenziehen des Prognosehorizonts aufs Jahr 2025, weil
das ein realistischerer Zeitpunkt für den tatsächlichen
Güterverkehr auf der Strecke ist. Sollten von Land oder
Bund zusätzliche Mittel für den baulichen Lärmschutz
bereitgestellt werden, – also Gelder, die über die gesetz-
lichen Verpflichtungen hinaus fließen – so sollte dieses
Geld an den kritischsten Punkten eingesetzt werden. Der
kritischste Punkt ist für uns Offenburg, weil dort die
meisten Menschen am härtesten und am direktesten be-
troffen sind.
Was wird aus den großen Versprechungen, die die
Abgeordneten der Großen Koalition in der Region in den
letzten Jahren gemacht haben? Regionale Abgeordnete
der CDU und der SPD aus dem Bundestag und aus dem
Stuttgarter Landtag haben vor Ort immer viel mehr
Lärmschutz versprochen als er gesetzlich vorgeschrie-
ben ist. Das Land Baden-Württemberg verschleudert
beim Projekt Stuttgart 21 ohne Not eine Milliarde Euro.
Wir sind sehr gespannt, wie viel Geld die CDU/FDP-
Landesregierung für das Projekt Ausbau der Rheintal-
bahn zur Verfügung stellen wird. Und wir sind sehr neu-
gierig, was aus den forschen Worten der SPD-Opposi-
tion im Ländle in Berlin wird. Dort ist man mit an der
Regierung, dort will man dann häufig nichts mehr von
dem wissen, was man – wie zum Beispiel die Abschaf-
fung des Schienenbonus – vor Ort bei den Betroffenen
gefordert hat.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Bei der 62. General-
versammlung der Vereinten Nationen ein Zei-
chen für die weltweite Abschaffung der Todes-
strafe setzen (Tagesordnungspunkt 19)
Erika Steinbach (CDU/CSU): Abscheu ist das vor-
herrschende Gefühl, das die Menschen gegenüber den
schwersten Verbrechen empfinden.
Carl Großmann, die Bestie vom Schlesischen Bahn-
hof – dem heutigen Berliner Ostbahnhof –, hat mindes-
tens drei Frauen ermordet, die geschätzte Zahl seiner
Opfer liegt zwischen 20 und 100 Frauen. Niemand weiß,
ob dieser Mann, Besitzer eines Wurststandes, seine Op-
fer zu Wurst und Dosenfleisch verarbeitet hat.
Hans Erwin Hagedorn, Sexualtäter und mehrfacher
Kindesmörder, wurde 1972 durch unerwarteten Nah-
schuss in der Strafvollzugseinrichtung Leipzig hinge-
richtet.
Die Opfer von Friedrich Haarmann wurden nach ei-
nem mehrjährigen Kampf der Eltern der von ihm getöte-
ten Kinder in Hannover in einem Ehrengrab bestattet.
Haarmann wurde 1925 in Hannover enthauptet. Der eine
oder andere unter Ihnen wird den Film mit Götz George
kennen: Der Totmacher.
Die Emotionen in der Bevölkerung und bei den Hin-
terbliebenen sind eindeutig. Wer so kaltblütig quält und
tötet, hat sein Recht auf Leben verwirkt. Solche und ähn-
liche Einträge finden sich auch heute in den Diskus-
sionsforen des Internets.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12905
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Wer aber vermag hier eine Grenze zwischen dem
Schrei nach Gerechtigkeit, Vergeltung oder Rache zu
ziehen? Darf der Staat selbst töten, um die Emotionen
der Bevölkerung zu befriedigen? Wer kontrolliert diese
Emotionen? Darf der Staat die Gesellschaft durch Elimi-
nierung vor solchen Menschen schützen? Die Todes-
strafe als gerechte Vergeltung für geschehenes Leid ge-
treu dem biblischen Motto: „Aug um Aug, Zahn um
Zahn“? Auf den ersten Blick mag dies einleuchten. Doch
der Rechtsstaat beweist seine moralische Überlegenheit
ja gerade dadurch, dass er sich nicht auf das Niveau der
Täter hinablässt. Unrecht darf nicht mit Unrecht vergol-
ten werden. Alles andere würde die moralische Instanz
des Staates untergraben.
Allein das Argument des Justizirrtums wiegt so
schwer, dass viele Staaten der Welt von der Todesstrafe
Abstand genommen haben. Wer kann wiedergutmachen,
dass ein Unschuldiger getötet wurde? Was, wenn sich
später herausstellt, dass die Taten ganz anders abliefen,
als dies die Richter und vielleicht auch die Angeklagten
selbst glaubten? Was, wenn der Angeklagte aufgrund ei-
nes erpressten Geständnisses verurteilt wurde? Man
stelle sich vor, ein Angeklagter gesteht, weil eine Struk-
tur organisierter Kriminalität eine geliebte Person in ihre
Hände bekommen hat? Einmal beschlossen und voll-
streckt, kann eine Todesstrafe nicht mehr aufgehoben
werden. Dieses Argument sollte jedem noch so emotio-
nalen Betrachter einsichtig sein. Niemand unter den
Menschen ist vor Irrtum gefeit.
Justizirrtum – meines Erachtens das überzeugendste
Argument gegen die Todesstrafe: Selbst in Rechtsstaaten
kommt das vor. Seit 1973 sind allein in den USA
124 Menschen in 25 Staaten aus dem Todestrakt entlas-
sen worden, nachdem ihre Unschuld nachträglich festge-
stellt wurde. Diese Zahl lässt mich erschaudern. Wie
viele hatten nicht das Glück, dass ihre Unschuld noch
vor der Exekution festgestellt wurde?
Die Todesstrafe ist eine Verletzung des Grundrechts
auf Leben, das systematisch stärkste Argument gegen
die Todesstrafe. Menschenrechte sind unteilbar. Men-
schenrechte sind nicht aberkennbar, auch nicht für
übelste Täter. Davon losgelöst ist die Tötung aus Not-
wehr und Nothilfe. Dabei ist zu beachten, dass eine
Staatsnothilfe, also eine Nothilfe zugunsten der Interes-
sen der Allgemeinheit, grundsätzlich unzulässig ist.
Der Täter – so die Lesart von Befürwortern der To-
desstrafe – müsse zum Tode verurteilt werden, um wei-
tere Verbrechen derselben Person ein für alle Male aus-
zuschließen, das Todesrisiko von den möglichen
zukünftigen Opfern an den Täter zurückzuschieben. Das
Ziel, die Allgemeinheit vor gefährlichen Schwerstkrimi-
nellen zu schützen, teile ich ausdrücklich. Dennoch ver-
fügt der Staat auch ohne die Todesstrafe grundsätzlich
über Mittel und Wege, die Bürgerinnen und Bürger unse-
res Landes vor gefährlichen Verbrechern zu schützen. Er
muss sie aber auch anwenden. Auch die zunehmenden
Fälle von Ausbrüchen aus Haftanstalten tragen leider
nicht dazu bei, das Vertrauen der Bevölkerung in unse-
ren Justizapparat zu stärken. Aber wir dürfen nicht für
die Illusion eines gerechten und starken Staates unseren
starken Rechtsstaat über Bord werfen.
Das Bekenntnis zu den Menschenrechten ist der
wichtigste Grundpfeiler unserer Verfassung. Dieses Be-
kenntnis kann und darf nicht an den deutschen Grenzen
enden, sondern bildet einen wichtigen Aspekt unserer
Außenpolitik. Der Einsatz für die Menschenrechte kennt
keine Ländergrenzen.
Der Einsatz für Menschenrechte kann übrigens auch
nicht durch gekappte Telefonleitungen und abgeschaltete
Computerserver aufgehalten werden.
Die Todesstrafe kann auch kein legitimes Selbstver-
teidigungsmittel des Staates sein: Sie erlaubt es dem
Staat, Personen zu töten, die, da bereits inhaftiert, keinen
Schaden mehr anrichten können.
Die von der Todesstrafe erhoffte abschreckende Wir-
kung gegen schwere Kriminalität ist statistisch kaum
nachweisbar. Die Hoffnung auf eine abschreckende Wir-
kung verkennt die Umstände, unter denen die meisten
Verbrechen begangen werden. Es handelt sich ja gerade
nicht um Täter, die rational denken, sondern um Men-
schen, die hochemotional handeln. Sie kalkulieren die
Folgen eines Misslingens ihrer Tat oft nicht ein. Man-
chen ist ihr persönliches Schicksal sogar gleichgültig.
Auf solche Menschen hat die Todesstrafe keine abschre-
ckende Wirkung. Wäre dies anders, müsste die Krimina-
litätsrate in Ländern mit Todesstrafe eigentlich niedriger
sein als in Ländern ohne Todesstrafe. Es gibt hingegen
Studien, die sogar davon ausgehen, dass die Todesstrafe
eher zu einer Verrohung der Gesellschaft und damit zu
einer erhöhten Gewaltbereitschaft führt.
All diese Argumente gegen die Todesstrafe treffen
auch auf Länder zu, in denen rechtstaatliche Verfahren
grundsätzlich garantiert sind. Die Bundesrepublik
Deutschland hat bereits 1949 als erster Flächenstaat auf
dem europäischen Festland die Todesstrafe vollkommen
abgeschafft.
Es ist leicht, den Zeigefinger zu erheben, wenn der ei-
gene Staat bereits mit gutem Beispiel vorangegangen ist.
Doch rechtsstaatliche Verfahren sind längst nicht überall
auf der Welt gegeben. In Ländern ohne rechtsstaatliche
Verfahren kommt noch die Gefahr hinzu, dass die Todes-
strafe aus politischen Motiven vollstreckt wird. Es sind
keine Einzelschicksale, über die wir hier reden:
Die Zahlen über die weltweite Verhängung und Voll-
streckung der Todesstrafe sind erschreckend. Im Jahr
2006 wurden nach offiziellen Angaben mehr als
3 800 Menschen zum Tode verurteilt; über 1 500 Men-
schen wurden hingerichtet. Die tatsächlichen Zahlen
dürften noch viel höher liegen, vor allem in China.
Offiziell kam es in der Volksrepublik China im letzten
Jahr zu 1 010 Hinrichtungen. Angaben von Nichtregie-
rungsorganisationen zufolge ist jedoch anzunehmen,
dass die Zahl von 8 000 Exekutionen näher an der Reali-
tät ist. Damit wäre China Schauplatz von etwa zwei Drit-
tel aller Hinrichtungen weltweit. In China können
68 Straftaten, darunter auch völlig gewaltfreie Delikte
wie Betrug, Steuerhinterziehung und Bestechung zu
12906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
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einem Todesurteil führen. Selbst für das Erlegen eines
Pandabären kann die Todesstrafe verhängt werden.
Dabei ist China kein Einzelfall. Auch in einer Reihe
anderer Staaten werden Menschen für gewaltfreie De-
likte hingerichtet: So wurde erst im Juli dieses Jahres ein
Mann im Iran wegen Ehebruchs gesteinigt. Die Steini-
gung der Frau wurde in letzter Minute auf unbestimmte
Zeit vertagt, nachdem der Fall international Aufsehen er-
regte. Im September wurden in Vietnam drei Männer
wegen Drogenhandels zum Tode verurteilt. Einen Monat
vorher wurden fünf Pakistani und ein Nigerianer in
Saudi-Arabien wegen desselben Delikts exekutiert.
Aber nicht nur die Anwendung der Todesstrafe an
sich, sondern auch die angewandten Exekutionsmetho-
den erfüllen einen mit Empörung und Abscheu. Ent-
hauptungen wie in Saudi-Arabien, Steinigungen wie im
Iran, Erhängungen oder Erschießungskommandos – all
dies sind Methoden, die nur als barbarisch bezeichnet
werden können.
Auch die vermeintlich humaneren Exekutionsmetho-
den Giftspritze und elektrischer Stuhl sind grausame
Mittel zu einem nicht minder grausamen Zweck. Eine
Vielzahl von erschütternden Beispielen hat in der Ver-
gangenheit gezeigt, dass auch hier die zum Tode Verur-
teilten erheblich leiden: So rang der in den USA exeku-
tierte Häftling Angel Diaz im letzten Jahr ganze
34 Minuten mit dem Tod und verzog bis kurz vor seinem
Ende das Gesicht vor Schmerzen.
Dass dieser Fall in den USA inzwischen auch den
Obersten Gerichtshof erreicht hat, ist erfreulich. Es
stimmt mich vorsichtig hoffnungsvoll, dass es in den
Vereinigten Staaten zu einer breiteren Debatte über die
Todesstrafe kommt. Es bleibt zu hoffen, dass die Verei-
nigten Staaten, die sonst eine Vielzahl von Werten mit
uns teilen, einlenken und die Todesstrafe abschaffen.
Nicht weniger bedrückend als die Exekutionsmetho-
den sind die Missstände in Bezug auf den Kreis der zum
Tode Verurteilten. Immer wieder kommt es zur Verurtei-
lung und Exekution von Minderjährigen, zuletzt im
April im Iran. Überhaupt hält der Iran in dieser Frage ei-
nen traurigen Rekord. In keinem anderen Land der Welt
wurden so viele Menschen hingerichtet, die zur Tatzeit
nicht volljährig waren, wie im Iran. Insgesamt sitzen im-
mer noch 71 zur Tatzeit minderjährige Straftäter in den
Todestrakten iranischer Gefängnisse. Darüber hinaus
sind zwölf der Todeskandidaten sogar minderjährig zu
Tode verurteilt worden. Die Gefahr ist groß, dass sie
noch vor ihrem 18. Lebensjahr hingerichtet werden.
Genauso verabscheuungswürdig ist die Hinrichtung
von geistig kranken Menschen. Amnesty International
berichtet von fünf Staaten, in denen es zur Hinrichtung
von geistig Kranken gekommen ist: Kirgisistan, Usbe-
kistan, USA, Japan und Iran.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Die Todes-
strafe ist auch dann nicht human, wenn all die eben auf-
gelisteten Missstände behoben wären. Dennoch verdeut-
lichen sie, dass es eine Reihe von Staaten gibt, die sich
nicht einmal an die Mindeststandards halten.
Vor ein paar Tagen wurde in New York eine Resolu-
tion zur Ächtung der Todesstrafe in die UN-Generalver-
sammlung eingebracht. Die Chancen stehen gut, noch im
Laufe des Novembers ein zustimmendes Votum zu errei-
chen. Mich freut, dass die Europäische Union in dieser
Frage geschlossen zusammensteht.
Ich hoffe, dass die Resolution auch bei der abschlie-
ßenden Beratung eine überzeugende Mehrheit finden
wird.
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Wir Sozialdemo-
kraten begrüßen sehr, dass der Deutsche Bundestag
heute anhand des interfraktionellen Antrags von Union
und SPD, von FDP und Bündnis 90 über die Notwendig-
keit und die Möglichkeit zur weltweiten Ächtung der To-
desstrafe diskutiert.
Wir begrüßen den gemeinsamen Antrag, der die Ini-
tiative der Europäischen Union unterstützt, bei der
62. Generalversammlung der Vereinten Nationen durch
die Verabschiedung eines Moratoriums ein Zeichen für
die weltweite Abschaffung der Todesstrafe zu setzen,
und wir unterstreichen die elf konkreten Forderungen
zur Bekräftigung der Politik der Bundesregierung gegen
die Todesstrafe, die in dem Antrag enthalten sind.
Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag diesen Antrag
mit einer so breiten Mehrheit seiner Mitglieder einbringt
und heute auch gleich beschließen will; das zeigt, dass
hier im Deutschen Bundestag unbestritten die Überzeu-
gung besteht, dass es weder eine moralisch-ethische,
noch eine pragmatische Rechtfertigung für die Todes-
strafe gibt.
In der Tat ist das Gegenteil der Fall: Weder vom mo-
ralisch-ethischen Standpunkt her, noch von der Ver-
pflichtung jedes zivilisierten Staates zum Schutz seiner
Bürgerinnen und Bürger vor Kriminalität und Terroris-
mus, das zu tun, was nötig und von der Verfassung ge-
deckt ist, die ja die Bindung an Menschenwürde, Men-
schenrechte und Rechtsstaatlichkeit sicherstellt, kann
eine Rechtfertigung der Todesstrafe hergeleitet werden.
Es gibt nicht das selbstverständliche Recht eines Staates,
Gewalt und Kriminalität zu Strafzwecken mit der Tö-
tung eines Verurteilten zu beantworten. Auch der häufig
zitierte „Wille des Volkes“, der zumeist nur fehlende
oder bewusst vorenthaltene Informationen über Straf-
zwecke und Beitrag und Möglichkeiten eines rationalen
Strafverfahrens und Strafvollzuges zu Schutz und Siche-
rung der Bevölkerung widerspiegelt, ändert daran nichts.
Das deutsche Grundgesetz schließt die Todesstrafe
ausdrücklich aus. Grundgedanke und Begründung dieses
Verbotes gelten jedoch über die Grenzen der Bundesre-
publik Deutschland hinaus. Die gesamte Europäische
Union, aber auch die meisten Mitgliedstaaten des Euro-
parates haben die Todesstrafe bereits abgeschafft; andere
Staaten, wie etwa Usbekistan, planen, dies mit Beginn
des Jahres 2008 zu tun. Das sind ermutigende Zeichen,
die mit dazu beitragen können, die Initiative der Europäi-
schen Union in der 62. Generalversammlung zu der not-
wendigen Mehrheit zu verhelfen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12907
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Die Todesstrafe hilft aber auch nicht bei der Siche-
rung und dem Schutz der Bevölkerung vor Schwerstkri-
minalität, wie häufig fälschlich behauptet wird: Ab-
schreckung und damit ein Beitrag zur Verhütung von
Kriminalität kann vielmehr durch die Gewissheit einer
hohen Aufklärungsquote und einer zuverlässigen profes-
sionellen Strafverfolgung unter Einbeziehung des Straf-
vollzugs erreicht werden. Das zeigt die Entwicklung der
Schwerst- und Gewaltkriminalität in den neuen Mit-
gliedstaaten des Europarats; neuere Untersuchungen von
Gesellschaften mit im Übrigen vergleichbaren Verhält-
nissen zeigen sogar, dass ein negativer Zusammenhang
zwischen der Existenz, der Verhängung, Verurteilung
und Vollstreckung der Todesstrafe und einem hohem Pe-
gel an Gewaltkriminalität bestehen könnte.
Ganz sicher aber ist, dass die Ekel erregenden Propa-
ganda-Bilder von der öffentlichen Zelebrierung von Hin-
richtungen, die in letzter Zeit insbesondere aus dem Iran,
aber auch aus anderen Ländern bekannt werden – mit ei-
nem rationalen Strafsystem wenig zu tun haben. Sie sind
vielmehr Zeichen der Gewaltbereitschaft der Machtha-
ber, die sich negativ auf die gesamte Gesellschaft aus-
wirken muss; sie sind Ausdruck von Machtwillen durch
Einschüchterung und sollen zur Absicherung der Macht-
haber den falschen Eindruck verfestigen, die Todesstrafe
könne zu mehr Sicherheit und Schutz für die Bevölke-
rung führen.
Die begrüßenswerte Initiative der Europäischen
Union bei der 62. Generalversammlung der Vereinten
Nationen hat schon bis heute die Unterstützung von vie-
len anderen Staaten erhalten, bis gestern beläuft sich ihre
Zahl auf insgesamt 78. Damit rückt die Mehrheit der
Mitgliedstaaten der Generalversammlung der Vereinten
Nationen in sichtbare Nähe. Sie zu erreichen ist das Ziel.
Deshalb fordert der Deutsche Bundestag nicht nur die
Bundesregierung auf, alles in ihrer Macht Stehende zu
tun, um die Mehrheit der Mitglieder der Generalver-
sammlung für diese Initiative zu erhalten. Vielmehr wer-
den alle Mitglieder des Deutschen Bundestages die Ver-
pflichtung übernehmen, in Gesprächen mit Kolleginnen
und Kollegen anderer Parlamente auf diese Initiative
hinzuweisen und sie inhaltlich zu unterstützen.
Florian Toncar (FDP): Wir beraten heute einen in-
terfraktionellen Antrag, der ein sichtbares Zeichen für
die weltweite Abschaffung der Todesstrafe setzen soll.
Ich freue mich, dass wir uns auf ein interfraktionelles
Vorgehen einigen konnten und so ein Signal der Ge-
schlossenheit des Deutschen Bundestags zur Erreichung
dieses wichtigen Ziels senden.
Die Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche
Bestrafung, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Die Fol-
gen von möglichen Justizirrtümern, gegen die kein Jus-
tizsystem gefeit ist, lassen einen erschaudern. Laut Am-
nesty International wurden allein in den Vereinigten
Staaten von Amerika seit dem Jahr 1900 über 450 Perso-
nen zum Tode verurteilt, bei denen später festgestellt
wurde, dass sie unschuldig waren oder ihre Verurteilung
auf schweren Verfahrensfehlern beruhte. Bei einigen
Personen konnte ihre Unschuld nur posthum ermittelt
werden. Ferner ist die Todesstrafe schon allein deshalb
verabscheuenswürdig, weil sie dem Verurteilten wegen
seiner Gewissheit um den immer näher rückenden Tod
psychische und seelische Grausamkeit zufügt.
Es gibt keinen logisch nachvollziehbaren Grund, der
die Todesstrafe rechtfertigen könnte. Vielmehr ist sie das
Instrument einer irrationalen Rechtspflege. Daher lehnt
die FDP die Todesstrafe seit jeher strikt ab.
In diesem Sinne begrüße ich den Antrag sehr, den wir
heute beraten, und hoffe, dass er seine Wirkung auf die
Verhandlungen in der 62. VN-Generalversammlung ent-
falten wird. Eine in den Vereinten Nationen verabschie-
dete Resolution wird hoffentlich die öffentliche Mei-
nung in den Staaten, die die Todesstrafe noch anwenden,
dahin gehend beeinflussen, von der Todesstrafe Abstand
zu nehmen. Weltweit ist bereits eine deutliche Tendenz
zur Aussetzung oder vollständigen Abschaffung der To-
desstrafe zu beobachten. Es wäre wünschenswert, wenn
eine erfolgreiche VN-Resolution dieser Entwicklung ei-
nen neuen kräftigen Impuls verleihen könnte.
Ich möchte jedoch auch meine Enttäuschung über ei-
nige Kollegen, vor allem in der CDU/CSU-Fraktion
nicht verbergen, die selbst bei einem so wichtigen An-
trag nicht der Versuchung widerstehen konnten, ihre
ganz persönliche politische Agenda zu propagieren, die
mit der eigentlichen Kernfrage der weltweiten Abschaf-
fung der Todesstrafe nichts zu tun hat. Offenbar waren
Sie, Frau Steinbach, nicht bereit, darauf zu verzichten,
einen Seitenhieb gegen Polen in den Antrag einzufügen,
der in der Sache überholt ist und zudem das Verhältnis
zur neuen polnischen Regierung von Anfang an zu be-
lasten droht. Ich meine den gesonderten Verweis auf
Polen in Forderung Nr. 9. Dieser erweckt fälschlicher-
weise den Eindruck, als ob Polen die Abschaffung der
Todesstrafe als Fundament der europäischen Werteord-
nung anzweifle und deshalb einer herausgehobenen
deutschen Belehrung bedürfe. Dem ist nicht so.
Einerseits stimmt es, dass die abgewählte polnische
Regierung Kaczynski eine Einigung auf europäischer
Ebene für einen „Europäischen Tag gegen die Todes-
strafe“ verhinderte. Dieses – auf eine abstruse Argumen-
tation gestellte – Verhalten war sehr kritikwürdig, da es
eine Chance für ein klares Signal Europas gegen die To-
desstrafe vergab. Wir alle haben dazu deutliche Worte
gefunden; unser heutiger Antrag nimmt im Einleitungs-
teil nochmals darauf Bezug.
Andererseits hat mittlerweile eine neue Regierung die
Amtsgeschäfte in Warschau übernommen, die wir nicht
für die Fehler ihrer Vorgänger verantwortlich machen
sollten. Der neue polnische Regierungschef Donald Tusk
hat bereits einen anderen Politikstil angekündigt, der die
Fehler der Vorgängerregierung nicht wiederholen wird.
Zudem hat Tusk erklärt, dass er an einer Verbesserung
der Beziehungen zu Deutschland sehr interessiert ist. Da-
her sind Belehrungen von deutscher Seite an Polen – zu-
mal obsolete – nicht nur unnötig, sondern sogar kontra-
produktiv. Nebenbei bemerkt: Ich kann nicht verstehen,
dass die Union ihre eigene Schwesterpartei PO, mit der
sie gemeinsam in der EVP-Fraktion im EP sitzt, über
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europäische Grundrechte belehren will. Aus diesem
Grund werden einige Kollegen und ich heute einen ge-
meinsamen Änderungsantrag zu dem vorliegenden inter-
fraktionellen Antrag einbringen, der die Streichung
dieses gesonderten Verweises auf Polen fordert, um au-
ßenpolitischen Schaden abzuwenden.
Auch wenn es bedauerlich ist, dass bei einer so wich-
tigen Frage wie der Todesstrafe ein sachfremdes Thema
mit transportiert wurde, kann dies nicht den Blick dafür
verstellen, dass hier insgesamt ein sehr guter interfrak-
tioneller Antrag vorliegt. Neben der Unterstützung für
eine Resolution in der VN-Generalversammlung für die
weltweite Abschaffung der Todesstrafe greift er wichtige
Aspekte deutscher und europäischer Außenpolitik im
Umgang mit einigen der Staaten auf, die für einen Groß-
teil der Hinrichtungen weltweit verantwortlich sind.
Da allein China etwa die Hälfte aller Hinrichtungen
weltweit durchführt, ist besonders Forderung Nr. 5, die
Todesstrafe im Rahmen des EU-China-Menschenrechts-
dialogs sowie beim deutsch-chinesischen Rechtsstaats-
dialog zu problematisieren, von besonderer Bedeutung.
Obwohl die offizielle Zahl der Hinrichtungen in China
im vergangen Jahr bei 1 010 lag, gehen Menschenrechts-
organisationen von einer hohen Dunkelziffer aus. Offen-
bar auch aus diesem Grund hat China im Herbst letzten
Jahres verfügt, dass alle Todesurteile einer höchstrichter-
lichen Prüfung unterzogen werden müssen. Auch wenn
dies natürlich nicht ausreichen kann, so ist es wenigstens
nicht mehr möglich, dass entlegene Provinzgerichte un-
kontrolliert Todesurteile vollstrecken lassen.
Im Iran ist in den letzten Monaten eine deutliche Zu-
nahme von Hinrichtungen zu vermelden. Dabei ist be-
sonders bizarr, dass eine hohe Zahl an Straftätern betrof-
fen ist, die zur Tatzeit noch minderjährig waren. Auch
hier muss die EU in einen Menschenrechtsdialog eintre-
ten, um die Regierung in Teheran von einer Abschaffung
der Todesstrafe zu überzeugen.
In den USA gab es jüngst zahlreiche Fälle über tech-
nische Pannen bei Hinrichtungen, die den Opfern zusätz-
liche, unsägliche Qualen bereiteten. Es bleibt zu hoffen,
dass diese Berichte über die tatsächliche Grausamkeit
auch vermeintlich humaner, technisierter Hinrichtungs-
methoden wie der Giftspritze ein Umdenken in der US-
Öffentlichkeit bewirken. Hier setzt die Forderung Nr. 7
des Antrags an, um auf die Abschaffung der Todesstrafe
in sämtlichen Bundesstaaten der USA einzuwirken.
Insgesamt liegt mit diesem Antrag ein sehr breites
Spektrum an vorgeschlagenen Maßnahmen vor, die sehr
gute Ansatzpunkte für die deutsche und europäische Au-
ßenpolitik bei ihrem Anliegen der weltweiten Abschaf-
fung der Todesstrafe bieten. Ich freue mich, dass der
Deutsche Bundestag sich über die Parteigrenzen hinweg
zu einem geschlossenen Vorgehen in diese Richtung zu-
sammengefunden hat.
Daher ist es für meine Fraktion und mich selbstver-
ständlich, im Interesse des übergeordneten Ziels der
weltweiten Abschaffung der Todesstrafe diesen Antrag
zu unterstützen.
Ich möchte schließen mit dem Wunsch, dass die deut-
schen Diplomaten um Botschafter Thomas Matussek zu-
sammen mit ihren europäischen Kollegen in den Ver-
handlungen in der VN-Generalversammlung erfolgreich
sein mögen und diese Resolution zur weltweiten Ab-
schaffung mit einer breiten Mehrheit der Staaten auf den
Weg bringen.
Michael Leutert (DIE LINKE): Zu Anfang möchte
ich gleich klarstellen, dass meine Fraktion diesem An-
trag zustimmen wird. Bedauerlich ist allerdings, dass
meine Fraktion mal wieder – wie so oft leider – außen
vor gelassen wurde. Man kann und sollte ja im Parla-
ment über vieles streiten. Meinungen über das, was gut
und richtig ist, können auseinandergehen. Das ist konsti-
tuierend für Demokratie und davon lebt eine Demokra-
tie. Aber bei einem so fundamentalen Thema wie der To-
desstrafe gibt es in diesem hohen Hause keinen Grund
für Streit. Meine Fraktion und auch ich als Obmann für
Menschenrechte nehmen dazu eine klare politische Hal-
tung ein. Das ist Ihnen allen sehr wohl bekannt. Dass be-
züglich einer gemeinsamen parlamentarischen Initiative
noch nicht einmal angefragt wurde, empfinde ich als
eine politische, vor allem aber auch persönliche Enttäu-
schung.
Kommen wir zum Antrag selbst. Die Ziffern 5 bis 7
zeigen deutlich, dass die Bundesregierung selbst in die-
ser Frage gegenüber den Adressaten differenziert, ob-
wohl, da es wie hier um das Leben Einzelner geht, eine
Differenzierung politisch und menschlich völlig verfehlt
ist. Ich zitiere aus ihrem Antrag:
5. beim Menschenrechtsdialog der EU mit China
sowie beim deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdia-
log weiterhin die Todesstrafe zu problematisieren;
6. sich für eine Wiederbelebung des EU-Menschen-
rechtsdialogs mit Iran einzusetzen, die Todesstrafe
zu einem ständigen Tagesordnungspunkt zu ma-
chen und dabei insbesondere auf die Einhaltung der
Mindestnormen zu drängen; 7. die guten transatlan-
tischen Beziehungen zu nutzen, um bilateral sowie
im Rahmen der EU auf die Abschaffung der Todes-
strafe in sämtlichen Bundesstaaten der USA hinzu-
wirken;
Im Grundsatz alles richtige Sätze. Deshalb ja auch
unsere Zustimmung zum Antrag in seiner Gesamtheit.
Die länderspezifischen Abstufungen – also: gegenüber
China die Todesstrafe problematisieren, gegenüber
dem Iran zu einem ständigen Tagesordnungspunkt zu
machen und gegenüber den USA auf eine Abschaffung
hinzuwirken – sind unserer Ansicht nach aber verfehlt,
und zwar zum einen politisch, weil es den Staaten
zeigt, dass einige – selbst bei der Abschaffung der To-
desstrafe – immer noch gleicher sind als andere.
Menschlich erscheinen uns diese sprachlichen Diffe-
renzierungen verfehlt und vor allem auch pietätlos.
Wenn Menschen die Todesstrafe droht, dann sollten wir
uns für diese Menschen in jeweils gleicher Form – und
damit eben auch in der Wortwahl – einsetzen, unabhän-
gig von ihrer Staatsangehörigkeit. Wie soll sich denn
ein in Amerika zum Tode Verurteilter fühlen, wenn die
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Bundesregierung gegenüber China und dem Iran we-
sentlich stärkere Formulierungen wählt als gegenüber
den USA.
Wie gesagt, wir werden dem Antrag zustimmen,
möchten die Bundesregierung und die Fraktionen aber
auf Art. 3 des Grundgesetzes hinweisen, welcher eine
solche Ungleichbehandlung verbietet. Sollten meine Be-
denken bei Ihnen doch ein gewisses Unwohlsein hervor-
gerufen haben, dann bieten wir als Fraktion natürlich an,
die Abstimmung zu verschieben und mitzuhelfen eine
treffendere Formulierung zu finden.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Albert Camus hat einmal gesagt, dass man, um das
rechte Verhältnis herzustellen, die Todesstrafe gegen ei-
nen Verbrecher verhängen müsste, der sein Opfer zu-
nächst warnt, dass er es an einem bestimmten Tag auf
schreckliche Weise ermorden würde und es von diesem
Moment an monatelang in seiner Gewalt gefangen
hielte. Ein solches Ungeheuer würde man im privaten
Bereich nicht finden.
Und doch sitzen in den USA und in anderen Ländern
zum Tode Verurteilte nicht selten jahrelang in den To-
deszellen, in der Ungewissheit, wann das Todesurteil
vollstreckt wird. Ich rate übrigens an dieser Stelle beson-
ders bei den Linken zur Aufmerksamkeit, damit es nicht
wieder heißt, die USA würden im Deutschen Bundestag
nicht für ihre Menschenrechtsverletzungen kritisiert. Ein
Staat, der die gesamte Gesellschaft repräsentiert und die
Aufgabe hat, die Gesellschaft zu schützen, darf sich
nicht selbst auf eine Stufe mit einem Mörder stellen.
Gleichwohl erscheinen einem aber die USA in diesem
Punkt als Hort der Menschlichkeit, wenn man sich ein-
mal die Vollstreckung der Todesstrafe in Ländern wie
dem Iran, Saudi-Arabien und China anschaut. Dort wird
die Todesstrafe oft auch bei minderschweren Delikten
verhängt und macht auch vor behinderten Menschen und
Minderjährigen nicht halt. Sie wird nicht selten öffent-
lich als blutiges Schauspiel zelebriert.
Die Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen
gegen Minderjährige verstoßen gegen die im Internatio-
nalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte fest-
gelegten Mindeststandards und gegen Bestimmungen
des Übereinkommens über die Rechte des Kindes. Der-
zeit warten alleine im Iran über 70 zur Tatzeit Minder-
jährige auf die Vollstreckung ihres Todesurteils. In
Saudi-Arabien soll in einem aktuellen Fall ein zur Tat-
zeit erst 13-Jähriger hingerichtet werden, wegen angebli-
chem sexuellen Missbrauchs.
In einer Veröffentlichung der Gesellschaft für be-
drohte Völker ist ein Augenzeugenbericht der Steini-
gung einer Minderjährigen zu lesen:
Eines Tages musste ich mit meiner Schulklasse ins
Stadion kommen. Es sollte eine Steinigung vollzo-
gen werden, bei der wir zuschauen mussten. Wir sa-
ßen auf den Tribünen und warteten. Sandwichver-
käufer gingen durch die Reihen und boten ihre
Waren an. Dann endlich wurde ein Mädchen ins
Stadion geführt. Ich erschrak, denn ich erkannte
dieses siebzehnjährige Mädchen. Sie wohnte in un-
serer Straße, und als Kinder hatten wir miteinander
gespielt.
Ein Mullah las ihr das Urteil vor: „Im Namen
Allahs, des Barmherzigen, wirst du zum Tode ver-
urteilt durch Steinigung.“ Das Mädchen weinte,
aber es wirkte wie benommen. Sie wurde in ein
Loch gestellt, das man in die Erde gegraben hatte.
Dann schaufelte man dieses Loch bis zur Brusthöhe
des Mädchens zu. Auf den Tribünen johlte der
Mob. Dann flogen die ersten Steine, die gezielt ne-
ben dem Mädchen auf den Boden fielen. Jedes Mal,
wenn der Oberkörper des Mädchens zuckte, um ei-
nem Stein auszuweichen, begann das Johlen der
jungen Männer von neuem. Es war wie bei einem
Fußballspiel, wenn ein ganzes Stadion „Tor“
schreit. Dann trafen die ersten Steine. Das ganze
Spektakel zog sich hin, bis das Mädchen endlich tot
war.
Mit einem barmherzigen Gott, ob im Islam oder
Christentum, haben solche Schauspiele und die Todes-
strafe insgesamt nichts, aber auch gar nichts zu tun. Der
Iran und Saudi-Arabien unterschieden sich in dieser Hin-
sicht leider so gut wie gar nicht. Umso verwunderlicher
ist es, dass bisher nicht zu vernehmen war, dass die Bun-
deskanzlerin oder der Außenminister anlässlich des ge-
rade stattfindenden Besuchs des saudischen Königs
Abdullah die katastrophale Menschenrechtslage in
Saudi-Arabien angesprochen haben. Wir erwarten hier
von der Bundesregierung klare Worte und hoffen, dass
das Thema auch in Gesprächen mit dem Iran nicht hinter
anderen Fragen zurücksteht.
Die Einbringung der Resolution zur Abschaffung der
Todesstrafe in die 62. Generalversammlung ist ein wich-
tiges Signal, und wir hoffen, das möglichst viele der
192 Mitgliedstaaten der Resolution zustimmen. Gleich-
wohl ist ein Moratorium noch keine Abschaffung der To-
desstrafe. Die Bundesregierung muss auf allen Ebenen
nachdrücklich in Gesprächen mit den betroffenen Ländern
darauf hinwirken, dass es nicht nur zu einem Moratorium
bei der Vollstreckung der Todesstrafe kommt, sondern
diese unwiederbringlich abgeschafft gehört.
Als einziges Mitglied des Europarats hat Russland
das 6. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschen-
rechtskonvention noch nicht ratifiziert. Die Bundesre-
gierung muss sich hierfür in ihren Gesprächen mit der
russischen Regierung einsetzen; denn für die Todesstrafe
gibt es in Europa keinen Platz.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Finanzierung von
Frauenhäusern bundesweit sicherstellen und
losgelöst vom SGB II regeln (Tagesordnungs-
punkt 20)
Maria Michalk (CDU/CSU): Gewalt gegen Frauen
ist kein Problem am Rande unserer Gesellschaft. Leider!
12910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
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Sie findet mitten unter uns statt. Wir haben gemeinsam
die Aufgabe, Gewalt in jeglicher Form zu verhindern.
Unbestritten ist, dass Gewalt, die in unterschiedlichen
Erscheinungsformen ausgeübt wird, die Betroffenen in
ihrer Entfaltung und Lebensgestaltung einschränkt. Sie
beeinflusst extrem negativ vor allem auch die Kinder.
Deshalb ist der Schutz vor Gewalt ein gesamtgesell-
schaftliches Anliegen.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Bundesregie-
rung, die ihren zweiten Aktionsplan zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen als abgestimmtes Handlungs-
konzept vorgelegt hat.
In diesem Kontext sehen wir auch die Frauenhäuser.
Sie sind seit mehr als 30 Jahren unverzichtbarer Be-
standteil der Unterstützungsangebote für Gewaltopfer.
Nach wie vor ist es notwendig, in Form von bundeswei-
ter Vernetzung, durch Medieninformationen und mehr
Informationsmaterial für Angehörige und Bekannte der
betroffenen Frauen die Arbeit der Frauenhäuser zu stär-
ken. Das bedeutet aber nicht, dass wir gesetzliche Rege-
lungen, die systematisch die finanzielle und soziale Ab-
sicherung der Grundbedürfnisse der Menschen
garantieren, instrumentalisieren und quasi im Schlepptau
die Finanzierung der Frauenhäuser in die Bundeszustän-
digkeit überführen. Das ist ja letztlich der Kern und das
Ziel des Antrages der Fraktion Die Linke, den wir hier
diskutieren.
Richtig ist, dass eine Frau, die dem Grunde nach nach
dem SGB II leistungsberechtigt ist, also ein Alter zwi-
schen 15 und 65 Jahren hat, erwerbsfähig und hilfebe-
dürftig ist und ihren Aufenthalt in Deutschland hat, ma-
terielle Hilfeleistungen zum Lebensunterhalt nach den
§§ 27 bis 40 des SGB XII erhält. Gezahlt werden zum
Beispiel auch Grundsicherungsleistungen bei Erwerbs-
minderung. Nach dem SGB II haben diese Vorrang.
Im §16 Abs. 2 des SGB II ist vorgesehen, dass psy-
chosoziale Betreuungsleistungen erbracht werden kön-
nen, wenn diese für die Eingliederung in das Erwerbsle-
ben erforderlich sind. Auch im Frauenhaus ist das
Endziel der Betreuungsleistungen die spätere vollstän-
dige Selbstständigkeit durch ein selbst erarbeitetes Ein-
kommen. Dazu gehört sehr wohl die Überwindung der
gewaltgeprägten Lebenssituation.
Ob von dieser Eingliederungsleistung im Ermessen
abgewichen wird, entscheidet sich im konkreten Fall.
Das ist auch sinnvoll. Auch wenn alle Bewohnerinnen
eines Frauenhauses die Gewalterfahrung eint, ist ihre
konkrete Lebenssituation jeweils sehr unterschiedlich.
Deshalb ist die individuelle Betrachtung durch nichts zu
ersetzen. Allerdings sind wir uns einig, dass gerade hier
keine bürokratischen Hürden aufgebaut werden dürfen.
Ich mahne diesbezüglich auch eine jeweils zeitnahe Ent-
scheidung an.
Erinnern möchte ich des Weiteren daran, dass der Be-
zug von Leistungen materieller und nichtmaterieller Art
nach dem SGB XII nicht auf einen konkreten Personen-
kreis beschränkt ist. Wie in SGB II wird auch hier von
Leistungsberechtigten gesprochen. Deshalb können Be-
ratung und Unterstützung erbracht werden, auch wenn
die Hilfe zum Lebensunterhalt nicht nach dem SGB XII,
sondern nach dem SGB II erbracht wird. Die Sozialhilfe-
gewährung in Form von Beratungs- und Unterstützungs-
leistungen dient damit also auch dem Ziel der Beendi-
gung der Gewaltsituation sowie der Gewährung von
Schutz und Zuflucht. Damit sehen Sie, dass unsere Re-
gelungen so differenziert sind, dass auf die jeweilige Si-
tuation reagiert werden kann.
Das Komplizierte in dieser von Gewalt und Leid ge-
prägten Situation der Frau ist allerdings in der Tat, das
Spannungsfeld zwischen Schutz im räumlichen Bereich
und aktiver Lebensgestaltung mit dem Ziel der künftigen
dauerhaften Selbstständigkeit zu gestalten. So empfiehlt
die Rechtsinfo des Frauenhaus-Koordinierungs e. V.
zum Beispiel den § 27 Abs. 2 BSHG als Rechtsgrund-
lage für einen über die Hilfe zum Lebensunterhalt hi-
nausgehenden, zu deckenden Bedarf auf Beratung und
Unterstützung heranzuziehen.
Maßstab ist bei der Leistungsgewährung allgemein
immer, dass der Einsatz von öffentlichen Mitteln ge-
rechtfertigt ist. Bei der Flucht in ein Frauenhaus ist das
unbestritten. Das bekräftigt zum Beispiel die Durchfüh-
rungsverordnung zum § 72 BSHG, wonach gewaltge-
prägte Lebensumstände als besondere Lebensumstände
im Sinne des § 72 Abs. l BSHG benannt sind.
Die Behauptung der Linken, dass die Einführung der
Grundsicherung ursächlich für zunehmende Gewalt ist,
kann so nicht stehen bleiben. Ja, Arbeitslosigkeit und
Geldsorgen sind sehr belastend. Aber von häuslicher Ge-
walt und Zuflucht im Frauenhaus sind leider auch
Frauen betroffen, die keine finanziellen Sorgen haben.
Die Missachtung der Menschenwürde ist ein viel zu breit
gefächertes Erscheinungsbild, als dass es auf ein be-
stimmtes Klientel beschränkt werden kann.
Die Gesamtfinanzierung der Frauenhäuser zu regeln
ist dezidiert Aufgabe der Länder. So ist zu erklären, dass
die Finanzierung in den Ländern unterschiedlich ge-
handhabt wird. Einige finanzieren sich über Tagessätze,
andere über Zuschüsse von Kommunen und/oder Län-
dern.
Dass zufluchtsuchende Frauen von Frauenhäusern
mitunter abgewiesen werden, weil sie nicht in der Lage
sind, die Tagessätze zu finanzieren, ist hier und da vor-
gekommen und bedauerlich. Aber bei gemeinsamen Lö-
sungsbestrebungen vor Ort gibt es auch für solche Kon-
stellationen einen Ausweg. Zum Beispiel arbeitet ein
Frauenhaus in meinem Wahlkreis mit Tagessätzen von
6 bzw. 7 Euro. Für Frauen mit Leistungsbezug nach
SGB II werden vom Träger für Grundsicherung die Kos-
ten für Tagessätze vollständig übernommen. Da gibt es
gar keine Probleme. Trotzdem ist die Einrichtung chro-
nisch in finanziellen Nöten und muss auf die Spendenbe-
reitschaft der Bevölkerung bauen.
Uns nützt keine zentrale Regelung und diese wollen
wir auch nicht. Wir setzen auf die Grundsicherung für
den Lebensunterhalt und das mitmenschliche Miteinan-
der.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12911
(A) (C)
(B) (D)
Renate Gradistanac (SPD): Frauenhäuser sind
Schutzhäuser für Frauen und ihre Kinder. Sie schützen
Frauen, die Gewalt erfahren haben und Frauen, die vor
einer Gewaltandrohung Schutz suchen. Ich selbst habe
vor 15 Jahren ein Frauenhaus im Schwarzwald gegrün-
det und war Vorsitzende. Der Bedarf an Frauenhausplät-
zen ist trotz des Platzverweises nach dem Gewaltschutz-
gesetz unvermindert hoch. Sie sind eine zentrale und
notwendige Anlaufstelle für von Gewalt betroffenen
Frauen und ihre Kinder. Solange es Gewalt gegen
Frauen gibt, werden wir unsere Frauenhäuser brauchen.
In Deutschland gibt es etwa 400 Frauenhäuser, in de-
nen jährlich mehr als 40 000 Frauen Schutz suchen.
5 722 Frauen und Kinder haben im Jahr 2003 in den
41 Frauenhäusern in Baden-Württemberg um Schutz
nachgesucht. Nicht nur in Baden-Württemberg sind die
Frauenhäuser in unterschiedlicher Trägerschaft organi-
siert und nicht nur in Baden-Württemberg ist ihre Finan-
zierung landesweit sehr uneinheitlich. So sind auch die
Tagessätze unterschiedlich hoch. In der Entstehungsge-
schichte und dem Selbstverständnis der Frauenhäuser
liegt ein Grund für die uneinheitliche Finanzierungs-
struktur. Uneinheitlich ist die Finanzierung bundesweit
aber vor allem deshalb, weil die Verantwortung für die
Finanzierung bei den Ländern und Kommunen liegt. Die
Länder und Kommunen sind gefordert, die Frauenhäuser
finanziell sicherzustellen, anstatt sie durch Kürzungen
zu beeinträchtigen.
Nicht nur in Baden-Württemberg werden die Landes-
zuschüsse für Frauenhäuser seit Jahren kontinuierlich
gekürzt. Zudem ist in den Ländern leider auch ein zu-
nehmender Ausstieg aus der institutionellen Förderung
der Frauenhäuser und ein Umstieg auf eine pauschalierte
Finanzierung nach Tagessätzen feststellbar. Dies hat gra-
vierende Auswirkungen auf die Frauenhäuser. Die Kos-
ten für Beratung, Unterkunft und Sachkosten werden da-
durch von der Belegung der Plätze abhängig. Es gibt
keine Planungssicherheit mehr und es gibt darum kaum
mehr Mittel für die präventive und nachsorgende Arbeit.
Ich bin der Meinung, dass die Frauenhausfinanzierung
für die Länder und Kommunen zur Pflichtaufgabe wer-
den muss. Alle unsere Frauenhäuser brauchen eine Fi-
nanzierungsstruktur, die ihnen Planungssicherheit gibt.
In den Bundesländern sind diese Defizite hinreichend
bekannt. Im Übrigen sind die Länder und Kommunen
auch für die Beratungsstellen für Frauen zuständig, die
leider zunehmend abgebaut werden. Für eine bundesein-
heitliche Regelung käme ein abgestimmtes Vorgehen der
Länder auf der Grundlage einer Vereinbarung in Be-
tracht. Auch wenn alternativ eine bundesgesetzliche Re-
gelung initiiert würde, bedürfte diese der Zustimmung
der Bundesländer. Bisher haben sich die Länder aber
überwiegend gegen eine bundeseinheitliche Regelung
ausgesprochen. Dagegen waren in der Vergangenheit im
Übrigen auch der Teil der Frauenhäuser, die dadurch
eine Verschlechterung ihrer Finanzierungsstruktur er-
wartet haben.
Ich bin froh, dass die Unklarheiten der Kostenerstat-
tung für Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II im Jahr
2005 im Sinne der Frauenhäuser geregelt wurden. Der
kommunale Träger am Herkunftsort eines Gewaltopfers
hat die Kostenerstattung für die Zeit des Aufenthalts im
Frauenhaus zu übernehmen. So wird eine einseitige Kos-
tenbelastung derjenigen kommunalen Träger, die ein
Frauenhaus unterhalten, nach dem SGB II vermieden.
Damit haben wir das für die Frauen unzumutbare Hin
und Her zwischen den betroffenen kommunalen Trägern
beendet.
Nach dem ersten Aktionsplan zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen stehen wir vor der Umsetzung des
zweiten Aktionsplans, der am 12. Oktober in den Bun-
destag eingebracht wurde. Ich bin froh, dass bei der Eva-
luation der Umsetzung des SGB II auch die Gruppe der
von Gewalt betroffenen Frauen Berücksichtigung finden
wird. Das Forschungsprojekt soll auch Handlungsemp-
fehlungen zur Beseitigung möglicher Defizite geben.
Mit den beiden Aktionsplänen zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen, dem Gewaltschutzgesetz und dem
Gesetz gegen Stalking hat der Bund in den letzten Jahren
viel für die Opfer von häuslicher Gewalt getan. Der
Bund entlastet die Länder und Kommunen durch die Zu-
sammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.
Die Länder müssen diese Entlastung nicht nur an die
Kommunen weitergeben, sondern gemeinsam müssen
sie diese Entlastung unter anderem auch zur Sicherung
und Unterstützung der Frauenhäuser einsetzen.
Ina Lenke (FDP): Gewalt gegen Frauen in Deutsch-
land ist leider immer noch ein drückendes Problem. Jede
vierte Frau hat mindestens einmal im Leben körperliche
Gewalt durch ihren Partner erlebt, und Familie ist nicht
immer ein Hort der Geborgenheit.
Die Bundesregierung hat im September dieses Jahres
„einen Aktionsplan II zur Bekämpfung von Gewalt ge-
gen Frauen“ verabschiedet, der ein Bündel von Maßnah-
men vorsieht. Die Bedeutung von Frauenhäusern mit ih-
ren vielfältigen Hilfsangeboten kommt darin leider nicht
vor.
Auch der Antrag der Regierungsfraktionen vom Sep-
tember dieses Jahres mit dem Titel „Häusliche Gewalt
gegen Frauen konsequent weiter bekämpfen“ hilft da
nicht weiter. Zwar wird positiv vermerkt, dass gerade für
von Gewalt betroffene Migrantinnen Frauenhäuser von
besonderer Bedeutung sind, dieses Hilfsangebot würde
diese Frauen besser erreichen als andere Hilfsangebote.
Dann folgt lediglich die Aussage. „Nach wie vor sind die
Zufluchtsstätten der Frauenhäuser notwendig“ und dass
der Deutsche Bundestag die klarstellenden Regelung zur
Kostenerstattung zwischen den örtlichen Trägern im
Freibetragsregelungsgesetz begrüßt, wonach die bishe-
rige Wohnortkommune der Kommune am Ort des Frau-
enhauses stets die betreffenden Kosten für die Dauer des
Aufenthalts der Frau zu erstatten hat.
Gut ist aber, dass aus dem Bundeshaushalt ein bun-
desweites Vernetzungssystem mitfinanziert wird. Die
Frauenhauskoordinierungsstelle leistet einen erheblichen
Beitrag zur Qualitätssicherung und zur qualitativen Wei-
terentwicklung der professionellen Arbeit der Frauen-
häuser.
12912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Für die Bundesregierung sind die Bundesländer und
die Kommunen zuständig, wie zum Beispiel in Sachsen-
Anhalt, wo die Frauenhäuser pauschal nach den vorge-
haltenen Plätzen einen Zuschuss erhalten. Diese Mei-
nung teile ich. Deshalb ist die Forderung der Linken,
Frauenhäuser zu einer öffentlichen Pflichtaufgabe des
Bundes zu machen, nach der Föderalismusreform nicht
zustimmungsfähig.
Die weitere Aussage in dem Antrag, „dass Frauen in
einer Notlage aus Kostengründen nicht in eine Frauen-
haus gehen können“ ist nicht real. Auch die Aussage,
dass sogar „Frauen, die jünger als 25 Jahre alt sind, zu
ihren Eltern zurückgeschickt werden“, als allgemeingül-
tige Aussage in einen Antrag an den Deutschen Bundes-
tag aufzunehmen, ist nicht richtig. Ich habe mich einge-
hend erkundigt. Es hat keine gravierenden Probleme
gegeben. Die Frauen sind durchweg ALG-II-Empfänge-
rinnen oder aber verfügten über eigenes Einkommen.
Klar ist: Die Frauenhäuser nehmen jede Hilfesu-
chende auf und klären im Rahmen der sozialpädagogi-
schen Arbeit die weitere Finanzierung. Eine Abweisung
einer Schutzsuchenden aus Kostengründen hat es zum
Beispiel in Sachsen-Anhalt nicht gegeben. Auch meine
Nachfrage in Niedersachsen führte zu denselben Ergeb-
nissen. Weitere Diskussionen werden wir im Familien-
ausschuss führen und sicher auch einen Sachstandsbe-
richt des Ministeriums über die Ergebnisse der
Arbeitsgruppe „Frauenhaus“ und deren Empfehlungen
erhalten.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Gewalt gegen
Frauen ist kein gesellschaftliches Randproblem, sondern
findet inmitten der Gesellschaft statt. Dabei geht es nicht
nur um körperliche Misshandlungen, Vergewaltigung
oder sexualisierte Gewalt. Teil des Alltags von Frauen
und Mädchen sind Belästigung, Missachtung, Beleidi-
gung, Nachstellungen usw.
Mit dem Gewaltschutzgesetz von 2002 wurden unbe-
stritten Fortschritte erzielt. Es versagt aber, wenn nicht
für jede von Gewalt betroffene Frau zur Not die Tür ei-
nes Frauenhauses offen steht, und zwar unabhängig von
ihrer sozialen Situation, ihrer Herkunft und ihres Aufent-
haltsstatus. Die Erfüllung dieses Anspruchs ist jedoch
durch das SGB II in weite Ferne gerückt. Der Zugang ist
nur dort abgesichert, wo die Kosten für den Aufenthalt
in eine pauschale Förderung der Frauenhäuser einbezo-
gen sind. Wo das nicht der Fall ist, türmen sich unterdes-
sen die Probleme.
Ganzen Gruppen betroffener Frauen wird der Zugang
erschwert. Dazu gehören alle Frauen, die keinen An-
spruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, aber die
Kosten des Frauenhausaufenthalts auch nicht selbst
übernehmen können: also Frauen ohne oder mit zu ge-
ringem Einkommen, Auszubildende, Studentinnen und
Asylbewerberinnen.
Wer also nicht selbst zahlen kann, muss in der unmit-
telbaren Fluchtsituation erst mal ins Grundsicherungs-
amt und einen ALG-II-Antrag stellen! Das bedeutet zu-
sätzlichen psychischen Druck und erhöht die
Zugangshürden. Das Aufnahmeverfahren wird zudem
weiter bürokratisiert. Die für flüchtende Frauen so wich-
tige Anonymität kann kaum bewahrt werden. Außerdem
wird vielfach über eine schleichende Mittelkürzung und
eine wachsende Einmischung in die inhaltliche Arbeit
der Frauenhäuser berichtet.
Als Teil des Sozialsektors werden die Frauenhäuser
schrittweise nach den Glaubenssätzen neoliberaler Wirt-
schaftspolitik umgestaltet. Das heißt:
– von einem bedarfsorientierten Zuschuss wird umge-
stellt auf die Bezahlung erbrachter Leistungen. Aller-
dings nach künstlich reduzierter Nachfrage
– die Ermittlung des realen Bedarfs an Frauenhausplät-
zen wird ersetzt durch die Ermittlung von „Kundin-
nen“ mit abrechenbarem Leistungsanspruch
– Qualitätsmanagements mit standardisierten Vorgaben
werden eingeführt, die allerdings mehr auf Kostenre-
duzierung als an konkreten Notwendigkeiten orien-
tiert sind
– die Frauenhäuser werden in einen Wettbewerb um
immer weniger Zuwendungsgelder gedrängt, den im-
mer mehr verlieren.
Das Ergebnis der Entwicklung in Thüringen: 10 von
25 Frauenhäusern wurden in den vergangenen 3, 4 Jah-
ren geschlossen. Glaubt jemand wirklich, dass der Zu-
fluchtsbedarf in diesem Maß zurückgegangen wäre?
Aber neben diesen finanziellen Schwierigkeiten gibt
es eine Reihe weiterer struktureller Probleme durch das
SGB II:
– durch die oft lange Zeit zwischen Beantragung und
ALG-II-Bescheid besteht eine akute Gefahr der Ver-
armung, von fehlerhaften Bescheiden einmal ganz
abgesehen
– Kurzaufenthalte, zum Beispiel über das Wochen-
ende, werden nicht finanziert
– es gibt keine einmaligen Beihilfen mehr wie noch
nach Bundessozialhilfegesetz
– es fehlt eine bedarfsorientierte, spezifische Förde-
rung von Gewalt betroffener Frauen; „Fordern und
Fördern“ hat gerade im Kontext Frauenhaus einen
besonders faden Beigeschmack
– es fehlen individuell ausgestaltete, auf die besondere
Situation von Gewalt betroffener Frauen eingehende
Eingliederungsvereinbarungen zur Integration in den
Arbeitsmarkt
– es fehlen kontinuierliche, speziell geschulte An-
sprechpartner/innen bei den Grundsicherungsämtern
– es fehlen Sonderregelungen für Gewaltopfer im Un-
terhalts-, Umgangs- und Sorgerecht.
Die erschwerten Bedingungen auf der Seite der
Frauen stehen der Tatsache gegenüber, dass durch das
Gewaltschutzgesetz die Arbeitsbelastung der Frauen-
hausmitarbeiterinnen deutlich gestiegen ist: es werden
mehr Beratungen für Migrantinnen und deren spezielle
Situation notwendig; es ist mehr Unterstützung notwen-
dig bei Antragstellungen und Behördengängen; es ist ein
großer Fortschritt, dass die Interventionsketten unter
Einbeziehung von Polizei, Gerichten, Jugendamt ausge-
baut wurden; aber auch das bedeutet Mehrarbeit für die
Frauenhausmitarbeiterinnen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12913
(A) (C)
(B) (D)
Die Arbeit der Mitarbeiterinnen wird also einerseits
aufgestockt und andererseits weiter bürokratisiert.
Gleichzeitig wird sie inhaltlich komplexer. Hinzu
kommt eine Vielzahl von Finanzanträgen, die erarbeitet
und schließlich auch wieder abgerechnet werden müs-
sen, damit das Frauenhaus überhaupt Bestand hat. Im
Durchschnitt müssen 50 Prozent des Etats über Mittel-
einwerbung finanziert werden.
Letztlich geht es in unserem Antrag um die 30 Jahre
alte Forderung der Frauenhausbewegung nach einer in-
stitutionellen und bundesweiten Förderung der Frauen-
häuser. Nach Auffassung der Linken muss bundesweit
gesichert werden, dass: alle von Gewalt betroffenen
Frauen eine Zuflucht finden, unabhängig von ihrer so-
zialen Situation, ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltssta-
tus; die Zufluchtstätten verlässlich und unabhängig von
Tages- und Pflegesätzen finanziert sind, die Arbeit der
Frauenhausmitarbeiterinnen tatsächlich ihren Schwer-
punkt auf dem Gebiet der psycho-sozialen Betreuung der
betroffenen Frauen hat.
Die Ernsthaftigkeit aller Bemühungen um das Thema
Gewalt gegen Frauen werden daran gemessen werden,
ob diese drängenden Probleme gelöst werden. Dabei ist
die Einbeziehung der Mitarbeiterinnen der bundesweit
vernetzten Frauenhäuser unerlässlich, um eine erfolgrei-
che Lösung zu suchen – den politischen Willen dazu vo-
rausgesetzt.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Es ist schon seltsam: Zu nachtschlafender
Zeit setzt die Linke einen wichtigen frauenpolitischen
Antrag auf und wundert sich dann, wenn alle anderen
Fraktionen die Reden zu Protokoll geben wollen. Wenn
Ihnen das Thema wichtig ist, sehr geehrte Damen und
Herren von der Linken, warum legen sie es dann nicht in
eine vernünftige Zeit? Ich glaube: Weil der Großteil der
älteren Herren in Ihrer Fraktion das Thema eben für irre-
levant hält.
So ist das heute mit der Gewalt gegen Frauen: Ober-
flächlich gibt es einen breiten Konsens für die Notwen-
digkeit, diese Gewalt zu bekämpfen und ausreichend
Schutzeinrichtungen zur Verfügung zu stellen.
Wie auch heute hier. Wenn es aber um die Frage geht:
„Wer soll das bezahlen?“, wird das Problem auf den
Prioritätenlisten ziemlich schnell nach hinten durchge-
reicht.
Wir Grünen waren es, die die Bekämpfung häuslicher
Gewalt von Frauen in die Politik getragen und dafür ge-
sorgt haben, dass sie nicht länger nur ein Problem der
Opfer ist. Gewalt durch den Partner ist eine der ernsthaf-
testen Bedrohungen für Leib und Leben von Frauen –
jede vierte Frau erlebt sie mindestens einmal in ihrem
Leben. Aufgrund einer solchen Bedrohung müssen wir
schon von einem Problem der inneren Sicherheit spre-
chen. Es ist niemand anderer als der Staat selbst, der sich
für den Schutz der Frauen ausdrücklich verantwortlich
zeichnen muss.
Bedauerlich finde ich es deshalb, wenn es der Bun-
desregierung in ihrem kürzlich vorgestellten zweiten
Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
nicht einmal eine Erwähnung wert ist, dass die Frauen-
häuser sich derzeit wachsende Sorgen um ihre Finanzie-
rung machen. Natürlich liegt die Finanzierung in den
Händen der Länder. Aber ignorieren können wir es auf
Bundesebene nicht, wenn die Hilfestandards der Frauen-
häuser und Beratungsstellen absinken.
Deshalb begrüße ich, dass die Linke diesen Antrag
eingebracht hat. Ich bin allerdings skeptisch, was die
Aussage betrifft, die Finanzierungsprobleme würden alle
nur vom neuen SGB II herrühren. So schwarz-weiß sind
die Dinge wieder einmal nicht, liebe Fraktion Die Linke.
Die Länder versuchen seit Jahren, an der Finanzierung
sowohl der Frauenhäuser als auch der Beratungsstellen
zu sparen, bis nichts mehr übrig bleibt.
Übrigens: Auch Sie sind dabei nicht unbeteiligt: In
Berlin haben Sie vor gar nicht langer Zeit das Geld für
neun Plätze in einem Frauenhaus gestrichen. Erzählen
Sie mir nicht, dass das die PDS war und Sie damit nicht
verantwortlich sind.
Aber ich gebe zu, auch das SGB II hat neue Proble-
matiken geschaffen. Viele haben wir – die Frauenpoliti-
kerinnen der rot-grünen Koalition – sofort in Angriff ge-
nommen. Zum Beispiel über Handlungsempfehlungen
der BA. Damit sind aber nicht alle Probleme gelöst. Das
für mich Schlimmste ist, dass mit der in vielen Ländern
eingeführten kostendeckenden Tagessatzfinanzierung in
Verbindung mit der Vermögensprüfung bei Arbeitslosen-
geld-II-Empfängerinnen die Verantwortung für die
Finanzierung eines Frauenhausaufenthalts auf die
Frauen selbst verlagert wird. Wenn sie genügend Erspar-
nisse haben, müssen sie persönlich für die Kosten auf-
kommen. Damit werden die Opfer selbst für die Folgen
der erlebten Gewalt verantwortlich gemacht.
Ich sehe allerdings Probleme bei der bundeseinheitli-
chen Lösung – der Föderalismus macht uns da einen
Strich durch die Rechnung. Vor ein paar Stunden erst ha-
ben wir über Gender Budgeting diskutiert. Das hier ist
ein gelebtes Beispiel. Wenn wir die Entwicklungen in
Ländern und Kommunen nicht aufhalten, ist die finan-
zielle Verteilung zukünftig: Die Männer begehen die
häuslichen Gewalttaten, und die Frauen kommen für die
wirtschaftlichen Kosten auf – persönlich und mit ihrem
Vermögen. Das kann es nicht sein, was wir wollen.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Finanzierung
der Beendigung des subventionierten Stein-
kohlenbergbaus zum Jahr 2018 (Steinkohle-
finanzierungsgesetz)
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Ausstieg aus der Steinkohle zügig
und zukunftsgerichtet gestalten – RAG-Bör-
sengang an marktwirtschaftlichen Grund-
sätzen ausrichten
12914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Ruhrkohle AG in eine Stiftung
öffentlichen Rechts überführen – Börsen-
gang verhindern
(Tagesordnungspunkt 21 a und b)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Die Koalition
bringt heute ein bedeutendes Element einer klugen und
zukunftsorientierten Wirtschafts- und Energiepolitik auf
den Weg. Dieses ist umstritten, aber aus meiner Sicht
dringend notwendig. Die Anhörung am 22. Oktober hat
dies nochmals deutlich gemacht, doch hat sie auch ge-
zeigt, dass ein Ausstieg aus der Steinkohlesubventionie-
rung bereits 2012 möglich ist. Den betriebsbedingten
Kündigungen stünden 12 Milliarden Euro eingesparter
Haushaltsmittel gegenüber, die zur Förderung neuer und
innovativer Arbeitsplätze genutzt werden könnten, eine
Tatsache, über die wir ja in rund vier Jahren im Bundes-
tag nochmals beraten werden.
Das Steinkohlefinanzierungsgesetz ist ordnungspoli-
tisch eine wichtige Grundsatzentscheidung. Damit wird
der größte Subventionsabbau in der Geschichte der Bun-
desrepublik auf den Weg gebracht. Gleichzeitig ist es ge-
lungen, einen sozialverträglichen Rahmen zu vereinba-
ren. Die Große Koalition hat mit diesem historischen
Beschluss einmal mehr ihre Handlungsfähigkeit bewie-
sen. Die betroffenen Bergbauregionen haben jetzt den
Startschuss für einen zukunftsgerichteten Strukturwan-
del, für den nun auch neue Mittel frei werden. Es ist
weise und eine demokratische Selbstverständlichkeit,
dass der Deutsche Bundestag zum festgeschriebenen
Zeitpunkt 2012 überprüft, ob die heutigen energiewirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen weiterhin Bestand ha-
ben. In den letzten 50 Jahren hat die Subventionspolitik
im Steinkohlebereich den Steuerzahler rund 125 Milliar-
den Euro gekostet. Statt weiter Jahr für Jahr mehr als
2 Milliarden Euro in Erhaltungssubventionen zu stecken,
setzen wir ein strategisches Signal für die Zukunft. Dies
ist eine Entscheidung für den Standort Deutschland. Sie
zeigt, dass wir in der Lage sind, moderne und zukunfts-
gerichtete Strukturen in unserem Land zu schaffen. Mir
ist es wichtig hervorzuheben, dass wir die Entscheidung
über die Zukunft der deutschen Steinkohle in einem brei-
ten Konsens mit allen Beteiligten – einschließlich der
Gewerkschaft – getroffen haben. Die subventionierte
Förderung der Steinkohle in Deutschland wird bis spä-
testens 2018 sozialverträglich beendet.
Falsch ist – das möchte ich in dieser Runde nochmals
betonen – dass der Steinkohlebergbau politisch nicht
mehr gewollt ist, wie es vonseiten der Gewerkschaften
bei der Anhörung verkündet wurde. Wir, die Union, ha-
ben nichts Grundsätzliches gegen Steinkohlebergbau.
Wir sind nur dagegen, einen Industriebereich durch
staatliche Subventionen am Leben zu halten, vor allem
dann, wenn die Förderung nicht dazu beiträgt, dass er in-
ternational konkurrenzfähig wird. Wenn in Deutschland
ein Unternehmen wieder wettbewerbsfähig Kohle aus
der Erde holt, dann soll es das gerne machen. Diesem
wirtschaftlichen Beitrag zur Versorgungssicherheit
werde ich mich nicht verschließen.
Beim Stichwort Versorgungssicherheit möchte ich
Folgendes klarstellen. Einen Sockelbergbau, der die
Subventionspolitik ohne Rücksicht auf die Wettbewerbs-
fähigkeit festschreibt, darf und wird es nicht geben. Eine
Grundfördermenge heimischer Steinkohle ist nach jetzi-
ger Lage im Vergleich zum Weltmarktpreisniveau für
Kraftwerkskohle ohne Subventionen nicht darstellbar.
Der gewünschte Sockel von 6 bis 8 Millionen Tonnen
Förderung jährlich würde den Steuerzahler 1,5 Milliar-
den Euro kosten, wobei der Beitrag der deutschen Kohle
am PEV auf 2 Prozent – von derzeit 5 Prozent – sinken
würde. Diese 6 bis 8 Millionen Tonnen lassen sich ohne
weiteres auf dem weltweiten Kohlemarkt mit einem Vo-
lumen von 790 Millionen Tonnen beschaffen. Die deut-
sche Bergbaumaschinenindustrie und deren Zulieferer
sind nicht auf einen Sockelbergbau angewiesen. Die
Bergbaumaschinenindustrie hat ihre Referenzen schon
heute überwiegend durch Aktivitäten im Ausland und
braucht keinen Sockelbergbau, um ihre Zukunft abzusi-
chern.
Der Weg für die Umstrukturierung des ehemaligen
RAG-Konzerns ist nun endlich frei geworden. Den Spar-
ten des weißen Bereichs wurde in seinem neuen Outfit
als Evonik die nötige Perspektive für die weitere Ent-
wicklung gegeben. Der Börsengang ist hierzu ein wichti-
ger Schritt. Damit erhält der Konzern Zugang zum Kapi-
talmarkt. Gleichzeitig werden über die Stiftung die
Mittel für die Finanzierung der Ewigkeitslasten des
Bergbaus wie Dauerbergschäden und Wasserhaltung
aufgebracht und durch die Revierländer abgesichert.
Fazit: Deutschland blickt auf 800 Jahre Geschichte
und Tradition im Steinkohlebergbau zurück. Doch seit
50 Jahren ist der Betrieb nicht mehr kostendeckend, ob-
wohl in dieser Zeit rund 125 Milliarden Euro an staatli-
cher Unterstützung geflossen sind. Auch wenn ein Aus-
stieg 2012 möglich wäre, kommt es auf weitere sechs
Jahre am Ende auch nicht mehr an. Wichtig ist, dass wir
einen Konsens mit allen Beteiligten – Beschäftigten, Un-
ternehmen und der Politik – erreicht haben und auch ein
klares Ziel festgelegt haben. Deutschland steigt aus ei-
nem subventionierten Steinkohlebergbau aus. Mit der
heutigen abschließenden Lesung ist der Weg endlich frei
und wir billigen allen Beteiligten die notwendige Flexi-
bilität bei der betriebswirtschaftlichen Umsetzung zu.
Glück auf!
Rolf Hempelmann (SPD): Der heute anstehenden
Verabschiedung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes
beweist diese Koalition auf einem schwierigen Feld ihre
Handlungsfähigkeit. Wir haben hier im Bundestag den
vorliegenden Gesetzentwurf zügig, konzentriert und vor
allem ergebnisorientiert beraten und damit die Weichen
dafür gestellt, dass der anspruchsvolle Zeitplan eingehal-
ten und auch der Bundesrat noch in diesem Jahr befasst
werden kann. Trotz des engen Termingerüsts haben wir
uns die Zeit für eine gründliche Beratung unter anderem
in einer Öffentlichen Anhörung genommen. Ich denke,
dass die Diskussion mit den Sachverständigen sehr deut-
lich gemacht hat, dass wir mit dem Steinkohlefinanzie-
rungsgesetz einen vernünftigen Weg beschreiten. Einen
Weg, der einen geregelten Anpassungsprozess für die im
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12915
(A) (C)
(B) (D)
Bergbau Beschäftigten garantiert und zugleich neue in-
dustrielle Wachstumsperspektiven eröffnet.
Ich möchte diese Einschätzung anhand von vier
Punkten begründen:
1. Fragen wir uns doch zunächst einmal ganz grund-
sätzlich, was denn die Alternative zu der jetzt gefun-
denen Regelung gewesen wäre. Ein schlichtes Wei-
ter-so? Mit Sicherheit nicht. Angesichts einer NRW-
Koalitionsvereinbarung mit einem Ausstiegsdatum
2010 hätte ein Nichthandeln unweigerlich dazu füh-
ren müssen, dass die frühere RAG – jetzt Evonik In-
dustries – für den Bergbaubereich finanziell in die
Bresche hätte springen müssen. Man muss kein Pro-
phet sein, um zu erkennen, dass dies sehr rasch zu ei-
nem Selbstverzehr des Unternehmens, zur Vernich-
tung des Wertes des weißen Bereichs geführt hätte.
Allerdings ohne dass damit die Alt- und Ewigkeits-
lasten des Bergbaus gedeckt gewesen wären. Diese
Lasten wären der öffentlichen Hand überlassen wor-
den – eine Scheinlösung, die bei rationaler Betrach-
tung kaum als sinnvoll erscheinen dürfte.
2. Schon im Rahmen der Koalitionsverhandlungen zwi-
schen CDU/CSU und SPD – und ich erinnere mich
sehr genau daran – haben wir gemeinsam festgelegt,
den weiteren Anpassungsprozess im subventionier-
ten deutschen Steinkohlenbergbau sozialverträglich
auszugestalten. Dieser Vorgabe kommen wir mit dem
vorliegenden Gesetz nach. Wir sehen vor, den sub-
ventionierten Steinkohlenbergbau im Jahr 2018 zu
beenden und behalten uns gleichzeitig vor, diese Ent-
scheidung 2012 auf der Grundlage der dann aktuel-
len energiewirtschaftlichen Erkenntnisse – das
schließt übrigens Preisaspekte ebenso ein wie den
Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit – noch ein-
mal zu überprüfen. Beide Daten – 2012 und 2018 –
sind mit Bedacht gewählt. Das Jahr 2012, weil zu
diesem Zeitpunkt noch eine echte Korrekturmöglich-
keit existiert und der Zugang zu den Lagerstätten tat-
sächlich noch offen steht. Und auch das Datum 2018
ist keinesfalls zufällig gewählt. Es gibt ja auch hier
im Hause einige, die meinen, ein weitaus früherer
Ausstieg, zum Beispiel schon 2012, wäre auch mög-
lich gewesen. Gutachten haben in diesem Punkt sehr
klar gezeigt, dass diese Einschätzung neben der Re-
alität liegt. Wer den Kurs der Sozialverträglichkeit
nicht verlassen und betriebsbedingte Kündigungen
vermeiden will, für den erübrigen sich alle Spekula-
tionen mit mehr oder weniger willkürlich gegriffenen
Jahreszahlen. Wir stehen deshalb zu der im Februar
zwischen dem Bund, den Kohleländern, der IGBCE
und der RAG getroffenen Rahmenvereinbarung, ge-
rade weil sie den Bergleuten und ihren Familien die
Planungssicherheit bis 2018 gibt, die sie auch ver-
dient haben.
3. Wir schaffen aber mit dem Steinkohlefinanzierungs-
gesetz nicht nur die Grundlage für eine verantwortli-
che Ausgestaltung des weiteren Auslaufprozesses im
Bergbau. Wir eröffnen zugleich eine Chance für in-
dustrielles Wachstum und Beschäftigung in unserem
Land. Durch die Auflösung des Haftungsverbundes
wird für das Unternehmen das Tor für einen Börsen-
gang aufgestoßen und damit der für die weitere Un-
ternehmensentwicklung wichtige Zugang zum Kapi-
talmarkt ermöglicht. Ganz wichtig war, dass dabei
die Weichen so gestellt worden sind, dass ein inte-
grierter Börsengang möglich wird und eine Zerschla-
gung des Unternehmens, die möglicherweise nur die
Vorstufe etwaiger Marktbereinigungsprozesse gewe-
sen wäre, vom Tisch ist. Es mag sein, dass bei einer
Einzelverwertung der Unternehmensteile Chemie,
Energie und Immobilien ein etwas höherer Verwer-
tungserlös zu erzielen wäre. Aber auch an diesem
Punkt haben alle, die in der Anhörung gewesen sind,
dazulernen können. Denn diesen leicht höheren er-
warteten Erlösen – nach begründeten Schätzungen
stehen 5,9 Milliarden Euro im Falle einer Einzelver-
wertung 5,1 Milliarden Euro bei einer Konglomerats-
betrachtung entgegen – stehen gewichtige regional-
und industriepolitische Erwägungen entgegen. Der
integrierte Börsengang erhöht gegenüber anderen
Modellen die Überlebensgarantie des Unternehmens,
schafft am ehesten die Voraussetzungen für eine er-
folgreiche und dauerhafte Etablierung am Markt.
Und genau deshalb liegt eine Politik, die Rahmenbe-
dingungen für einen Börsengang des Gesamtkon-
zerns schafft, im fundamentalen Interesse der knapp
50 000 Beschäftigten des neuen Unternehmens – ein
Zusammenhang, der übrigens im vorliegenden An-
trag der Linken vollständig verkannt wird.
4. Nicht zuletzt stellen wir auf der Grundlage des Mo-
dells integrierter Börsengang sicher, dass der zu er-
zielende Kapitalisierungserlös zur Absicherung der
Ewigkeitslasten des Bergbaus ausreicht. Die Finan-
zierung der Ewigkeitslasten, also der Kosten in erster
Linie für die Grubenwasserhaltung, den Bereich der
Dauerbergschäden, und die Grundwasserreinigung
wird im Rahmen eines Erblastenvertrags zwischen
der RAG-Stiftung und den Ländern NRW und Saar-
land geregelt. Die notwendigen Mittel werden aus
dem durch den Börsengang des weißen Konzernbe-
reichs gespeisten Stiftungsvermögen bestritten. In
diesem Zusammenhang hat die Anhörung keine An-
haltspunkte dafür ergeben, dass dieses Ziel auf der
Grundlage der vorgesehenen Regelung verfehlt
würde. Nach dem Urteil der Experten ist also eine
mit zusätzlichen Belastungen verbundene Gewähr-
leistungshaftung der Kohleländer und mittelbar des
Bundes nicht zu befürchten. Auch dies ist ein wichti-
ges Ergebnis der Anhörung.
Alles in allem liegt damit ein mehr als brauchbarer
Entwurf vor, mit dem es gelungen ist, die verschiedenen
industrie-, sozial- und finanzpolitischen Zielsetzungen
miteinander zu verbinden. Wir sollten ihn deshalb heute
mit großer Mehrheit verabschieden.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Folgen des heutigen
Beschlusses für das Steinkohlefinanzierungsgesetz sind
klar absehbar: Arbeitsplätze werden abgebaut, Ausbil-
dungsplätze werden vernichtet, die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler werden mit Kosten in noch unabsehba-
rer Höhe belastet, nur einige wenige private Investoren
12916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
werden satte Gewinne einfahren. Das ist Ihre Politik,
meine Damen und Herren von der Koalition, eine Politik
für den Profit Weniger zulasten der Allgemeinheit.
Der Evonik-Chef und frühere Wirtschaftsminister
Müller erklärte dazu in der Anhörung des Wirtschafts-
ausschusses lapidar: Wenn Unternehmen abgebaut wür-
den, gingen eben auch die damit verbundenen Wohlfahr-
ten flöten. Evonik jedenfalls sehe keine Veranlassung,
einen Ausgleich zum Beispiel für den Ausbildungsplatz-
abbau bei der Deutschen Steinkohle AG zu schaffen.
Durch den Börsengang der RAG werden so Unter-
nehmen geschaffen, die keine Sozialverpflichtung mehr
kennen. Die Folge ist, dass im Ruhrgebiet 2 400 Ausbil-
dungsplätze und unzählige Arbeitsplätze auf dem Spiel
stehen. Hier wird die Zukunft vieler junger Leute ver-
spielt, in einer Zeit in der es so wichtig wäre, gerade den
jungen Menschen eine tragfähige Perspektive zu bieten.
Auch die Landesregierung und die Bundesregierung
stehlen sich aus der Verantwortung, mit dem Konzern
Verhandlungen zu führen, die diese Ausbildungsplätze
sichern.
Als Begründung für den Börsengang wird immer wie-
der herangezogen, dass der Konzern Evonik damit einer
tollen Zukunft zugehe und damit auch Nordrhein-West-
falen. Doch dies wurde in der Anhörung widerlegt. Auf
die Frage, ob sich diese glänzenden Aussichten in Ar-
beitsplätzen für das Ruhrgebiet niederschlage, konnte
Herr Müller nichts Positives vermelden. Ersatzarbeits-
plätze seien nicht absehbar, außer einigen Hundert im
Chemiepark Marl.
Nicht zuletzt daran zeigt sich, dass es falsch ist, zu-
gunsten des Börsengangs auf eine öffentlich-rechtliche
Stiftung zu verzichten. In der Anhörung des Wirtschafts-
ausschusses wurde deutlich, dass in der Debatte war,
eine öffentlich-rechtliche Stiftung, wie wir sie fordern,
einzurichten. Aber die Beteiligten haben dies letztlich
abgelehnt mit der Begründung, dass die Aufrechterhal-
tung eines staatlicher Einfluss auf die RAG den Preis
von Evonik an der Börse geschmälert hätte. Eine kurz-
sichtige Sichtweise von Politikern, die vor lauter Euros
vor Augen, die vielleicht kurzfristig in die Kasse kom-
men, die Gesamtkosten, die letztlich von allen zu tragen
sein werden, beiseite schieben.
Ihre Verantwortung, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, ist es jedoch, wenn Sie schon
diesen falschen Weg einschlagen, wenigstens die negati-
ven Folgen abzumildern. Deshalb fordern wir Sie auf,
sich wenigstens jetzt gemeinsam mit dem Land Nord-
rhein-Westfalen für ein Konzept für eine Verbundausbil-
dung einzusetzen. Alle bergbaufremden Betriebe in den
Bergbauregionen, die bisher von den hoch qualifizierten
Fachkräften der DSK profitiert haben müssen jetzt in die
Pflicht genommen werden. Dies gilt auch für Evonik
und die RAG-Stiftung. Als Partner für die Verbundaus-
bildung sind auch die Gewerkschaften, Handwerkskam-
mern, regionale Industrie- und Handelskammern, die
Agentur für Arbeit und die Kommunen aktiv zu beteili-
gen.
Auch aus der Kritik des Bundesrechnungshofes, dass
Bund und Länder zu wenig Einfluss auf die Stiftung ha-
ben, werden nach wie vor keine Konsequenzen gezogen.
Es bleibt dabei, Staatsferne für die Gewinne und bei den
Entscheidungen, bei der Haftung aber ist die Allgemein-
heit dran.
Und wir fordern Sie auf, eine tragfähige Strukturpoli-
tik für die Bergbauregionen zu entwickeln. Trotz einge-
sparter 8 Milliarden bei den Subventionen bis 2018 sol-
len im Ruhrgebiet nicht nur die Zechen dicht gemacht
werden, sondern auch keine Ersatzarbeitsplätze geschaf-
fen werden. Hier gäbe es große Chancen und Potenziale,
aber nur wenn man sie nutzt und fördert. Deshalb brau-
chen wir ein Strukturprogramm, das die vorhandenen
Kompetenzen in den Bergbauregionen, zum Beispiel im
Maschinenbau nutzt. Wir brauchen eine gezielte Ansied-
lungsstrategie für Energieeffizienztechniken und den
Anlagenbau im Bereich erneuerbarer Energie. Nieder-
sachsen hat längst die Zeichen erkannt und profitiert
inzwischen enorm vom Windanlagenbau. Die Bergbau-
regionen müssen nun versuchen, da Anschluss zu be-
kommen. Solange, bis ausreichend Ersatzarbeitsplätze
geschaffen worden sind, dafür die Gelder zu nutzen, die
durch die Reduzierung der Steinkohlesubventionen frei
werden.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nun hat es auch die Bundesregierung endlich verstanden,
Steinkohle hat in Deutschland keine Perspektive. Mit
rund 21 Millionen Tonnen deckt deutsche Steinkohle
heute gerade noch vier Prozent des gesamten Primärener-
gieverbrauchs in der Bundesrepublik. Selbst Frau
Thoben, immerhin CDU Mitglied und Ministerin für
Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nord-
rhein-Westfalen hat in ihrer Stellungnahme zur Anhörung
am 22. Oktober festgestellt: Der heimische Steinkohlen-
bergbau hat bei realistischer Betrachtung wirtschaftlich
keine Zukunft. Wegen der niedrigen internationalen Ge-
stehungskosten ist die Förderung deutscher Kohle schon
lange nicht mehr wettbewerbsfähig, es ist nicht absehbar,
dass die Schwelle der Wirtschaftlichkeit auch nur im An-
satz erreicht werden könnte. Anstatt eine Tonne deutscher
Kohle zu fördern, können mit demselben Geld rund drei
Tonnen Importkohle erworben werden.
Es hat leider sehr lange gedauert, bis diese Einsicht
gekommen ist und unsere Bürgerinnen und Bürger hat
das sehr viele Steuergelder gekostet. Nach Berechnun-
gen des Forums für Wirtschafts- und Finanzpolitik wa-
ren das in den Jahren 1958 bis 2002 rund 128 Milliarden
Euro. Es gibt kaum andere Subventionsarten in Deutsch-
land, die über einen so langen Zeitraum auf einem derart
hohen Niveau aufrechterhalten wurden. Noch heute füh-
ren die Steinkohlensubventionen mit Abstand die Liste
der 20 größten Finanzhilfen an, die regelmäßig im Sub-
ventionsbericht der Bundesregierung veröffentlicht wer-
den.
Bis 2018 soll der unwirtschaftliche deutsche Stein-
kohlenbergbau mit weiteren 38 Milliarden Euro aus
Bundesmitteln unterstützt werden. Das ist nichts anderes
als hoch subventionierte Klimazerstörung und Geldver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12917
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schwendung. Diese Gelder fehlen für mehr Zukunfts-
energien, Klimaschutz und so auch für neue verlässliche
Arbeitsplätze der Beschäftigten im Kohlenbergbau. Ein
konsequentes Programm für Erneuerbare Energien ge-
rade in den Kohleregionen böte die Möglichkeit auch für
diese letzten Beschäftigten verlässliche und zukunftssi-
chere Arbeitsplätze zu schaffen. Wir von Bündnis 90/
Die Grünen fordern daher einen Ausstieg bereits 2012
und haben hierzu einen Entschließungsantrag einge-
bracht, über den heute ebenfalls abgestimmt wird.
Aber noch nicht einmal zu dem Ziel des Ausstiegs
2018 steht die Bundesregierung verbindlich. Im Entwurf
des Steinkohlefinanzierungsgesetz steht eine erneute Be-
gutachtung und Überprüfung des Ausstiegsbeschlusses
im Jahr 2012. Dabei wollte sogar das Land Nordrhein-
Westfalen in den Verhandlungen die Kohlensubventio-
nen bereits 2014 beenden. Die Bundesregierung kannte
die Begutachtung und Überprüfung des Ausstiegsbe-
schlusses im Jahr 2012. Dabei wollte sogar das Land
Nordrhein-Westfalen in den Verhandlungen die Kohlen-
subventionen bereits 2014 beenden. Die Bundesregie-
rung konnte die Verlängerung der Kohlenförderung aber
nur durchsetzen, indem sie den Anteil des Landes Nord-
rhein-Westfalen an den Subventionen von 2015 bis 2018
übernimmt. Ohne Not hat der Bund zusätzliche Belas-
tungen übernommen, weil sich die SPD erneut als
Schutzmacht der Kohle profilieren will. Es ist illusorisch
zu glauben, dass sich der Wettbewerbsnachteil heimi-
scher Kohle in den nächsten Jahrzehnten aufheben wird.
Die geologischen Nachteile Deutschlands bleiben ein
dauerhaftes Handicap.
Das können auch unsere Kohlebarone nicht ignorie-
ren, vorneweg Herr Müller von EVONIK und Herr
Tönjes von der Deutschen Steinkohle AG die uns in der
Anhörung allen Ernstes glaubhaft machen wollten, deut-
sche Steinkohle hätte eine Zukunft. Selbst die Kollegin-
nen und Kollegen der Regierungsfraktionen machen im
Wirtschaftsausschuss keinen Hehl mehr daraus, dass der
Zug der Deutschen Steinkohle endgültig abgelaufen ist.
Es macht ökologisch und ökonomisch überhaupt kei-
nen Sinn, die Subventionen bis 2018 weiterlaufen zu las-
sen. Nach einem Gutachten von KPMG zur Bewertung
der Stillsetzungskosten und der Ewigkeitslasten liegen
die Kosten der Stilllegung für 2012, 2014, 2016 und
2018 in gleicher Höhe nämlich bei knapp 14 Milliarden
Euro. In keinem der Fälle wird es zu betriebsbedingten
Kündigungen kommen.
Selbst der geplante Börsengang von EVONIK birgt
erhebliche Risiken für die öffentliche Hand. Die neu ge-
schaffene Steinkohlenstiftung trägt zwar die Ewigkeits-
kosten und für den Fall, dass das Vermögen nicht aus-
reicht, treten die Kohlenländer in Haftung. Der Bund hat
sich aber auch hier wieder ohne Not bereit erklärt,
30 Prozent der Kostenrisiken zu übernehmen. Es ist gut,
dass entsprechend unserer Forderungen keine dauerhafte
Sperrminorität der Steinkohlenstiftung an den Unterneh-
men des weißen Bereichs festgeschrieben wurde. We-
sentlich ist, dass die Risiken für die öffentliche Hand re-
duziert werden und die Unternehmen des weißen
Bereichs strukturpolitisch sinnvoll weiterentwickelt wer-
den. Es sollte noch einmal sehr genau geprüft werden, ob
es nicht mehr Sinn macht, Degussa, STEAG und RAG-
Immobilien einzeln zu veräußern und sie nicht, wie ge-
plant, im Paket an die Börse zu bringen.
Da passt es ja auch ins Bild, dass der Bundesrech-
nungshof für die Steinkohlestiftung keine Prüfbefugnis
erhalten soll. Hier schaffen Sie einmal mehr Intranspa-
renz statt Klarheit. Der Deutsche Bundestag sollte alle
diese Fragen noch einmal sehr genau untersuchen.
Wir sprechen hier heute über einen Antrag der FDP
zum Ausbau der Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und
Basel. Mit dem Bau des 3. und 4. Gleises für den Güter-
verkehr auf der Schiene wird ein europäisches Großpro-
jekt in Angriff genommen. Die Bundesrepublik hat sich
zu diesem Kapazitätsausbau verpflichtet. Mit dem Staats-
vertrag von Lugano 1996 stehen wir der Schweiz gegen-
über im Wort, den Ausbau der Zulaufstrecke zum Lötsch-
berg- und Gotthardtunnel sicherzustellen.
Dieser Ausbau ist dringend erforderlich – aus ver-
kehrspolitischen Gründen wie aus Gründen des Klima-
und Umweltschutzes. Kann der geplante Güterverkehr
nicht auf der Schiene stattfinden, dann wird er über die
Straße rollen. Damit würden die Menschen, die Umwelt
und die Landschaft viel stärker belastet. Bündnis 90/
Die Grünen haben ein zentrales Anliegen: Wir wollen
möglichst schnell möglichst viel Güterverkehr von der
Straße auf die Schiene verlagern. Dazu brauchen wir den
Kapazitätsausbau im Rheingraben dringend. Der Ausbau
der Rheintalbahn wird auch zu einer deutlichen Entlas-
tung der Anwohner an der Altstrecke führen. Diese Ent-
lastung begrüßen wir sehr, da sie Tausenden von An-
wohnern zugute kommt. Zurzeit wird gerade in der
Region Freiburg mit dem Lärmsanierungsprogramm des
Bundes die Situation an einzelnen, besonders belasteten
Punkten der Altstrecke entschärft. Das ist im Sinne des
Lärmschutzes sehr zu begrüßen. Letztlich ist das aber
nur ein Tropfen auf den heißen Stein, weil es sich hier
um freiwillige „Reparaturmaßnahmen“ ohne gesetzli-
chen Anspruch handelt.
Auch mit dem vergleichsweise umweltfreundlichen
Transportmittel Bahn kommen große Belastungen auf
Mensch und Umwelt im Rheingraben zu. Was können
wir realistischerweise tun, um diese Belastungen so ge-
ring wie möglich zu gestalten?
Der beste und auch günstigste Weg beim Lärmschutz
ist die Vermeidung der Entstehung von Lärm. Die Ver-
meidung der Lärmentstehung durch neue leisere Wagen
und durch Umrüsten des Altmaterials ist der effizienteste
und günstigste Weg, die Güterzüge leiser zu machen. Ein
europaweites Umrüstprogramm nach dem heutigen
Stand der Technik würde eine Halbierung des Lärms be-
deuten. Für relativ wenig Geld lässt sich das Bremssys-
tem jedes alten Waggons umrüsten. So entsteht ein
Lärm, der vom menschlichen Ohr nur noch halb so laut
wahrgenommen wird.
Im Juni wurde dieses Umrüstprogramm hier im Bun-
destag beschlossen. Da sind wir alle dafür. Für diesen
sehr sinnvollen Weg haben wir uns erfolgreich einge-
setzt. Für die tatsächliche und europaweite Umsetzung
12918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
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bis zur Inbetriebnahme des 3. und 4. Gleises der Rhein-
talbahn – unter anderem durch die Einführung lärm-
abhängiger Trassenpreise – werden wir kämpfen.
Nun zu den vier Forderungen zu einzelnen Strecken-
abschnitten im Antrag der FDP. Diese vier Forderungen
übernimmt die FDP von den Bürgerinitiativen im Rhein-
graben. Da die in Abs. II an die Bundesregierung gerich-
teten Forderungen in der Gesamttendenz richtig sind,
werden wir dem FDP-Antrag zustimmen. Wir schließen
uns einer sorgfältigen Prüfung der einzelnen Forderun-
gen generell an, auch wenn wir manche Details anders
sehen.
Nun noch eine Bewertung im Detail:
Zu Forderung eins: Die bisherige Planung zu Offen-
burg kann so nicht bleiben, da die bereits hohe Belastung
der Offenburger Innenstadt sich noch drastisch ver-
schärft. Offenburg ist ohne Zweifel der problematischste
Punkt der gesamten Neubaustrecke mit den meisten di-
rekt betroffenen Anwohnern. Wir fordern eine detail-
lierte Prüfung einer Tunnel-Lösung für Offenburg unter
Berücksichtigung des Lärm- und Erschütterungsschutzes
sowie des innerstädtischen Flächenverbrauchs.
Zu Forderung zwei: Eine Bündelung der Linienfüh-
rung von Offenburg bis Freiburg von Neubaustrecke und
A 5 halten wir Grünen für die sinnvollste Variante der
Trassenführung. Diese muss im Planfeststellungsverfah-
ren gleichrangig mit anderen Varianten im Hinblick auf
Landschaftsverbrauch, Lärmschutz und Betriebssicher-
heit geprüft werden.
Zu Forderung drei: Die zusammen mit anderen bauli-
chen Maßnahmen vorgeschlagene teilweise Trassenab-
senkung im Freiburger Streckenabschnitt soll geprüft
werden Dieses für eine deutliche Lärmreduzierung vor-
geschlagene Maßnahmenbündel stellt eine klare Verbes-
serung der bisherigen Bahnplanungen dar. Das Maßnah-
menpaket, das in einer von den betroffenen Kommunen
finanzierten Ingenieursstudie im Detail erarbeitet wurde,
verdient eine sorgfältige Prüfung im Planfeststellungs-
verfahren.
Zu Forderung vier: Auch eine Trassenabsenkung mit
Teildeckelung des Streckenabschnitts vom Südportal des
Mengener Tunnels bis südlich von Buggingen soll ge-
prüft werden. Die ursprüngliche Maximalforderung, die-
sen Streckenabschnitt ganz zu untertunneln, wird nicht
mehr erhoben. Das begrüßen wir.
Unser abschließendes Fazit: Wir begrüßen das Nach-
hintenziehen des Prognosehorizonts aufs Jahr 2025, weil
das ein realistischerer Zeitpunkt für den tatsächlichen
Güterverkehr auf der Strecke ist. Sollten von Land oder
Bund zusätzliche Mittel für den baulichen Lärmschutz
bereitgestellt werden, – also Gelder, die über die gesetz-
lichen Verpflichtungen hinaus fließen – so sollte dieses
Geld an den kritischsten Punkten eingesetzt werden. Der
kritischste Punkt ist für uns Offenburg, weil dort die
meisten Menschen am härtesten und am direktesten be-
troffen sind.
Was wird aus den großen Versprechungen, die die
Abgeordneten der Großen Koalition in der Region in den
letzten Jahren gemacht haben? Regionale Abgeordnete
der CDU und der SPD aus dem Bundestag und aus dem
Stuttgarter Landtag haben vor Ort immer viel mehr
Lärmschutz versprochen als er gesetzlich vorgeschrie-
ben ist. Das Land Baden-Württemberg verschleudert
beim Projekt Stuttgart 21 ohne Not eine Milliarde Euro.
Wir sind sehr gespannt, wie viel Geld die CDU/FDP-
Landesregierung für das Projekt Ausbau der Rheintal-
bahn zur Verfügung stellen wird. Und wir sind sehr neu-
gierig, was aus den forschen Worten der SPD-Opposi-
tion im Ländle in Berlin wird. Dort ist man mit an der
Regierung, dort will man dann häufig nichts mehr von
dem wissen, was man – wie zum Beispiel die Abschaf-
fung des Schienenbonus – vor Ort bei den Betroffenen
gefordert hat.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrages: Umweltqualitäts-
normen im Bereich Wasserpolitik – Forderun-
gen des Europäischen Parlaments aufgreifen
und ausweiten (Tagesordnungspunkt 22)
Ulrich Petzold (CDU/CSU): Von alters her und wohl
in jeder Kultur gilt das Vergiften eines Brunnens als ein
außerordentlich schweres Verbrechen. In der Zeit der In-
dustrialisierung ist das diesbezügliche Unrechtsbewusst-
sein leider zurückgegangen. Doch Brunnenvergifter im
ursprünglichen Sinn – gibt es die noch?
Der Verbrauch von Wasser in beliebiger Menge und
in höchster Qualität ist in den Industrieländern eine
Selbstverständlichkeit, und nur wenige machen sich Ge-
danken um ihr Handeln, wenn es gilt, ihre Wünsche mit
ihrem Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Dass
das persönliche Verhalten bei der Entsorgung von Abfäl-
len oder Abwasser, ihr Wirtschaften oder sonstiges Ver-
halten in der Natur direkten Einfluss auf das Wasser hat,
das sie wie selbstverständlich aus der Wasserleitung
konsumieren und entnehmen, ist vielen Menschen leider
gar nicht richtig bewusst. Nein, es stellt sich heute nie-
mand mehr hin und verschmutzt oder vergiftet wissent-
lich und zielgerichtet Trinkwasserbrunnen. Die Vergif-
tung erfolgt viel subtiler und nicht am Brunnen selbst.
Der Landwirt, der Felder überdüngt, der Unternehmer,
der bei wassergefährdenden Prozessen nicht auf eine
ordnungsgemäße Sperrschicht achtet, die achtlos wegge-
worfene Farbbüchse oder Batterie oder das in die Toi-
lette gespülte Medikament – das sind die modernen
Brunnenvergifter. Meist Unachtsamkeit, oft aber auch
übersteigertes Gewinnstreben oder pure Bequemlichkeit
gefährden das Wasser, das wir als Grundwasser in unse-
ren Brunnen wiederfinden. Auf der anderen Seite schaf-
fen modernste Messmethoden die Voraussetzung, Stoff-
konzentrationen zu messen, die noch vor wenigen Jahren
um Potenzen unter den messbaren Konzentrationen la-
gen.
Letztendlich war es die Sorge um unsere natürlichen
Lebensgrundlagen, die das Europäische Parlament im
Mai 2007 bewogen hat, dafür zu stimmen, dass 28 wei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12919
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tere Stoffe in die Liste der prioritären Stoffe der Euro-
päischen Wasserrahmenrichtlinie aufgenommen werden
sollen. Umweltverbände hatten ihre Wünsche und Er-
kenntnisse zu der Gefährlichkeit von Stoffen an die EU-
Abgeordneten herangetragen. Daraus war dann die Liste
von 28 Stoffen entstanden, die die 33 bisherigen prioritä-
ren Stoffe ergänzen sollten. Doch genau das war nicht
der Weg, der in der Europäischen Union verabredet war.
Wie in dem vorliegenden Antrag richtig vermerkt ist,
müssen die bestehenden Auflagen und Vorgaben der
EU-Wasserrahmenrichtlinie ergänzt und überarbeitet
werden. Dazu hat die Europäische Union eine Arbeits-
gruppe gebildet, die sich intensiv und wissenschaftlich
exakt mit Stoffen beschäftigt, deren Gefährlichkeit in-
frage steht. Die Dosis macht das Gift – diese Weisheit
des Paracelsus gilt auch bei den Umweltgiften. Es ist ex-
akt zu arbeiten, und gut gemeint ersetzt auch in diesem
Fall keine fachliche Arbeit.
Deshalb ist die Entscheidung der EU-Umweltminister
vom 28. Juni dieses Jahres, die vom EU-Parlament vor-
geschlagenen 28 Stoffe nicht kurzfristig in die Liste der
gefährlichen Substanzen aufzunehmen, so nicht zu kriti-
sieren. Auch wenn die fachlich exakte Arbeit mit allen
notwendigen Diskussionen und Abstimmungen etwas
länger dauert als von Umweltverbänden gewünscht, ist
sie doch übereilten Entscheidungen vorzuziehen. Die da-
ran im Antrag geübte Kritik ist daher fachlich und sach-
lich nicht begründet.
Bedenklich sind hingegen Beschlüsse, die im Antrag
als „Aufweichung der Prioritäre-Stoffe-Richtlinie“ be-
zeichnet werden. So ist es auch unserer Meinung nach
falsch, dass man sich nicht auf EU-einheitliche Emis-
sionsregelungen geeinigt hat. Schon allein mögliche
Wettbewerbsverzerrungen hätten damit eingedämmt
werden können, geschweige denn, dass in vielen Fällen
nur so ein guter chemischer Zustand von Oberflächenge-
wässern hergestellt werden kann. Deswegen sind wir si-
cher, dass vonseiten der Bundesregierung alles Erdenkli-
che getan wird, die europäischen Partner vom Wert von
Emissionsgrenzwerten zu überzeugen. Eines eigenen
Antrages, um die Bundesregierung zum Handeln zu ver-
anlassen, hätte es, wie Sie selbst wissen, dazu nicht be-
durft.
Anders sehen wir das bei der Möglichkeit, die die
EU-Mitgliedstaaten in Zukunft haben, bei Schadstoffbe-
stimmungen in Gewässern flexibler vorzugehen. Wir
sind es in Deutschland gewöhnt, Schadstoffkonzentratio-
nen im Wasser direkt zu messen. Insbesondere Großbri-
tannien, aber auch Frankreich bevorzugen Biota-Mes-
sungen. Dazu werden die Schadstoffkonzentrationen in
Gewässerorganismen oder auch Sedimenten gemessen.
Unserer Auffassung nach kommt es indes nicht darauf
an, wie Schadstoffkonzentrationen gemessen werden,
sondern es muss eine Vergleichbarkeit der Messergeb-
nisse erreicht werden. Nach Aussage der Fachleute ist
auch nach der Flexibilisierung die geforderte Vergleich-
barkeit in jedem Fall gegeben. Im Gegenteil darf sogar
angenommen werden, dass die vorgeschriebenen Kon-
zentrationsgrenzen bei den Messungen in Biota und Se-
dimenten strenger ausfallen.
Die Forderung, PCB und Dioxine in die Liste der
prioritären Stoffe aufzunehmen, ist zwar aufgrund deren
hoher Schadwirkungen verständlich. Es muss jedoch
festgestellt werden, dass diese Stoffe zurzeit kein Ge-
wässerproblem darstellen. Nur in einigen alten Transfor-
matoren ist noch PCB enthalten, und es darf in Deutsch-
land schon längst nicht mehr neu eingesetzt werden.
Somit ist PCB ein Auslaufproblem. Bei Dioxinen muss
man wissen, dass dieses bei Verrottungsvorgängen natür-
lich entsteht und somit immer auch eine Hintergrundbe-
lastung vorhanden ist. Dass trotzdem die Einhaltung von
Schadstoffgrenzwerten auch bei Dioxinen kein Problem
darstellt, sollte bei den überbordenden Forderungen auch
wieder etwas Vernunft einziehen lassen.
Die gleiche Vernunft und auch Augenmaß fordern wir
bei den im Antrag als „neuartige Problemstoffe“ benann-
ten Substanzen ein. Es handelt sich hierbei um pharma-
zeutisch aktive Wirkstoffe, die von Organismen natür-
lich oder nach Einnahme von Präparaten verändert oder
unverändert wieder ausgeschieden werden. So neuartig,
wie der Antrag den Eindruck erwecken will, sind uns
Auswirkungen von Arzneimittelrückständen und hormo-
nell wirksamen Stoffen nicht. Zahlreiche Kongresse,
Kolloquien und Untersuchungen haben sich mit dem
Problem befasst. Im April dieses Jahres hat sich auch
wieder der Sachverständigenrat für Umweltfragen zum
Thema Arzneimittelrückstände geäußert und festgestellt,
„dass viele der eingesetzten Wirkstoffe nur in geringen
Konzentrationen in die Umwelt gelangen und meist sehr
kurzlebig sind“. Von 3 000 eingesetzten Wirkstoffen
sind circa 80 in Kläranlagen zu finden. Dort erfolgt ein
weitgehender Abbau, bevor das gereinigte Abwasser in
die Vorfluter entlassen wird. Die im Grundwasser aufge-
fundenen Spuren von Arzneimittelrückständen liegen
meist um mehrere Zehnerpotenzen unterhalb von Kon-
zentrationen, die für eine lebenslange Aufnahme beim
Menschen toxikologisch ableitbar gesundheitlich duld-
bar sind. Wir wissen jedoch, dass die pharmazeutisch ak-
tiven Wirkstoffe, aber auch solche Substanzen wie das
17α-Ethinyl-Estradiol, welches Sie in Ihrem Antrag an-
sprechen, auf diverse Organismen unterschiedliche Ef-
fekte haben können. Hier können schon bei geringsten
Konzentrationen Wirkungen auftreten, wie sie uns si-
cherlich allen von der Auswirkung minimaler Spuren
humaner weiblicher Hormone auf Krallenfrösche be-
kannt sind.
Daher ist es richtig, dass im Gesetz über den Verkehr
mit Arzneimitteln 2006 eine Umweltverträglichkeitsbe-
wertung eingeführt bzw. erweitert wurde. Auch die Euro-
päische Arzneimittelagentur hat mit der am 1. Dezember
2006 in Kraft getretenen „Guideline on the environmental
risk assessment of medicinal products for human use“
diesbezüglich das richtige Signal bereits gesetzt. Dass wir
gerade auch hier Augenmaß einfordern, geschieht allein
vor dem Hintergrund einer hohen Verunsicherung der
Menschen. Wenn im Jahr 2005 bei Google 531 000 meist
besorgten Einträgen zu Arzneimittelrückständen gerade
einmal 34 wissenschaftliche Beiträge gegenüberstehen,
dann kann man nur vor Panikmache warnen.
Insgesamt ist festzustellen: Wir haben zum Beispiel
gerade auch mit REACH einen sehr guten Ansatz,
12920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
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Schadstoffemissionen in den Griff zu bekommen. Es
wäre wichtig, zwischen den prioritären Stoffen der Was-
serrahmenrichtlinie und solchen Eingruppierungen wie
der von REACH eine Abstimmung zu entwickeln. Un-
terschiede in der Bewertung könnten die Glaubwürdig-
keit unserer Chemikalien- und Umweltpolitik schädigen.
Das sollte, ja, das darf uns nicht passieren. Deswegen
sind auch Schnellschüsse auf dem Gebiet sehr problema-
tisch. Die fundierte, fachlich gute Arbeit der Bundesre-
gierung im Bereich des Wasserschutzes sollte deshalb
von uns unterstützt und nicht kritisiert werden.
Ich gebe zu, dass ich mich in einem Punkt sehr über
den Antrag geärgert habe. Wenn es darin heißt: „Der
Bundestag fordert die Bundesregierung auf, dafür Sorge
zu tragen, dass die Wasserrahmenrichtlinie nicht aufge-
weicht wird“, oder „dafür Sorge zu tragen, dass neue
prioritäre Stoffe von der EU aufgenommen werden“, so
zeugt diese Formulierung von keinem großen Demokra-
tieverständnis. Dafür Sorge zu tragen, heißt: „hat durch-
zusetzen“. Der Antrag fordert die Bundesregierung apo-
diktisch auf, ihre Ziele in der EU durchzusetzen. Auch
wenn es das Richtige in der Sache ist: Eine Zwangsbe-
glückung ist immer falsch. Zu einer Zwangsbeglückung
aufzurufen oder sie, wie in dem Antrag, einzufordern, ist
nicht unsere Sache. Die Nachhaltigkeit gerade im Um-
weltschutz ist umso größer, je mehr auch der Partner
vom richtigen Handeln überzeugt ist. Dieses Handeln
zwangsweise von anderen Staaten streng und intolerant
einzufordern, ist etwas, was wir nicht unterstützen kön-
nen. Ich habe eingangs etwas über Brunnenvergiften ge-
sagt. Im übertragenen Sinn kann man dieses auf Ihre
apodiktische Formulierung anwenden.
Wir werden uns daher im Ausschuss sehr kritisch mit
dem Antrag auseinandersetzen.
Petra Bierwirth (SPD): Wir beraten heute den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. In diesem An-
trag wird die Bundesregierung gebeten, die Forderungen
des Europäischen Parlamentes zur Richtlinie über Um-
weltqualitätsnormen im Bereich der Wasserpolitik zu
übernehmen. Mit dem vorliegenden Richtlinienvor-
schlag sollen die Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie
in EU-Recht umgesetzt werden. Des Weiteren schlägt
die Kommission Qualitätsnormen für die Konzentration
der prioritären Stoffe in Oberflächenwasser, Sedimenten
und Biota vor.
Gemäß dem sechsten Umweltaktionsprogramm gehö-
ren Maßnahmen zur Begrenzung prioritärer Stoffe zu
den vorrangigen Aktionsbereichen. Der vorliegende Vor-
schlag dient dem Schutz und der Verbesserung der Qua-
lität der Umwelt. Dies geschieht in Übereinstimmung
mit dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung.
Gleichzeitig wird mit dem Vorschlag die Harmonisie-
rung der Wirtschaftsbedingungen auf dem Binnenmarkt
sichergestellt. Das war unbedingt erforderlich, da die
bislang geltenden Umweltqualitätsnormen sehr unter-
schiedlich sind. Ferner tragen der Vorschlag und die bei-
gefügten Mitteilungen zur Kohärenz mit anderen ge-
meinschaftlichen Rechtsvorschriften bei. Als Beispiel
möchte ich hier insbesondere die Chemikalienpolitik,
einschließlich REACH, anführen.
Der Richtlinienvorschlag stellt einen wesentlichen
Beitrag zur Verminderung der Gewässerbelastung durch
Festlegung von gemeinschaftlichen Umweltqualitätsnor-
men für prioritäre Stoffe dar. Er leistet auch einen we-
sentlichen Beitrag zur Umsetzung der Ziele der OSPAR-
Konvention.
Der Richtlinienvorschlag ist in der EU intensiv bera-
ten worden. Deutschland konnte während seiner EU-
Präsidentschaft die politische Einigung im Rat erreichen.
Das ist eine gute Ausgangslage für einen gemeinsamen
Standpunkt von Rat und Europäischem Parlament zur
harmonisierten Sicherung des Gewässerschutzes in Eu-
ropa. Der erreichte Kompromiss ist gekennzeichnet von
großer Flexibilität der Anwendung der Umweltqualitäts-
normen und geringem Verwaltungsaufwand. Um die
Effizienz der Umsetzung in den Mitgliedstaaten weiter
zu verbessern, hat die Kommission eine Erklärung abge-
geben, in der sie sich verpflichtet, so rasch wie möglich
nach Inkrafttreten der Richtlinie Leitlinien für ihre Um-
setzung festzulegen.
Die von der Präsidentschaft zur Frage der Emissions-
minderungsmaßnahmen vorgeschlagene Überprüfungs-
klausel sehe ich positiv. Auf der Grundlage der Berichte
der Mitgliedstaaten wird die Notwendigkeit zusätzlicher
spezifischer Emissionsbegrenzungen geprüft.
Die gemeinschaftsweiten festgelegten Umweltquali-
tätsnormen für prioritäre Stoffe tragen dazu bei, die
menschliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen.
Die Mitgliedstaaten sind gefordert, Maßnahmen zu ent-
wickeln und umzusetzen, die geeignet sind, die Gewäs-
ser von gefährlichen Stoffen so weit wie möglich frei zu
halten und gleichzeitig die Einhaltung des in der Richtli-
nie vorgegebenen zeitlichen Rahmens zu gewährleisten.
Bis spätestens 2025 wird sich die Kommission Gewiss-
heit darüber verschafft haben, ob die erfassten Emissio-
nen und Einleitungen die festgelegten Reduzierungsziele
bzw. Beendigung der Einleitung prioritärer gefährlicher
Stoffe, entsprechend den Regelungen der Wasserrah-
menrichtlinie, nach 20 Jahren erreicht worden sind.
Damit soll das wichtige Ziel für den europäischen Ge-
wässerschutz erreicht werden, die Gewässer von gefähr-
lichen Stoffen so weit wie möglich frei zu halten. Ent-
sprechend dem Ratsvorschlag muss die Kommission auf
der Grundlage der erstellten Berichte für die Bestands-
aufnahmen auch eine Überprüfung durchführen, ob zu-
sätzliche gemeinschaftsweite Maßnahmen, wie etwa
Emissionsbegrenzungen, notwendig sind und gegebe-
nenfalls entsprechende Vorschläge unterbreiten.
Natürlich kann man mehr fordern, wie es das Europäi-
sche Parlament auch getan hat, und natürlich ist es legi-
tim, diese Forderungen in einen Oppositionsantrag
aufzunehmen. Man muss aber sehen, dass der jetzt vor-
liegende Richtlinien-Vorschlag einen Kompromiss dar-
stellt, der von allen Mitgliedstaaten getragen wird. Der
vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen folgt ei-
ner Argumentation, die für mich nicht vollständig nach-
vollziehbar ist.
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(A) (C)
(B) (D)
Der Beschluss des Rates zum Richtlinienvorschlag
entspricht in den wesentlichen Punkten auch der Haltung
der Bundesregierung und der Länder. Er berücksichtigt
auch Forderungen des Europäischen Parlaments. Der
Richtlinienvorschlag weicht nicht, wie im Antrag be-
hauptet wird, die bestehenden Verpflichtungen der Was-
serrahmenrichtlinie auf.
Die Forderung der Bundesregierung zum Beispiel
nach gemeinschaftsweiten Maßnahmen für Emissions-
begrenzungen nach den besten verfügbaren Techniken,
wie auch im Antrag der Opposition gefordert, konnten
nicht vollständig durchgesetzt werden. Diese fanden
aber durch eine strenge Überprüfungsklausel weitgehend
Berücksichtigung. Insofern werden auch die weiterge-
henden Forderungen des Europäischen Parlaments nach
Emissionsanforderungen auf der Grundlage der besten
verfügbaren Techniken im weiteren Abstimmungsver-
fahren unterstützt. In Deutschland gilt die Abwasserver-
ordnung, die die Anforderungen an die Rückhaltung be-
stimmter prioritärer Stoffe als beste verfügbare Technik
festlegt.
Ich möchte noch auf einige Punkte des Antrages ein-
gehen. In ihrem Antrag sagen Sie: „EU-weite Qualifizie-
rungsziele für Sedimente und Biota sind nicht verpflich-
tend, und das Monitoring ist ebenfalls zu unverbindlich
und großzügig geregelt.“
Ich möchte an dieser Stelle festhalten, dass die Forde-
rung einiger Mitgliedstaaten nach unverbindlichen Refe-
renzwerten für die Umweltqualitätsnormen verhindert
werden konnte. Der Kompromiss sieht zwar beim Ge-
wässer-Monitoring die flexible Möglichkeit vor, statt der
gesetzlich verbindlichen Wasser-Umweltqualitätsnor-
men auch Biota und Sediment-Umweltqualitätsnormen
zu verwenden. Allerdings müssen diese vom Schutzni-
veau gleichwertig sein und die angewandten Methoden
bei der Kommission notifiziert werden.
Sie wollen die Bundesregierung auffordern „dafür
Sorge zu tragen, dass die vom Europäischen Parlament
vorgeschlagenen 28 weiteren prioritären Stoffe in die
Tochterrichtlinie der Wasserrahmenrichtlinie aufgenom-
men werden“. Der Europäische Rat und das Europäische
Parlament haben sich bei der Verabschiedung der Was-
serrahmenrichtlinie und der Liste der prioritären Stoffe
im Jahre 2000/2001 auf eine Verfahrensweise bei der
Stoffauswahl geeinigt. Die Wasserrahmenrichtlinie sieht
in Art. 16 die Erarbeitung einer Liste von prioritären und
prioritären gefährlichen Stoffen vor. Hierzu wird in
Art. 16(2) ein transparentes, auf wissenschaftlichen
Grundlagen beruhendes Auswahlverfahren verankert.
Dieses Verfahren wurde auch bei der Verabschiedung
der ersten Liste der 33 prioritären Stoffe im Jahre 2001
angewandt. Daneben sieht Art. 16(4) der Wasserrahmen-
richtlinie einen regelmäßigen vierjährigen Überprü-
fungs- und Aktualisierungszyklus für die Liste der prio-
ritären Stoffe vor.
Für die derzeitige laufende Überprüfung gemäß der
Wasserrahmenrichtlinie ist eine Arbeitsgruppe von der
Kommission eingesetzt, mit deren Hilfe ein Vorschlag
für die Aktualisierung der Stoffliste bis Ende 2008 vor-
gelegt werden soll. Die Auswahl zusätzlicher Stoffe er-
folgt gemäß Wasserrahmenrichtlinie zum einem nach
wissenschaftlichen Kriterien, zum anderen nach der Be-
deutung und dem Vorkommen der Stoffe in den Gewäs-
sern der Gemeinschaft. Die zusätzlichen 28 neuen Stoffe
sind Bestandteil der Prüfung bei der Aktualisierung der
Liste.
Darüber hinaus fordern Sie die Erarbeitung einer na-
tionalen Strategie zur Emissionsbegrenzung bis 2008.
Hier muss ich Ihnen ins Buch schreiben, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass
eine nationale Strategie zur Emissionsbegrenzung und
Vermeidung prioritärer bzw. prioritäre gefährliche Stoffe
bis spätestens 2008 nicht erforderlich ist. In Deutschland
sind mit der Abwasserverordnung nach § 7 a des Was-
serhaushaltsgesetzes strenge Emissionsforderungen an
das Einleiten in Gewässer festgelegt. Weitergehende ein-
schränkende Maßnahmen, wie Anwendungsbeschrän-
kungen oder Stoffverbote, sind nur gemeinschaftlich
zielführend.
Fazit: Die Wasserrahmenrichtlinie stellt uns vor eine
große Herausforderung. Zur Koordination der Bewirt-
schaftungsmaßnahmen sind nicht nur Abstimmungen
mit den Nachbarstaaten, sondern auch der Bundesländer
untereinander erforderlich. Um die festgeschriebenen
Ziele der Richtlinie in dem gesetzten Zeitrahmen reali-
sieren zu können, müssen die erforderlichen finanziel-
len, personellen und organisatorischen Entscheidungen
verantwortungsvoll und zügig getroffen werden. Um die
erforderlichen Arbeiten in Angriff zu nehmen, müssen
diese auf einer sicheren Grundlage gestellt werden. Das
bedeutet, dass die rechtlichen und fachlichen Vorgaben
zur Umsetzung der Richtlinie zeitgerecht vorliegen müs-
sen.
Durch eine enge und gute Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern, die schon bei den Beratungen der
Richtlinie und bei der Vorbereitung der Umsetzungsar-
beiten sehr hilfreich gewesen ist, kann eine zeitlich und
inhaltlich ordnungsgemäße Umsetzung der Wasserrah-
menrichtlinie gelingen.
Horst Meierhofer (FDP): Wasser ist unverzichtbare
Lebensgrundlage. Die Sicherung der Wasserqualität ist
deshalb von immenser Bedeutung. Hinzu kommt: Ge-
wässerverschmutzungen machen nicht an irgendwelchen
Ländergrenzen halt. Umso wichtiger ist es, dass Europa
an einem Strang zieht. Dem Ziel der Europäischen Was-
serpolitik, einen guten ökologischen und chemischen
Zustandes der Gewässer zu erreichen, kann die FDP-
Fraktion deshalb nur zustimmen.
In diesem Kontext hat die Europäische Kommission
einen Richtlinienentwurf vorgelegt, der darauf abzielt,
das Umweltschutzniveau europäischer Gewässer zu ver-
einheitlichen. Dazu sollen europaweit Höchstwerte für
Pestizide, Schwermetalle und andere chemische Stoffe
festgelegt werden, die eine spezielle Gefährdung für
Tiere und Pflanzen in Gewässern sowie für die mensch-
liche Gesundheit bedeuten. Besonders gefährliche Stoffe
sollen langfristig sogar ganz verboten werden.
12922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Doch sobald es um Details geht, scheiden sich in
Brüssel die Geister: Während der Rat unter der
deutschen Präsidentschaft die von der Kommission
vorgeschlagenen Umweltqualitätsnormen einstimmig
bestätigte, hat das EP in seiner ersten Lesung mit
672 Stimmen für substanzielle Änderungen gestimmt.
Ginge es nach unseren Europäischen Kollegen, so soll-
ten vor allem die Wasserqualitätsstandards für 28 wei-
tere Stoffe verschärft werden. Ob in Brüssel angesichts
der doch sehr unterschiedlichen Positionen zwischen Rat
und Parlament in zweiter Lesung eine Einigung möglich
ist, oder ob das Ganze in einen Vermittlungsausschuss
geht, bleibt abzuwarten.
Der Antrag, den wir heute beraten, will die Forderun-
gen des Europäischen Parlaments aufgreifen und aus-
weiten. Lassen Sie mich dazu folgende Bemerkungen
machen.
Erstens. Allen Unstimmigkeiten zum Trotz darf man
nicht vergessen: Auch der Kommissionsvorschlag führt
zu mehr Gewässerschutz als der Status quo. Das gilt
nach Aussage der Bundesregierung auch für Deutsch-
land. Auch bei uns gibt es derzeit noch einige wenige
Stoffe, die die vorgegebenen Qualitätsziele noch deut-
lich überschreiten.
Zweitens. Aus unserer Sicht ist die Art und Weise,
wie das Europäischen Parlament weitere Stoffe als prio-
ritär bzw. prioritär gefährlich einstuft, äußerst fragwür-
dig, und das sowohl rechtlich als auch in der Sache.
Schließlich ergibt sich aus den Erwägungsgründen der
Richtlinie, dass die Festlegung der Liste der prioritären
Stoffe nach einem festgelegten Verfahren zu erfolgen
hat. Genau dieses ist jedoch im Rahmen der Entschei-
dung des Europäischen Parlaments augenscheinlich
nicht berücksichtigt worden.
Drittens. Auch die FDP hält die Renationalisierung
bereits EU-weit festgelegter Emissionsgrenzwerte nicht
für zielführend. Wir bedauern, dass die Bundesregierung
sich hier im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft
nicht weiter durchsetzen konnte. Geht es nach der Kom-
mission, so sollen nur immissionsseitige Umweltquali-
tätsnormen europaweit festgelegt werden. Emissionen
interessieren Brüssel scheinbar nicht. Dies ist aus unse-
rer Sicht sowohl ökologisch als auch ökonomisch nicht
akzeptabel. Wirksamer Gewässerschutz fängt beim Ver-
ursacher an. Hinzu kommt: Würde sich die Richtlinie
ausschließlich mit Umweltqualitätsnormen begnügen,
hätten Mitgliedstaaten ohne entsprechende Emissions-
regelungen einen Wettbewerbsvorteil.
Auch bin ich der Meinung, europaweit einheitliche
Emissionsgrenzwerte wären allemal besser als die von
EP und den Grünen vorgeschlagenen nationalen Pläne
zur Emissionsbegrenzung.
Zum Schluss möchte ich noch sagen: Ich warne da-
vor, die Bundesregierung schon jetzt zu verpflichten, die
Forderungen des Europaparlaments zu übernehmen,
ohne Rücksicht darauf, was auf europäischer Ebene be-
schlossen wird. Denn sollten sich die Parlamentarier in
Brüssel nicht mit ihren Maximalforderungen durchset-
zen – das halte ich für ziemlich realistisch –, haben wir
in Deutschland wieder einmal einen Wettbewerbsnach-
teil im Vergleich zum Rest Europas.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Linke un-
terstützt den Antrag der Grünen. Er beschreibt zutreffend
den Rückschritt in der europäischen Wasserpolitik be-
züglich des Schutzes der Gewässer vor Schadstoffen.
Es ist an sich schon ein Skandal, dass die Umweltqua-
litätsrichtlinie für den Wasserbereich erst drei Jahre nach
Ablauf der in Art. 16 der Wasserrahmenrichtlinie festge-
legten Frist vorgelegt wurde. Das Hauptproblem der
politischen Einigung dazu ist jedoch, dass das Ganze
weiterhin nur auf Qualitätsnormen aufgebaut ist, die
Oberflächengewässer haben sollen. Für die prioritären
Stoffe sind dort die zulässigen Höchstkonzentrationen in
Gewässern definiert. Ein Immissionsansatz also. Grenz-
werte für Einleitungen im klassischen Emissionsansatz
soll es demnach – zumindest EU-weit – nicht geben. Der
kombinierte Ansatz im Art. 16 der Wasserrahmenrichtli-
nie wurde damit versenkt. In der Folge dürfte eine Firma
an einem großen Fluss mehr Schadstoffe in das Gewäs-
ser lassen als eine Firma an einem kleinen Fluss, jeden-
falls sofern nationale Gesetzgebungen nichts anderes
festgelegen. Angesichts der immer noch unakzeptabel
hohen Belastung beispielsweise von Nordsee und Ostsee
ist dies vollkommen unverständlich.
Gegenwärtig sind zwar noch einige Stoffe und Stoff-
gruppen EU-weit über die noch geltende „Gefährliche-
Stoffe-Richtlinie“ mit Emissionsgrenzen belegt. Doch
dieses Gesetz wird bekanntlich ersatzlos aufgehoben.
Danach werden wir nur noch für große Anlagen EU-weit
gültige Emissionsgrenzen haben, und zwar über die
IVU-Richtlinie. Sämtliche kleinen Anlagen bleiben ab
diesem Zeitpunkt auf Ebene der EU ungeregelt.
Ob und wie die einzelnen Mitgliedstaaten diese Lü-
cke durch eigene Gesetzgebung schließen, ist ungewiss.
Letztlich läuft dies auf eine Renationalisierung der ur-
sprünglichen Gemeinschaftsmaßnahmen hinaus, ähn-
lich wie bei der Meeresstrategierichtlinie. Doch gerade
für Deutschland mit seinen vielfach fortschrittlichen
Emissionsstandards könnte es problematisch werden,
wenn andere Länder ihrem Firmen erlauben sollten,
fortan niedrigeren Standards zu folgen.
Die Bundesregierung war darum nicht ohne Grund
der Auffassung, dass Umweltqualitätsziele für Oberflä-
chengewässer mit Emissionsstandards für die Anlagen
verknüpft werden müssen. Natürlich hat Deutschland
diese Forderung in erster Linie aus Wettbewerbsgründen
erhoben. Aber damit wird sie ja nicht falsch. Es ist auch
die Forderung von Umweltverbänden.
Die Linke ist ebenfalls der Meinung, dass ein vorsor-
gender Umweltschutz keinesfalls auf Emissionsstan-
dards nach dem Stand der Technik verzichten kann. Nur
so ist Distanz- und Summationsschäden vorzubeugen.
Umweltqualitätsziele können dies nur ergänzen, nicht
aber ersetzen.
In der Substanz fehlt neben dem eben beschriebenen
Problemen auch ein sachgerechter Umgang mit den prio-
ritären Stoffen. Von den 33 Stoffen und Stoffgruppen des
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12923
(A) (C)
(B) (D)
2001 verabschiedeten Anhangs X der WRR sind nun-
mehr lediglich 13 Stoffe und Stoffgruppen als prioritär
gefährlich eingestuft. Ihre Einleitung, Emission oder ihr
Verlust soll wegen ihrer besonderen Schädlichkeit been-
det bzw. schrittweise eingestellt werden.
Als prioritär oder prioritär gefährlich gelten jedoch
viel zu wenige Stoffe. Die entsprechenden Listen bei den
Meeresschutzabkommen OSPAR oder HELCOM sind
bedeutend länger. Selbst das UBA sprach einmal von
rund 10 000 problematischen Stoffen. Das Parlament
hatte in der ersten Lesung die Anzahl der Stoffe der
Liste X wenigstens verdoppelt. Der Rat hat davon je-
doch nichts in die politische Einigung übernommen.
Es ist aber nicht nur diese Blockade, es ist auch der
Einzelstoffansatz an sich, welcher der enormen Zahl pro-
blematischer Stoffe nicht gerecht wird. Er müsste drin-
gend ergänzt werden durch Höchstgrenzen für Summen-
parameter, vergleichbar mit den Regelungen in der
Grundwasserrichtlinie.
Aber offenbar hatte die Wirtschaft an solchen Rege-
lungen kein Interesse, und sie hat sich wieder einmal
durchgesetzt.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
haben in Deutschland im internationalen Vergleich zwar
einen hohen Standard bei der Gewässerqualität, dennoch
besteht auch bei uns Handlungsbedarf. Unsere Gewässer
sind mit Schwermetallen, Pestiziden und Arzneimittel-
rückständen belastet. Allein 5 000 Tonnen Schwerme-
talle landen jährlich in unserem Wasser. Jede fünfte
Grundwasserprobe enthält Pestizide. Außerdem tauchen
in unseren Gewässern immer wieder neue gefährliche
Stoffe auf, seien es Hormone oder Arzneimittelrück-
stände, die sich nicht oder nur schwer herausfiltern las-
sen. Die beobachteten Auswirkungen auf die Tierwelt in
den belasteten Flüssen geben Anlass zur Sorge um die
Gesundheit der Menschen. Diese Fakten sind alarmie-
rend und zudem nur die Spitze des Eisberges, denn wir
haben nach wie vor zu wenig Daten und Informationen
über die mehr als 1 Millionen Stoffe und Stoffmischun-
gen, die direkt oder über Umwege in unser Wasser ge-
langen. Hier wäre rascher, vorsorgender Schutz für
Mensch und Umwelt angebracht.
Umso bedauerlicher ist es daher, dass die EU-Um-
weltminister die Empfehlungen des Europäischen Parla-
mentes zur Verbesserung der Umweltqualitätsnormen in
der Wasserpolitik nicht aufgegriffen haben und sich
stattdessen sogar auf eine Aufweichung der Wasserrah-
menrichtlinie geeinigt haben. Das Parlament hatte unter
anderem gefordert, dass 28 weitere schädliche Stoffe in
die bereits bestehende Liste prioritär gefährlicher Stoffe
der Wasserrahmenrichtlinie aufgenommen werden.
Diese besonders gefährlichen Stoffe müssen bis 2015
komplett aus unseren Gewässern verschwinden, und das
mit gutem Grund, denn viele von ihnen haben erhebliche
negative Wirkung auf Mensch und Umwelt. Statt den
sinnvollen Vorschlägen des Europaparlamentes zu fol-
gen und weitere Umweltgifte auf die Liste zu setzen,
wurden für die bestehende Liste sogar zusätzliche Aus-
nahmeregelungen geschaffen.
Ein guter Wasserzustand wird so weder in Deutsch-
land noch im Rest Europas erreicht. Wieder einmal
bleibt ein Ratsentwurf im Umweltbereich deutlich hinter
den Forderungen des Parlaments und der Kommission
zurück, und die Bundesregierung sieht untätig zu.
Wenn, wie es die Wasserrahmenrichtlinie vorsieht,
der „gute chemische Wasserzustand“ der Binnengewäs-
ser und des Grundwassers bis zum Jahre 2015 tatsäch-
lich realisiert werden soll und auch die Meere ab 2020
weitgehend giftfrei sein sollen, dann muss das zentrale
Ziel der Wasserrahmenrichtlinie und der OSPAR- und
Helsinkikonvention in allen Verursacherbereichen kon-
sequent umgesetzt werden: Die Gewässerverschmutzung
durch Stoffe mit hohem Umweltrisiko muss kontinuier-
lich verringert werden, und dafür muss sich die Bundes-
regierung im weiteren Gesetzgebungsverfahren in Brüs-
sel einsetzen.
Aber Deutschland muss noch mehr tun. Die Bundes-
regierung sollte in der Wasserpolitik mit gutem Beispiel
vorangehen und die notwendigen Vorgaben zur Bekämp-
fung der Wasserverschmutzung in das Wasserwirt-
schaftskapitel des geplanten Umweltgesetzbuches auf-
nehmen. Wiederholte Anfragen unserer Fraktion haben
gezeigt, dass die Anforderungen der Wasserrahmenricht-
linie von den Ländern nur unbefriedigend erfüllt werden.
Hier sollte die Bundesregierung endlich selbst aktiv wer-
den und ihre Gesetzgebungskompetenz nutzen, statt un-
tätig die Hände in den Schoß zu legen. Darüber hinaus
brauchen wir dringend eine sektorübergreifende natio-
nale Strategie zur Emissionsbegrenzung und -Vermei-
dung von gefährlichen Stoffen. Insbesondere in der
Landwirtschaft und im Verkehr ist hier unter den Minis-
tern Tiefensee und Seehofer so gut wie gar nichts pas-
siert. Statt die Warnungen von Opposition und Umwelt-
verbänden zu ignorieren, sollte die Bundesregierung
endlich hier in Deutschland Verantwortung für die Um-
setzung internationaler Umweltqualitätsnormen über-
nehmen und ihren Einfluss in Brüssel geltend machen,
um ein Absenken von Standards zu unterbinden.
Wir brauchen deutschland- und europaweit eine nach-
haltige Wasserpolitik, die sich an den Kriterien eines
vorbeugenden Umwelt- und Gesundheitsschutzes orien-
tiert. Sauberes Trinkwasser ist ein Menschenrecht, das
unter allen Umständen geschützt werden muss. Lippen-
bekenntnisse auf internationalen Konferenzen sind nicht
genug!
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gestzes zur
Aufhebung der Heimkehrerstiftung und zur
Finanzierung der Stiftung für ehemalige politi-
sche Häftlinge (Heimkehrerstiftungsaufhe-
bungsgesetz – HKStAufhG) (Tagesordnungs-
punkt 25)
Klaus Brähmig (CDU/CSU): „Politik bedeutet ein
starkes, langsames Durchbohren von harten Brettern mit
12924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Leidenschaft und Augenmaß.“ Dieses Zitat von Max
Weber passt sehr gut zu der heutigen Verabschiedung des
Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetzes, HKStAufhG.
Denn ich erinnere mich noch genau, als im Sommer
2000 in meinem Büro der erste Entwurf für ein Heim-
kehrerentschädigungsgesetz erarbeitet wurde. Bis zum
Tag der Gesetzesverabschiedung sind nunmehr also sie-
ben Jahre verstrichen.
Durch das beharrliche Verhandeln der Union erhal-
ten etwa 12 200 ehemalige deutsche Kriegsgefangene
und circa 3 000 Zivilverschleppte aus Ostdeutschland
eine symbolische Anerkennung für ihr damals erlitte-
nes Schicksal. Die Opfergruppe der zivildeportierten
Frauen aus dem Gebiet jenseits von Oder und Neiße
bekommt eine einmalige Zahlung von 3 000 Euro.
Ferner wird den ehemaligen ostdeutschen Kriegsgefan-
genen eine Entschädigung, gestaffelt nach der Dauer
des Gewahrsams, in Höhe von 500 Euro, 1 000 Euro
und 1 500 Euro gewährt.
Das Gesetz sorgt mehr als 60 Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkrieges dafür, dass die ostdeutschen
Kriegsheimkehrer und Zivilverschleppten ihren west-
deutschen Leidensgefährten gleichgestellt werden. Die
beiden genannten Opfergruppen erhalten eine späte,
wenn auch symbolische Entschädigung für das ihnen wi-
derfahrene Unrecht.
Als Vorsitzender des Parlamentarischen Beirates des
Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Ver-
misstenangehörigen Deutschlands e.V., VdH, bedanke ich
mich ganz herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen
dieses Gremiums für die Zusammenarbeit.
Mit dem vorliegenden Gesetz wurden die wichtigsten
politischen Ziele des VdH noch Realität. Trotz der all-
mählichen Auflösung des Bundesverbandes sind viele
Landesverbände des VdH sehr aktiv. Aus dem direkten
Kontakt mit dem Präsidenten des VdH-Bundesverban-
des, Herrn Günter Berndt, kann ich Ihnen versichern,
dass alle Landesverbände diese abschließende Gesetzge-
bung begrüßen.
Einige werden nun bemängeln, dass durch die jetzige
Einigung die Entschädigung für viele Betroffen zu spät
kommt. Da kann ich nur sagen: Ja, die Anerkennung
kommt spät und für viele auch zu spät. Aber auch hier
wurde mir aus der Verbandsspitze signalisiert, dass viele
Familien zu schätzen wissen, dass die großen demokrati-
schen Parteien Deutschlands noch zu einer einvernehm-
lichen Lösung gefunden haben. Diese Lösung steht da-
mit in der Tradition des Parlamentarischen Beirates des
VdH. In den letzten 55 Jahren seines Bestehens wurde
dort über Fraktionsgrenzen hinweg eine Politik gestaltet,
die eine besondere Verantwortung für die Menschen aus
der Kriegsgeneration anerkannt hat.
Mit dem heutigen Gesetz senden wir das Zeichen: Es
gab keine ehemaligen Krieggefangenen und Zivildepor-
tierten erster und zweiter Klasse. Eine weitere Gerech-
tigkeitslücke zwischen Ost und West wird mit diesem
Gesetz geschlossen.
Abschließend möchte ich noch eine Bitte an meine
Kolleginnen und Kollegen von der sozialdemokratischen
Koalitionsfraktion richten. Wir haben heute durch diesen
Kompromiss eine gute Lösung erreicht. Lassen Sie uns
nun auch beherzt die Arbeitsgruppe Kriegsfolgenberei-
nigung in Angriff nehmen. Der Wähler hat der Großen
Koalition einen klaren Regierungsauftrag gegeben. Wir
sollten diesen Wählerauftrag nutzen, um noch offene
Probleme aus vergangener Zeit abzuarbeiten und eine
gute Zukunft für unser Land zu gewinnen.
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Mit dem
heute zu beschließenden Gesetzentwurf über ein Heim-
kehrerstiftungsaufhebungsgesetz verbindet sich eine
gute Perspektive für all die Kriegsheimkehrer im Bei-
trittsgebiet, die bis heute keinerlei Entschädigung erhal-
ten haben. Es ist das gute Signal, dass unsere Gesell-
schaft sie nicht vergessen hat und auch ihr Schicksal
würdigt. So wird mit dem vorliegenden Gesetz zwar die
Heimkehrerstiftung aufgelöst, das ist aber nur eine orga-
nisatorische Änderung. Inhaltlich ist mit dem heute zu
verabschiedenden Gesetz ein neuer Akzent gesetzt.
Für geschätzt 12 000 Heimkehrer, die nicht nur Ge-
fangenschaft erdulden mussten, sondern über deren
Schicksal in der SBZ und späteren DDR einfach hinweg-
gegangen wurde, ist eine gute Lösung gefunden worden.
Wir haben eine gesellschaftliche Anerkennung in das
Gesetz geschrieben. Das ist ein Akt historischer und ge-
sellschaftlicher Gerechtigkeit, ein Beitrag zum Zusam-
menwachsen unseres Vaterlandes, ein Beitrag zur inne-
ren Einheit Deutschlands. Über acht Jahre haben wir von
CDU und CSU uns dafür eingesetzt, dass den Kriegs-
heimkehrern im Osten das zuteil werden kann, was im
Westen ganz selbstverständlich war: eine Würdigung ih-
res Schicksals. Daher freue ich mich, dass unser Koali-
tionspartner von der SPD sich, wenn auch spät, hat über-
zeugen lassen.
Es ist auch gut, dass es mit den Änderungsanträgen
ferner gelungen ist, eine dauerhafte Auszahlung der
Rentenleistungen für den Berechtigtenkreis bis zum Le-
bensende sicherzustellen. Alles andere wäre auch wür-
delos gewesen. Somit verbindet sich mit der Auflösung
der Heimkehrerstiftung für alle Betroffenen eine gute
Perspektive.
Im Übrigen – das sei in Richtung der Linksfraktion
gesagt – verbindet sich mit der von uns seit Jahren gefor-
derten und nun gefundenen Lösung auch eine gute Per-
spektive für die Mitarbeiter der Heimkehrerstiftung. Für
die Umsetzung dieses Beschlusses bedarf es qualifizier-
ten Personals. Daher bin ich sicher, dass sich für die Be-
schäftigten der Heimkehrerstiftung eine adäquate Wei-
terbeschäftigung finden wird.
Mit der gefundenen Einigung für die Heimkehrer Ost
konnte ein weiteres Kapitel im Kriegsfolgenrecht einer
guten, sozialverträglichen Lösung zugeführt werden. Al-
lerdings sind auch mit dieser gefundenen Lösung noch
nicht alle Fragen beantwortet, es sind Schicksale auch
weiterhin bis heute unberücksichtigt und unbeachtet ge-
blieben. Daher ist es unbedingt notwendig, dass wir so-
wohl bei der Aufarbeitung der Kriegsfolgen als auch bei
der Aufarbeitung des SED-Unrechts das bisher Geleis-
tete überprüfen, um festzustellen, wo noch lösungsbe-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12925
(A) (C)
(B) (D)
dürftige Fragen bestehen, wo noch Schicksale bis heute
offen sind. In beiden historischen Bereichen, beim SED-
Unrecht und beim Kriegsfolgenrecht, sollten wir uns
dieser Mühe unterziehen, um mit einer Schlussgesetzge-
bung unserer historischen Verantwortung in Bezug auf
die Opfer gerecht zu werden.
Sechs Jahrzehnte nach Kriegsende sind auch im Be-
reich des Kriegsfolgenrechts, so meinen wir von CDU
und CSU, noch nicht alle Fragen gelöst, Menschen-
schicksale oftmals ohne Würdigung geblieben. In der
Bundesrepublik Deutschland und auch in den ehemali-
gen deutschen Gebieten leben heute noch viele Men-
schen, die als Zivilisten, häufig im jugendlichen Alter,
verschleppt und zu Zwangsarbeit herangezogen worden
sind. Viele von ihnen mussten unter härtesten, men-
schenunwürdigen Bedingungen, vor allem im Bergbau,
Zwangsarbeit verrichten. Besonders bei den Frauen gin-
gen damit nicht selten körperliche Übergriffe einher.
Viele Menschen verloren im Zusammenhang mit
Zwangsarbeit ihr Leben. Diejenigen, die überlebt haben,
leiden auch heute häufig noch unter den Spätfolgen.
Im Jahr 2001 hat der Deutsche Bundestag für die aus-
ländischen Opfer von Zwangsarbeit die Stiftung „Erin-
nerung, Verantwortung und Zukunft“ beschlossen, die in
diesem Jahr ihre Auszahlungen abgeschlossen hat. Dies
war gut und richtig. Es wäre aber auch richtig, für die
deutschen zivilen Opfer von Zwangsarbeit, von denen ja
heute im Wesentlichen nur noch die zum damaligen
Zeitpunkt jüngsten Opfer leben, eine humanitäre Geste
zur Würdigung ihres schweren Schicksals bereitstellen
zu können. Denn das, was viele Menschen als Zwangs-
arbeiter erdulden mussten, lässt sich eben nicht unter den
Begriff eines allgemeinen Kriegsfolgenschicksals fas-
sen. Das gerne angeführte Gegenargument, 60 Jahre da-
nach sei es für eine solche Geste zu spät, verfängt nicht.
Für die ausländischen Opfer von Zwangsarbeit, die wäh-
rend des Krieges nach Deutschland Verschleppten,
haben wir auch erst sehr spät eine Lösung gefunden.
Zeitablauf kann kein Argument dafür sein, bisher Ver-
säumtes nicht nachzuholen. Das gilt nicht nur für die zi-
vilen, deutschen Opfer von Zwangsarbeit. Das gilt auch
für die sogenannten „Wolfskinder“: keine große Gruppe,
aber eine besonders schwer geschädigte. Die histori-
schen Ereignisse, die sich damit verbinden, sind herzzer-
reißend. Allein die Beschäftigung und ehrliche Ausein-
andersetzung mit diesem Kapitel liefert einen wichtigen
Beitrag zu einem verantwortlichen Umgang mit unserer
Geschichte.
Mit dem Inkrafttreten des 3. SED-Unrechtsbereini-
gungsgesetzes in diesem Sommer wurde die Opferpen-
sion für politische Häftlinge der SBZ/DDR geschaffen.
Das war ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des
SED-Unrechts. Aber auch hier sind noch Fragen offen.
Beispielhaft nenne ich hier die Zwangsausgesiedelten
aus dem Bereich der ehemaligen innerdeutschen Grenze
und das Schicksal verfolgter Schüler, deren berufliche
Benachteiligung nicht durch das Berufliche Rehabilitie-
rungsgesetz erfasst worden ist. Ein Außerachtlassen die-
ser Schicksale wäre ein schlimmes historisches Ver-
säumnis.
Daher freue ich mich, dass sich unser Koalitionspart-
ner von der SPD nun doch, nach langem Zögern, dazu
bereitgefunden hat, die bisherigen Gesetze im Bereich
des Kriegsfolgenrechts und zur Aufarbeitung des SED-
Unrechts zu analysieren, um festzustellen, in welchen
Bereichen noch offene und lösungsbedürftige Fragen be-
stehen. Daher werbe ich nochmals für Schlussgesetzge-
bungen in beiden Bereichen. Das wäre ein großer Bei-
trag zu historischer Verantwortung und Gerechtigkeit.
Maik Reichel (SPD): Wir beraten heute abschließend
den Gesetzentwurf zur Aufhebung der Heimkehrerstif-
tung und zur Finanzierung der Stiftung für politische
Häftlinge einschließlich eines Änderungsantrages der
Koalitionsfraktionen. Wir behandeln damit auch ein Ka-
pitel deutscher und europäischer Geschichte. Die Grund-
lagen für die Heimkehrerstiftung liegen im 1954 be-
schlossenen Gesetz über die Entschädigung ehemaliger
Kriegsgefangener.
Dieses heute zu beschließende Gesetz sieht vor, die
Heimkehrerstiftung, eine bundesunmittelbare Stiftung
des öffentlichen Rechts, zum 31. Dezember 2007 aufzu-
heben. Damit ist aber die Aufgabe immer noch nicht be-
endet. Die Zuständigkeit für die Leistungsgewährung
wird auf das Bundesverwaltungsamt übertragen. Wir re-
geln mit diesem Gesetz, dass die einmaligen Unterstüt-
zungsleistungen nach § 3 Abs. 1 HKStAufhG mit Ablauf
des Jahres 2009 enden. Das Antragsende wird auf den
Tag der Gesetzesverkündung geschoben. Dagegen ge-
währen wir weiterhin nach § 3 Abs. 2 und 3 HKStAufhG
die Rentenzusatzleistung ohne Befristung. Ich möchte
mich an dieser Stelle bei meinem Berichterstatterkolle-
gen Dieter Baumann und bei Herrn Parlamentarischen
Staatssekretär Dr. Christoph Bergner für die konstrukti-
ven Gespräche bedanken, und dafür, dass sie diese von
der SPD-Fraktion gewünschte Weiterzahlung der Ren-
tenzusatzleistungen mittragen. Damit wollen wir weiter-
hin zu unserer Verantwortung stehen, denen Hilfe zu-
kommen zu lassen, die durch einen der schrecklichsten
Kriege in der Menschheitsgeschichte in Haft gekommen
sind und dort Not und Leid erfahren und in ihrer weite-
ren persönlichen Entwicklung Entbehrungen erlitten ha-
ben.
Mehr als 300 Millionen Euro wurden durch die Heim-
kehrerstiftung an Betroffene ausgezahlt. Noch heute er-
halten etwa 11 500 Personen Rentenzusatzleistungen.
Weitere Anträge liegen für Rentenzusatzleistungen und
die einmalige Unterstützung noch vor. Daran sehen wir,
dass die Aufgabe der Stiftung noch nicht ganz beendet
ist. Das Bundesverwaltungsamt wird aber die Weiterfüh-
rung dieser Aufgaben in der jetzigen bzw. in der heute zu
beschließenden Gesetzeslage weiterhin gut ausführen.
Im Weiteren regeln wir die Finanzierung der Unter-
stützungsleistungen nach dem Häftlingshilfegesetz. Jetzt
stehen in den Jahren 2007 bis 2009 jeweils 2,18 Millio-
nen Euro zur Verfügung, jährlich circa l,4 Millionen
Euro mehr als ursprünglich vorgesehen. Diese zusätz-
lichen Mittel sollen vor allem Zivilinternierten und -de-
portierten jenseits von Oder und Neiße zur Verfügung
stehen. Empfänger sind außerdem ehemalige politische
12926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Häftlinge aus dem kommunistischen Machtbereich so-
wie deren hinterbliebene Ehegatten, Kinder und Eltern,
um deren Notlage zu lindem. Die Aufstockung der Mit-
tel liegt aber auch darin begründet, dass die nunmehrige
Hauptaufgabe der Stiftung für ehemalige politische
Häftlinge nicht mehr in den Ausführungen des Häft-
lingshilfegesetzes liegt, sondern in der Ausführung des
strafrechtlichen Rehabilitationsgesetzes. Darauf reagie-
ren wir.
Neu eingeführt wird im Art. 3 eine einmalige Ent-
schädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet,
der einstigen Sowjetischen Besatzungszone und der spä-
teren Deutschen Demokratischen Republik. Das sie bis
1989/90 keine Entschädigung nach den Richtlinien der
Häftlingshilfestiftung erhalten konnten, sollen sie zum
Ausgleich für den erlittenen Gewahrsam eine einmalige
Entschädigung erhalten. Die Höhe der einmaligen Ent-
schädigung für jeden Berechtigten beträgt nach § 4
Abs. 1 des Gesetzes über die einmalige Entschädigung,
gestaffelt nach der Dauer des Gewahrsams: für die Ent-
lassungsjahrgänge 1947 und 1948 500 Euro, für die Ent-
lassungsjahrgänge 1949 und 1950 1 000 Euro und für
die Entlassungsjahrgänge ab 1951 1 500 Euro. Der An-
spruch bleibt bei Sozialleistungen, deren Gewährung
von anderen Einkünften abhängig ist, unberücksichtigt.
Auch mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges bleiben die Folgen immer noch erkennbar.
Dessen sind wir uns auch mit diesem Gesetz bewusst.
Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Heimkehrerstif-
tung für ihre Arbeit, die ein Teil der Aufarbeitung der
deutschen Geschichte ist, bedanken und ihnen in ihren
neuen Verwendungen, die durch das Bundesinnenminis-
terium angekündigt wurde und durch meine Fraktion
nachdrücklich unterstützt wird, alles Gute wünschen.
Dr. Max Stadler (FDP): Mit dem Gesetzentwurf
greift die Bundesregierung eine nunmehr zehn Jahre alte
Prüfmitteilung des Bundesrechnungshofs auf. Dieser
war seinerzeit zu dem Ergebnis gekommen, dass sich der
Zweck der Heimkehrerstiftung, die wirtschaftliche und
soziale Förderung ehemaliger Kriegsgefangener, „im
Wesentlichen erledigt“ habe. Deshalb sei eine Aufhe-
bung der Stiftung zu erwägen.
Die FDP-Bundestagsfraktion hält diese Auffassung
grundsätzlich für zutreffend. Die noch vorhandenen Auf-
gaben rechtfertigen in der Tat keine eigenständige Stif-
tung mehr. Es ist daher richtig, die Aufgaben auf das
Bundesverwaltungsamt zu übertragen. Die FDP-Bun-
destagsfraktion übersieht nicht, dass hiermit ein Wegfall
der Vertretung der Opferverbände bei der Mittelvergabe
verbunden ist. Sie vertraut aber auf die Richtigkeit der
Einschätzung der Bundesregierung, dass aus demografi-
schen Gründen die Repräsentation der Betroffenen in
den Stiftungsgremien praktisch kaum mehr zu verwirkli-
chen sei.
Zu begrüßen ist, dass mit der Aufhebung der Stiftung
nunmehr nicht, wie von der Bundesregierung ursprüng-
lich beabsichtigt, die ersatzlose Streichung der Renten-
zusatzleistungen für bedürftige Kriegsheimkehrer und
Kriegerwitwen mit Ablauf des Jahres 2009 verbunden
sein wird. Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktio-
nen sieht vor, bewilligte Rentenzusatzleistungen bis zum
Versterben des Begünstigten weiter zu gewähren. Eine
solche ersatzlose Streichung der Leistungen wäre im
Hinblick auf die Rechtsstaatsgarantie und das Sozial-
staatsprinzip sowie das Recht auf Eigentum zumindest
bedenklich gewesen. Möglicherweise hätten sich auch
Mehrbelastungen für die Sozialhilfeträger ergeben. Auf
jeden Fall wären hiermit Härten für die Betroffenen ver-
bunden gewesen, die so vermieden werden. Es erscheint
mir wirklich nicht zumutbar, Menschen, die vielleicht
schon in ihrem achten oder neunten Lebensjahrzehnt ste-
hen, auf die Möglichkeit zu verweisen, Sozialhilfe in
Anspruch zu nehmen. Die Mehrbelastungen für den
Bundeshaushalt, die sich aus der Weitergewährung der
Rentenzusatzleistungen über das Jahr 2009 hinaus erge-
ben, halten sich zudem in vertretbaren Grenzen. Das
Ziel, den Haushalt zu konsolidieren, wird hierdurch
nicht gefährdet.
Ebenfalls zu begrüßen ist die Unterstützung der Zi-
vilinternierten und -deportierten aus den ehemaligen
deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße, wie
sie ebenfalls Gegenstand des Änderungsantrags der Ko-
alitionsfraktionen ist. Damit wird nunmehr endlich ein
Versprechen aus dem Koalitionsvertrag eingelöst und
eine bislang „vergessene“ Opfergruppe in den Kreis der
Anspruchsberechtigten einbezogen. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion hat sich hierfür stets eingesetzt, zuletzt im
Zusammenhang mit der Beratung des 3. SED-Unrechts-
bereinigungsgesetzes. Ob die hierfür vorgesehenen Mit-
tel ausreichen werden, bleibt abzuwarten. Die FDP-Bun-
destagsfraktion wird dies sehr genau im Auge behalten.
Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen sieht
darüber hinaus eine Einmalleistung für Kriegsgefangene
und Geltungskriegsgefangene vor, die nach ihrer Gefan-
genschaft in die Sowjetische Besatzungszone, SBZ, bzw.
Deutsche Demokratische Republik, DDR, heimkehrten.
Die FDP-Bundestagsfraktion sieht hierin ein überfälliges
Symbol der Anerkennung und eine Geste der Wiedergut-
machung gegenüber ostdeutschen Heimkehrern. Zu kri-
tisieren ist allerdings, dass Mittel hierfür erst im Haus-
haltsjahr 2009 zur Verfügung gestellt werden sollen.
Diese Kritik mag man als kleinlich abtun. Für uns ist sie
das nicht. Im Hinblick auf das weit fortgeschrittene Alter
der noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen hätte
man sich hier eine großzügigere Lösung gewünscht.
Unsere weitere Kritik gilt dem Ablauf des Gesetzge-
bungsverfahrens. Der eigentliche Beratungs- und Ab-
stimmungsgegenstand ergibt sich nicht aus dem Gesetz-
entwurf der Bundesregierung vom 27. Juni 2007,
sondern aus dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktio-
nen vom 1. November 2007. Offensichtlich haben CDU/
CSU und SPD so lange gebraucht, um sich auf eine halb-
wegs vertretbare Lösung zu verständigen. Wofür die
Koalition vier Monate braucht, soll die Opposition dann
in vier Tagen nachvollziehen. Ordnungsgemäße Gesetz-
gebung sieht anders aus.
Noch schlechter als den Oppositionsfraktionen ergeht
es den Beschäftigten der Heimkehrerstiftung. Diese wer-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12927
(A) (C)
(B) (D)
den bis zum heutigen Tage darüber im Unklaren gelas-
sen, wo sie ab dem 1. Januar 2008 ihren Dienst versehen
dürfen. Im Gesetzentwurf heißt es lapidar: „Das Stif-
tungspersonal soll vom Bund übernommen werden.“
Was dies genau heißt, konnte die Bundesregierung auch
auf meine Nachfrage hin nicht mitteilen. In ihrer Ant-
wort auf eine schriftliche Frage vom 23. Oktober 2007
heißt es sogar, die „Absichtserklärung einer Personal-
übernahme entbinde die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter der Heimkehrerstiftung nicht davon, sich bereits jetzt
und auch in Zukunft zusätzlich selbst aktiv um eine
berufliche Tätigkeit innerhalb und außerhalb des öffent-
lichen Dienstes zu bemühen“. Eine Informations-
veranstaltung über die künftigen Beschäftigungsmög-
lichkeiten werde voraussichtlich im Dezember 2007
durchgeführt werden. So sollte man mit Beschäftigten
nicht umgehen. Ein Dienstherr, der sich so verhält, wird
seiner Fürsorgepflicht nicht gerecht und setzt die Moti-
vation seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leichtfer-
tig aufs Spiel. Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert
dies nachdrücklich und fordert die Bundesregierung auf,
nunmehr endlich Klarheit zu schaffen und das Verspre-
chen, das Personal zu übernehmen, unverzüglich einzu-
lösen.
Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass die FDP-Bun-
destagsfraktion dem Gesetzentwurf unter diesen Um-
ständen nicht zustimmen kann, sondern sich der Stimme
enthalten wird.
Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Wir entscheiden
heute über das „Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetz“.
Ich merke erneut an: Kein zweiter Berufstand vermag
solche Wortungetüme zu schöpfen wie die Gesetzes-
schreiber im Bundestag. Deshalb für Normalbürger: Es
gibt seit 1969 eine Bundesstiftung, die sich um Kriegs-
heimkehrer kümmert. Sie hat nunmehr ihren Sinn erfüllt.
Deshalb kann und soll sie ihre Arbeit Ende 2007 einstel-
len. Das muss der Bundestag beschließen und zwar per
Gesetz. Die Linke stimmt dem zu.
Zweitens. Bleibt die Frage: Was wird mit den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung? Bisher hat die
Bundesregierung stets geantwortet, das könne sie erst
entscheiden, wenn die Schließung der Stiftung beschlos-
sen sei. Das wird in wenigen Minuten geschehen. Und
deshalb hat die Linke einen weiteren Antrag gestellt. Wir
wollen, dass der Bundestag die Bundesregierung auffor-
dert, das Stiftungspersonal im Raum Bonn und Umge-
bung in Bundesbehörden zu übernehmen. Denn es reicht
nicht, dem Stiftungspersonal zu danken. Man muss ihm
auch eine Zukunft eröffnen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die heute beschlossene Reform der Heimkehrerstiftung
ist eine gute Entscheidung; denn diese Reform findet den
Mittelweg zwischen der Fortsetzung einer wichtigen
und richtigen Arbeit und dem schrittweisen Abbau ei-
ner in dieser Form mittelfristig nicht mehr benötigten
Behörde.
Es muss aber auch gesagt werden, dass der ursprüng-
lich von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf die-
sen Ansprüchen nicht genügt hat. Er sah die Abwicklung
der Stiftung und die Einstellung der Leistungen zum Jah-
resende 2009 vor. Damit hätten die ehemaligen Kriegs-
gefangenen und ihre Hinterbliebenen nicht mehr auf die
finanzielle Unterstützung durch die Stiftung zählen kön-
nen. Häufig finanziell sehr schlecht gestellten Menschen
wäre eine in absoluten Zahlen zwar nicht besonders
hohe, für sie aber individuell sehr wichtige Unterstüt-
zung verloren gegangen. Neben dieser finanziellen Ein-
buße hätten sicher nicht wenige Betroffene auch den
Eindruck gehabt, dass ihnen eine Anerkennung nicht nur
nicht gewährt, sondern ausdrücklich wieder entzogen
wird.
Warum die Große Koalition zwei Anläufe gebraucht
hat, um diese offensichtlichen Probleme zu erkennen,
bleibt ihr Geheimnis. Es bleibt auch ihr Geheimnis, wa-
rum sie zum Bürokratieabbau und zur Haushaltskonsoli-
dierung ausgerechnet auf die Heimkehrerstiftung verfal-
len ist. Der Bund hat der Stiftung für die Gewährung von
Leistungen zuletzt jährlich circa 2 Millionen Euro für
einmalige Zahlungen zur Unterstützung in Notfällen und
weitere circa 4 Millionen Euro für Rentenzusatzleistun-
gen zur Verfügung gestellt. Rechnet man noch die circa
1 Million Euro für Verwaltungskosten hinzu, ergibt sich
ein jährlicher Aufwand von 7 Millionen Euro. Das ist
nicht wenig Geld, und der Anteil der Verwaltungskosten
ist sicher zu hoch. Setzt man diese 7 Millionen Euro mit
dem Gesamthaushalt des Bundes in Relation, handelt es
sich um einen Anteil von weniger als 0,03 Promille.
Dann stellt sich schon die Frage, ob dies die richtige
Stelle zum Sparen ist, zumal es sich bei den Empfängern
ja zumeist um sehr alte Menschen handelt, die ihre Ren-
tenzusatzleistungen nur noch für wenige Jahre erhalten
werden. In ihrer Rechnung im Änderungsantrag gehen
die Koalitionsfraktionen auch davon aus, dass bis 2015
für die Rentenzusatzleistungen nur noch Kosten von
circa 13 Millionen Euro anfallen werden, pro Jahr also
durchschnittlich gerade einmal 1,6 Millionen Euro. Des-
halb war es der falsche Ansatz, gerade hier den Rotstift
anzusetzen und die Stiftung und die Zahlungen schon bis
2010 abwickeln zu wollen. Da dieser Mangel aber nun
korrigiert ist, werden Bündnis 90/Die Grünen dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zustimmen.
Vier wichtige Punkte seien noch kurz angesprochen:
Zum einen ist es gut, dass mit dem Heimkehrerentschä-
digungsgesetz eine gut handhabbare Regelung für die
Menschen gefunden wurde, die bisher nicht von den
Leistungen der Heimkehrerstiftung profitieren konnten.
Zweitens freut es mich, dass auch für die Leistungen
nach dem Häftlingshilfegesetz erhöhte Finanzzuweisun-
gen vorgesehen sind. Es ist drittens zu begrüßen, dass
die Stiftung als solche schon vor dem Ende ihrer Auf-
gabe aufgelöst wird und ihre Aufgaben dem Bundesver-
waltungsamt übertragen werden; denn es ist ja absehbar,
dass der Verwaltungsaufwand spürbar zurückgehen und
in den nächsten Jahren immer weiter abnehmen wird.
Die Übertragung der Aufgaben erlaubt es, das Personal
der Stiftung zunächst mit der gleichen Aufgabe unter
dem Dach des Bundesverwaltungsamtes zu betrauen, um
dann nach und nach neue Aufgaben zu finden.
12928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Das bringt mich zum letzten, aber nicht unwichtigsten
Punkt. In ihrem Gesetzentwurf erklärt die Bundesregie-
rung ihre Absicht, die Angestellten der Stiftung weiter
zu beschäftigen. Das ist auch nur recht und billig. Diese
Menschen haben ihre Aufgabe über Jahre gewissenhaft
erfüllt, und es sollte ihnen nun nicht zum Nachteil gerei-
chen, dass sie bei einer Stiftung mit nur einer Aufgabe
und nicht bei einer Behörde mit einem breiteren Spek-
trum an Zuständigkeiten gearbeitet haben. Aber natür-
lich gilt auch für sie, dass sie sich nach dem absehbaren
Wegfall ihres jetzigen Arbeitsfeldes neuen Aufgaben in
der Bundesverwaltung zuwenden. Ihnen diese Möglich-
keit nicht zu geben, hieße, ihre bisherige Leistung nicht
anzuerkennen.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Die Erweiterungs- und Nachbar-
schaftspolitik der Europäischen Union weiter
entwickeln (Tagesordnungspunkt 24)
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Als Folge der letz-
ten Erweiterungsrunde 2004/2007 grenzt die Europäi-
sche Union heute an mehr Nachbarn und Großräume als
je zuvor in ihrer Geschichte. Wir reden hier heute insbe-
sondere über unsere Nachbarn im Süden und im Osten
der EU. Beide Gruppen verfügen zum heutigen Zeit-
punkt über keine EU-Beitrittsperspektive, lediglich die
Nachbarn im Osten haben die sehr vage Perspektive ge-
mäß Art. 49 EU-Vertrag, wonach die Union allen euro-
päischen Staaten offen steht, die die Aufnahmekriterien
erfüllen. Doch ob Beitrittsperspektive oder nicht: Diese
Nachbarn existieren, und die EU braucht eine überzeu-
gende Strategie für den Umgang mit ihren Nachbarn.
Deshalb brauchen wir die Europäische Nachbarschafts-
politik, ENP.
Die ENP wurde 2003 von der Europäischen Kommis-
sion ins Leben gerufen, um sowohl der Union wie auch
ihren unmittelbaren Nachbarstaaten die Möglichkeit für
den Ausbau ihrer politischen, ökonomischen wie auch
kulturellen Beziehungen zu bieten.
Ihr ausdrückliches Ziel ist es, in einem vereinigten
Europa die Entstehung neuer Trennlinien zu verhindern
und einen gemeinsamen Raum des Wohlstands, des Frie-
dens und der Stabilität zu schaffen. Die Nachbarschafts-
politik ist ein klarer Ausdruck des politischen Willens
der Union, auf der Grundlage gemeinsamer Werte die
Partnerstaaten wesentlich auf ihrem Weg zu nachhalti-
gen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen
Reformen zu stärken und zu unterstützen.
Diese Reformpartnerschaft gründet wesentlich auf ei-
nen verstärkten politischen Dialog zwischen den Part-
nern, technische und finanzielle Aufbauhilfen im Rah-
men des Europäischen Nachbarschafts- und
Partnerschaftsinstrumentes, ENPI, und eine verstärkte
bilaterale wie regionale Kooperation in den Bereichen
Handel, Energie, Sicherheit und Umwelt. Die politische
und wirtschaftliche Kooperation wird begleitet durch
eine dritte Dimension, die menschliche Dimension. Bila-
terale und regionale Austauschprogramme im wissen-
schaftlichen und kulturellen Bereich sowie die Förde-
rung des Kontaktes zwischen den Bürgern der Union
und der Nachbarstaaten bzw. -regionen sollen die gegen-
seitigen Kenntnisse bereichern und so das Verständnis
und die Toleranz gegenüber anderen Kulturen stärken.
Dies ist besonders wichtig im Zusammenhang der ge-
waltsamen Konflikte in den Nachbarregionen, deren Lö-
sung ein wichtiges Anliegen der Union ist.
Mir ist bewusst, dass viele unter Ihnen die Logik einer
Politik infrage stellen, die für sich beansprucht, Länder
und Regionen mit so unterschiedlichen geschichtlichen
Erfahrungen, Gesellschaften und Traditionen in einem
gemeinsamen Ansatz zu verbinden. Auch wurde die Be-
deutung der Nachbarschaftspolitik im Hinblick auf eine
Beitrittsperspektive schon oft diskutiert. Aber diese Ein-
lasse verkennen einen wichtigen Punkt: Die Zusammen-
führung der vormals isolierten Politiken gegenüber den
Staaten der südlichen und östlichen Nachbarregion in ei-
nem kohärenten und integrativen Konzept ist eine essen-
zielle Voraussetzung für die Lösung der Herausforderun-
gen, denen wir heute gegenüberstehen.
Herausforderungen wie die Bekämpfung von organi-
sierter Kriminalität in den Bereichen Geldwäsche, Men-
schen- und Drogenhandel, die Eindämmung der kata-
strophalen Folgen illegaler Migration und schließlich
auch der Kampf gegen die Bedrohung durch fundamen-
talistische Terrororganisationen – mögen sie religiös
oder politisch motiviert sein – können nur durch eine
verstärkte regionale Kooperation und den konsistenten
Einsatz von Mitteln und Ressourcen der EU wie der Mit-
gliedstaaten bewältigt werden. Die ENP bietet eben die
Möglichkeit für eine gemeinschaftliche Politik, die so-
wohl die Interessen der EU sowie ihrer Mitgliedstaaten
vertritt, aber Antwort auf die politischen, ökonomischen
und gesellschaftlichen Herausforderungen gibt.
Deshalb ist es unerlässlich, daß die ENP ein eigen-
ständiger Politikansatz bleibt, der konzeptionell unab-
hängig von der Erweiterungspolitik wie auch der klassi-
schen Entwicklungspolitik der Union ist. Die
Nachbarschaftspolitik ist weder ein Ersatz für die Erwei-
terung, eine Art Abstellgleis für unerwünschte oder ge-
scheiterte Mitgliedskandidaten, noch darf sie als Vor-
stufe zur Aufnahme in die nächste Erweiterungsrunde
verstanden werden.
Auch wenn eine Mitgliedschaft für alle heutigen Part-
ner der ENP kurz- und mittelfristig ausgeschlossen ist,
so bleibt die Differenzierung der Partnerstaaten in
„Nachbarn Europas“ in Bezug auf die südliche Dimen-
sion und „Europäische Nachbarn“ in Bezug auf die östli-
che Dimension, wie Sie im Kommissionspapier von
2003 vorgenommen wurde, aus unserer Sicht bedeut-
sam. Die Mitgliedsperspektive darf jedoch nicht als Au-
tomatismus begriffen werden. Im Gegenteil, sie ist ab-
hängig von den Reformfortschritten des jeweiligen
Landes und dem glaubwürdigen politischen Willen, die
wirtschaftlichen und politischen Kriterien des Gipfels
von Kopenhagen zu verwirklichen. Will sie auch in Zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12929
(A) (C)
(B) (D)
kunft erfolgreich sein, muss das Prinzip der Differenzie-
rung ein wichtiges Element der ENP bleiben. Hier gilt
das Prinzip des Tüchtigen, Reformfortschritte sollen mit
einem deutlichen Mehr an europäischem Engagement
belohnt, Reformverzögerungen und Verletzungen der
essenziellen Prinzipien der Partnerschaft soll mit geeig-
neten Maßnahmen begegnet werden. Die ENP muss da-
her mit Blick auf die Partnerstaaten differenzieren. Diese
Differenzierung ist auch bedeutend im Hinblick auf die
Bedürfnisse und Möglichkeiten der Partnerstaaten. Ins-
besondere wir als Europäische Union, eine politische
Union, die aus der Vielfalt 27 unterschiedlicher Staaten
zusammengesetzt ist, darf die Verschiedenheit unserer
ENP-Partner nicht ignorieren.
Die ENP muss eine bilaterale Kooperationspartner-
schaft ermöglichen, die den beiderseitigen Anforderun-
gen und Bedürfnissen gerecht wird. Nichtsdestotrotz
muss es eine Differenzierung innerhalb eines kohärenten
Politikkonzeptes sein. Nicht nur die Annäherung des je-
weiligen Partnerstaates an die Union, sondern auch die
Förderung der regionalen Zusammenarbeit, ja wo mög-
lich der regionalen Integration innerhalb der Partnerregi-
onen, ist ein wichtiges Ziel der ENP. Aus diesem Grund
plädieren wir für einen stärkeren Ausbau der regionalen
Komponenten der Europäischen Nachbarschaftspolitik,
vor allem bezüglich der beiden regionalen Großräume
Schwarzmeerregion und Mittelmeeranrainer, Stich-
wort „Schwarzmeersynergie“ und der sogenannte Bar-
celona-Prozess. In diesem Sinne sieht die FDP übrigens
in der von Präsident Sarkozy angemahnten neuen Mit-
telmeerpartnerschaft durchaus positive und konstruk-
tive Zeichen. Die Kooperation innerhalb wie auch
zwischen diesen beiden Sparten einer regional ausdif-
ferenzierten und maßgeschneiderten ENP ist nach Mei-
nung der FDP essenziell für die Fortentwicklung und
den Erfolg der ENP.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts:
– zu der Verordnung der Bundesregierung:
Fünfte Verordnung zur Änderung der Ver-
packungsverordnung
– zu dem Antrag: Verpackungsverordnung
sachgerecht novellieren – Weichen stellen
für eine moderne Abfall- und Verpackungs-
wirtschaft in Deutschland
– zu dem Antrag: Weg vom Öl im Kunststoff-
bereich – Chance der Novelle der Verpa-
ckungsverordnung nutzen und mit Bio-
kunststoffen echte Kreisläufe schließen
(Tagesordnungspunkt 26)
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Linke be-
grüßt, dass die Novelle der Verpackungsverordnung
mehr Gerechtigkeit schafften will. Künftig müssen sich
nun alle Inverkehrbringer von Verpackungen an der
Finanzierung der Sammlung und Verwertung ihrer Ver-
packungen beteiligen. Die Trittbrettfahrerei über das
Schlupfloch der sogenannten Selbstentsorger ist dann
hoffentlich Geschichte. Zu begrüßen ist auch die Strei-
chung der Ausnahme von der Pfandpflicht für Verpa-
ckungen diätetischer Getränke. Sie wurde vielfach mit
fantasievoller Namensgebung missbraucht. Hier hört das
Lob aber auch auf, denn die Novelle hat zwei gravie-
rende Schwächen:
Zum einen dürfen stoffgleiche Nichtverpackungen
auch mit dieser Novelle nicht in den gelben Sack. Aber
Kunststoffgieskannen oder Quietscheentchen wären
vielleicht besser zu recyceln als verklebte Yoghurt-
becher. Darum tritt die Linke dafür ein, die Produktver-
antwortung der Verpackungsverordnung auf stoffglei-
che Nichtverpackungen auszudehnen. Umweltminister
Gabriel hat eine solche Erweiterung ja angekündigt. Wir
fragen uns, warum sie nicht Bestandteil der neuen Ver-
ordnung ist.
Zum anderen hat die Novelle für das gegenwärtig
größte Problem – zumindest aus umweltpolitischer Sicht –
überhaupt keine Lösung: Trotz des Pflichtpfandes für
Einwegflaschen und -dosen sinkt die Mehrwegquote un-
aufhörlich. Nur noch 31 Prozent der alkoholfreien Ge-
tränke werden in wiederbefüllbaren Verpackungen ver-
kauft. In den 90er-Jahren waren es über 70 Prozent. Wir
denken, dass eine zusätzliche Einwegabgabe die Händler
vom ökologischen Vorteil der Mehrwegverpackungen
überzeugen könnte.
Noch ein Wort zu Wirtschaftsminister Michael Glos,
der ja das Duale System mittelfristig abschaffen will und
dafür alternativ eine gemeinsame Entsorgung aller
Haushaltsabfälle einführen möchte. Die Anhörung des
Umweltausschusses hat noch einmal klar gemacht, dass
die haushaltsnahe Trennung der Abfallfraktionen gegen-
wärtig noch die beste und preiswerteste Art ist, um zu
qualitativ hochwertigen Abfallfraktionen zu kommen.
Und nur Sekundärrohstoffe in solch hohen Qualitäten
lassen sich auch in der Industrie sinnvoll einsetzen. Zwar
gibt es inzwischen auch Technik, die Gemischtabfall
trennen kann. Diese ist aber noch nicht ausgereift und
teuer. Großtechnisch für die gesamte Siedlungsabfall-
wirtschaft ist sie noch nicht einsetzbar. Sie rechnet sich
wohl nur, wenn ein Großteil der wertvollen Sekundär-
rohstoffe in Verbrennungsöfen landet. Genau dies ist ja
das Ziel von Minister Glos. Das lehnen wir natürlich ab.
Aus Sicht des Ressourcen- und Klimaschutzes muss
an erster Stelle ohnehin die Abfallvermeidung treten.
Aus diesem Blickwinkel birgt die Gemischttonne die
Gefahr, dass sich die Gesellschaft vorgaukelt, Abfall sei
kein Problem mehr.
Die FDP wiederum will mit dem in ihrem Antrag vor-
geschlagenen Zertifikatesystem mehr Markt und Flexibi-
lität. Grundsätzlich könnte ein Zertifikatesystem viel-
leicht tatsächlich zu besseren Verwertungsqualitäten und
weniger Bürokratie beitragen. Schließlich würde der
Staat die Zertifikate direkt für eine nachgewiesene Ver-
wertung an die Recycling- und Verwertungsbetriebe aus-
geben. Das könnte die zunehmende Intransparenz beim
12930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Verwertungsnachweis über die Kaskade von Verpflichte-
ten über Beauftragte hin zu Sub- und Sub-Sub-Unterneh-
men an dieser Stelle beenden. Dies wäre der Charme ei-
ner solchen Lösung. Allerdings will die FDP ja gar kein
hochwertiges Recycling. Denn auch für die simple Ver-
brennung soll es ja die wunderschönen Verwertungszer-
tifikate geben. Das ist dann auch der Grund für unsere
Ablehnung des Antrags, denn wir stehen für den Gedan-
ken einer Kreislaufwirtschaft.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung des Regionalisierungsgesetzes
– Entwurf eines Gesetzes zur effizienteren
Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs
(Regionalisierungsreformgesetz)
– Beschlussempfehlung und Bericht: Verwen-
dung der Regionalisierungsmittel offenlegen
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Eisenbahnkreuzungsgesetzes
(Tagesordnungspunkt 27 a bis d)
Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Die Konsolidierung
der öffentlichen Haushalte ist ein wesentliches Ziel in
dieser Legislaturperiode. Zu diesem Ziel steht die Große
Koalition.
Auf die Regionalisierungsmittel haben sich im Zu-
sammenhang mit dem Ziel der Haushaltskonsolidierung
Auswirkungen ergeben. Wir sind jetzt bemüht, die nöti-
gen Angleichungen vorzunehmen.
Die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung
der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im öffentlichen
Personennahverkehr ist eine Aufgabe der Daseinsvor-
sorge. Die Daseinsvorsorge und damit der Personennah-
verkehr gehören zu den Grundbedürfnissen der Men-
schen, auf die sie einen grundgesetzlich verankerten
Anspruch haben. Diesem Anspruch müssen wir als Ge-
setzgeber gerecht werden.
ÖPNV und SPNV sind die tragenden Säulen des öf-
fentlichen Verkehrssystems. Sie sichern gleiche Lebens-
verhältnisse von Stadt und ländlichem Raum und leisten
einen ebenso wichtigen Beitrag zum Umwelt- und Kli-
maschutz. Ohne einen effizienten ÖPNV bzw. SPNV
lassen sich die verkehrs- und umweltpolitischen Heraus-
forderungen der heutigen Zeit nicht bewältigen.
Das Regionalisierungsgesetz hat die Aufgaben für
den öffentlichen Personennahverkehr bzw. Schienenper-
sonennahverkehr auf die Bundesländer übertragen. Da-
durch müssen die Länder einer großen Verantwortung
nachkommen, die nicht einfach zu schultern ist und viele
Herausforderungen mit sich bringt.
Dass die Länder dieser Verantwortung verkehrs-,
wirtschafts- und umweltpolitisch durchaus gewachsen
sind, haben sie über die Jahre eindrucksvoll bewiesen.
Die Passagierzahlen haben sich deutlich erhöht, die Kos-
ten konnten durch zunehmenden Wettbewerb gesenkt
werden. Wir können stolz auf das sein, was sich im öf-
fentlichen Nahverkehr getan hat.
Um diese Erfolgsgeschichte auch weiterhin fortsetzen
zu können, steht es außer Frage, dass der Bund den
ÖPNV und damit die Ausübung der Verantwortung der
Länder für den SPNV mit einem hinreichenden Finanz-
beitrag auf hohem Niveau fördern muss. Diesem Um-
stand trägt das heute zur Beratung und Verabschiedung
stehende Gesetz Rechnung. Zugleich kommt die Große
Koalition damit ihrer im Koalitionsvertrag festgeschrie-
benen Verantwortung nach und hält Kurs auf ihr großes
Ziel.
Die Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfs
schaffen eine Grundlage dafür, dass die Länder finan-
ziell nun gut aufgestellt und ausreichend in der Lage
sind, den ÖPNV bzw. SPNV angemessen zu bestellen.
Für 2006 und 2007 bleibt es bei den nach dem Haus-
haltsbegleitgesetz vorgesehenen Regionalisierungsmit-
teln. Für die Jahre 2008 bis 2010 wird den Ländern für
die Absenkung der Regionalisierungsmittel eine Kom-
pensation von insgesamt 500 Millionen Euro auf gesetz-
licher Grundlage gegeben, die sie zur Aufrechterhaltung
der Bestellung von schienengebundenen Nahverkehren
einsetzen können. Um den Ländern auch in Zukunft In-
vestitionen in den Regionalverkehr zu ermöglichen, wird
ab 2009 eine Dynamisierungslinie für die Regionalisie-
rungsmittel vereinbart.
Im Jahr 2008 erhalten die Länder Regionalisierungs-
mittel in Höhe von 6 675,0 Millionen Euro aus dem Mi-
neralölsteueraufkommen des Bundes. Ab dem Jahr 2009
steigt dieser Betrag jährlich um 1,5 Prozent. Bis zum
Jahr 2014 erreicht er eine Höhe von 7 298,7 Millionen
Euro. Es ist erfreulich, dass es gelungen ist, die ur-
sprünglich im Koalitionsvertrag vorgesehene Einspa-
rungssumme von 3,1 Milliarden auf 1,8 Milliarden Euro
zu reduzieren.
Im Jahr 2014 ist eine erneute Überprüfung der Höhe
der Mittel und der Finanzierungsquelle mit Wirkung ab
dem Jahr 2015 vorgesehen.
Die Länder sollen jährlich die Verwendung der Mittel
jeweils nach gemeinsam vereinbarten Kriterien transpa-
rent darstellen. Wir brauchen diese vollständige Transpa-
renz, denn nur so lässt sich ein hoher und effizienter Mit-
teleinsatz politisch legitimieren.
Als Vertreter des ländlichen Raumes hat mich die
Thematik Regionalisierungsmittel in besonderem Maße
beschäftigt. Das erzielte Ergebnis halte ich für einen gu-
ten Kompromiss zwischen Bund und Ländern, sowohl
aus verkehrspolitischer als auch aus haushaltspolitischer
Sicht. Ich glaube auch, dass hier eine Lösung mit Per-
spektive für die Zukunft aufgebaut werden kann. Die
Länder erhalten Planungssicherheit und genügend Spiel-
raum, um mit den zusätzlichen Einnahmen aus der
Mehrwertsteuer bei der Förderung des öffentlichen Ver-
kehrs eigene Prioritäten zu setzen. Für den Bund leistet
das Ergebnis zugleich einen notwendigen Beitrag, das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12931
(A) (C)
(B) (D)
Ziel der Haushaltskonsolidierung weiter verfolgen zu
können. Dies war so beabsichtigt. Den Bundesländern
gebührt großer Dank, dass sie bereit waren, dies mitzu-
tragen.
Den mit dem Regionalisierungsgesetz eingeschlage-
nen erfolgreichen Weg wollen wir mit dem vorliegenden
Gesetz weiter gehen. Der Bund ist bereit, finanziell wei-
terhin einen hohen Beitrag zu leisten. Die Länder müs-
sen im Gegenzug für eine effiziente und transparente
Mittelverwendung sorgen und in ihren Haushalten Prio-
ritäten für den ÖPNV setzen. Sie haben dafür ausrei-
chend Spielraum.
Unser Ziel ist die Sicherstellung einer bedarfsgerech-
ten, zielgenauen und effizienten Finanzierung des öffent-
lichen Nahverkehrs. Mit dem vorliegenden Gesetz tra-
gen wir als Bund weiterhin zur Gewährleistung eines
attraktiven Nahverkehrsangebots bei.
Sören Bartol (SPD): Der Regionalverkehr ist unbe-
stritten das Zugpferd des öffentlichen Personenverkehrs.
Seine Bedeutung für die Erschließung der Fläche und als
Zubringer zu den Städten und Ballungszentren ist in den
letzten zehn Jahren deutlich gewachsen. Seit 1994 ist das
Gesamtangebot über 25 Prozent gestiegen, die Zahl der
beförderten Personen von 1,5 auf über 2 Milliarden. Der
Schienenpersonennahverkehr hat zudem seinen Modal-
Split-Anteil um 10 Prozent von 3,3 auf 3,7 Prozent aus-
bauen können.
Wenn man weiß, wie schwierig auch nur kleine Be-
wegungen des Modal Split zu erkämpfen sind, zeigen
diese Zahlen, dass das Regionalisierungsgesetz ein Er-
folgsmodell ist. Der Bund hat eine über die Jahre solide
finanzielle Basis geschaffen. Sie ist die Grundlage für
die verbesserte Angebotsqualität im SPNV. In den gut
zehn Jahren seit Inkrafttreten des Regionalisierungsge-
setzes haben die Länder über 77 Milliarden Euro für den
Regionalverkehr erhalten. Allein in den drei Jahren bis
2010 werden es weitere 21 Milliarden Euro sein.
Heute wollen wir ein Gesetz beschließen, das diese
Finanzierungsbasis auch für die Zukunft sichert. Es ist
die Umsetzung der Zusagen, die die Bundesregierung
den Ländern bei der Verabschiedung des Haushaltsbe-
gleitgesetzes 2006 gegeben hat.
Rückblickend möchte ich noch einmal betonen: Wir
Verkehrspolitiker waren über die Kürzungen bei den
Regionalisierungsmitteln nicht glücklich. Wir waren
froh, dass es uns gelungen ist, im Laufe des parlamen-
tarischen Verfahrens deutliche Verbesserungen zu er-
zielen: Die ursprünglich zur Haushaltskonsolidierung
geforderte Summe von rund 3,1 Milliarden konnte auf
2,3 Milliarden Euro reduziert werden. Mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf erhalten die Länder nun die zu-
sätzlich vereinbarte Kompensation.
Erstens. Die Kürzungen werden um eine halbe Mil-
liarde verringert. Zweitens. Die Regionalisierungsmittel
werden ab 2008 wieder dynamisiert. Sie wachsen jähr-
lich um 1,5 Prozent. Die Länder bekommen damit eine
solide Planungsgrundlage für die nächsten sieben Jahre.
Im Gegenzug fordern wir von ihnen mehr Transparenz
bei der Mittelverwendung.
Ich sage ganz klar: Die einmalige Information der
Länder über die Mittelverwendung reicht uns nicht aus.
Mehr Transparenz ist im Interesse von Bund und Län-
dern, denn sie hilft uns, den Verdacht zu widerlegen,
dass nicht alle Mittel zielgerichtet eingesetzt werden.
Mehr Transparenz erleichtert es uns in Zukunft, andere
fiskalpolitische Begehrlichkeiten abzuwehren.
Wir wollen mehr Transparenz, lassen aber den Län-
dern die Möglichkeit, die Kriterien selbst festzulegen. So
wie die Grünen es in ihrem Antrag vorschlagen, geht es
nicht. Eine jährliche Rechtsverordnung über die Krite-
rien führt zu Endlosdiskussionen. Ihr Antrag schießt
über das Ziel hinaus: Eine engere Zweckbindung, mehr
Kontrolle und Sanktionen sind auf den ersten Blick sinn-
volle Instrumente, um den effizienten Mitteleinsatz zu
gewährleisten. Sie berücksichtigen aber nicht die finanz-
verfassungsrechtlichen Grundlagen: Grundgesetzartikel
106 a begründet eine Zahlungspflicht des Bundes. Die
Länder aber sind für die bestimmungsgemäße Verwen-
dung der Mittel verantwortlich. Wenn wir mehr Transpa-
renz wollen, dann geht das nur mit ihnen.
Ich halte nichts davon, den Revisionszeitpunkt – wie
es der Bundesrat will – auf 2019 zu verschieben. Die von
der Bundesregierung vorgesehenen sieben Jahre bis zur
Überprüfung geben einerseits genügend Planungssicher-
heit auch für Investitionen, andererseits die Möglichkeit,
auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Die sollten wir
uns nicht nehmen lassen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage
dafür, den Regionalverkehr in den nächsten Jahren weiter
zu stärken. Wenn die Länder argumentieren, dass ange-
sichts steigender Trassenentgelte 1,5 Prozent Aufwuchs
im Jahr zu wenig sind, dann ist das nur die halbe Wahr-
heit, denn die Trassenentgelte machen nur 40 Prozent der
Bestellentgelte aus. Die Erfahrungen zeigen zudem, dass
die Länder reichlich Potenzial haben, die Regionalisie-
rungsmittel noch zielgerichteter und effizienter einzuset-
zen. Inzwischen werden 20 Prozent der bestellten Leitun-
gen im Wettbewerb vergeben, in einzelnen Ländern wie
NRW sogar 50 Prozent. Zwar dominiert immer noch deut-
lich die DB AG, aber auch sie muss mehr Effizienz und
Qualität bringen. Unser ist Ziel eine bedarfsgerechte, aber
auch zielgenaue und effiziente Finanzierung des SPNV.
Der Bund ist weiterhin bereit, einen hohen Finanzbeitrag
zu leisten. Die Länder müssen im Gegenzug für eine effi-
ziente und transparente Verwendung der Mittel sorgen.
Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung für den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung.
Patrick Döring (FDP): Zuerst einmal möchte ich an
dieser Stelle – zum wiederholten Male – mein Bedauern
darüber ausdrücken, dass die Koalitionsfraktionen wich-
tigste politische Themen im Parlament mit Vorliebe bei
Nacht und Nebel verhandeln. Man tut dem Parlament
und der Demokratie einen Tort an, wenn politische und
gesellschaftliche Fragen nicht mehr lebendig ausdisku-
tiert, sondern nur noch als nächtliche Papierschlacht aus-
gefochten werden. Im vorliegenden Fall verstehe ich es
12932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
noch viel weniger, weil die Kolleginnen und Kollegen
der Regierungsfraktionen noch nicht einmal wirklich et-
was richtig falsch gemacht haben. Im Gegensatz zu frü-
heren Debatten kann ich ihnen daher nicht einmal vor-
werfen, dass sie wie in so vielen anderen Fällen bloß
schnell irgendeine Gesetzesschimäre nach Beginn der
Sperrstunde um die Ecke bringen wollten.
Umso mehr verrät dieses Verhalten aber in meinen
Augen über die fehlende Wertschätzung in ihren Reihen
für dieses Hohe Haus. Wir bringen hier und heute, ver-
teilt auf sieben Jahre, 48,881 Milliarden Euro unter die
Leute – oder besser gesagt: unter die Länder. Lauschen
Sie noch einmal dem Klang meiner Worte: Achtund-
vierzigmilliardenundachthunderteinundachtzigmillionen
Euro! Nach der plötzlichen und unerwarteten Kürzung
im letzten Jahr stocken Sie die Mittel in den nächsten
Jahren um 1,5 Prozent per anno auf. Die Länder haben
sich hier durchgesetzt, auch weil Bundesminister Tiefen-
see die vorherigen Vereinbarungen mit den Ländern für
den Haushalt 2006 und 2007 gebrochen hat. Die Regio-
nalisierungsmittel steigen von 6,675 Milliar-den im
kommenden Jahr auf 7,3 Milliarden Euro im Jahr 2014.
Ich finde, über solche Summen hätte man auch zu einer
sonnigeren Zeit reden dürfen und an sich auch reden
müssen. Es geht hier schließlich nicht um irgendwelche
Peanuts, zumindest sofern Sie sich nicht die Einstellung
des Herrn Kopper, seligen Angedenkens, zu eigen ge-
macht haben sollten.
Es wäre daher in meinen Augen durchaus angebracht,
an dieser Stelle einmal darüber zu diskutieren, ob und
wie diese Mittel effizient eingesetzt werden. Es ist
schließlich ein offenes Geheimnis, dass nicht jedes Land
diese Gelder so einsetzt, wie es der Wunsch des Bundes
wäre. Immerhin haben Sie deshalb bereits eine kleine
Klausel in das Gesetz geschrieben, dass die Länder über
die Mittelverwendung Bericht erstatten sollen. Ob dies
den gewünschten Effekt erbringt, bleibt abzuwarten.
Leider haben die Bundesregierung und Minister
Tiefensee, wie auch schon bei den Verhandlungen zur
ÖPNV-Richtlinie auf europäischer Ebene, aber wieder
einmal die Gelegenheit verstreichen lassen, für mehr
Wettbewerb im Nahverkehr zu sorgen. Aufträge aus Re-
gionalisierungsmitteln werden auch in Zukunft nicht ei-
nem Ausschreibungszwang unterworfen. Die meisten
Länder werden also weitermachen wie bisher. Das heißt:
Die weit überwiegende Zahl der Aufträge wird per In-
house-Vergabe an die DB Regio AG gehen. Die Konkur-
renz erhält gar nicht erst Gelegenheit, bessere und billi-
gere Angebote vorzulegen. Damit vergibt sich die Poli-
tik ein wichtiges Instrument, um mehr Wettbewerb und
damit auch mehr Service und Angebot zu schaffen. Da-
bei sieht man zum Beispiel in Niedersachsen und Schles-
wig-Holstein, die in den letzten Jahren verstärkt ausge-
schrieben haben, wie positiv sich dies auf die
Angebotssituation im SPNV auswirkt. Stattdessen wer-
den die Regionalisierungsmittel auch in Zukunft in erster
Linie zu einer Daueralimentation für die Deutsche Bahn.
Offenbar haben die fortlaufenden Preiserhöhungen
durch die DB im Nahverkehr bei der Mehrheit noch im-
mer keinen Lerneffekt ausgelöst: Wir brauchen mehr
Wettbewerb! Nur so können wir die Preise senken und
erhöhen die Effizienz. Ohne Veränderung der in weiten
Teilen immer noch bestehenden Monopolstrukturen wird
die DB die sicheren Einkünfte aus dem SPNV weiterhin
nutzen, um die Expansion in anderen Geschäftsfeldern
voranzutreiben. Das nützt vielleicht der DB, aber nicht
dem Nahverkehr. Nicht ohne Grund hat die DB Regio
bisher kaum eine Ausschreibung gewonnen.
Es kann also noch einiges verbessert werden. Das soll
uns aber nicht vergessen lassen, dass die Geschichte des
Regionalisierungsgesetzes, seitdem es 1994 von der da-
maligen schwarz-gelben Mehrheit durch- und umgesetzt
wurde, in weiten Teilen eine große Erfolgsgeschichte ge-
wesen ist. Die Anbindung vieler Regionen konnte nach-
haltig verbessert werden. Service, Takt und Komfort
wurden erheblich gesteigert. Durch die Regionalisierung
wurden verkrustete Strukturen aufgebrochen und der
Wettbewerb überhaupt ermöglicht. Strecken, die von der
Deutschen Bahn de facto schon lange aufgegeben wor-
den waren, sind heute wieder zu Verkehrswegen für
ganze Regionen geworden. Man sehe sich dazu nur zum
Beispiel die Geschichte der Nord-West-Bahn an. Noch
vor einigen Jahren verkehrten auf diesen Trassen täglich
höchstens drei oder vier Züge. An Sonn- oder Feiertagen
bekam man von der Bahnauskunft auch schon einmal zu
hören, man solle sich doch einen anderen Tag für die
Anreise aussuchen. Heute hingegen verkehren die Bah-
nen im Stundentakt, die Bahnhöfe und Waggons sind in
einem ansprechenden Zustand, und die Züge sind voll.
Jede einzelne dieser Entwicklungen hätte mancher in
diesem Haus – vor allem vermutlich in den Reihen der
mehrheitlich hier anwesenden Marktskeptiker – wohl für
unmöglich gehalten.
Gerade diese bisherige Erfolgsgeschichte lehrt uns
aber, wie wichtig der Wettbewerb für eine Verbesserung
der Nahverkehrssituation ist. Es gilt auch hier: Konkur-
renz belebt das Geschäft. Das sieht man übrigens auch
bei der Deutschen Bahn. Denn – um an dieser Stelle dem
Eindruck vorzubeugen, ich hielte dieses Unternehmen
von vornherein für die institutionalisierte Ineffizienz –
auch die DB verhält sich nur rational. Wo man von dem
Konzern keine Anstrengungen verlangt, um einen Auf-
trag zu erhalten, da wird er auch keine unternehmen. In
anderen Geschäftsfeldern hat die DB sich hingegen
durchaus als flexibel und wettbewerbsfähig präsentiert.
Dieses Verhalten ist keineswegs Bösartigkeit der DB. Es
ist vollkommen ökonomisch und vernünftig, nicht mehr
zu tun, als von einem verlangt wird. Irrational und un-
vernünftig handelt nur die Politik, wenn sie keine Aus-
schreibungen vornimmt und dadurch alle Unternehmen
zu Höchstleistungen anspornt.
Von daher bleibt mir an dieser Stelle abschließend nur
zu sagen: Gerne unterstützt die FDP-Fraktion das von
der Regierung vorgelegte Regionalisierungsgesetz. Für
die Zukunft sehe ich allerdings weiterhin Verbesserungs-
bedarf. Aus den bisherigen Erfolgen sollten wir lernen
und diese Lehren auch im politischen Handeln beherzi-
gen.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Mit dem Haushalts-
begleitgesetz zum Haushaltsplan 2007 hatte die Bundesre-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12933
(A) (C)
(B) (D)
gierung die Gelder für Bahn und Bus drastisch gekappt –
so sehr, dass die Schmerzgrenze durchbrochen worden
war. Die Linke hatte daraufhin die enormen Auswirkun-
gen dieser Kappung öffentlich gemacht. Aufgrund des
entstandenen öffentlichen Drucks erklärte sich die Bun-
desregierung wenn auch spät bereit, die Kürzung der
Gelder mindern zu wollen.
Was nun dabei herauskam, ist eine Reduzierung der
Kürzung um immerhin knapp 500 Millionen Euro. Das
begrüßen wir. Zu kritisieren bleibt jedoch, dass der
500-Millionen-Euro-Nachschlag bis 2011 gestreckt
wird. Die Rückkehr zur jährlichen Steigerung um
1,5 Prozent sowie die zuletzt eingearbeitete Änderung in
§ 6 Abs. 2, die Geldverwendung nach gemeinsamen Kri-
terien der Länder darzustellen, ist ebenfalls zu begrüßen.
Leider ist es nicht gelungen, wie von uns in den Aus-
schussberatungen beantragt, die jährliche Dynamisie-
rung an steigende Verkehrsleistungen im Verhältnis zu
vorangegangenen Jahren zu binden. Dies hätte nach
Auffassung meiner Fraktion stärkere Anreize für attrak-
tive Tarifangebote geschaffen. Und es schwebt das Da-
moklesschwert der Bahnprivatisierung nach wie vor
über diesem Gesetz. Steigt privates Kapital bei der Deut-
schen Bahn AG ein, dann bietet dieses Gesetz den Län-
dern nach wie vor zu wenig Geld. Deshalb kann es von
der Fraktion Die Linke nur eine Enthaltung geben.
Förderung von Schienenverkehrsleistungen macht
nur Sinn, wenn die entsprechende Schieneninfrastruk-
tur vorhanden ist. Die Fraktion Die Linke ergreift mit
ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Eisenbahnkreu-
zungsgesetzes zur Einführung eines Verursacherprin-
zips eine wichtige, weil notwendige Initiative. Die bun-
deseigene Deutsche Bahn AG muss sich vermehrt den
Vorwurf gefallen lassen, durch fehlende Instandset-
zungsmaßnahmen den schienengebundenen Nahver-
kehr und damit ein wichtiges Element der öffentlichen
Daseinsvorsorge zu gefährden. Zugleich sind viele
Kommunen mit der Finanzierung von Baumaßnahmen
nach Eisenbahnkreuzungsgesetz gnadenlos überfordert.
Die Kosten von solchen Baumaßnahmen sowie die Er-
höhung von Sicherheitsstandards an Bahnübergängen
und die Auflassung von Bahnübergängen können durch
Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz
(GVFG) bezuschusst werden. Jedoch ist auch hier ein
oft das Gemeindebudget übersteigender Anteil zu leis-
ten, und dringend benötigte Investitionen in den kom-
munalen öffentlichen Personennahverkehr und im Stra-
ßenbau werden geschmälert.
Mehr als die Hälfte aller Landkreise in der Bundesre-
publik hat mittlerweile unausgeglichene Haushalte. Als
einziger Ausweg blieb vielen Städten und Gemeinden
nur, ihre Investitionen drastisch zurückzuführen. Anga-
ben der KfW besagen, dass 1999 durch die Kommunen
Investitionen in Höhe von 19 Milliarden Euro, im Jahre
2004 aber nur noch in Höhe von 15 Milliarden Euro aus-
gelöst worden sind. Das ist in fünf Jahren ein Fünftel
weniger. Diese traurigen Zahlen zeigen: Eine verantwor-
tungsvolle kommunale Selbstverwaltung ist zusehends
nicht mehr möglich.
Ein Beispiel: Die Gemeinde Dornbock im Landkreis
Köthen in Sachsen-Anhalt hat 2004 auf Grundlage des
Eisenbahnkreuzungsgesetzes für Maßnahmen der In-
standsetzung und Modernisierung einer auf ihrem Terri-
torium gelegenen Bahnanlage eine Rechnung von knapp
250 000 Euro erhalten. Der Investitionshaushalt jedoch
umfasste nur ganze 80 000 Euro in diesem Jahr. Damit
war die Gemeinde zahlungsunfähig. Dies ist kein Einzel-
fall. Dieses Schicksal widerfuhr der Gemeinde übrigens
nach 1994 und damaligen langwierigen juristischen Aus-
einandersetzungen zum zweiten Mal; das ist schon ein
Skandal an sich. Es besteht Handlungsbedarf, und die
meisten Kommunen sind schon seit Jahren mit der Über-
nahme eines Drittels der Kosten, wie es das Eisenbahn-
kreuzungsgesetz aktuell vorsieht, finanziell absolut
überfordert.
Verkehrspolitisch bedeuten marode Kreuzungsanla-
gen im Bahnstraßennetz das Ziel, mehr Verkehr von der
Straße auf die Schiene zu holen, da bei fehlender In-
standhaltung und Modernisierung sogar Streckenstillle-
gungen drohen. Das kann auch vor dem Hintergrund
der momentan sehr intensiv geführten Klimaschutzde-
batte und der Diskussion um die Reduzierung des CO2-
Ausstoßes nicht unser Anspruch sein. Mit dem Antrag
meiner Fraktion Die Linke werden durch Änderung des
§ 13, Abs. 1 die Kostenübernahme für kommunale Brü-
ckenbauwerke, welche Bahnanlagen betreffen, neu ge-
regelt und die Gemeinden entlastet.
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Gemein-
den von der Mischfinanzierung befreit werden und zu-
gleich verantwortungsvoll mit der Infrastruktur umge-
gangen wird, und zwar nach dem Verursacherprinzip.
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Am 16. Juni 2006 hat der Bundesrat die Kürzung der Re-
gionalisierungsmittel beschlossen. Der Bundesfinanz-
minister hat den Ländern damals zugesagt, die Kürzung
der Regionalisierungsmittel im Zeitraum 2006 bis 2009
in einer Größenordnung von 500 Millionen Euro zu ver-
mindern. Mehr als ein Jahr später wird diese Zusage mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf für ein zweites Gesetz
zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes eingelöst.
Die teilweise Rücknahme der Kürzung der Regionali-
sierungsmittel lehnen wir zwar nicht ab; die Kürzung ha-
ben wir aber abgelehnt und halten sie auch heute noch für
falsch. Die vorausgesagten Streichungen im Schienen-
personennahverkehr als Folge der Kürzung der Regiona-
lisierungsmittel sind in vielen Bundesländern eingetre-
ten. Nur ein Bundesland hat die Kürzung zu 100 Prozent
durch Landesmittel kompensiert.
Nach dem bisherigen § 7 RegG war für den Bund
nicht überprüfbar, ob die Mittel zweckentsprechend ver-
wendet wurden. Die im Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung in § 6 Abs. 2 enthaltene Berichtspflicht der Länder
gegenüber dem Bund über die Verwendung der Regiona-
lisierungsmittel ist zu begrüßen; sie greift aber viel zu
kurz, weil sie nicht näher beschreibt, was einheitliche
Kriterien sind. Damit ist nicht sichergestellt, dass die
jährliche Mittelverwendung transparent dargestellt wer-
den kann.
12934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
So wie es jetzt im Gesetzentwurf steht, wird bei dem
Bericht nicht mehr herauskommen als beim GVFG-Be-
richt. Aus unserer Sicht sollten zumindest einige Krite-
rien bzw. Ausgabenarten angegeben werden, damit der
Bericht wenigstens etwas aussagen kann. Man sollte aus
dem Bericht schon entnehmen können, in welcher Höhe
Zuschüsse für Bestellungen von Zugleistungen im
SPNV, für Bestellungen von Verkehrsleistungen im
ÖPNV außerhalb des SPNV, sonstige Zuwendungen an
Aufgabenträger und Verkehrsbünde im SPNV/ÖPNV,
Zuschüsse für Investitionen in Fahrzeuge des SPNV, Zu-
schüsse für Investitionen in Fahrzeuge des ÖPNV außer-
halb des SPNV, Zuschüsse für Investitionen in bauliche
Anlagen des ÖPNV und des SPNV und Zuschüsse für
sonstige Projekte geflossen sind.
Was auf jeden Fall versäumt wurde, ist die Präzisie-
rung der Zweckbindung. Regionalisierungsmittel kön-
nen nach wie vor für Aufgaben verwendet werden, die
vor dem Regionalisierungsgesetz die Länder aus eigenen
Mitteln bestritten haben. Genannt seien hier beispiels-
weise Ausgleichsleistungen bei der Schüler- und
Schwerbehindertenbeförderung. Das war sicher nicht In-
tention des Gesetzgebers. Intention des Gesetzgebers
war, Fahrgastzuwächse beim öffentlichen Personannah-
verkehr zu erzielen, und nicht, die Länder durch das Re-
gionalisierungsgesetz finanziell zu entlasten.
Es kann auch nicht sein, dass der Verkehrsminister
den Ländern Fehlverwendung der Regionalisierungsmit-
tel vorwirft, was er in der Debatte der letztjährigen Kür-
zung getan hat, es aber dann unterlässt, Fehlverwen-
dungsmöglichkeiten im Gesetz auszuschließen.
Der Gesetzentwurf enthält auch keinen Anreiz, dass
die Länder die Regionalisierungsmittel effizient ausge-
ben. Für die Verteilung der Mittel spielt es keine Rolle,
ob ein Bundesland Fahrgastzuwächse erreicht hat oder
nicht. Das Geld wird einfach überwiesen.
Wenn man über ein Jahr für ein Änderungsgesetz
braucht, hätte man also schon etwas mehr hineinschrei-
ben können als eine Teilrücknahme einer falschen Kür-
zung und eine unzureichende Berichtspflicht. Vorschläge
unsererseits liegen in Gesetzes- und Antragsform vor.
Beim Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ei-
senbahnkreuzungsgesetzes der Linken wurde ein frühe-
rer Antrag der Linken in Gesetzesform gegossen. Im Ge-
gensatz zum Antrag enthält der Gesetzentwurf immerhin
einen Finanzierungsvorschlag. Trotzdem ist einiges un-
verständlich:
Der Gesetzentwurf stellt alle Straßenbaulastträger und
nicht nur die Kommunen frei. Die Linke problematisiert
aber nur die Kommunen.
Warum soll die DB AG die Hälfte des bisherigen An-
teils des Straßenbaulastträgers bezahlen? Bisher bezahlt
sie ein Drittel, nach dem Gesetzentwurf die Hälfte.
Die NE-Bahnen bezahlen nichts mehr. Damit werden
sie besser behandelt als die DB.
Der Bund soll nun auch für Bahnübergänge von
NE-Bahnen bezahlen, bei denen er bisher – außer im
Falle der Straßenbaulastträgerschaft – nichts bezahlt.
Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der
vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Än-
derung des Regionalisierungsgesetzes wurde in den Aus-
schussberatungen durchaus kontrovers diskutiert. Ich
möchte deshalb die Gelegenheit nutzen, um noch einmal
das Ziel dieser Gesetzesänderung zu verdeutlichen:
Es ist ein dringendes Anliegen der Bundesregierung,
die Qualität des Öffentlichen Personennahverkehrs
(ÖPNV) weiter zu verbessern und ein bedarfsgerechtes
Angebot im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) auch
in der Fläche sicherzustellen.
Den Ländern stehen nach dieser Gesetzesänderung
auch künftig ausreichend Mittel für die Bestellung von
Nahverkehrsleistungen und für qualitative Verbesserun-
gen des ÖPNV zur Verfügung.
Im Rückblick ist festzustellen, dass der Nahverkehr
vor 1994 ein ungeliebtes und hochdefizitäres Aufgaben-
gebiet der Bahn war. Ziel der Bahnstrukturreform 1994
war es daher auch, eine zukunftsfähige Grundlage für
den SPNV zu schaffen.
Im Zusammenhang mit den gesetzlichen Änderungen
zur Bahnreform wurde das Grundgesetz um einen neuen
Art. 106 a ergänzt. Den Ländern steht damit für den
ÖPNV aus dem Steueraufkommen des Bundes ein Be-
trag zu. Einzelheiten werden im Regionalisierungsge-
setz, RegG, geregelt, welches ebenfalls im Rahmen der
Bahnreform verabschiedet wurde und am 1. Januar 1996
in Kraft trat.
Dies bedeutete eine vollständige Neuordnung des
Ordnungsrahmens: der SPNV wurde zur Landesaufgabe;
die verschiedenen Zuständigkeiten wurden zusammen-
geführt; die bisher vom Bund für den SPNV aufgewen-
deten Mittel wurden auf die Länder übertragen; Länder
und Aufgabenträger wurden an der Finanzierung betei-
ligt und der Verkehr wurde für den Wettbewerb geöffnet.
All dies brachte seit Inkrafttreten des Regionalisie-
rungsgesetzes zum 1. Januar 1996 eine neue Dynamik in
die jahrzehntelange statische Eisenbahnlandschaft. Über
das Regionalisierungsgesetz werden den Ländern umfas-
sende Finanzmittel aus dem Steueraufkommen des Bun-
des zur Verfügung gestellt, die sie in erster Linie zur
Finanzierung der Verkehrsleistungen im SPNV, aber
auch investiv zur Verbesserung des ÖPNV einsetzen
können.
Dennoch ist die Schaffung eines attraktiven ÖPNV
nicht unabhängig von anderen politisch vereinbarten
Zielen, wie etwa der Haushaltskonsolidierung zu sehen.
So wurde durch das Haushaltsbegleitgesetz 2006 vom
29. Juni 2006 der in der Koalitionsvereinbarung veran-
kerte Auftrag einer Kürzung der Mittel des Bundes für
den Nahverkehr umgesetzt.
Mit der jetzt anstehenden Änderung des Regionali-
sierungsgesetzes werden die zwischen dem Bund und
den Ländern im Rahmen der Verabschiedung des Haus-
haltsbegleitgesetzes (HBeglG) 2006 am 16. Juni 2006
vereinbarten Eckpunkte umgesetzt. Die mit dem Haus-
haltsbegleitgesetz 2006 vorgenommenen Kürzungen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12935
(A) (C)
(B) (D)
der Regionalisierungsmittel (im Zeitraum 2006 bis 2009
ergab sich daraus eine Minderung der Regionalisie-
rungsmittel für die Länder von insgesamt rund 2,3 Mil-
liarden Euro) sollen so teilweise kompensiert werden.
Die Belastung wird dadurch um rund 500 Millionen
Euro vermindert und es wird eine Dynamisierungslinie
für die Regionalisierungsmittel eingeführt.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
setzt diese Vorgaben um: Die Länder werden im Jahr
2008 Regionalisierungsmittel in Höhe von 6 675,0 Mil-
lionen Euro aus dem Mineralölsteueraufkommen des
Bundes erhalten. Ab dem Jahr 2009 wird dieser Betrag
dynamisiert und steigt jährlich um 1,5 vom Hundert. Die
jährlichen Beträge werden im Sinne einer verlässlichen
Planungsgrundlage bis 2014 festgelegt.
Im Jahr 2014 ist eine erneute Überprüfung der Höhe
der Mittel und der Finanzierungsquelle mit Wirkung ab
dem Jahr 2015 vorgesehen. Darüber hinaus sollen die
Länder dem Bund jährlich die Verwendung der Mittel je-
weils nach gemeinsam vereinbarten Kriterien transpa-
rent darstellen.
Mit diesen Neuregelungen wird die Finanzierungs-
grundlage für den öffentlichen Personennahverkehr auch
weiterhin gesichert. Gleichzeitig wird in geeigneter
Form und unter Beachtung der verfassungsrechtlichen
Vorgaben des Artikels 106 a Grundgesetz Transparenz
über die Verwendung der Mittel hergestellt. Die Bundes-
regierung will mit dieser Gesetzesänderung die Voraus-
setzungen dafür schaffen, dass die Erfolgsgeschichte der
Regionalisierung weitergeht.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der
gesetzlichen Berichtspflichten im Zuständig-
keitsbereich des Bundesministeriums für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz
– Beschlussempfehlung und des Bericht: Neu-
ordnung des Berichtswesens
(Tagesordnungspunkt 29 a und b)
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): „Totgesagte leben
länger.“ Dieser Spruch gilt im übertragenen Sinne auch
für das Landwirtschaftsgesetz von 1955. Mit vereinten
Kräften der Koalition und durch den entschiedenen
Widerstand der SPD-Fraktion mit entsprechender Unter-
stützung der CDU-Kollegen ist es uns gelungen, Minis-
ter Seehofer davon zu überzeugen, das Landwirtschafts-
gesetz nicht abzuschaffen. Wir machen in der heutigen
Plenardebatte zunächst einen wichtigen Schritt in
Richtung Entbürokratisierung des Berichtswesens des
BMELV. Auf der Basis des Entschließungsantrags aus
dem Sommer dieses Jahres werden wir mit der jetzigen
Regelung unnütze Bürokratiekosten vermeiden und
gleichzeitig die Möglichkeit schaffen, die Informations-
bereitstellung effektiver zu gestalten. Der Agrarbericht
inklusive seines forstwirtschaftlichen Teils und der Tier-
schutzbericht werden in Zukunft nur noch alle vier Jahre
vorgelegt werden.
Ich teile die Kritik des nationalen Normenkontrollaus-
schusses: Der bisherige Aufwand zur Berichterstellung
steht in keinem angemessenen Verhältnis zum Informa-
tionsgehalt. Vielfach sind bereits vor der Veröffentlichung
des Agrarberichtes oder des Tierschutzberichtes aktuellere
Daten und entsprechende Bewertungen dieser Daten aus
anderen Quellen verfügbar. Diese Kritik gilt im Übrigen
auch für Berichte in anderen Politikfeldern.
Das vorliegende Gesetz macht auch Sinn angesichts
der enormen Weiterentwicklung der technischen Mög-
lichkeiten zur Informationsaufbereitung und -bereitstel-
lung. Innerhalb der letzten Jahre sind in allen Bereichen
des täglichen Lebens durch das Internet neue und umfas-
sende Informationsmöglichkeiten geschaffen worden.
Diese Entwicklung hat sich auch im Verantwortungsbe-
reich des BMELV vollzogen. Als Ergebnis kann heute
jede Bundesbürgerin und jeder Bundesbürger auf ein
breites und aktuelles Informationsangebot und die dazu-
gehörigen Daten zu allen wichtigen Themenbereichen
der Agrar- und Verbraucherpolitik zugreifen. Dieses An-
gebot beschränkt sich dabei nicht nur auf originäre In-
halte aus dem Kernbereich der Agrar-, Verbraucher- und
Tierschutzpolitik. Es wird ergänzt durch eine Vielzahl
zusätzlicher Informationen wie zum Beispiel der ZMP,
des Bundesinstituts für Risikobewertung oder auch des
Friedrich-Loeffler-lnstituts, um nur einige Beispiele zu
nennen. So werden schon heute die gesetzlichen Infor-
mationspflichten des Bundesministeriums durch viele
weitere Informationsquellen ergänzt und vervollständigt.
Aktuelle Markt- und Strukturdaten, die für die For-
schung und Wissenschaft relevant sind, sind jederzeit und
überall abrufbar. Darüber hinaus informiert das Bundes-
ministerium die Abgeordneten des Deutschen Bundesta-
ges durch aktuelle Berichte sowie durch schriftliche und
mündliche Antworten auf parlamentarische Anfragen. So-
mit haben die bisherigen Routineberichte in Papierform
weitgehend ihren ursprünglichen Zweck verloren, und die
Verlängerung der Veröffentlichungsintervalle ist somit ge-
rechtfertigt.
Selbstverständlich wird es nicht, wie die Opposition
behauptet, unweigerlich zu einer Abwertung der genann-
ten Politikbereiche kommen. Die Änderungen im Be-
richtswesen des BMELV werden auch nicht dazu führen,
wie die Kollegin Behm im Ausschuss behauptet hat,
dass wir ab sofort nur noch alle vier Jahre über Agrar-,
Forst- oder Tierschutzpolitik sprechen werden. Ich bin
sicher, dass wir als Parlamentarier in Zukunft auf der
Grundlage eigener Anträge ausreichend Gelegenheit fin-
den werden, zur aktuellen Agrar- und Tierschutzpolitik
zu debattieren.
Der vorliegende Gesetzentwurf kann nur im Zusam-
menhang mit dem heute zu beschließenden Entschlie-
ßungsantrag der Koalition gesehen werden. Er bestimmt
den Rahmen der zukünftigen Berichterstattung und ent-
hält zwei wichtige Prüfaufträge an die Bundesregierung,
die in einem zweiten Schritt konsequent umgesetzt
12936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
werden müssen. Es gilt, die Agrarpolitik grundsätzlich
neu auszurichten. Sie muss zum integralen Bestandteil
einer nachhaltigen Politik für den ländlichen Raum wer-
den. Die Entwicklung des Landwirtschaftsgesetzes zu
einem modernen Landwirtschaftsgesetzbuch kann dafür
wesentliche Voraussetzungen schaffen.
Jeder von uns weiß, dass sich die Agrarpolitik mit ih-
rem Anspruch als eigenständiges Politikfeld in unserer
Gesellschaft ständig neu legitimieren muss. Die natio-
nale wie auch die internationale Agrarpolitik stehen da-
bei vor tiefgreifenden Herausforderungen.
Ich nenne nur drei Beispiele, um zu verdeutlichen,
was uns erwartet: erstens die Zunahme der Weltbevöl-
kerung um drei Milliarden Menschen bis zum Jahr
2050, für die es gilt, die Versorgung mit hochwertigen
Lebensmitteln sicherzustellen; zweitens der Beitrag,
den die Landwirtschaft und somit auch die Agrarpolitik
in Hinblick auf die Herausforderungen des weltweiten
Klimawandels leisten muss; drittens wird sich der
Strukturwandel in den landwirtschaftlichen Betrieben
unvermindert fortsetzen, sodass wir spätestens für das
Jahr 2020 nur noch von 100 000 Vollerwerbsbetrieben
ausgehen müssen.
Angesichts dieser Herausforderungen darf sich
Agrarpolitik heute nicht mehr als Klientelpolitik verste-
hen. Für Sozialdemokraten steht der Mensch im Vorder-
grund der Politik. Daraus leitet sich auch die Zielbestim-
mung für eine sozialdemokratische Agrarpolitik ab, die
zukünftig integraler Bestandteil einer Politik für die Ent-
wicklung ländlicher Räume und die dort lebenden und
arbeitenden Menschen sein wird. Agrarpolitik muss neu
gedacht und definiert werden. Das heißt, dass wir die
Agrarpolitik als Querschnittspolitik denken müssen, die
viel stärker mit der Beschäftigungspolitik, der Infra-
strukturpolitik aber auch der Umweltpolitik verzahnt
wird. Im Hinblick auf den multifunktionalen Charakter
ländlicher Räume wird die Landwirtschaft dann das
starke Rückgrat im ländlichen Raum bilden. Es heißt
Abschiednehmen vom allseits so geliebten Förder- und
Subventionsmodellen wie zum Beispiel der Flächenprä-
mie. Niemand in dieser Gesellschaft hat ein ererbtes An-
recht auf dauerhafte Zahlungen aus dem Steuersack. Es
gilt, die Rahmenbedingungen für die Agrarpolitik so zu
gestalten, dass die Bewertung und Honorierung der Leis-
tungen einer wettbewerbsorientierten Landwirtschaft im
Vordergrund stehen. Nur so lässt sich Agrarpolitik auch
langfristig legitimieren. Daher hat der im Entschlie-
ßungsantrag formulierte Prüfauftrag an das BMELV für
mich besondere Bedeutung. Für die Weiterentwicklung
des Landwirtschaftsgesetzes zum Landwirtschaftsge-
setzbuch habe ich den politischen Rahmen bereits skiz-
ziert. Konkret bedeutet dies, dass wir die Vorgaben so
gestalten, dass die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze
im ländlichen Raum ausgebaut, die soziale Absicherung
der in der Landwirtschaft Tätigen angemessen berück-
sichtigt, die Innovations- und Wettbewerbskraft der
Landwirtschaft gefördert und die hohen Qualitäts-, Pro-
dukt- sowie Tierschutzstandards weiterentwickelt wer-
den. Ich wünsche mir, dass auch die Grundsätze der gu-
ten fachlichen Praxis und das die Landwirtschaft
betreffende Fachrecht zum Bestandteil eines neuen
Landwirtschaftsgesetzbuches werden. Diese kann auch
die Arbeit eines neu einzurichtenden Rates für die ländli-
chen Räume entscheidend erleichtern. Die deutschen
Landwirte stellen sich den Herausforderungen einer glo-
balisierten Welt. Dafür müssen wir die politischen Rah-
menbedingungen schaffen. Ich bitte Sie, daher dem vor-
liegenden Gesetzentwurf und dem Entschließungsantrag
zuzustimmen.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Natürlich begrüßt
die FDP grundsätzlich alle Maßnahmen der Bundes-
regierung, die dazu führen, Bürokratie abzubauen. Doch
Minister Seehofer neigt dazu, das Kind mit dem Bade
auszuschütten. Auch die Änderungen beim Fleischge-
setz wurden uns verkauft als Beitrag zum Bürokratie-
abbau. Deshalb ist es notwendig, solche Argumente kri-
tisch zu hinterfragen.
Unbestreitbar würde es die Verwaltung entlasten,
wenn sie die vier Berichte, die in die Verantwortung des
BMELV fallen, nur noch alle vier Jahre anstatt jedes Jahr
vorzulegen hätte. Und in der Tat, die jährlichen Berichte
waren nicht zweckdienlich. Doch wir befürchten, dass
diese Initiative leider wiederum der Geringschätzung des
Ministers für den Agrarbereich geschuldet ist. Den letz-
ten Agrarbericht hat Herr Seehofer ja nicht einmal mehr
selber auf der Bundespressekonferenz vorgestellt.
Der geplante Zeitraum von vier Jahren für das Be-
richtswesen im Bereich des BMELV ist zu lang bemes-
sen. Bei dieser Zeitspanne fehlt die Aktualität von Ent-
wicklungen. Im ersten Jahr einer Legislaturperiode einer
neuen Regierung würde man im Wesentlichen auf Zah-
len der Vorgängerregierung zurückgreifen, und im letz-
ten Jahr haben wir Wahlkampfzahlen.
Gerade beim Agrarbericht geht es darum, Tendenzen
zu erkennen, um politische Weichenstellungen vorneh-
men zu können. Da hilft dann auch nicht der Verweis
aufs Internet, denn die Zahlen und Informationen müs-
sen doch in einen gewichteten sachlichen Zusammen-
hang gebracht werden. Nehmen wir zum Beispiel die
Entwicklung der Milch- und Getreidepreise. Diese Ent-
wicklung hat vor sechs bis neun Monaten in dieser Form
niemand vorhersehen können. Wir könnten uns nun im
nächsten Jahr beim nächsten Agrarbericht parlamenta-
risch mit diesen Entwicklungen beschäftigen und Konse-
quenzen ableiten. Der Agrarbericht gibt uns einen Auf-
trag für eine parlamentarische Auseinandersetzung.
Es gilt, einen Mittelweg zwischen dem Wunsch und
der Notwendigkeit nach mehr Effizienz und unserem In-
formationsbedürfnis zu finden. Die FDP hielte deshalb
einen Zweijahresrhythmus für angemessen. Auch die
Verbraucherzentrale schlägt für den Bericht zum Ver-
braucherschutz einen Zeitintervall von zwei Jahren vor.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Seit 1956 er-
scheint jährlich der Agrarbericht der Bundesregierung
zur Lage der Landwirtschaft, zur nationalen und interna-
tionalen Agrarpolitik und zu deren Finanzierung. Die
Landwirtschaft ist seit jeher ein Wirtschaftssektor mit
engster politischer Verflechtung. Agrarpolitische Ent-
scheidungen in Deutschland und Europa prägen wie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12937
(A) (C)
(B) (D)
kaum ein anderer Faktor das Bild und das Geschehen in
der Landwirtschaft. Der jährliche Agrarbericht bietet da-
bei die besondere Möglichkeit, nicht nur die Gesamtbe-
wertung des Wirtschaftssektors Land- und Agrarwirt-
schaft in die Betrachtung zu nehmen, sondern auch die
getroffenen agrarpolitischen Entscheidungen auf natio-
naler und europäischer Ebene zu bewerten. Sie können
quasi Rechenschaftsbericht und Frühwarnsystem in ei-
nem sein.
Gerade die vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt,
welchen Einfluss die Agrarpolitik auf die wirtschaftliche
Lage der landwirtschaftlichen Betriebe haben kann. Als
Beispiel sei die Einführung der Förderung der energeti-
schen Biomassenutzung genannt. Damit sind völlig neue
Einkommensmöglichkeiten für landwirtschaftliche Be-
triebe entstanden. Die politische Entscheidung für Straf-
steuer und Zwangsbeimischung bei Biokraftstoffen hat
dagegen diese Quelle gleich wieder zum Rinnsal ge-
macht. Das zeigt, dass politische Entscheidungen oft
sehr viel schneller wirken als eine Legislaturperiode
dauert. Hinzu kommt eine deutliche Dynamisierung der
Veränderungsprozesse infolge neoliberaler Globalisie-
rung der Märkte.
Die Koalition schafft mit dem Gesetzentwurf zur Ver-
längerung der Berichtszeiträume die Möglichkeit einer
zeitnahen Bewertung und Diskussion der Agrarpolitik
schlichtweg ab. Die Linke hält angesichts der hohen Dy-
namik der Entwicklung ein Zweijahresintervall für die
Bewertung agrarpolitischer Entscheidungen für eine
Mindestforderung und lehnt daher den Antrag ab. Es
gibt viele Gründe, Agrar-, Waldzustands-, Tierschutz-
und Verbraucherschutzbericht weiter regelmäßig in den
Fokus öffentlichen Interesses zu stellen. Manche mögen
denken, dass die Landwirtschaft an Bedeutung verliert.
Der Agrarbericht selber bringt ja auch Zahlen, die das
nahelegen mögen. So beträgt der Anteil der Landwirt-
schaft am Bruttoinlandsprodukt gerade einmal 1 Pro-
zent, die Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe ist
rückläufig und die Zahl der in der Landwirtschaft Be-
schäftigten, und Selbstständigen sinkt kontinuierlich.
Nur: Eine Reduktion unserer Sicht auf diese volkswirt-
schaftlichen Kriterien ist falsch.
Die Erzeugung von Nahrungsmitteln gehört zur De-
ckung der Grundbedürfnisse des Menschen und bleibt
damit wesentlich. Die Entwicklung in jüngerer Zeit
bringt gerade diese Diskussion wieder in eine neue Ak-
tualität: Durch Klimawandel, die dynamische Entwick-
lung der sogenannten Schwellenländer, die steigende
Weltbevölkerung und neue Aufgaben für die Landwirt-
schaft wie zum Beispiel die Erzeugung von Bioenergie
wird die Agrarerzeugung im nationalen, europäischen
und internationalen Kontext sogar wieder wichtiger. Die
Anzahl potenzieller Krisenfaktoren hat sich deutlich er-
höht. Dabei sind heute nicht nur die Bedingungen der
hiesigen Landwirtschaft von Bedeutung, sondern der
weltweite Kontext. Zudem werden weltweit die sozialen
und ökologischen Folgen der beschleunigten neolibera-
len Globalisierung immer deutlicher sichtbar. Mit dem
Agrarbericht und den weiteren Ressortberichten werden
die Auswirkungen dieser Prozesse in den Fokus öffentli-
chen Interesses gerückt. Dieses ist und bleibt eine der
wichtigsten Funktionen der politischen Berichterstat-
tung.
Im Antrag der Koalition wird auf die Datenverfügbar-
keit aus dem Berichtswesen der Testbetriebe im Internet
hingewiesen. Für eine reine Expertendiskussion wäre
das vielleicht ausreichend. Aber genau diese Reduktion
der Debatte kann nicht unser parlamentarischer Wille
sein. Für die Linke ist der öffentliche Bezug gerade bei
der agrarpolitischen Debatte wichtig. Die vor uns liegen-
den Entscheidungen zur Weiterentwicklung der europäi-
schen Förderpolitik, zum Umgang mit der Agrogentech-
nik, zu Vermeidungs- und Anpassungsstrategien auf den
heute schon spürbaren Klimawandel, zur Entwicklung
auf den Weltmärkten usw. bedürfen der regelmäßigen
Bewertung.
Allerdings sind wir auch der Auffassung, dass die Be-
richte inhaltlich qualifiziert werden müssen. Zum Bei-
spiel fehlen aus Sicht der Linken Indikatoren für die Be-
wertung der sozialen Situation und zur Gleichstellung.
Ebenfalls sehr sensibel ist in der öffentlichen deutschen
und auch europäischen Diskussion der Tierschutzbe-
richt. Die millionenfache Haltung, Züchtung und Nut-
zung von Tieren in der Landwirtschaft, in der Forschung
oder in der privaten Hobbyhaltung setzt die Politik in be-
sondere Verantwortung. Der alle zwei Jahre erschei-
nende Tierschutzbericht hat bislang effizient dazu beige-
tragen, das Thema Tierschutz im Blick zu behalten und
die Diskussion um ihn zu befördern. Hier gilt im Grunde
dasselbe wie zur Agrarberichterstattung: Dem öffentli-
che Interesse an der Thematik ist mit einer Verlängerung
der Abstände der Berichterstattung nicht gedient.
Das wirkliche Ziel des Gesetzentwurfs liegt auf der
Hand. Wo keine Berichte sind, da ist kein Anlass zu poli-
tischen Diskussionen. Aber genau das hält Die Linke für
den falschen Weg. Wir brauchen gerade auch für die
Landwirtschaft mehr Debatte in einer größeren gesell-
schaftlichen Breite. Dazu werden keine Rohdaten im In-
ternet gebraucht, sondern die Positionierung der Regie-
rung zur Situation, das mindestens alle zwei Jahre und
nicht einmal pro Legislatur.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
Grüne lehnen die Verlängerung der Berichtsintervalle für
den Agrar- und Tierschutzbericht sowie für den Waldzu-
standsbericht auf alle vier Jahre mit aller Entschieden-
heit ab. Mindestens alle zwei Jahre sollte getrennt über
die Agrarpolitik, über die Tierschutzpolilik, über die
Verbraucherschutzpolitik und über den Waldzustand be-
richtet werden, um der politischen Bedeutung dieser
Themen gerecht zu werden.
Der Hauptgrund für unsere Ablehnung ist, dass die
Verlängerung auf einen vierjährlichen Zyklus diese Poli-
tikbereiche deutlich schwächen wird. Denn die Berichte
und die Diskussionen darüber im Bundestag lenken re-
gelmäßig die Aufmerksamkeit von Politik, Presse und
Öffentlichkeit auf diese Politikfelder. Agrar-, Tierschutz-
und Vcrbraucherpolitischer Bericht bieten Politikern und
der Branche den Anlass, sich regelmäßig mit den Grund-
satzfragen der Agrar-, der Tierschutz- und der Verbrau-
cherpolitik auseinanderzusetzen, statt immer nur ein-
12938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
zelne Spezialfragen zu bearbeiten. Speziell der
Agrarbericht bietet die Möglichkeit, der Gesellschaft die
im Vergleich zu ihrem Anteil am BIP große Bedeutung
von Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft für gesunde
Ernährung und den Erhalt der Kulturlandschaft darzule-
gen.
Durch die fehlenden jährlichen Berichte werden aber
zukünftig nicht nur diese Grundsatzdebatten deutlich
seltener stattfinden. Zukünftig werden auch einfach zu-
gängliche Daten- und Wissensgrundlagen nicht mehr so
einfach zur Verfügung stehen, und zwar nicht nur für uns
Abgeordnete, sondern auch für die Fachöffentlichkeit.
Die Koalition nennt als Hauptgrund für diese Ein-
griffe den Abbau von Bürokratie. Dieser Abbau hält sich
aber in Grenzen, wenn man bedenkt, dass die statisti-
schen Daten nach wie vor im unveränderten Rhythmus
erhoben werden müssen. Es wird also vor allem Auf-
wand bei der Zusammenstellung, Formulierung und der
Abstimmung der Fakten eingespart. Rechtfertigt dieser
etwas geringe Aufwand tatsächlich diesen Bedeutungs-
verlust für die Agrar- und Tierschutzpolitik? Nein, das
tut er nicht.
Deswegen muss man annehmen, dass der mit der Ver-
längerung des Berichtszyklus verbundene Bedeutungs-
verlust für die Ticrschutzpolilik und für die Verbraucher-
politik von der Großen Koalition billigend in Kauf
genommen wird. Warum die Agrarpolitiker der Union
dies auch für die Agrarpolitik akzeptieren, bleibt mir al-
lerdings verborgen; denn die so nötige Imageverbesse-
rung der Landwirtschaft erreicht man dadurch ganz si-
cher nicht.
Besonders drastisch wird der Bedeutungsverlust für
den Waldzustandsbericht sein: Mit seinem Wegfall wird
auch die Aufmerksamkeit für die Waldschäden in der
Öffentlichkeit entfallen. Das ist ganz eindeutig; denn
derzeit findet der Wald ohnehin nur einmal jährlich in
den Medien statt, nämlich dann, wenn der Waldzu-
standsbericht vorgelegt wird.
Die Beseitigung der öffentlichen Aufmerksamkeit für
die Waldschäden ist aber offensichtlich die wesentliche
Motivation für den Wegfall der jährlichen Waldzustands-
berichte. Politisch erwünscht sind im Rahmen der Charta
für Holz nur noch gute Nachrichten aus dem Wald.
Schlechte Nachrichten soll die Gesellschaft nicht mehr
hören. Denn es wird in der Forst- und Holzbranche viel-
fach befürchtet, dass schlechte Nachrichten über kranke
Wälder die Zustimmung der Gesellschaft zur sinnvollen
verstärkten Holznutzung untergraben. Deswegen soll der
jährliche Waldzustandsbericht weg. Dass sich die große
Koalition so eindeutig dieser Lobby beugt, ist beschä-
mend.
Gravierend ist auch, dass nach dem Willen der Koali-
tionsfraktionen nicht mehr jährlich über die künftige Ge-
staltung der GAK berichtet werden soll, sondern dass
dieser Bericht laut Koalitionsantrag im vierjährlichen
Agrarbericht aufgehen soll. Allerdings ist dem Gesetz-
entwurf der Koalition zu entnehmen, dass sich am Zu-
schnitt des Agrarberichtes nichts ändern wird. Entfällt
dann die Berichterstattung über die GAK zukünftig
ganz, oder wird sie, und wenn wie, in den Agrarbericht
aufgenommen? Ihre Beschlussvorlagen geben dazu
keine klare Auskunft.
Ich erinnere daran, dass sich auch Parlamentarier der
Union im Rahmen der Haushaltsberatungen darüber be-
klagten, dass der Bundestag zwar jedes Jahr über
600 Millionen Euro für die GAK bereitstellt, dass der
Bundestag aber in keiner Weise an den Entscheidungen
über die konkrete Mittelverwendung beteiligt wird. Wol-
len Sie jetzt nicht einmal mehr wissen, was mit dem
Geld gemacht wurde?
Herr Schirmbeck, Ihre Fraktion will plötzlich dafür
sorgen, dass dem Bundestag nicht einmal mehr jährlich
über die Mittelverwendung und über die Veränderungen
bei den Fördergrundsätzen berichtet wird, und das, ob-
wohl der PLANAK jedes Jahr über Änderungen der För-
dergrundsätze entscheidet. Sieht so die Stärkung parla-
mentarischer Beteiligungsrechte aus?
Der Koalitionsantrag zur Neuordnung des Berichts-
wesens im Bereich Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz ist ein einziger Murks. Er wird durch
seine gesetzliche Umsetzung nicht besser. Deswegen
lehnen wir Ihren Antrag und Ihr Gesetz ab.
Ursula Heinen, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz: Vereinfachung und Bürokratieabbau sind erklärte
Ziele der Bundesregierung. Das Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz setzt
die entsprechende Vereinbarung des Koalitionsvertrages
mit dem „Aktionsplan zur Verringerung bürokratischer
Hemmnisse“ konsequent um.
Zuerst geht es uns dabei um Erleichterungen für
Landwirte und Unternehmen. Zusätzlich überprüfen wir
Routinevorgänge in der Verwaltung. Dabei hinterfragen
wir sowohl die Notwendigkeit als auch die Art und
Weise des Vollzugs unseres Verwaltungshandelns.
Ein wichtiger Punkt unseres Aktionsplans ist die
Straffung und die Konzentration unseres Berichtswe-
sens. Wir wollen die starre Routine jährlich wiederkeh-
render Berichte aufbrechen. Hier wird bisher viel Auf-
wand betrieben – unabhängig davon, ob es überhaupt
Neues zu berichten gibt.
Aus diesem Grund hat die Bundesregierung den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung der Berichtspflichten
im Zuständigkeitsbereich des BMELV vorgelegt.
Wir verfolgen damit zwei Ziele: Routineberichte soll
es künftig seltener geben. Dafür werden sie stärker län-
gerfristige Entwicklungen und Perspektiven aufgreifen.
Die notwendigen Informationen wollen wir dagegen ak-
tueller, schneller und sachbezogener zur Verfügung stel-
len.
Ein praktisches Beispiel: Der Agrarbericht 2007 do-
kumentiert die Lage der Landwirtschaft im vorletzten
Wirtschaftsjahr 2005/2006 und Maßnahmen der Agrar-
politik für das Jahr 2006. Nach Abstimmung zwischen
den beteiligten Bundesministerien wurde er am 31. Ja-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12939
(A) (C)
(B) (D)
nuar 2007 beschlossen. Ende Oktober 2007 beriet
schließlich der federführende Ausschuss darüber.
Ich glaube, dass dieses Verfahren 1955 – das ist das
Jahr, in dem erstmals ein entsprechender Bericht dem
Deutschen Bundestag zugeleitet wurde – angemessen
war. Den heutigen Anforderungen einer modernen Infor-
mationsgesellschaft wird diese Art und Weise der Be-
richterstattung nicht gerecht.
Die kurzen Berichtsintervalle waren damals sinnvoll,
denn es standen vergleichsweise wenige andere Informa-
tionsquellen zur Verfügung. Mit Blick auf die inzwi-
schen für alle und jederzeit zugänglichen Informationen
wird hier jedoch eine Arbeit geleistet, deren Nutzen für
die Interessenten immer geringer geworden ist.
Die Verwendung älterer – teilweise veralteter – Daten
mindert die Aktualität der Berichte, schwächt das Inte-
resse der Öffentlichkeit und verkleinert die Basis für
Entscheidungen aufgrund der Berichte. Das heißt: Kurze
Berichtsintervalle führen nicht automatisch zu besserer
Information.
Deshalb sieht unser Gesetzentwurf vor, den Agrarbe-
richt und den Tierschutzbericht im Vierjahresturnus ab-
zugeben. Wir wissen uns dabei im Einklang mit der
Mehrheit des Bundestages. Mit dem heute ebenfalls ab-
zustimmenden Entschließungsantrag erhalten wir den
Auftrag, auch die anderen Routineberichte unseres Hau-
ses thematisch zu ordnen und künftig einmal in der Le-
gislaturperiode herauszugeben.
Künftig wird das BMELV vier Themenberichte vorle-
gen. Erstens. Der bisherige Agrarbericht wird sich neben
der Lage der Landwirtschaft und der Fischerei verstärkt
den ländlichen Räumen widmen und hierzu auch die
Mittelverwendung der Gemeinschaftsaufgabe „Agrar-
struktur und Küstenschutz“ wiedergeben. Zweitens. Für
den Schwerpunkt „Wald und Forst“ ist ein Gesamtbe-
richt vorgesehen, in dem auch Informationen zum Wald-
zustand ihren angemessenen Platz finden werden. Drit-
tens wird es einen Tierschutzbericht und viertens einen
verbraucherpolitischen Bericht geben.
Im Übrigen verweise ich darauf, dass es bisher für ei-
nen regelmäßig erscheinenden verbraucherpolitischen
Bericht keine Grundlage gab und diese Lücke jetzt ge-
schlossen wird.
In Ergänzung zu den periodischen Berichten wird das
BMELV in zeitgemäßer Form aktuell und sachbezogen
informieren, ohne dass Jahrzehnte alte Routinen dabei
im Weg stehen. Wir werden verstärkt das Internet nut-
zen, daneben auch Pressemitteilungen und Broschüren.
Mit diesem Wandel in der Form der Berichterstattung
können wir schneller auf aktuelle Entwicklungen reagie-
ren. Sensible Politikfelder mit hoher öffentlicher Wahr-
nehmung sollen besonders berücksichtigt werden. Hier
denke ich zum Beispiel an den Tierschutz oder auch den
Waldzustandsbericht.
Für uns gilt der Grundsatz: Wenn es etwas zu berich-
ten gibt, werden wir dies umgehend tun.
In den Sitzungen der Ausschüsse des Bundestages
sowie durch parlamentarische Anfragen machen Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus
umfassend von Ihrem Auskunftsrecht gegenüber der
Bundesregierung Gebrauch.
Die Basis jeder Berichterstattung sind die Erhebun-
gen und deren Ergebnisse. Diese bleiben von unserem
Vorhaben unberührt: Im Agrarbereich werden Daten
auch künftig jährlich erhoben und veröffentlicht, und
zwar unmittelbar nach der Erhebung.
Mit der Neuordnung des Berichtswesens können wir
einen Teil des Personals – übrigens nicht nur im Land-
wirtschaftsministerium – von jährlich wiederkehrenden
Routineaufgaben befreien und künftig effektiver einset-
zen.
In seiner Stellungnahme hat uns der nationale Nor-
menkontrollrat seine Auffassung übermittelt, dass der
derzeitige Aufwand für die Erstellung der Berichte in
keinem angemessenen Verhältnis zum daraus resultie-
renden Informationsgehalt steht. Er begrüßt daher die
Verlängerung der Berichtszeiträume. Mehr noch: Er
empfiehlt auch anderen Bundesressorts die Überprüfung
ihres Berichtswesens unter diesem Gesichtspunkt.
Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme den
Ansatz begrüßt, mit der Neuordnung des Berichtswesens
den Verwaltungsaufwand zu verringern und in den Rou-
tineberichten künftig politisch bedeutsame Zusammen-
hänge und Entwicklungen zu betrachten.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Das Gesetz dient
dem Bürokratieabbau, ohne dass die Transparenz dabei
verlorengeht. Daher bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und
anderer Vorschriften des Sozialen Entschädi-
gungsrechts (Tagesordnungspunkt 31)
Max Straubinger (CDU/CSU): Wir behandeln hier
und heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsge-
setzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädi-
gungsrechts der Bundesregierung.
Kernpunkte des Gesetzentwurfs sind: die Schaffung
einer materiellen Ermächtigungsgrundlage zum Erlass
einer Rechtsverordnung in § 30 des Bundesversorgungs-
gesetzes, auf deren Grundlage die „Anhaltspunkte für
die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädi-
gungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“,
kurz AHP genannt, zukünftig ohne verfassungsrechtli-
che Bedenken erlassen werden können; der Ausdruck
„Minderung der Erwerbsfähigkeit“, MdE, wird durch die
Bezeichnung „Grad der Schädigungsfolgen“, GdS, er-
setzt, der aus sich heraus das Kausalitätserfordernis zwi-
schen der Schädigung und dem zu entschädigenden Ge-
sundheitsschaden deutlich macht; Änderung im Bereich
12940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
der Kriegsopferfürsorge, die überwiegend bereits Ein-
gang in die Praxis gefunden hat; Änderung im Bereich
der Heil- und Krankenbehandlung; Umsetzung der not-
wendigen Korrekturen und Anpassungen im Sozialen
Entschädigungsrecht und in Gesetzen, die auf das So-
ziale Entschädigungsrecht unmittelbar Bezug nehmen.
Bei den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertä-
tigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht, AHP, handelt es sich nach der
Rechtsprechung um antizipierte Sachverständigengut-
achten, die im Einzelfall nicht widerlegbar sind. Den-
noch existierte bisher keine gesetzliche Ermächtigungs-
grundlage sowohl für die AHP selbst als auch für die
Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung
des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMAS,
das dieses Regelwerk erarbeitet und ständig überprüft.
Dies rügte mehrmals auch die höchstrichterliche Recht-
sprechung. Mit der Änderung des Bundesversorgungsge-
setzes kommt die Bundesregierung dieser Forderung nun
endlich nach.
Beim zweiten Kernschwerpunkt ist die Änderung in-
sofern nötig, da der Begriff „Minderung der Erwerbsfä-
higkeit“, MdE, der im Sozialen Entschädigungsrecht zur
Feststellung des schädigungsbedingten Gesundheits-
schadens verwendet wird, irreführend ist und dort, wie
auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung,
wo er ebenfalls verwendet wird, von den Betroffenen
oftmals falsch verstanden wird.
Dieser Ausdruck würde nämlich aus sich heraus und
ohne nähere Erläuterung auch nichtursächliche Gesund-
heitsschäden mit umfassen, die nach Sinn und Zweck
des Sozialen Entschädigungsrechts nicht entschädigt
werden können. Aus diesem Grunde ist die neue Be-
zeichnung „Grad der Schädigungsfolgen“, GdS, insbe-
sondere für die Betroffenen besser gewählt und damit
verständlicher.
Auch die Änderung im Bereich der Kriegsopferfür-
sorge wird der schon jetzt gängigen Praxis angeglichen.
Beispielsweise werden die Vorschriften zum Einsatz von
Einkommen und Vermögen Beschädigter, die für ihr
volljähriges Kind Hilfe zur Pflege oder Eingliederungs-
hilfe erhalten, an die Vorschrift zur Heranziehung Unter-
haltspflichtiger angeglichen.
Beim vorletzten Kernpunkt der Änderung im Bereich
der Heil- und Krankenbehandlung ergab sich Ände-
rungsbedarf durch die bis zum Jahre 2004 erlassenen Re-
formgesetze zur gesetzlichen Krankenversicherung und
die Änderungen in Gesetzen, die in das Bundesversor-
gungsgesetz einstrahlen und bis zum Jahre 2005 vorge-
nommen wurden. Zu nennen ist hier insbesondere die
Berücksichtigung von Hospizleistungen.
Vor allem erfüllt dieser Gesetzentwurf die Aufgabe
der Umsetzung der notwendigen Korrekturen und An-
passungen im Sozialen Entschädigungsrecht und in Ge-
setzen, die auf das Soziale Entschädigungsrecht unmit-
telbar Bezug nehmen. Hier wird nun höchstrichterliche
Rechtsprechnung in gesetzliche Vorschriften umgesetzt.
Die vom Bundesrat in seinem Beschluss vom 21. Sep-
tember 2007 geforderte Streichung von Art. 1 Nr. 48
Buchstabe b Doppelbuchstabe cc – „Wird Versorgung
abweichend von § 7 Abs. 2 erbracht, werden mit Zustim-
mung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
ausländische Rentenleistungen aus derselben Ursache
angerechnet“ – wurde Rechnung getragen. Hier wurden
vom Bundesrat dazu verfassungsrechtliche und rechts-
systematische Bedenken angeführt.
Insgesamt erfüllt dieser Gesetzentwurf die gesteckten
Ziele bezüglich der Umsetzung der notwendigen Kor-
rekturen und Anpassungen sowohl im Bundesversor-
gungsgesetz als auch im Sozialen Entschädigungsgesetz
und in Gesetzen, die auf das Soziale Entschädigungs-
recht unmittelbar Bezug nehmen. Insofern stimmt die
Fraktion CDU/CSU dem Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer
Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts der
Bundesregierung zu.
Anton Schaaf (SPD): Wir beraten heute abschlie-
ßend über zahlreiche Änderungen des Bundesversor-
gungsgesetzes und anderer Vorschriften. Mit den vorgese-
henen Regelungen wird das Soziale Entschädigungsrecht
konsequent weiterentwickelt. So organisieren wir den
nötigen sozialen Ausgleich, um Menschen zu befähigen,
ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies ist eine un-
serer grundlegenden Aufgaben. Dieser Aufgabe stellen
wir uns mit dem zur Beratung stehenden Gesetzentwurf.
Im Wesentlichen schaffen wir eine demokratisch legi-
timierte Grundlage für die medizinische Begutachtung
im Bereich des Sozialen Entschädigungsrechts und des
Schwerbehindertenrechts. Zugleich führen wir den Be-
griff „Grad der Schädigungsfolgen“ ein. Damit erfolgt
eine Präzisierung des Bundesversorgungsgesetzes. Da-
rüber hinaus enthält der Gesetzentwurf eine Reihe weite-
rer notwendig gewordener Gesetzesänderungen, die von
eher redaktioneller Natur sind.
Das Gesetz verankert rechtlich die Vorlage der
Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im So-
zialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehin-
dertenrecht, AHP. Bundesverfassungsgericht und Bun-
dessozialgericht haben mehrfach die Schaffung solch
einer materiellen Rechtsgrundlage gefordert. Bisher
fehlt diese für die sogenannten Anhaltspunkte als auch
für das Verfahren zu deren Erarbeitung. Auch die Zu-
sammensetzung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats
beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, des
Expertengremiums, das dieses Regelwerk erarbeitet und
ständig überprüft, ist bislang nicht gesetzlich geregelt.
Das wird nun durch die Änderung des Bundesversor-
gungsgesetzes und den Verweis im Schwerbehinderten-
recht, im SGB IX, erreicht.
Auf dieser Basis wird das Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales dann kurzfristig den Entwurf einer
Rechtsverordnung erarbeiten, auf deren Grundlage die
Anhaltspunkte laufend nach medizinisch-wissenschaftli-
chen Kriterien zu überprüfen und zu aktualisieren sind.
Diese Aufgabe wird der neu gegründete Medizinische
Sachverständigenbeirat übernehmen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12941
(A) (C)
(B) (D)
Für die Betroffenen wird sich also zunächst nichts än-
dern. Inhaltliche Änderungen wird es nur mit neuen wis-
senschaftlichen Erkenntnissen in der Medizin geben.
Daneben sorgen wir mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf für eine begriffliche Klarstellung im Bereich der
Sozialen Entschädigung. Der bisher verwendete Begriff
„Minderung der Erwerbsfähigkeit“ führt in der Praxis
immer wieder zu Missverständnissen.
Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind, oder
Kriegsopfer, die sich heute im Rentenalter befinden, sind
kaum über ihre Erwerbsfähigkeit zu beurteilen, da sie
schon aufgrund ihres Alters noch nicht oder nicht mehr
erwerbsfähig sind.
Darum führen wir den Begriff „Grad der Schädi-
gungsfolgen“ ein. Damit haben wir für den Bereich des
Sozialen Entschädigungsrechts eine deutlich zutreffen-
dere Bezeichnung als bisher. Der Begriff „Grad der
Schädigungsfolgen“ soll aber vor allem verdeutlichen,
dass ein Gesundheitsschaden direkt aus einer Schädi-
gung herrühren muss, um in diesem Rahmen Entschädi-
gungsansprüche zu begründen. Es geht uns also allein
um eine begriffliche Klarstellung. Substanziell ändert
sich an der bisherigen Bewertung gesundheitlicher Schä-
digungsfolgen nichts. Darüber hinaus werden einige
Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts an den
veränderten Sprachgebrauch angepasst. Außerdem ha-
ben sich aufgrund von Änderungen in anderen Gesetzen
einige redaktionelle Änderungen ergeben.
Des Weiteren werden Rechtsfortentwicklungen durch
höchstrichterliche Rechtsprechung, die bereits in der
Praxis umgesetzt werden, nun auch in die Vorschriften
des Sozialen Entschädigungsrechts eingefügt. Dies be-
trifft vor allem die Kriegsopferfürsorge.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme den Ge-
setzentwurf grundsätzlich begrüßt. Allerdings hat er an
einer Stelle verfassungsrechtliche und rechtssystemati-
sche Einwendungen erhoben. Dabei geht es um die An-
rechnung ausländischer Rentenleistungen. Die Bundes-
regierung hat in ihrer Gegenäußerung zugesagt, die
Einwendungen des Bundesrates zu überprüfen. Bisher
konnte allerdings kein Einvernehmen erzielt werden.
Die Bedenken des Bundesrates konnten nicht vollständig
ausgeräumt werden.
Darum haben wir die betreffende Vorschrift aus dem
vorliegenden Gesetzesvorhaben herausgenommen. Wir
können nun davon ausgehen, dass eine Anrufung des
Vermittlungsausschusses und damit eine Verzögerung
der unstrittigen Teile nicht mehr notwendig ist. Außer-
dem wurden im Ausschuss einige redaktionelle Korrek-
turen im Bereich des SGB IX vorgenommen.
Jörg Rohde (FDP): Der heute zur Abstimmung ste-
hende Gesetzentwurf enthält zahlreiche Vorschläge zu
Verbesserungen und Klarstellungen im Bundesversor-
gungsgesetz und im Sozialen Entschädigungsrecht. Die
FDP-Bundestagsfraktion begrüßt diese notwendigen
Korrekturen und unterstützt deshalb den Gesetzentwurf.
Mit dem Gesetzentwurf wird eine Vielzahl leistungs-
rechtlicher Klarstellungen im Bundesversorgungsgesetz
erreicht. So werden zum Beispiel Brillengläser und Kon-
taktlinsen für Geschädigte ersetzt, wenn diese gerade
schädigungsbedingt eine Sehhilfe benötigen. Dies folgt
aus dem Entschädigungsgedanken und rechtfertigt eine
Abweichung vom Recht der gesetzlichen Krankenversi-
cherung.
Auch wird klargestellt, dass für Entschädigungsleis-
tungen ambulante Rehabilitationsmaßnahmen möglich
sein sollen, auch wenn dies im SGB V nicht mehr vorge-
sehen ist.
Die FDP begrüßt ferner
– die Klarstellung, dass bei Behandlung Beschädigter
auch die Reisekosten getragen werden. Dies ent-
spricht der gegenwärtigen Verwaltungspraxis,
– die Sicherstellung, dass Kriegsopferfürsorgeberech-
tigte, die ihr Einkommen zur Bedarfsdeckung einzu-
setzen haben, in Hinblick auf die Einkommensgrenze
nicht schlechter dastehen als Leistungsberechtigte
nach SGB XII (§ 85, 5. bis 9. Kapitel SGB XII),
– dass sichergestellt wird, dass die Regelungen über
den zusätzlichen Barbetrag auch für Empfänger von
Entschädigungsleistungen gelten,
– dass die Vorschriften zur Waisenrente im Entschädi-
gungsrecht hinsichtlich der Gewährung über das
18. Lebensjahr hinaus, was die Anrechnung von Ein-
kommen und Vermögen betrifft, an das Recht der
Unfall- und Rentenversicherung angeglichen wer-
den.
Weiterhin wird im Bundesversorgungsgesetz der Be-
griff „Grad der Erwerbsminderung“ durch den Begriff
„Grad der Schädigungsfolgen“ ersetzt. Die FDP begrüßt,
dass dadurch die Schädigung als Ursache für den Erhalt
von Entschädigungsleistungen deutlicher als bisher ge-
macht wird.
Daneben enthält der Gesetzentwurf eine wesentliche
organisatorische Veränderung: Die vom Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales, BMAS, herausgegebenen
„Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbe-
hindertenrecht“, AHP, werden auf eine gesetzliche
Grundlage gestellt. Bisher gibt es für den Erlass der
AHP keine gesetzliche Grundlage; dies läuft im Rahmen
des Erlasses von Verwaltungsvorschriften durch das
BMAS ab. Künftig regelt das Bundesversorgungsgesetz,
wer an der Erstellung der AHP beteiligt wird und in wel-
chem Verfahren die Vorschriften erstellt werden.
Ferner begrüßt die FDP, dass in der Kriegsopferfür-
sorge die Vorschriften über die Beteiligung von Beiräten
gestrichen werden. Die Mitwirkung der Beiräte in
grundsätzlichen Fragen der Kriegsopferfürsorge hat
heute keine wesentliche Bedeutung mehr, da das BMAS
hier in Zusammenarbeit mit den Integrationsämtern und
Hauptfürsorgestellen „Empfehlungen zur Kriegsopfer-
fürsorge“ herausgegeben hat. Eine Beteiligung der Bei-
räte beim Erlass von Richtlinien findet nicht mehr statt.
Für Entscheidungen in Widerspruchsverfahren treten die
Beiräte bereits heute nur noch selten zusammen, und
dies ist laut BMAS zeitlich und organisatorisch sehr auf-
wendig.
12942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Die im Ausschuss beratenen Änderungsanträge der
Koalitionsfraktionen haben darüber hinaus allerdings er-
neut gezeigt, dass die Sozialgesetzgebung mittlerweile
so kompliziert geworden ist, dass selbst das Bundesmi-
nisterium für Arbeit und Soziales erst mit Jahren Verspä-
tung bemerkt, dass lange zurückliegende Änderungen in
den Sozialgesetzbüchern noch immer keinen Eingang in
die daran anknüpfende Sozialgesetzgebung gefunden ha-
ben. Exemplarisch sei hier nur die bereits 2006 erfolgte
Klarstellung des Merkzeichens „B“ genannt, die im
Bundesversorgungsgesetz noch nicht übernommen war
und jetzt, mit über einem Jahr Verspätung, nachgeholt
werden muss. Die FDP ermahnt daher die Bundesregie-
rung, weiter an der Vereinfachung und Entflechtung der
Sozialgesetzgebung zu arbeiten. Dem heute vorliegen-
den Gesetzentwurf stimmt die FDP aber zu.
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Das
Bundesversorgungsrecht regelt die Versorgung bei Ge-
sundheitsschäden, für deren Folgen die staatliche Ge-
meinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder
aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen
Grundsätzen einzustehen hat. Kernstück der sozialen
Entschädigung ist die Kriegsopferversorgung als eines
der größten Probleme, die von der Bundesrepublik
Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu be-
wältigen waren. Nach dem letzten Sozialbudget-Bericht
der Bundesregierung beliefen sich die Ausgaben für so-
ziale Entschädigung auf cirka 3,9 Milliarden Euro – der
Großteil Einkommensleistungen/Renten, 2,4 Milliarden
Euro sowie 1 Milliarde Sachleistungen.
Das vorliegende Änderungsgesetz beinhaltet folgende
Schwerpunkte:
Erstens. Das Ausmaß einer auszugleichenden Schädi-
gung wird nach den „Anhaltspunkten für die ärztliche
Gutachtertätigkeit“ ermittelt. Diese Anhaltspunkte sind
in konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu be-
achten. Von verschiedenen Gerichten ist die fehlende de-
mokratische Legitimation dieser Anhaltspunkte kritisiert
worden, da ihnen eine gesetzliche Rechtsgrundlage
fehlte. Der Gesetzentwurf führt nunmehr in das Bundes-
versorgungsgesetz eine Ermächtigungsgrundlage für
eine Rechtsverordnung ein, um eine Rechtsgrundlage zu
schaffen. Eine inhaltliche Änderung erfolgt nicht. Die
Linke hat hiergegen keine Vorbehalte.
Zweitens. Der Begriff „Minderung der Erwerbsfähig-
keit“ wird in dem Zusammenhang des Versorgungs-
rechts als irreführend interpretiert, da er die Vorausset-
zungen für den Leistungsbezug nicht erkennbar macht.
Er wird daher systematisch ersetzt durch den Begriff
„Grad der Schädigungsfolgen“. Mit der begrifflichen
Neufassung sind nach der Begründung keine materiellen
Veränderungen verbunden, insofern kann Die Linke
auch hier zustimmen.
Drittens. Hinzu kommen einige weitere Änderungen
im Bereich der Kriegsopferfürsorge sowie im Bereich
der Heil und Krankenbehandlung. Dass es dabei auch zu
einigen – wenn auch kleineren – Verschlechterungen für
die Betroffenen im Rahmen der stationären Eingliede-
rungshilfe hinsichtlich der Pflegezulage und im Bereich
der Heil- und Krankenbehandlung kommt, können wir
nicht mittragen. Auch die Streichung der Beteiligung
von Beiräten in der Kriegsopferfürsorge vermögen wir
nicht nachzuvollziehen. Die Beteiligung von einschlägi-
gen Verbänden ist ein Stück praktizierte Demokratie,
welche bewahrt und eher ausgebaut werden sollte.
Auf diesem Hintergrund kann meine Fraktion ihrem
Entwurf nicht zustimmen, und wir werden uns enthalten.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Gesetzentwurf der Bundesregierung ist im Großen und
Ganzen vernünftig, da er viele gesetzliche Klarstellun-
gen schafft. Durch eine Verordnungsermächtigung wird
eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die „An-
haltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbe-
hindertenrecht“, AHP, geschafft. Dies fordert die höchst-
richterliche Rechtsprechung seit langem. Die Bundes-
regierung plant des Weiteren, den neuen Rechtsbegriff
„Grad der Schädigungsfolgen“, GdS, einzuführen. Dies
soll den bisher geltenden Begriff „Minderung der Er-
werbsfähigkeit“, MdE, ablösen. Die MdE beschreibt den
Grad der Funktionsbeeinträchtigung in Prozent. Mit dem
Begriff „Grad der Schädigungsfolgen“ soll künftig im
Sozialen Entschädigungsrecht deutlich gemacht werden,
dass das Bundesversorgungsgesetz, BVG, „keinen umfas-
senden Ersatz aller Gesundheitsschäden anstrebt und zu-
dem auch nicht nur auf das Erwerbsleben beschränkt ist“.
Er soll künftig die Auswirkungen von Funktionsbeein-
trächtigungen in allen Lebensbereichen abdecken und
nicht nur die Einschränkungen im Erwerbsleben. Darüber
hinaus setzen wir mit dem Gesetzentwurf die notwendi-
gen Korrekturen und Anpassungen im Sozialen Entschä-
digungsrecht und in Gesetzen, die auf das Soziale Ent-
schädigungsrecht Bezug nehmen, um.
Ich möchte Ihnen nun aber kurz erklären, warum die
Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Ge-
setzentwurf trotz seiner vielen Verbesserungen nicht zu-
stimmen kann: Die Bundesregierung versäumt es zum
wiederholten Male, eine grundsätzliche und einheitliche
Diskussion über die Feststellung einer Behinderung vor-
zunehmen. Der Behinderungsbegriff muss konsequent
nach der „Internationalen Klassifikation von Funk-
tionseinschränkungen und Behinderungen“, ICF, be-
stimmt werden. Diese unterscheidet Schädigungen, Ak-
tivitätseinschränkungen und Partizipationsverluste, die
im Wechselverhältnis von Funktionsverlusten und Kon-
textfaktoren entstehen. Der Behinderungsbegriff der ICF
ist allgemeiner und umfassender als der Begriff gemäß
§ 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IX. Wird der allgemeine
Behinderungsbegriff der ICF verwandt, sollte daher auch
besser von einer „Beeinträchtigung der funktionalen Ge-
sundheit“ gesprochen werden. Diese Definition folgt
dem Geist der UN-Konvention zu den Rechten von
Menschen mit Behinderungen. In einer Übersetzung
vom 16. Februar 2007 ist der Personenkreis von „Men-
schen mit Behinderungen“ in Art. 1 der Konvention wie
folgt definiert: „Der Begriff ,Menschen mit Behinderun-
gen‘ umfasst Menschen mit langfristigen körperlichen,
seelischen, geistigen oder Sinnesschädigungen, die sie
im Zusammenwirken mit verschiedenen Barrieren daran
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12943
(A) (C)
(B) (D)
hindern können, gleichberechtigt mit anderen uneinge-
schränkt und wirksam an der Gesellschaft teilzuneh-
men.“
Infolge unterschiedlicher Behinderungsbegriffe in
den verschiedenen Büchern des Sozialgesetzbuches
kommt es darüber hinaus zu enormen Schnittstellenpro-
blemen. So knüpft der Behinderungsbegriff des III. Bu-
ches Sozialgesetzbuch zwar grundsätzlich an die Defini-
tion des IX. Buches Sozialgesetzbuch an, nimmt aber
zusätzlich Bezug auf die Teilhabefähigkeit am Arbeitsle-
ben und zieht ausdrücklich den Personenkreis der Men-
schen mit sogenannten Lernbehinderungen ein. Zwar
wird in den Büchern II, V und VI des Sozialgesetzbu-
ches ein Behinderungsbegriff verwandt, dieser wird aber
weder nach Art noch nach Schwere der Behinderung nä-
her konkretisiert. Ähnliche Schwierigkeiten finden wir
in den Büchern VIII, XI und XII Sozialgesetzbuch vor.
Zurzeit sind noch keine einheitlichen erprobten In-
strumente zur Einschätzung und Bewertung einer indivi-
duellen Situation entsprechend der ICF vorhanden. Im
Rahmen der Beschäftigung mit den „Anhaltspunkten für
die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädi-
gungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“
hätte parallel mit dem Prozess der Umsetzung der UN-
Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinde-
rungen ebensolche Instrumente diskutiert und entwickelt
werden müssen. Es müssen ferner, ähnlich wie beim
Pflegebedürftigkeitsbegriff, endlich finanzielle Ressour-
cen zur Verfügung gestellt werden, um auch einen Be-
hinderungsbegriff entsprechend der ICF zu entwickeln.
Da all die von mir genannten Punkte in dem vorlie-
genden Gesetzentwurf nicht einmal andiskutiert werden,
können meine Fraktion und ich dem Gesamtpaket – trotz
überwiegend zu begrüßender Veränderungen – nicht zu-
stimmen. Unser Votum lautet: Enthaltung.
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung:
– Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Ände-
rung des Gentechnikgesetzes
– Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände-
rung des EG-Gentechnik-Durchführungs-
gesetzes
– Antrag: Kennzeichnung gentechnikfreier
Fütterung bei tierischen Produkten ermögli-
chen
– Antrag: Schutz von Mensch, Umwelt und
gentechnikfreier Produktion im Gentechnik-
recht bewahren
(Tagesordnungspunkt 32 a und b und Zusatz-
tagesordnungspunkte 9 und 10)
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Problem und Ziel des
Entwurfes der Bundesregierung eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Gentechnikgesetzes lauten wie folgt:
Das deutsche Gentechnikrecht ist so auszugestalten,
dass Forschung und Anwendung der Gentechnik in
Deutschland befördert werden. Der Schutz von Mensch
und Umwelt bleibt, entsprechend dem Vorsorgegrund-
satz, oberstes Ziel des Gentechnikrechts. Die Wahlfrei-
heit der Landwirte sowie der Verbraucher und die
Koexistenz der unterschiedlichen Bewirtschaftungsfor-
men bleiben gewährleistet. Diese sind die unumstritte-
nen Ziele bei der Gestaltung der rechtsverbindlichen Be-
dingungen für Forschung und Anwendung der Grünen
Gentechnik.
Das Dritte Gesetz zur Änderung des Gentechnikge-
setzes wurde am 17. März 2006 erlassen und damit die
ordnungsgemäße Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie
2001/18/EG vorgenommen. In der Zwischenzeit wurden
zahlreiche Expertengespräche und Anhörungen aller be-
teiligten Interessensgruppen durchgeführt, mit dem Ziel,
den einzelnen Interessenlagen gerecht zu werden. Auf
dieser Grundlage wurde das Eckpunktepapier durch das
Bundeskabinett verabschiedet, auf dessen Basis die wei-
tere Novellierung des Gentechnikgesetzes vorbereitet
wurde. Der vor uns liegende Gesetzentwurf ist ein politi-
scher Kompromiss.
Lassen Sie mich kurz die vier – aus meiner Sicht –
zentralen Punkte bei der anstehenden Novellierung des
Gentechnikrechts ansprechen:
Erstens. Die Kennzeichnung. Die umfassende Kenn-
zeichnung ist die Grundlage für Transparenz und damit
die Voraussetzung einer vollen Wahlfreiheit. Die jetzt
vorgesehene Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ wird
meines Erachtens diesen bisher gesetzten Zielen einer
vollständigen und alle Produktionsstufen umfassenden
Kennzeichnung keinesfalls gerecht. Die volle Wahlfrei-
heit für den Verbraucher wäre damit nicht gewährleistet.
Ich plädiere für eine prozessorientierte Kennzeichnung,
bei der der Einsatz jedweder gentechnisch veränderter
Organismen, also auch von Mikroorganismen, Enzymen
oder Tierarzneimitteln, bei der Herstellung von Lebens-
mitteln Berücksichtigung findet.
Zweitens. Anbauabstände. In dem aktuell gültigen
Gentechnikrecht sind Anbauabstände nicht festgelegt.
Anbauabstände bilden jedoch einen wichtigen Baustein
für den praktischen Anbau gentechnisch veränderter
Pflanzen und damit auch für ein geregeltes Nebeneinan-
der verschiedener Anbausysteme – der Koexistenz.
Ausreichende Abstände dienen dazu, Haftungsfälle
möglichst auszuschließen. Allerdings stellen die vorlie-
genden Abstände von 150 Meter bzw. 300 Meter rein
politische Werte dar. Sie basieren leider nicht auf wis-
senschaftlichen Erkenntnissen. Dagegen haben Wissen-
schaft und Forschung durch Ihre Versuche einen Anbau-
abstand von 50 Meter wiederholt als absolut ausreichend
belegt.
Ein solches Vorgehen sollte keinesfalls für künftige
Festlegungen von Abstandwerten zur Regel werden.
Vielmehr sind neue Erkenntnisse aus den vielen laufen-
den und geplanten Versuchen als Grundlage zu verwen-
den.
12944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Sehr zu begrüßen ist die im Entwurf vorgesehene
Möglichkeit für Landwirte, untereinander Absprachen
zur Reduzierung der Abstände zu treffen. Dies ist eine
praktikable Möglichkeit, Haftungsfälle von vornherein
auszuschließen und das Nebeneinander einvernehmlich
zu regeln.
Drittens. Standortregister. Wichtig ist: Wir stehen zur
Transparenz des GVO-Anbaus. Gesetzlich erlaubter und
nach den Regeln der guten fachlichen Praxis erfolgter
Anbau ist legitim und muss nicht verborgen werden. An-
dererseits gewinnt die Frage nach dem Schutz geneh-
migter Anbau- und Versuchsflächen aufgrund der erheb-
lichen Zunahme von Feldzerstörungen eine immer
größere Bedeutung.
Die sich leider häufenden Feldzerstörungen verursa-
chen erhebliche Kosten für Unternehmen und For-
schungsinstitute und vernichten wissenschaftliche Er-
kenntnisse. Sie sind deshalb scharf zu verurteilen.
Freilandversuche sind unverzichtbar und dienen der
wichtigen Erkenntnisfindung über die ökologischen
Auswirkungen des GVO-Anbaus. Praktikable Maßnah-
men zur Vermeidung solcher Zerstörungen sind unum-
gänglich und umgehend zu entwickeln.
Viertens. Haftung. Der Entwurf des Vierten Gesetzes
zur Änderung des Gentechnikgesetzes sieht keine Ände-
rung der Haftungsregelungen vor. Das ist das Ergebnis
eines von Bundesminister Seehofer durchgeführten
Fachgesprächs mit Experten aus Wissenschaft, Recht-
sprechung und den Bundesministerien.
Das Haftungsrecht darf nicht dazu führen, dass Land-
wirte von einem Anbau zugelassener und als sicher be-
werteter gv-Pflanzen abgeschreckt werden. Wichtig ist
in diesem Zusammenhang die Definition des Scha-
densereignisses. Ein solches liegt erst dann vor, wenn
durch Auskreuzung einer gv-Pflanze gentechnisch-ver-
änderte Pflanzenanteile oberhalb des Schwellenwertes
von 0,9 liegen und damit ein Vermarktungsverlust auf-
tritt. Aus diesem Grunde kommt dem Schwellenwert
eine erhebliche Bedeutung zu. Aus Gründen der Rechts-
sicherheit ist dieser vom Gesetzgeber vorzugeben und
darf nicht von Dritten – zum Beispiel potenziellen Ab-
nehmern – bestimmt werden. In diesem Zusammenhang
sei darauf hingewiesen, dass der Anbau von gv-Pflan-
zen, bei Einhaltung der guten fachlichen Praxis, nicht zu
einem unkalkulierbaren Risiko werden darf.
Schluss. Alle neuen Regelungen zur Gentechnologie
müssen dem Ziel dienen, Forschung und Anwendung er-
folgversprechender zugelassener und risikogeprüfter
gentechnisch veränderter Pflanzen zu ermöglichen. Wie
bei jeder anderen neuen Technologie müssen auch bei
der Grünen Gentechnik nach erfolgter konsequenter Ri-
sikoabklärung die Chancen und Potenziale genutzt wer-
den können. Bei der anstehenden neuen Generation von
gentechnisch veränderten Pflanzen geht es um wichtige
neue Pflanzeneigenschaften: verbesserte Nährstoffge-
halte, höhere Energiedichte zur Energiepflanzennutzung,
bessere Eignung für schwierige Standorte und Wider-
standsfähigkeit gegen klimatischen Stress sowie größere
Resistenz gegen Schädlinge und Krankheiten zur Ver-
meidung von Ertrags- und Qualitätsverlusten, um die
Wichtigsten zu nennen.
Die großen globalen Herausforderungen, gesunde und
ausreichende Ernährung sowie sichere Rohstoff- und
Energieversorgung durch Pflanzenanbau, machen es
dringend erforderlich, die Leistungsfähigkeit der land-
wirtschaftlichen Kulturpflanzen in dieser Richtung zu
steigern. In diesem Zusammenhang kann die Grüne
Gentechnik die bisher praktizierten Züchtungsmethoden
erfolgreich ergänzen.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): An die 30 000 Mails
sind innerhalb von nur drei Tagen beim Bundestag ein-
gegangen, in denen Bürgerinnen und Bürger sich da-
rüber beschweren, dass diese Debatte zum Gentechnik-
gesetz zu nachtschlafender Zeit stattfindet. Das zeigt
uns, wie interessiert die Menschen die Entwicklung des
Gentechnikrechts verfolgen, und sollte uns gemahnen,
sensibel mit dem Thema umzugehen und für Vertrauen
zu sorgen, indem wir für rechtliche Rahmenbedingungen
eintreten, die durchgehend dem Vorsorgeprinzip gerecht
werden. Ein gentechnisch veränderter Organismus ist ein
Organismus, dessen genetisches Material in einer Weise
verändert worden ist, wie sie unter natürlichen Bedin-
gungen durch Kreuzen oder durch natürliche Rekombi-
nation nicht vorkommt. So lautet die in § 3 unter Punkt 3
im Gentechnikgesetz vorgenommene Begriffsbestim-
mung für einen GVO.
Diese Definition verdeutlicht die Problematik, die
sich aus dem Einsatz der Gentechnik im offenen System,
auf dem Acker ergibt: Diese Organismen kommen in der
Natur nicht vor; einmal freigelassen können sie sich dort
aber verbreiten und sind nicht rückholbar. Das kann
Auswirkungen haben auf die Umwelt, auf bewirtschaf-
tete und auf unbewirtschaftete Flächen. Deshalb müssen
für den Einsatz der Gentechnik auf dem Feld ganz an-
dere Bedingungen gelten als für Arbeiten mit GVO im
geschlossenen System, unter Laborbedingungen. So
stellt ein Gentechnikgesetz, welches einerseits den An-
bau von GVO-Pflanzen ermöglichen und andererseits
Mensch, Umwelt und gentechnikfreie Wirtschaft vor den
Auswirkungen des GVO-Anbaus schützen soll, ein we-
nig den Versuch der Quadratur des Kreises dar.
In meiner bisher noch kurzen Laufbahn im Deutschen
Bundestag ist es bereits das zweite Mal, dass ich am Rin-
gen um ein neues Gentechnikgesetz beteiligt bin. Die
Probleme, die es dabei zu lösen gilt und die Fragen, die
sich stellen, sind die gleichen geblieben wie beim ersten
Mal. Die Antworten, die wir mit dem noch geltenden
Gesetz darauf gefunden haben, waren sehr pragmatisch.
Nach meiner Überzeugung werden sie sich am Ende
nicht groß unterscheiden können von denen, die wir
diesmal finden. Allerdings haben wir die Chance, bereits
gewonnenen Erfahrungen einfließen lassen und sich ab-
zeichnende Entwicklungen aufnehmen zu können.
Der Entwurf des Gentechnikgesetzes, der heute ein-
gebracht wird, ist aus unserer Sicht eine gute Beratungs-
grundlage. Mit der Beibehaltung der Haftungsregelung
und des flurstückgenauen öffentlichen Standortregisters
bleiben in ganz zentralen Punkten die Interessen des
gentechnikfreien Anbaus und der Verbraucherinnen und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12945
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Verbraucher gesichert: Die Verursacher müssen im Scha-
densfall weiterhin Ausgleich leisten, und Bürgerinnen
und Bürger können sich weiterhin im Internet darüber
informieren, wo gentechnisch veränderte Pflanzen ange-
baut werden. Ich bin sehr froh, dass wir uns mit unserem
Koalitionspartner darauf geeinigt haben, denn das ist un-
bürokratisch, transparent und schafft Vertrauen.
Wir werden nun in den Ausschussberatungen und zu-
sammen mit den Sachverständigen in einer öffentlichen
Anhörung am 26. November noch einige offene Fragen
zu diskutieren haben, die sich für uns zum Beispiel im
Zusammenhang mit der in § 16 b des Gesetzentwurfs
neu geschaffenen Möglichkeit der nachbarschaftlichen
Vereinbarungen ergeben. Hier könnte die Gefahr beste-
hen, dass dem Nachbarn, der auf die Einhaltung des
Mindestabstands zwischen seinem Feld und dem GVO-
Anbau verzichtet, nicht alle Folgen bewusst sind, die
sich daraus für ihn ergeben, zum Beispiel die Kenn-
zeichnung seiner Produkte, die einzuhaltenden Vorsorge-
maßnahmen usw. Daraus könnten Schäden, Konflikte
und Rechtsstreitigkeiten entstehen. So etwas kann nicht
den Gerichten überlassen werden, und wir sollten prü-
fen, wie dies von Anfang an klar geregelt werden kann.
Wir werden noch einige andere Fragen diskutieren
müssen, aber dafür wird es noch reichlich Gelegenheit
geben.
Ein Punkt, der nicht direkt das Gentechnikgesetz be-
trifft, der aber im Zusammenhang mit dem Gentechnik-
gesetz vereinbart worden ist, ist die Kennzeichnung tie-
rischer Produkte. Ich bin sehr froh darüber, dass wir uns
mit Minister Seehofer und dem Koalitionspartner darauf
geeinigt haben, hier eine Regelung zu finden, die es Ver-
braucherinnen und Verbrauchern möglich machen soll,
bei Milch, Eiern, Fleisch und daraus gefertigten Produk-
ten zu erkennen, ob diese von gentechnikfrei gefütterten
Tieren stammen.
Das wird ein enormer Fortschritt sein; denn hier klafft
bislang eine Lücke: Nach den EU-Kennzeichnungsrege-
lungen müssen gentechnisch veränderte Futtermittel
zwar gekennzeichnet werden, aber diese Information
findet sich nicht auf dem Endprodukt. Deshalb wissen
die Konsumenten bisher nicht, ob zum Beispiel die
Milch von mit gentechnisch veränderten Pflanzen gefüt-
terten Kühen stammt oder nicht. Mit der Kennzeichnung
werden sie endlich auch bei konventionellen Erzeugnis-
sen auswählen können; sie werden die Möglichkeit be-
kommen, bewusst zu entscheiden, ob sie mit ihrem Kauf
den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen unterstüt-
zen wollen. Gerade der Anbau von gentechnisch verän-
derten Pflanzen, von Organismen, die es in der Natur
nicht gibt, die sich dort aber unkontrolliert verbreiten
können, ist ein sensibles Thema. Deshalb müssen Ver-
braucherinnen und Verbraucher Wahlfreiheit haben; die
Produkte dürfen ihnen nicht länger aufgezwungen wer-
den. Nur so lassen sich Vertrauen und Akzeptanz gewin-
nen. Ein Vorschlag für eine Kennzeichnungsregelung
muss nun zügig vorgelegt werden, denn sie ist wichtiger
Mosaikstein einer Einigung über gesetzliche Regelungen
im Gentechnikbereich.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die schwarz-
rote Koalition hat entschieden, die Einbringung ihrer
Novelle des Gentechnikgesetzes als letzten Tagesord-
nungspunkt am gestrigen Donnerstag, also am Freitag-
morgen um 4.15 Uhr vorzusehen. Damit soll sicherge-
stellt werden, dass niemand die Debatte im Fernsehen
verfolgen kann. Wie viel Angst hat diese Regierung,
dass sie ein Gesetzeswerk, an dem sie angeblich über
zwei Jahre gearbeitet hat, zu nachtschlafender Zeit im
Bundestag vorstellt? Und ihre Befürchtungen sind be-
gründet. Das Gesetzeswerk schadet Deutschland, scha-
det den Menschen in diesem Land, und deswegen sollte
es nie das Licht der Welt erblicken.
In Umfragen äußert sich eine Mehrheit der Menschen
ablehnend zu den Produkten der Grünen Gentechnik.
Das kann angesichts von Medienkampagnen der Gegner
nicht verwundern. Wir wissen von umfangreichen Un-
tersuchungen, dass die Ablehnung oder Befürwortung
eines Produkts nicht unbedingt einen Niederschlag auch
im Kaufverhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher
findet. Deshalb fürchten die Gegner der Gentechnik
nichts mehr, als dass Verbraucherinnen und Verbraucher
die Chance erhalten, sich an der Ladentheke selbst zu
entscheiden.
Verantwortliche Politiker haben die Pflicht, ihr Han-
deln nicht an der Stimmung des Augenblicks auszurich-
ten, sondern an übergeordneten Erfordernissen: Siche-
rung der Lebensgrundlagen, Erhalt und Schaffung neuer
Arbeitsplätze. Die Bundesregierung hat dies mit der Ini-
tiierung ihrer Hightechstrategie richtig erkannt. Doch sie
ist zu schwach, trotz Großer Koalition, die zielführenden
Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen. Dazu gehört
ein innovationsfreundliches Gentechnikgesetz, das er-
möglicht, dass im Interesse von Verbraucherinnen und
Verbrauchern, im Interesse der Landwirte die in Europa
zugelassenen transgenen Pflanzensorten ohne Schikane
und Furcht vor Zerstörung durch Demonstrationstouris-
ten angebaut werden können. Die bestehende Innova-
tionsführerschaft deutscher Forschungsinstitute und Un-
ternehmen braucht Rahmenbedingungen, die die zügige
Entwicklung marktfähiger Produkte ermöglichen.
Die FDP hat bereits im Januar einen Entwurf zur No-
vellierung des Gentechnikgesetztes vorgelegt – Drucksa-
che 16/4143. Unser Entwurf berücksichtigt ausgewogen
die unterschiedlichen Positionen und ermöglicht Rechts-
sicherheit für alle Marktbeteiligten. Der Gesetzentwurf
der Bundesregierung erreicht nichts von allem.
Es ist absurd, nach 20 Jahren Risikoforschung, nach
elf Jahren Anbau von GVO auf inzwischen über
100 Millionen Hektar Fläche über hypothetische Risiken
zu philosophieren, statt die Chancen dieser Züchtungs-
methode entschlossen zu nutzen. Schädlingsresistente
Sorten, der Goldene Reis, haben lange bewiesen, dass
sie ein erhebliches Potenzial besitzen, die Landwirt-
schaft naturnäher zu gestalten, die Gesundheit der ärms-
ten Menschen zu fördern. Es sind die satten Europäer,
die mit ihren Kassandrarufen verhindern, dass Armut
und Hunger in der Welt entschlossen bekämpft werden.
All diejenigen, die sich in den vergangenen Jahren als
Kassandra betätigt haben und Horrorszenarien an die
12946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
(A) (C)
(B) (D)
Wand schrieben, sind aufgefordert, zur Realität zurück-
zukehren, ihre Position zu korrigieren und die Bevölke-
rung wissensbasiert zu informieren.
Im jetzigen Novellierungsentwurf der Bundesregie-
rung kritisiert die FDP insbesondere folgende Punkte:
Der Schwellenwert der Kennzeichnung muss als Haf-
tungsschwellenwert festgeschrieben werden. Nur so
kann die geforderte Rechtssicherheit für alle Beteiligten
– auch die Ökobauern – geschaffen werden. Die Vorstel-
lung, dass Landwirte, die GVO anbauen, mit dem Gesetz
gezwungen werden könnten, für die Einhaltung privat-
rechtlicher Verträge anderer zu haften, mit denen der von
der EU vorgegebene Schwellenwert von 0,9 Prozent
ausgehebelt werden soll, ist rechtsstaatlich nicht haltbar.
Die Bevölkerung hat ein Recht auf umfassende Infor-
mationen über die Züchtungsmethode Grüne Gentech-
nik. Als Liberale fühlen wir uns dem mündigen Bürger
verpflichtet, der eigenverantwortlich entscheiden möchte
und dafür wissenschaftlich fundierte Sachinformationen
braucht. Wir fühlen uns in gleicher Weise dem Schutz
des Eigentums verpflichtet. Deswegen erfüllen uns die
zahlreichen Zerstörungen von Feldern, die mit gentech-
nisch veränderten Pflanzen bestellt sind, mit Sorge. Die
Vorgänge zeigen, dass das öffentliche Standortregister
von Demonstrationstouristen als Einladung zur Zerstö-
rung von Feldern empfunden wird. Dies muss unterbun-
den werden. Volle Transparenz kann nur gewährleistet
werden, wenn diese nicht missbraucht wird, um Felder
zu zerstören. Es ist schlichte Geldverschwendung, wenn
Forschungsinstitute und Unternehmen die knappen For-
schungsmittel für die Überwachung ihrer Versuche aus-
geben müssen. Der öffentliche Teil des Standortregisters
darf somit nur auf die Gemarkung genau Auskunft ge-
ben. Mit der flurstücksgenauen Ausweisung der GVO-
Flächen leistet der Staat Feldzerstörungen Vorschub.
Die Abstandsregelungen dienen der Organisation der
Koexistenz. Dadurch wird gewährleistet, dass kein zu-
fälliger Polleneintrag auf Felder von Landwirten ge-
langt, die auf den Anbau von GVO verzichten wollen.
Die Festlegung der Abstände für Mais missachtet die Er-
gebnisse der eigenen Ressortforschung. Unterschiedli-
che Abstände für konventionelle Landwirtschaft und
Ökolandbau sind nicht erforderlich, denn es gilt immer
derselbe Schwellenwert von 0,9 Prozent.
Wir unterstützen die Regelung, dass auf benachbarten
Feldern, auf denen GVO angebaut werden, kein Abstand
erforderlich ist. Private Absprachen zwischen Landwir-
ten sind üblich und sinnvoll und erleichtern die Organisa-
tion der Koexistenz. Es ist nicht verständlich, warum es
erforderlich sein soll, das Auskreuzen von GVO-Mais
auf einem Feld, auf dem ebenfalls GVO-Mais angebaut
wird, zu verhindern. Eine solche Forderung müssen
Landwirte, die in den Regionen mit starkem Maiszüns-
lerbefall Mais anbauen, als Schikane empfinden. Da-
rüber hinaus gibt es auch Nutzungen der Ernte, die keine
Kennzeichnung erfordern: Das ist bei der Verwendung
als Tierfutter oder Rohstoff für die Biogasanlage auf dem
eigenen Hof der Fall. In diesen Fällen sind eventuell Ein-
kreuzungen unerheblich, es entsteht kein finanzieller
Nachteil. Hinzu kommt, dass benachbarte Landwirte oh-
nehin über Nacht eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts
bilden können, die die Felder gemeinsam bewirtschaftet.
Die Berichterstattung in den führenden Printmedien
zeigen die enormen Chancen der Züchtungsmethode
Grüne Gentechnik auf. Der Nobelpreisträger Norman
Borlaug hat ein überzeugendes Plädoyer für die Anwen-
dung der Grünen Gentechnik zur Bekämpfung des Welt-
hungers veröffentlicht. Die FDP hat dazu in ihrem An-
trag auf Drucksache 16/6714 konkrete Vorschläge
unterbreitet und diese mit einer Vielzahl von Beispielen
unterlegt. Europa – und insbesondere Deutschland –
sollte endlich seine rückwärtsgewandten Träumereien
beenden. Nicht die Wünsche satter Europäer sollten
Maßstab der Bewertung der Grünen Gentechnik sein,
sondern die Erfordernisse der Bekämpfung von Hunger
und Armut in den ärmsten Ländern der Erde.
Von Horst Seehofer ist keine zukunftsorientierte Poli-
tik zu erwarten. Ob Milchquote, Gammelfleisch oder
eben Gentechnik: Er duckt sich weg. Die Atmosphäre
um die Anwendung der Grünen Gentechnik ist in
Deutschland vergiftet – und maßgeblich dazu beigetra-
gen haben die vorherige und auch die jetzige Bundesre-
gierung. Anstatt mit gutem Beispiel voranzugehen und
sichere Innovationen in Deutschland zu begrüßen, wer-
den scheinbar gefühlte Risiken vermittelt.
Die Quittung für die populistische Politik des Herrn
Seehofer wird der Union schneller präsentiert werden,
als es CDU und CSU heute bewusst und lieb ist. Denn
sobald gentechnisch veränderte Futtermittel aus Übersee
nicht mehr nach Europa importiert werden, ist die Vered-
lungswirtschaft in Deutschland massiv bedroht. Das gilt
ganz besonders für die Schweineproduktion, die auf Soja
als Eiweißquelle nicht verzichten kann. Die Fortführung
der Anti-Gentechnikpolitik à la Künast durch die vorlie-
gende Gentechniknovelle ist eine „Kampfansage“ an die
deutsche Schweine- und Geflügelhaltung. Diese dro-
hende Vernichtung von Arbeitsplätzen und Wertschöp-
fung vor allem im ländlichen Raum ohne erkennbaren
Nutzen für die Verbraucher wird die FDP massiv be-
kämpfen.
Jetzt ist die Führungskraft der Bundeskanzlerin gefor-
dert, die nicht weiter nach dem Grundsatz „Da mische
ich mich nicht ein“ verfahren darf, sondern die im Koali-
tionsvertrag festgelegte Förderung von Forschung und
Anbau in Deutschland umsetzen muss. Mit Minister
Seehofer ist die CDU/CSU-Fraktion völlig von der zu
gemeinsamen Oppositionszeiten getragenen innova-
tionsfreundlichen Gentechnikpolitik abgerückt.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Heute ist kein
guter Tag für die gentechnikfreie Landwirtschaft und
Imkerei in Deutschland. Es wäre aber noch schlimmer
gekommen, wenn sich die CDU/CSU durchgesetzt hätte.
Zum Beispiel wäre dann das öffentlich zugängliche
Standortregister einfach abgeschafft worden. Auf diesem
Teilerfolg sollten Sie sich aber nicht ausruhen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen der SPD. Im Ausschuss sollten
wir ernsthaft darüber diskutieren, wie die Risiken des
Abenteuers Agrogentechnik weiter deutlich reduziert
werden können.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007 12947
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Die vorliegenden Änderungsvorschläge zum Gen-
technikgesetz und der damit verbundene Entwurf der
Gentechnik-Pflanzenerzeugungsverordnung werden die
gentechnikfreie Landwirtschaft und Imkerei, ob konven-
tionell oder ökologisch arbeitend, langfristig nicht si-
chern. Aber genau das steht in § 1: die Sicherung der
Koexistenz zwischen gentechnisch veränderten und un-
veränderten Pflanzen. Was aber tun, wenn die Verschlep-
pungsrisiken kaum zu kontrollieren sind? Mit welchen
Maßnahmen können dann die gentechnikfreie Landwirt-
schaft, die Imkerei und die Verbraucherinnen und Ver-
braucher geschützt werden? Der französische Präsident
Sarkozy hat darauf eine Antwort: Er hat ein Moratorium
des Anbaus von gentechnisch verändertem Mais ver-
hängt. Ihr konservativer Kollege hat gute Gründe dafür,
Frau Merkel!
Aber kommen wir zum Gesetzesentwurf. Ich werde
mich auf drei Aspekte konzentrieren: Erstens die Er-
leichterungen der Forschung; zweitens die Transparenz
und drittens die Haftungsfragen. Erstens: Die Regierung
will die Forschung erleichtern. Dafür werden Vorsorge-
maßnahmen schlichtweg abgeschafft und Sicherheitsbe-
denken beiseite geschoben. Die Worte „Wahlfreiheit“
und „Koexistenz“ aus dem Koalitionsvertrag werden da-
mit zur Farce. In § 2 ermächtigen Sie die Bundesregie-
rung, bestimmte Genpflanzen von der Kontrolle und der
nachträglichen Anordnungen zu befreien. Ich frage Sie
warum? Ist der Preis nicht zu hoch für diese Verfahrens-
beschleunigung im Namen der Forschungsfreiheit? Die
Linke sieht keine sinnvolle Begründung dafür, dieses er-
kennbare Risiko einzugehen. Wir lehnen daher einen so
riskanten Freifahrschein für den Forschungsstandort
Deutschland kategorisch ab.
Aber es gibt noch mehr Forschungsförderung dieser
Art. Nach § 14 Abs. 4 soll das sogenannte vereinfachte
Verfahren, das bereits jetzt aufgeweicht war, weiter er-
leichtert werden. Es soll Standard statt Ausnahme wer-
den. Das heißt im Klartext: Im Gegensatz zur bisherigen
Regelung muss der Antragsteller eine Freisetzung nur
für den ersten Standort beantragen, jedoch nicht für wei-
tere Freisetzungen – diese sollen nur noch nachgemeldet
werden, selbst wenn es andere Standorte betrifft.
Da aber bedeutet: keine Anhörung mehr, keine stand-
ortbezogene Prüfung, keine Transparenz. Diese undemo-
kratische Regelung ist inakzeptabel. Gerade bei dieser
Risikotechnologie brauchen wir mehr Transparenz statt
weniger. Alles andere ist industriehörige monopolisti-
sche Politik und als vertrauensbildende Maßnahme nicht
geeignet. Mit Verbraucher- und Umweltschutz hat das
alles nichts zu tun. Deshalb lehnt Die Linke diese Rege-
lung ab.
Zweitens, die Transparenz: Hier sind die privaten Ab-
sprachen ein Problem. Künftig sollen die Sicherheitsab-
stände der guten fachlichen Praxis durch Absprachen
von Gartenzaun zu Gartenzaun unterlaufen werden. Das
soll dann zwar noch aufgeschrieben werden, aber: wer
bitte erfährt dann noch wie von den Absprachen? Das
wird im Gesetzentwurf nicht mal erwähnt. Transparenz
ist offensichtlich nicht gewollt. Diese Regelung ist nicht
nur ein Kontaminationsrisiko, sondern garantiert sie ge-
radezu! Diese Ausnahmeregelung muss ersatzlos gestri-
chen werden. Sie ist auch für Außenstehende nicht nach-
vollziehbar ist. Die kontrollierenden Behörden können
die Einhaltung dieser gesetzlichen Regelung gar nicht
wirksam überprüfen. Damit werden die Landesbehörden
wieder mal im Regen stehen gelassen! Für Die Linke ist
die Einhaltung der Sicherheitsabstände ohne Ausnahmen
eine Mindestforderung.
Kommen wir zu Punkt drei, der Frage der Haftung.
Wer haftet für kontaminierte Felder und Ernten, für indi-
rekte Schäden zum Beispiel durch Mehrkosten zur gen-
technikfreien Lebensmittelproduktion? Die Linke hat
eine Kleine Anfrage zu den volkswirtschaftlichen Kos-
ten dieser Risikotechnologie vorgelegt, auf deren Beant-
wortung viele Interessierte warten.
Doch zurück auf den Bauernhof. Wie läuft die Haftung
von Betrieb zu Betrieb? Die Regelung zur gesamtschuld-
nerischen Haftung bleibt entgegen der katastrophalen
Vorschläge des Eckpunktepapiers aus dem Hause Seehofer
vom Februar 2007 im Gesetzentwurf bestehen. Proble-
matisch ist auch bei dieser Regelung die Frage der Beein-
trächtigung. Nach Auffassung der Bundesregierung ist
die 0,9 Prozent Grenze als gesetzlicher Schwellenwert
maßgebend. Diese 0,9 Prozent beziehen sich aber nach
der EU-Verordnung 1829/2003 auf die Kennzeichnung,
wenn es um technisch unvermeidbare oder zufällige Ver-
unreinigungen geht. Was aber ist technisch unvermeidbar
oder zufällig? Ist ab jetzt jede Verschleppung zufällig
oder technisch unvermeidbar, wenn der gesetzlich vorge-
schriebene Sicherheitsabstand von 150 Metern eingehal-
ten wird? Werden damit die 0,9 Prozent zu einem kalku-
lierten und letztlich akzeptierten Risiko, also ohne
Haftungsanspruch?
Für Die Linke steht fest: Wer gentechnisch veränderte
Pflanzen anbaut, muss für jede nachweisbare Verschlep-
pung haften, auch unter 0,9 Prozent! Ein Haftungsan-
spruch muss sich also an der Nachweisgrenze orientie-
ren! Gleiches muss für den Nachweis im Honig gelten.
Die Agrogentechnikindustrie muss für alle gesamtgesell-
schaftlichen Mehrkosten durch Anbau oder Freisetzung
transgener Pflanzen aufkommen. Wieso sollten die Steu-
erzahler für eine Risikotechnologie bezahlen, die nie-
mand will und keiner braucht?
Der Linken geht es um den Schutz der Interessen der
gentechnikfreien Landwirtschaft, der Imkerei und der
Verbraucherinnen und Verbraucher.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fünf
Uhr morgens in Deutschland: Für diese Zeit ist die No-
velle zum Gentechnikgesetz als letzter Punkt auf die Ta-
gesordnung des Bundestages gesetzt worden. Bei allem
Verständnis für volle Tagesordnungen, aber hier handelt
es sich um ein für Verbraucherinnen und Verbraucher so-
wie für die gesamte gentechnikfreie Produktionsweise
durchaus bedeutendes Gesetz. Das sollte wirklich nicht
zu nachtschlafender Zeit, sondern im Lichte der Öffent-
lichkeit diskutiert werden. Die Bundesregierung und die
Regierungskoalitionen möchten am liebsten in einer par-
lamentarischen Geisterstunde das Agrogentechnikge-
setz diskutieren, denn Minister Seehofer hat mit seinem
12948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
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Entwurf das bisherige Gentechnikrecht ausgehölt und
seine Schutzwirkungen stark geschwächt. Ich kann mich
des Eindrucks nicht erwehren, dass die große Koalition
dieses heftig kritisierte Gesetz am liebsten auch ganz
ohne Debatte beschließen würde. Nicht mit uns!
In zahlreichen öffentlichen Auftritten mit Landwirten,
bei Lebensmittelverarbeitern und bei Verbraucher- und
Ernährungsveranstaltungen heuchelt Minister Seehofer
nicht nur Verständnis für deren Anliegen, sondern äu-
ßerte selbst große Bedenken gegenüber der Agrogen-
technik. Mit seinem Gentechnikgesetz hat er sich selbst
Lügen gestraft. Mehr als 80 Prozent der Verbraucherin-
nen und Verbraucher lehnen die Gentechik in Lebens-
mitteln ab. Mehr als 27 000 Landwirte haben in privaten
Selbstverpflichtungserklärungen im gesamten Bundes-
gebiet auf einer landwirtschaftlichen Fläche von mehr
als 980 000 Hektar gentechnikfreie Regionen eingerich-
tet, um eine nachhaltige und gentechnikfreie Landbe-
Zu Recht läuft eine breite Front aus Verbraucher-,
Umwelt-, Wirtschafts- und Agrarverbänden sowie kirch-
lichen Gruppen Sturm gegen diese genhofersche Verun-
reinigungs-Novelle zum Gentechnikrecht. Letzte Woche
zeigte Stern Marken-Profile in einer repräsentativen Stu-
die, dass das Bewusstsein der Verbraucher für qualitativ
hochwertige Produkte deutlich steigt. Die „Geiz-ist-
geil“-Mentalität bei Lebensmittelprodukten ist Schnee
von gestern. Unabhängig von allen bisher nur wenig er-
forschten gesundheitlichen Risiken hätte eine Ausbrei-
tung der Agrogentechnik vor allem weitreichende wirt-
schaftliche Folgen. Allein 150 000 Arbeitsplätze in der
stark wachsenden Biobranche sind akut durch die Geset-
zesnovelle betroffen. Auch im Bereich des konventionel-
len Lebensmitteleinzelhandels wächst eine immer grö-
ßere Ablehnung gegenüber dieser Risikotechnologie.
Deutsche Wirtschaftsunternehmen wie etwa Hipp oder
die großen Handelsketten wie Edeka und Rewe haben
sich klar gegen die Agrogentechnik ausgesprochen.
wirtschaftung zu garantieren. Dies setzt die schwarz-rote
Bundesregierung mit der vorgelegten Gesetzesnovelle
einfach aufs Spiel.
An einem Beispiel möchte ich Ihnen dies näher erläu-
tern: Das Vorsorgeprinzip beim Umgang mit gentech-
nisch veränderten Organismen ist die Basis des gelten-
den Gentechnikgesetzes. Weil gentechnisch veränderte
Organismen – einmal in die Natur entlassen – nicht mehr
rückholbar sind, muss das Ziel der Regelungen sein, dass
Verunreinigungen konsequent vermieden werden müs-
sen. Diesem Ziel wird weder der Gesetzentwurf noch die
Verordnung zur guten fachlichen Praxis, die derzeit im
Bundesrat beraten wird, gerecht. Stattdessen leisten
Bundesregierung und Koalitionsfraktionen der schlei-
chenden Verunreinigung der Landwirtschaft und Um-
welt Vorschub, in dem sie das Gentechnikgesetz so ver-
schlechtern, dass gentechnisch veränderte Pflanzen auch
dann angebaut werden dürfen, wenn diese die gentech-
nikfreie Landwirtschaft gefährden. Und sie wollen Pri-
vatabsprachen zulassen, mit denen rechtliche Vorsorge-
vorschriften unterwandert werden können, sodass
Kontrollen und Schutz vor Verunreinigungen unmöglich
werden.
Bündnis 90/Die Grünen lehnen die vorgelegte No-
velle zum Gentechnikgesetz aus den bereits beschriebe-
nen Kriterien kategorisch ab. Wir fordern die Bundesre-
gierung auf, statt einer Verschlechterung des geltenden
Gentechnikrechts endlich eine Monitoringverordnung
sowie Maßnahmen vorzulegen, mit denen die EU-Kenn-
zeichnungslücke bei Produkten von Tieren, die mit gen-
technisch veränderten Futtermitteln gefüttert wurden,
auf nationaler Ebene geschlossen wird, damit Verbrau-
cherinnen und Verbraucher zukünftig eine echte Wahl-
freiheit haben und zum Beispiel Milchprodukte wählen
können von Kühen, die gentechnikfreie Futtermittel er-
halten haben. Auch fordern wir bei der Verordnung zur
guten fachlichen Praxis, die längst überfällig ist, tatsäch-
lich wirksame Abstandsregeln.
Als letzten Punkt möchte ich Minister Seehofer auf-
fordern, beim EU-Zulassungsprozedere für gentechnisch
veränderte Organismen den Kampf gegen Neuzulassun-
gen von Gentechpflanzen, wie ihn der derzeitige EU-
Umweltminister Dimas führt, voll zu unterstützen. Auch
Umweltminister Gabriel lehnte letzte Woche die beiden
gentechnisch veränderten Maissorten Bt11 und 1507
zum Anbau ab.
123. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 8. November 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22