1) Anlage 28
Berichtigung
119. Sitzung, Seite 12375, Ergebnis der namentlichen
Abstimmung: Der Abgeordnete Gert Winkelmeier (frak-
tionslos) hat sich nicht enthalten, sondern mit Nein ge-
stimmt. Deshalb ist sein Name hinter die Nein-Stimmen
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu verschieben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12559
(A) (C)
(B) (D)
hatte daraufhin Kontakt mit dem US-Justizministerium
aufgenommen. Das BMJ bemühte sich insbesondere umStrothmann, Lena CDU/CSU 24.10.2007
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt für
Annen, Niels SPD 24.10.2007
Bätzing, Sabine SPD 24.10.2007
von Bismarck, Carl-
Eduard
CDU/CSU 24.10.2007
Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.10.2007
Gabriel, Sigmar SPD 24.10.2007
Goldmann, Hans-
Michael
FDP 24.10.2007
Granold, Ute CDU/CSU 24.10.2007
Hänsel, Heike DIE LINKE 24.10.2007
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 24.10.2007
Hettlich, Peter BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.10.2007
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.10.2007
Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 24.10.2007
Kühn-Mengel, Helga SPD 24.10.2007
Landgraf, Katharina CDU/CSU 24.10.2007
Leutert, Michael DIE LINKE 24.10.2007
Möller, Kornelia DIE LINKE 24.10.2007
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.10.2007
Rupprecht
(Tuchenbach),
Marlene
SPD 24.10.2007
Dr. Schwall-Düren,
Angelica
SPD 24.10.2007
Dr. Stinner, Rainer FDP 24.10.2007
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage der
Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Druck-
sache 16/6743, Frage 4):
Inwieweit wäre die Bundesrepublik Deutschland das ein-
zige EU-Mitgliedsland, das den für den 23. Oktober 2007 ge-
planten Vorstoß des EU-Justizkommissars Franco Frattini ab-
lehnen würde, eine EU-Richtlinie zu einer sogenannten Blue
Card zur Einwanderung qualifizierter Fachkräfte zu beschlie-
ßen, und wie begründet die Bundesregierung ihre mögliche
Ablehnung gegenüber den anderen EU-Mitgliedstaaten und
dem EU-Parlament, das die Einführung der „Blue Card“ un-
terstützt (Bericht aus Brüssel Nr. 12/2007 vom 8. Oktober
2007)?
Die Kommission hat erst gestern einen Vorschlag für
eine RL über die Bedingungen von Einreise und Aufent-
halt von Drittstaatsangehörigen zum Zwecke der Be-
schäftigung als Hochqualifizierter („RL Hochqualifi-
zierte“) vorgelegt. Die Haltung der Bundesregierung zu
dem Richtlinienvorschlag steht noch nicht fest. Sie wird
nach sorgfältiger Prüfung des Vorschlags und in Abstim-
mung zwischen den betroffenen Ressorts festgelegt wer-
den. Eine Bewertung sollte daher nicht vorweggenom-
men werden.
Die Auffassungen der anderen EU-Mitgliedstaaten
sind hier noch nicht bekannt. Ein erster Meinungsaus-
tausch zwischen den Mitgliedstaaten ist für den nächsten
J/I-Rat am 8./9. November 2007 in Brüssel im Anschluss
an die Vorstellung des RL-Vorschlags durch KOM Vize-
präsident Frattini geplant.
Anlage 3
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Alfred Hartenbach auf die Frage
des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 5):
Warum hat die Bundesregierung, nachdem das Amtsge-
richt München am 31. Januar 2007 Haftbefehle gegen 13 mut-
maßliche CIA-Entführer des Khaled El Masri wegen dringen-
den Verdachts der Freiheitsberaubung und der gefährlichen
Körperverletzung erließ, sich geweigert, über das Bundesamt
für Justiz ein diesbezügliches Inhaftnahmeersuchen der
Münchner Staatsanwaltschaft an die USA weiterzuleiten, und
in wie vielen Fällen zuvor hat die Bundesregierung schon ein-
mal derartige Inhaftnahmeersuchen zu übermitteln verweigert
oder Auslieferungsersuchen von Drittstaaten abgelehnt?
Die Staatsanwaltschaft München I führt ein Ermitt-
lungsverfahren wegen Freiheitsberaubung und gefährli-
cher Körperverletzung zum Nachteil des deutschen
Staatsangehörigen El Masri. Das AG München hatte in
diesem Verfahren am 31. Januar 2007 Haftbefehle gegen
13 Personen erlassen, die Mitarbeiter der Central Intelli-
gence Agency sein sollen und bei denen es sich mutmaß-
lich um Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von
Amerika handelt. Das Bundesministerium der Justiz
12560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
eine Klärung, ob und gegebenenfalls unter welchen Vo-
raussetzungen die US-Behörden bereit wären, einem
Auslieferungsersuchen stattzugeben. Das US-Justiz-
ministerium hat schließlich schriftlich mitgeteilt, dass
weder eine vorläufige Inhaftnahme noch eine Ausliefe-
rung der Betroffenen in Betracht komme. Diese Haltung
hat die Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen:
Grundlage des deutsch-amerikanischen Auslieferungs-
verkehrs ist der Auslieferungsvertrag vom 20. Juni 1978
in Verbindung mit dem Zusatzvertrag vom 21. Oktober
1986. Danach sind die US-Behörden nicht zur Ausliefe-
rung amerikanischer Staatsbürger an Deutschland ver-
pflichtet. Eine Auslieferung eigener Staatsbürger ist
zwar nicht ausgeschlossen, sie steht jedoch im Ermessen
der amerikanischen Behörden. Im umgekehrten Fall
käme die Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers an
die USA im Übrigen aufgrund des Verbots in Art. 16
Abs. 2 Grundgesetz ebenfalls nicht in Betracht. Vor der
Weiterleitung eines Auslieferungs- oder Rechtshilfeersu-
chens ist das Bundesministerium der Justiz gehalten, die
Erfolgsaussichten zu prüfen. Offensichtlich aussichts-
lose Ersuchen müssen nicht weitergeleitet werden. Dies
entspricht der üblichen Verfahrensweise und wird auch
in anderen Fällen so gehandhabt. Eine statistische Erfas-
sung der Fälle, in denen ein Ersuchen wegen offensicht-
licher Aussichtslosigkeit nicht weitergeleitet wird,
erfolgt nicht. Die Zahlen abgelehnter Auslieferungsersu-
chen von Drittstaaten können der „Bekanntmachung der
Auslieferungsstatistik“, die das BMJ jährlich im Bun-
desanzeiger veröffentlicht, entnommen werden. Die
Zahlen für 2006 werden derzeit noch aufbereitet und vo-
raussichtlich Ende 2007/Anfang 2008 erscheinen. Im
Jahr 2005 wurden 176 Auslieferungsersuchen von der
Bundesrepublik Deutschland abgelehnt. Im Gegenzug
wurden 95 Ersuchen deutscher Behörden an ausländi-
sche Staaten von diesen abgelehnt.
Anlage 4
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Alfred Hartenbach auf die Frage
des Abgeordneten Klaus Hofbauer (CDU/CSU)
(Drucksache 16/6743, Frage 6):
Ab wann stehen die Haushaltsmittel zur Umsetzung des
„Dritten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtli-
cher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der
ehemaligen DDR“, in Kraft getreten am 29. August 2007, für
die „Besondere Zuwendung nach § 17 a des Strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes“ den auszahlenden Dienststellen zur
Verfügung, da laut telefonischer Auskunft der Regierung der
Oberpfalz vom 16. Oktober 2007 derartige Mittel nicht vor-
handen sind?
Warum in Bayern keine ausreichenden Mittel für diese
neue Leistung vorhanden sein sollen, ist hier nicht bekannt.
Die Besondere Zuwendung für Haftopfer nach § 17 a des
Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes wird vom Bund
zu 65 Prozent und von den Ländern zu 35 Prozent getragen.
Was den Bundesanteil dieser Leistung angeht, so hat das
zuständige Bundesamt für Justiz (BfJ) Bayern bisher einen
Abschlagsbetrag von 73 000 Euro zugewiesen, der aber
noch nicht abgerufen wurde.
Anlage 5
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks auf
die Frage der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (DIE
LINKE) (Drucksache 16/6743, Frage 7):
Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag der
OECD, die Reichen in der Bundesrepublik Deutschland stär-
ker zu besteuern, um die Arbeitseinkommen zu entlasten, und
wie bewertet die Bundesregierung die Feststellung der
OECD, dass Deutschland innerhalb der OECD zu den Län-
dern gehört, die das Vermögen mit am wenigsten belasten
(www.sueddeutsche.de; 18. Oktober 2007)?
Es gibt keinen Vorschlag der OECD, „die Reichen in
Deutschland“ stärker zu besteuern. Zutreffend ist, dass
ein Mitarbeiter der OECD anlässlich der Veröffentli-
chung der „Revenue Statistics 2007“ der Organisation
der Bundesregierung empfohlen hat, zur Senkung der
Sozialabgaben das Sozialsystem stärker über Steuern zu
finanzieren. Diesen Weg hat die Bundesregierung bereits
beschritten, ergänzend zu den aus dem Bundeshaushalt
erfolgenden Zahlungen zugunsten der sozialen Siche-
rungssysteme, zum Beispiel durch den Bundeszuschuss
zur gesetzlichen Rentenversicherung und die Unterstüt-
zung der Bundesagentur für Arbeit. So erhält bekannt-
lich die Bundesagentur für Arbeit seit Beginn des Jahres
als Finanzierungsbeitrag des Bundes einen Teil der auf-
grund der Mehrwertsteuererhöhung generierten Steuer-
mehreinnahmen, was zu einer spürbaren Absenkung des
Beitragssatzes der Arbeitslosenversicherung geführt hat.
Auch die Mehreinnahmen aus der so genannten Öko-
steuer werden bereits zu einem Großteil dazu verwendet,
die Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung
zu begrenzen. Zudem soll der Bundeszuschuss an die ge-
setzliche Krankenversicherung bis 2016 schrittweise von
2,5 Milliarden Euro auf 14 Milliarden Euro jährlich stei-
gen. Was die im OECD-Bericht für Deutschland festge-
stellte vergleichsweise geringe Belastung durch Steuern
auf Vermögen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass im
internationalen Vergleich hierunter neben der Vermögen-
steuer insbesondere auch die Erbschaft- und Schenkung-
steuer sowie die Grundsteuer verstanden werden. Zudem
lassen die Revenue Statstics die unterschiedliche Steuer-
und Abgabenstruktur in den OECD-Staaten generell un-
berücksichtigt. So dienen etwa Grundsteuern im angel-
sächsischen Raum vorzugsweise als Finanzierungsquelle
für öffentliche Leistungen der Kommunen, wofür in
Deutschland vor allem Gebühren eingesetzt werden. Die
Vergleichbarkeit der ermittelten Daten ist daher nicht ge-
geben.
Anlage 6
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 8):
Warum unterstützt der Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, die
Nährwertkennzeichnung der Ernährungsindustrie, obwohl
hier deutlich höhere Zuckerbedarfswerte zugrunde liegen, als
sie beispielsweise von der WHO oder der Deutschen Gesell-
schaft für Ernährung angenommen werden?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12561
(A) (C)
(B) (D)
Erweiterte Nährwertinformationen jeglicher Art sind
Orientierungshilfen für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher. Sie müssen wissenschaftlich begründbar sein,
dürfen die Käufer nicht irreführen, können aber letztlich
nie auf den tatsächlichen individuellen Bedarf des ein-
zelnen Menschen Bezug nehmen, da dieser sehr unter-
schiedlich ist. Für Gesamtzucker existieren keine Emp-
fehlungswerte für die Tageszufuhr. Der Richtwert nach
dem Modell des europäischen Lebensmittelindustriever-
bandes errechnet sich deshalb aus dem Eigenzuckerge-
halt von zusammen 45 Gramm, wie er sich aus Richt-
werten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum
täglichen Verzehr von Obst, Gemüse und Milchproduk-
ten errechnet, zuzüglich von 50 Gramm zugesetztem
Zucker, entsprechend den Vorgaben der WHO. Aus die-
ser Summe ergibt sich abgerundet ein Richtwert für die
Tageszufuhr von Zucker in Höhe von 90 Gramm. Dieser
Bezugwert ist erst einmal ein praktikabler Ausgangs-
punkt in einer noch nicht abgeschlossenen Diskussion
um Bezugsgrößen. Die Eckpunkte des BMELV sehen
aber ausdrücklich vor, dass eine kontinuierliche Weiter-
entwicklung des Konzeptes vorgenommen wird. Dabei
soll an dem anstehenden wissenschaftlichen Dialog aus-
drücklich auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
(DGE) teilnehmen. Der Referenzwert für Gesamtzucker
wird auch Gegenstand dieses Dialogs sein.
Anlage 7
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die
Frage der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 9):
Wie stellt sich für die Bundesregierung der Zusammen-
hang zwischen der marktbeherrschenden Stellung von vier
Anbietern beim Betrieb der Stromübertragungsnetze, der
Stromerzeugung und bei den aktuellen Preissteigerungen dar,
und wie will die Bundesregierung den EU-Beschluss vom
März 2007 umsetzen, die Energiekonzerne über die Trennung
von Energieerzeugung und Netzbetrieb zu entflechten?
Erstens. Der Europäische Rat hat sich in seinem Ener-
gieaktionsplan vom 8./9. März 2007 ausgesprochen für:
die wirksame Trennung der Versorgung und Erzeugung
vom Betrieb der Netze (Entflechtung) auf der Grundlage
unabhängig organisierter und angemessen regulierter
Strukturen für den Netzbetrieb, die einen gleichberech-
tigten und offenen Zugang zu Transportinfrastrukturen
und die Unabhängigkeit von Entscheidungen über Infra-
strukturinvestitionen garantieren und zwar durch unab-
hängig organisierte Strukturen für den Netzbetrieb und
die Unabhängigkeit von Entscheidungen über Investitio-
nen in die Netze.
Entsprechend der Aufforderung des Europäischen Ra-
tes hat die EU-Kommission am 19. September 2007 ihre
Vorschläge für ein drittes Strom- und Gasbinnenmarkt-
paket vorgelegt.
a) Wir haben jedoch Zweifel, dass die von der EU-
Kommission nun favorisierte vollständige Eigentums-
entflechtung der Übertragungs- und Fernleitungs-
netze der geeignete Motor für die Entwicklung eines
dynamischen Wettbewerbs ist:
(1) Die Kommission kann in der ihren Vorschlägen
zugrunde liegenden Folgenabschätzung (Impact
Assessment) den Nachweis nicht erbringen, dass
die Eigentumsentflechtung eine Gewähr für
niedrige Endverbraucherpreise bietet.
(2) Bedenklich ist bei den Vorschlägen der EU-
Kommission zur Eigentumsentflechtung auch,
dass sie bei Energieversorgungsunternehmen im
Staatseigentum praktisch wirkungslos blieben.
(3) In Deutschland haben wir mit der Kraftwerks-
Netzanschlussverordnung mögliche Diskrimi-
nierungen beim Anschluss neuer Kraftwerke ans
Netz beseitigt. Die Verordnung hat also schnel-
ler, effektiver und unkomplizierter Wirkungen
gezeigt als es eine Eigentumsentflechtung ver-
mag.
Wir werden der Kommission deutlich machen, dass
wir uns solche pragmatischen, effektiven Lösungen auch
auf EU-Ebene wünschen.
b) Klarzustellen ist aber: Wir brauchen eine wirksame
Entflechtung. Wir stehen daher zu den Beschlüssen
des Europäischen Rates vom März.
Zweitens. Das beste Mittel gegen Preiserhöhungen ist
mehr Wettbewerb. Und hier haben wir auf nationaler
Ebene bereits gehandelt:
a) Wir haben die Rahmenbedingungen für einen Liefe-
rantenwechsel weiter verbessert. Durch neue Rechts-
verordnungen, die im November 2006 in Kraft getreten
sind – die Niederspannungs- und die Niederdruckan-
schlussverordnungen sowie die Grundversorgungs-
verordnungen für Strom und Gas – wurde die Grund-
lage dafür geschaffen, dass die Kunden ihren Strom-
und Gasanbieter noch leichter wechseln können.
Diese Saat geht jetzt auf. Es ist zu begrüßen, dass
nun auch die Verbraucherschützer zum Lieferanten-
wechsel aufrufen. Hier haben die Kunden ein Stück
Eigenverantwortung, die neuen Möglichkeiten jetzt
zu nutzen.
b) Darüber hinaus wurde schon im Herbst 2006 ein
Maßnahmepaket der Bundesregierung auf den Weg
gebracht, um den Wettbewerb auf den Strom- und
Gasmärkten weiter zu stärken:
(1) Die Regulierung der Netzentgelte ist bereits er-
folgreich. Die Netzentgelte sind gesunken. Um
die Regulierung noch weiter zu verbessern, ha-
ben wir eine Anreizregulierung beschlossen und
eine entsprechende Rechtsverordnung verab-
schiedet, die in Kürze in Kraft tritt. Hier sind die
Dinge auf den Weg gebracht.
(2) Hauptproblem ist derzeit die Stromerzeugung:
Mit der Kraftwerks-Netzanschlussverordnung
hat die Bundesregierung die Weichen dafür ge-
stellt, dass sich durch den Netzanschluss neuer
Kraftwerke mittelfristig die Wettbewerbssitua-
tion bei der Stromerzeugung verbessern kann.
12562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Denn wir brauchen neue Kraftwerke und gerade
solche von neuen Anbietern. Die Verordnung er-
leichtert und beschleunigt den Anschluss neuer
Kraftwerke.
(3) Kurzfristig brauchen wir die Schärfung der kar-
tellrechtlichen Missbrauchsaufsicht: Die GWB-
Novelle ist von der Bundesregierung im Früh-
jahr beschlossen worden. Sie hat die Unterstüt-
zung des Bundesrates erhalten und liegt derzeit
dem Bundestag zur Entscheidung vor. Es ist
wichtig, dass dieses Gesetz jetzt möglichst zügig
in Kraft gesetzt wird, da es den Kartellbehörden
den Nachweis von missbräuchlich überhöhten
Strompreisen erleichtern soll.
Besonders wichtig ist die Beweislastumkehr zulasten
der Versorger. Hier müssen die Versorger stärker in die
Begründungspflicht genommen werden.
Außerdem schaffen wir größere Vergleichsmöglich-
keiten bei der Preismissbrauchsaufsicht und einen So-
fortvollzug kartellbehördlicher Entscheidungen. Und wo
Vergleiche mit den Preisen anderer nicht helfen, weil
alle zu teuer sind, erleichtern wir den Kartellbehörden
einen kostenorientierten Prüfansatz.
Es liegt nun in den Händen des Deutschen Bundesta-
ges, dass die GWB-Novelle baldmöglichst in Kraft tre-
ten kann!
Anlage 8
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Fra-
gen der Abgeordneten Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 10 und 11):
Was sind aus Sicht der Bundesregierung die Gründe für
die aktuellen Preiserhöhungen bei Strom und Erdgas?
Wie wird die Bundesregierung gegen die aktuellen und die
bereits in Aussicht gestellten künftigen Erhöhungen der Ener-
gie- und Erdgaspreise vorgehen?
Zu Frage 10:
Als Gründe für die steigenden Strompreise werden
von den Stromversorgungsunternehmen insbesondere
die gestiegenen Strombeschaffungskosten und Zusatzbe-
lastungen aus der Förderung erneuerbarer Energien
genannt. Ob diese Gründe die Preissteigerungen in der
vorgesehenen Höhe rechtfertigen, wird sich das Bundes-
kartellamt genau ansehen. Die Importpreise für Erdgas
sowie die deutschen Großhandelspreise sind über eine
Preisgleitklausel an den Heizölpreis gekoppelt. Die an-
gekündigten Preiserhöhungen für Erdgas werden mit
dem steigenden Ölpreis und damit zusammenhängenden
steigenden Beschaffungskosten begründet. Ob die ge-
stiegenen Heizölpreise die angekündigten Preisstei-
gerungen rechtfertigen, kann von den zuständigen
Kartellbehörden nach Maßgabe des kartellrechtlichen
Missbrauchs- und Diskriminierungsverbots überprüft
werden.
Zu Frage 11:
Bei Strom hat die Bundesregierung ein Maßnahmen-
programm auf den Weg gebracht, um den Wettbewerb
besser in Gang zu bringen:
Die Regulierung der Netzentgelte ist bereits erfolg-
reich. Um die Aufsicht weiter zu verbessern, wurde eine
Anreizregulierung der Netzentgelte beschlossen und
eine entsprechende Rechtsverordnung verabschiedet.
Bei der Stromerzeugung hat die Bundesregierung die
Weichen dafür gestellt, dass durch den Netzanschluss
neuer Kraftwerke sich mittelfristig die Wettbewerbs-
situation bei der Stromerzeugung verbessern kann. Dafür
ist eine Kraftwerks-Netzanschlussverordnung bereits im
Juni dieses Jahres in Kraft getreten. Als kurzfristig wirk-
sames Mittel sieht sie die Schärfung der kartellrechtli-
chen Missbrauchsaufsicht: Die entsprechende Novelle
ist von der Bundesregierung im Frühjahr beschlossen
worden und liegt derzeit dem Bundestag zur Entschei-
dung vor. Es ist wichtig, dass dieses Gesetz jetzt mög-
lichst zügig in Kraft gesetzt wird. Das Bundeskartellamt
und die Landeskartellbehörden führen halbjährlich eine
einheitliche Umfrage zur Überprüfung der Gastarife für
Haushaltskunden und Kleinkunden durch. Auf Basis
dieser Ergebnisse können von den Kartellbehörden
Preismissbrauchsverfahren eingeleitet werden. Mit der
zurzeit im Gesetzgebungsverfahren befindlichen GWB-
Novelle wird die Missbrauchsaufsicht der Kartellbehör-
den weiter gestärkt.
Anlage 9
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND-NIS
90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 13):
Wie viele in Afghanistan gemachte Gefangene, insbeson-
dere denen rechtsstaatswidrige Verfahren oder Strafen wie die
Todesstrafe drohen könnten, übergab die Bundeswehr seit Be-
ginn ihres dortigen Einsatzes je an afghanische und US-ameri-
kanische Stellen, und gegen wie viele davon wurden dann ein
rechtsstaatswidriges Verfahren durchgeführt, Folter vollzo-
gen, die Todesstrafe angedroht, verhängt oder gar vollstreckt?
Seit Beginn des ISAF-Einsatzes im Dezember 2001
wurden durch deutsche Kräfte auf der Grundlage des
ISAF-Mandates mehrere vorübergehend festgehaltene
Personen an afghanische Stellen übergeben. Eine Über-
gabe von Personen an US-amerikanische Stellen erfolgte
in keinem Fall. Der Bundesregierung ist kein Fall be-
kannt, in dem an einer Person, die durch deutsche Kräfte
vorübergehend festgehalten und dann an afghanische
Stellen übergeben wurde, ein rechtsstaatwidriges Verfah-
ren durchgeführt, diese Person gefoltert oder gegen sie
die Todesstrafe verhängt oder gar vollstreckt wurde. Im
Rahmen der Operation Enduring Freedom wurden durch
deutsche Streitkräfte bislang keine Personen in Gewahr-
sam genommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12563
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 10
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE)
(Drucksache 16/6743, Frage 14):
Trifft es zu, dass die Bundesregierung Panzer der Bundes-
wehr an die kanadischen Truppen, die im Süden Afghanistans
stationiert sind, im Rahmen eines Leasingvertrages verleiht,
und welche weiteren Leasingverträge gibt es zur Weitergabe
von Waffen der Bundeswehr (Wirtschaftswoche, 15. Oktober
2007)?
Es trifft nicht zu, dass Deutschland mit Kanada einen
Leasingvertrag geschlossen hat, sondern Deutschland
überlässt 20 Kampfpanzer Leopard 2 und zwei Berge-
panzer Büffel bis zum 30. September 2009 an Kanada
zum Einsatz in Afghanistan. Darüber hinaus wurde mit
Spanien ein bis 2016 laufender Mietvertrag über die
Überlassung von 108 Kampfpanzern Leopard 2 A4 ge-
schlossen sowie mit Schweden ein Mietvertrag über
160 Kampfpanzer Leopard 2 A4, der 2009 ausläuft.
Anlage 11
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Fra-
gen des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE)
(Drucksache 16/6743, Fragen 15 und 16):
Hält es die Bundesregierung für angemessen, wenn der
ISAF-Generalstabschef, der deutsche Generalmajor Bruno
Kasdorf, mit der Forderung nach mehr Einsatzkräften in Af-
ghanistan in die Meinungsbildung des Bundestages eingreift
(FAZ.NET vom 11. Oktober 2007)?
Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des Gene-
ralmajors Bruno Kasdorf, „alle Beschränkungen, die wir ha-
ben, behindern uns in der militärischen Operationsführung“?
Zu Frage 15:
Herr Generalmajor Bruno Kasdorf ist als Chef des Sta-
bes von ISAF der dienstgradhöchste deutsche Offizier im
NATO HQ in Kabul. Er verfugt über einen tiefgehenden
Einblick in die ISAF-Mission und die Entwicklung des
internationalen Engagements in Afghanistan. Aufgrund
seiner herausgehobenen Dienststellung wird erwartet,
dass er sich zum Verlauf der ISAF Operation auch gegen-
über den Medien äußert. Die von Herrn Generalmajor
Kasdorf geäußerte Forderung nach Entsendung von mehr
Einsatzkräften richtete sich an alle NATO-Mitgliedstaa-
ten. Ihr liegt die Tatsache zugrunde, dass bislang nicht
alle von den NATO-Kommandobehörden für ISAF als
notwendig erachteten Kräfte und Fähigkeiten in vollem
Umfang von den Nationen bereitgestellt wurden.
Zu Frage 16:
Die Verfügbarkeit der internationalen Truppen in Af-
ghanistan unterliegt unterschiedlichen Beschränkungen.
Teilweise handelt es sich dabei um nationale Beschrän-
kungen, die dem Einsatz von Kräften räumliche, zeitli-
che oder andere Beschränkungen für deren Einsatz auf-
erlegen. Die zitierte Aussage von Herrn Generalmajor
Kasdorf ist eine sachliche Feststellung, die sich an alle
ISAF-Truppensteller richtet.
Anlage 12
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Karin Roth auf die Fragen des
Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 17 und 18):
Welche Aussagen zur Höhe der Anschubfinanzierung für
den sechsstreifigen Ausbau der Autobahn 8 zwischen Mün-
chen und Augsburg kann die Bundesregierung zum jetzigen
Zeitpunkt treffen, nachdem das bisher einer Antwort entge-
genstehende Nachprüfverfahren vor der Vergabekammer mitt-
lerweile abgeschlossen werden konnte, und welche Vorhaltun-
gen hinsichtlich des Zuschlags auf ein Unterangebot wurden
dem Konzessionsgeber gemacht?
Wie konnte die Bundesregierung den wirtschaftlichen Vor-
teil des A-Modells gegenüber der herkömmlichen Finanzie-
rung des sechsstreifigen Ausbaus der Autobahn 8 zwischen
München und Augsburg mit 10,02 Prozent beziffern (Antwort
zu Frage 22 auf Bundestagsdrucksache 16/6063), wenn der
Ausbau und Unterhalt nach herkömmlichem Verfahren
257 Millionen Euro gekostet hätten (Antworten zu den Fragen
18 und 19 auf Bundestagsdrucksache 16/6063), das Konzes-
sionsvolumen aber 730 Millionen Euro beträgt (Antwort zu
Frage 21 auf Bundestagsdrucksache 16/6063) und eine Aus-
sage zu den Kosten erst am Ende der Konzessionslaufzeit ge-
troffen werden kann (Antwort zu Frage 15 auf Bundestags-
drucksache 16/6063), und inwieweit hält die Bundesregierung
das A-Modell für finanziell vorteilhafter für den Bund als das
F-Modell oder die private Vorfinanzierung?
Zu Frage 17:
Die Höhe der Anschubfinanzierung des besten Bie-
ters, auf dessen Angebot der Zuschlag erteilt wurde, be-
trug 0 Euro. Entsprechend internationaler Praxis bei
PPP-Vorhaben trägt der Konzessionsgeber Bund auch
beim A-Modell Autobahn A 8 das sogenannte Referenz-
zinssatzänderungsrisiko für den Zeitraum zwischen der
Angebotslegung am 15. Februar 2007 und der Zuschlags-
erteilung am 25. April 2007 nach festgelegten Regula-
rien. Aufgrund von Zinsänderungen in dem genannten
Zeitraum betrug die insoweit „angepasste“ Anschub-
finanzierung 6,426 Millionen Euro (brutto). Dieser Be-
trag wird dem Konzessionsnehmer während der Bauzeit
in vier gleich hohen Raten gezahlt.
Zu Frage 18:
Die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung für das A-Mo-
dell-Pilotprojekt Autobahn A 8 wurde unter Beachtung
der Vorgaben des Leitfadens „Wirtschaftlichkeitsunter-
suchungen bei PPP-Projekten“ erstellt, den die Finanz-
minister der Länder gemeinsam mit der Bundes-Ar-
beitsgruppe „Wirtschaftlichkeitsuntersuchung bei PPP-
Projekten“ unter Mitwirkung des Bundesrechnungshofes
im September 2006 verabschiedet haben. Danach wer-
den bei Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen die Kosten
für eine konventionelle Beschaffungsvariante der Maß-
nahme (sogenannte PSC-Variante) der sogenannten PPP-
Variante gegenübergestellt, wobei auf beiden Seiten eine
zum Betrachtungszeitpunkt möglichst vollständige Kos-
tenabschätzung durchzuführen ist. Es wurden daher auf
der PSC-Seite nicht nur die Ausbau- und Unterhaltungs-
12564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
kosten in Ansatz gebracht, sondern es mussten auch an-
dere Kostenbestandteile eingerechnet werden, die bei ei-
ner konventionellen Realisierung anfallen würden, zum
Beispiel Erhaltungs-, Planungs- und Managementkosten
sowie Kosten für zurückbehaltene Risiken.
Darüber hinaus werden bei Wirtschaftlichkeitsunter-
suchungen alle Kostenbestandteile sowohl auf der PSC-
als auch auf der PPP-Seite auf einen bestimmten
Betrachtungszeitpunkt diskontiert und die Zahlungs-
ströme inflationiert (Barwertvergleich). Einzelbeträge
werden somit nicht einfach addiert, sondern der Zeit-
punkt der Auszahlung bzw. der Anfall von Kosten und
Einnahmen werden berücksichtigt. Es liegt in der Natur
der Sache jeder – durch die öffentliche Hand oder die
Privatwirtschaft erstellten – Wirtschaftlichkeitsbetrach-
tung, die vor Einführung eines Produktes auf dem Markt
erstellt wird, dass sie prognostischen Charakter hat. Dies
gilt in besonderem Maße für die Einnahmeprognose, so
auch beim A-Modell mit verkehrsmengenabhängiger
Vergütung. Aussagen über die wirtschaftliche Vor- oder
Nachteilhaftigkeit können sich nur auf den Zeitpunkt der
jeweiligen Betrachtung beziehen, die ermittelten
10,02 Prozent bezogen sich auf den Zeitpunkt der Verga-
beentscheidung. Im Gegensatz zu den auf der Lkw-Maut
basierenden, im Ergebnis haushaltsfinanzierten A-Mo-
dellen sind F-Modelle rein nutzerfinanzierte Projekte.
Der Anwendungsbereich der F-Modelle ist jedoch ge-
setzlich auf bestimmte Kategorien von Projekten be-
schränkt. Da eine darüber hinausgehende allgemeine
Nutzerfinanzierung nicht beabsichtigt ist, kommt ein
Vergleich beider Modelle nicht in Betracht. PPP-Pro-
jekte wie die A- und F-Modelle zeichnen sich dadurch
aus, dass dem Privaten eine Infrastrukturmaßnahme über
einen längeren, mehrere Lebenszyklusstufen umfassen-
den Zeitraum übertragen wird. Die Verantwortlichkeit
des Privaten endet somit nicht nach der maximal fünf-
jährigen Gewährleistungsfrist, sondern erstreckt sich
zum Beispiel über 30 Jahre. Dies wirkt sich positiv auf
die Qualität der (Bau-)Leistung aus. Auch die Verzah-
nung der einzelnen Bereiche Bauen, Erhalten und Be-
treiben über den Lebenszyklus führt zu Synergien, was
sich ebenfalls als (volks-)wirtschaftlich vorteilhaft er-
weist. Die Projekte der privaten Vorfinanzierung sind
demgegenüber reine Bau- und Vorfinanzierungsprojekte,
denen der PPP-typische wirtschaftliche Anreiz zu hoch-
wertigem, schnellen und möglichst wirtschaftlichen
Bauen, Betreiben und Erhalten fehlt, weshalb sie im Ver-
gleich zu PPP-Modellen als unwirtschaftlicher einzustu-
fen sind.
Anlage 13
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Achim Großmann auf die Fra-
gen des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
(Drucksache 16/6743, Fragen 19 und 20):
Nach welchen Maßgaben und Kriterien und mit welchen
Zielstellungen wird der barrierefreie Neu- und Umbau von
Bahnhöfen der Deutschen Bahn durch den Bund gefördert?
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Kritik des Sozial-
verbandes VdK Deutschland zu den Plänen vom Bundesmi-
nister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tie-
fensee, den barrierefreien Neu- und Umbau von Bahnhöfen
mit weniger als 1 000 Reisenden pro Tag künftig nicht mehr
zu fördern (siehe Pressemitteilung „Tiefensee plant Förder-
verbot für Barrierefreiheit“ des VdK vom 11. Oktober 2007)?
Zu Frage 19:
Der Bund fördert die barrierefreie Gestaltung von Per-
sonenverkehrsanlagen der Deutsche Bahn AG (DB AG)
nach Maßgabe der in den eisenbahnrechtlichen Regelun-
gen enthaltenen Zielbestimmungen zur Barrierefreiheit.
Die nur schrittweise erreichbaren Verbesserungsmaßnah-
men sind an ihrem Wirkungsgrad zu orientieren. Die Kri-
terien für Maßnahmen zur barrierefreien Gestaltung rich-
ten sich nach den jeweiligen besonderen Verhältnissen.
Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers ist den Ei-
senbahnen ein Handlungsspielraum darüber belassen, wie
und wann die gesetzliche Zielbestimmung erreicht wird.
Die DB AG hat die entsprechenden Vorgaben in ihrem
Programm nach § 2 Abs. 3 Eisenbahn-Bau- und Betriebs-
ordnung dargelegt. Die einschlägigen technischen Krite-
rien sind in ihrer Konzernrichtlinie 813 über die Gestal-
tung von Bahnanlagen festgeschrieben.
Zu Frage 20:
Die in der Pressemitteilung des Sozialverbandes VdK
Deutschland vom 11. Oktober 2007 geäußerte Kritik, die
Bundesregierung plane, zukünftig barrierefreie Neu- und
Umbauten von Bahnhöfen mit weniger als 1 000 Reisen-
den pro Tag nicht mehr zu fördern, ist unbegründet und
beruht offensichtlich auf einem Missverständnis. Die Er-
reichung bestimmter Benchmarks, nämlich für Bahnhöfe
oder Stationen mit Mittelbahnsteig von 1 000 Ein-, Aus-
oder Umsteigern pro (Werk-)Tag bzw. bei sonstigen
Bahnhöfen oder Stationen mit Außenbahnsteigen von
mindestens 100 Ein-, Aus- oder Umsteiger pro (Werk)-
Tag, ist Voraussetzung für die Finanzierung des Baus
neuer Bahnsteige, nicht aber für die Herstellung der Bar-
rierefreiheit. Für Bahnhöfe der erstgenannten Kategorie
ist Barrierefreiheit von vornherein herzustellen.
Aber auch für Bahnsteige der zweitgenannten Kate-
gorie ist eine barrierefreie Gestaltung möglich, soweit
diese Ausgestaltung von den Eisenbahninfrastrukturun-
ternehmen im Rahmen ihres Programms nach § 2 Abs. 3
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung im Einzelfall vor-
gesehen ist. Dies wird in der Regel dann der Fall sein,
wenn für entsprechende bauliche Maßnahmen für beson-
dere Personengruppen ein tatsächlicher Bedarf aufgrund
der örtlichen Gegebenheiten vorliegt, zum Beispiel we-
gen der Anbindung einer Reha-Klinik oder eines Wohn-
heimes für behinderte Menschen, soweit die Kosten
nicht außer Verhältnis stehen. Diese Regelung, nach der
der Bund seit zehn Jahren verfährt, soll auch künftig gel-
ten.
Anlage 14
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Achim Großmann auf die Fra-
gen der Abgeordneten Veronika Bellmann (CDU/CSU)
(Drucksache 16/6743, Fragen 21 und 22):
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12565
(A) (C)
(B) (D)
Welches sind die Gründe dafür, dass die Bundesregierung
entgegen dem Beschluss der Ministerpräsidenten-Konferenz
Ost (MPK Ost) am 27. Juni 2007 offenbar nicht beabsichtigt,
innerhalb des Vorhabens Nr. 22 in Anhang III der gemein-
schaftlichen Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäi-
schen Verkehrsnetzes (TEN-V-Leitlinien) die Neubaustrecke
Prag–Dresden und die Ausbaustrecke Dresden–Berlin als
„prioritär“ einzuordnen bzw. bei der EU-Kommission für die
anstehende Revision der TEN-Leitlinien anzumelden, und
welche Fortschritte sind für die Projekte in Ostdeutschland
zu verzeichnen, mit deren Verwirklichung vor 2010 laut
Anhang III begonnen werden soll?
Welche Vor- und Nachteile (gegebenenfalls auch aus zeit-
licher, planungsseitiger sowie finanzieller Sicht) würden sich
aus einer Einordnung des Schienenstreckenabschnittes
Prag–Dresden und Dresden–Berlin ins EFRE-Programm ge-
genüber einer Anmeldung für die TEN-Projekte ergeben, und
inwiefern werden im Rahmen einer integrierten Verkehrspoli-
tik Einnahmen aus der Lkw-Maut für den Ausbau von Schie-
nenwegen eingesetzt?
Zu Frage 21:
Eine Revision der TEN-Leitlinien, in die das von Ih-
nen angesprochene Anliegen eingebracht werden
könnte, wird von der Europäischen Kommission frühes-
tens im Jahr 2009 initiiert werden. Es bleibt abzuwarten,
welche Kriterien anlässlich der Revision für eine Auf-
nahme in eine künftige Liste „Vorrangiger Vorhaben“ er-
füllt werden müssen. Erst wenn diese Kriterien bekannt
sind, kann eine entsprechende Prüfung und gegebenen-
falls eine Beantragung erfolgen. In der im Anhang III
aufgeführten Übersicht der „Vorrangigen Vorhaben, mit
denen vor 2010 begonnen werden soll“ ist für Ost-
deutschland das Projekt „Halle/Leipzig–Nürnberg“ ent-
halten, das sich im Bau befindet.
Zu Frage 22:
Die Förderung im EFRE-Bundesprogramm Verkehrs-
infrastruktur kann bis zu 65 Prozent der „anerkennungs-
fähigen“ Kosten betragen. Es ist für die gesamte Finan-
zierungsperiode bekannt, wie hoch die zur Verfügung
stehenden Fördermittel sind. Es wird national entschie-
den, welche Projekte zur Förderung vorgeschlagen wer-
den. Sollte ein Projekt zum Beispiel wegen Bauverzöge-
rungen die vorgesehenen Mittel nicht absorbieren
können, kann nach nationaler Entscheidung ein anderes
deutsches Projekt nachgemeldet werden. Die Förderung
aus der Haushaltslinie für transeuropäische Netze kann
höchstens bis zu 10 Prozent für „normale“ Vorhaben
bzw. bis zu 20 Prozent für „Vorrangige Vorhaben“ betra-
gen. Die Förderung von bis zu 30 Prozent greift nur bei
grenzüberschreitenden Abschnitten „Vorrangiger Vorha-
ben“. Bei TEN-Zuschüssen gibt es keine Quoten für die
jeweiligen Mitgliedstaaten. Der Zuschussumfang für den
jeweiligen Mitgliedstaat ist damit zu Beginn der Finanz-
periode nicht bestimmbar. Für die Förderentscheidung
hat die EU-Kommission ein Vorschlagsrecht, zudem be-
darf es der Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaa-
ten. Die Einstufung eines Projektes als „Vorrangiges
Vorhaben“ der transeuropäischen Netze für Verkehr ga-
rantiert keine Bereitstellung europäischer Mittel für die
jeweiligen Aus- oder Neubaumaßnahmen. Aufgrund des
Verfahrens über die Gewährung der TEN-Zuschüsse
kann daher auch nicht sicher gestellt werden, dass frei
werdende Mittel durch Verzögerungen bei deutschen
Projekten anderen deutschen Projekten zugute kommen.
Die im Bedarfsplan Schiene (Bundesschienenwegeaus-
baugesetz) enthaltene Ausbaustrecke Dresden–Berlin
wurde in die Indikative Liste der Großprojekte des
EFRE-Bundesprogramms Verkehrsinfrastruktur (Förder-
periode 2007 bis 2013) aufgenommen, das zurzeit der
EU-Kommission zur Genehmigung vorliegt. Nach Ge-
nehmigung des EFRE-Bundesprogramms kann Deutsch-
land das Projekt zur Förderung vorschlagen. Eine Neu-
baustrecke des Streckenabschnitts Dresden–Prag ist
nicht förderwürdig, da ein solches Vorhaben zurzeit
nicht Bestandteil des Bedarfsplans Schiene (Bundes-
schienenwegeausbaugesetz) ist und insoweit keine
Haushaltsmittel des Bundes zur Verfügung stehen.
Hinsichtlich Ihrer Frage nach der Verwendung der
Lkw-Mauteinnahmen legt gemäß § 11 Autobahnmautge-
setz fest, dass die Mauteinnahmen nach Abzug der Sys-
temkosten zweckgebunden zur Verbesserung der Verkehrs-
infrastruktur – überwiegend für die Bundesfernstraßen – zu
verwenden sind. Nach dem von der Bundesregierung
verfolgten Konzept einer integrierten Verkehrspolitik
werden die Einnahmen aus der streckenbezogenen Lkw-
Maut verkehrsträgerübergreifend eingesetzt. So werden
50 Prozent der nach Abzug der Betreiberkosten des
Mautsystems verfügbaren Mautmittel in das Bundes-
fernstraßennetz, 38 Prozent in das Bundesschienennetz
und 12 Prozent in das Wasserstraßennetz investiert.
Anlage 15
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Achim Großmann auf die Fragen
des Abgeordneten Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 23 und 24):
Wie lange will sich die Bundesregierung den verfahrenen
Konflikt zwischen der Deutsche Bahn AG und der Lokführer-
gewerkschaft GDL noch mit ansehen, ohne sich einzuschal-
ten?
Warum sorgt die Bundesregierung angesichts der hohen
Verantwortung für die Bahnkunden, Bahnmitarbeiter und die
Volkswirtschaft insgesamt nicht dafür, dass die Führung der
bundeseigenen DB AG sich an die Schlichtungsvereinbarung
hält und ein kompromissfähiges Angebot vorlegt, das einen
„eigenständigen“ Tarifvertrag mit der GDL ermöglicht?
Die Bundesregierung respektiert den Grundsatz der
Tarifautonomie. Die Bundesregierung appelliert an die
Tarifvertragsparteien, sich an das Ergebnis der Schlich-
tung zu halten und vor diesem Hintergrund Verhandlun-
gen mit dem Ziel der Einigung zu führen.
Anlage 16
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Astrid Klug auf die Fragen der
Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 25 und 26):
Welche präventiven Maßnahmen wird die Bundesregie-
rung ergreifen, um die Bevölkerung vor der durch den Bun-
desminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, öffentlich ge-
äußerten Gefahr eines Nuklearterrorismus zu schützen?
Welche präventiven Maßnahmen wird die Bundesregie-
rung angesichts der durch den Bundesminister des Innern,
12566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Wolfgang Schäuble, öffentlich geäußerten Gefahr eines
Nuklearterrorismus ergreifen, um Transporte von schwachra-
dioaktivem Material und Lager mit schwachradioaktivem Ma-
terial besser gegen Diebstahl zu schützen?
Zu Frage 25:
Die Äußerungen von Herrn Bundesinnenrninister be-
ziehen sich auf eine Gefährdungsbewertung im Zusam-
menhang mit einer sogenannten schmutzigen Bombe, das
heißt mit einem Sprengsatz, dem radioaktive Stoffe beige-
mengt sind. Dieses Szenario ist in Expertenkreisen seit ge-
raumer Zeit bekannt und Anlass für umfangreiche Maß-
nahmen. Dementsprechend hat die Bundesregierung
bereits in der Vergangenheit vielfältige Maßnahmen zum
Schutz vor Anschlägen mit radioaktivem Material ergrif-
fen und wird diese weiterverfolgen. Diese präventiven
Maßnahmen beinhalten Regelungen zum Schutz radioak-
tiven Materials vor Missbrauch ebenso wie die Weiterent-
wicklung der auf Bundesebene bestehenden Fähigkeiten
zur Gefahrenabwehr bei missbräuchlicher Verwendung
von radioaktivem Material, um den Ländern erforderli-
chenfalls bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe im Ein-
zelfall effizient Hilfe leisten zu können.
Zu Frage 26:
Deutschland verfügt bereits über ein umfangreiches
und sicheres staatliches Kontrollsystem für radioaktive
Stoffe. Die Nutzung radioaktiver Stoffe unterliegt nach
dem Strahlenschutzrecht einem umfassenden Genehmi-
gungsvorbehalt. Für hochradioaktive Strahlenquellen
wurde zusätzlich ein zentrales Registrierungssystem ein-
geführt. Zurzeit werden insbesondere die Anstrengungen
zum Sabotageschutz bei schwach radioaktiven Stoffen,
die bei technischen Anwendungen zum Beispiel in Kran-
kenhäusern oder Forschungslaboren verwendet werden,
in Zusammenarbeit mit den für die Aufsicht zuständigen
Landesbehörden intensiviert. Trotz dieser Bemühungen
wird es einen vollständigen Schutz gegen den Miss-
brauch radioaktiver Stoffe, insbesondere durch Dieb-
stahl, nicht geben können.
Anlage 17
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Astrid Klug auf die Fragen der
Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 27 und 28):
Inwiefern sind die Meldungen vom 17. Oktober 2007 der
Nachrichtenagenturen AP und AFP zutreffend, dass Deutsch-
land neben elf weiteren europäischen Staaten die sogenannte
europäische Seveso-II-Richtlinie (Störfallrichtlinie) trotz
mehrmaliger Aufforderung durch die EU-Kommission nur
unzureichend umgesetzt habe und deshalb eine Klage vor dem
Europäischen Gerichtshof drohe, und was sind die Gründe für
die mangelnde Umsetzung?
Welche Maßnahmen will die Bundesregierung bis wann
zur vollständigen Umsetzung der Seveso-II-Richtlinie ergrei-
fen, um eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof abzu-
wenden?
Zu Frage 27:
Die zitierten Meldungen treffen zu. Es geht dabei um
die aus Sicht der Kommission unzureichende Erstellung
externer Notfallpläne für Betriebsbereiche, die den er-
weiterten Pflichten der Seveso-II-Richtlinie unterliegen.
Die Erstellung externer Notfallpläne ist Aufgabe der den
Länderinnenministerien nachgeordneten Katastrophen-
schutzbehörden. Nach letzter Mitteilung der Bundesre-
gierung an die Kommission der Europäischen Gemein-
schaften vom 23. Mai 2007 waren im April 2007 von
897 erforderlichen externen Notfallplänen 593 abge-
schlossen, 199 in Bearbeitung, 34 in der Öffentlichkeits-
beteiligung in Angriff genommen. Als Gründe für die
mangelnde Umsetzung nannten die Innenministerien der
Länder unter anderem sehr zeitaufwändige Abstimmungs-
probleme wegen der Komplexität vieler Betriebe und er-
heblichen Zeitaufwand für die Öffentlichkeitsbeteiligung,
um das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit mit dem
gleichzeitigen Ziel des Schutzes von Industrieanlagen vor
Terrorismus und Sabotage zu vereinbaren.
Zu Frage 28:
Das Bundesumweltministerium hat die Innenminister
der Länder seit Oktober 2003 mehrfach auf die bestehen-
den Defizite bei der Erstellung externer Notfallpläne
hingewiesen und um schnellstmögliche Behebung der
Defizite gebeten. Die Länder haben stets versichert, dass
sie bemüht seien, bestehende Defizite so schnell wie
möglich aufzuarbeiten. Nach Mitteilung der Länder vom
Frühjahr 2007 soll dies in der weit überwiegenden Zahl
der Fälle bis zum Ende des Jahres erfolgt sein. Das Bun-
desumweltministerium wird die Innenministerien der
Länder nunmehr erneut auf die besondere Dringlichkeit
der Situation hinweisen und sie um Mitteilung bitten, bis
wann die Erstellung der externen Notfallpläne abge-
schlossen sein wird.
Anlage 18
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Fragen des
Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE
LINKE) (Drucksache 16/6743, Fragen 30 und 31):
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
den Forderungen der nordrhein-westfälischen SPD-Landes-
vorsitzenden, Hannelore Kraft, und des Ministers für Arbeit,
Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef
Laumann, in der WAZ vom 15. Oktober 2007, nach Lösungen
zu suchen, damit ältere ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher
nicht „zwangsverrentet“ werden müssen?
Plant die Bundesregierung gegebenenfalls Änderungen an
den bestehenden Regelungen im SGB II bzw. SGB III vorzu-
nehmen, damit ältere ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher
auch weiterhin die Wahlmöglichkeit haben, dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung zu stehen, und wie sehen diese aus?
Vor dem Hintergrund, dass die Regelung über den Be-
zug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
unter erleichterten Bedingungen vom 1. Januar 2008 an
nur noch demjenigen zugute kommt, der vor diesem Tag
das 58. Lebensjahr vollendet hat und dessen Anspruch
vor dem 1. Januar 2008 entstanden ist, prüft die Bundes-
regierung derzeit das weitere Vorgehen. Richtschnur ist
hierbei der Gedanke, wie die Integration Älterer in Er-
werbsarbeit weiter verbessert werden kann. Die Prüfung
ist noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung hält
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12567
(A) (C)
(B) (D)
den verwendeten Begriff der Zwangsverrentung für
falsch. Weder bei § 5 Abs. 3 SGB II noch bei den ande-
ren genannten Vorschriften handelt es sich um „Zwangs-
verrentung“. Es ist in jedem Einzelfall unter Abwägung
aller entscheidungserheblicher Belange zu prüfen, ob ein
Rentenantrag gestellt werden kann. Insbesondere sind
alle Möglichkeiten zu prüfen, ob nicht doch eine Integra-
tion in Erwerbsarbeit möglich ist. Der Träger der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende kann daher nur dann für
den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einen Antrag stel-
len, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige zuvor zur
Stellung des Antrags aufgefordert wurde und dieser dem
nicht nachgekommen ist. Dabei hat der erwerbsfähige
Hilfebedürftige Gelegenheit, etwaige Gründe darzule-
gen, warum ihm die Antragstellung nicht zumutbar ist.
Auch die zuständigen Rentenversicherungsträger haben
zu prüfen, ob die Voraussetzungen zum Bezug einer
Rente vorliegen.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung der Ressortforschung im Geschäfts-
bereich des Bundesministeriums für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
(Tagesordnungspunkt 5)
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
weiß ja, dass Koalitionsfraktionen dazu verdammt sind,
ziemlich viele Gesetzentwürfe schönzureden, von denen
sie eigentlich auch nicht wirklich überzeugt sind. Aber
es ist auch das Los von uns Oppositionsabgeordneten,
diese Schönrederei ertragen zu müssen. Was ich aber in
Sachen Neuordnung der Agrarressortforschung gehört
habe, war doch des Schlechten eindeutig zu viel. Sie
wollen 13 Prozent der Stellen abbauen und sprechen da-
von, dass sich die Agrarforschung trotzdem verbessern
wird. Glauben Sie wirklich an so hohe Effizienzgewinne
durch die beschlossenen Institutszusammenlegungen?
Glauben Sie wirklich, dass die Neuordnung der Institu-
tionen die Einsparung von 350 Stellen kompensieren
kann? Ich weiß nicht, wer Ihnen das abnehmen soll!
Darüber hinaus bleiben Sie eine schlüssige Begrün-
dung für die Schließung von vier Forschungsstandorten
schuldig und haben so keinerlei Rechtfertigung für die
Belastungen, die auf die betroffenen Mitarbeiter und ihre
Familien, die mit umziehen und sich woanders einen
neuen Job suchen müssen, zukommen.
Man kann ein System auch kranksparen. Und das
scheint mir gerade zu passieren: Die Forst- und die
Fischereiwissenschaften verlieren ihre organisatorische
Eigenständigkeit. Damit werden Bereiche, die zuneh-
mendem Nutzungsdruck ausgesetzt sind und deshalb ho-
hen Forschungsbedarf haben, marginalisiert. Dabei hät-
ten sie eine Aufwertung verdient. Grundsätzlich ist es
zwar richtig und notwendig, Zahl und Inhalt der For-
schungsfelder immer wieder neu an die aktuellen He-
rausforderungen anzupassen. Richtig ist zum Beispiel
die Einrichtung des Instituts für Agrarrelevante Klima-
forschung und des Instituts für Biodiversität. Ich be-
zweifle aber sehr, dass man immer gleich komplett neue
Institutslandschaften gestalten muss.
Ich kritisiere auch, dass Minister Seehofer sein Kon-
zept beschlossen hat, bevor der Agrarausschuss seine
Anhörung zum Thema durchgeführt hat. Damit hat das
Ministerium ziemlich deutlich gezeigt, was es von parla-
mentarischer Beteiligung hält – nämlich nichts. Die An-
hörung wurde so zur Farce. Aber diese Missachtung galt
nicht nur dem Parlament. Auch die Beteiligung der
Fachöffentlichkeit war von vornherein genau so wenig
vorgesehen wie die des Parlamentes. Die Diskussion im
Ausschuss und in der Öffentlichkeit fand nur statt, weil
der Entwurf des Konzeptes gegen den Willen des Minis-
teriums bekannt wurde. Immerhin führte die öffentliche
Diskussion dazu, dass dem Konzept einige Zähne gezo-
gen wurden.
So ist es ein großer Erfolg, dass die gerade erst in den
letzten Jahren aufgebaute Ökolandbauforschung am
Standort Trenthorst fortgesetzt werden kann. Es wäre
doch geradezu absurd gewesen, Trenthorst mit der Be-
gründung, die Forschungsaufgaben seien woanders effi-
zienter zu bewältigen, wieder zu schließen. Hier hat of-
fenbar der Wunsch, am wirtschaftlichen Aufschwung
von Ökolandbau und Biomarkt zu partizipieren, die ideo-
logische Ablehnung des Ökolandbaus bezwungen. Das
ist ein Beispiel dafür, dass Gutes sich auf Dauer durch-
setzt, unter Schwarz-Rot geht das allerdings nur sehr
mühsam.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung:
– Antrag: Kommunales Wahlrecht für Dritt-
staatenangehörige einführen
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Kommunales Ausländer-
wahlrecht)
(Tagesordnungspunkt 8 a und b)
Gert Winkelmeier (fraktionslos): Es erscheint schon
irgendwie ein wenig absurd: Österreicher dürfen in
Deutschland auf kommunaler Ebene wählen, Schweizer
dürfen es nicht. Hier verfängt das Argument vom Be-
kenntnis zur christlich-abendländischen Werteordnung,
die einen Menschen – wenn es nach großen Teilen der
Union geht – erst berechtigt, deutscher Staatsbürger zu
werden und damit dann auch wahlberechtigt zu sein,
wohl eher nicht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der
hessische CDU-Fraktionsvorsitzende, Dr. Wagner, ei-
nem Schweizer die abendländische Herkunft absprechen
würde.
Das Wahlrecht an die christlich-abendländische Wer-
teordnung zu koppeln, ist ein Schlag ins Gesicht all der
Deutschen, die keiner christlichen Religionsgemein-
12568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
schaft angehören. Will die CDU/CSU denen vielleicht
auch das Wahlrecht entziehen?
Das derzeit existierende Ausländerwahlrecht ist letzt-
lich ein Zweiklassenwahlrecht. Ist es etwa plausibel, wa-
rum ein EU-Bürger nach drei Monaten Aufenthalt in die-
sem Lande Mitglied in einem Kommunalparlament
werden kann, während ein Türke, der seit 15 Jahren hier
lebt, sich vielleicht sogar in seiner Kommune engagiert,
noch nicht einmal wählen darf? Das ist schlicht nicht
nachvollziehbar und es ist ungerecht.
Um den Art. 28 Abs. 1 des Grundgesetzes zu ändern,
wäre – das wissen wir alle – eine Zweidrittelmehrheit in
Bundesrat und Bundestag nötig. Sie scheint in weiter
Ferne, wie die bisher nicht einmal begründete Ableh-
nung der Bundesratsinitiative von Rheinland-Pfalz und
Berlin durch die zuständigen Ausschüsse zeigt. Dabei
haben die Gegner eines erweiterten Ausländerwahlrechts
die deutlich schlechteren Argumente; denn gerade in
Zeiten der Globalisierung, ist die ganze Welt der Ar-
beitsmarkt. Im Jahr 2005 gab es weltweit 200 Millionen
Migranten.
In 45 Demokratien – unter anderem in Irland, Groß-
britannien und den skandinavischen Ländern – gibt es
ein Ausländerwahlrecht auf lokaler, regionaler oder so-
gar auf nationaler Ebene. In Deutschland hingegen ist
man nicht bereit, Drittstaatenangehörigen ihr Bürger-
recht auf politische Partizipation in Form von Wahlen
zuzugestehen, nicht einmal auf kommunaler Ebene. Das
ist ein Skandal. Denn sie zahlen genauso ihre Steuern
wie EU-Bürger oder deutsche Staatsbürger. Also sollten
Ihnen auch vergleichbare Rechte eingeräumt werden.
Längst ist erwiesen, dass Integration und Teilhabe-
rechte zwei Seiten einer Medaille sind. Ein gleichbe-
rechtigter Zugang zu politischen Entscheidungen auf der
kommunalen Ebene für alle hier Lebenden gehört un-
trennbar dazu.
Es gibt inzwischen auch in der Union Rufe nach ei-
nem kommunalen Ausländerwahlrecht auch für Dritt-
staatenangehörige; ich darf nur an die Oberbürgermeis-
terin von Frankfurt am Main, Petra Roth, erinnern. Ich
möchte der Union ungerne unterstellen, dass ihre Ableh-
nung mit den Umfragen unter betroffenen ausländischen
Mitbürgern zusammenhängen könnte, die sehr deutlich
zugunsten ihres derzeitigen Koalitionspartners ausfallen.
Denn wir reden hier nicht von ein paar wenigen: Von
den 6,7 Millionen Menschen in diesem Land ohne deut-
schen Pass sind etwa 68 Prozent Drittstaatenangehörige,
in erster Linie mit türkischer, kroatischer und serbischer
Staatsangehörigkeit, die keineswegs nur vorübergehend
bei uns leben. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer
betrug im Jahr 2005 fast 20 Jahre.
Wir haben es also mit 4,5 Millionen Menschen zu tun,
die in diesem Land, in dem sie zum großen Teil dauer-
haft leben und ihre Steuern zahlen, ihr Bürgerrecht auf
politische Partizipation nicht wahrnehmen dürfen. Das
muss sich schleunigst ändern.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Deutsch-brasilianischen Atomvertrag
durch Erneuerbare-Energien-Vertrag ersetzen
(Tagesordnungspunkt 10)
Gabriele Groneberg (SPD): Wenn wir heute über
die Gestaltung des neuen Deutsch-brasilianischen Ener-
gieabkommens sprechen, dann haben wir die Neuaus-
richtung der bilateralen Zusammenarbeit im Energiesek-
tor nicht zuletzt unserer parlamentarischen Initiative vor
fast drei Jahren zu verdanken. Wir haben uns damals
massiv dafür eingesetzt, dass ein umfassender Energie-
vertrag zwischen Deutschland und Brasilien geschlossen
wird, der die richtigen Schwerpunkte im Bereich Förde-
rung erneuerbarer Energien und Energieeffizienz setzt.
Im Übrigen möchte ich nochmals daran erinnern, dass
die SPD-Bundestagsfraktion bereits 1994 dazu einen
Antrag eingebracht hat.
Wie gesagt, unsere Initiative war mit ausschlagge-
bend dafür, dass es im November 2004 zum Notenwech-
sel beider Regierungen kam, der Grundlage ist für die
derzeit stattfindenden Verhandlungen. Mitte nächsten
Monats steht voraussichtlich die nächste Verhandlungs-
runde an. Das neue Energieabkommen soll ganz im Zei-
chen einer nachhaltigen Energieversorgung stehen: Hier
geht es um Technologietransfer im Bereich der Explora-
tion, der Energieeffizienz sowie der erneuerbaren Ener-
gien. Auch geht es um die Anwendung flexibler Mecha-
nismen des Kioto-Protokolls und die Entwicklung
innovativer Antriebstechniken.
Als Entwicklungspolitikerin halte ich die jetzt einge-
schlagene Richtung – hin zu einer Energieversorgung,
die eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht – für abso-
lut sinnvoll und notwendig. Denn Brasilien ist das größte
und bevölkerungsreichste Land Südamerikas und die
neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Land hat den
zehntgrößten Energieverbrauch der Welt. Wir können
davon ausgehen, dass die Entwicklung der brasiliani-
schen Energiepolitik große Vorbildfunktion hat und da-
mit natürlich auch starken Einfluss nimmt auf die ener-
giepolitische Ausrichtung seiner Nachbarländer in
Lateinamerika.
Brasilien hat in den letzten Jahrzehnten seinen Energie-
mix diversifiziert und ist somit weniger anfällig für Ener-
giekrisen. Nicht ohne Grund setzt Brasilien bei diesem
Energiemix auch stark auf den Ausbau erneuerbarer Ener-
gien: Das Potenzial für erneuerbare Energien in Brasilien
ist gewaltig, besonders für Wind- und Sonnenenergie. Die
deutsche entwicklungspolitische Zusammenarbeit unter-
stützt Brasilien bereits im Rahmen des Programms „Luz
para todos“, vor allem durch Versorgung entlegener Ar-
mutsgebiete im Norden und Nordosten des Landes im Be-
reich Kleinwasserkraft, bei der Integration solcher Ener-
gien in die nationale Stromversorgung. Zudem besteht
eine Zusammenarbeit im Bereich der Energieeffizienz.
Brasilien gehört immer noch zu den Ländern mit den
höchsten Leitungsverlusten bei der Stromübertragung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12569
(A) (C)
(B) (D)
So weit zu den seit Jahren bestehenden Kooperatio-
nen mit Brasilien.
Weitere Projekte sind geplant im südbrasilianischen
Bundesstaat Santa Catarina. Dort sollen vier Kleinwasser-
kraftwerke entstehen, an deren Finanzierung sich die
deutsche Zusammenarbeit mit rund 37,23 Millionen Euro
beteiligt.
Die jetzt praktizierte entwicklungspolitische Zusam-
menarbeit wird – ebenso wie die geplanten Vorhaben –
in das neue Deutsch-brasilianische Energieabkommen
integriert.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von den Grünen, ich
kann Ihnen versichern: Wir als SPD-Entwicklungspoliti-
ker haben auch weiterhin nicht die Absicht, die entwick-
lungspolitische Zusammenarbeit im Bereich Energiege-
winnung durch Atomkraft zu unterstützen. Dagegen
gewinnt die Förderung der erneuerbaren Energien und
der Energieeffizienz nicht zuletzt vor dem Hintergrund
der aktuellen Klimadiskussion einen wachsenden Stel-
lenwert in der Entwicklungskooperation – und dies auch
in besonderer Weise in der Zusammenarbeit mit Brasi-
lien.
Insofern erschließt sich die Ablehnung Ihres Antrages
aus meinen Ausführungen.
Rolf Hempelmann (SPD): Die heutige Debatte hat
eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem deutsch-
brasilianischen Abkommen über die Zusammenarbeit
auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie
von 1975. Damals sollte eine Basis geschaffen werden
für die industrielle Zusammenarbeit und einen Informa-
tionsaustausch im Bereich der Nukleartechnologien.
Knapp 30 Jahre später gab es – nicht zuletzt vor dem
Hintergrund des nationalen Ausstiegs aus der Nutzung
der Kernenergie in Deutschland – entsprechende Bemü-
hungen der damaligen Koalitionsfraktionen und der Re-
gierungen auf beiden Seiten, die Energiezusammenarbeit
auf eine neue Grundlage zu stellen. Mit einem diploma-
tischen Notenaustausch hat sich unsere Regierung mit
der brasilianischen Seite schließlich auf die Erarbeitung
eines neuen, umfassenden Energieabkommens und die
Ablösung des Atomvertrages verständigt.
Mittlerweile sind jedoch wieder drei Jahre ins Land
gegangen, ohne dass die Verhandlungen zum Abschluss
gebracht worden wären. Offenbar handelt es sich hier
um recht zähe Verhandlungen. Auch das diplomatische
Parkett ist glatt. Ich begrüße aber, dass sich bereits eine
Verständigung über neue Schwerpunkte der Zusammen-
arbeit im Bereich der erneuerbaren Energien und der
Energieeffizienz abzeichnet. In diesen Feldern streben
Deutschland und Brasilien für die Zukunft einen intensi-
ven Erfahrungsaustausch an.
Außerdem sollen weitere Potenziale für die flexiblen
Mechanismen des Kioto-Protokolls ausgeschöpft wer-
den. Seit dem Jahr 2006 haben die sogenannten CDM-
Projekte in Brasilien erheblich an Bedeutung gewonnen.
Dabei handelt es sich um Investitionen im Bereich der
Energiegewinnung aus Zuckerrohrrückständen, aber
auch um Deponiegasprojekte oder emissionsmindernde
Maßnahmen im Transportsektor. Die CDM-Maßnahmen
bieten den in den Emissionshandel eingebunden Unter-
nehmen die Möglichkeit, die vertraglich festgelegten
Reduktionsziele auf einem möglichst kosteneffizienten
Weg zu erfüllen. Das ist nicht nur gut für das Klima, weil
es letztlich unwichtig ist, wo das CO2 eingespart wird,
sondern das bringt auch Know-how über neue Energie-
technologien und Investitionen nach Brasilien.
In der künftigen deutsch-brasilianischen Energiezu-
sammenarbeit werden natürlich auch die Biokraftstoffe
eine große Rolle spielen. Brasilien ist bei der Herstel-
lung von Bioethanol weltweit führend und verfügt in
dieser Branche über langjährige Erfahrungen, von denen
auch die deutsche Branche profitieren kann. In diesem
Zusammenhang begrüße ich insbesondere auch die Be-
mühungen der Verhandlungsführer, einen Dialog über
ein Zertifizierungssystem für Biokraftstoffe einzuleiten.
Wichtige Impulse für diesen Dialog liefert die geplante
Nachhaltigkeitsverordnung für den Einsatz von Bio-
kraftstoffen in Deutschland, die sich derzeit in Ressort-
abstimmung befindet. Über die Verordnung soll unter
anderem sichergestellt werden, dass die in Deutschland
verarbeitete Biomasse nur über ökologisch nachhaltige
Anbaumethoden gewonnen wird.
All das sind – dass müssen auch die Kolleginnen und
Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hono-
rieren – wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einer zu-
kunftsweisenden und ökologisch nachhaltigen Energie-
zusammenarbeit zwischen Deutschland und Brasilien.
Ihnen müsste klar sein, dass Ihr Antrag von den Tatsa-
chen überholt ist.
Aber lassen Sie mich noch kurz auf den Kontext der
Energiezusammenarbeit mit Brasilien eingehen. Die glo-
bale Herausforderung des Klimawandels bei einer
gleichzeitig explodierenden demografischen Entwick-
lung zeigen, wie wichtig die internationale Kooperation
auf dem Gebiet der Energie geworden ist. Die Weltbe-
völkerung wird von heute 6,5 Milliarden auf 8 Milliar-
den im Jahr 2025 bzw. 9 Milliarden Menschen im Jahr
2050 anwachsen. Diese Entwicklung wird von der nach-
holenden Industrialisierung wichtiger Schwellenländer
wie China, Indien oder eben Brasilien begleitet. Die
Nachfrage nach dem Produktionsfaktor Energie nimmt
entsprechend zu. Die Internationale Energieagentur
prognostiziert, dass der Weltenergieverbrauch bis 2030
um mehr als 50 Prozent zunehmen wird. Ein Großteil
des Energiekonsums wird auf heutige Schwellen- und
Entwicklungsländer entfallen.
In wenigen Wochen werden die Vereinten Nationen
auf Bali über ein Kioto-Nachfolgeabkommen verhan-
deln. Auch im Hinblick darauf ist es für uns nur folge-
richtig, mit Staaten wie Brasilien einen besonders inten-
siven Dialog zu führen. Das Land ist mit über
186 Millionen Einwohnern der größte Energiekonsu-
ment Südamerikas. Angesichts der wachsenden Energie-
binnennachfrage hat sich die brasilianische Regierung
vorgenommen, den Energiemix des Landes zu diversifi-
zieren. Dabei spielen vor dem Hintergrund großer Gas-
und Ölvorkommen sowohl fossile Energien als auch re-
12570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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generative und vor allem dezentrale Energieerzeugungs-
arten eine Rolle. Brasilien hat ein Erneuerbare-Energien-
Programm ins Leben gerufen, das sich an unserem Ex-
portschlager, dem deutschen Erneuerbare-Energien-Ge-
setz orientiert. Diese Linie können wir nur unterstützen.
Deshalb kann ich nur betonen, wie wichtig es ist, die
Kooperationsvorhaben im Bereich der angesprochenen
Zukunftstechnologien der Energieerzeugung und der
Energieeffizienz bald mit Leben auszufüllen, insbeson-
dere, da der künftige Umgang mit der Kooperation im
Bereich der friedlichen Nutzung von Kernenergie offen-
bar noch zwischen den Vertragspartnern austariert wer-
den muss. Die SPD-Fraktion strebt weiterhin nach einem
höheren Maß an Kongruenz zwischen unserer Energiein-
nenpolitik und unserer Energieaußenpolitik. Aber wir le-
ben nicht hinter dem Mond und wissen um die zum Teil
grundsätzlich verschiedenen Auffassungen zu diesem
Thema auch innerhalb der Regierungskoalition. Das darf
die Verhandlungen aber nicht weiter in die Länge ziehen.
Wir haben uns vor nunmehr drei Jahren auf die Aus-
handlung eines neuen Energieabkommens ohne nuklear-
technologische Komponente verständigt. Nun wird es
Zeit, dass wir hier zu einem tragbaren Ergebnis kom-
men. Die bereits erreichten Gesprächsergebnisse weisen
in die richtige Richtung.
Angelika Brunkhorst (FDP): Am 1. März diesen
Jahres haben wir den Antrag der Grünen, den deutsch-
brasilianischen Atomvertrag durch einen Erneuerbare-
Energien-Vertrag zu ersetzen, in 1. Lesung beraten.
Seitdem hat es in Brasilien in Hinblick auf die Kern-
energie keine nennenswerten Veränderungen gegeben.
Insofern bleibe ich bei dem, was ich im März gesagt
habe, freue mich, dass die Beschlussempfehlung auf
„Ablehnung“ lautet.
Denn im letzten Dreivierteljahr ist erneut deutlich ge-
worden, was wir schon lange wussten: Brasilien ist auf
Wachstumskurs. Brasilien setzt auf Kernkraft – komme,
was da wolle.
Lassen Sie mich ein Papier der Deutschen Bank vom
Juli dieses Jahres zitieren, um zu veranschaulichen, von
was für einen Wachstumskurs wir hier sprechen:
Noch im Jahr 2002 war es während der Wirtschafts-
und Finanzkrise nur knapp gelungen, die Zahlungs-
unfähigkeit abzuwenden. Brasiliens Lage und Sta-
bilität haben sich jedoch im Laufe der letzten fünf
Jahre dramatisch verbessert. … Für 2009 strebt die
Regierung einen ausgeglichenen Haushalt an.
Brasilien ist also auf der wirtschaftlichen Erfolgsspur.
Und diesem Land wollen die Grünen indirekt vor-
schreiben, wie es seinen Energiemix zu gestalten hat.
Stellen Sie sich den Realitäten: Brasilien baut seine
Kernkraft kräftig aus. Das hat Präsident Lula diesen
Sommer immer wieder in den Medien sehr deutlich an-
gekündigt.
In erster Linie geht es dabei um die Fertigstellung von
Angra 3, die wir, die FDP-Fraktion, aus verschiedenen
Gründen sehr begrüßen. Baubeginn soll hier noch in die-
sem Jahr sein. Dieses Projekt schafft 10 500 direkte und
indirekte Arbeitsplätze während des Baus und zukünftig
500 dauerhafte Stellen im laufenden Betrieb.
Präsident Lula hat aber über dieses Großprojekt hi-
naus noch ganz andere Dinge vor: Bis 2016 will er ins-
gesamt 386 Millionen Euro in die brasilianische Kern-
energie investieren. Die Rede ist vom Bau von vier bis
acht neuen Kernkraftwerken bis 2030 mit einer Leistung
von je 1 000 Megawatt. Und die Pläne sind nachvollzieh-
bar, denn Brasilien ist der sechstgrößte Uranproduzent
der Welt und verfügt über eigene Anreicherungsanlagen.
Für uns in Deutschland bedeutet diese Entwicklung,
dass wir mit der Kompetenz unserer Fachleute weiterhin
weltweit punkten können. Wahrlich kein Nachteil, wenn
wir unsere weltweite Führungsposition, was deutsche In-
genieurskunst angeht, ausbauen.
Die FDP-Fraktion hatte erst vorgestern Experten zu
einer Anhörung zum Thema „Reaktorsicherheit“ einge-
laden. Die Experten mit unterschiedlicher Bewertung
und Haltung zur Kernenergie stellten dennoch überein-
stimmend fest, dass unsere Fachleute für die Kernener-
gieanlagen in die Jahre gekommen sind, ohne dass aus-
reichend junge Experten ausgebildet wurden. Es herrscht
ein eklatanter Nachwuchsmangel.
Gerade diese Experten brauchen wir aber auch, selbst
wenn der Atomausstieg so kommt, wie er geplant ist.
Es gibt ein Riesenproblem aus Forschungs-, sicher-
heitstechnischer und wirtschaftlicher Sicht. Wir brau-
chen weiterhin die Kompetenz der deutschen Wissen-
schaft und Industrie und sollten daher aktiv um
Nachwuchs werben. Übrigens brauchen wir auch für die
Kontrollbehörden gut ausgebildete Leute.
Eine erste Reaktion, um den Bedarf zu decken ist die
Gründung des „Südwestdeutschen Forschungs- und
Lehrverbund Kerntechnik“ vergangenen Montag.
Zurück zu Brasilien und Ihrem Antrag. Fazit: Brasi-
lien ist ein souveränes Land und wird sich nicht, wie Sie
es wollen, durch vertragliche Änderungen zu einer ande-
ren Energiepolitik missionieren lassen. Erneuerbare-
Energien-Technologien sind sicher auch für Brasilien
eine interessante Option. Zeitpunkt und Ausmaß an
Nachfrage nach Erneuerbare-Energien-Technologien und
die Ausgestaltung der vertraglichen Zusammenarbeit auf
diesem Gebiet wird Brasilien aber selbst bestimmen.
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Die Bundesrepublik
Deutschland hat sich aus guten Gründen für den Aus-
stieg aus der gefährlichen Atomenergienutzung entschie-
den. Ich möchte daran erinnern, dass das die Bürgerin-
nen und Bürger hierzulande genau so sehen: Die
überwiegende Mehrheit sagt: Atomkraft – nein danke!
Auch im Bundestag gibt es eine parlamentarische Mehr-
heit für den Weg in eine nichtnukleare Energieversor-
gung. Das muss sich endlich auch in der außenpoliti-
schen Arbeit dieser Bundesregierung widerspiegeln.
Konsequenterweise bedeutet das: Die nukleare Zu-
sammenarbeit mit Brasilien muss sofort beendet werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12571
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Stattdessen brauchen wir mit dem Land einen Dialog
über und einen Transfer von Wissen und Technologie im
Bereich der erneuerbaren Energien. Davon können beide
Seiten langfristig profitieren, im wirtschaftlichen, im so-
zialen und im ökologischen Bereich Nachhaltigkeit als
Grundlage bilateraler Verträge, das ist die Devise.
Die Linke stimmt dem Antrag der Grünen deshalb zu.
Auch wenn der Vorschlag ein wenig spät kommt. In den
sieben Jahren rot-grüner Regierungszeit wurden derart
konsequente Forderungen, den deutsch-brasilianischen
Atomvertrag durch einen Erneuerbare-Energien-Vertrag
zu ersetzen, nicht vernommen.
Dabei schielte Brasilien in den 70er-Jahren auf die
Atombombe, als Deutschland damals unter SPD-Füh-
rung anfing, Nuklearmaterial nach Lateinamerika zu lie-
fern. Umso wichtiger ist es jetzt, sich davon zu distanzie-
ren. Ohnehin verschluckt der Bau des von Siemens
geplanten Atomkraftwerks Angra 3 Milliarden Dollar
volkswirtschaftlichen Vermögens. Schon der davor mit
deutscher Ingenieurskunst errichtete zweite Meiler ging
nach über 25 Jahren Entwicklungszeit als teuerstes
Atomkraftwerk der Welt unrühmlich in die Geschichte
ein.
Dennoch ist auch heute Gefahr in Verzug: Das staatli-
che brasilianische Planungsunternehmen EPE hat die Er-
richtung von vier weiteren Atommeilern vorgeschlagen.
Niemand weiß, ob sich in Zukunft nicht auch andere
südamerikanische Staaten auf einen ähnlich gefährlichen
Weg einlassen. Die strahlende Nuklearspirale, die mit-
hilfe deutscher Unternehmen bereits den Nahen und
Mittleren Osten destabilisiert hat, könnte so auch in Süd-
amerika zu drehen beginnen.
Deshalb ist bei internationalen Energieverträgen eine
konsequente Ausrichtung auf Wind, Wasser, Sonne und
Bioenergie unverzichtbar; denn erneuerbare Energien
bedeuten Klimaschutz. Das Nobelpreis Komitee hat un-
längst richtig erkannt: Klimaschutz ist ein unverzichtba-
rer Beitrag zum Frieden.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein
Zusammentreffen der beiden Außenminister hat im No-
vember 2004 das Ende des anachronistischen Atomver-
trages – aus Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur –
eingeleitet. Ein nichtnuklearer Energievertrag mit dem
Schwerpunkt der erneuerbare Energien sollte, so die ge-
meinsame Willenserklärung – die in einem diplomati-
schen Notenwechsel niedergelegt wurde –, an seine
Stelle treten. Statt diese Chance beim Schopf zu packen,
verhindert das Wirtschaftsministerium seither ein neues
Abkommen. Der Wirtschaftsminister will sich offen-
sichtlich auch weiterhin die umstrittene Nuklearoption
offenhalten, im Zusammenspiel mit der Atomlobby in
Deutschland und Brasilien.
Bei der ersten Lesung im Bundestag hat die Koalition
gezeigt, dass sie in dieser Frage tief gespalten ist. Die
Abgeordneten der SPD unterstützten in ihren Reden un-
seren Antrag und schlossen eine Hermes-Bürgschaft für
das neue AKW Angra 3 aus. Die Union dagegen hielt
ein flammendes Plädoyer für die Neubelebung der
Atomkooperation mit Brasilien und bekam dafür den
Beifall der FDP.
Was gilt, können Sie heute zeigen, indem Sie diesem
Antrag zustimmen. Wer offiziell am Atomausstieg fest-
hält, aber Atomgeschäfte mit Brasilien und anderen Na-
tionen fördern will, macht sich unglaubwürdig.
Ich bin gespannt, was Sie sich, meine Damen und
Herren von der SPD, überlegt haben. Wie man hört, wol-
len Sie jetzt zum einen den Nuklearvertrag weiterlaufen
lassen und zum anderen einen Erneuerbaren-Vertrag da-
neben setzen. Dies ist keine Politik, sondern ein fauler
Kompromiss, ein Kniefall vor der Atomlobby hüben und
drüben.
Im Energiemix Brasiliens hat die Atomenergie ledig-
lich ein Gewicht von 1,2 Prozent, ist also energiepoli-
tisch vollkommen unbedeutend. Dies lässt gleichzeitig
die wirkliche Intention, die die Miltärjunta 1975 ver-
folgte, hervortreten: Brasilien sollte zur Nuklearmacht
aufsteigen. Brasilien verfolgte, als es merkte, dass über
den Atomvertrag mit Deutschland kein entsprechender
Technologietransfer zustande kam, ein geheimes Paral-
lelprogramm. Dies zeigt, dass das Nuklearprogramm zu-
mindest damals – und ich befürchte, es tut es noch im-
mer – eine Ideologie des nuklearen Großmachtstrebens
unterstützte.
Mit gutem Grund prüfen wir die nukleare Zusammen-
arbeit besonders intensiv. Die Gefahr der Proliferation
– das Streben von immer mehr Ländern nach der Atom-
bombe – zeigt sich an den aktuellen Konflikten mit
Nordkorea und dem Iran deutlich. Dieser Gefahr muss
man entschlossen entgegentreten.
Während die Atomkraft für die Energiepolitik Brasi-
liens bedeutungslos ist, haben die erneuerbaren Energien
eine hervorragende Rolle im Energiemix des Landes:
vor allem Wasserkraft und Biomasse. Die Stromerzeu-
gung basiert hauptsächlich auf Wasserkraft und kann
hervorragend durch Wind- und Solarenergie ergänzt
werden. Große Möglichkeiten eröffnen sich – auch aus
entwicklungspolitischer Perspektive – bei der dezentra-
len ländlichen Energieversorgung, die unmittelbar zur
„Armutsbekämpfung“ beiträgt. Die brasilianische Re-
gierung hat 2004 ein Nationales Programm zur Produk-
tion von Biodiesel aufgelegt. Dieses verfolgt gleichzeitig
Umweltziele, Armutsbekämpfung und die wirtschaftli-
che Stimulierung von ländlichen Regionen in den ärms-
ten Landesteilen des Nordostens und Nordens.
Durch die Rehabilitierung von Wasserkraftwerken
und die Erneuerung von Transmissionssystemen können
schnell fünf bis sechs AKWs eingespart werden; durch
Ausweitung und Effizienzsteigerungen bei der Verarbei-
tung von Zuckerrohr-Bagasse können in den nächsten
Jahren noch einmal Produktionskapazitäten für Strom
aus Biomasse im gleichen Umfang entstehen. All diese
Optionen sind schnell, kostengünstig und ohne Sicher-
heitsrisiko zu haben. Atomenergie ist die teuerste aller
Energieoptionen. Es gäbe also viel zu tun, aber die Bun-
desregierung scheint hier der Devise der brasilianischen
Atomlobby zu folgen und nichts anzupacken. Damit
12572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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wird die zukunftsfähige Energiekooperation auf dem Al-
tar einer überkommenen Atompartnerschaft geopfert.
Trotz besiegeltem Atomausstieg im Inland tut sich die
Bundesregierung unglaublich schwer, die gleichen Re-
geln auch für die Außenwirtschaft gelten zu lassen. Die
Hermes-Umweltleitlinien sagen, dass keine Atom-
exporte mehr mit öffentlichen Bürgschaften und Garan-
tien gefördert werden dürfen. Das Wirtschaftsministerium
versucht jetzt, die Kantinen in einem Atomkraftwerk so
großzügig zu definieren, dass mit den Zulieferungen
zum Kantinenbau bereits 80 Prozent eines AKWs ste-
hen. Wir sagen „null Toleranz“: keinerlei Zulieferungen
zum Neubau von Atomkraftwerken! Keine Hermes-Un-
terstützung für den Bau von Angra 3!
Bitte kommen Sie zur Besinnung. Gießen Sie kein
Wasser mehr auf die Mühlen der Atomlobby. Das Ergeb-
nis ist Stagnation, statt eine dynamische Energiepartner-
schaft voranzubringen, die große Potenziale auch für den
Klimaschutz hätte. Ich appelliere auch an die brasiliani-
sche Seite, sich zu entscheiden. Dadurch dass Sie immer
wieder die Atomkarte in den bilateralen Verhandlungen
aufblitzen lassen, tragen Sie dazu bei, dass in attraktiven
Bereichen wie Biotreibstoffen und Energieeffizienz
nichts vorangeht.
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von
Jugendfreiwilligendiensten
– Unterichtung durch die Bundesregierung: Be-
richt der Bundesregierung zu Prüfaufträgen
zur Zukunft der Freiwilligendienste, Ausbau
der Jugendfreiwilligendienste und der genera-
tionsübergreifenden Freiwilligendienste als zi-
vilgesellschaftlicher Generationenvertrag für
Deutschland
– Antrag: Jugendfreiwilligendienste in einem
gemeinsamen Gesetzesrahmen zusammen-
fassen
– Antrag: Jugendfreiwilligendienste ausbauen
und Gesamtkonzeption entwickeln
(Tagesordnungspunkt 11 a und b, Zusatzord-
nungspunkte 4 und 5)
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Die Große Koali-
tion hält Wort. In der Koalitionsvereinbarung haben wir
festgelegt, die finanziellen Grundlagen für die Jugend-
freiwilligendienste zu stärken und ihre gesetzlichen
Grundlagen zu verbessern. Deshalb haben wir trotz der
unverändert geltenden Pflicht zur Haushaltskonsolidie-
rung die Mittel für die Freiwilligendienste schon im letz-
ten Bundeshaushalt erhöht, und deshalb beraten wir
heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur
Förderung von Jugendfreiwilligendiensten.
Wir haben uns im Vorfeld dieser ersten Lesung auf ei-
nen gegenüber dem ursprünglichen Zeitplan geänderten
Beratungsverlauf verständigt. Ich bin sowohl dem Bun-
desfamilienministerium als auch dem Bundesfinanzmi-
nisterium für das Entgegenkommen dankbar, weil ich es
für wichtig halte, dass wir uns bei diesem Gesetzesvor-
haben nicht nur die Zeit nehmen, in einer Öffentlichen
Anhörung die Experten anzuhören, sondern uns nach
Möglichkeit auch interfraktionell auf die Lösung ver-
ständigen. Die Atmosphäre der ersten Berichterstatterge-
spräche lässt jedenfalls den Schluss zu, dass uns das ge-
lingen könnte.
Die grundsätzliche Zielrichtung des Gesetzentwurfs
ist sicher unstrittig. Wenn wir die bislang unterschiedli-
chen gesetzlichen Rahmenbedingungen für das Freiwil-
lige Soziale Jahr, FSJ, und das Freiwillige Ökologische
Jahr, FÖJ, zukünftig rechtlich unter einem Dach zusam-
menführen, ist das ein Beitrag zur Transparenz und auch
zur Vereinfachung. Und wenn sich in diesem Zusam-
menhang die Gelegenheit bietet, im Interesse von Trä-
gern wie Freiwilligen die eine oder andere Unebenheit
zu glätten, dann sollten wir dies auch tun.
Uns haben in den vergangenen Tagen eine ganze
Reihe von Stellungnahmen erreicht; auch der Bundesrat
hat sich bereits eingehend mit dem Thema befasst. Ver-
mutlich ging es den Kolleginnen und Kollegen Bericht-
erstatter ähnlich, dass wir an der einen oder anderen
Stelle nochmals nachdenklich geworden sind, weil we-
nigstens nach meiner Auffassung eine Vielzahl von An-
regungen durchaus in die richtige Richtung geht. Ich will
dies an einigen Punkten exemplarisch darstellen:
Erstens. FSJ und FÖJ sind seit Jahren, ja seit Jahr-
zehnten, feste Begriffe, die sich nicht nur etabliert ha-
ben, sondern auch positiv besetzt sind. Wir sollten da-
rauf achten, dass diese Marken erhalten bleiben. Wir tun
niemandem einen Gefallen, wenn wir diese Begriffe
ohne Not verändern. Das schlägt sich auch im Sprachge-
brauch nieder. „Ich mache ein FSJ“, ein kurzer Satz,
nach dem jeder Bescheid weiß. Dem gegenüber klingt
der Satz „Ich leiste einen Freiwilligen Sozialen Dienst,
der ein Jahr dauert“ zugegebenermaßen etwas umständ-
lich.
Zweitens. Ich bin der Auffassung, dass der Bildungs-
charakter der Jugendfreiwilligendienste im Kern erhalten
bleiben muss. Deshalb hat die Bundesregierung recht,
wenn sie auf Seite 6 der Broschüre zum neuen Programm
„Miteinander – füreinander“ formuliert: „Das Freiwillige
Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr sind
Bildungsjahre, in denen junge Menschen soziale Kompe-
tenz erwerben und erproben.“ Konkret gemünzt auf den
heute in erster Beratung zu diskutierenden Gesetzentwurf
bedeutet dies, dass wir uns die Formulierung in § 1 noch-
mals ansehen müssen, wenn nämlich die Jugendfreiwilli-
gendienste unter die Überschrift „Bürgerschaftliches En-
gagement“ subsummiert werden und durch diese
Deklaration an prominenter Stelle der Bildungscharakter
des Jugendfreiwilligendienstes in den Hintergrund tritt.
Ich räume ein, dass andere Freiwilligendienste, etwa ge-
nerationenübergreifende Freiwilligendienste oder For-
men wie senior expert service weniger stark den Bil-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12573
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dungsauftrag verfolgen. Jugendfreiwilligendienste jedoch
sollten auch zukünftig im Kinder- und Jugendplan des
Bundes verankert sein, da sie einen zentralen Bestandteil
der jugendpolitischen Agenda des Bundes sind.
Drittens. Ein schwerer Stein im Magen ist vielen von
uns das Thema Umsatzsteuer. Wir sind uns vermutlich
von vornherein einig, dass Jugendfreiwilligendienste
nicht umsatzsteuerpflichtig werden sollen. Nun stehen
wir aber vor der Frage, wie wir das am besten bewerk-
stelligen. Das Ministerium hat uns im Gesetzentwurf ei-
nen Vorschlag unterbreitet, der sicher gut durchdacht
und wohl – wenn man das einmal salopp formulieren
darf – auch wasserdicht zu sein scheint. Viele Träger je-
doch, insbesondere die kleineren, klagen jetzt schon über
den Verwaltungsaufwand, der sich damit verbindet. Und
wenn ich einmal ganz ehrlich sein soll: Ich selbst habe
den Passus, der sich mit der Umsatzsteuer befasst, noch
immer nicht ganz verstanden. Ich will stattdessen Ihr
Augenmerk nochmals auf den Ansatz richten, den der
Bundesrat in seiner Stellungnahme vorgeschlagen hat.
Wir sollten insbesondere in der Anhörung die Gelegen-
heit nutzen, um mit den Experten die Frage zu beraten, ob
der Vorschlag des Bundesrates nicht zielführender ist –
unter der Voraussetzung freilich, dass der Jugendfreiwil-
ligendienst ganz klar und unmissverständlich als Bil-
dungsmaßnahme deklariert wird und wir dann umsatz-
steuerrechtlich analog der Leistungen nach dem Kinder-
und Jugendhilfegesetz verfahren könnten.
Viertens. Ich will in einem vierten Punkt auf eine An-
regung zu sprechen kommen, die uns ebenfalls von der
Länderseite zuging. Die Möglichkeit, Freiwilligen-
dienste abschnittsweise zu leisten, hat schon im Vorfeld
der Beratung für Gesprächsstoff gesorgt. Wo einerseits
die Gefahr der Zerfaserung und damit der geringer wer-
denden Attraktivität des Dienstes befürchtet wird, be-
steht natürlich andererseits die Chance, wirklich innova-
tive Projekte wie zum Beispiel FSJ-Plus in Baden-
Württemberg, wo das FSJ mit der Erlangung des Real-
schulabschlusses verbunden wird, auch in Zukunft an-
bieten zu können. Ich plädiere daher dafür, das Eine zu
tun und das Andere nicht zu lassen, will sagen: Die
Möglichkeit, den Dienst abschnittsweise etwa in Blö-
cken von drei Monaten zu tun, sollte die absolute Aus-
nahme sein.
Fünftens. Ein letzter Punkt: Wenn Jugendfreiwilligen-
dienste tatsächlich etwas Zählbares in einem Lebenslauf
darstellen sollen – und diesen Aspekt verfolgen wir ja
bei der Neukonzeption des Zivildienstes als Lerndienstes
auch –, dann ist der gesetzgeberische Ansatz sicher rich-
tig, hierfür auch ein qualifiziertes Zeugnis und nicht nur
eine Bescheinigung zu erhalten. Wir sollten diese Zeug-
niserstellung zum Obligatorium machen und nicht nur
als Option vorsehen, die neben einer automatisch auszu-
stellenden Bescheinigung steht.
Schlussbemerkung: Wir werden nach Abschluss die-
ses Gesetzgebungsverfahrens noch nicht am Ende unse-
rer Aktivitäten in Sachen Freiwilligendienste sein. Der
Modellversuch „Generationsübergreifende Freiwilligen-
dienste“ läuft im kommenden Jahr aus, wir müssen uns
Gedanken machen, wie es weitergehen kann. Ich bin
Staatssekretär Hoofe dankbar, dass er heute im Aus-
schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend klar
dargestellt hat, dass man über eine Regierungsinitiative
nachdenkt, die zum Ziel haben soll, die unterschiedli-
chen Ansätze in den einzelnen Bundesministerien beim
Thema Freiwilligendienst – ich nenne exemplarisch nur
den lobenswerten Dienst „weltwärts“ aus dem Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung – möglichst zu koordinieren, Dopplungen
zu vermeiden und die Dinge aufeinander abzustimmen.
Wir sollten letztlich nicht einen Bauchladen mit zig un-
terschiedlichen Angeboten vor uns her tragen, sondern
es schaffen, vom FSJ über FÖJ und das Freiwillige Jahr
in der Kultur bis hin zum Freiwilligen Jahr im Sport eine
Struktur aufzubauen, die einerseits den unterschiedli-
chen Bedürfnissen und Wünschen von Freiwilligen ge-
recht wird, andererseits aber auch sicherstellt, dass die
unterschiedlichen Dienste zu vergleichbaren Bedingun-
gen stattfinden können.
Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Aus-
schuss und zusammen mit den Berichterstatterinnen und
Berichterstattern.
Sönke Rix (SPD): Eine wichtige Säule unserer Bür-
gergesellschaft sind die Jugendfreiwilligendienste. Sie
sind ein Erfolgsmodell. Im Übergang zwischen Jugend-
und Erwachsenenphase eröffnen das Freiwillige Soziale
und das Freiwillige Ökologische Jahr die Chance per-
sönlicher und beruflicher Orientierung. Sie bieten jun-
gen Menschen nach der Schulausbildung oder in der
weiteren Ausbildungsphase neue Lernerfahrungen. Sie
vermitteln wichtige fachliche und soziale Fähigkeiten.
Sie stärken Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein sowie
Eigen- und Fremdverantwortung. Deshalb sind Jugend-
freiwilligendienste wichtige Lernorte zwischen Schule
und Beruf.
Seit den 70er-Jahren hat sich die Zahl der Teilneh-
menden am Freiwilligen Sozialen Jahr von 1 000 auf
rund 25 000 pro Jahrgang erhöht. Hinzu kommen
1 900 Freiwillige im Ökologischen Jahr. Es gibt aber im-
mer noch viel mehr Bewerber als angebotene und finan-
zierte Stellen. Im Durchschnitt kommen drei Bewerber
auf einen freien Platz.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben uns schon in
den vergangenen Legislaturperioden für eine Stärkung
der Freiwilligendienste eingesetzt. Die SPD-AG „Bür-
gerschaftliches Engagement“ und der Unterausschuss
„Bürgerschaftliches Engagement“ haben engagierte Ar-
beit geleistet. Dafür bedanke ich mich an dieser Stelle
bei allen, die für unsere Sache im Hintergrund die Vor-
arbeit leisten. Es ist unter anderem diesen Gremien zu
verdanken, dass das Thema Bürgergesellschaft längst
kein Schattendasein mehr fristet. Wichtige Weichenstel-
lungen für Jugendfreiwilligendienste wurden dort unter-
nommen.
Zur Erinnerung: Auf unsere Initiative der SPD-Bun-
destagsfraktion ist im Jahre 2005 der Antrag „Zukunft
der Freiwilligendienste“ im Bundestag fraktionsüber-
greifend beschlossen worden. Darin haben wir die
Weiterentwicklung der nationalen und internationalen
12574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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Jugendfreiwilligendienste gefordert. Vieles davon ist im
aktuellen Gesetzentwurf aufgegriffen worden.
Wir diskutieren heute den aktuellen Gesetzentwurf
zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten. Doch
erstmal ein Rückblick: Bereits mit der letzten Gesetzes-
Novellierung 2002 haben wir viel erreicht: Die Platzzah-
len der Träger haben sich stark erhöht. 4 000 neue Plätze
sind im FSJ hinzugekommen. Die neuen Regelungen im
§ 14 c des ZDG brachten auch eine Erhöhung der Platz-
zahlen in den klassischen Bereichen, wie zum Beispiel
in Altenheimen, Krankenhäusern und Kindergärten, her-
vor.
Die Förderung durch das Bundesamt für Zivildienst
ist für viele Träger so attraktiv, dass sie weitere bis dahin
nicht finanzierbare Freiwilligenplätze anbieten. Diese
werden angenommen: Der starke Anstieg bei den jungen
Männern zwischen 2002 und 2004 ist weitgehend auf die
neuen Möglichkeiten des Zivildienstgesetzes zurückzu-
führen. Aber auch die neuen Einsatzfelder, wie bei-
spielsweise der Sportbereich, ziehen Interessierte an.
Zudem wurden die Freiwilligendienste auf das außer-
europäische Ausland ausgeweitet. Dies hat zu einem An-
stieg der Platzzahlen im Ausland geführt. Und es gibt
neue Träger, die im Ausland Freiwilligenplätze schaffen.
In diesem Jahr hat sich in Sachen Jugendfreiwilligen-
dienste etwas Entscheidendes getan: Das Bundesfami-
lienministerium hat mit „Freiwilligendienste machen
kompetent!“ ein neues Programm aufgelegt. Letztes Jahr
haben wir gefordert, dass die Integration der Jugendli-
chen unter 17 Jahren und die der Jugendlichen mit Mi-
grationshintergrund gefördert werden muss. Dafür soll-
ten Einsatzstellen geschaffen und eine angemessene
pädagogische Betreuung angeboten werden. Eine höhere
Bezuschussung für diese Plätze war dringend notwen-
dig. So können auch die Betreuer in den Einsatzstellen
ausreichend qualifiziert werden. Außerdem habe schon
damals einen Schwerpunkt unserer Politik klar formu-
liert:
Wir wollen, dass Jugendliche mit Hauptschul-
abschluss und junge Menschen mit Migrations-
hintergrund die Möglichkeit haben, einen Freiwilli-
gendienst anzutreten. Denn der Freiwilligendienst
bietet einmalige Chancen für eine langfristige Inte-
gration in unsere Gesellschaft.
Dies wird nun in dem neuen Programm verwirklicht.
Es erreicht Jugendliche, die bisher nicht für eine Teil-
nahme an einem FSJ oder FÖJ gewonnen werden konn-
ten. Der Schwerpunkt liegt hier noch mehr als sonst auf
dem Erwerb von sogenannten informellen Kompeten-
zen. Dazu gehören: Teamfähigkeit, Durchhaltevermö-
gen, Hilfsbereitschaft und selbstständiges Übernehmen
von Aufgaben. Das wird den Jugendlichen in diesem
Programm vermittelt. Auf unsere Initiative wurde eine
zusätzliche Million Euro für dieses neue Programm zur
Verfügung gestellt. Eine weitere Million Euro kommt
aus dem Europäischen Sozialfonds. Es stehen also
2 Millionen Euro zur Verfügung. Im September dieses
Jahres fiel der Startschuss für „Freiwilligendienste ma-
chen kompetent!“. Wir sind gespannt, wie die ersten Er-
gebnisse ausfallen.
Doch nun zurück zu dem vorliegenden Gesetzent-
wurf, der heute eingebracht wurde. Er heißt „Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Förderung von Jugendfreiwilligen-
diensten“. Und genau das wollen wir damit erreichen.
Wir wollen Jugendfreiwilligendienste und alle, die damit
zu tun haben, fördern. Dazu gehört beispielsweise die
Umsatzsteuerpflicht. Wir wollen verhindern, dass bei ei-
nem Jugendfreiwilligendienst eine Umsatzsteuer erho-
ben wird. Dies gab im Übrigen den Anstoß für den
neuen Gesetzentwurf. Für die jungen Leute, die einen
Freiwilligendienst leisten, hat dies direkt natürlich keine
Auswirkungen. Sie nehmen ihr Freiwilliges Soziales
oder Ökologisches Jahr ohne die Umsatzsteuerproble-
matik wahr. Trotzdem ist eine Vermeidung der Umsatz-
steuerpflicht natürlich umso wichtiger für die Träger und
Einsatzstellen, um weiterhin eine hohe Zahl von Freiwil-
ligendienstplätzen anbieten zu können. So tun wir auch
den Freiwilligen und solchen, die es werden wollen, ei-
nen Gefallen.
Doch der Gesetzentwurf hat nicht nur mit Finanzen
und Steuern zu tun. Wir wollen die Freiwilligendienste
auch unter anderen Gesichtspunkten weiterentwickeln.
Aus meinen Gesprächen mit Freiwilligen und ehemali-
gen Freiwilligen weiß ich, dass sie ihr Soziales oder
Ökologisches Jahr dazu nutzen, sich nach der Schulzeit
zu orientieren und Kompetenzen zu erwerben, die es in
anderen Ausbildungszusammenhängen so nicht gibt.
Diesen Aspekt wollen wir mit dem neuen Gesetz und ei-
ner stärkeren Betonung der informellen Bildung stärken.
Außerdem wollen wir uns noch mehr als bisher an der
Lebenswirklichkeit von jungen Menschen orientieren.
Wir tun den jungen Menschen keinen Gefallen, indem
wir starr an der 1-Jahres-Regelung festhalten. Wir müs-
sen flexibel auf ihre Wünsche eingehen und uns daran
gewöhnen, dass ein Freiwilliges Soziales Jahr auch ein-
mal „nur“ ein halbes Jahr dauert, weil danach das Stu-
dium oder ein Praktikum beginnt.
Mit den neu geschaffenen Kombinationsdiensten er-
möglichen wir es den jungen Freiwilligen, im Inland und
im Ausland ihren Freiwilligendienst zu absolvieren. Das
schafft interkulturelle Erfahrungen, und zwar andere als
zum Beispiel ein Studiensemester im Ausland. Arbeitet
ein Freiwilliger beispielsweise in einem spanischen Al-
tenheim, werden dort sicherlich andere Fähigkeiten ge-
fragt sein als an einer spanischen Uni.
Außerdem wollen wir benachteiligten Jugendlichen
mehr Bildungschancen ermöglichen, indem wir in be-
stimmten Fällen ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein
Freiwilliges Ökologisches Jahr mit einem formalen Bil-
dungsauftrag verknüpfen. So konnten Jugendliche aus
schwierigen sozialen Verhältnissen im „FSJplus“, das in
den letzten zwei Jahren in Baden-Württemberg durchge-
führt wurde, auch noch ihren Realschulabschluss erwer-
ben. Das Programm war ein voller Erfolg.
Sowohl für die Kombinationsdienste als auch für die
Freiwilligendienste, die mit einem Bildungsabschluss
verbunden sind, gilt: Diese Formen sind Ausnahmen.
Wir wollen diese Ausnahmen fördern, aber gleichzeitig
stehen wir voll hinter den klassischen FSJ und FÖJ. An
diesen Abkürzungen, die mittlerweile bei Trägern, Frei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12575
(A) (C)
(B) (D)
willigen, Schülerinnen und Schülern zu echten Marken
geworden sind, wollen wir festhalten. FSJ und FÖJ sind
echte Qualitätsmarken und sollen es bleiben, auch wenn
ein Freiwilliges Soziales oder Freiwilliges Ökologisches
Jahr dann einmal 18 oder nur 6 Monate hat.
Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste weiterent-
wickeln. Wir möchten sie öffnen für neue Trägerstruktu-
ren und neue Zielgruppen. Wir wollen, dass Jugendliche
mit Migrationshintergrund und aus sogenannten bil-
dungsfernen Schichten ein FSJ oder ein FÖJ genauso
selbstverständlich für sich in Betracht ziehen wie die
Abiturientin oder der Realschüler. Dafür wollen wir So-
zialdemokraten die Migrantenselbstorganisationen als
Träger und Einsatzstellen für Jugendfreiwilligendienste
ins Boot holen. Ein erfolgversprechendes Instrument
können unter anderem Tandemlösungen sein: Trägerge-
meinschaften aus einem bereits zugelassenen Träger von
FSJ/FÖJ und Träger, insbesondere aus dem Bereich der
Migrantenselbsthilfeorganisationen arbeiten auf gleicher
Augenhöhe zusammen. Das wollen wir ausdrückliche in
diesem Gesetz regeln.
Wir möchten, dass es bald mehr Freiwilligendienst-
plätze gibt, dabei jedoch nicht die Qualität der Betreu-
ung auf der Strecke bleibt. Neben optimalen strukturel-
len Bedingungen muss auch der finanzielle Rahmen
stimmen. Wir setzen uns deshalb für die Erhöhung der
Haushaltsmittel für die Jugendfreiwilligendienste – um
2 Millionen Euro für 2008 – ein. Aber auch die Länder
und die Träger sind hier weiterhin in der Pflicht.
Mit diesem Gesetz wird ein Schritt in die richtige
Richtung getan. Wir sind noch nicht am Ziel unserer
Wünsche, aber auf einem guten Weg. Lassen sie uns ge-
meinsam daran arbeiten, dass sich noch mehr Jugendli-
che als bisher und in vielfältigerer Weise für einen Ju-
gendfreiwilligendienst interessieren, und dass wir bald
jedem Jugendlichen, der es möchte, einen Platz zur Ver-
fügung stellen können.
Über bürgerschaftliches Engagement freue ich mich
immer, besonders freue ich mich über Engagement von
jungen Menschen. Denn diese nehmen die Erfahrung ei-
nes FSJ oder FÖJ mit in ihr späteres Leben und werden
zu engagierten und verantwortungsbewussten Erwachse-
nen.
Sibylle Laurischk (FDP): Die FDP begrüßt den Aus-
bau von Jugendfreiwilligendiensten, wie es der Deutsche
Bundestag bereits fraktionsübergreifend in der Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend (Bundestagsdrucksache 15/5175)
aus der letzten Legislaturperiode zum Ausdruck gebracht
hat. Hierbei war jedoch an den Ausbau der bestehenden
Dienste gedacht. Nun erleben wir eine Stagnation beim
Ausbau von FSJ und FÖJ, obwohl noch immer wesent-
lich mehr Jugendliche dieses Angebot nachfragen als
Plätze vorhanden sind, und gleichzeitig die explosionsar-
tige Bereitstellung von Freiwilligenplätzen in anderen
Ministerien.
Was aber tut nun dieser Gesetzentwurf? Er trägt nicht
dazu bei, das Platzangebot im FSJ/FÖJ zu erhöhen, er
schafft neue Bürokratie und ist inhaltlich unausgegoren.
Die Bundesregierung betont immer wieder, dass dieser
Gesetzentwurf vor allem notwendig geworden sei und
schnell kommen müsse, um die bestehende Umsatzsteu-
erproblematik zugunsten der Träger und Einsatzstellen
zu beheben. Hierin besteht überfraktionell absolute Ei-
nigkeit. Zu prüfen ist allerdings, ob der vorliegende Ge-
setzentwurf diesem Ziel tatsächlich gerecht wird. Wir er-
halten momentan täglich Briefe aus der Praxis, die
Zweifel wecken, ob der Reglungsgehalt des Gesetzes
hinreichend eindeutig ist, um eine Umsatzsteuerpflicht
abzuwehren.
Überhaupt reibt sich der Leser bei der Gesetzeslek-
türe verblüfft die Augen. Dieses Gesetz soll eindeutig
nur für die bestehenden Dienste FSJ/FÖJ gelten, nicht
für den neuen Freiwilligendienst „weltwärts“. Wenn Sie
aber unter der Rubrik „Kosten des Gesetzes für öffentli-
che Haushalte“ nachschauen, werden Sie erstaunt feststel-
len, dass in Bezug auf den Kindergeldanspruch dieses Ge-
setz nun doch einen Teil der anderen Freiwilligendienste
neu regelt, allerdings wiederum nur „weltwärts“, nicht
die anderen Neugründungen wie das „Freiwillige techni-
sche Jahr“.
Dies zeigt exemplarisch, dass dem Bundestag wieder
einmal ein Gesetzesentwurf in großer Hast zugeleitet
wird, dessen Qualität in vielerlei Hinsicht zu wünschen
übrig lässt. Teilweise ist der Gesetzentwurf dringend
notwendig, wie bei der bereits geschilderten Umsatz-
steuerfrage, teilweise schießt er weit über das Ziel hi-
naus, und allgemein bleibt er weit hinter den Erwartun-
gen zurück.
Der Bundesrat hat dies sehr zutreffend erkannt und in
seinem Beschluss vom 12. Oktober 2007 die Bundesre-
gierung aufgefordert, den vorliegenden Gesetzentwurf
zurückzuziehen und zeitnah einen neuen Gesetzentwurf
vorzulegen, der sich auf die Lösung der Umsatzsteuer-
problematik beschränkt. Viele der Kritikpunkte des Bun-
desrates finden sich auch in den Schreiben der Verbände,
die uns erreichen und zeigen, dass nicht nur mit heißer
Nadel ein schlechtes Gesetz gestrickt wurde, sondern
dass die Kommunikationskompetenz des Ministeriums
unhaltbar ist. Stellvertretend für die vielen Verbände
möchte ich aus einem Schreiben des CVJM-Bundesver-
bandes zitieren:
Wir bedauern, dass unter diesem großen Zeitdruck
gravierende Änderungen im Programm vorgenom-
men werden sollen, ohne dies mit den handelnden
Akteuren aus der Praxis grundlegend diskutieren zu
können. Außerdem lassen sich die vorgesehenen
Veränderungen in keiner Weise mit den Ergebnis-
sen der FSJ-Evaluation aus dem Jahr 2006 begrün-
den.
Ich möchte an dieser Stelle nur noch einmal deutlich
machen, dass das FSJ/FÖJ Jugendfreiwilligendienste
sind und damit ein wunderbares Beispiel für das bürger-
schaftliche Engagement unserer Jugendlichen. Hierzu
passt das obrigkeitsstaatliche Gehabe des Ministeriums
ganz und gar nicht. Es ist schlicht peinlich und unakzep-
tabel, das Veränderungen an einem derartig wichtigen
Gesetz nicht hinreichend mit den Verbänden besprochen
12576 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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werden. Für mich ist dies ein einmaliger Vorgang politi-
scher Borniertheit.
Leider wirft dies ein negatives Schlaglicht auf die Ar-
beit des Ministeriums, welches mir auch aus der Praxis
bestätigt wird. Spricht man mit Verbänden über die FDP-
Auffassung, dass der neue Freiwilligendienst „welt-
wärts“, und natürlich auch die anderen neu geschaffenen
Freiwilligendienste, im Jugendministerium gebündelt
werden sollten, geht ein Stöhnen durch die Szene. Kurz
gesagt, Sie haben den Ruf in puncto FSJ/FÖJ unfähig
und unwillig zu sein. Die Szene ist momentan geradezu
euphorisch, weil das Entwicklungsministerium genau
den gegenteiligen Ruf genießt und Dinge ermöglicht,
wohlgemerkt jenseits des Geldes, wovon die Träger hier
seit Jahren träumen. In Sachen Verbandkommunikation
erkundigen Sie sich bei Ihren Kollegen vom Entwick-
lungsministerium, da können Sie noch was lernen!
Trotz der Defizite im Familienministerium hält die
FDP die Zerfledderung der Jugendfreiwilligendienste für
nicht hinnehmbar. Es ist auch den Bürgern nicht ver-
ständlich zu machen, warum die Unfähigkeit des Fami-
lienministeriums nun dazu führt, dass in anderen Minis-
terien eine spiegelbildliche kostspielige Bürokratie für
den gleichen Sachverhalt aufgebaut werden muss. Viel-
mehr müssen die Defizite im Familienministerium kon-
sequent behoben werden und die Zuständigkeit für sämt-
liche bestehenden und künftigen Freiwilligendienste hier
verankert werden. Schließlich ist das FÖJ auch im Ju-
gend- und nicht im Umweltministerium verankert. Das
große Manko an dem vorliegenden Gesetz ist, dass ge-
nau dieser Aspekt keine Berücksichtigung findet und da-
mit der Zerfledderung der Freiwilligendienste Vorschub
geleistet wird.
Die Liberalen treten konsequent für gemeinsame qua-
litative Mindeststandards bei allen Jugendfreiwilligen-
diensten ein, die in einem gemeinsamen Rahmengesetz
geregelt werden müssen. Selbstverständlich soll dies nur
ein Rahmen zum Schutz der Freiwilligen sein und der je-
weilige Dienst seinen individuellen und spannenden
Charakter weiterhin entfalten können.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Bisher ist es so, dass ein
äußerst geringer Beitrag zur gesetzlichen Rentenversi-
cherung für alle Teilnehmer des FSJ/FÖJ entrichtet wird.
Dieser Beitrag entspricht bei Weitem nicht den Beiträ-
gen zur GRV, die für Wehr- und Zivildienstleistende ent-
richtet werden, um ihnen durch die Ableistung des
Pflichtdienstes keinen Nachteil beim Renteneintritt er-
wachsen zu lassen. Ich finde, dass bei einer Erhöhung
der FSJ-Dauer auf maximal zwei Jahre von politischer
Seite nochmals überlegt werden sollte, ob eine Anhe-
bung der Rentenbeiträge auf das Niveau der Zivildienst-
leistenden nicht opportun wäre. Was jedoch gar nicht
geht – und da schaue ich besonders ärgerlich auf die
Kollegen von der Sozialdemokratie – ist, dass ein Dienst
„weltwärts“ eingerichtet wird und dieser überhaupt
keine Zahlungen zur Rentenversicherung auslöst – und
dies angesichts von 70 Millionen Euro Staatssubventio-
nen. Wie soll ich denn den jungen Menschen noch erläu-
tern, wie wichtig die Eigenvorsorge zur Rente ist, wie
wichtig der Abschluss der sogenannten Riester-Rente ist,
wenn hier mal eben nebenbei beschlossen wird, das es
für Jugendliche über die Dauer von zwei Jahren über-
haupt nicht notwendig sei, irgendwelche Zahlungen in
die GRV zu tätigen? Das kann doch wohl nicht Ihr er-
klärter Ernst sein!
Die Koalition erhöht erst das Renteneintrittsalter von
65 auf 67, also um zwei Jahre, um bei längerer Lebenser-
wartung den Einzahlungszeitraum auszuweiten und hält
es danach nicht für notwendig, dass junge Menschen in
die GRV für genau diesen Zeitraum einzahlen. Ich wage
zu behaupten, dass sogar Sie Ihre eigene Politik nicht
mehr verstehen. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch wie
notwendig ein gemeinsames Rahmengesetz für die Frei-
willigendienste ist. Ich hoffe, dass die Bundesregierung
bereit ist, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Elke Reinke (DIE LINKE): Ziel des Gesetzes zur
Förderung der Jugendfreiwilligendienste soll es sein, die
Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste in Deutsch-
land zu verbessern und diese attraktiver zu machen. Lei-
der erreicht der Entwurf das Ziel nicht ganz, sondern es
blieb auf halber Strecke stehen.
Freiwilligendienste sind eine besondere Form des
bürgerschaftlichen Engagements mit Bildungscharakter.
Sie leisten durch die Förderung „informellen Lernens
durch praktische Tätigkeit“ einen bedeutenden Beitrag
zum lebenslangen Lernen. Auch erlangen die Freiwilli-
gen hier wichtige persönliche, soziale und (inter)kultu-
relle Fähigkeiten.
Alles in allem sollen noch mehr junge Menschen für
diese Form des bürgerschaftlichen Engagements gewon-
nen und begeistert werden. Ganz besonders wichtig ist
es daher, Rücksicht auf die verschiedenen Lebenssitua-
tionen und Lebensentwürfe von Jugendlichen zu neh-
men. Das Motto muss lauten: Jugendliche unterstützen
und schützen!
Dem wird jedoch nicht durchgängig Rechnung getra-
gen. Auf drei besonders kritische Bereiche möchte ich
eingehen: Das Gesetz regelt in § 2 nur die maximale
Höhe des Taschengeldes. Falls nicht zugleich eine Un-
tergrenze gebildet wird, sieht Die Linke die Gefahr der
Ausgrenzung: Bei einem niedrigen Taschengeld können
möglicherweise nur finanziell besser gestellte Jugendli-
che an Freiwilligendiensten teilnehmen. Wir sollten aber
den Zugang für alle interessierten Jugendlichen sicher-
stellen.
Der zweite Punkt, der bei uns Linken Unbehagen her-
vorruft: Ich zitiere aus den Erläuterungen zu § 10: Die
Vorschrift stellt klar, dass das Teilnahmeverhältnis im
freiwilligen sozialen Dienst oder im freiwilligen ökolo-
gischen Dienst kein Arbeitsverhältnis im engeren Sinne
ist, einem solchen hinsichtlich der Schutzrechte aber
gleichgestellt werden soll. Gemeint ist der Arbeitneh-
merschutz, das heißt es geht um die Bestimmungen, die
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vor den Gefahren
des Arbeitslebens schützen sollen.
Dass die gängigen Arbeitsschutzbestimmungen und
das Bundesurlaubsgesetz angewendet werden, sollte
schon eine Selbstverständlichkeit sein. Es wird hier al-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12577
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(B) (D)
lerdings nicht klar definiert, um welches Arbeitsverhält-
nis es sich denn überhaupt handelt. Sind die Jugendli-
chen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder
Arbeitskräfte oder ganz was anderes? Wie sehen ihre ge-
nauen Rechte und Pflichten aus?
Die Passage „kein Arbeitsverhältnis im engeren
Sinne“ betrachten wir daher als mögliches Einfallstor,
um Mitbestimmungsrechte der Jugendlichen und Mitbe-
stimmungsrechte des Betriebsrates, nach dem Betriebs-
verfassungsgesetz, zu beschneiden.
Wenn man sich des Weiteren den arbeitsrechtlichen
Teil des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG,
anschaut, stößt man auf folgendes Problem: Im vorlie-
genden Gesetzentwurf bleibt unklar, ob die Freiwilligen
in den persönlichen Anwendungsbereich des § 6 AGG,
der vor Diskriminierungen im Arbeitsverhältnis schüt-
zen soll, einbezogen werden. Dürfen die Freiwilligen
nun den Schutz des AGG genießen oder nicht?
Abschließend komme ich noch zu einem Punkt, den
die anderen Fraktionen nicht mehr hören wollen, und
dies obwohl – oder gerade weil? – er wichtig ist: Die
Linke warnt davor, die Jugendfreiwilligendienste – wie
jede andere Form des bürgerschaftlichen Engagements –
zum Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze
zu missbrauchen. Prekarisierung und Verdrängung regu-
lärer Beschäftigung dürfen nicht gefördert werden! Die
maximale Dauer des Dienstes zu erhöhen, öffnet dafür
jedenfalls etwas die Tür.
Auch wenn es immer wieder standhaft geleugnet
wird, ist die angesprochene Verdrängung in vielen Berei-
chen, beispielsweise in der Pflege und in der Kinderbe-
treuung, bereits zu beobachten. Verschließen Sie Ihre
Augen nicht länger davor!
Bei vielen lobenswerten Fortschritten sind in dem Ge-
setzentwurf noch einige Makel zu beseitigen. Die Linke
geht davon aus, dass die Anhörung am 12. November
unsere Befürchtungen bestätigen wird.
Eines muss man sich aber noch mal ganz deutlich ins
Gedächtnis rufen: Wie Ihnen bekannt sein dürfte, fordert
Die Linke die Abschaffung der Wehrpflicht. Damit fiele
dann auch der Zivildienst weg. Nur ein attraktiver und
ausreichend finanzierter Jugendfreiwilligendienst kann
die entstehende Lücke schließen. Daran möchten wir mit
Nachdruck arbeiten!
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
Frau von der Leyens Gesetzentwurf deutlich anzumer-
ken, dass ihr ein Gesamtkonzept für die Jugendfreiwilli-
gendienste fehlt. Offenbar ist die Jugendpolitik im Fami-
lienministerium wieder nur stiefmütterlich behandelt
worden. Wir teilen deshalb die nahezu einhellige Kritik
des Bundesrates und der Fachverbände an dem Entwurf.
Zwar ist es grundsätzlich erfreulich, dass die Bundesre-
gierung versucht, die Freiwilligendienste zu stärken,
doch anstatt die Einzelinitiativen verschiedener Ministe-
rien fachlich zu bündeln und auf eine pädagogisch sinn-
volle Grundlage zu stellen, sollen mit dem Gesetz nur
zwei Dienste geregelt werden. Selbst für diese beiden
Dienste ist der Vorschlag unausgegoren.
Die Orientierung der Freiwilligendienste an Lernzie-
len kann mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Finan-
zierungsstrukturen kaum umgesetzt werden. Die in der
Evaluation der Freiwilligendienste angemahnte Ände-
rung dieser Regelungen hat keinen Eingang in den Ge-
setzentwurf gefunden. Für uns ist es ein unerlässliches
politisches Signal, die Dienste eindeutig von der Um-
satzsteuer zu befreien. Ob hierzu die im Gesetzentwurf
vorgeschlagene Lösung der richtige Weg ist, sollten wir
in der vorgesehenen Anhörung genauer diskutieren. Man
merkt dem Gesetzentwurf deutlich an, dass er ursprüng-
lich die Umsatzsteuerbefreiung zum Kernziel hatte, die
inhaltliche Konzeption und Weiterentwicklung der Frei-
willigendienste jedoch vernachlässigt wurden.
Sehr kritisch sehen wir – wie auch der Bundesrat –
die vorgesehene Möglichkeit zur Verkürzung der Dienst-
abschnitte auf drei Monate. Dies widerspricht dem päda-
gogischen Ziel der qualifizierten Begleitung und Lern-
phase zur Persönlichkeitsentwicklung. Niemand hat
etwas gegen kurzzeitiges Engagement oder Praktika; das
hat dann aber einen anderen Charakter als ein Freiwilli-
gendienst.
Die vorgesehenen neuen Möglichkeiten zur Stücke-
lung und Verlängerung der Dienste auf 24 Monate kön-
nen im Extremfall dazu führen, dass ein Freiwilliger
künftig bis zu acht Dreimonatsdienste bei verschiedenen
Trägern leisten kann. Der Verwaltungsmehraufwand
wäre gewaltig.
Noch wichtiger: Das Freiwillige Soziale oder Ökolo-
gische Jahr darf nicht zum unverbindlichen freiwilligen
Quartal werden. Ein FSJ in der Psychiatrie oder einem
Pflegeheim ist kein Schnupperpraktikum, sondern muss
fundierter Lerndienst bleiben. Die zeitliche Ausweitung
auf zwei Jahre wiederum birgt die große Gefahr, neue
Warteschleifen anstelle sinnvoller Freiwilligentätigkeit
für Jugendliche zu schaffen. Ein Beispiel hierfür ist auch
das vom Bildungsministerium vorgeschlagene freiwil-
lige technische Jahr, das zu einem getarnten Langzeit-
praktikum zu werden droht. Damit ruiniert die Bundes-
regierung die erfolgreiche Marke „Freiwilliges Jahr“.
Das Innenministerium plant schon ein Katastrophen-
schutzjahr. All das läuft unkoordiniert nebeneinander
her.
Neue Programme werden verkündet, ohne auf deren
konkrete Abwicklung im Sinne von Freiwilligen und
Trägern zu achten. Es gibt zudem keine abgestimmten
Standards. Und: Die Dienste werden auch finanziell und
sozialrechtlich willkürlich ungleich behandelt. All das
zeigt: Der Entwurf eines Jugendfreiwilligendienstgeset-
zes ist enttäuschend, konzeptionell schwach und kontra-
produktiv. Wir haben deshalb einen eigenen Antrag zur
Zukunft der Freiwilligendienste eingebracht. Darin for-
dern wir die Bundesregierung auf, endlich ein Gesamtkon-
zept zum deutlichen Ausbau der Jugendfreiwilligendienste
vorzulegen, das ihr Jugend- und bildungspolitisches Profil
schärft. Wir wollen die hohe Bereitschaft junger Men-
schen zu ökologischem, sozialem und kulturellem En-
gagement im In- und Ausland aufgreifen. Zusätzlich zu
den 10 000 vorgesehenen entwicklungspolitischen Frei-
12578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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willigenplätzen wollen wir die Zahl aller Plätze von
2005 bis 2015 verdoppeln.
Wesentlich ist für uns dabei auch die Sicherung der
Qualität der Freiwilligendienste. Als selbst gewählte
Lernphase müssen sie noch stärker auf Orientierung,
Bildung und Qualifizierung ausgerichtet werden. Die pä-
dagogische Begleitung muss Jugendliche bei der Gewin-
nung neuer Erfahrungen unterstützen. Gerade bildungs-
ferne Zielgruppen müssen besonders angesprochen und
gewonnen werden. Wir fordern deshalb einen Freiwilli-
gendienstplan, der die finanziellen Mittel für alle Frei-
willigendienste analog zum Kinder- und Jugendplan
bündelt.
Auch im Antrag der FDP wird richtigerweise ein Ge-
samtkonzept gefordert und die mangelnde Koordina-
tionsleistung des eigentlich federführenden Familienmi-
nisteriums beklagt. Wir teilen jedoch ausdrücklich nicht
den FDP-Vorschlag, den entwicklungspolitischen Frei-
willigendienst einzustellen.
Das weltwärts-Programm kann ein gelungener Bei-
trag zum globalen Lernen sein, das wir konstruktiv und
kritisch begleiten werden. Der Ausbau der Freiwilligen-
dienste wird nur dann gut gelingen, wenn wir die päda-
gogische und fachliche Qualität im Rahmen eines Ge-
samtkonzeptes sichern. Der von der Bundesregierung
vorgelegte Schmalspurentwurf reicht hierfür bei weitem
nicht aus.
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
rung des Bundes-Bodenschutzgesetzes
(BBodSchG)
– Beschlussempfehlung und Bericht: Boden-
schutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten –
Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit
wahren
(Tagesordnungspunkt 12, Zusatztagesordnungs-
punkt 6)
Ulrich Petzold (CDU/CSU): Wir beraten heute hier
zu zwei Vorlagen, die nicht nur auf den ersten Blick als
einzige Klammer die Beschäftigung mit dem Boden-
schutz haben. Geht es den Linken um die Novellierung
eines nationalen Gesetzes, so möchte die FDP mit ihrem
Antrag eine stärkere Einflussnahme auf eine europäische
Gesetzgebung erreichen. Grundsätzlich ist auch gerade
vor dem Hintergrund der geradezu inflationären Aus-
schussberatungen zum Thema Boden festzustellen, dass
die Oppositionsparteien scheinbar den Boden als Spiel-
wiese zu ihrer Profilierung entdeckt haben.
Ganz deutlich wird das bei dem Gesetzesantrag der
Linken. Hier wird ein Urteil des Bundesverfassungsge-
richtes abgeschrieben, mit ein bisschen Propaganda-
Prosa versetzt und dem staunenden Publikum als eigene
Leistung verkauft. Dabei war es für diese Partei ein gro-
ßes Glück, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem
Grundsatzurteil zu einem Grundstück in den alten Bun-
desländern geurteilt hat. Stellen sie sich einmal vor, die-
ses beurteilte Grundstück hätte in Bitterfeld-Leuna oder
Ronneburg gelegen. Hier hat diese Partei, die sich mit
ihrem Gesetzentwurf populistisch als Rächer der Ent-
rechteten aufspielt, wahrlich genug Dreck am Stecken.
Die Bundesrepublik war es, die mit Milliardenbeträgen
die Hinterlassenschaft des Aufbaus des Sozialismus
wegräumen musste und immer noch muss. Wer sich in
diesem Jahr einmal die Bundesgartenschau in Gera und
Ronneburg angesehen hat, muss ehrlich bekennen, hier
sind tatsächlich blühende Landschaften aus der – im
wahrsten Sinne des Wortes – strahlenden Hinterlassen-
schaft der linken Einheitspartei entstanden – und nicht
nur blühende Landschaften als Fassade, nein, es wurde
richtig tiefgründig in den Boden hinein saniert.
Es wäre natürlich schön gewesen, wenn wir das viele
Geld nicht nur für die Hinterlassenschaft der SED hätten
ausgeben müssen und so auch bundesweit mehr für den
Bodenschutz hätten machen können. Doch wenn Eigen-
tum allen und jedem und damit keinem richtig gehört,
dann fühlt sich auch keiner für die Schäden am sozialis-
tischen Eigentum verantwortlich. Gerade diese Lehre
müssen Sie von den Linken, aus Ihrem DDR-Experi-
ment doch gelernt haben. Ruinen schaffen ohne Waffen
und eine erschreckende Umweltverschmutzung – das
war doch das Ergebnis Ihres Sozialismusexperimentes,
was man nach über 40-jähriger Experimentierphase si-
cherlich nicht als kleinen Betriebsunfall ansehen kann.
Haben Sie das schon vergessen? Deshalb ist es gut, dass
das bundesdeutsche Grundgesetz in Art. 14 dem Eigen-
tümer Verantwortung zuweist.
Dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
vom Februar 2000 eine uneingeschränkte Haftung des
Grundeigentümers verneint hat, ist meiner Auffassung
nach bereits unserem Handeln im Rahmen der Privatisie-
rung durch die Treuhandanstalt mit zuzurechnen. Bereits
kurz nach der Wende haben wir uns darauf verständigt,
die neuen Eigentümer bis auf den Flächenwert bei der
Altlastenhaftung freizustellen, um auch wirklich eine
wirtschaftliche Entwicklung auch auf Alt-Industrieflä-
chen sicherzustellen und den Drang zur grünen Wiese zu
begrenzen. Diese von uns entwickelte Rechtsauffassung,
die dem neuen Grundeigentümer eine tragbare Verant-
wortung zuweist, ihn aber nicht überlastet, findet sich di-
rekt in dem Urteil aus dem Jahr 2000 wider. Auch wenn
das Bundesverwaltungsgericht in vorhergehenden Urtei-
len eine höhere Belastung, bis hin zur wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit von gutgläubigen Grundeigentümern,
für richtig hielt, hat das Bundesverfassungsgericht auf
der geltenden Rechtsbasis anders geurteilt. Es führt dazu
aus – ich zitiere –:
„Solange der Gesetzgeber, dem es nach Art. 14 I 2.
GG obliegt, Inhalt und Schranken des Eigentums zu
bestimmen, die Grenzen des Eigentums nicht aus-
drücklich regelt, haben die Behörden und Gerichte
durch Auslegung und Anwendung der die Verant-
wortlichkeit und Kostenpflicht begründenden Vor-
schriften sicherzustellen, dass die Belastungen des
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12579
(A) (C)
(B) (D)
Eigentümers das Maß des nach Art. 14 I 2 und II
GG Zulässigen nicht überschreitet.“
Da das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil den
Verkehrswert als Maß des Zulässigen benennt, ist mit
dem Urteil die Rechtslage mit folgenden Grundsätzen
abschließend geklärt: Erstens. Das Bundesverfassungs-
gericht gesteht dem Gesetzgeber zu, eine andere als die
vom Gericht vorgegebene Regelung zur Eigentumsver-
antwortung bei der Altlastensanierung zu treffen. Zwei-
tens. So lange gilt die vom Gericht gefundene Begren-
zung der Eigentümerbelastung bis zum Verkehrswert. Es
besteht also für den Gesetzgeber nur Handlungsbedarf,
wenn er mit dem Urteil nicht einverstanden ist. Da wir,
wie ich bereits erläutert habe, die Voraussetzung für das
Urteil mit geschaffen haben, sehen wir keinen Hand-
lungsbedarf. Wenn die Linke im Jahr 2006 ein Urteil aus
dem Jahr 2000 aufgreift und zu einem Gesetzentwurf
entwickelt, obwohl das Urteil eine befriedende Wirkung
bereits entfaltet hat, muss man wohl entweder von Popu-
lismus oder Klientelpolitik ausgehen.
So ein bisschen Scharlatanerie muss man dann auch
der FDP mit ihrem Antrag vorhalten. Mein Kollege
Müller hat es in seinen Ausführungen im Ausschuss nett
ausgedrückt und hat sich bei der FDP für die Würdigung
der Vorarbeit von CDU/CSU und SPD bedankt. Lassen
Sie es mich etwas deutlicher sagen: Bis auf ein paar
Schönheitsschnörkel ist es ein Plagiat, was uns heute
vorliegt. In vielen Stunden und unendlichen Beratungen
in den verschiedensten Gremien wurde ein Antrag ent-
wickelt, in dem der Gehirnschmalz von vielen steckt,
aber nur zum verschwindenden Teil von der FDP. Ich
möchte heute hier dennoch unsere Beratungen zum An-
lass nehmen, auch noch einmal meinem Kollegen Müller
und seinem Team für die gute und vertrauensvolle Zu-
sammenarbeit zu danken, für die vielen Ideen und Bei-
träge. Leider wurde uns dann kurz vor dem Ziel durch
die Bedenken einiger Landesregierungen ein Strich
durch die Rechnung, sprich: unseren Antrag, gemacht.
Selbstverständlich muss man diese Bedenken ernst neh-
men: Entspricht eine Bodenschutzrahmenrichtlinie dem
Gedanken der Subsidiarität nach Art. 175 II EG-Vertrag?
Der Rechtssausschuss des Europäischen Parlaments hat
in seinen Beratungen vom 3. Mai und 10. September die-
ses Jahres diese Frage klar verneint. Sage und schreibe
586 Änderungsanträge beim federführenden Umwelt-
ausschuss des EU-Parlaments sprechen auch eine deutli-
che Sprache.
Es ist richtig, wir haben in Deutschland einen sehr ho-
hen Standard im vor- und nachsorgenden Bodenschutz.
In wohl kaum einem weiteren europäischen Mitglied-
staat ist die Normensetzung so ausgefeilt und wird in der
Praxis auch gelebt, wenn man sich zum Beispiel den Ni-
tratschutzbericht der Kommission vom März dieses Jah-
res ansieht. Ein Richtlinienentwurf mit einer anderen
Rechtsbasis kann mehr Schaden als Nutzen in Deutsch-
land anrichten. Sehr wohl ist es wahr, dass in leider zu
vielen europäischen Ländern zu sorglos mit der Res-
source Boden umgegangen wird. Aber ist Boden wirk-
lich eine grenzüberschreitende Ressource? Boden ist re-
gional gebunden. Auch Bodenabtragungen wie Wind-
oder Wassererosion haben lokale Ursachen und lokale
Auswirkungen. Ist eine Verletzung der Subsidiarität hier
wirklich notwendig, oder erzielt man vor Ort mit vor Ort
wirksamen Instrumenten nicht doch eine größere Wir-
kung als mit Berichten nach Brüssel?
Mit unseren Beratungen und Gesprächen in Brüssel
und Berlin haben mein Kollege Müller und ich, so bin
ich überzeugt, viele Denkprozesse angestoßen. Die
Punkte, die von uns gemeinsam mit der Bundesregie-
rung und auch mit Bundesländern als wichtig und verän-
derungswürdig herausgearbeitet wurden, haben in den
Diskussionen Wirkung gezeigt. Wenn Sie sich die Zeit
nehmen und einmal den Kompromissvorschlag unserer
europäischen Berichterstatterin und Kollegin Gutiérrez-
Cortines mit dem Ausgangsentwurf vergleichen, so wer-
den Sie sehen: Es sind doch eine ganze Zahl unserer For-
derungen erfüllt.
Ein Schaufensterantrag hier im Bundestag allein
bringt gar nichts. Es muss schon richtige Arbeit in der
Sache dazukommen. Den Antrag haben wir zwar nicht
mehr formell im Parlament gestellt – wie wahr, aber die
Erarbeitung haben wir als Koalition gemeinsam mit der
Bundesregierung geleistet. Sollte es nun doch unter Ver-
letzung des Subsidiaritätsprinzips, wie vom EU-Rechts-
ausschuss festgestellt, zu einer Verabschiedung einer
Bodenschutzrahmenrichtlinie kommen, haben die Frak-
tionen von SPD und CDU/CSU des Deutschen Bundes-
tages ein Gutteil dazu beigetragen, dass die Richtlinie
weitgehend kompatibel zum deutschen Bodenschutz-
recht ist. Wir können daher ganz ruhig dem Plagiat unse-
rer Arbeit eine Abfuhr erteilen.
Detlef Müller (Chemnitz) (SPD):Unser Boden ist die
Lebensgrundlage für Mensch, Flora und Fauna. Die Bö-
den in unseren Regionen sind das Ergebnis jahrtausende-
langen Zusammenwirkens physikalischer, chemischer
und biologischer Faktoren. Das Ausgangsgestein und
Niederschläge, Klima und Witterung, pflanzliche, tieri-
sche und kleinste Lebewesen auf und im Boden bestim-
men letztendlich die Zusammensetzung und Entwick-
lung des Bodens.
Der Schutz der Böden wurde jahrzehntelang indirekt
über Bestimmungen zur Luftreinhaltung, zur Abfallbe-
seitigung und zur Anwendung von Dünge- und Pflan-
zenschutzmitteln in der Landwirtschaft geregelt. Zum
besseren Schutz der Böden verabschiedete die Bundesre-
gierung 1985 erstmals eine Bodenschutzkonzeption und
rückte den Bodenschutz damit so richtig ins Bewusstsein
der Umweltpolitik. Anfang 1998 verabschiedete der
Bundestag dann das Bundes-Bodenschutzgesetz. Mitte
1999 erließ die Bundesregierung schließlich folgerichtig
die dazugehörige Bodenschutz- und Altlastenverord-
nung, um eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für
den Schutz des Bodens zu schaffen. Mit diesen gesetzli-
chen Regelungen hat die Bundesregierung deutschland-
weit einheitliche Vorgaben für den Bereich der Altlas-
tenbewertung und -sanierung geschaffen. Eigentümer
und Investoren erhielten dadurch Rechts- und Investi-
tionssicherheit.
Heute, etwa neun Jahre später, kann man ein erstes
Fazit ziehen. Das deutsche Bundes-Bodenschutzgesetz
12580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
hat sich in den letzten Jahren nicht nur bewährt,
Deutschland nimmt mit diesem Gesetz sogar eine Vor-
reiterrolle in Europa ein. Durch die zusätzlich ange-
strebte EU-Bodenschutzrichtlinie, die wir als SPD-Frak-
tion fordern, wird in Zukunft ein grenzüberschreitender
Bodenschutz durch einen EU-weiten Rechtsrahmen an-
gestrebt, von dem vor allem die süd- und osteuropäi-
schen Staaten der EU profitieren werden. Denn diese
Staaten leiden oftmals unter größeren, teilweise noch
nicht entdeckten Altlasten. In Deutschland sind mittler-
weile mehr als 270 000 Flächen als altlastverdächtig er-
fasst. Mit der fortschreitenden technologischen Entwick-
lung oder infolge von Baumaßnahmen werden
gelegentlich auch in Deutschland immer noch Altlasten
entdeckt. Bei den sogenannten Altlasten handelt es sich
um Altablagerungen und Altstandorte, die zu schädli-
chen Bodenveränderungen oder zu anderen Gefahren für
den Einzelnen oder die Allgemeinheit führen.
Die Altlasten sind meistens Hinterlassenschaften der
industriellen Entwicklung oder durch eine militärische
Nutzung der Flächen und durch Rüstungsgüterproduk-
tion entstanden. Die Kontaminierung der Böden fand zu-
meist während des Zweiten Weltkrieges oder zu Zeiten
der DDR-Planwirtschaft statt. Da die Entstehung der
Altlasten meistens lange Zeit zurückliegt, können die
Verursacher bzw. deren Gesamtrechtsnachfolger oft-
mals nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden.
In unserem Bundes-Bodenschutzgesetz ist geregelt,
dass der Grundstückseigentümer verpflichtet ist, Boden
und Altlasten so zu entsorgen, dass danach dauerhaft
keine Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche
Belästigungen für den Einzelnen oder die Allgemeinheit
entstehen, unabhängig davon, ob der Eigentümer vor
dem Erwerb des Grundstücks Kenntnis von den Altlas-
ten hatte oder nicht. Eine Beschränkung, bis zu welcher
Höhe sich der Eigentümer finanziell an der Sanierung
beteiligen muss, gibt es derzeit nicht. Nicht selten
kommt es aber vor, dass derartige Grundstücke ohne
jede Kenntnis der verborgenen Altlasten gutgläubig von
neuen Eigentümern erworben wurden, die dann bei der
Entdeckung der Altlast vor gewaltigen Kosten durch
eine ordnungsgemäße Sanierung stehen.
So kann es im Extremfall passieren, dass Grund-
stückseigentümern ohne eigenes Verschulden die Grund-
lage ihrer Existenz zugunsten des Schutzes der Allge-
meinheit und der natürlichen Lebensgrundlagen entzo-
gen werden kann. Auf dieses Problem hat ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 2000 hinge-
wiesen. In der Urteilsbegründung hat das Bundesverfas-
sungsgericht eine Verhältnismäßigkeit angemahnt. Es
soll, so dass BVG, „nicht zu einer übermäßigen Belas-
tung für den Eigentümer führen und den Eigentümer im
vermögensrechtlichen Bereich unzumutbar treffen“.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke bezieht
sich auf dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
Der Gesetzentwurf, über den wir hier beraten, will des-
halb eine Änderung des Dritten Gesetzes des Bundes-
Bodenschutzgesetzes. Er beinhaltet aus umweltpoliti-
scher Sicht durchaus positive Aspekte, hat aber keinerlei
Chancen auf eine Realisierbarkeit und wird deshalb von
der SPD-Fraktion abgelehnt.
Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Gesetzentwurf
das Bundes-Bodenschutzgesetz dahin gehend ändern,
dass bei gutgläubigem Erwerb die Übernahme der Kos-
ten des Grundstückseigentümers oder Inhabers für die
Altlastensanierung auf den Verkehrswert des Grund-
stücks nach der Sanierung begrenzt wird. Würde das Re-
alität und wäre zum Beispiel das belastete Grundstück
der wesentliche Teil des Vermögens des Eigentümers, so
würde er von der Kostentragungspflicht befreit werden.
Mit dieser Forderung geht der Gesetzentwurf der Frak-
tion Die Linke allerdings weit über die vom Bundesver-
fassungsgericht angemahnte Verhältnismäßigkeit hinaus.
Es ist festzuhalten, dass der Grundansatz des Gesetz-
entwurfs aus umweltpolitischer Sicht positiv ist. Trotz-
dem wird die SPD-Fraktion ihm nicht zustimmen, weil
er überzogen und in der Realität nicht umzusetzen ist.
Die Hauptfrage, wer die Rechnung bezahlt, wenn der
Grundstückseigentümer die Kosten nicht übernehmen
muss, lassen sie unbeantwortet. In Ihrem Gesetzentwurf
findet sich nicht ein Hinweis darauf, woher Sie das Geld
nehmen wollen. Das ist gelebte Praxis der Linkspartei.
Würde der Gesetzentwurf umgesetzt, würde das be-
deuten, dass die Bundesländer teilweise oder ganz für
die Sanierung der Grundstücke aufkommen müssten. Sie
können dies natürlich fordern, aber Sie wissen genauso
gut wie ich, dass die Länder keinem Gesetzentwurf zu-
stimmen werden, durch den sie finanziell zusätzlich be-
lastet werden. Das ungelöste Problem der Finanzierung
der Altlastensanierung wurde bereits von allen anderen
Fraktionen bei der Beratung im Umweltausschuss ange-
sprochen. Darüber hinaus wissen Sie um die Rechtslage
nach der Verabschiedung der Föderalismusreform I. Sie
macht es dem Bund fast unmöglich, Zuweisungen an die
Bundesländer zur Finanzierung unzumutbarer Altlasten-
sanierungskosten bereitzustellen. An dieser Stelle sei
mir als Umweltpolitiker gestattet, darauf hinzuweisen,
dass für mich auch fast eineinhalb Jahre nach Verab-
schiedung der Föderalismusreform I die Neuregelung
der Zuständigkeiten im Umweltbereich ärgerlich und un-
verständlich bleibt.
So gut das Ansinnen Ihres Gesetzentwurfes auch sein
mag, in ihm steht nicht, in welcher Form Sie den Län-
dern einen finanziellen Ausgleich geben wollen. Des-
halb ist die Zustimmung der Länder illusorisch. Leider
scheint mir dieser Gesetzentwurf ein weiterer Beleg zu
sein für Ihre Art, Politik zu machen: populäre, oftmals
populistische Forderungen aufstellen, die in der Realität
nicht umsetzbar sind. Dies zieht sich leider wie ein roter
Faden durch die parlamentarische Arbeit Ihrer Fraktion
hier im Deutschen Bundestag. Außerdem enthält Ihr Ge-
setzentwurf in einigen Punkten undeutliche Begrifflich-
keiten, vor allem im Hinblick auf einen gutgläubigen
Grundstückserwerb. Hier ist Ihr Gesetzentwurf schwam-
mig und könnte Spekulationen zur Altlastensanierung
auf Kosten der öffentlichen Hand Tür und Tor öffnen.
Ich fasse zusammen: Wir erkennen an, dass die Frak-
tion Die Linke mit ihrem Gesetzentwurf Verbesserungen
für Eigentümer erreichen möchte, die gutgläubig mit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12581
(A) (C)
(B) (D)
Altlasten kontaminierte Grundstücke erworben haben.
Auch aus umweltpolitischer Sicht ist Ihr Gesetzentwurf
positiv zu bewerten. Trotzdem ist er vorschnell, in eini-
gen Punkten unklar, und er setzt keine neuen Impulse.
Der Knackpunkt Ihres Gesetzentwurfs ist, dass in ihm
nicht einmal der Versuch unternommen wird, ein Kon-
zept zur Gegenfinanzierung zu skizzieren. Er würde so
im Bundesrat keine Mehrheit bekommen. Er wäre zum
Scheitern verurteilt. Unter diesen Umständen wird die
SPD-Fraktion Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Wir schla-
gen stattdessen vor, die laufende Debatte über die EU-
Bodenschutzrichtlinie konstruktiv zu begleiten und die
endgültige Ausgestaltung der Richtlinie abzuwarten,
weil daraus vielleicht Anstöße zu erwarten sind oder
EU-Vorgaben umgesetzt werden müssen.
Angelika Brunkhorst (FDP): Wer hätte gedacht,
dass der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zum
Bundes-Bodenschutzgesetz auch seine guten Seiten hat?
In Anbetracht der aktuellen Diskussion zum Boden-
schutz auf europäischer Ebene – den Beratungen in den
Fachausschüssen und der geplanten Abstimmung im Eu-
ropaparlament noch im November – ist die heutige De-
batte im Bundestag ein Glücksfall. Gemeinsam mit un-
serem Antrag zur europäischen Rahmenrichtlinie erhält
der Bodenschutz hier noch einmal die notwendige Auf-
merksamkeit.
In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, dass
der Vorschlag der Liberalen, die Bodenschutzrahmen-
richtlinie aktiv mitzugestalten, der einzig richtige Weg
war. Wir haben uns da ganz klar – und frühzeitig – posi-
tioniert, was Ihnen, meine Damen und Herren von den
Regierungsfraktionen, mal wieder nicht gelungen ist. Ich
weiß, dass Sie uns jetzt vorhalten werden, Ihren eigenen
Text nur kopiert zu haben. Schön! Das ändert aber über-
haupt nichts an der Tatsache, dass wir als FDP in der
Lage waren, unsere politische Meinung genau zu defi-
nieren und zu vertreten. Eine klare politische Linie ver-
missen wir bei Ihnen hingegen seit langem.
Die Bundesregierung ist in Abstimmung mit der
Mehrheit der Bundesländer ganz in unserem Sinne dazu
übergegangen, den Beratungsprozess innerhalb der EU
konstruktiv zu begleiten. Portugal als Inhaber der Rats-
präsidentschaft gestaltet das Thema aktiv mit – sicher
auch aufgrund der Unterstützung Deutschlands. Die
„Fesseln“ der eigenen Ratspräsidentschaft haben wir
diesbezüglich ja jetzt abgelegt. Nur der Bundestag
schaut verlegen zu, wie in Europa wichtige Entscheidun-
gen im Umweltschutz getroffen werden. Es ist eindeutig:
Die FDP ist auch in dieser Frage regierungsfähig,
Schwarz-Rot im Bundestag ist es nicht.
Ich wiederhole meinen Appell aus dem März dieses
Jahres an dieser Stelle gerne noch einmal und fordere Sie
auf, Verantwortung zu übernehmen und sich den Aufga-
ben des Bodenschutzes zu stellen und der Bundesregie-
rung bei ihrer Arbeit ein klares Mandat zu erteilen. Neh-
men Sie Ihre Verpflichtung gegenüber den betroffenen
Unternehmen in Deutschland wahr, und folgen Sie unse-
rem Antrag.
Wir haben in Deutschland einen verlässlichen Stan-
dard beim Schutz der Böden etabliert. Es gilt, einen ver-
nünftigen Rahmen der Subsidiarität zu erhalten und
Standards und Berichtspflichten nicht mit finanziell un-
verhältnismäßigen Lasten zu belegen.
Regelungen zum Bodenschutz finden sich bereits in
verschiedenen Rechtsakten der EU. Des Weiteren sind
Vereinbarungen wie Cross Compliance und die Regeln
der „guten fachlichen Praxis“ ein Garant für den sorgsa-
men Umgang mit der Ressource Boden. Es ist notwen-
dig, für eindeutige Definitionen zu sorgen und Mehr-
fachregelungen zu vermeiden. Ebenso muss der zu
erwartende bürokratische Aufwand auf ein Minimum
beschränkt bleiben.
Abschließend komme ich noch einmal zurück auf den
Anfang meiner Rede, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke. Hier möchte ich mein erfreutes Staunen da-
rüber zum Ausdruck bringen, dass ich den Kampf Ihrer
Fraktion zur Stärkung der Eigentumsrechte sehr wohl be-
grüße. Das alleine reicht aber nicht, um Ihrem Gesetzent-
wurf die Zustimmung zu erteilen. Ihre Forderungen auf
Übernahme der Kosten für etwaige Altlastensanierungen
sind, wie man so schön sagt, nicht gegenfinanziert. Sie
geben in Ihrem Gesetzentwurf keinerlei Hinweise darauf,
wer denn letztendlich die Kosten übernehmen soll, wenn
nicht der Grundstückseigentümer oder der Inhaber der
tatsächlichen Gewalt. Auch wir wollen die Grundstücks-
käufer nicht aus ihrer Verantwortung der sorgfältigen
Prüfung entlassen. Mit Rechten sind ja auch immer
Pflichten verbunden.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Anlass unse-
res Antrages – das will ich vorwegschicken – war der
Kontakt zu einer Bürgerinitiative aus dem bayerischen
Schonungen. Sie machte uns durch ihren Fall auf ein
Problem aufmerksam, welches unserer Meinung nach
bundesweit einer Lösung bedarf.
In Deutschland werden gelegentlich Altlasten ent-
deckt, deren Entstehung lange Zeit zurückliegt und wel-
che von Unternehmen verursacht wurden, die längst
nicht mehr existieren.
Den jetzigen Eigentümern solcher Grundstücke sind
solche Altlasten nicht selten bis zur Entdeckung gänzlich
unbekannt. Sie haben das Grundstück gutgläubig erwor-
ben, sind aber nach der geltenden Fassung des Bundes-
Bodenschutzgesetzes (BBodSchG) als sogenannte Zu-
standsstörer dennoch verpflichtet, den Boden sanieren
zu lassen und die Kosten dafür vollständig zu tragen.
So sollen die Bürger in Schonungen für die Sanierung
von stark arsenverseuchtem Boden unter ihren Grund-
stücken aufkommen. Die Vergiftung des Bodens wurde
zwischen 1814 bis 1930 durch die Fabrik des damaligen
Farbenhersteller Sattler verursacht, der in dieser Zeit un-
ter anderem das berühmte – aber wie wir heute wissen,
leider stark arsenhaltige – Schweinfurter Blau produ-
zierte.
In solchen Fällen kann den Eigentümern im Einzelfall
ohne eigenes Verschulden die Grundlage ihrer Existenz
entzogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in
12582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
einem ähnlichen Fall deshalb entschieden, dass eine
volle Haftung nicht haltbar sei. Sie müsse wenigstens
auf den Verkehrswert des Grundstückes begrenzt wer-
den.
In Bayern wurde nun von der Staatsregierung für die
Schonunger eine Regelung versprochen, nachdem die
Zustandsstörerhaftung auf ein Drittel des Verkehrswertes
beschränkt wird. Dies folgt dem Urteil, geht sogar noch
ein wenig darüber hinaus. Es ist aber eine mehr oder we-
niger gutwillige Einzelfallentscheidung, die vielleicht
auch durch unseren Antrag und die lokale Presse darüber
beeinflusst wurde.
Wie dem auch sei, wir begrüßen, dass Bayern hier den
betroffenen Bürgerinnen und Bürgern wenigstens die
größten Ängste genommen hat. Gleichzeitig sind wir
aber der Meinung, dass es hier einer gesetzlichen Lö-
sung bedarf. Es ist doch nicht einzusehen, warum ein Ar-
beiter oder kleiner Angestellter, sofern er beim Erwerb
seines Grundstücks beim besten Willen nichts von einer
Altlast wissen konnte, zur Kasse gebeten wird, wenn ir-
gendwann eine Bodenverseuchung entdeckt wird.
Natürlich ist uns klar, dass es auch eine Sozialpflich-
tigkeit des Eigentums gibt – wir fordern diese an anderer
Stelle ja oft genug ein. Darum meinen wir, dass Grund-
stückseigentümer, bei denen das Grundstück nicht we-
sentlicher Teil des persönlichen Vermögens ist, sich an-
gemessen an den Sanierungskosten beteiligen können.
Viele von ihnen verdienen ja auch am Grundstücks-
eigentum, und zwar nicht zu knapp.
Das Bundes-Bodenschutzgesetz soll nach unserer
Auffassung nun dahin gehend geändert werden, dass bei
gutgläubigem Erwerb die Kostentragungspflicht für die
Altlastensanierung grundsätzlich auf den Verkehrswert
des Grundstücks nach der Sanierung begrenzt wird. Dies
ist die Höhe, die auch das Bundesverfassungsgericht im
Auge hatte. Dass im Einzelfall die Länder über diese Re-
gelung zugunsten der Eigentümer hinausgehen könnten,
versteht sich von selbst. Wir haben es hier beim Ver-
kehrswert belassen, denn wir wollten keinen generellen
Freifahrtschein für große Unternehmen zulasten der
Landeshaushalte. Schließlich müssen die Länder ja die
Differenzkosten bezahlen.
Ein anderes Herangehen schlagen wir für die kleinen
Grundstückseigentümer vor: Ist das Grundstück der we-
sentliche Teil des persönlichen Vermögens, soll die Kos-
tentragungspflicht vollständig entfallen. Gutgläubige
„Häuslebauer“ und kleine Gewerbebetriebe müssten also
keine Sanierungskosten übernehmen.
Hiermit geht unser Gesetzesantrag über die Regelung
der bayerischen Staatsregierung hinaus. Denn nach der
muss ja in Schonungen wohl jeder zahlen. Auch die Fa-
milien, die sich mühsam jeden Groschen abgespart ha-
ben, um ein kleines Stück Land mit einem Häuschen zu
bebauen. Das empfinden wir als ungerecht.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2000 festgestellt,
dass es nicht verhältnismäßig ist, die aktuellen Eigentü-
mer von Grundstücken auch dann mit ihrem ganzen Ver-
mögen für Altlasten und Sanierungskosten haften zu las-
sen, wenn sie diese nicht selbst verursacht haben. Der
Gesetzentwurf der Linken weist richtigerweise darauf
hin, dass die Regierung hier eine Neuregelung bisher
schuldig geblieben ist. Daher müssen derzeit die Behör-
den in jedem Einzelfall festlegen, wie weit die Eigentü-
merhaftung reicht.
Grundsätzlich besteht das Problem, dass Investoren
oft vom Erwerb gebrauchter Grundstücke und einem
Flächenrecycling Abstand nehmen. Stattdessen erschlie-
ßen und überbauen sie regelmäßig frisches Land. Dieser
Verzicht auf Flächenrecycling führt nicht nur zu einem
hohen Maß an hässlichen Gewerbebrachen, sondern
auch zu einem zusätzlichen Flächenverbrauch. Die
Frage ist berechtigt, ob die problematisierte Haftung für
Altlasten durch gutgläubige Flächenerwerber zu diesem
Problem etwas beiträgt.
Berechtigt ist auch die Frage, ob eine Begrenzung der
Eigentümerhaftung in der von der Fraktion Die Linke
beantragten Weise einen Beitrag zu einem verstärkten
Flächenrecycling leisten könnte. Meine Antwort auf
diese Frage lautet: Nein, der Gesetzentwurf trägt kaum
zur Lösung des Problems der Gewerbebrachen bei und
wird kaum zu mehr Flächenrecycling führen. Schließlich
hat auch eine Haftung bis zum Verkehrswert immer noch
eine ausreichend große abschreckende Wirkung, ein
möglicherweise belastetes Grundstück zu erwerben.
Außerdem muss der sogenannte gutgläubige Erwer-
ber erst nachweisen, dass es sich tatsächlich um einen
gutgläubigen Erwerb gehandelt hat. Hier bleiben zu
große Rechtsunsicherheiten und Risiken bestehen. Auch
zukünftig hätten daher alle Neuerwerber ein Interesse
daran, vor dem Erwerb einer Fläche Altlasten auszu-
schließen. Dies geht immer noch am einfachsten, si-
chersten und billigsten, indem sie frisches Land erschlie-
ßen.
Hinzu kommt: Wenn die Sanierung belasteter Flächen
zukünftig in stärkerem Maße von der öffentlichen Hand
finanziert werden soll und die Länder diesen Schwarzen
Peter wie zu erwarten an die Kommunen weiterreichen,
dann werden die bereits jetzt finanziell überlasteten
Kommunen die tatsächliche Sanierungsnotwendigkeit
zur Gefahrenabwehr zukünftig so weit irgend möglich
regelmäßig verneinen.
Aus finanzpolitischer Sicht ist schlicht und einfach
festzustellen, dass sich dieser Gesetzentwurf mit der
Frage, wo denn das Geld herkommen soll, überhaupt gar
nicht erst auseinandersetzt. Denn er verschafft den Län-
dern zwar zusätzliche Kosten, aber keinerlei zusätzliche
Einnahmen, mit denen sie diese Kosten finanzieren
könnten.
Kurz gesagt: Die vorgelegte Lösung wird ihrem An-
spruch leider nicht gerecht und schießt zulasten des
Steuerzahlers über das Ziel hinaus. Deshalb lehnen wir
den Gesetzentwurf der Linken ab. Was wir brauchen in
Deutschland, ist eine Hinwendung zu einem neuen Sys-
tem der Flächenbewertung. Wenn Flächenversiegelung
teurer wird als bisher, wenn beispielsweise Grundsteuer
im Außenbereich von Kommunen höher wird als im In-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12583
(A) (C)
(B) (D)
nenbereich, werden auch Anreize geschaffen, Altlastflä-
chen zu recyceln.
Die zentrale Frage ist deshalb, wie wir es schaffen
können, genügend Gelder zur Sanierung von Altlastflä-
chen zu mobilisieren.
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafzu-
messung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe
(… StrÄndG) (Tagesordnungspunkt 13)
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU): Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, den
die Bundesregierung eingebracht hat. Der Entwurf be-
zweckt die Implementierung einer Kronzeugenregelung
im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches. Dabei betre-
ten wir kein rechtspolitisches Neuland; denn bis zum
Jahre 1999 hatten wir in unserer Rechtsordnung eine
Kronzeugenregelung, anfangs nur für terroristische
Straftaten – § 129 a StGB – und damit zusammenhän-
gende Begleitdelikte, später auch für das Organisations-
delikt der Bildung krimineller Vereinigungen, § 129
StGB.
Die Kronzeugenregelung wurde zwei Mal befristet
verlängert, weil sich mit ihr auf zwei Feldern Erfolge er-
zielen ließen. Da waren zum einen die ehemaligen RAF-
Terroristen, die in der ehemaligen DDR Unterschlupf
gefunden hatten, zum anderen erleichterte sie die Auf-
klärung von Anschlägen ausländischer Terrororganisa-
tionen. Weil Ende 1999 eine Befristung dieser Regelung
auslief und die damals rot-grüne Bundesregierung sich
weder in der 14. noch in der 15. Legislaturperiode für
eine von der CDU/CSU vorgeschlagene Verlängerung
bzw. Wiedereinführung erwärmen konnte, ging dieses
für Ermittlungsbehörden zur Tataufklärung im Bereich
der terroristischen und organisierten Kriminalität not-
wendige Rechtsinstitut verloren. Nur in einigen wenigen
Teilbereichen – § 129 Abs. 6, auch in Verbindung mit
§ 129 a Abs. 7 StGB sowie in § 261 Abs. 10 StGB und
im Betäubungsmittelrecht, § 31 BtMG – blieb die Kron-
zeugenregelung bis heute erhalten. Gerade aus dem Be-
reich des Betäubungsmittelrechts können wir daher Er-
fahrungen mit der praktischen Anwendung einer
Kronzeugenregelung ableiten.
Die Kronzeugenregelung hat eine Parlamentsge-
schichte, die von kritischen Stimmen, insbesondere aus
der Wissenschaft und aus Kreisen der Strafverteidiger,
aber auch mit Zustimmung aus den Reihen der Polizei-
beamten, Strafrichter und Staatsanwälte begleitet wurde.
Kritik an der und die Forderung nach einer Kronzeu-
genregelung sind im vorliegenden Gesetzentwurf maß-
voll berücksichtigt. Zu Recht wiesen Vertreter der Er-
mittlungsbehörden darauf hin, dass man im Bereich der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus immer
wieder vor erheblichen Beweisproblemen steht, insbe-
sondere je höher der Beschuldigte in der Hierarchie eines
kriminellen Netzwerkes steht, das durch Abschottung und
der Drohung mit Repressionen zusammengehalten wird.
Gerade in denjenigen Kriminalitätsfeldern also, wo Er-
mittlungsbehörden mit Ermittlungsansätzen leicht schei-
tern, ist die Kronzeugenregelung ein probates Instru-
ment, um Straftaten aufzuklären und künftige Straftaten
zu verhindern. Es lag daher nahe, die Erkenntnisquellen,
die ein kooperationsbereiter Täter im Rahmen der Kron-
zeugenregelung eröffnet, in größerem Umfang als nach
altem Recht zu nutzen. Der Regierungsentwurf hat sich
mit dem neu einzufügenden § 46 b des Strafgesetzbu-
ches für die Schaffung einer allgemeinen Strafzumes-
sungsvorschrift entschieden, die dem Kronzeugen eine
Strafmilderung oder einen Straferlass nicht mehr nur bei
wenigen bereichspezifischen Straftaten eröffnet. Die
Rechtswohltat einer Strafmilderung oder eines Straferlas-
ses soll sich ein Beschuldigter bei freiwilligem Offenba-
ren seines Wissens bei Straftaten nach dem zukünftigen
Straftatenkatalog des § 100 a Abs. 2 der Strafprozessord-
nung verdienen können. Die Kronzeugenregelung gilt
damit für den gesamten Bereich der schweren Kriminali-
tät. Dies ist angemessen. Von der Bedeutung korrespon-
diert die im Gesetzentwurf vorgesehene Kronzeugenre-
gelung mit der im Betäubungsmittelgesetz in § 31 BtMG
bereits bestehenden.
Erfahrungen mit § 31 BtMG haben gezeigt, dass sich
mit einer Kronzeugenregelung gute Ermittlungsansätze
und letztendlich die Verurteilung von schwerkriminellen
Drogendealern und die Zerschlagung von Drogenkartel-
len bewerkstelligen lassen. Allerdings hat die Erfahrung
mit dieser Vorschrift auch Gefahren aufgezeigt.
Wer unter dem Druck einer eigenen Verurteilung steht
und auf den eine langjährige Freiheitsstrafe wartet, neigt
leicht dazu, Dritte zu Unrecht zu belasten und eine Straf-
tat Dritter vorzutäuschen. Dem steuert der Gesetzent-
wurf gezielt entgegen. Durch Änderungen der §§ 145 d
und 164 StGB hat künftig ein Kronzeuge, der eine Straf-
tat Dritter vortäuscht oder einen Dritten falsch verdäch-
tigt, mit einer deutlich höheren Bestrafung als bisher zu
rechnen. Dies soll ihn von falschen Anschuldigungen
abhalten. Um den Ermittlungsbehörden Gelegenheit zu
geben, die Wahrheit der Angaben des Kronzeugen recht-
zeitig vor dessen eigener Hauptverhandlung zu prüfen,
kann er sich Strafmilderung oder Straffreiheit nur bis zur
Eröffnung des Hauptverfahrens in eigener Sache – § 207
StPO – verdienen. Der Missbrauch einer Kronzeugenre-
gelung lohnt sich demnach für den Beschuldigten nicht
mehr.
Sie sehen also, dass im Regierungsentwurf das Recht
der Kronzeugenregelung grundlegend überarbeitet und
neu gestaltet wurde. Das Rechtsinstitut ist jetzt als allge-
meine Regelung im Sanktionenrecht des allgemeinen
Teils des Strafgesetzbuches angesiedelt. Vorteile der Re-
gelung sind sinnvoll genutzt und dem Missbrauch sind
die gebotenen Schranken gesetzt. Es handelt sich somit
um einen gelungenen Gesetzentwurf, der den Bedürfnis-
sen nach Aufklärung besonders schwerer Straftaten in
maßvoller Weise gerecht wird.
12584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Sicherheitspolitische Bedenkenträger werden trotz-
dem wieder die Gretchenfrage stellen: Brauchen wir eine
Kronzeugenregelung überhaupt? Organisierte Kriminali-
tät und Terrorismus agieren in abgeschotteten Struktu-
ren. Dort einzudringen gelingt mit dem den Ermittlungs-
behörden zur Verfügung stehenden Instrumentarium oft
nicht. Warum also sollen wir die Chance, mit aussage-
willigen Beteiligten Informationen insbesondere über
geplante schwere Straftaten zu erhalten, nicht nutzen?
Da solche selbst in kriminelle Handlungen Verstrickte
kaum durch altruistische Motive zu Angaben bewegt
werden können, muss die Justiz die Möglichkeit haben,
einen Anreiz zur Kooperation zu bieten und sie mit dem
Angebot einer Strafmilderung zu honorieren.
Bedenken wurden nämlich schon 1982 gegen die mit
dem Betäubungsmittelgesetz in dessen § 31 erlassene
Kronzeugenregelung angemeldet. So wird beispiels-
weise vorgebracht, die Glaubwürdigkeit von Kronzeu-
gen sei generell fragwürdig. Tatsache ist, dass über § 31
BtMG zahllose international agierende Drogenbanden
ausgehoben werden konnten und Kronzeugenaussagen
im Dominoeffekt weitere Geständnisse auslösten.
Dieses Gesetz macht Deutschland ein Stück sicherer.
Es wird deshalb von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
befürwortet.
Joachim Stünker (SPD): Jede Implementierung ei-
ner Kronzeugenregelung in die Strafprozessordnung be-
darf der kritischen Bewertung, wie immer diese Kron-
zeugenregelung auch ausgestaltet ist, auch dann, wenn
sie wie im vorliegendem Fall als Strafzumessungsrege-
lung im allgemeinen Teil gemäß § 46b StPO geregelt
werden soll.
Greift doch diese Regelung schwerwiegend in das Le-
galitäts- und Öffentlichkeitsprinzip des Strafverfahrens
ein und berührt sie zugleich den Gleichheits- und
Schuldgrundsatz im Strafzumessungsrecht.
Andererseits gibt es Deliktsbereiche, für die zu einer
wirksamen Kriminalitätsbekämpfung „Anreize für po-
tentiell kooperationsbereite Straftäter sinnvoll erschei-
nen lassen“. Hierzu gehören die Bekämpfung des Terro-
rismus in jeglicher Erscheinungsform ebenso wie die
Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Hierin ein-
geschlossen ist insbesondere die schwere Wirtschaftskri-
minalität, deren Strukturen durch ein hohes Maß an
Konspiration geprägt sind. Hier stoßen die Strafverfol-
gungsbehörden in besonderem Maße auf Probleme im
Rahmen der Beweisermittlung und Beweisführung. Mit
von außen wirkenden Ermittlungsmaßnahmen gelingt es
vielfach nicht, in die abgeschotteten Strukturen einzu-
dringen und die zur Aufklärung und Verhinderung
schwerer Straftaten erforderlichen Erkenntnisse zu ge-
winnen. Die Ermittler sind daher zunehmend auf die
Hinweise von selbst ins kriminelle Milieu verstrickten
Personen angewiesen, die über wertvolle Informationen
zu Strukturen und Hintermännern verfügen und bereit
sind, diese zu offenbaren.
Diesem Interessenausgleich – Legalitätsprinzip ver-
sus wirksame Kriminalitätsbekämpfung – wird der vor-
liegende Entwurf zu meiner Überzeugung gerecht. Wir
schaffen eine ergänzende Strafzumessungsregelung da-
für, dass schwerwiegende Straftaten nach § 100 a Abs. 2
der StPO entweder aufgedeckt oder verhindert werden
können. Straffreiheit kann sich der Straftäter nur bei ver-
wirkter geringfügiger Freiheitsstrafe verdienen. Ansons-
ten ist nur eine Strafmilderung möglich in einem Rah-
men, dass der Grundsatz der schuldangemessenen Strafe
im Einzelfall nicht verletzt wird.
Für das Verfahren wichtig ist: Der Täter muss sein
Wissen bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens offenbart
haben. Danach gelten die allgemein gültigen Strafzu-
messungsregeln.
Lassen Sie uns die Einzelheiten der vorgeschlagenen
Regelung in einer sorgfältigen Beratung des Rechtsaus-
schusses unter Heranziehung externer Sachverständiger
erörtern.
Die Aufklärungs- und Präventionshilfe bedeutet aber
immer auch eine Absprache zwischen dem Täter und
den Strafverfolgungsbehörden.
Damit befinden wir uns in dem weiten Bereich der
Absprachen im Strafprozess. Ich möchte daher an dieser
Stelle mit Nachdruck darauf hinweisen, dass zu meiner
Überzeugung die Verabschiedung eines Gesetzes zur Im-
plementierung einer Kronzeugenregelung nicht möglich
sein wird, wenn wir nicht zugleich auch die Absprachen
im Strafprozess generell in der Strafprozessordnung in
eine verfassungskonforme, gesetzliche Grundlage brin-
gen.
Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, den erar-
beiteten Gesetzentwurf zu Absprachen im Strafprozess
endlich mit einem Regierungsentwurf in das parlamenta-
rische Verfahren einzubringen.
Jörg van Essen (FDP): Die Wiedereinführung der
Kronzeugenregelung gehört zu den Themen, die uns in
jeder Wahlperiode erneut beschäftigen. Nachdem die
alte Kronzeugenregelung 1999 ausgelaufen ist und nicht
verlängert wurde, hat sich der Bundestag in den Folge-
jahren immer wieder mit unterschiedlichen Modellen be-
fasst, wie eine neue Kronzeugenregelung aussehen
könnte. Eine parlamentarische Mehrheit für eine Neu-
aufnahme dieses besonderen Instruments zur Strafzu-
messung war in den letzten Jahren nicht gegeben. Nun
hat die Bundesregierung selbst einen Gesetzentwurf zur
Kronzeugenregelung vorgelegt.
Der Deutsche Bundestag hat in der 11. Wahlperiode
die Einführung der Kronzeugenregelung beschlossen.
Zielsetzung des Gesetzgebers war, die Begehung künfti-
ger terroristischer Straftaten zu verhindern und die Auf-
klärung bereits begangener Taten zu fördern. Die Kron-
zeugenregelung kam im Zeitraum von 1989 bis 1999 im
Terrorismusbereich in 20 bis 25 Fällen und im Bereich
der organisierten Kriminalität seit 1994 in 25 Fällen zur
Anwendung. Das Kriminologische Forschungsinstitut
Niedersachsen hat 1999 eine empirische Studie zu der
alten Kronzeugenregelung durchgeführt. Die im Rah-
men der Studie befragten Polizeibeamten, Strafrichter
und Staatsanwälte haben sich mit über 90 Prozent für
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12585
(A) (C)
(B) (D)
den Fortbestand einer Kronzeugenregelung im Bereich
der organisierten Kriminalität und des Terrorismus aus-
gesprochen. Die Befürworter begründen den Bedarf ei-
ner Kronzeugenregelung vor allem mit den erheblichen
Beweisproblemen, die bei Delikten aus dem Bereich der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus auftreten.
Die Strukturen der organisierten Kriminalität können
in den meisten Fällen nur durchbrochen werden, wenn
einer der Fäden des kriminellen Netzwerks selbst durch-
trennt wird. Gerade im Bereich der Führungsebene be-
steht häufig keinerlei direkter Bezug zu konkreten Op-
fern, die etwa als Zeugen infrage kämen. Um hier die
Mauer des Schweigens zu durchbrechen, bedarf es auch
eines Anreizes vonseiten der Strafverfolgung.
Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist
nach wie vor eine wichtige Aufgabe der Sicherheitsbe-
hörden. In den vergangenen Jahren hat sich der Fokus
des öffentlichen Interesses deutlich verlagert hin zur Be-
kämpfung des internationalen Terrorismus. Die Bekämp-
fung der organisierten Kriminalität ist dadurch in der öf-
fentlichen Debatte in den Hintergrund getreten. Die
aktuellen Zahlen rechtfertigen dieses Schattendasein je-
doch in keiner Weise. Ich erinnere in diesem Zusammen-
hang nur an den grausamen sechsfachen Mord in Duis-
burg in diesem Sommer. Nach dem aktuellen Lagebild
des Bundeskriminalamts zur organisierten Kriminalität
waren im Jahr 2006 insgesamt 622 Ermittlungsverfahren
im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität an-
hängig. Insgesamt wurde gegenüber 10 000 Tatverdäch-
tigen ermittelt. Die ermittelte Schadenshöhe der zu-
grunde liegenden Verfahren belief sich im Jahre 2006 auf
circa 1,4 Milliarden Euro.
Vor diesem Hintergrund ist es zunächst legitim, dass
sich die Bundesregierung Gedanken darüber macht, ob
dieser Entwicklung auch mit entsprechenden strafpro-
zessualen Instrumenten entgegengewirkt werden kann.
Man würde es sich zu einfach machen, wenn man ledig-
lich die Neueinführung der alten Kronzeugenregelung
fordern würde. Auch die Befürworter der Kronzeugenre-
gelung haben deutliche Kritik an dem 1999 ausgelaufe-
nen Gesetz geäußert. Es muss beispielsweise verhindert
werden, dass sogenannte Pseudokronzeugen Strafmilde-
rungsvorteile erhalten. Ein Straftäter, der erst Kooperati-
onsbereitschaft zeigt, um Strafmilderung zu erlangen
und dann die Mitarbeit verweigert oder durch Erinne-
rungslücken oder Unwahrheiten die Justiz behindert, ist
kein Kronzeuge. Er spielt mit dem Rechtsstaat und darf
von diesem auch keinerlei Hilfe erhalten. Zudem darf
eine Verurteilung keinesfalls allein aufgrund der Aus-
sage eines Kronzeugen erfolgen. Der Rechtsstaat muss
sich immer bewusst sein, dass er, wenn er sich eines
Kronzeugen bedient, einem Menschen gegenübersteht,
der durch seine Taten gezeigt hat, dass er die Rechtsord-
nung nicht akzeptiert. Daher muss der vom Kronzeugen
angegebene Geschehensablauf durch zusätzliche Be-
weismittel deutlich erhärtet werden.
Gegen eine Kronzeugenregelung werden von ver-
schiedenen Seiten erhebliche Bedenken vorgetragen. So
haben sich beispielsweise der Deutsche Anwaltverein,
die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche
Richterbund in einer gemeinsamen Erklärung gegen die
Pläne der Bundesregierung gewandt, eine neue Kronzeu-
genregelung einzuführen. Auch der Vizepräsident des
Bundesverfassungsgerichts, Professor Hassemer, hat
sich skeptisch geäußert. Die FDP-Bundestagsfraktion
nimmt diese Kritik sehr ernst.
Im Hinblick auf die konkreten Vorstellungen der Bun-
desregierung habe ich für die Einwände aus der Praxis
großes Verständnis. Im Gegensatz zu der alten Kronzeu-
genregelung, die sich nur auf Straftaten aus dem Bereich
des Terrorismus und der organisierten Kriminalität be-
schränkte, soll die neue Strafzumessungsregel ausge-
dehnt werden auf alle Fälle der mittelschweren oder
Schwerstkriminalität. Daneben soll es ausreichen, dass
der Täter Aussagen macht zu Straftaten, die keinerlei
Bezug zu seinem eigenen Verhalten haben müssen. Da-
mit wird jeder Bezug des Kronzeugen zu der Kriminali-
tät aufgegeben, an deren Aufklärung er mitwirkt. Zu
Recht weist der Vorsitzende des Deutschen Richterbun-
des, Oberstaatsanwalt Frank, darauf hin, dass damit die
innere Verknüpfung zwischen eigener Tat und Aufklä-
rungshilfe aufgelöst wird. Auch aus Sicht der FDP-Bun-
destagsfraktion geht der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zu weit. Ich freue mich, dass auch der Bundesrat
diese Auffassung teilt. Der Bundesrat hat in seiner Stel-
lungnahme die Bundesregierung gebeten, den Anwen-
dungsbereich auf die Deliktsfelder des Terrorismus und
der organisierten Kriminalität zu beschränken.
Damit auch künftig Strafe schuldangemessen ver-
hängt werden kann, muss aus Sicht der FDP-Bundes-
tagsfraktion die Kronzeugenregelung eine Ausnahme im
Rahmen der Strafzumessung bleiben. Es darf nicht ver-
gessen werden, dass die Kronzeugenregelung eine Ab-
kehr vom Legalitätsprinzip ist, wonach grundsätzlich bei
Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Straftat ein Er-
mittlungsverfahren durchzuführen und bei hinreichen-
dem Tatverdacht Anklage zu erheben ist. Darüber hinaus
muss gesehen werden, dass bereits heute im Strafverfah-
rensrecht ausreichende Möglichkeiten bestehen, die Mit-
wirkung eines Täters bei der Strafzumessung zu berück-
sichtigen. Es besteht daher keinerlei Bedarf für eine sich
auf weite Bereiche der Kriminalität erstreckende Kron-
zeugenregelung. Fraglich ist auch, ob der Gesetzentwurf
ausreichende Vorkehrungen trifft, um gegen missbräuch-
liche Aussagen vorzugehen. Auf die Justiz wird viel Ar-
beit zukommen, wenn es darum geht, einem Straftäter
eine mögliche Falschaussage nachzuweisen. Auch die
Rücknahme des zuvor zugesagten Straferlasses wird in
der Praxis Probleme bereiten.
Im Zusammenhang mit der Kronzeugenregelung stel-
len sich eine Fülle von rechtssystematischen Fragen, die
sorgfältig diskutiert werden müssen. Für die FDP steht
fest: Nur eine rechtsstaatlich einwandfreie Kronzeugen-
regelung wird sich in der Praxis bewähren. Der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung bietet hierfür lediglich eine
Diskussionsgrundlage.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Als die letzte
Kronzeugenregelung im Jahre 1999 auslief, sorgte das in
der Fachwelt für keine sonderlichen Reaktionen. Die
12586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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Kritiker der Regelung waren nicht sonderlich begeistert,
ihre Befürworter nicht sonderlich verärgert.
Im Vergleich zu der Kohl’schen Regelung sieht der
aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Wie-
dereinführung der Kronzeugenregelung aber einen sehr
viel breiteren Anwendungsbereich vor. Sollte der Ent-
wurf Gesetz werden, wird dies demnach in breiterem
Umfang nutzlos für die Aufklärungsarbeit bleiben und
für größeren Schaden an unserem Rechtsstaat sorgen.
Lassen Sie mich zunächst etwas zum Schaden sagen,
bevor ich zum ausbleibenden Nutzen komme. Der Scha-
den betrifft ein wesentliches Grundprinzip unseres
Rechtsstaates: das Schuldprinzip. Bislang gingen wir da-
von aus, dass ein Gerichtssaal ein Ort ist, an dem stets
und von Amts wegen die gerechte Strafe für eine nach-
zuweisende Schuld zu suchen ist. Kurz gesagt: Justitia
wägt; sie handelt nicht. Nach dem aktuellen Entwurf der
Bundesregierung aber würde der Gerichtssaal zu einem
Marktplatz werden, auf dem man – zuvor geleistete – Er-
mittlungs- oder Präventionshilfe gegen Strafmilderung
tauscht.
Der Entwurf sieht vor, dass Täter, die mehr als ein
bloßes Bagatelldelikt zu verantworten haben und vor der
Eröffnung der Hauptverhandlung Aufklärungs- oder
Präventionshilfe zu irgendeiner ganz anderen Tat aus
dem ellenlangen Katalog des geplanten § 100 a Abs. 2
StPO leisten, Strafmilderung genießen können. Weder
brauchen diese Täter die Umstände der eigenen Taten
aufzuklären noch Reue oder Mitleid mit ihren Opfern zu
beweisen. Hier ist also durchaus kein Bonus für den ein-
sichtigen Täter in Planung. Wer fortan einer Straftat an-
geklagt wird, kann sich glücklich schätzen, wenn er zu-
vor für ausreichend Nähe zu anderen Straftaten gesorgt
hat, zu denen er dann Aufklärungsdienste anbieten kann.
Wer dagegen seinen einzigen ernsten Fehltritt im Leben
zu verantworten hat, dem fehlt es an dem nötigen Zaster
auf dem neuen Gerichtsmarkt. Er wird nichts haben, das
er gegen Milderung feilbieten kann. Ihn trifft die volle
Härte des Gesetzes. Ein Verbrechen lohnt sich nicht.
Viele dagegen schon. So wird auch das Prinzip der Ge-
neralprävention in sein Gegenteil verkehrt. Ich frage
mich außerdem, wie man dem Opfer einer Vergewalti-
gung wohl vermitteln will, dass der Vergewaltiger straf-
mildernd davonkommt, weil er zufällig Aufklärungshilfe
– tatsächliche oder fiktive – zu einem Banküberfall leis-
ten konnte.
Der zu erwartende rechtliche und kriminalpolitische
Schaden ist damit nicht einmal annähernd beschrieben.
Schon jetzt aber müsste der abzuwiegende Nutzen
enorm sein, um den bereits beschriebenen Schaden wie-
der wettzumachen. Doch der Nutzen bleibt ganz aus;
denn die Vertreter der Kronzeugenregelung verfolgen
seit jeher einen Königs„irr“weg.
Die erste Irrung liegt darin, dass es gelingen könne,
hinter die verborgenen Strukturen des Terrorismus und
des organisierten Verbrechens zu gelangen, weil man
Plauderer aus dem Milieu privilegieren und herauslösen
könne. Tatsächlich aber reagieren geschlossene Struktu-
ren auf solche Versuche naturgemäß mit mehr Abschot-
tung und mit Absicherung gegen Verrat. Sie erhöhen ein-
fach das Ausmaß der Bedrohung gegenüber Plauderern,
um die staatliche Privilegierung wieder wettzumachen.
Es eröffnet sich ein gefährliches Wettrüsten zwischen
den Vergünstigungen des Staates und den Verängstigun-
gen im Milieu – ein Wettrüsten, das kein Rechtsstaat auf
Dauer durchhalten kann. Die laufenden Erfahrungen mit
der „Mini-Kronzeugenregelung“ im Betäubungsmittel-
gesetz zeigen doch auf, dass es nicht annähernd gelingt,
über Kronzeugen den organisierten Drogenhandel aus-
zuforschen, wohl aber erhöht sich die Gewalt im Milieu
stetig.
Der zweite „königliche Fehlschluss“ besteht in der
Erwartung, dass Kronzeugen überhaupt der Wahrheits-
findung dienlich sein könnten. Schon ohne Kronzeugen-
regelung betonen viele Angeklagte oft und gerne die
Schuld anderer fiktiver und realer Personen, nur um den
Blick von der eigenen Tat wegzulenken. Für diese – der
Wahrheitsfindung abträgliche – Grundtendenz zur
Fremdbezichtigung stellt der aktuelle Entwurf nun das
passende rechtliche Institut zur Verfügung. Da nützt es
auch nichts, dass der Aufklärungsbeitrag oder die Prä-
ventionshilfe vor der Hauptverhandlung zu erbringen
sind – als wäre dies schon ein Beleg für redliche Absich-
ten. Es mag Sie überraschen, aber die meisten Beschul-
digten eines Verbrechens wissen auch ohne Richter
ziemlich gut, ob es später in der Hauptverhandlung für
sie eng werden könnte.
Es nützt auch nicht genug, dass der Entwurf Anpas-
sungen der Tatbestände der falschen Verdächtigung und
des Vortäuschens einer Straftat vorsieht; denn diese In-
strumente bleiben oft stumpfe Waffen, weil die Ermitt-
lung objektiver Wahrheit ebenso schwer fällt wie der
Nachweis des nötigen Tätervorsatzes. So löst sich
schließlich der letzte im Entwurf behauptete Vorteil in
Luft auf: Den ganz unsicheren Erleichterungen bei der
Aufklärung von Straftaten durch Kronzeugen stehen die
ganz sicheren Erschwernisse bei der Nachprüfung ihrer
Aussagen gegenüber.
Nutzlos ist der Entwurf damit für das behauptete Vor-
haben der Entlastung der Justiz. Was nach alledem tat-
sächlich nützen würde, wäre, die neue Kronzeugenrege-
lung ganz zu lassen. Der Nutzen läge schlicht darin, dass
die geschilderten Schäden allesamt ausblieben.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ende 1999 lief die alte Kronzeugenregelung aus.
Wir Grüne wollten die Kronzeugenregelung nie. Wir
hatten uns deshalb geweigert, der Verlängerung dieser
Sonderegelung aus der Antiterrorismusgesetzgebung der
Achtzigerjahre zuzustimmen. Durch die Kronzeugenre-
gelung wurde der deal mit dem Mörder hoffähig ge-
macht. Ein des vollendeten Mordes Verdächtiger musste
sich nur genug einfallen lassen, was er den Strafverfol-
gungsbehörden über andere und deren Beteiligung an
schwersten Straftaten erzählen konnte, um eine milde
Bestrafung zu erreichen. Das mit der damaligen Rege-
lung beabsichtigte Ziel, ins Zentrum von terroristischen
oder schwerstkriminelle Gruppen organisierter Krimina-
lität einzudringen, indem Personen aus diesem Bereich
als Kronzeugen gewonnen werden, wurde nicht erreicht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12587
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(B) (D)
Deshalb und wegen erheblicher Gefahren und schwerer
Mängel, wie etwa der Aufgabe des Legalitätsgrundsat-
zes, die mit dieser Regelung verbunden waren, sprachen
sich die meisten Experten gegen die Kronzeugenrege-
lung aus. In einer Sachverständigenanhörung im Justiz-
ministerium wurde dies damals deutlich.
Die jetzt vorgelegte neue Vorschrift des § 46 b Straf-
gesetzbuch ist im Kern die Wiedereinführung einer
Kronzeugenregelung, wenn sie jetzt auch anders heißt
und als bloße Strafzumessungsvorschrift daherkommt.
Dabei verkenne ich nicht, dass die neue Vorschrift völlig
anders gestrickt ist und versucht, die Kritik an der alten
Regelung zu berücksichtigen. Ich übersehe auch nicht,
dass die vorgeschlagene Regelung sehr weitgehend den
Vorschlägen ähnelt, die wir zuletzt in der rot-grünen Ko-
alition diskutiert hatten. Es stimmt allerdings nicht, dass
wir Grünen bereit waren, diesem Vorschlag so ohne Wei-
teres zuzustimmen. Nein, wir wollten überhaupt keine
neue Kronzeugenregelung. Das hatten wir immer wieder
betont. Nur wir sahen uns einem erheblichen Druck aus-
gesetzt. Deshalb hatten wir verhandelt. Aber für uns
blieb immer entscheidend, dass wir eine Regelung allen-
falls mittragen, die die absolute Strafdrohung einer le-
benslangen Freiheitsstrafe im § 211 Strafgesetzbuch
ganz allgemein relativiert und nicht nur als Belohnung
für den Mörder als Kronzeuge. Wir sehen nicht ein, dass
bei einem Mord, der nach jahrelangem Martyrium durch
das Opfer an dem Peiniger begangen wird, eine Milde-
rung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach dem Geset-
zeswortlaut absolut nicht möglich sein soll, bei einem
Mörder, der sich aus ganz egoistischen Gründen als
Kronzeuge zur Verfügung stellt, aber doch.
Wir lehnen diese neue Kronzeugenregelung auch als
Strafzumessungsvorschrift ab. Wir sind dagegen, dass
der Staat mit Mördern ein Geschäft über die Strafhöhe
abschließt. Ein solcher Deal ist eines Rechtsstaates un-
würdig. Beim Handel des Staates mit schwerstkriminel-
len Kronzeugen bleiben Gerechtigkeit und Rechtsstaat-
lichkeit auf der Strecke.
Die Regelung schafft Anreize für Kronzeugen in
Mordprozessen, sich Taten und Tatbeteiligungen anderer
auszudenken, sie „ins Blaue“ hinein zu verdächtigen und
zu belasten – denn umso mehr andere beschuldigt wer-
den, umso höher fällt der Strafnachlass aus. Damit wird
der Gefahr der Verfolgung Unschuldiger und gerichtli-
cher Fehlurteile gerade in Mordprozessen Vorschub ge-
leistet. Dass von Strafverfolgern hofierte Kronzeugen
vielfach ihre Aussagen nachträglich widerrufen und sich
gar selbst wegen Falschbeschuldigung angezeigt haben,
zeigt, welche großen Zweifel an der Glaubwürdigkeit
solcher Kronzeugen stets grundsätzlich angebracht sind.
Beispiele aus Italien zeigen, welch großes Unglück
Kronzeugen über zu unrecht Verdächtigte bringen kön-
nen.
Justiz und Kronzeuge haben an der Überführung Be-
schuldigter häufig ein gemeinsames Interesse. Sie nei-
gen dazu, Widersprüche in dessen Aussage zulasten der
Wahrheit, des Beschuldigten und der Verteidigung zu
„glätten“.
Die Kronzeugenregelung verletzt das verfassungs-
kräftige Schuldprinzip, indem der für die Tat des Zeugen
angemessene Strafrahmen selbst bei Mördern unter-
schritten wird. Sie begründet Zweifel bei der recht-
streuen Bevölkerung an der Legitimität und Gleichbe-
handlung in der Strafrechtspflege.
Schon nach geltendem Strafrecht kann das Gericht die
Strafe mildern, wenn der Angeklagte hilft, fremde De-
likte aufzuklären. Solches Verhalten nach der Tat ist
nach § 46 StGB ein wichtiger Strafzumessungsgrund,
nur eben nicht bei Mordvorwürfen. Und zur täglichen
Praxis aller Strafgerichte in Deutschland gehört es, Hilfe
bei der Aufklärung oder die Verhinderung von Straftaten
durch Strafmilderung zu würdigen. Darüber wird auch in
öffentlicher Sitzung oder auch auf Gerichtsfluren unter
den Prozessbeteiligten gesprochen und verhandelt. Dazu
braucht es die neue Vorschrift nicht, zumal es für den
Bereich der Drogendelikte und des Terrorismus sogar
Vorschriften und Aussageanreize schon im Gesetz gibt.
Ganz im Gegenteil. Das neue Gesetz könnte sogar diese
Praxis einschränken, denn danach kann die Milderung
nur für Aufklärungshilfe gewährt werden, wenn diese
bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens gewährt wird.
Deshalb werden wir gegen eine neue Kronzeugenre-
gelung stimmen, die den Handel mit dem Mörder gesetz-
lich regelt.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts gehört es zu den wesent-
lichen Aufgaben des Staates, „gerade schwere Straftaten
aufzuklären und zu verhindern“. Genau dies ist das
Kernanliegen des Entwurfs der Bundesregierung zur
Einführung einer allgemeinen Kronzeugenregelung, der
uns zur Beratung vorliegt. Durch die Möglichkeit der
Strafmilderung oder – in weniger schweren Fällen – des
Absehens von Strafe soll für potenziell kooperationsbe-
reite Straftäter ein stärkerer Anreiz geschaffen werden,
Angaben zur Aufklärung oder Verhinderung von schwe-
ren Straftaten zu machen, die ansonsten nicht oder nur
schwer aufzudecken wären.
Wir alle wissen, dass die Frage einer Kronzeugenre-
gelung ein seit vielen Jahren immer wieder kontrovers
diskutiertes Thema ist. Umso mehr freue ich mich, dass
wir nun einen Entwurf vorlegen können, der beim Bun-
desrat auf grundsätzliche Zustimmung stößt und bei dem
ich zuversichtlich bin, dass er auch im Bundestag eine
klare Mehrheit finden wird.
Das Regelungskonzept des Entwurfs lässt sich leicht
erläutern, wenn wir einen Blick auf die bisherigen Kron-
zeugenregelungen werfen. Wir hatten eine solche bereits
von 1989 bis 1999 für terroristische und von 1994 bis
1999 zusätzlich für organisiert begangene Straftaten.
Außerdem gibt es wenige sogenannte kleine oder be-
reichsspezifische Kronzeugenregelungen, von denen vor
allem die in der Praxis bedeutsame Vorschrift im Betäu-
bungsmittelstrafrecht – § 31 BtMG – zu nennen ist.
Trotz der nicht unerheblichen Erfolge, die mit diesen
Regelungen erzielt werden konnten, wurde von Prakti-
12588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
kerseite immer wieder moniert, dass diese Vorschriften
einen zu eng begrenzten Anwendungsbereich haben.
Nehmen wir zum Beispiel die damaligen Regelungen
zum Terrorismusbereich und zur organisierten Krimina-
lität. Die Regelungen waren nur auf Täter oder Teilneh-
mer einer kriminellen und terroristischen Vereinigung
und damit zusammenhängender Taten beschränkt. Kri-
minelle Aktivitäten in diesen Bereichen beschränken
sich aber keineswegs auf die Tätigkeit von Organisatio-
nen, die die hohen Anforderungen an die Struktur sol-
cher Vereinigungen erfüllen, ganz zu schweigen etwa
vom terroristischen Einzeltäter. Eine weitere Beschrän-
kung der bisherigen Regelungen bestand und besteht da-
rin, dass nur Angaben innerhalb ein und desselben De-
liktsbereichs honoriert werden. Zum Beispiel schafft die
Regelung im Betäubungsmittelstrafrecht demzufolge
zwar einen Anreiz für einen Drogenhändler, Angaben
über die Tat eines anderen Drogenhändlers zu machen,
nicht aber, die Straftaten eines ihm bekannten Men-
schenhändlers oder einer Fälscherbande zu offenbaren.
Diese meines Erachtens wenig sinnvollen Beschrän-
kungen wollen wir aufheben. Vorrangig entscheidend
soll vielmehr sein, welchen Wert eine Angabe hat, um
den Staat bei seiner Aufgabe zu unterstützen, Straftaten
aufzuklären und zu verhindern. Erst durch einen solchen
breiten, deliktsübergreifenden Ansatz besteht die Mög-
lichkeit, kriminelle Verflechtungen insgesamt besser
aufzubrechen und ansonsten praktisch nicht erreichbare
Ermittlungserfolge zu erzielen.
Dabei beschränkt sich der Entwurf darauf, solche An-
gaben zu honorieren, die sich auf eine schwere Straftat
beziehen, bei der grundsätzlich auch eine Telefonüber-
wachung möglich wäre. Durch die Anknüpfung an den
Straftatenkatalog der Telefonüberwachung, wie er nach
dem Regierungsentwurf zur Neuregelung der Telekom-
munikationsüberwachung gefasst werden soll, erfassen
wir nur besonders schwere Taten – zum Beispiel Tö-
tungsdelikte – oder schwere Delikte, bei denen tendenzi-
ell – insbesondere wegen einer häufig konspirativen Be-
gehungsweise – ein Ermittlungsdefizit des Staates zu
beklagen ist. Neben der Tätigkeit organisierter oder kri-
mineller Vereinigungen ist dabei etwa an sonstige Staats-
schutzdelikte, gemeingefährliche Straftaten, die Strafta-
ten von Waffenhändlern, von Räuber-, Diebstahls-,
Betrugs- oder Fälscherbanden, aber auch an schwere Se-
xualdelikte und schwere Formen der Wirtschaftskrimi-
nalität einschließlich schwerer Korruptionsdelikte zu
denken.
Die Bundesregierung verkennt nicht, dass eine Kron-
zeugenregelung Täter zu dem Versuch animieren kann,
mit unwahren Angaben eine unverdiente Strafmilderung
zu erlangen. Wir haben jedoch Vorsorge getroffen, um
diese Gefahr zu minimieren. Der Kronzeuge muss näm-
lich seine Angaben bereits vor Eröffnung des gegen ihn
gerichteten Hauptverfahrens machen. Damit soll den
Strafverfolgungsbehörden und dem Gericht hinreichend
Zeit bleiben, diese Angaben auf ihre Stichhaltigkeit zu
überprüfen. Die Gewährung eines Strafrabattes nur des-
halb, weil der Angeklagte am Ende der Hauptverhand-
lung auf einmal mit Angaben kommt, die zwar plausibel
erscheinen, aber nicht nachprüfbar sind, kann es so nicht
geben. Außerdem wollen wir die Strafandrohungen für
Falschaussagen ausweiten, um härter gegen die vorge-
hen zu können, die bewusst falsche Angaben machen,
um sich die Milderung der Kronzeugenregelung zu ver-
schaffen.
Ich habe bereits angedeutet, dass der Gesetzentwurf
auch von den Ländern dem Grunde nach unterstützt
wird, nachdem wir bereits bei der Abstimmung des Re-
gierungsentwurfs viele Hinweise und Bedenken der Län-
der zu Einzelpunkten aufgegriffen haben. Der Bundesrat
hat lediglich drei Prüf- und eine Änderungsbitte vorge-
bracht, die aus unserer Sicht keinen Anlass für Korrektu-
ren bieten. Insbesondere hält die Bundesregierung aus
den eben genannten Gründen die Präklusionsvorschrift
für richtig, wonach der Kronzeuge seine Angaben vor
Eröffnung des Hauptverfahrens machen muss.
Grundsätzlichere, aber leider auch recht pauschale
Kritik kommt hingegen von den Anwaltsverbänden und
dem Deutschen Richterbund, die in einer Kronzeugenre-
gelung per se einen „fragwürdigen Handel mit dem Ver-
brechen“ sehen.
Auch wenn wir alle wissen, dass eine Kronzeugenre-
gelung nie ganz unproblematisch ist, halte ich diese
rechtsstaatlichen Bedenken im Hinblick auf den vorlie-
genden Regierungsentwurf für unbegründet. Ich möchte
die wesentlichen Gründe hierfür kurz benennen:
Erstens. Zu den zentralen verfassungsrechtlichen
Aufgaben des Rechtsstaats gehört es – ich habe bereits
eingangs darauf hingewiesen –, gerade schwere Verbre-
chen aufzuklären und zu verhindern; genau dem dient
die Regelung.
Zweitens. Dass für die Strafzumessung auch ein posi-
tives Nachtatverhalten zu berücksichtigen ist, ist nicht
neu, sondern in § 46 StGB seit langem anerkannt. Wir
konkretisieren nur diese Vorgaben und entwickeln sie
weiter.
Drittens. Weiterhin muss sich die Strafe maßgeblich
an der Schuld des Täters orientieren. Zur Vermeidung
unangemessen niedriger Strafen wird der mögliche
Strafrabatt viel deutlicher limitiert als bei den Kronzeu-
genregelungen der 80er- und 90er-Jahre. Bei Mord kann
allenfalls eine Absenkung auf zehn Jahre Freiheitsstrafe
erfolgen, ein Absehen ist nur bei einer an sich verwirk-
ten Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren möglich.
Viertens. Das Gericht muss auch nicht automatisch
bei jeder Hilfe einen Strafrabatt gewähren, sondern kann
dies tun. Es hat dabei insbesondere zu bewerten, ob ihm
dies im Hinblick auf den Wert der Angaben und der
Schwere der Tat des Kronzeugen gerechtfertigt er-
scheint.
Fünftens. Das Legalitätsprinzip bleibt bei unserer rein
materiell-rechtlichen Regelung unberührt. Es bleibt da-
bei, dass nur das Gericht über den Strafrabatt entschei-
den kann. Auch im Ermittlungsverfahren muss es einer
Einstellung zustimmen.
Zum Schluss möchte ich noch kurz etwas zu dem Ver-
hältnis dieses Entwurfs zu dem Vorhaben „Verständi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12589
(A) (C)
(B) (D)
gung im Strafverfahren“ anmerken, das derzeit noch in-
nerhalb der Bundesregierung abgestimmt wird. Ich
glaube, wir sollten beide Vorhaben klar auseinanderhal-
ten. Die Kronzeugenregelung ist eine materiell-rechtli-
che Regelung der Strafzumessung, die ohne die rein ver-
fahrensrechtlichen Regelungen zur Verständigung zur
Anwendung kommen kann. Ebensowenig bedarf die
verfahrensrechtliche Absicherung der Verständigung ei-
ner Kronzeugenaussage, um mit Leben gefüllt zu wer-
den; vielmehr ist ihr Hauptanwendungsfall das Geständ-
nis des Angeklagten. Auch in zeitlicher Hinsicht gibt es
Unterschiede. Der Kronzeuge muss sich vor der Eröff-
nung des Hauptverfahrens offenbaren, während eine
Verständigung erst in der Hauptverhandlung erfolgen
kann. Ein wie auch immer geartetes Junktim zwischen
beiden Entwürfen wäre daher aus meiner Sicht nicht
sachgerecht und würde aufgrund des deutlich unter-
schiedlichen Verfahrensstandes auch nur zu unnötigen
Verzögerungen führen.
Ich freue mich auf die anstehenden Ausschussbera-
tungen, wo wir uns über die Details des Regierungsvor-
schlags unterhalten können.
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Programm „Energiewende in Ge-
wächshäusern“ auflegen (Tagesordnungspunkt 14)
Johannes Röring (CDU/CSU): Lassen Sie mich zu-
nächst einen Blick auf die Branche werfen, die Gegen-
stand des uns vorliegenden Antrags von Bündnis 90/Die
Grünen ist. Der Gartenbau ist ein zukunftsorientierter
Wirtschaftszweig innerhalb der Landwirtschaft, der sich
seit Jahren sehr positiv weiterentwickelt. Mit über
60 000 Betrieben mit gärtnerischer Produktion in
Deutschland und einem Wirtschaftsvolumen von circa
26 Milliarden Euro ist der Gartenbau schon für sich ge-
nommen ein wichtiger Wirtschaftssektor. In der Branche
sind direkt über 400 000 Arbeitskräfte beschäftigt, da-
von circa 18 000 Auszubildende. Aufgrund der meist ge-
gebenen Unternehmensstrukturen ist er im ländlichen
Raum ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der Arbeitsplätze
schafft. Ein Charakteristikum des Gartenbaus ist augen-
scheinlich: Er ist nicht nur ein arbeitsintensiver Produk-
tionszweig, sondern auch ein energieintensiver Bereich.
Besonders dieses Thema, nämlich die Energie und im
Besonderen deren effiziente Nutzung, ist in diesen Tagen
eines der zentralen Themen der Politik. Wir haben uns
als Große Koalition von Anfang an dieser Frage ange-
nommen und schon im Koalitionsvertrag vereinbart, „bis
2020 eine Verdopplung der Energieproduktivität gegen-
über 1990 zu erreichen“ und die Marktpotenziale erneu-
erbarer Energien auszubauen.
Mit dem nun in Meseberg vorgelegten Klima- und
Energiepaket gehen wir diesen Weg konsequent weiter.
Wir wollen beispielsweise einen weiteren Ausbau der er-
neuerbaren Energien im Strombereich. Wir setzen uns für
eine Verdopplung des Anteils von Strom aus Kraft-
Wärme-Kopplung bis 2020 ein, und besonders die Aufle-
gung von Förderprogrammen für Klimaschutz und Ener-
gieeffizienz hat für uns höchste Priorität. Wir haben be-
reits Maßnahmen entwickelt und wollen für die Zukunft
weitere Maßnahmen voranbringen, die beim Thema
Energieeffizienz erfolgreich sind.
Lassen Sie mich nach diesen allgemeinen Aussagen
konkret werden und das Augenmerk auf die Situation
des Energieeinsatzes und die Energieeffizienz in der
Gartenbaubranche werfen, um die es ja in dem von
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Antrag geht, mit
dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ein Pro-
gramm zur Energiewende in Gewächshäusern aufzule-
gen. Die Intention, die hinter diesem Antrag steckt ist
grundsätzlich zu begrüßen; denn die Verringerung der
CO2-Emissionen auch in dieser Branche ist ein erstre-
benswertes Ziel. Dies ist im Gewächshausanbau von be-
sonderer Bedeutung, da der Gartenbau etwa ein Drittel
der von der Landwirtschaft verbrauchten Brennstoff-
energie benötigt. Man kann den Antrag positiv beurtei-
len, dass die Idee unterstützenswert ist. Aber die Umset-
zung ist mangelhaft. Die ungerechtfertigte und sach-
fremde Kritik an den existierenden Programmen, durch
die der Bund schon jetzt energiesparende Maßnahmen in
der Landwirtschaft und im Gartenbau fördert, zeigt dies
eindeutig. Denn sowohl das Agrarinvestitionsförderpro-
gramm, AFP, das im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-
zes“, GAK, eine Förderung ermöglicht, als auch die Mit-
tel aus dem Zweckvermögen des Bundes bei der Land-
wirtschaftlichen Rentenbank, mit deren Hilfe die
Unterstützung von Modellvorhaben im Bereich vorwett-
bewerbliche Entwicklung sowie Modellvorhaben zur
Markt- und Praxiseinführung innovativer Techniken und
Verfahren geleistet wird, sind bereits jetzt von der Bran-
che häufig genutzte Wege, Energieeffizienzmaßnahmen
anzustoßen.
Da wir diese effektiven Maßnahmenpakete ausbauen
wollen, erörtern wir aktuell, mit welchen weiteren Mög-
lichkeiten wir die Gartenbaubranche unterstützen kön-
nen, um den Energieeinsatz zu reduzieren, das Klima zu
schonen und damit einhergehend auch die Kosten der
Betriebe zu senken. Hierfür ist der politische Wille in der
CDU/CSU-Fraktion und bei der Bundesregierung zwei-
felsfrei vorhanden. Daher prüfen wir zurzeit konkret,
welche finanziellen Voraussetzungen wir schaffen müs-
sen, um ein Förderprogramm zum Ausbau der Energie-
effizienz im Gartenbau aufzulegen. Dies soll auch im
Rahmen unserer Meseberg-Beschlüsse entwickelt wer-
den können und über einen mehrjährigen Zeitraum Pla-
nungs- und Investitionssicherheit bieten, um einerseits
die Branche zukunftsfähig zu machen und andererseits
unsere klima- und energiepolitischen Ziele realisieren zu
können. Es geht hier nicht um einen politischen Schnell-
schuss, wie beim vorliegenden Antrag der Grünen, son-
dern unser Ziel ist es, ein Programm aufzulegen, das
nachhaltig erfolgreich ist und der Branche Unterstützung
garantiert, auf die sie vertrauen kann. Denn wir wollen
der Gartenbaubranche ein verlässlicher Partner sein, da-
mit die positiven Entwicklungen in diesem Wirtschafts-
12590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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zweig weitergehen können. Dazu müssen wir neben dem
geplanten Förderprogramm auch verstärkt dafür werben,
lokal bereits bestehende Unterstützungspfade zu nutzen,
sei es in der Beratung vor Ort, bei der Entwicklung und
Aufstellung von Energieeffizienzkonzepten, beim Ein-
satz von Biomasse aus Wald und Forst oder bei der Ko-
operation von Biogasanlagenbetreibern und Gartenbau-
ern bei der Nutzung der Wärme der Biogasanlagen.
Dieser Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist abzu-
lehnen, da wir bereits in konkreten Planungen sind, wie
wir der Gartenbaubranche durch ein Investitionsförde-
rungsprogramm helfen können, Energieeffizienzmaß-
nahmen zur CO2-Verminderung umzusetzen, und da wir
bestehende Maßnahmen haben, die auch diesem Ziel
dienen.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Oft wird be-
hauptet, Umweltschutz sei ein Jobkiller. Wir aber wis-
sen: Das Gegenteil ist richtig. Umwelt schafft Arbeit.
Das rasante Wachstum der Erneuerbaren-Energien-Bran-
che hat bisher schon rund 200 000 Arbeitsplätze ge-
schaffen.
Auch die Maßnahmen in unserem Klimapaket werden
einen doppelten Nutzen bringen: Wir schützen das
Klima, indem wir den CO2-Ausstoß senken, unseren
Ressourcenverbrauch schonen und unsere Abhängigkeit
von den Ölscheichs verringern. Gleichzeitig schaffen wir
Arbeitsplätze in Handwerk, Industrie und Wirtschaft, in-
dem wir Investitionen in Energieeffizienz und Moderni-
sierung anschieben, unsere Technologieführerschaft aus-
bauen und für Wirtschaftswachstum sorgen.
Gerade beim Glashausanbau wird eines überaus deut-
lich: Für die energieintensiven Branchen ist Umwelt-
schutz eine Win-win-Situation. Weniger Energiever-
brauch bedeutet weniger Treibhausgase und es bedeutet
weniger Kosten. Der Gartenbau – und das ist uns allen
bewusst – ist in besonderem Maße in seiner Kostenstruk-
tur und damit letztendlich auch in seiner Wettbewerbs-
stärke von den Energiepreisen abhängig.
Die Herausforderungen des weltweiten Klimawan-
dels sind auf das Engste mit der Frage verknüpft, wie un-
ter den Bedingungen einer weltweit steigenden Energie-
nachfrage in Zukunft die Versorgungssicherheit zu
wirtschaftlichen Preisen gewährleistet und so insgesamt
eine nachhaltige Energieversorgung verwirklicht werden
kann. Eine ambitionierte Strategie zur Steigerung der
Energieeffizienz und der weitere Ausbau der erneuerba-
ren Energien sind die richtige Antwort, um die Emission
der Treibhausgase zu reduzieren.
Das Bundeskabinett hat bei seiner Klausursitzung in
Meseberg ein umfangreiches Klima- und Energiepaket
beschlossen. Mit diesen Maßnahmen und den zuvor
durchgesetzten Reduzierungen werden wir eine CO2-
Minderung von rund 35 Prozent erreichen. Das ist ein
großer Schritt nach vorn. Dennoch: In der Klimapolitik
brauchen wir einen langen Atem und viele Akteure. Je-
der Einzelne kann durch sein Mobilitätsverhalten oder
durch intelligentes Energiesparen in den eigenen vier
Wänden mithelfen. Ohne jeden Komfortverlust könnten
wir europaweit deutlich über 20 Prozent unseres Ener-
gieverbrauchs reduzieren.
Es existieren in allen Sektoren noch erhebliche Ein-
sparpotenziale, die mit ökonomischen Anreizen ver-
gleichsweise kostengünstig zu realisieren sind. Ich be-
grüße es, dass in Meseberg auch die Land- und
Forstwirtschaft in Förderprogramme aufgenommen
wurde, die dazu dienen, Effizienzpotenziale zu mobili-
sieren. Konkret beschlossen wurde bereits die Förderung
der Energieberatung im Bereich der Land- und Forst-
wirtschaft. Der Gewächshausanbau ist dabei von beson-
derer Bedeutung: Der Gartenbau benötigt etwa ein Drit-
tel der von der Landwirtschaft verbrauchten
Brennstoffenergie. Die Effekte wären also besonders
groß, die Mittel besonders effizient eingesetzt.
Mit ihrem Antrag rennen die Grünen offene Türen
ein. Der Bund fördert schon jetzt energiesparende Maß-
nahmen in der Landwirtschaft und insbesondere im Gar-
tenbau: Wir haben das Agrarinvestitionsförderprogramm
im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Wir fördern
aus dem Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirt-
schaftlichen Rentenbank Modellvorhaben zur vorwett-
bewerblichen Entwicklung sowie zur Markt- und Praxis-
einführung innovativer Techniken und Verfahren. Auch
im Innovationsprogramm und in den Projekten des Bil-
dungs- und Forschungsministeriums werden Projekte im
Gewächshausbau gefördert.
Ich stimme Ihnen zu: Wir müssen auch die anwen-
dungsorientierte Forschung und den Wissenstransfer in
die Praxis verbessern und fördern. Es geht darum, im In-
teresse des Klimaschutzes in der Landwirtschaft und hier
vor allem im energieintensiven Gartenbau Fördermaß-
nahmen zur Energieeinsparung zu ergreifen.
Wir haben ja heute im Ausschuss deutlich gemacht,
dass wir uns dafür einsetzen, dazu einen Teil der Einnah-
men aus dem Verkauf von Emissionszertifikaten zu ver-
wenden, die im Haushalt des Bundesumweltministeri-
ums veranschlagt sind. Das dafür maßgebliche
Zuteilungsgesetz 2012 bestimmt, dass über die Verwen-
dung der Erlöse im Rahmen des jährlichen Haushaltsge-
setzes entschieden wird. Ich denke, dafür sollte auch ein
angemessener Teil für Maßnahmen zur Energieeinspa-
rung, zur Energieberatung und zur Markteinführung kli-
mafreundlicher Technologien im Bereich der Land- und
Forstwirtschaft verwendet werden. In 2008 schlagen wir
jedenfalls vor, 3 Millionen Euro für modellhafte Vorha-
ben zur Verfügung zu stellen.
Ich habe Ihnen deutlich gemacht, dass wir unseren
Teil der Verantwortung übernehmen. Es macht Sinn, hier
zu investieren. Es tut dem Klima gut. Lassen sie mich
dennoch gezielt darauf hinweisen, dass ein geringerer
Energieverbrauch im Unterglasanbau eine Gewinnsitua-
tion für die Unternehmen ist. Weniger Energieverbrauch
bedeutet niedrigere Kosten. Dafür lohnt es sich, zu in-
vestieren.
Wir haben nicht mehr die Chance, den Klimawandel
zu verhindern. Wir können ihn nur noch begrenzen. Na-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12591
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türlich kostet das Geld. Fakt ist aber auch: Zuschauen
wäre teurer.
Wir haben heute im Rahmen der Haushaltsberatungen
2008 im Ausschuss beschlossen, dass wir das Bundes-
programm Ökolandbau weiterhin mit 16 Millionen Euro
fortführen, obwohl in der mittelfristigen Planung eine
Rückführung vorgesehen war. Auch dieses Programm ist
Klimaschutz, den wir als SPD durchgesetzt haben. Wir
stehen nicht nur beim Unterglasanbau vor der Aufgabe,
klimaschonende Produktionsformen weiterzuentwi-
ckeln und zu sichern.
Ich freue mich, dass wir diesen Antrag von Bündnis
90/Die Grünen hier debattieren. Auf diese Weise habe
ich nämlich die Möglichkeit, zu erläutern, was wir als
Regierungskoalition auf den Weg gebracht haben und
woran wir in der kommenden Zeit arbeiten werden. Der
heute im Agrarausschuss beschlossene Entschließungs-
antrag zum Haushalt zeigt ganz klar: Wir nehmen diese
Herausforderung an.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir brauchen
keine Energiewende in Gewächshäusern, sondern bessere
Wettbewerbsbedingungen für unsere Gartenbaubetriebe.
Steigende Energiepreise verschärfen die Wettbewerbs-
situation der Gartenbaubetriebe, die in Gewächshäusern
Obst, Gemüse und Zierpflanzen anbauen. Wie leistungs-
fähig unsere Gartenbaubetriebe sind, hat gerade die in der
letzten Woche zu Ende gegangene Bundesgartenschau in
Ronneburg und Gera bewiesen. Sie hat annähernd
1,5 Millionen Besucher begeistert.
Wir sind in der Pflicht, nach Lösungen zu suchen, da-
mit der Gartenbau und auch der Unterglasanbau in
Deutschland eine Zukunft hat. Dazu gehört insbeson-
dere, zur Minderung der hohen Energiekosten beizutra-
gen. Der Unterglasanbau ist eine sehr energieintensive
Branche. Abhängig von den jeweiligen Kulturen wird
entweder das ganze Jahr über eine hohe Wärmemenge
benötigt oder nur saisonal insbesondere im Winter. Das
bedeutet, dass jeder Betrieb individuell betrachtet wer-
den muss: jeder Betrieb muss für sich ausrechnen, auf
welche Weise er seine Energiekosten am besten senken
kann.
Eine Umfrage der Universität Hannover hat ermittelt,
dass es einen erheblichen Investitionsstau bei den Unter-
glasanbaubetrieben gibt. Die Stichprobe, die etwa
10 Prozent der im Unterglasanbau bewirtschafteten Flä-
che umfasste, zeigte, dass 60 Prozent der erfassten Ge-
wächshäuser älter als 10 Jahre, über 30 Prozent älter als
25 Jahre sind. Bei den Kesseln ist die Situation nicht
wirklich besser, über 40 Prozent sind älter als 15 Jahre.
Es besteht also die erste Aufgabe darin, den Betrie-
ben, die sich teilweise in einer wirtschaftlich schwieri-
gen Situation befinden, Investitionen zur Energieeinspa-
rung zu ermöglichen.
Im Ansatz geht der Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen in die richtige Richtung, insbesondere vor dem Hin-
tergrund der aktuell geführten Debatte um Klimawandel
und CO2-Reduzierung. Die effizienteste Maßnahme zur
Energieeinsparung bei Gewächshäusern ist jedoch in
vielen Fällen der Abriss und Neubau der in der Regel
überalterten Anlagen.
Fördermaßnahmen für Neubauten sind bereits vor-
handen, so zum Beispiel die Förderung im Rahmen der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“. Dort heißt es: „Förderungsfä-
hig sind betriebliche Investitionen zur Verbesserung der
Umweltbedingungen im Bereich der Landwirtschaft wie
Maßnahmen zur Förderung der Energieeinsparung und
-umstellung auf alternative Energiequellen, wie zum
Beispiel der Neubau energiesparender Gewächshäuser
einschließlich des hierfür notwendigen Abrisses alter
Anlagen, Wärme- und Kältedämmungsmaßnahmen,
Solaranlagen, Biomasse- und Biogasanlagen, Biomasse-
verfeuerung, die Umstellung der Heizanlagen auf um-
weltverträglichere Energieträger sowie Steuer- und Re-
geltechnik.“
Die Praxis zeigt jedoch, dass diese Fördermittel bis-
her nicht ausreichend genutzt werden. Bisher kommen in
Gartenbaubetrieben vorwiegend fossile Energieträger
zum Einsatz. Es ist an der Zeit, dass auch erneuerbare
Energieträger wie zum Beispiel Holzhackschnitzel oder
Pellets möglichst auch unter Nutzung der Kraft-Wärme-
Kopplung zur Anwendung kommen. Die Betriebe brau-
chen maßgeschneiderte Lösungen für die jeweilige Si-
tuation.
Es gibt in Deutschland Beispiele, die Mut machen. In
Schleswig-Holstein ist eine neuartige Kombination aus
einer Biogasanlage mit nachgeschaltetem Blockheiz-
kraftwerk und einem Holzheizkraftwerk mit innovativer
Organic-Rankine-Cycle(ORC)-Technik errichtet wor-
den. In dieser Biogasanlage mit nachgeschaltetem Holz-
heizkraftwerk werden Wärme und Strom produziert. Die
Wärme soll zum Betrieb von Gewächshäusern genutzt
werden, in denen unter anderem Tomaten angebaut wer-
den sollen. Besonders spannend ist die Nutzung des bei
der Verbrennung des Biogases frei werdenden CO2 zur
Düngung der Pflanzen. Der moderne Gemüseanbau be-
schleunigt mit einem gesteigerten CO2-Druck das
Wachstum der Pflanzen. Das Projekt wurde vom Bun-
deslandwirtschaftsministerium, der EU und dem Land
Schleswig-Holstein gefördert.
Wir brauchen mehr solche innovativen Projekte, um
den Unterglasanbau in Deutschland zu unterstützen und
den mittelständischen Betrieben die Wettbewerbssitua-
tion zu erleichtern. Die Politik muss hierfür die notwen-
digen Rahmenbedingungen schaffen. Der vorliegende
Antrag geht in die richtige Richtung, berücksichtigt aber
nur unzureichend die Ausnutzung bestehender Förder-
möglichkeiten und setzt keine innovativen Impulse. Des-
wegen werden wir uns enthalten.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Der vorlie-
gende Antrag der Grünen wendet sich einem energiepo-
litisch wichtigen Bereich der Land- und Lebensmittel-
wirtschaft zu. Der Anteil der Energiekosten für
Gewächshäuser am Gesamtaufwand der Gartenbaube-
triebe hat sich in den vergangenen Jahren drastisch er-
höht. So müssen Gärtnerinnen und Gärtner 10 Prozent
ihres jährlichen Umsatzes den Stromanbietern überwei-
12592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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sen. Das schadet ihrem Geldbeutel und der Umwelt. Än-
derungen wären also nicht nur im Hinblick auf eine Verbes-
serung der gärtnereiwirtschaftlichen Betriebsergebnisse
und eine Stärkung von Leben und Arbeit in den ländli-
chen Räumen – dort befinden sich Gärtnereien in der Re-
gel – sinnvoll, sondern vor allem auch aus ökologischen
Gründen.
Eine Energiewende weg von fossilen, hin zu ökolo-
gisch erzeugten erneuerbaren Energien kann allerdings
mittelfristig nur erreicht werden, wenn gleichzeitig der
Energiebedarf gesenkt wird, auch bzw. gerade in der
Landwirtschaft und in Gärtnereien. Dazu brauchen wir
mehr Forschung, wie die Grünen richtig erkennen.
Dabei bleiben einige Fragen offen: Wofür wird die
Energie eigentlich benötigt? Wie alt ist das Gewächs-
haus? Hat es einen Energieschirm? Wie wird die Fläche
ausgenutzt? Wie ist die Wärmeübertragung der Rohrlei-
tungen im Gewächshaus? Wie alt ist das Heizsystem und
welche Möglichkeiten eines Neubaus gibt es für die
Gärtnerei? Wie werden vorhandene Fördermöglichkei-
ten ausgenutzt? Was begrenzt die Nutzung der Förder-
programme?
Bis zu 90 Prozent des Energiebedarfs einer Gärtnerei
fallen beim Unterglasanbau an. Hier gibt es viele Mög-
lichkeiten, aktiv Energie einzusparen, aber sie zu nutzen
kostet Geld. Das Abdichten von Scheiben und Lüftun-
gen kann laut der Energieagentur in NRW bis zu
20 Prozent, die Erneuerung des Heizungssystems bis zu
15 Prozent Energie einsparen. Ein dicht installierter
Energieschirm zur Dämmung des Gewächshauses kann
den Energiebedarf bis zu 40 Prozent senken, kostet aller-
dings auch bis zu 20 Euro pro Quadratmeter. Aber ge-
rade Eigenkapital fehlt in der Agrarwirtschaft – speziell
in Ostdeutschland – bekanntlich an allen Ecken und En-
den. So gesehen ist das von den Grünen geforderte För-
derprogramm „Energiewende in Gewächshäusern“ in-
haltlich richtig. Dafür sollen in den nächsten fünf Jahren
25 Millionen Euro in Forschung, Entwicklung und Ener-
gieberatung fließen. So weit, so gut.
Aber neben Licht ist auch Schatten:
Erstens. Es ist ja nicht so, wie im Antrag suggeriert,
dass auf dem Gebiet nichts getan wird. Zahlreiche For-
schungsvorhaben befassen sich mit dieser Problematik.
Zum Beispiel wird an der Universität Leipzig unter-
sucht, wie Wärmeverluste von Gewächshäusern mini-
miert werden können.
Zweitens. Der Antrag zieht den Vergleich zu Garten-
baubetrieben in den Niederlanden, denen der niederlän-
dische Staat mit einem solchen Programm stützend unter
die Arme greift. Deshalb könnten wir doch nicht dahin-
ter zurückbleiben. Ist allerdings die niederländische
Gärtnerei wirklich mit der deutschen zu vergleichen?
Werden hier nicht holländische Birnen mit deutschen
Äpfeln verglichen? Das Pochen auf internationaler Wett-
bewerbsfähigkeit ist in diesem Kontext kein nachvoll-
ziehbares Argument.
Ein solches Förderprogramm sollte für die beteiligten
Betriebe mit ganz konkreten Pflichten einhergehen: Sie
müssen nicht nur generell weniger Energie verbrauchen,
sondern vor allem weniger fossil erzeugte Energie. Noch
immer wird hauptsächlich Öl oder Kohle zur Beheizung
der Gewächshäuser eingesetzt. Daher wurden die Gärt-
nerinnen und Gärtner vergangenes Jahr von der rückwir-
kenden Besteuerung ihres Mineralölverbrauchs hart ge-
troffen; die bisher übliche Rückerstattung blieb nämlich
aus: Kapital, das Betrieben zur Erneuerung und Moder-
nisierung ihrer Anlagen fehlt. Ein neues Förderpro-
gramm müsste genau dort ansetzen: weniger Öl, weniger
Energieverbrauch und mehr ökologisch erzeugte erneu-
erbare Energien. In einer Broschüre des Landes NRW
heißt es dazu:
Darüber hinaus ist für umweltbewusste Betriebe ein
deutlicher Imagegewinn festzustellen: Immer mehr
Endverbraucher wollen wissen, wo die Ware her-
kommt, die sie kaufen. Und ob sie umweltschonend
hergestellt wurde.
Denkbar wäre zudem eine Anpassung des Erneuer-
bare-Energien-Gesetzes. Noch immer wird in dezentra-
len Anlagen Strom aus Biogas ohne gleichzeitige Wärme-
nutzung erzeugt. Damit gehen gut 60 Prozent der in dem
aufwendig erzeugten Biogas enthaltenen Energie verlo-
ren. Gerade diese Abwärmenutzung ist ein idealer Ener-
gieträger für Gewächshausbetreiber, wie erste Projekte
zeigen. So wäre eine deutliche Erhöhung des Anreizes
für Gewächshausbetreiber durch die schon im Bundesrat
diskutierte Verdoppelung des BHKW-Bonus von 2 auf
4 Cent gegeben.
Wir unterstützen das Anliegen des Antrages, finden
ihn allerdings zu kleinteilig. Die Linke wird sich auf-
grund der genannten Kritikpunkte ihrer Stimme enthal-
ten.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als
bündnisgrüne Bundestagsfraktion fordern wir ein För-
derprogramm „Energiewende in Gewächshäusern“. Ziel
dieses Bundesprogramms soll es sein, den Energiever-
brauch im Unterglasanbau drastisch zu senken und den
Einsatz erneuerbarer Energien gezielt voranzubringen.
Für dieses Programm soll der Bund in den nächsten fünf
Jahren insgesamt 25 Millionen Euro bereitstellen.
Im Ausschuss wurde uns unterstellt, einen Show-
Antrag vorzulegen. Weit gefehlt: Wir haben entspre-
chende Haushaltsanträge vorgelegt. Insgeheim hatten
wir gehofft, dass die Koalitionsfraktionen das Anliegen
positiv aufgreifen würden. Denn auch sie müssen den
dringenden Energieförderbedarf im Unterglasgartenbau
erkannt haben. Aber offenbar ist der Großen Koalition
der deutsche Gartenbau nicht so viel Mühe wert. Ein
Verschieben des Problems auf den Haushalt 2009, wie
im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen ange-
regt, wird der schwierigen Situation des Gartenbaus
nicht gerecht.
Mit Ihrer Ablehnung lassen Sie die betroffenen Be-
triebe mit ihrem hohen Investitionsbedarf für moderne
Energietechnik allein. Angesichts hoher und weiter stei-
gender Energiekosten und der ausgelaufenen Energie-
steuererstattung müssen wir uns aber um die Wettbe-
werbsfähigkeit der Branche in der Tat Sorgen machen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12593
(A) (C)
(B) (D)
Weil der Unterglasanbau eine energieintensive Branche
ist, bedarf es eines schnellen Umstiegs auf alternative
Energieressourcen und effiziente Energienutzung, um
das Klima zu schützen und die Wettbewerbsfähigkeit des
Gartenbaus in Deutschland zu erhalten. Die Unterneh-
men müssen zügig investieren, um die laufenden Ener-
giekosten senken zu können. Aber viele Betriebe verfü-
gen nicht über das nötige Kapital für die hohen
Investitionen. Deswegen sind Bund und Länder gefor-
dert, mit einem gut ausgestatteten Förderprogramm für
einen schnellen Wechsel zu sorgen.
Es reicht nicht aus, die Betriebe an bestehende För-
derprogramme im Rahmen der GAK und der Landwirt-
schaftlichen Rentenbank zu verweisen, so wie Sie es ge-
tan haben. Diese Programme bestehen seit Jahren, ohne
dass sich an der Lage der Betriebe etwas Entscheidendes
geändert hätte. Das zeigt doch, dass eine neue Förder-
initiative mit anderen Förderkonditionen notwendig ist.
Außerdem sind neben zusätzlichen Investitionsförderun-
gen auch Mittel für die Energieberatung notwendig. Mit
mehr und besserer Energieberatung könnten dann auch
die bestehenden Förderprogramme besser genutzt wer-
den.
Nicht vergessen wollen wir auch, dass es gilt, die For-
schung und Entwicklung technischer Lösungen speziell
für den Unterglasgartenbau voranzubringen. Hier gibt es
sowohl im Bereich Energieeffizienz als auch der Einbin-
dung von Systemen der erneuerbaren Energien beson-
dere Anforderungen seitens der Branche. Auch hierfür
sollte der Bund zusätzliches Geld zur Verfügung stellen.
Den Investitionsbedarf macht auch ein Blick in die
Niederlande deutlich. Die dortige Regierung stellt
48 Millionen Euro für Investitionen in Energiesparmaß-
nahmen im Unterglasanbau zur Verfügung. Bis 2020
streben die Niederlande den energieneutralen Unterglas-
anbau an, in dem das Gewächshaus auch als Energie-
und Stromproduzent fungiert. Der Druck auf die Wettbe-
werbsposition des deutschen Unterglasanbaus wird sich
dadurch noch einmal erhöhen. Wenn Deutschland hier
mithalten und Arbeitplätze erhalten will, dann sind
25 Millionen Euro nicht zu viel.
Anlage 26
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Missbräuche im Be-
reich der Schönheitsoperationen gezielt verhin-
dern – Verbraucher umfassend schützen (Ta-
gesordnungspunkt 15)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Der Wunsch nach
Schönheit ist so alt wie die Menschheit selbst. „Wenn
ich zu wählen hätte, zwischen der Macht des persischen
Königs und körperlicher Schönheit, würde ich mich für
die Schönheit entscheiden“, schwor bereits der griechi-
sche Feldherr Xenophon vor mehr als 2 000 Jahren „bei
allen Göttern“.
Zu allen Zeiten trachteten die Menschen danach, be-
stimmten Schönheitsidealen zu entsprechen. Und sie
wussten sich zu helfen. Schon in den Ausgrabungsstät-
ten fanden sich Schminktiegel und Perückenteile.
Das Schönheitsbild hat sich seit der Antike verändert.
Aber auch die Methoden der Verschönerung. Seit den
ersten Nasenoperationen vor 400 Jahren hat sich die
Schönheitschirurgie in Quantensprüngen entwickelt.
Maßgeschneiderte Schönheit – ein Traum scheint wahr
zu werden, der Schlüssel zu Glück und Erfolg gefunden.
Denn die sozialwissenschaftliche Forschung belegt:
Schönheit öffnet Tür und Tor und zwar von Geburt an.
Hübsche Babys erfahren mehr Zärtlichkeit und Zuwen-
dung. Hübsche Kinder werden in der Schule stärker ge-
fördert und seltener bestraft. Diese Bevorzugung setzt
sich bis ins Alter fort. Schöne Menschen haben nicht nur
bessere Chancen beim anderen Geschlecht, sondern
auch größere Erfolge auf dem Arbeitsmarkt. Schönheit
ist ein Wettbewerbsfaktor und damit bares Geld wert.
Es heißt zwar: „Wahre Schönheit kommt von innen“.
Aber es bedarf eines gehörigen Selbstbewusstseins, um
diese Weisheit auch zu leben. Und wem es daran man-
gelt, behilft sich mit der Erkenntnis von Goethe: „Schön-
heit ist überall ein gar willkommener Gast.“ Und hilft
nach – mit den Mitteln der Schönheitschirurgie.
Jede Veränderung, alles scheint möglich und zwar
ohne Risiko. Nur ein, zwei kleine Schnitte, hier ein we-
nig Fett abgesaugt, dort ein Polster eingesetzt, an anderer
Stelle ein Faltenmittel injiziert. Der Gang zum Schön-
heitschirurgen erscheint so unkompliziert wie der Be-
such des Friseurs. Und Träume scheinen wahr zu wer-
den.
Ist der Bundestag der richtige Ort, um über Träume zu
reden? Gibt es nicht wichtigere Fragen, mit denen sich
die Politik beschäftigen sollte? Mit diesen Fragen sahen
wir uns als CDU/CSU-Fraktion im Dezember 2003 kon-
frontiert. Damals thematisierten wir erstmal bundespoli-
tisch den Patienten- und Verbraucherschutz bei Schön-
heitsoperationen durch eine Anfrage an die damalige
Bundesregierung.
Betroffene und Verbände hatten im Vorfeld Miss-
stände problematisiert. Die Beratung vor Operationen
sei unzureichend. Der Begriff Schönheitschirurg sei
nicht geschützt. Deshalb würden Eingriffe auch ohne die
erforderliche fachliche Qualifikation durchgeführt. Be-
troffen sei eine zunehmende Anzahl an Patienten. Es
gäbe offene Rechtsfragen.
Wir haben diese Hinweise ernst genommen. Leider
standen wir damit anfangs sehr alleine da. Die damalige
rot-grüne Bundesregierung beantwortete unsere Anfrage
eher lieblos, erklärte sich im Wesentlichen für unzustän-
dig und verwies im Übrigen auf das Fehlen aussagekräf-
tiger Daten. Aber unser Kollege Dr. Hans Georg Faust
und ich fanden auch Verbündete: in fachärztlichen Verei-
nigungen wie der vormaligen Vereinigung der Deutschen
Plastischen Chirurgen, heute der Deutschen Gesellschaft
der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chi-
rurgen, in engagierten Vorkämpferinnen wie Dr. med.
Marita Eisenmann-Klein und Dr. med. Constance
Neuhann-Lorenz und in der Bundesärztekammer. Diese
12594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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rief daraufhin im Jahr 2004 die „Koalition gegen den
Schönheitswahn“ ins Leben.
Es war jedoch weitere Überzeugungsarbeit zu leisten.
Denn ein Vorurteil hielt sich hartnäckig: Das ist ein
Thema, das nur einige – vornehmlich ausländische –
Filmstars betrifft, also kein Problem.
Weit gefehlt. Es existieren zwar nicht so viele Zahlen
wie in anderen Bereichen. Denn nicht jeder Mediziner
gibt gerne seine Daten preis. Und die Grauzone ist er-
heblich. Aber die vorliegenden Daten zeichnen ein ein-
deutiges Bild: Eine Schönheitsoperation ist heute keine
Ausnahme mehr.
Je nach Schätzung werden in Deutschland zwischen
500 000 und 1 Million ästhetische Eingriffe und Opera-
tionen pro Jahr durchgeführt. Die Dunkelziffer ist hoch,
da Eingriffe von Ärzten ohne Facharztausbildung oder
von Heilpraktikern nicht erfasst werden. Auch die Ein-
griffe, die im Rahmen eines Schönheitsoperationstouris-
mus in Nachbarländern wie Tschechien etc. durchge-
führt werden, können kaum erfasst werden.
Von der Altenpflegerin bis zum Ingenieur – die Pa-
tienten kommen aus einem breiten gesellschaftlichen
Spektrum. Dies belegt eine in diesem Jahr vorgelegte
Forschungsstudie im Auftrag der Bundesanstalt für
Landwirtschaft und Ernährung. Danach belaufen sich
die Kosten pro Eingriff auf bis zu 12 000 Euro. Dies
lässt auf einen Gesamtmarkt von rund 700 Millionen
Euro pro Jahr schließen. Gewerblich organisierte Anbie-
ter führen von der Lidstraffung über die Kinnplastik bis
hin zur Fettabsaugung fast alle Arten ästhetischer Ein-
griffe durch. Die Patienten werden immer jünger. So
weist vor allem die Gruppe der 20- bis 29-jährigen
Frauen die höchste Rate bei Brustvergrößerungen auf.
Selbst in der Altersgruppe von 9 bis 14 Jahren spricht
man über das Thema. Der Wunsch nach einem „neuen
Busen“ zum Schulabschluss oder zu Weihnachten ist
keine Ausnahme mehr.
Zunehmend bedrängen Jugendliche ihre Eltern mit
dem Wunsch nach maßgeschneiderter Schönheit. Meiner
Fraktion und mir geht es um den Schutz dieser Jugendli-
chen – auch vor sich selbst.
Denn manche Eltern stehen diesem Druck hilflos ge-
genüber, auch weil diese das vermeintlich Beste für ihre
Kinder wollen. „Hauptsache, meine Tochter ist glück-
lich“, so wird die Mutter von Aylin zitiert – BILD
19. Dezember 2005 – die ihrer Tochter zu Weihnachten
eine Brustvergrößerung, Lippenaufspritzung, Fettabsau-
gung an Bauch und Beinen finanzierte. Aylin war zu die-
sem Zeitpunkt 19.
Aber Schönheitsoperationen werden auch schon an
Minderjährigen mit Einwilligung ihrer Eltern durchge-
führt. Verstärkt wird diese Entwicklung auch durch die
Berichterstattung in den Medien, nach der sich mit
Schönheit jedes Ziel erreichen lässt und in jedem ein
„Model“ schlummert, wenn er, sie es nur will. Das
Thema wird ausgeschlachtet.
Die beliebten Vorher-Nachher-Bilder sind jetzt zwar
seit einer Änderung des Heilmittelwerbegesetzes verbo-
ten. Aber Formate wie „I want a Famous Face“ oder
„Der Schwan – endlich schön“ faszinieren – und erzeu-
gen den Eindruck, zum Star operiert werden zu können.
Körperliche Maßarbeit wird mit Erfolg und Glück
gleichgesetzt. Aber auch die gelungenste ästhetische
Operation wird mangelndes Selbstwertgefühl nicht er-
setzen können, insbesondere dann nicht, wenn das
Krankheitsbild der Dysmorphophobie vorliegt. Selbst
wenn diese Störung nicht vorliegt: wie fühlt es sich an,
wenn die eigene Persönlichkeit nicht mehr zur äußeren
Hülle passt? „Man braucht fünf Jahre, um sein Gesicht
wiederzubekommen. Es muß neu eingeweint, einge-
lacht, eingedacht und eingefühlt werden.“ So schilderte
die Schauspielerin Hildegard Knef die Folgen ihrer Ge-
sichtshautstraffung.
Und: nicht jede Schönheitsoperation gelingt. Jede
Operation birgt das Risiko von Komplikationen – im Ex-
tremfall bis zum Tod. Allein in Deutschland starben laut
einer Studie der Ruhr-Universität in den Jahren 1998 bis
2002 16 Patienten als Folge einer Fettabsaugung. Sili-
konbusen müssen nachoperiert werden. Faltenspritzen
können Hängelider verursachen. Und vieles mehr.
Die Betroffenen wagen häufig noch nicht einmal, mit
dem eigenen Partner, Freunden oder Bekannten zu re-
den. Sie fürchten die Reaktion „Du hast ja selbst
schuld“. Eine Schadensersatzforderung wird erst recht
nicht geltend gemacht, denn diese wäre mit Öffentlich-
keit verbunden. Davon profitieren die schwarzen Schafe
unter den Ärzten. Und es gibt sie.
Denn nicht jeder unterzieht sich der anspruchsvollen
Ausbildung zum „Facharzt für plastische/ästhetische
Chirurgie“ oder absolviert die Weiterbildung „Plastische
Operationen“. Und es ist auch leider nicht erforderlich.
Die Approbation allein reicht, um sich selbst zum
Schönheitschirurgen zu ernennen. Und diese Möglich-
keit wird genutzt.
Ich habe mit Betroffenen gesprochen, Bilder gesehen
wie die einer Patientin, deren Operateur sich in einem
anderthalbtägigen Tageskurs zum Spezialisten für Fett-
absaugungen ausbilden ließ. Nach Injektion von 27 Li-
tern Flüssigkeit ins Gewebe entfernte der Operateur
24,8 Liter Fettgewebe in einer 14-stündigen Operation.
Die Patientin hat knapp überlebt und ist nach wie vor
von ihrer Wunschfigur weit entfernt.
Und es gibt weitere Missstände. So berichten Ver-
braucherzentralen wie Verbände wie der Patientenschutz
e. V., dass unzulässige Pauschalhonorare vereinbart wer-
den. Für den Erstkontakt oder einen Erstberatungstermin
müssen nicht selten Termingebühren in beträchtlicher
Höhe im Voraus gezahlt werden. Und diese beklagen
den nicht ausreichenden Versicherungsschutz. Denn an-
ders als bei Rechtsanwälten wird die Zulassung eines
Arztes nicht an den Nachweis einer Haftpflichtversiche-
rung geknüpft.
Wildwest pur – dieser Eindruck muss entstehen. Ge-
rade weil der Gegensatz zu den verantwortungsvollen
Fachärzten, die es eben auch gibt, die bestens ausgebil-
det sind und sorgfältig operieren, so groß ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12595
(A) (C)
(B) (D)
Es besteht offensichtlicher Handlungsbedarf. Eine
Anhörung muss ergeben, wie groß dieser ist und auf
welchen Feldern er besteht. Dieser Antrag legt die
Grundlage für die entsprechende parlamentarische Be-
fassung.
Deshalb bin ich froh und dankbar, dass meine Fraktion
sich seinerzeit von den Widerständen nicht hat entmuti-
gen lassen, sondern mich und Dr. Hans Georg Faust be-
gleitet hat. Denn unsere Kolleginnen und Kollegen,
voran unsere Gruppe der Frauen, haben ihre Verantwor-
tung für diejenigen erkannt, die sich auf den Weg zu einer
Schönheitsoperation machen. Wer sich nach reiflicher
Überlegung für eine Schönheitsoperation entscheidet,
sollte diesen Weg gehen können, ohne dass hinter vorge-
haltener Hand darüber getuschelt wird.
Wichtig ist allein, dass die Patienten wissen, was sie
tun; dass Ärzte umfassend aufklären; dass sie sorgfältig
operieren; dass sie versichert sind – und dass Kinder und
Jugendliche nur dann behandelt werden, wenn wirklich
ein medizinischer Grund vorliegt.
Denn Schönheit ist eben doch nicht alles.
Mechthild Rawert (SPD): Die meisten Menschen
wollen schön sein! Wer kennt diese Eitelkeiten nicht an
sich selbst! Die Schönheitschirurgie erfreut sich in
Deutschland einer großen Beliebtheit. Der Markt für die
„Verbesserung oder Veränderung von Körperformen
durch operative Eingriffe ohne medizinische Notwen-
digkeit im Sinne des Krankenversicherungsrechts“
(Schönheitschirurgie laut Verständnis des Bundesge-
sundheitsministeriums) boomt. Laut der Ärzte-Zeitung
(10. März 2006) ist die „Ästhetische Medizin (…) ein
Milliarden Markt“: Der Umsatz wird in Deutschland
mittlerweile auf jährlich 5 Milliarden Euro geschätzt, da-
von circa 800 Millionen Euro auf plastische Operatio-
nen, die nicht primär medizinisch indiziert sind. Dabei
sind nicht nur die Frauen Vorreiterinnen, sondern auch
die Männer lassen sich Fett absaugen, Falten behandeln,
die Nase oder das Kinn korrigieren. Auch Kinder sind
vor der „Schönheit aus der zweiten Hand“ nicht gefeit:
Laut einer Umfrage des Kinderbarometers der LBS-Ini-
tiative „Junge Familie“ wünschen sich jedes 5. Kind der
unter 9- bis 14-Jährigen eine schönheitsoperative Be-
handlung des eigenen Aussehens. Wünschen heißt aber
noch nicht durchführen. Hier haben Eltern eine heraus-
gehobene Verantwortung: Nicht nur bei der Lenkung
realer erfüllbarer Wünsche, sondern auch als diejenigen,
die schließlich einen Behandlungsvertrag unterschreiben
müssen und die Kosten tragen. Der Anteil der Jugendli-
chen beiderlei Geschlechts wächst, die sich mithilfe der
Schönheit produzierenden operativen Eingriffe auf ein
allgegenwärtiges Schönheitsideal trimmen wollen. Ju-
gendliche fühlen sich durch dieses Schönheitsideal ei-
nem enormen Druck ausgesetzt. Dabei sind nicht mehr
nur Stars die Vorbilder, sondern durch computerretu-
schierte Fotos wird der eigene Körper zu einem „perfek-
ten Körper“ imaginiert und ein „unrealistisches Bild“
soll zur Wirklichkeit werden. Der Weg der Jugendlichen
in ihrem Prozess zur Selbstfindung und Identitätsbildung
wird dadurch nicht einfacher. Denn es gibt Tage im Le-
ben, da zweifeln wir alle an unserer Attraktivität. Nor-
malerweise gehen diese Phasen auch im Leben eines
oder einer Jugendlichen wieder vorbei und die Frage, ob
der Busen zu klein oder groß und die Nase zu breit oder
zu lang ist, wird später mit Gelassenheit ertragen. Damit
dieser identitätsstiftende Weg von allen Jugendlichen ge-
meistert werden kann, sind wir alle gefordert als Eltern,
als Lehrerinnen und Lehrer, als Politikerinnen und Poli-
tiker.
Nicht selten aber lastet auf jungen Menschen der
Druck, schöner, schlanker – das heißt perfekter sein zu
müssen. Das Gefühl, dem gängigen, durch die Medien
produzierten Schönheitsideal nicht zu entsprechen, min-
dert den Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstwertge-
fühl. Es kommt zu Essstörungen, Fitnesswahn und dem
unbedingten Wunsch nach einer Schönheitsoperation,
denn der eigene „un-perfekte“ Körper wird abgelehnt.
Junge Menschen unterziehen sich vor laufender Kamera
einer Schönheitschirurgie – immer in der Hoffnung, dass
sie danach ein Leben als „The Swan“ (der Schwan)
– vom unbeachteten Teenager zum stolzen Schwan – le-
ben können. Die Zurschaustellung und Vermarktung der
Schönheitschirurgie hatte mit dieser Sendung einen ab-
solut unrühmlichen Höhepunkt in den Medien erreicht.
Mit der Not und der Hoffnung auf Akzeptanz und Aner-
kennung wurde kalkuliert Geschäftemacherei betrieben.
Mittlerweile ist bekannt, dass postoperative Nachwir-
kungen und Komplikationen (unter anderem Taubheits-
gefühle, Schwellungen, Blutergüsse, deutliche Narben,
Unregelmäßigkeiten/Dellen, Nachblutungen) bei 22 Pro-
zent der Frauen und 8 Prozent der Männer auftreten. Ein
weiterer operativer Eingriff ist dann häufig die Folge. Es
gibt nachweislich auch Todesfälle infolge von schön-
heitschirurgischen Eingriffen.
Zu Recht hatte daher im Anschluss an „The Swan“
der Niedersächsische Frauenrat in einer großen Unter-
schriftsaktion die Programmverantwortlichen von Fern-
sehsendern kategorisch gefordert, solche Sendungen zu
unterlassen, die wegen ihres Showcharakters irrationale
Hoffnungen wecken, unrealistische Schönheitsideale
propagieren und vor allem auch die Risiken durch medi-
zinische Eingriffe und Operationen verharmlosen und
mögliche Komplikationen im Anschluss daran vollstän-
dig negieren. Auch die Bundesärztekammer wurde ini-
tiativ und hat eine „Koalition gegen den Schönheits-
wahn“ gegründet, unter anderem unterstützt auch vom
Deutschen Ärztetag sowie Initiativen und politisch Akti-
ven. Das Bundesgesundheitsministerium hat sofort gesetz-
geberische Konsequenzen gezogen: „Schönheitsoperatio-
nen“ wurden in die Änderung des Heilmittelwerbegesetzes
aufgenommen. Das Heilmittelwerbegesetz untersagt ir-
reführende und ethisch bedenkliche Werbung. Darüber
hinaus hat das Bundesgesundheitsministerium unter ande-
rem die Informationsbroschüre Spieglein, Spieglein …
vorgestellt. Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung hat sich verstärkt der Aufgabe gestellt, Fra-
gen der Körperwahrnehmung und des Schönheitsideals
in Schulen und anderen Settings zu thematisieren. Im
Forschungsprojekt „Schönheitsoperationen: Daten, Pro-
blem, Rechtsfragen“ (veröffentlicht am 16. Juli 2007
durch das BMELV) wurden – meines Wissens nach
12596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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erstmalig – im Rahmen einer Angebotsanalyse, einer
Befragung von Verbraucherinnen und Verbrauchern so-
wie einer Evaluation verbraucherpolitischer Maßnahmen
eine Marktanalyse und ein fundierter Überblick über die
tatsächliche Inanspruchnahme dieser Dienstleistung, die
für Verbraucherinnen und Verbrauchern daraus resultie-
renden Probleme als auch den tatsächlich daraus resul-
tierenden gesellschaftlichen Folgekosten erstellt. Zu
Recht wird auch der Frage nachgegangen, wer denn nun
die Nachfragerinnen und Nachfrager von „Schönheits-
operationen“ sind: Sind es Patientinnen und Patienten
oder sind es Kundinnen und Kunden? Die Begrifflich-
keit ist deshalb von Bedeutung, da diese Begrifflichkei-
ten in der Bevölkerung unterschiedliche Assoziationen
hervorrufen. Darüber hinaus sind diese Rollen auch un-
terschiedlichen Erwartungen und Verhaltensweisen hin-
sichtlicht der Aufklärungspflicht, der berufsrechtlichen
Regelungen, dem Haftungsschutz etc. verbunden. Für
Kundinnen und Kunden gilt der Verbraucherschutz. Bei
unserem Antrag „Missbräuche im Bereich der Schön-
heitschirurgie gezielt verhindern – Verbraucher umfas-
send schützen“ geht es nicht nur um den Schutz Minder-
jähriger sondern aller Nutzer und Nutzerinnen der
Schönheitschirurgie.
Wir können davon ausgehen, dass die Schönheitschir-
urgie ein zunehmend gewerblicher Markt mit den ent-
sprechenden Regeln wird. Aber auch hier gilt: Qualität
und Qualitätssicherung sind eine wesentliche Vorausset-
zung für das erhoffte risikofreie Ergebnis schönheits-
chirurgischer Eingriffe. Da diese in der Regel ohne me-
dizinische Indikation erfolgen, sondern auf einer quasi
privatrechtlichen Absprache zwischen Patientin und Pa-
tient (Kundin und Kunde) und der Ärztin/dem Arzt als
Leistungserbringerin und Leistungserbringer, greifen die
Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen der Kranken-
kassen aber nur eingeschränkt. Dieses ist vielen Men-
schen nicht bekannt. Das ärztliche Berufsrecht umfasst
die Frage nach den beruflichen Kompetenzen und An-
forderungen an Ärzte. Die Kontrolle obliegt den Län-
dern, die zumeist in ihren Kammer- und Heilberufsgeset-
zen die Ausgestaltung den Ärztekammern übertragen
haben. Ich erwarte im Interesse von uns allen von den
entsprechenden Akteuren, eine stärkere Befassung mit
diesem teilweise vorhandenen „grauen Markt“ der
Schönheitschirurgie. Auch die Kontrolle und Überwa-
chung der vielfältigen Angebote ist verstärkt zu überwa-
chen und bei Zuwiderhandeln gegen Qualitätsstandards
mit entsprechenden Sanktionen zu versehen. Nach wie
vor ist beispielsweise richtig: „Fettabsaugung“ ist kein
Friseurbesuch, sondern muss von einem sehr gut ausge-
bildeten Operateur durchgeführt werden, sonst sind
hässliche, oft irreparable Schäden (Dellen) die Folge.
Nicht immer ist aber tatsächlich eine fundierte Ausbil-
dung gegeben. Positiv erwähnen möchte ich die Landes-
ärztekammer Nordrhein-Westfalen, die allgemeine In-
formationen ins Netz gestellt hat und dabei auch auf die
haftungsrechtlichen Konsequenzen verwiesen hat. Mitt-
lerweile hat sich eine Expertenkommission zum „Quali-
tätsmanagement in der Ästhetischen Medizin“ bei der
„Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wiederher-
stellungschirugie“ gebildet. Sie wird Qualitätsstandards
entwickeln, die später auch zur Grundlage für die Aus-
bildung der Ärzte und Ärztinnen in der Ästhetischen
Medizin werden können und aktuelle Missstände helfen
zu beseitigen. Solche Standardsetzungen unterstützen
wir. Wir wollen, dass Personen, die in der Schönheitsme-
dizin tätig sind, verpflichtet werden, eine umfassende
Haftpflichtversicherung abzuschließen. Denn bisher ist
der Abschluss einer entsprechenden Haftpflichtversiche-
rung lediglich eine standesrechtliche Berufspflicht, und
nur in einigen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen
ist sie gesetzlich vorgeschrieben. Hier besteht aufseiten
der Länder Handlungsbedarf. Das Heilmittelwerbege-
setz zeigt Wirkung, die aggressive Werbung in diesem
Bereich ist zurückgegangen. Die Folgebehandlungen
missglückter Eingriffe belasten nicht nur die geschädig-
ten Personen selbst, sondern auch die Solidargemein-
schaft der Krankenversicherten. Im Gesetz zur Stärkung
des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung wurde geregelt, dass Versicherte, die sich in der
Folge einer Schönheitsoperation eine Krankheit zugezo-
gen haben, bei den dadurch entstehenden Behandlungs-
kosten in angemessener Höhe von der Krankenkasse zu
beteiligen sind. So kann unter anderem das Krankengeld
für die Dauer der Behandlung ganz oder teilweise ver-
sagt oder zurückgefordert werden.
Zwischen der ärztlichen Selbstverwaltung und den
Krankenkassen wurde aktuell einvernehmlich geklärt,
dass seitens der Medizinerinnen und Mediziner aus-
schließlich die Folgebehandlungen von Schönheitschir-
urgie, Piercing- und Tatoobehandlungen an die Kranken-
kassen zu melden sind. Diese klare Regelung stellt
sicher, dass ein Konflikt im Ärztinnen- und Arzt- und
Patientinnen- und Patient-Verhältnis nicht entsteht, das
Vertrauensverhältnis bestehen bleibt. Ich gehe selbstver-
ständlich davon aus, dass im Vorfeld eines schönheits-
chirurgischen Eingriffs eine entsprechende Beratung und
Aufklärung der Verbraucherinnen und Verbraucher bzw.
Kundinnen und Kunden durch die Behandelnden statt-
findet. Unseres Erachtens kann nur ein insgesamt be-
wussterer Umgang mit der eigenen Gesundheit und mit
den Ressourcen des Gesundheitswesen dazu führen, un-
ser Gesundheitswesen zu erhalten.
Dr. Konrad Schily (FDP): Die sogenannte Schön-
heitschirurgie gehört in die wunscherfüllende Medizin.
Darunter versteht man ärztliche Eingriffe und Verfahren,
die nicht in Abwehr einer Krankheit oder eines anderen
schädlichen Einflusses von außen auf den Menschen zu-
kommen, sondern ärztliche Eingriffe oder Verfahren, die
einen Wunsch der Patienten nach Veränderung ihrer kör-
perlichen Verfassung zur Erfüllung verhelfen sollen.
Das Verführungspotenzial einer solchen Medizin ist
groß. Wer möchte nicht einen wohlgestalteten Leib ha-
ben – Chirurgie – oder die besten sportlichen Leistungen
erbringen – Dopingmittel – oder der Sorgen enthoben
sein – Pharmaka?
Bei der Schönheitschirurgie sind die Übergänge zwi-
schen Erfüllung von ästhetischen Wünschen und medizi-
nisch Nötigem fließend. Individuell empfundene Störun-
gen des äußeren Erscheinungsbilds können heute
behoben werden. Aber es gibt auch Fehlbildungen, die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12597
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eine medizinische Indikation zur chirurgischen Korrek-
tur darstellen.
Wenn Sie zum Beispiel eine spitz nach oben zulau-
fende Nase haben, die zwar Ihre familiäre Ähnlichkeit
unterstreicht, unter der Sie aber leiden, dann kann ein
Eingriff notwendig sein. Was auch immer die Ursache
ist, sie kann für die Erscheinung so bestimmend sein,
dass sie aus ärztlichen Gründen einer Korrektur bedarf.
Das heißt, es muss immer eine ärztliche Entscheidung
sein, ob wir es mit der Therapie einer Krankheit oder
eben mit wunscherfüllender Medizin zu tun haben.
Aber bei der wunscherfüllenden Medizin, genauso
wie bei jedem anderen medizinischen Eingriff, muss die
Qualität gewahrt bleiben, damit der Traum von der
Schönheit nicht in einem Albtraum endet. Daher ist es
durchaus besorgniserregend, wenn man von der steigen-
den Zahl von schönheitschirurgischen Eingriffen hört,
die von Ärzten ohne diesbezügliche Zusatzqualifikation
vorgenommen werden. Dazu kommt, dass das Risiko
von Fehlbildungen und schweren Gesundheitsschädi-
gungen steigt. Die Zielrichtung des zugrunde liegenden
Antrags, hier für höhere Qualität und Sicherheit für die
Betroffenen zu sorgen, ist daher zu begrüßen.
Um ärztlichem Missbrauch vorzubeugen, sollte da-
rüber hinaus aber auch auf eine europäische Ärzteverein-
barung hingewirkt werden, in der die in diesem Bereich
arbeitenden Ärzte verpflichtet werden, vor jedem Ein-
griff die Zweitmeinung eines Kollegen einzuholen, und
zudem zu einer deutlichen Dokumentation verpflichtet
werden, wie auch zu einer umfangreichen Haftungssi-
cherung. Dies gehört in meinen Augen zu einem qualita-
tiven und verantwortungsvollen Umgang mit wunsch-
erfüllender Medizin in der Ärzteschaft, die sich diesem
Anspruch stellen muss.
Ob es sich um medial vermittelte kurzfristige Mode-
trends oder um langfristige Veränderungen der Ästhetik
in der Gesellschaft handelt – die Ursache des Phäno-
mens, dass immer mehr Jugendliche schönheitschirurgi-
sche Eingriffe wünschen, kann hier nicht abschließend
geklärt werden. Zu bedenken sind aus medizinischer
Sicht die Auswirkungen auf den im Wachstum befindli-
chen Körper und die weitere psychische Entwicklung.
Zwar ist rechtlich derzeit ein Eingriff nur unter Vorlie-
gen einer Einwilligungserklärung der Erziehungsberech-
tigten möglich, doch sollten wir uns aus Sorge um das
körperliche und geistige Wohl der Minderjährigen über-
legen, ob dies ausreichen kann. Die Eingriffe wirken
sich bei Minderjährigen viel schwerwiegender aus als
bei Erwachsenen und können zu einer massiven Schädi-
gung der weiteren Entwicklung führen.
Meines Erachtens sollte man daher eine medizinisch
qualifizierte Zweitmeinung vor dem Eingriff fordern.
Die Zweitmeinung ist nicht nur bei Minderjährigen
wichtig, da es fließende Übergänge gibt. Ein kieferortho-
pädischer Eingriff etwa kann notwendig werden durch
eine mehr oder weniger massive Fehlstellung des Gebis-
ses, durch funktionsbeeinträchtigende Fehlstellungen
oder durch massive kosmetische Beeinträchtigungen.
Oder er kann vom Patienten gewünscht werden, weil
er zum Beispiel auf Bühnen oder im Film oder ähnli-
chem tätig ist und entsprechenden Schönheitsidealen ge-
nügen möchte.
Zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Schön-
heitsoperationen gehört es auch, umfassend zu doku-
mentieren und über die weit reichenden Risiken aufzu-
klären, die mit solchen Eingriffen verbunden sind. Eine
öffentliche Diskussion halte ich für wichtig, gerade
wenn es um den Schutz der Minderjährigen geht.
Frank Spieth (DIE LINKE): „Missbräuche im Be-
reich der Schönheitsoperationen gezielt verhindern –
Verbraucher umfassend schützen“: Das ist der schöne
Titel dieses Antrages. Natürlich will niemand Missbräu-
che in der Schönheitschirurgie oder in einem anderen
Bereich des Medizinbetriebes. Natürlich sind auch wir,
die Fraktion Die Linke, für einen umfassenden Patien-
tenschutz. Wenn also in dem Antrag das drinstecken
würde, was draufsteht, würden wir dem gerne zustim-
men.
Einige Punkte gefallen mir recht gut. Jedoch sind gute
Ideen noch keine konkrete Politik. Beispiel: Oft laufen
Schadensersatzansprüche der Patienten nach missglück-
ten Schönheitsoperationen ins Leere, weil die Opera-
teure keine Versicherung haben und zudem privat nicht
ausreichend zahlungsfähig sind. Daher wird gefordert,
dass Ärzte, die operieren, über eine entsprechende Haft-
pflichtversicherung verfügen müssen. Das ist zu begrü-
ßen. Ungeklärt bleibt jedoch, wie diese Schadensersatz-
ansprüche – auch bei anderen ärztlichen Fehlern – von
armen Patienten vor Gericht durchgesetzt werden sollen.
Es sollen Verbote für medizinisch nicht indizierte äs-
thetische Operationen Minderjähriger geprüft werden.
Es ist aber meines Erachtens nicht ausreichend, wenn die
Eltern einem solchen Wunsch ihrer minderjährigen Kin-
der zustimmen. Teenager sollen sich eben nicht mit el-
terlichem Segen zum Realschulabschluss einen neuen
Busen oder eine neue Nase operieren lassen können. Die
Beteiligten sind in der Regel nicht in der Lage, die Fol-
gen einer solchen Operation abzuschätzen. Der Antrag
fordert aber kein Verbot, sondern lediglich, dass die
Bundesregierung das Handeln der Operateure „kritisch
beobachten“ soll. Der Antrag hält nicht, was er ver-
spricht. Es bleibt bei wirkungslosen Appellen an die Me-
dien, die Ärzte, die Bundesregierung und die Länder.
Appelle reichen aber nicht.
Was ist von der Aufforderung zu halten, dass Bundes-
regierung und Länder die Medien zu einem „verantwor-
tungsvollen Umgang mit dem Thema Schönheitsopera-
tionen“ bringen sollen? Welcher Privatsender wird
angesichts des großen Konkurrenzdruckes dem folgen?
In einer Medienanalyse hat das Institut für Kommunika-
tionswissenschaft und Medienforschung der Universität
München innerhalb von vier Monaten 105 Sendungen
über Schönheits-OPs ausfindig machen können, fast alle
auf Privatsendern. Eine Studie der American Society of
Plastic Surgeons – ASPS – ergab, dass 57 Prozent der
Schönheitschirurgiepatienten große Fans solcher Shows
waren und mindestens eine zum Zeitpunkt der Untersu-
12598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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chung laufende Serie verfolgten. Die Freiwillige Selbst-
kontrolle des Privatfernsehens in Deutschland wehrt sich
derzeit gerichtlich gegen Beschränkungen, etwa das Ver-
bot, entsprechende Sendungen vor 23 Uhr zu zeigen, wie
es die Kommission für Jugendmedienschutz will. Wirk-
same Maßnahmen sind gefragt und keine weichgespül-
ten Appelle.
Nach dem vorliegenden Antrag sollen die Ärztever-
bände eine Aufklärungsbroschüre zu Schönheits-OPs er-
stellen. Inhaltlich kann ich da zustimmen. Leider verlie-
ren Sie kein Wort darüber, wie Ihr Wunsch an die Ärzte
durchgesetzt werden soll.
Auch an die Länder gibt es – das liegt in der Natur der
Sache – nur Appelle; schließlich kann der Bundestag
schon verfassungsrechtlich den Ländern nicht vorschrei-
ben, was sie tun und lassen sollen. Die Länder sollen
nach dem Willen der Koalition das Geschehen auf dem
Markt der Schönheitschirurgie beobachten. Ein solcher
Aufruf mag inhaltlich in Ordnung sein, aus bekannten
rechtlichen Gründen bleibt der Koalitionsantrag auch in
diesem Punkt wirkungslos.
Der Antrag kritisiert zwar in seiner lang gehaltenen
Einleitung die Tatsache, dass auch Ärzte ohne die ent-
sprechende mehrjährige Fortbildung in plastischer Chir-
urgie Schönheitsoperationen durchführen dürfen. In
Deutschland darf jeder approbierte Arzt operieren, also
auch Schönheitsoperationen durchführen, ob Kardio-
loge, Anästhesist, Hausarzt oder Gynäkologe. Wer dann
aber im Antrag der Koalition eine Forderung oder einen
Lösungsvorschlag sucht, mit dem sich der Zustand än-
dern würde, der reibt sich enttäuscht die Augen.
CDU/CSU und SPD nutzen die Debatte zur Schön-
heitschirurgie zu etwas ganz anderem: Sie wollen bei
diesem Thema ihre unsolidarische Regelung zum Selbst-
verschulden, die sie mit dem GKV-Wettbewerbsstär-
kungsgesetz – GKV-WSG – eingeführt hatten und die
sie von der Öffentlichkeit unbemerkt mit ihrem Gesetz
zur Pflegeversicherung scharf stellen, in ein gutes Licht
rücken. Sie haben im GKV-WSG geregelt, dass Versi-
cherte an den Kosten für Behandlungen, die sie durch
medizinisch nicht indizierte Maßnahmen selbst verur-
sacht haben, beteiligt werden. Dafür ist jedoch erforder-
lich, dass der Arzt der Krankenkasse mitteilt, dass ein
sogenanntes Selbstverschulden vorliegt. Dies ist bei Ta-
toos, Piercings und Schönheitsoperationen der Fall.
Diese konkrete Verpflichtung des Arztes zum Brechen
seiner Schweigepflicht gibt es bisher nicht, soll jetzt aber
zusammen mit dem Pflegegesetz verabschiedet werden.
Der Arzt soll nach dem Willen der Koalition zum Ge-
sundheitsspitzel werden.
Konkret: Wenn sich wegen eines Piercings eine Ent-
zündung herausbildet, muss der Versicherte die Behand-
lungskosten selbst tragen. In diesem Fall handelt es sich
meist um eine Bagatellerkrankung, für die oft keine
ärztliche Behandlung notwendig ist. Wenn aber bei
Schönheitsoperationen – etwa nach dem Fettabsaugen
Schmerzen – Infektionen, Blutungen oder gar eine Lun-
genembolie auftreten, dann können auch lebenswichtige,
„selbstverschuldete“ Therapien den Patienten schnell fi-
nanziell überfordern.
Die Bundesregierung bauscht mit dieser Regelung ein
vollkommen nebensächliches Problem des Gesundheits-
wesens auf. Warum? Weil damit ein neues Prinzip in die
gesetzliche Krankenversicherung eingeführt werden
soll: das Selbstverschulden. Es wird ein neues Stellrad in
der Gesundheitspolitik geschaffen, an dem man zukünf-
tig nur noch drehen muss, um weitere Leistungskom-
plexe aus der Erstattungsfähigkeit auszuschließen. Im
derzeit vorliegenden Regierungsentwurf müsste man vor
die Auflistung „ästhetische Operation, eine Tätowierung
oder ein Piercing“ nur die beiden Wörter „zum Beispiel“
einfügen, um den Geltungsbereich drastisch zu erweitern
und damit die Spitzeltätigkeit des Arztes zu intensivie-
ren. Nach dem Referentenentwurf des Gesundheitsmi-
nisteriums war dies vor wenigen Wochen sogar noch so
vorgesehen.
Mit der gleichen Logik wie bei Piercings oder Schön-
heitsoperationen kann man zukünftig auch die Kosten
von Sportverletzungen oder Unsportlichkeit, von Krebs-
behandlungen bei Rauchern und anderes privatisieren.
Diese Liste lässt sich mit selbstverschuldeten Autounfäl-
len über Fettleibigkeit bis hin zu Besuchen in Solarien
beliebig verlängern. Zum Schluss bleibt nur noch ein
stark gerupfter Leistungskatalog der gesetzlichen Kran-
kenversicherung übrig. Auf den übrigen Behandlungs-
kosten bleiben die Versicherten dann alleine sitzen und
die Arbeitgeber werden nicht mehr über die gesetzliche
Krankenversicherung an der Finanzierung beteiligt. Die
Fraktion Die Linke wird daher diesen Antrag ablehnen.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Spät-
abends diskutieren wir einen Antrag, dessen Überschrift
seit wenigen Tagen, dessen Inhalte aber erst seit etwa
24 Stunden bekannt sind. Wahrlich keine gute Vorausset-
zung für eine qualifizierte Diskussion im Plenum.
Schönheitsoperationen – ein schillernder Begriff, der
auch mit Dokusoaps wie „Die Beauty Klinik“ oder „The
Swan – Endlich schön“ verbunden ist, die vorspiegeln,
Schönheit ist machbar. Es ist gut, gegen solche Idealisie-
rungen vorzugehen. Es ist hilfreich, aufzudecken, dass
viele Frauen hinter von Männern formulierten Schön-
heitsidealen hinterherlaufen und nicht davor zurück-
schrecken, sich mit Skalpellen traktieren zu lassen. Auch
der Jugendlichkeitswahn meiner Generation, die mit 50
noch wie 25 aussehen will, sollte thematisiert werden.
Aber wir stehen nicht am Anfang dieser Diskussion.
Es hat in den letzten Jahren bereits einige Initiativen ge-
geben, die versuchen, den Missbräuchen in diesem Be-
reich etwas entgegenzusetzen. Zu nennen sind:
Erstens die „Koalition gegen den Schönheitswahn“,
die durch die Bundesärztekammer initiiert wurde und
von vielen aus Politik und Gesellschaft mitgetragen wird
und seit 2004 besteht.
Zweitens. Ebenfalls 2004 hat die Kommission für Ju-
gendmedienschutz (KJM) entschieden, dass TV-For-
mate, in denen Schönheitsoperationen zu Unterhaltungs-
zwecken angeregt oder begleitet werden, grundsätzlich
nicht vor 23.00 Uhr gezeigt werden dürfen. Die Abgren-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12599
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zung zwischen einer Reportage und einem Unterhal-
tungszweck dürfte jedoch nicht so einfach sein.
Drittens. Die Facharztbezeichnung „Plastische Chi-
rurgie“ wurde 2005 in der Musterweiterbildungsordnung
um den Zusatz „Ästhetische“ ergänzt. Es dürfte jedoch
an der flächendeckenden Umsetzung in den Bundeslän-
dern mangeln.
Viertens. Einer suggestiven und irreführenden Werbung
wurde unter Rot-Grün – da schmückt sich der Antrag der
Koalition mit falschen Federn – durch die Änderung des
Heilmittelwerbegesetzes ein Riegel vorgeschoben.
Fünftens. Auch bei den Aktivitäten der Bundeszen-
trale für gesundheitliche Aufklärung freut sich Schwarz-
Rot über das, was Rot-Grün auf den Weg gebracht hat.
Geradezu grotesk wird es, wenn die Koalition die von
allen Seiten kritisierte Regelung im GKV-WSG, dass bei
„medizinisch nicht indizierten Maßnahmen“ gesetzlich
Versicherte faktisch den Versicherungsschutz verlieren,
als hilfreich für den kritischen Umgang mit Schönheits-
operationen ansieht. Wir Grünen waren und sind gegen
diese Regelung, da hiermit durch die Hintertür das
Selbstverschuldensprinzip in der GKV eingeführt wird.
Bereits jetzt besteht die Unklarheit der Abgrenzung, die
durch die in die Pflegereform geschmuggelte Denunzia-
tionspflicht für Ärzte nicht besser wird. Nachdem die
Büchse der Pandora geöffnet ist, lässt sich trefflich über
Erweiterungen streiten: der chipsessende Couch-Potato
oder die handballspielende junge Frau. Falls man jedoch
der Ansicht ist, dass die Risiken einer Schönheitsopera-
tion nicht von der Versichertengemeinschaft getragen
werden sollen, ist nicht nachvollziehbar, warum das Ri-
siko auf diejenigen, die sich operieren lassen, und nicht
auf die Verursacher – die Operateure – abgewälzt wird.
Bei Schönheitsoperationen an Minderjährigen gehen
zum Glück die Warnleuchten an. Die etwas versteckte
Forderung eines Verbotes von nicht medizinisch indi-
zierten Schönheitsoperationen an Minderjährigen kann
nicht auf Horrorvisionen basieren. Unklar ist, ob die
durch die Medien geisternde Zahl von jährlich 100 000
operierten Jugendlichen unter 20 Jahren korrekt ist, wie
viele Minderjährige betroffen sind, und welche Behand-
lungen sich dahinter verbergen. Eine der einschlägigen
Fachgesellschaften geht davon aus, dass es sich dabei
nahezu ausschließlich um Ohrenkorrekturen handelt.
Diese zu verbieten wäre für viele Kinder und Jugendli-
che und deren Eltern Psychoterror. Wer kennt nicht die
Berichte über unerträgliche Hänseleien in der Klasse
oder auf dem Schulhof?
Im Bereich der Schönheitschirurgie sind viele Fragen
offen, und bevor der Bundestag hier Empfehlungen im
luftleeren Raum abgibt, sollte das gemeinsame Gespräch
mit Expertinnen und Experten gesucht werden. Wir wer-
den dabei sehr schnell auf grundsätzliche Fragestellun-
gen stoßen:
Wie kann das Recht der Patientinnen und Patienten
zum Beispiel auf umfassende Aufklärung, Darstellung
der Risiken und Alternativen gewährleistet werden? Wie
lässt sich sicherstellen, dass dabei das Ziel „informierte
Entscheidung“ und nicht der Ausschluss von Haftungsri-
siken im Vordergrund steht? Das ist nicht nur bei Schön-
heitsoperationen und IGeL-Leistungen, sondern bei je-
der ärztlichen Behandlung notwendig.
Reicht hierbei der Verweis auf das ärztliche Standes-
recht und die Broschüre von Gesundheits- und Justizmi-
nisterium zu den existierenden Patientenrechten, oder
besteht nicht die Notwendigkeit eines eigenen Patienten-
rechte- bzw. Patientenschutzgesetzes?
Wie ist die Qualitätssicherung in der ambulanten Ver-
sorgung zu gewährleisten? Ist eine entsprechende Quali-
fikation als Facharzt bzw. Fachärztin ausreichend? Wie
kann die Ergebnisqualität gemessen werden? Sind Krite-
rien wie zum Beispiel Mindestmengen sinnvoll und not-
wendig?
Wie gewinnen wir Informationen über das Leistungs-
geschehen von Ärztinnen und Ärzten sowie Heilprakti-
kerinnen und Heilpraktikern außerhalb der Abrechnung
über GKV und PKV?
Wie kann eine unabhängige, qualitätsgeprüfte sowie
einfach zugängliche und verständliche Information über
den Sinn und Unsinn von IGeL-Leistungen und Schön-
heitsoperationen gewährleistet werden? Gleiches gilt für
Behandlungen im Rahmen des Leistungskataloges.
Ich bin gespannt, ob die Koalition sich auf solche Dis-
kussionen, die ans Eingemachte gehen, einlässt, oder ob
es beim An-der-Oberfläche-Kratzen bleiben wird.
Anlage 27
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 26. Juli 2007 zwischen der
Europäischen Union und den Vereinigten Staa-
ten von Amerika über die Verarbeitung von
Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records-
PNR) und deren Übermittlung durch die Flug-
gesellschaften an das United States Depart-
ement of Homeland Security (DHS) (PNR-Ab-
kommen 2007) (Tagesordnungspunkt 16)
Beatrix Phillip (CDU/CSU): Sozusagen als krönen-
der Abschluss der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist
es beinahe wider Erwarten gelungen, ein Abkommen
zwischen der EU und den USA zur Übermittlung von
Fluggastdatensätzen – „passenger name records“ oder
auch kurz PNR-Daten genannt – zu vereinbaren.
Die Verhandlungen hierzu konnten am 27. Juni 2007
erfolgreich abgeschlossen werden. Damit wurde der un-
befriedigende Zustand, der sich durch das Urteil des Eu-
ropäischen Gerichtshofs vom 30. Mai 2006 noch ver-
schärft hatte, beendet.
Nachdem dieser das erste Abkommen für „kompetenz-
widrig zustande gekommen“ erklärt hatte, musste es
zwangsläufig seitens der EU gekündigt werden.
Dies führte wiederum dazu, dass im Oktober 2006 ein
Interimsabkommen geschlossen wurde, das allerdings
12600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
bis zum 31. Juli dieses Jahres befristet war. Es schien, als
hätten wir es mit einer „never ending story“ zu tun.
Bevor ich auf einige wesentliche inhaltliche Punkte
des Abkommens zu sprechen komme, lassen Sie mich
vorweg klar sagen: Es ist gut, dass das Abkommen zu-
stande gekommen ist! Diese Ansicht teilt auch der Bun-
desbeauftragte für den Datenschutz. Das Abkommen be-
endet nicht nur den unhaltbaren rechtlichen Zustand,
sondern bietet vor allem eines: Rechtssicherheit.
Sowohl das Abkommen, als auch der „verlinkte“
Briefwechsel wurden für rechtlich verbindlich erklärt.
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Ver-
handlungen zeitweilig kurz vor dem Scheitern standen,
eine sehr beachtliche Verhandlungsleistung, für die wir
ausdrücklich Danke sagen.
Bei allen Diskussionen dürfen wir einen Punkt nicht
aus dem Blick verlieren: Die USA sind souverän. Sie be-
stimmen völlig allein, wer unter welchen Bedingungen
und mit welchen Auflagen einreisen kann und darf.
Ich wiederhole hier nur, was ich bereits in den letzten
Debatten immer wieder ausgeführt habe und was ab und
zu in der Debatte zweifellos zu kurz gekommen ist: Wir
haben den Datenschutz der USA nicht zu bewerten. Es
war schon immer so, dass sich Besucher eines Landes
den Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten, und
daran wird sich auch kaum – von außen – etwas ändern
lassen. In diesem Zusammenhang haben alle auch die
entsprechenden Einreisebestimmungen zu akzeptieren.
Die USA haben mit diesem Abkommen keine Son-
derregelung für die Bürger der EU geschaffen. Im Ge-
genteil, die EU-Bürger sind den US-amerikanischen
Bürgern in diesem Aspekt völlig gleichgestellt.
Dass insgesamt noch einiges wünschenswert gewesen
wäre, steht außer Frage, aber mehr war schlichtweg nicht
möglich. Wir haben hier mehrfach darüber gesprochen.
Inhaltlich ist Folgendes besonders positiv hervorzu-
heben: erstens die vielzitierte Reduzierung der Daten-
sätze von 34 auf 19, zweitens die Beendigung des bis-
herigen Abrufzugriffs vonseiten der USA. Ab dem
1. Januar 2008 wird vom Pull- auf das Push-Verfahren
umgestellt, das heißt, der direkte Zugang der US-Behör-
den zu den Buchungscomputern der Fluggesellschaften
ist damit ausgeschlossen.
An dieser Stelle sei aber auch noch mal darauf hinge-
wiesen, dass bereits während des Interimsabkommens
13 Fluggesellschaften die PNR-Daten im Push-Verfah-
ren übermittelt haben.
Durch die verbindliche Lösung im neuen Abkommen
wird nunmehr sichergestellt, dass auch die übrigen Flug-
gesellschaften auf das Push-Verfahren umstellen wer-
den.
Drittens. Ein weiterer positiver Aspekt des Abkom-
mens ist die getroffene Regelung zur Behandlung von
sensiblen Daten, wie zum Beispiel Rasse, ethnische Her-
kunft, Religion oder Daten über die Gesundheit. Die
USA haben sich verpflichtet, erhobene sensible EU-
PNR-Daten herauszufiltern, sie danach nicht zu nutzen
und sie umgehend zu löschen. Auch wenn Herr Schaar
hierzu wiederholt anmerkte, dass vor diesem Abkom-
men keine Verpflichtung bestand, sensible Daten über-
haupt zu übermitteln, so ist doch die Verpflichtung zur
Filterung, Nichtnutzung und Löschung insgesamt eine
maßgebliche Verbesserung.
Viertens. Auch im Punkt Zweckbindung ist ein gutes
Ergebnis erzielt worden: Die Präambel des Abkommens
regelt klar und ausdrücklich die strikte Zweckbindung.
Das heißt: Die Datenübermittlung und -verwendung darf
ausschließlich für die Bekämpfung und Verhütung des
Terrorismus und der damit verbundenen grenzüber-
schreitenden Kriminalität erfolgen. Damit zeigt sich
wieder, dass es den USA eben nicht um die willkürliche
Anhäufung von personenbezogenen Daten geht, sondern
die Datenübermittlung und -verwendung konkret und
zweckgebunden ist.
Fünftens. Zu den Regelungen der Speicherfristen: Zu-
nächst werden die PNR-Daten in einer aktiven Daten-
bank sieben Jahre lang gespeichert. Während dieser Zeit
werden diese Daten an inländische Regierungsbehörden
der USA weitergegeben, die mit Terrorismus- bzw. Kri-
minalitätsbekämpfung befasst sind.
Danach gehen sie für weitere acht Jahre in eine „ru-
hende“ Speicherung über. In dieser Zeit ist der Zugriff
nur durch hochrangige Homeland-Security-Mitarbeiter
gestattet und auch nur für den Fall zulässig, dass eine be-
stimmte Bedrohung oder Gefahr gegeben ist.
Damit ergibt sich zwar eine Erhöhung der Speicher-
frist bei aktiven Daten von dreieinhalb Jahren auf sieben
Jahre, aber auch während des Interimsabkommens galt
schon eine Höchstspeicherfrist von elfeinhalb Jahren.
Demnach ist de facto der qualitative Sprung von 11,5
auf 15 Jahre bei weitem nicht so gravierend, wie er auf
den ersten Blick erscheinen mag.
Darüber hinaus darf auch nicht unerwähnt bleiben,
dass die USA ursprünglich bei ihren Verhandlungen
ganz selbstverständlich von 40 Jahren Speicherung aus-
gegangen sind. Hinter den 40 Jahren verbirgt sich die
Annahme, dass dies die Dauer einer durchschnittlichen
Verbrecherkarriere sei.
Im Übrigen speichern die USA ihre eigenen Daten
ebenfalls 40 Jahre lang, also ohne Speicherung kein Ab-
kommen. Damit ist auch diese Regelung zur Speicher-
frist alles in allem als positiv zu bewerten.
Sechstens. In dem Abkommen hat man sich auf ge-
meinsame regelmäßige Überprüfungen der Umsetzung
des Abkommens einigen können. Dies ist deshalb von
besonderer Bedeutung, da die USA das Konzept eines
Datenschutzbeauftragten nicht kennen. Durch die ge-
meinsame Überprüfung können hier die verschiedenen
Interessen aller Beteiligten besser berücksichtigt wer-
den; wir versprechen uns jedenfalls etwas davon.
Siebtens. Lassen sie mich als letzten inhaltlichen As-
pekt auf die Festschreibung des Grundsatzes der Gegen-
seitigkeit verweisen:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12601
(A) (C)
(B) (D)
Das Department of Homeland Security hat sich bereit
erklärt, die aus PNR-Daten gewonnenen analytischen In-
formationen an die EU und ihre Mitgliedstaaten zu über-
mitteln. Wir haben auch in der Vergangenheit schon öf-
ter davon profitiert, wie wir alle wissen.
Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass
Datenschutz kein Selbstzweck ist. Es geht immer um
eine Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen substan-
ziellen Sicherheitsinteressen wie Terrorismusbekämp-
fung auf der einen Seite und den Forderungen des Daten-
schutzes auf der anderen.
Ich bin mir aber sicher, dass die Bürgerinnen und Bür-
ger dieses Abkommen als eine gelungene Balance zwi-
schen Datenschutz- und Sicherheitsinteressen werten
werden.
Gerade vor dem Hintergrund der Anschläge in Lon-
don, Glasgow und der Festnahme von drei mutmaßli-
chen Mitgliedern der terroristischen Vereinigung „Isla-
mische Dschihad Union“ am 4. September im Sauerland
ist es vor allem das Sicherheitsbedürfnis, das die Bürge-
rinnen und Bürger unseres Landes bewegt.
Wir werden unseren Ansatz der Verhältnismäßigkeit
auch in Zukunft konsequent verfolgen, auch wenn es um
die derzeit diskutierte Errichtung eines europäischen
PNR-Systems gehen wird. Den auch daraus resultieren-
den Diskussionen sehe ich schon heute erwartungsvoll
entgegen. Mit der Überweisung sind wir einverstanden.
Wolfgang Gunkel (SPD): Auf der heutigen Tages-
ordnung steht erneut eine Debatte zu dem durchaus kon-
troversen Thema der Übermittlung von Flugpassagierda-
ten an die Vereinigten Staaten. Allerdings sind wir im
Gegensatz zur letzten Aussprache einen Schritt nach
vorn gekommen. Inzwischen liegt uns das Abkommen
zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten
Staaten von Amerika vor. Dies muss jetzt noch von den
Mitgliedstaaten der EU umgesetzt werden. Hierin wer-
den die Übermittlung von Fluggastdaten bei Passagier-
flügen in die oder aus den Vereinigten Staaten und die
dortige Datenverwendung geregelt. Der Begründungszu-
sammenhang bleibt bestehen: Die Übermittlung und
Auswertung dient der Bekämpfung von Terrorismus und
sonstiger schwerer Straftaten grenzüberschreitender Art
einschließlich der organisierten Kriminalität.
Wenn ich mir das vorliegende Übereinkommen an-
schaue, so muss ich an dieser Stelle den Verhandlungs-
leitern, die mit dem United States Department of Home-
land Security um die Vereinbarung gerungen haben,
zugestehen, dass sie nach Lage der Dinge nur ein Mini-
mum erreichen konnten. Und das war sicherlich keine
leichte Aufgabe. Gerade aus den hochsensiblen Berei-
chen, in denen es um die Bekämpfung des internationa-
len Terrorismus geht, kennen wir alle genug Beispiele, in
denen sich die Vereinigten Staaten von Amerika nicht
sehr verhandlungsbereit gezeigt haben. Insgesamt – und
damit möchte ich mich zunächst zu den positiven Aspek-
ten des Abkommens äußern – können wir mit dem Er-
reichten einigermaßen zufrieden sein.
Zuallererst garantiert das Abkommen eine Rechtssi-
cherheit, die es ohne eine solche Vereinbarung ganz si-
cher nicht gegeben hätte. Die EU hatte das bestehende
Abkommen im vergangenen Jahr gekündigt, nachdem es
vom Europäischen Gerichtshof für nichtig erklärt wor-
den war. Damit rutschte die Europäische Union selbst in
eine defensive Rolle, in der sie die Initiative ergreifen
musste. Schließlich hätten die USA auch mit jedem Mit-
gliedstaat selbst ein Abkommen abschließen können.
Dass es trotzdem gelang, für alle Mitgliedstaaten einen
gemeinsamen Vertrag abzuschließen, ist vor allem der
deutschen Ratspräsidentschaft zu verdanken.
Ausgesprochen zufrieden bin ich auch mit dem Um-
stand, dass es in der Datenübermittlung einen konkreten
Zeitpunkt für die angekündigte Umstellung vom Push-
zum Pullverfahren geben wird. Denn diese soll bereits
am 1. Januar 2008 erfolgen. Nach diesem Verfahren
werden die Datensätze von den europäischen Fluggesell-
schaften an das United States Department of Homeland
Security übermittelt und nicht von den Vereinigten Staa-
ten selbst recherchiert. Hiermit wurde einer wichtigen
europäischen Forderung entsprochen. Den Betroffenen
werden damit die gleichen Auskunftsrechte und Rechts-
behelfe wie den Bürgerinnen und Bürgern der Vereinig-
ten Staaten eingeräumt.
Ebenfalls begrüßenswert ist der bereichsspezifische
Datenschutz, der in seinen wichtigsten Punkten die
Zweckbindung der erfassten und übermittelten Daten ga-
rantiert. Es wäre für uns weder tragbar noch verantwort-
bar gewesen, offene Bücher mit den kompletten Daten-
sätzen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger zur
unbeschränkten Einsicht freizugeben. Mit dem jetzigen
Abkommen werden sensible Daten, also personenbezo-
gene Daten wie politische Meinungen, religiöse oder
weltanschauliche Überzeugungen, eventuelle Gewerk-
schaftszugehörigkeiten oder Daten über die Gesundheit
oder das Sexualleben einer Person, nicht gespeichert,
sondern automatisch gelöscht. Nur in Ausnahmefällen,
wenn das Leben von betroffenen Personen oder Dritten
gefährdet oder ernsthaft beeinträchtigt werden könnte,
kann auf diese Daten zugegriffen werden. Die nun fest-
gelegte Dauer, für die die Daten gespeichert werden,
kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet
werden. Prinzipiell erscheint auch mir die festgesetzte
Speicherdauer von 15 Jahren als sehr lang. Unter dem
Blickwinkel, dass die Vereinigten Staaten zunächst eine
Dauer von 40 Jahren planten, kann man mit der Reduzie-
rung um mehr als die Hälfte der Zeit jedoch leben.
Doch damit komme ich auch schon zu den negativen
Aspekten des vorliegenden Abkommens. Tatsächlich er-
folgt nur während der ersten sieben Jahre der gerade be-
schriebenen Speicherdauer eine auswertungsfähige Spei-
cherung. In den darauffolgenden Jahren sind die Daten
gewissermaßen archiviert und nur unter zusätzlichen Da-
tenschutzvorkehrungen zugänglich. Warum die US-ame-
rikanische Seite dennoch auf einer so langen Speicher-
zeit beharrt, macht mich stutzig.
Als problematisch betrachte ich es weiterhin, dass die
konkreten Vereinbarungen für die Datenübertragung
nicht Bestandteil des Vertrages sind, sondern in einem
12602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Briefwechsel zwischen United States Department of
Homeland Security und Europäischer Kommission fest-
gehalten wurden, die den Vertrag ergänzen. Auf diese
Art und Weise sollten meiner Ansicht nach diese so zen-
tralen und wichtigen Regelungen nicht einfach dazuge-
geben werden.
Wenn ich mir das vorliegende Abkommen über den
Austausch von Fluggastdaten anschaue, kann ich fest-
stellen, dass die positiven Aspekte die negativen As-
pekte schlussendlich überwiegen. Wir kommen nicht
umhin, ein neues Abkommen mit den USA zu finden.
Wir müssen daher genau abwägen, ob wir das gesamte
ausgehandelte Abkommen für nicht zustimmungsfähig
erachten, nur weil einige Regelungen weiterhin Ecken
und Kanten haben. Ich sage Ihnen, das sollten wir nicht.
Ich weise hierbei noch einmal darauf hin, dass dieses
Abkommen uns die nötige Rechtssicherheit verschafft,
die es ohne einen solchen Vertrag sicher nicht geben
würde. Daher werde ich für die SPD-Bundestagsfraktion
dem Ihnen vorliegenden PNR-Abkommen 2007 unsere
Zustimmung geben.
Ernst Burgbacher (FDP): Die FDP-Bundestags-
fraktion hat den Bundesinnenminister wiederholt aufge-
fordert, sich für ein Abkommen zwischen der EU und
den USA einzusetzen. Nachdrücklich habe ich an den
Bundesinnenminister appelliert, sich für Rechtssicher-
heit einzusetzen und den europäischen Fluggästen sowie
den europäischen Fluggesellschaften Klarheit zu ver-
schaffen, auf welcher Rechtsgrundlage Daten an die
USA übermittelt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion
begrüßt deshalb grundsätzlich, dass ein Abkommen zwi-
schen der EU und den USA geschlossen und der unhalt-
bare Zustand der Rechtsunsicherheit bei der Datenüber-
mittlung überwunden wurde.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat aber auch wieder-
holt den Bundesinnenminister darauf hingewiesen, dass
er als Vertreter der EU mit den USA auf Augenhöhe ver-
handeln und sich für die Wahrung europäischer Daten-
schutzstandards einsetzen muss. Dies hat der Bundesin-
nenminister leider bei den Verhandlungen versäumt.
Eine Vielzahl von datenschutzrechtlichen Bedenken
konnten nicht ausgeräumt werden. Sie galten für das ur-
sprüngliche Abkommen, welches der EuGH kassierte,
und sie sind ohne Abstriche auch für das neue Abkom-
men anzubringen.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat wiederholt
kritisiert, dass im Gegensatz zum ursprünglichen Ab-
kommen künftig „alle verfügbaren Daten“ bestimmter
Informationsbereiche übermittelt werden. Hier hat somit
noch eine Ausweitung der Datenerfassung stattgefun-
den. Vor allem wurde aber bemängelt, dass keine Evalu-
ierung des Abkommens stattgefunden hat. Vor Ab-
schluss eines neuen Abkommens hätte eine umfassende
Prüfung erfolgen müssen, ob die Übermittlung der im
Abkommen nunmehr aufgeführten 19 Datensätze über-
haupt einen Sicherheitsgewinn gebracht hat. Dies er-
scheint höchst fraglich. Auch können die europäischen
Datenschutzbehörden künftig an einer Überprüfung des
Abkommens, dem sogenannten Joint Review, nicht teil-
nehmen, da das Abkommen eine Beteiligung der euro-
päischen Datenschützer nicht vorsieht. Dies ist ein we-
sentlicher Mangel des neuen Abkommens, da hierdurch
zu befürchten ist, dass der europäische Datenschutz
nicht ausreichend berücksichtigt werden wird.
Neben der nicht erfolgten Evaluierung bestehen je-
doch weitere Bedenken gegen dieses Abkommen. Der
Bundesinnenminister hat nach Abschluss des Abkom-
mens erklärt, dass es der EU-Seite gelungen sei, die zu
übermittelnde Datensatzmenge von 34 Passagierdaten
auf 19 Daten zu reduzieren. Leider hat der Bundesinnen-
minister entweder nicht erkannt – oder aber er hat ver-
sucht, die Bevölkerung im Unklaren zu lassen –, dass die
übermittelten Informationen die gleichen geblieben sind,
lediglich einzelne Datengruppen zusammengefasst wur-
den. Tatsächlich hat sich an den zu liefernden Daten fast
nichts geändert.
Auch der Hinweis des Bundesinnenministers, dass
sich die Speicherzeit verkürzt habe, geht in der Sache
fehl. Die US-Seite hat sich eine Verlängerung der Spei-
cherzeit auf bis zu 15 Jahre vorbehalten – und dies nicht
nur für die künftig zu sammelnden Daten, sondern auch
für diejenigen Daten, die nach dem ursprünglichen Ab-
kommen bereits nach dreieinhalb Jahren hätten gelöscht
werden müssen. Dies stellt keine Verbesserung des
Rechtsschutzes für europäische Fluggäste dar, sondern
verschlechtert ihn hingegen noch. Von einer Verhand-
lung auf Augenhöhe kann hier nicht mehr die Rede sein.
Das US-amerikanische Department of Homeland Secu-
rity hat sich in allen Punkten durchgesetzt, und die EU-
Seite hat europäische Bedenken gegen das Abkommen
in keiner Weise durchsetzen können. Hier hätte der Bun-
desinnenminister mit „härteren Bandagen“ in die Ver-
handlungen gehen müssen, um gegenüber den USA eu-
ropäische Belange mit in das Abkommen einbringen zu
können.
Auch die europäischen Fluggesellschaften müssen
neuerliche Belastungen erdulden. Künftig sollen den
US-Behörden die Fluggastdaten bereits eine halbe
Stunde vor Abflug in die USA übermittelt werden. Dies
wird zu erheblichen Behinderungen beim Check-in füh-
ren und weitere Belastungen für die Flugpassagiere brin-
gen.
Insgesamt führt das Abkommen zwischen der EU und
den USA zu keiner Verbesserung hinsichtlich des Daten-
schutzes. Auch ist weiterhin völlig unklar, welchen Nut-
zen dieses Abkommen bei der Bekämpfung des interna-
tionalen Terrorismus bringen wird. Angesichts der
Datenmenge, die durch dieses Abkommen durch die
USA gesammelt wird, und angesichts der Speicherdauer,
die sich die USA vorbehalten, bleibt fraglich, ob Auf-
wand und Wirksamkeit in einem angemessenen Verhält-
nis stehen.
Vor allem aber ist das vorliegende Abkommen in kei-
ner Weise geeignet, ein Vorbild für eine europäische Da-
tenerfassung darzustellen. Die datenschutzrechtlichen
Bedenken bestehen hierbei in gleicher Weise wie bei der
Datenweitergabe an die USA. Die Datenerfassung bei
besonderen Gefahrenlagen ist bereits nach geltendem
EU-Recht möglich, sodass eine Übernahme des vorlie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12603
(A) (C)
(B) (D)
genden Abkommens zwischen der EU und den USA auf
innereuropäische Flüge der falsche Weg wäre.
Der Bundesinnenminister ist nicht nur für den Erhalt
der inneren Sicherheit zuständig, er hat auch die Wah-
rung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu
schützen. Diese hat der Bundesinnenminister bei den
Verhandlungen zum Abkommen über die Verarbeitung
von Fluggastdatensätzen zwischen der EU und den USA
nicht ausreichend berücksichtigt. Jede neue Maßnahme
zur Terrorismusbekämpfung muss einen echten Sicher-
heitsmehrwert bringen. Dem Vorrang der Grundrechte
hat der Bundesinnenminister auf europäischer Ebene
nun endlich ausreichend Rechnung zu tragen. Eine kri-
tiklose Übertragung der Regelungen des Abkommens
auf die europäische Ebene lehnt die FDP ab.
Jan Korte (DIE LINKE): Wer aus EU-Europa in die
USA fliegt, wird durchleuchtet. Alles rechtens, behaup-
ten Innenminister Wolfgang Schäuble und EU-Verant-
wortliche, und dies offenbar ohne zu wissen, was sie da
sagen.
Als im Mai 2006 der EuGH das Abkommen zur
Übermittlung von Fluggastdaten zwischen der EU und
den USA kippte, waren die Administrationen in Brüssel
und Washington ratlos. Der 2004 geschlossene Vertrag
zur Übermittlung von 34 personenbezogenen Informa-
tionen europäischer Flugreisender mit Ziel USA wurde
damals aufgrund einer fehlenden Rechtsgrundlage für
nichtig erklärt. Eile war geboten, ein neues Abkommen
musste her. Und so sieht das neue, unter der deutschen
Ratspräsidentschaft geschlossene Abkommen auch aus.
Eilig und ohne Grundrechtsüberprüfung oder die Einbe-
ziehung des europäischen Datenschutzbeauftragten hat
man einen Vertrag geschlossen, der viele Fragen unbe-
antwortet lässt. Immer wieder wurden die Eile und die
fast konspirativen Verhandlungen mit der Furcht seitens
des Innenministers begründet, ohne ein Abkommen
noch in diesem Jahr würden europäischen Fluggesell-
schaften die Landerechte in den USA verweigert.
Im Dezember letzten Jahres sorgten Recherchen einer
Nachrichtenagentur dann erneut für einige Aufregung,
als sich herausstellte, dass Daten der Flugpassagiere aus
dem Übergangsabkommen in den USA mit weiteren In-
formationen verknüpft und die Passagiere nach ihrem in-
dividuellen Sicherheitsrisiko benotet werden. Technisch
soll dies durch das „Automated Targeting System“
(ATS) bewerkstelligt worden sein. Die Existenz des be-
reits vor vier Jahren eingeführten ATS soll aber den EU-
Verantwortlichen nicht bekannt gewesen sein. Dies ver-
wundert mich, denn einen ersten Hinweis gab es bereits
im März 2005, als der Beauftragte des US-Zolls, Robert
C. Bonner, in einer Anhörung vor dem US-Repräsentan-
tenhaus auf die Existenz und die Nutzung des ATS auf-
merksam machte – und auch darauf, dass es sich dabei
nicht nur um ein Kontrollsystem für das Frachtwesen
handle, sondern dass es auch zur Risikobewertung von
über 87 Millionen Menschen, die über den Luftweg die
USA erreichen, genutzt wird. Doch in Brüssel und Ber-
lin – so die offiziellen Darstellungen – will man erst im
November 2006 von dem computergestützten Bewer-
tungssystem erfahren haben, als im „Federal Register“,
ähnlich dem Bundesgesetzblatt, die Existenz des Sys-
tems mit einer kurzen Notiz öffentlich gemacht wurde.
Pikant ist neben dieser „Unwissenheit“ auch die Tatsa-
che, dass die PNR-Daten entgegen der Vereinbarung im
Übergangsabkommen nicht für dreieinhalb, sondern für
letztendlich 40 Jahre gespeichert werden sollten.
Die Verhandlungen über ein neues, längerfristiges
Abkommen fielen nun in die Zeit des deutschen EU-Vor-
sitzes, und heute liegt uns das fertige Dokument vor.
Das neue Abkommen, so wird es in dem Vertrags-
werk festgehalten, basiert auf den „gemeinsamen Wer-
ten“ der EU und der USA in Sachen Bekämpfung des
Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität.
Dabei sei der „Austausch von Informationen ein wesent-
licher Faktor bei der Bekämpfung des Terrorismus …“.
Was jedoch beide Seiten unter der Bekämpfung von Ter-
rorismus verstehen, wird nicht ausgeführt. Überhaupt ist
weder in der Europäischen Union noch in der Bundesre-
publik eine Verständigung darüber geführt worden, was
denn unter Terrorismus, ergo auch unter der Bekämp-
fung von Terrorismus, zu verstehen ist. Die Antwort auf
diese Frage ist die deutsche Regierung bislang schuldig
geblieben. Dennoch, so steht es im Abkommen, werden
„gemeinsame Werte“ zwischen der USA und der EU im
Kampf gegen den Terrorismus vorausgesetzt. Ich hoffe,
dass hiermit nicht Werte und Prinzipien wie zum Bei-
spiel die „Rendition-Praxis“ gemeint sind.
Grundlage des Abkommens zur Übermittlung von
Passagierdaten an das US-Heimatschutzministerium
(DHS) stellt ein Schreiben der US-Administration dar, in
dem – wie es heißt – „Zusicherungen“ bezüglich der
Verfahrensweise beim Schutz der PNR-Daten gemacht
und erläutert werden. Diese „Zusicherungen“ sind je-
doch nicht Bestandteil des Abkommens selbst. Unter
Absatz 6 des Abkommens heißt es weiter: „In Bezug auf
die Anwendung dieses Abkommens wird davon ausge-
gangen, dass das DHS einen angemessenen Schutz der
aus der EU übermittelten PNR-Daten gewährleistet.“
Wir beraten heute also über ein Abkommen, dessen we-
sentliche Bestandteile zum Schutz personenbezogener
Daten lediglich auf einem Schreiben der US-Administra-
tion beruhen, in dem „Zusicherungen“ gemacht werden,
von denen wir „ausgehen“ sollen, dass diese auch einge-
halten werden. Ich bitte Sie, dies kann doch nicht Grund-
lage eines seriösen bilateralen Abkommens sein, zumal
es sich das Heimatschutzministerium vorbehält, PNR-
Daten nach „eigenem Ermessen“ an andere US-Regie-
rungsbehörden mit Aufgaben im Bereich der Strafverfol-
gung, der öffentlichen Sicherheit oder der Terrorismus-
bekämpfung und an sogenannte Drittstaaten weiter zu
geben. Im Klartext bedeutet dies, dass auch zukünftig Si-
cherheitsbehörden und Geheimdienste wie NSA und FBI
über die PNR-Daten im Rahmen ihrer Aufgaben verfü-
gen können. Dies wurde jedoch bereits an den beiden
Vorgängerabkommen von verschiedenen Seiten kriti-
siert. Eine Verbesserung ist in diesem Bereich mit dem
neuen Abkommen also nicht erreicht worden.
In Absatz 4 des Abkommens wird festgehalten, dass
die Durchführung des Abkommens regelmäßig durch die
12604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
EU und die USA überprüft wird. Im Anhang zum Ab-
kommen, also in dem Schreiben der US-Administration
an die EU, wird denn auch gleich festgehalten, durch
wen auf europäischer Seite diese Evaluierung vorge-
nommen werden soll: „Bei der Überprüfung werden die
EU durch das für den Bereich Recht, Freiheit und Si-
cherheit zuständige Mitglied der Kommission … vertre-
ten.“ Gemeint sind Justizkommissar Franco Frattini und
seine Mitarbeiter. Der Europäische Datenschutzbeauf-
tragte oder die EU-Datenschutzgruppe werden hier er-
neut außen vor gelassen. Auch während der Verhandlun-
gen über das Abkommen wurden sie nicht einbezogen.
Ihre geäußerte Kritik wurde demzufolge auch nicht be-
rücksichtigt, wie ein Blick in das vorliegende Abkom-
men verrät.
Doch nun zu den konkreten Verabredungen im Ab-
kommen: Zukünftig sollen alle Passagierdaten zunächst
für sieben Jahre in einer aktiven und danach für acht
Jahre in einer passiven Vorhaltung vom US-Heimat-
schutzministerium gespeichert werden. Die ursprünglich
im Übergangsabkommen vorgesehene Speicherfrist von
dreieinhalb Jahren stand anscheinend nicht mehr zur De-
batte. Trotzdem, so Innenminister Schäuble, seien die
nun vereinbarten Speicherfristen ein Erfolg.
Als zweiten Erfolg verkauft Wolfgang Schäuble die in
Zukunft vorgenommene Art der Datenübermittlung.
Spätestens ab 2008 sollen die Fluggesellschaften die Da-
ten dann eigenständig übermitteln. Die Sache hat nur ei-
nen Haken: Die Umstellung vom Pull- zum Push-System
sei nur dann möglich – so die Forderung der US-Heimat-
schützer –, wenn die Fluggesellschaften dieselben tech-
nischen Standards nutzten wie die US-Behörde. Derzeit
trifft dies lediglich auf 13 Unternehmen zu. Dass Mi-
chael Chertoff nicht mit handelsüblichen Computerpro-
grammen europäische Daten durchleuchtet, scheint lo-
gisch zu sein. Dies bedeutet aber letztlich, dass eine
Umstellung auf neue technische Systeme auch mit Kos-
ten für die Airlines verbunden ist.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass Fluggesellschaften,
auch um Kosten zu sparen, auf eine Umrüstung verzich-
ten und US-Geheimdienste weiterhin direkt aus ihren
Systemen Daten abrufen können. Ich frage mich in die-
sem Zusammenhang, warum der deutsche Innenminister
nicht noch während der deutschen Ratspräsidentschaft
im Ministerrat eine Initiative angeschoben hat, die die
Fluggesellschaften verpflichtet, ihre technischen Sys-
teme anzupassen, wenn dies schon im Abkommen mit
den USA vereinbart worden ist. Vielleicht hätten sogar
Gelder der EU für die technischen Umrüstungen den
Fluggesellschaften zur Verfügung gestellt werden kön-
nen, um einen Zugriff US-amerikanischer Dienste auf
europäische Datenbanken ausschließen zu können. Doch
nichts dergleichen ist passiert.
Den größten Erfolg aus Sicht der deutschen Ratsprä-
sidentschaft aber soll die Reduzierung der bisher 34 Da-
tensätze auf nun 19 darstellen. Ein genauer Blick in den
Datenkatalog offenbart jedoch, dass dieser Erfolg kos-
metischer Natur ist. Denn auch zukünftig werden nicht
nur Informationen zum Passagier selbst, sondern auch
zum gesamten Reiseverlauf des Passagiers, alle weiteren
verfügbaren Kontaktinformationen und der Name des
Sachbearbeiters des Reisebüros gespeichert, der die
Reise organisiert hat. Auch hier frage ich mich ernsthaft,
warum eine derartige Datenflut notwendig ist.
Dabei ignoriert Die Linke mitnichten Sicherheitsbe-
dürfnisse. Im Gegenteil, diese sind aus unserer Sicht legi-
tim und nachvollziehbar. Auf der anderen Seite aber, ist
auch das individuelle Sicherheitsbedürfnis europäischer
Bürgerinnen und Bürger in die Betrachtungen des PNR-
Abkommens einzubeziehen. Und es muss deutlich gesagt
werden, dass hier Versäumnisse offenbar werden. Wir
haben es seit einiger Zeit mit einem enthemmten Anti-
terrorkampf zu tun. Eine Evaluierung dieses Kampfes
findet hingegen nicht statt.
Die Linke hätte sich ein Abkommen gewünscht, das
beide Sicherheitsinteressen berücksichtigt. Und wir hät-
ten uns ein Abkommen gewünscht, in dem die Bedenken
der europäischen Datenschützer berücksichtigt worden
wären, um einen an der Verhältnismäßigkeit orientierten
Datenaustausch – also eine wirkliche Reduzierung der
Datensätze – und einen größtmöglichen Grundrechts-
schutz zu gewährleisten. Dazu hätte es allerdings auch
eines Abkommens bedurft, das alle wesentlichen Be-
standteile in einem vereint und nicht mit „Zusicherun-
gen“ hantiert. Dies ermöglichte es dann auch den Betrof-
fenen, also den Flugpassagieren, sich über ein solches
Abkommen zu informieren und gegebenenfalls die ihnen
zustehenden Rechte in Anspruch zu nehmen.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Nicht zum ersten Mal beraten wir hier im
Parlament über die umfangreiche Weitergabe von Flug-
gastdaten an die USA. Es ist auch nicht das erste Mal,
dass wir unsere Reden zu diesem wichtigen Daten-
schutzthema zu Protokoll geben. Die offene Debatte
zum Abkommen der EU mit den USA zur Übermittlung
von Passagierdaten scheut Schwarz-Rot aus guten Grün-
den. Bei Lichte betrachtet kann man nur zu dem Schluss
kommen, dass hier erneut ein rechtswidriges Abkommen
von den Regierungen unterzeichnet wurde. Dieses
zweite Abkommen, von der Regierung als Meilenstein
ihrer Ratspräsidentschaft gefeiert, ist um keinen Deut
besser, als das vom EuGH kassierte erste Abkommen.
Zu diesem Ergebnis kommt auch das Europäische Parla-
ment, und mich würde schon interessieren, wie Sie ihren
europäischen Schwesterfraktionen die Umsetzung der
Resolution erläutern. Mit den Stimmen von SPD und
Union fordert das Europaparlament Sie auf, „den Ent-
wurf sorgfältig im Licht der in dieser Resolution ange-
stellten Beobachtungen zu überprüfen.“ Wie diese Sorg-
falt aussieht, darauf bin ich gespannt.
Jetzt kriegen wir als nationales Parlament wieder den
Ball zugeworfen, werden aber nicht wirklich etwas än-
dern können. Die Regierungsfraktionen werden erneut
auf den Beschluss des Rates verweisen. Wir drehen uns
im Kreis, die Parlamente empören sich, schauen aber
letztlich dabei zu, was die Regierungen so treiben. So ist
mehr Demokratie durch Europa nicht vermittelbar.
Lassen Sie mich zu den kritischen Punkten des Ver-
tragswerks kommen. Von Bundesinnenminister Schäuble
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12605
(A) (C)
(B) (D)
groß gefeiert wurde die Reduzierung der an die US-Be-
hörden übermittelten Datenfelder von 34 auf 19. Das
war ganz klar eine Mogelpackung, da hier lediglich Da-
tenelemente zusammengefasst wurden. Die Anzahl der
zu übermittelnden Daten wurde eher erhöht als verrin-
gert. Katastrophal ist, dass die Datenschützer nicht mehr
an den jährlichen Evaluationen beteiligt sind und die
Zweckbindung der Daten völlig unzureichend ist. Die
von der Art.-29-Gruppe vorgeschlagene Installation ei-
ner Filtersoftware, die lediglich die vereinbarten Daten
übermittelt, wurde ebenso wenig durchgesetzt wie die
Beibehaltung der ursprünglichen Speicherungsdauer von
drei Jahren. Jetzt beträgt sie sieben Jahre mit einer Ver-
längerungsoption um weitere acht Jahre. Als Erfolg ge-
feiert wird von Bundesinnenminister Schäuble: Es wer-
den mehr Daten übermittelt, die Weitergabe der Daten
innerhalb der USA ist weniger geschützt, die Lö-
schungsfristen wurden erheblich verlängert. Die Freude
von Herrn Schäuble ist nur zu verstehen vor dem Hinter-
grund, dass es nie sein Ziel war, weniger sensible Daten
an die USA zu liefern. Er will die Kopie der amerikani-
schen Datensammelwut für Europa.
Die Antwort von Schwarz-Rot auf die nach dem euro-
päischen und deutschen Datenschutzrecht unzulässige
Weitergabe der Fluggastdaten an die USA ist die Ein-
richtung eines europäischen Systems zur Speicherung al-
ler Fluggastdaten. Von der Ankündigung, das System
wenigstens auf das sogenannte Push-System umzustel-
len, ist außer leeren Versprechungen wenig geblieben.
Nicht weiter hinnehmbar ist, dass die Luftfahrtunterneh-
men ihre Kunden über die umfangreiche Weitergabe ih-
rer personenbezogenen Daten nicht hinreichend infor-
mieren. Wenn die Regierungen an den Parlamenten
vorbei so massiv und ungeniert gegen geltendes nationa-
les und europäisches Datenschutzrecht verstoßen, bleibt
nur die Klärung über die Gerichte.
Gert Winkelmeier (fraktionslos): Liest man die Stel-
lungnahme des Europäischen Parlaments zu dem hier
vorliegenden Fluggastdatenabkommen zwischen der Eu-
ropäischen Union und den USA, könnte man fast traurig
werden, so viel Bedauern ist dort zu finden. Es ist wirk-
lich traurig, was da – unter der Federführung des Bundes-
innenministers – zustande gekommen ist. Aber es ist
auch in einem Höchstmaße empörend, wie Dr. Schäuble
auf europäischer Ebene die Bürgerrechte abbaut und da-
bei das EU-Parlament übergeht. Es ist schon ein sehr ge-
schickter Umweg. Jetzt kann er auch das hiesige Parla-
ment ausbremsen, mit der Begründung, dass die
Bundesrepublik dringend ein Gesetz braucht, damit die-
ses Abkommen EU-weit ratifiziert werden kann.
So viel Nichtachtung parlamentarischer Mitsprache
und Kontrolle hat mit Demokratie nicht mehr viel zu tun.
Aber das Formale passt wunderbar zu den Inhalten.
Denn auch die Art und Weise, wie in diesem Abkommen
zur Weitergabe von Fluggastdaten mit datenschutzrecht-
lichen Bestimmungen umgegangen wird, ist mit dem de-
mokratischen Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung nicht mehr vereinbar. Aber das stört den deutschen
Verfassungsminister wenig. In seinem Sicherheitswahn
sind ihm Bürgerrechte längst ein lästiger Dorn im Auge.
Die Weitergabe von personenbezogenen Daten ist an
sich schon ein massiver Eingriff in die Bürgerrechte.
Dass in diesem Abkommen dem US-Heimatministerium
aber zugestanden wird, die Daten innerhalb der USA an
die verschiedensten Behörden – unter anderem auch an
die mehr als zweifelhaften Geheimdienste – weiterzuge-
ben, sprengt jeglichen Rahmen. Und dabei bleibt es noch
nicht einmal: Das Innenministerium der USA ist zudem
befugt, die Fluggastdaten Drittländern zu überlassen. Für
all diese Maßnahmen finden sich in dem Abkommen
keine klar abgesteckten Regeln.
Zwar hat man den Umfang der zu übermittelnden
Einzeldaten gegenüber dem bisherigen Abkommen von
34 auf 19 gesenkt, aber das sind nichts als kosmetische
Maßnahmen, handelt es sich doch in den meisten Fällen
schlicht um Bündelungen mehrerer Einzeldaten. Bei-
spielsweise wurden vorher Straße, Postleitzahl und Ort
als Einzeldaten behandelt. Jetzt sind sie unter dem Punkt
„alle verfügbaren Kontaktinformationen“ zu einem
Punkt zusammengefasst worden.
Dafür dürfen die Daten in den USA jetzt aber
15 Jahre gespeichert werden, bisher waren es nur 3,5.
Allerdings waren bis zu 50 Jahre im Gespräch; die Euro-
päische Kommission brüstet sich jetzt mit dem „Ver-
handlungserfolg“.
Was da hinter verschlossenen Türen verhandelt
wurde, soll auch im Weiteren zu einem nicht geringen
Teil geheime Verschlusssache bleiben. Statt einen so
sensiblen Sachverhalt von einem gewählten Parlament
begleiten und gegebenenfalls auch kontrollieren zu las-
sen, schafft man Tatsachen in Hinterzimmern.
Das ist nicht nur schlechter Stil; es hat auch mit De-
mokratie nicht mehr viel zu tun.
Auch deshalb hat das Europäische Parlament die na-
tionalen Parlamente aufgefordert, das Abkommen im
parlamentarischen Prozess sehr sorgsam zu prüfen. Die
Bundesregierung scheint dieses Ansinnen des EU-Parla-
ments nicht sonderlich ernst zu nehmen. Wie anders lässt
sich erklären, dass die Debatte zu einem so heiklen
Thema mitten in der Nacht auf die Tagesordnung gesetzt
wird! Aber auch das passt ins Bild.
Anlage 28
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge-
setzbuch (Tagesordnungspunkt 17)
Karl Schiewerling (CDU/CSU): Den größten Teil
des Arbeitslosengeldes II schultert der Bund. Die Kom-
munen übernehmen überwiegend die Wohnkosten der
Hilfeempfänger, wobei sie dafür einen Zuschuss vom
Bund erhalten.
Im Rahmen des Ersten Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch wurde die Bundesbe-
teiligung für die Jahre 2005 und 2006 auf jeweils
29,1 Prozent festgelegt. Ende vergangenen Jahres wurde
12606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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(B) (D)
mit dem Gesetz zur Änderung des SGB II und des Fi-
nanzausgleichsgesetzes die durchschnittliche Bundesbe-
teiligung für das Jahr 2007 auf 31,8 Prozent festgelegt.
Diese Regelung war und ist in besonderer Weise fair –
fair nämlich gegenüber Bundesländern wie Baden-
Württemberg und Rheinland-Pfalz. Bei ihnen wäre es
bei einer bundeseinheitlichen Beteiligung des Bundes
von 31,8 Prozent zu den bekannten „horizontalen Ver-
werfungen“ gekommen. An der bundesweiten Entlas-
tung von 2,5 Milliarden Euro hätten dann vor allem
Kommunen aus diesen beiden Bundesländern nicht an-
gemessen partizipieren können. Aus diesem Grund
wurde ein horizontaler Ausgleich unter den Ländern ge-
schaffen. Durch das einstimmige Votum im Bundesrat
wurde die Bundesbeteiligung für Baden-Württemberg
auf 35,2 Prozent und für Rheinland-Pfalz auf 41,2 Pro-
zent erhöht. Gleichzeitig hatten sich die anderen 14 Län-
der auf eine Bundesbeteiligung in Höhe von 31,2 Pro-
zent geeinigt.
In dem Anpassungsgesetz hatte man sich auch darauf
geeinigt, dass die Höhe der Bundesbeteiligung in den
Jahren ab 2008 bis 2010 nach einer gesetzlich vorge-
schriebenen Anpassungsformel ermittelt wird. Inner-
halb der Anpassungsformel spielt die Entwicklung der
Zahl der Bedarfsgemeinschaften eine wesentliche Rolle.
Um es kurz zu fassen: Mehr Bedarfsgemeinschaften be-
deuten mehr Bundeszuschuss. Weniger Bedarfsgemein-
schaften bedeuten weniger Bundeszuschuss.
Dass sich die Zahl der Bedarfsgemeinschaften verrin-
gert hat, lässt sich nicht von der Hand weisen. Gab es im
Juni 2006 in Deutschland knapp 4 107 000 Bedarfsge-
meinschaften; sank die Zahl im Juni 2007 auf 3 742 199.
Betrachtet man sich nun die vorläufigen Daten für Sep-
tember 2007, ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften
nochmals gesunken, und zwar auf 3 518 681.
Das sind positive Entwicklungen, an denen der Bund
wesentlich mitgewirkt hat. Durch das Erste SGB-II-Än-
derungsgesetz können Jugendliche unter 25 Jahren nicht
mehr so einfach auf Kosten des Staates von zu Hause
ausziehen und eine eigene Bedarfsgemeinschaft grün-
den. Mittlerweile ist die Gewährung von Leistungen für
Unterkunft und Heizung in diesen Fällen von der Zusi-
cherung des kommunalen Trägers abhängig.
Der Bund hat sich seit der Einführung des SGB II den
Kommunen gegenüber immer als verlässlicher Partner
gezeigt. Das beweisen auch die Zahlen. Für seine Betei-
ligung an den Wohn- und Heizkosten wird der Bund bis
Ende dieses Jahres 4,3 Milliarden Euro an die Kommu-
nen überweisen. Diese Summe ist mehr als das Doppelte
von dem, was der Regierungsentwurf zum Bundeshaus-
halt ursprünglich für das Jahr 2007 vorgesehen hatte. Da
sich nun die Zahl der Bedarfsgemeinschaften verringert
hat, wird der Bund für das Jahr 2008 300 Millionen
Euro weniger an die Kommunen überweisen, aber im-
mer noch rund 4 Milliarden Euro. Auch mit diesem Be-
trag verhält sich der Bund den Kommunen gegenüber
fair und zeigt seine Verlässlichkeit.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass trotz weni-
ger Bedarfsgemeinschaften die Kosten gestiegen sind.
Dennoch halte ich es für notwendig, dass wir dieses Ge-
setz beschließen. Im Bundesrat werden dann, wenn not-
wendig, weitere Beratungen stattfinden. Der Bund bleibt
dabei, dass wir die Kommunen um 2,5 Milliarden Euro
entlasten wollen. Das ist der Maßstab, der letztendlich
bei einer möglichen Prüfung des Belastungsvolumens zu
berücksichtigen ist.
Jörg Rohde (FDP): Gesetze werden nicht besser, in-
dem man sie jährlich neu auflegt. Dies gilt auch für das
Gesetz über die anteilige Kostenbeteiligung des Bundes
an den Kosten für Unterkunft und Heizung im Rahmen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Der vorliegende Gesetzentwurf soll sicherstellen,
dass die Kommunen auch 2008 um 2,5 Milliarden Euro
im Bereich des SGB II entlastet werden. Sämtliche kom-
munalen Spitzenverbände bezweifeln aber, dass die Ent-
lastung in dieser Höhe erreicht werden wird. Denn der
Annahme des Bundes, dass allein infolge des Rückgangs
der Zahl der Bedarfsgemeinschaften automatisch auch
die Kosten der Unterkunft sinken werden, stehen nach-
gewiesene Kostensteigerungen bei den Kommunen für
die KdU entgegen.
Die FDP hat bereits im vergangenen Jahr kritisiert,
dass die Zahl der Bedarfsgemeinschaften allein als Be-
rechnungsgrundlage für die Höhe des Bundeszuschusses
zu kurz greift. Denn trotz einer sinkenden Zahl von Be-
darfsgemeinschaften sind die Kosten vieler Kommunen
für Unterkunft und Heizung gestiegen. Die Gründe dafür
sind vielfältig und der Bundesregierung sowie den Ko-
alitionsfraktionen durchaus bekannt: steigende Energie-
kosten und Mieten, Zuschüsse zu den Unterkunftskosten
für BAföG-Bezieher, Inflation etc.
Der Städtetag hat ausgerechnet, dass allein im zwei-
ten Halbjahr 2006 die durchschnittlichen Kosten für Un-
terkunft und Heizung pro Bedarfsgemeinschaft von
290 Euro auf 316 Euro gestiegen sind. Das entspricht ei-
ner Zunahme von fast 10 Prozent in einem halben Jahr,
die die Kommunen tragen müssen.
Dazu kommt, dass auch immer mehr Erwerbstätige
mit niedrigen Einkommen, die sogenannten Aufstocker,
Zuschüsse zu den Unterkunftskosten nach SGB II bean-
tragen. Circa 530 000 Menschen erhalten derzeit neben
ihrer Erwerbstätigkeit Unterkunftsleistungen nach
SGB II.
Gerne erläutere ich am Beispiel der Stadt Erlangen
einmal die Diskrepanz zwischen dem Rückgang der Be-
darfsgemeinschaften und der Entwicklung der KdU.
Zwar ist in Erlangen in den ersten acht Monaten 2007
die Zahl der Bedarfsgemeinschaften um 11 Prozent zu-
rückgegangen, die Leistungen zu den Kosten der Unter-
kunft sind im gleichen Zeitraum jedoch nur um gerade
einmal 3 Prozent gesunken. Bundesweit ist hier übrigens
kein Rückgang, sondern ein Anstieg der KdU-Kosten
um circa 10 Prozent zu verzeichnen. Bei einer Kürzung
der Bundesbeteiligung wie vorgesehen müsste allein der
Stadt Erlangen im nächsten Jahr ein Defizit von voraus-
sichtlich 300 000 Euro aus städtischen Mitteln ausglei-
chen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12607
(A) (C)
(B) (D)
Auch die Regelsatzerhöhung in diesem Jahr wirkt
sich indirekt auf die Kosten der Unterkunft aus und be-
lastet die Kommunen bei den Kosten der Unterkunft zu-
sätzlich.
Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung auf stei-
gende Kosten der Kommunen mit einer Senkung des
Bundeszuschusses reagiert, selbst dann nicht, wenn die
Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt.
Bedarfsgemeinschaften lassen sich nicht als Rechen-
größe über einen Kamm scheren. Ein Singlehaushalt
verursacht niedrigere Miet- und Heizkosten als eine
Großfamilie. Legt man hier einen Mittelwert zugrunde,
werden zum Beispiel automatisch Kommunen in Gegen-
den mit einer höheren Kinderzahl pro Familie benachtei-
ligt. Auch verändert sich die Zahl der Bedarfsgemein-
schaften innerhalb eines Jahres ständig.
Die FDP hat sich im vergangenen Jahr noch bei der
Abstimmung enthalten, obwohl schon damals nicht die
tatsächlichen KdU-Kosten als Berechnungsgrundlage
verwendet wurden. Mit unserer Enthaltung haben wir
honoriert, dass immerhin im Vergleich zu den Vorjahren
Planungssicherheit für die Kommunen bei der Bundes-
beteilung zu den KdU hergestellt wurde.
Ich fordere die Fraktionen der Regierungskoalition
auf: Suchen Sie das Gespräch mit den kommunalen Spit-
zenverbänden und überdenken Sie den Gesetzentwurf.
Die Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro
muss gesetzlich eindeutig gewährleistet sein. Ist dies
nicht der Fall und kommt es nicht zu einer Korrektur des
Gesetzentwurfes in Richtung einer Orientierung an den
tatsächlichen KdU-Kosten, werden wir den Gesetzent-
wurf ablehnen.
Katja Kipping (DIE LINKE): Ursprünglich wurden
von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard
Schröder den Kommunen finanzielle Einsparungen
durch Hartz IV in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ver-
sprochen. Davon spüren die meisten Kommunen nichts.
Es ist fraglich, ob der Bundeszuschuss in seiner jetzigen
Höhe diese Einsparungen garantiert. Vielmehr geht es
heute nur noch darum, die Mehrausgaben, die auf Kom-
munen im Zuge von Hartz IV zugekommen sind,
wenigstens in Grenzen zu halten. Und dies ist mehr als
angebracht. Denn: Erwerbslosigkeit ist ein gesamtgesell-
schaftliches Problem. Die daraus resultierenden Kosten
dürfen weder auf den Einzelnen noch auf die Kommu-
nen abgewälzt werden. Insofern ist die Beteiligung des
Bundes an den Kosten der Unterkunft, die von den Kom-
munen zu tragen ist, politisch erforderlich.
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt nun lediglich
eine gesetzliche Bestimmung um und ist insofern eher
formal. Der eigentliche Stein des Anstoßes ist die zu-
grunde liegende Norm, der § 46 SGB II mit seiner An-
passungsformel. Diese Formel ist abzulehnen, denn die-
ser Paragraf ist schlichtweg nicht sachgerecht.
Zur Entstehung dieser Anpassungsformel: Seit In-
krafttreten des SGB II ist die Kostenbeteiligung des
Bundes zwischen Kommunen und Bund umstritten. Für
die Jahre 2005 und 2006 wurde die Bundesbeteiligung
auf 29,1 Prozent festgelegt und – nach langen Diskussio-
nen – für 2007 auf durchschnittlich 31,8 Prozent angeho-
ben. Die Beteiligung ist für 2007 nach Ländern unter-
durchschnittlich: Baden Württemberg erhält 35,2 Pro-
zent, Rheinland-Pfalz 41,2 Prozent und die anderen Län-
der 31,2 Prozent. Dieser Verteilungsschlüssel wurde mit
16 : 0 Stimmen im Bundesrat akzeptiert. Für die Fort-
schreibung der Bundesbeteiligung wurde jedoch in § 46
SGB II eine Anpassungsformel aufgenommen, die sich
an der Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften orien-
tiert. Wenn die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften zu-
nimmt, steigt auch die Bundesbeteiligung und vice
versa.
Die Linke lehnt eine Fortschreibung auf der Grund-
lage dieser Anpassungsformel ab. Schließlich steht die
Anzahl der Bedarfsgemeinschaften in keinem systemati-
schen und faktischen Zusammenhang mit der Entwick-
lung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft. Wenn die
Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt, bedeutet dies
nicht automatisch, dass es weniger Bedürftige und An-
spruchsberechtigte gibt. Die Zahl der Bedarfsgemein-
schaften kann auch sinken, weil mehr Menschen zusam-
men in einer Bedarfsgemeinschaft leben müssen.
Faktisch sind die Bedarfsgemeinschaften größer gewor-
den – nicht zuletzt aufgrund der Einordnung der Men-
schen unter 25 in die elterliche Bedarfsgemeinschaft –
und damit auch die entsprechenden Kosten der Unter-
kunft gestiegen. Dies gesteht die Bundesregierung in ei-
nem Schreiben an den Haushaltsausschuss vom 28. Sep-
tember auch ein. Die Gesamtausgaben sind 2007
gegenüber 2006 angestiegen, während die Zahl der Be-
darfsgemeinschaften rückgängig war. Die Gesamtausga-
ben für Kosten der Unterkunft – Bund und Kommunen –
belaufen sich 2007 auf schätzungsweise 13,8 bis
14,2 Milliarden Euro, von denen der Bund 4,4 bis
4,5 Milliarden übernimmt. Für 2008 wird ein „leichter
Rückgang der Gesamtausgaben“ angenommen, gleich-
zeitig aber die Bundesbeteiligung aufgrund der Anpas-
sungsformel deutlich reduziert. Das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales gesteht auch zu, dass der Finan-
zierungsanteil der Kommunen bei einer rückläufigen
Anzahl an Bedarfgemeinschaften steigt.
Das muss man sich noch einmal vergegenwärtigen:
Der Bund kann durch entsprechende Gesetzgebung, wie
zum Beispiel durch die Verschärfung der Regelungen für
unter 25-jährige Erwachsene, darauf hinwirken, dass die
Zahl der Bedarfgemeinschaften sinkt. Im Zuge dessen
verringert sich der Anteil des Bundes. Die Kosten, die
jedoch für die Kommunen anfallen, sinken womöglich
nicht in dem Maße oder bleiben sogar konstant. Die An-
passungsformel führt faktisch zu einer Verlagerung der
Kosten der Unterkunft auf die Kommunen. Damit wer-
den die Kosten von Erwerbslosigkeit und Niedriglöhnen
auf die Kommunen abgewälzt.
Dem kann die Fraktion die Linke nicht zustimmen.
Der Anpassungsmechanismus in § 46 SGB II muss in
dem Sinne geändert werden, dass er auf die faktischen
Gesamtausgaben bezogen wird. Prinzipiell sollte der
Anteil des Bundes auch insgesamt erhöht werden.
12608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Noch
im letzten Jahr hatten sich Bund und Länder auf einen
Verteilungsschlüssel für die Kosten der Unterkunft von
ALG-II-Beziehenden geeinigt und eine Anpassungsfor-
mel für die kommenden Jahre vereinbart. Trotz verfas-
sungsrechtlich fragwürdiger Sonderregelungen, die zwei
Bundesländer gegenüber den übrigen finanziell begüns-
tigten, schien die Frage der Finanzverteilung zwischen
Bund und Kommunen bei den Unterkunftskosten im
SGB II letztlich gelöst. Allerdings stellen in diesem Jahr
die Kommunen fest, dass die Kosten für Unterkunftsleis-
tungen von ALG-II-Beziehenden im letzten Jahr um
rund 10 Prozent gestiegen sind. Nach dem Willen der
Koalition wird der Bund hingegen seinen Anteil an der
Finanzierung dieser Leistungen um 400 Millionen Euro
– dies sind ebenfalls circa 10 Prozent seines Anteils – re-
duzieren. Die Große Koalition verweist – durchaus mit
Recht – auf die gesunkene Zahl der Bedarfsgemein-
schaften, die entsprechend der mit allen Bundesländern
vereinbarten Anpassungsformel maßgeblich für die Fort-
schreibung der Kostenbeteiligung des Bundes bis zu-
nächst 2010 ist.
Wir sind allerdings der Meinung, dass man auch die
Sorgen der Kommunen zumindest ernsthaft prüfen und
langfristig tragfähige Lösungswege in der Dauerstreit-
frage der Wohnkosten suchen muss. Denn: Wir wissen
aus dem Wohngeld- und Mietenbericht, dass die warmen
Betriebskosten – Heizung und Warmwasser – um
35 Prozent gestiegen sind. Zudem sank zwar die Zahl
der Bedarfsgemeinschaften zwischen Juli 2006 bis Juni
2007 um 3,5 Prozent, von 3,96 Millionen auf 3,835 Mil-
lionen Bedarfsgemeinschaften im gleichen Zeitraum je-
doch hat sich die Zahl der Personen pro Bedarfsgemein-
schaft von durchschnittlich 1,81 auf 1,92 erhöht. Eine
wesentliche Ursache für diese Entwicklung ist die von
der Koalition zum 1. Juli 2006 vorgenommene Ein-
schränkung des Rechts hilfebedürftiger junger Men-
schen auf eine eigene Wohnung. Diese sozialpolitisch
äußerst fragwürdige Regelung zeigt inzwischen ihre be-
absichtigten finanzpolitischen Wirkungen. Aufgrund der
in der Anpassungsformel festgelegten Orientierung an
der Größe der Bedarfsgemeinschaften geht dies aller-
dings zulasten der Kommunen.
Um eine nachhaltige Lösung bei der Finanzierung der
Kosten der Unterkunft zu erzielen, muss man sowohl bei
der Finanzaufteilung als auch bei den Leistungsinstru-
menten ansetzen. Will man die Kostenbelastung neu ver-
teilen, so scheidet eine Orientierung an den tatsächlichen
Ausgaben für die Kosten der Unterkunft von vornherein
aus, weil die Vorstellungen der Vertreter von Kommu-
nen, Land und Bund hinsichtlich der Berechnungsgrund-
lage für die tatsächlichen Ausgaben weit auseinander-
driften. Damit hätte man den Verteilungskonflikt für die
nächsten Jahre fortgeschrieben. Von daher kommt nur
eine Veränderung der in § 46 Abs. 7 SGB II festgelegten
Anpassungsformel in Betracht. Der entscheidende Fak-
tor, der die Höhe der Bundesbeteiligung bestimmt, ist
die relative Veränderung der Zahl der Bedarfsgemein-
schaften. Nicht berücksichtigt wird die Zahl der Perso-
nen in den Bedarfsgemeinschaften und die Ausgaben für
Unterkunft und Heizung pro Bedarfsgemeinschaft.
Bündnis 90/Die Grünen halten deshalb eine Korrektur
der in § 46 Abs. 7 SGB II festgelegten Anpassungsfor-
mel in der Weise für denkbar, dass die Anpassungsfor-
mel um eine Variable ergänzt wird, die die Veränderung
der Personenzahl in Bedarfsgemeinschaften berücksich-
tigt.
Doch selbst mit einer Änderung der Anpassungsfor-
mel würde man jedoch das eigentliche Problem nicht
wirklich lösen, denn die Zahl derjenigen, die so wenig
verdienen, dass sie ergänzend das Arbeitslosengeld II
beantragen müssen – Aufstocker –, wächst. Rund
1,1 Millionen Beschäftigte sind auf ALG-II-Leistungen
angewiesen. Davon beziehen rund 530 000 Personen
ausschließlich Unterkunftsleistungen. Im Vergleich dazu
sind mit den Reformen am Arbeitsmarkt die Kosten für
das von Bund und Ländern getragene Wohngeld rapide
zurückgegangen. Wurden im Jahre 2004 noch 5,2 Mil-
liarden Euro für Wohngeld ausgegeben, so waren es in
2005 nur noch 1,2 Milliarden Euro. Die letzte Anpas-
sung des Wohngeldes an die Mietpreisentwicklung er-
folgte im Jahre 2001. Da die Unterkunftsleistungen des
ALG II höher sind als das Wohngeld nach dem Wohn-
geldgesetz, beantragen immer mehr Niedrigverdiener er-
gänzendes ALG II statt Wohngeld.
Wir fordern die Bundesregierung auf, das Übel an der
Wurzel anzupacken, statt mit den Kommunen Finanzie-
rungskonflikte auszutragen. Zum einen ist durch eine
konsequente Ausweitung von Mindestlöhnen – meiner
Meinung nach am besten durch einen flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn – die Zahl der Niedriglöhner
einzudämmen. Zum anderen muss mit einer längst fälli-
gen Anpassung der Wohngeldhöhe das Wohngeld wieder
als vorgelagertes Sicherungssystem etabliert werden. Zu
unserem Bedauern unternehmen bisher weder die Bun-
desländer noch die Bundesregierung in dieser Hinsicht
irgendwelche Anstrengungen. Mit dem erst kürzlich
vorgelegten Entwurf zur Änderung der Wohngeldgeset-
zes – Drucksache 16/6543 – versäumt es die Regierung,
das Wohngeld seit 2001 erstmals wieder anzuheben. Die
Kommunen werden deshalb auch in kommenden Jahren
steigende Unterkunftskosten zu beklagen haben. Das in-
zwischen etablierte Verteilungsspiel wird jedes Jahr von
neuem beginnen.
Die Bundesländer und diese Regierung sind aufgefor-
dert, endlich eine langfristig tragfeste Lösung auszuhan-
deln, die nicht zulasten Dritter geht. Am Ende des Tages
sind es schließlich die Langzeitarbeitslosen, die durch
eine restriktive Handhabung der Angemessenheit der
Wohnung zu Umzügen gezwungen werden oder die aus
dem Regelsatz ihre Mietzahlung bestreiten müssen.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Arbeit und Soziales: Bundestag und Bundesrat
haben sich im Vermittlungsausschuss 2004 darauf ver-
ständigt, dass die Kommunen im Zuge der Umsetzung
des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt um insgesamt 2,5 Milliarden Euro entlastet
werden sollen. In § 46 Abs. 5 SGB II wurde dieses Ziel
gesetzlich verankert. Ziel dieser Entlastung war es auch,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12609
(A) (C)
(B) (D)
den Kommunen finanziellen Spielraum für den Ausbau
von Kinderbetreuungsmaßnahmen einzuräumen.
Um das Ziel der Entlastung zu erreichen, haben Bun-
destag und Bundesrat – ebenfalls im Vermittlungsaus-
schussverfahren 2004 – vereinbart, dass sich der Bund
an den Kosten der Unterkunft von SGB-II-Beziehern be-
teiligt. Im 1. SGB-II-Änderungsgesetz wurde im De-
zember 2005 für die Jahre 2005 und 2006 die Bundesbe-
teiligung abschließend auf 29,1 Prozent festgelegt.
Für das Jahr 2007 wurde nach langen Verhandlungen
mit den Ländern letzten Herbst eine Vereinbarung getrof-
fen, die im Wesentlichen zwei Punkte umfasst: Erstens.
Die Bundesbeteiligung an den Leistungen der Kommunen
für Unterkunft und Heizung wurde für das Jahr 2007 im
Bundesdurchschnitt auf 31,8 Prozent festgesetzt. Aus
Sicht des Bundes ergibt sich daraus eine deutlich höhere
Entlastung als die zugesagten 2,5 Milliarden Euro. Für
14 Länder wurde die Bundesbeteiligung auf 31,2 Prozent
festgelegt, für Baden-Württemberg auf 35,2 Prozent und
Rheinland-Pfalz auf 41,2 Prozent.
Zweitens. Die Berechnung zur Be- und Entlastung der
Gesamtheit der Kommunen wurde geändert. Sie war zuvor
von den Ländern immer wieder streitig gestellt worden.
Wir haben deshalb vereinbart, dass die weitere Anpassung
von der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften
im SGB II abhängen sollte.
Gerade die zweite Vereinbarung ist ein wichtiger
Schritt, da auf diese Weise keine fiktive Berechnung der
Entlastungen der Kommunen mehr vorgenommen wer-
den muss. Eine solche fiktive Rechnung – das wissen
wir alle – wird immer schwieriger, je weiter man sich
von dem Ausgangsjahr 2004 entfernt.
Um es an dieser Stelle klar zu sagen: Trotz der verän-
derten Berechnungsmethode steht der Bund zu der Zu-
sage, die Kommunen um insgesamt 2,5 Milliarden Euro
jährlich zu entlasten. Insgesamt – das ist wichtig; denn
der Bund kann nicht die Entlastung jeder einzelnen
Kommune garantieren. Das lässt unsere Finanzverfas-
sung nicht zu.
Ich weiß, dass sich manche wünschen, der Bund
würde auch lokal für einen Ausgleich sorgen. Hier sind
aber eindeutig die Länder gefordert. Sie müssen im Zuge
des kommunalen Finanzausgleichs für einen angemesse-
nen Ausgleich sorgen.
Wenn nun die Höhe der Bundesbeteiligung an den
Leistungen für Unterkunft und Heizung im Jahr 2008 be-
stimmt wird, dann ist die Anpassungsformel maßgebend,
auf die wir uns im vergangenen Jahr im Bundestag und
im Bundesrat geeinigt haben und die gesetzlich veran-
kert ist.
Der Mechanismus ist klar: Die jahresdurchschnittli-
che Zahl der Bedarfsgemeinschaften von Jahresmitte
2006 bis Jahresmitte 2007 wird ins Verhältnis zu der jah-
resdurchschnittlichen Zahl der Bedarfsgemeinschaften
von Jahresmitte 2005 bis Jahresmitte 2006 gesetzt. Aus
der sich ergebenden Veränderung – multipliziert mit dem
Faktor 0,7 – resultiert die Veränderung der Bundesbetei-
ligung in Prozentpunkten.
Die Berechnungen haben eine durchschnittliche Ver-
änderung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Höhe
von minus 3,7 Prozent und damit eine erforderliche An-
passung der Bundesbeteiligung in Höhe von minus
2,6 Prozentpunkten ergeben. Dementsprechend muss
– das ist der Auftrag des Gesetzes – die Bundesbeteili-
gung an den Leistungen für Unterkunft für 2008 auf bun-
desdurchschnittlich 29,2 Prozent angepasst werden.
Die im letzten Jahr vereinbarten unterschiedlichen
Bundesbeteiligungen für Rheinland-Pfalz und Baden-
Württemberg sowie für die restlichen 14 Länder führen
dazu, dass die Bundesbeteiligung in 2008 für 14 Länder
gemäß der Anpassungsformel auf eine Höhe von
28,6 Prozent, für Baden-Württemberg auf 32,6 Prozent
und für Rheinland-Pfalz auf 38,6 Prozent festzulegen ist.
Das ist das, worauf wir uns Ende 2006 geeinigt haben.
Die gemeinsam gefundene Regelung setzt der vorge-
legte Gesetzentwurf um – eins zu eins. Einen substan-
ziellen Hintergrund für die hier und da geäußerte Kritik
kann ich deshalb nicht erkennen. Im Bundesrat wurde
mit überwiegender Mehrheit diesem Berechnungsmodus
zugestimmt. Heute, nach einem Jahr, will keiner mehr
etwas davon wissen. Eine Anpassung der Bundesbeteili-
gung auf Basis der Ausgabenentwicklung würde bedeu-
ten, dass der Bund über die Bundesbeteiligung die Mehr-
kosten tragen würde. Die Kommunen hätten dann keine
finanziellen Anreize mehr, auf die Angemessenheit der
Leistungen hinzuwirken.
Darüber hinaus wird jetzt gefordert, dass die notwen-
dige Anpassung der Bundesbeteiligung für das Jahr 2008
für jedes der 16 Länder gesondert, also in unterschiedli-
chem Umfang, erfolgt. Das entspricht meines Erachtens
nicht mehr den Intentionen des Gesetzgebers und den im
Vermittlungsauschuss getroffenen Vereinbarungen. Es
ist vereinbart, die Kommunen in der Gesamtheit um
jährlich 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Ich betone es
noch einmal: Der Bund kann nicht die Entlastung jeder
einzelnen Kommune garantieren. Für eine spezifische
Entlastung einzelner existieren andere Ausgleichsme-
chanismen unterhalb der Bundesebene.
Bürokratieabbau ist ein Gebot unserer Zeit. Deshalb
haben wir in den Gesetzentwurf eine weitere Regelung
aufgenommen, die dieser Maxime Rechnung tragen und
den Verwaltungsaufwand reduzieren soll. Worum geht
es? Im letzten Jahr wurde mit dem Gesetz zur Änderung
des SGB II und des Finanzausgleichgesetzes die bis da-
hin geltende periodengerechte Abgrenzung der KdU-Er-
stattung präzisiert. Es hat sich zwischenzeitlich aber he-
rausgestellt, dass diese Präzisierung zwar sachgerecht
und korrekt war, in der Verwaltungspraxis jedoch zu ei-
nem erheblichen Mehraufwand führt.
Im Rahmen dieses Gesetzes soll daher ergänzend mit
einer gesetzlichen Anpassung eine verwaltungsprakti-
kable Umsetzung dieser Präzisierung ermöglicht wer-
den.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetz.
120. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26
Anlage 27
Anlage 28