1) Anlage 28
        Berichtigung
        119. Sitzung, Seite 12375, Ergebnis der namentlichen
        Abstimmung: Der Abgeordnete Gert Winkelmeier (frak-
        tionslos) hat sich nicht enthalten, sondern mit Nein ge-
        stimmt. Deshalb ist sein Name hinter die Nein-Stimmen
        von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu verschieben.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12559
        (A) (C)
        (B) (D)
        hatte daraufhin Kontakt mit dem US-Justizministerium
        aufgenommen. Das BMJ bemühte sich insbesondere umStrothmann, Lena CDU/CSU 24.10.2007
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r) entschuldigt für
        Annen, Niels SPD 24.10.2007
        Bätzing, Sabine SPD 24.10.2007
        von Bismarck, Carl-
        Eduard
        CDU/CSU 24.10.2007
        Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        24.10.2007
        Gabriel, Sigmar SPD 24.10.2007
        Goldmann, Hans-
        Michael
        FDP 24.10.2007
        Granold, Ute CDU/CSU 24.10.2007
        Hänsel, Heike DIE LINKE 24.10.2007
        Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 24.10.2007
        Hettlich, Peter BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        24.10.2007
        Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        24.10.2007
        Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 24.10.2007
        Kühn-Mengel, Helga SPD 24.10.2007
        Landgraf, Katharina CDU/CSU 24.10.2007
        Leutert, Michael DIE LINKE 24.10.2007
        Möller, Kornelia DIE LINKE 24.10.2007
        Roth (Augsburg),
        Claudia
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        24.10.2007
        Rupprecht
        (Tuchenbach),
        Marlene
        SPD 24.10.2007
        Dr. Schwall-Düren,
        Angelica
        SPD 24.10.2007
        Dr. Stinner, Rainer FDP 24.10.2007
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 2
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage der
        Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Druck-
        sache 16/6743, Frage 4):
        Inwieweit wäre die Bundesrepublik Deutschland das ein-
        zige EU-Mitgliedsland, das den für den 23. Oktober 2007 ge-
        planten Vorstoß des EU-Justizkommissars Franco Frattini ab-
        lehnen würde, eine EU-Richtlinie zu einer sogenannten Blue
        Card zur Einwanderung qualifizierter Fachkräfte zu beschlie-
        ßen, und wie begründet die Bundesregierung ihre mögliche
        Ablehnung gegenüber den anderen EU-Mitgliedstaaten und
        dem EU-Parlament, das die Einführung der „Blue Card“ un-
        terstützt (Bericht aus Brüssel Nr. 12/2007 vom 8. Oktober
        2007)?
        Die Kommission hat erst gestern einen Vorschlag für
        eine RL über die Bedingungen von Einreise und Aufent-
        halt von Drittstaatsangehörigen zum Zwecke der Be-
        schäftigung als Hochqualifizierter („RL Hochqualifi-
        zierte“) vorgelegt. Die Haltung der Bundesregierung zu
        dem Richtlinienvorschlag steht noch nicht fest. Sie wird
        nach sorgfältiger Prüfung des Vorschlags und in Abstim-
        mung zwischen den betroffenen Ressorts festgelegt wer-
        den. Eine Bewertung sollte daher nicht vorweggenom-
        men werden.
        Die Auffassungen der anderen EU-Mitgliedstaaten
        sind hier noch nicht bekannt. Ein erster Meinungsaus-
        tausch zwischen den Mitgliedstaaten ist für den nächsten
        J/I-Rat am 8./9. November 2007 in Brüssel im Anschluss
        an die Vorstellung des RL-Vorschlags durch KOM Vize-
        präsident Frattini geplant.
        Anlage 3
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Alfred Hartenbach auf die Frage
        des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 5):
        Warum hat die Bundesregierung, nachdem das Amtsge-
        richt München am 31. Januar 2007 Haftbefehle gegen 13 mut-
        maßliche CIA-Entführer des Khaled El Masri wegen dringen-
        den Verdachts der Freiheitsberaubung und der gefährlichen
        Körperverletzung erließ, sich geweigert, über das Bundesamt
        für Justiz ein diesbezügliches Inhaftnahmeersuchen der
        Münchner Staatsanwaltschaft an die USA weiterzuleiten, und
        in wie vielen Fällen zuvor hat die Bundesregierung schon ein-
        mal derartige Inhaftnahmeersuchen zu übermitteln verweigert
        oder Auslieferungsersuchen von Drittstaaten abgelehnt?
        Die Staatsanwaltschaft München I führt ein Ermitt-
        lungsverfahren wegen Freiheitsberaubung und gefährli-
        cher Körperverletzung zum Nachteil des deutschen
        Staatsangehörigen El Masri. Das AG München hatte in
        diesem Verfahren am 31. Januar 2007 Haftbefehle gegen
        13 Personen erlassen, die Mitarbeiter der Central Intelli-
        gence Agency sein sollen und bei denen es sich mutmaß-
        lich um Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von
        Amerika handelt. Das Bundesministerium der Justiz
        12560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        eine Klärung, ob und gegebenenfalls unter welchen Vo-
        raussetzungen die US-Behörden bereit wären, einem
        Auslieferungsersuchen stattzugeben. Das US-Justiz-
        ministerium hat schließlich schriftlich mitgeteilt, dass
        weder eine vorläufige Inhaftnahme noch eine Ausliefe-
        rung der Betroffenen in Betracht komme. Diese Haltung
        hat die Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen:
        Grundlage des deutsch-amerikanischen Auslieferungs-
        verkehrs ist der Auslieferungsvertrag vom 20. Juni 1978
        in Verbindung mit dem Zusatzvertrag vom 21. Oktober
        1986. Danach sind die US-Behörden nicht zur Ausliefe-
        rung amerikanischer Staatsbürger an Deutschland ver-
        pflichtet. Eine Auslieferung eigener Staatsbürger ist
        zwar nicht ausgeschlossen, sie steht jedoch im Ermessen
        der amerikanischen Behörden. Im umgekehrten Fall
        käme die Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers an
        die USA im Übrigen aufgrund des Verbots in Art. 16
        Abs. 2 Grundgesetz ebenfalls nicht in Betracht. Vor der
        Weiterleitung eines Auslieferungs- oder Rechtshilfeersu-
        chens ist das Bundesministerium der Justiz gehalten, die
        Erfolgsaussichten zu prüfen. Offensichtlich aussichts-
        lose Ersuchen müssen nicht weitergeleitet werden. Dies
        entspricht der üblichen Verfahrensweise und wird auch
        in anderen Fällen so gehandhabt. Eine statistische Erfas-
        sung der Fälle, in denen ein Ersuchen wegen offensicht-
        licher Aussichtslosigkeit nicht weitergeleitet wird,
        erfolgt nicht. Die Zahlen abgelehnter Auslieferungsersu-
        chen von Drittstaaten können der „Bekanntmachung der
        Auslieferungsstatistik“, die das BMJ jährlich im Bun-
        desanzeiger veröffentlicht, entnommen werden. Die
        Zahlen für 2006 werden derzeit noch aufbereitet und vo-
        raussichtlich Ende 2007/Anfang 2008 erscheinen. Im
        Jahr 2005 wurden 176 Auslieferungsersuchen von der
        Bundesrepublik Deutschland abgelehnt. Im Gegenzug
        wurden 95 Ersuchen deutscher Behörden an ausländi-
        sche Staaten von diesen abgelehnt.
        Anlage 4
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Alfred Hartenbach auf die Frage
        des Abgeordneten Klaus Hofbauer (CDU/CSU)
        (Drucksache 16/6743, Frage 6):
        Ab wann stehen die Haushaltsmittel zur Umsetzung des
        „Dritten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtli-
        cher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der
        ehemaligen DDR“, in Kraft getreten am 29. August 2007, für
        die „Besondere Zuwendung nach § 17 a des Strafrechtlichen
        Rehabilitierungsgesetzes“ den auszahlenden Dienststellen zur
        Verfügung, da laut telefonischer Auskunft der Regierung der
        Oberpfalz vom 16. Oktober 2007 derartige Mittel nicht vor-
        handen sind?
        Warum in Bayern keine ausreichenden Mittel für diese
        neue Leistung vorhanden sein sollen, ist hier nicht bekannt.
        Die Besondere Zuwendung für Haftopfer nach § 17 a des
        Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes wird vom Bund
        zu 65 Prozent und von den Ländern zu 35 Prozent getragen.
        Was den Bundesanteil dieser Leistung angeht, so hat das
        zuständige Bundesamt für Justiz (BfJ) Bayern bisher einen
        Abschlagsbetrag von 73 000 Euro zugewiesen, der aber
        noch nicht abgerufen wurde.
        Anlage 5
        Antwort
        der Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks auf
        die Frage der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (DIE
        LINKE) (Drucksache 16/6743, Frage 7):
        Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag der
        OECD, die Reichen in der Bundesrepublik Deutschland stär-
        ker zu besteuern, um die Arbeitseinkommen zu entlasten, und
        wie bewertet die Bundesregierung die Feststellung der
        OECD, dass Deutschland innerhalb der OECD zu den Län-
        dern gehört, die das Vermögen mit am wenigsten belasten
        (www.sueddeutsche.de; 18. Oktober 2007)?
        Es gibt keinen Vorschlag der OECD, „die Reichen in
        Deutschland“ stärker zu besteuern. Zutreffend ist, dass
        ein Mitarbeiter der OECD anlässlich der Veröffentli-
        chung der „Revenue Statistics 2007“ der Organisation
        der Bundesregierung empfohlen hat, zur Senkung der
        Sozialabgaben das Sozialsystem stärker über Steuern zu
        finanzieren. Diesen Weg hat die Bundesregierung bereits
        beschritten, ergänzend zu den aus dem Bundeshaushalt
        erfolgenden Zahlungen zugunsten der sozialen Siche-
        rungssysteme, zum Beispiel durch den Bundeszuschuss
        zur gesetzlichen Rentenversicherung und die Unterstüt-
        zung der Bundesagentur für Arbeit. So erhält bekannt-
        lich die Bundesagentur für Arbeit seit Beginn des Jahres
        als Finanzierungsbeitrag des Bundes einen Teil der auf-
        grund der Mehrwertsteuererhöhung generierten Steuer-
        mehreinnahmen, was zu einer spürbaren Absenkung des
        Beitragssatzes der Arbeitslosenversicherung geführt hat.
        Auch die Mehreinnahmen aus der so genannten Öko-
        steuer werden bereits zu einem Großteil dazu verwendet,
        die Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung
        zu begrenzen. Zudem soll der Bundeszuschuss an die ge-
        setzliche Krankenversicherung bis 2016 schrittweise von
        2,5 Milliarden Euro auf 14 Milliarden Euro jährlich stei-
        gen. Was die im OECD-Bericht für Deutschland festge-
        stellte vergleichsweise geringe Belastung durch Steuern
        auf Vermögen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass im
        internationalen Vergleich hierunter neben der Vermögen-
        steuer insbesondere auch die Erbschaft- und Schenkung-
        steuer sowie die Grundsteuer verstanden werden. Zudem
        lassen die Revenue Statstics die unterschiedliche Steuer-
        und Abgabenstruktur in den OECD-Staaten generell un-
        berücksichtigt. So dienen etwa Grundsteuern im angel-
        sächsischen Raum vorzugsweise als Finanzierungsquelle
        für öffentliche Leistungen der Kommunen, wofür in
        Deutschland vor allem Gebühren eingesetzt werden. Die
        Vergleichbarkeit der ermittelten Daten ist daher nicht ge-
        geben.
        Anlage 6
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
        der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 8):
        Warum unterstützt der Bundesminister für Ernährung,
        Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, die
        Nährwertkennzeichnung der Ernährungsindustrie, obwohl
        hier deutlich höhere Zuckerbedarfswerte zugrunde liegen, als
        sie beispielsweise von der WHO oder der Deutschen Gesell-
        schaft für Ernährung angenommen werden?
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12561
        (A) (C)
        (B) (D)
        Erweiterte Nährwertinformationen jeglicher Art sind
        Orientierungshilfen für die Verbraucherinnen und Ver-
        braucher. Sie müssen wissenschaftlich begründbar sein,
        dürfen die Käufer nicht irreführen, können aber letztlich
        nie auf den tatsächlichen individuellen Bedarf des ein-
        zelnen Menschen Bezug nehmen, da dieser sehr unter-
        schiedlich ist. Für Gesamtzucker existieren keine Emp-
        fehlungswerte für die Tageszufuhr. Der Richtwert nach
        dem Modell des europäischen Lebensmittelindustriever-
        bandes errechnet sich deshalb aus dem Eigenzuckerge-
        halt von zusammen 45 Gramm, wie er sich aus Richt-
        werten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum
        täglichen Verzehr von Obst, Gemüse und Milchproduk-
        ten errechnet, zuzüglich von 50 Gramm zugesetztem
        Zucker, entsprechend den Vorgaben der WHO. Aus die-
        ser Summe ergibt sich abgerundet ein Richtwert für die
        Tageszufuhr von Zucker in Höhe von 90 Gramm. Dieser
        Bezugwert ist erst einmal ein praktikabler Ausgangs-
        punkt in einer noch nicht abgeschlossenen Diskussion
        um Bezugsgrößen. Die Eckpunkte des BMELV sehen
        aber ausdrücklich vor, dass eine kontinuierliche Weiter-
        entwicklung des Konzeptes vorgenommen wird. Dabei
        soll an dem anstehenden wissenschaftlichen Dialog aus-
        drücklich auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
        (DGE) teilnehmen. Der Referenzwert für Gesamtzucker
        wird auch Gegenstand dieses Dialogs sein.
        Anlage 7
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die
        Frage der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 9):
        Wie stellt sich für die Bundesregierung der Zusammen-
        hang zwischen der marktbeherrschenden Stellung von vier
        Anbietern beim Betrieb der Stromübertragungsnetze, der
        Stromerzeugung und bei den aktuellen Preissteigerungen dar,
        und wie will die Bundesregierung den EU-Beschluss vom
        März 2007 umsetzen, die Energiekonzerne über die Trennung
        von Energieerzeugung und Netzbetrieb zu entflechten?
        Erstens. Der Europäische Rat hat sich in seinem Ener-
        gieaktionsplan vom 8./9. März 2007 ausgesprochen für:
        die wirksame Trennung der Versorgung und Erzeugung
        vom Betrieb der Netze (Entflechtung) auf der Grundlage
        unabhängig organisierter und angemessen regulierter
        Strukturen für den Netzbetrieb, die einen gleichberech-
        tigten und offenen Zugang zu Transportinfrastrukturen
        und die Unabhängigkeit von Entscheidungen über Infra-
        strukturinvestitionen garantieren und zwar durch unab-
        hängig organisierte Strukturen für den Netzbetrieb und
        die Unabhängigkeit von Entscheidungen über Investitio-
        nen in die Netze.
        Entsprechend der Aufforderung des Europäischen Ra-
        tes hat die EU-Kommission am 19. September 2007 ihre
        Vorschläge für ein drittes Strom- und Gasbinnenmarkt-
        paket vorgelegt.
        a) Wir haben jedoch Zweifel, dass die von der EU-
        Kommission nun favorisierte vollständige Eigentums-
        entflechtung der Übertragungs- und Fernleitungs-
        netze der geeignete Motor für die Entwicklung eines
        dynamischen Wettbewerbs ist:
        (1) Die Kommission kann in der ihren Vorschlägen
        zugrunde liegenden Folgenabschätzung (Impact
        Assessment) den Nachweis nicht erbringen, dass
        die Eigentumsentflechtung eine Gewähr für
        niedrige Endverbraucherpreise bietet.
        (2) Bedenklich ist bei den Vorschlägen der EU-
        Kommission zur Eigentumsentflechtung auch,
        dass sie bei Energieversorgungsunternehmen im
        Staatseigentum praktisch wirkungslos blieben.
        (3) In Deutschland haben wir mit der Kraftwerks-
        Netzanschlussverordnung mögliche Diskrimi-
        nierungen beim Anschluss neuer Kraftwerke ans
        Netz beseitigt. Die Verordnung hat also schnel-
        ler, effektiver und unkomplizierter Wirkungen
        gezeigt als es eine Eigentumsentflechtung ver-
        mag.
        Wir werden der Kommission deutlich machen, dass
        wir uns solche pragmatischen, effektiven Lösungen auch
        auf EU-Ebene wünschen.
        b) Klarzustellen ist aber: Wir brauchen eine wirksame
        Entflechtung. Wir stehen daher zu den Beschlüssen
        des Europäischen Rates vom März.
        Zweitens. Das beste Mittel gegen Preiserhöhungen ist
        mehr Wettbewerb. Und hier haben wir auf nationaler
        Ebene bereits gehandelt:
        a) Wir haben die Rahmenbedingungen für einen Liefe-
        rantenwechsel weiter verbessert. Durch neue Rechts-
        verordnungen, die im November 2006 in Kraft getreten
        sind – die Niederspannungs- und die Niederdruckan-
        schlussverordnungen sowie die Grundversorgungs-
        verordnungen für Strom und Gas – wurde die Grund-
        lage dafür geschaffen, dass die Kunden ihren Strom-
        und Gasanbieter noch leichter wechseln können.
        Diese Saat geht jetzt auf. Es ist zu begrüßen, dass
        nun auch die Verbraucherschützer zum Lieferanten-
        wechsel aufrufen. Hier haben die Kunden ein Stück
        Eigenverantwortung, die neuen Möglichkeiten jetzt
        zu nutzen.
        b) Darüber hinaus wurde schon im Herbst 2006 ein
        Maßnahmepaket der Bundesregierung auf den Weg
        gebracht, um den Wettbewerb auf den Strom- und
        Gasmärkten weiter zu stärken:
        (1) Die Regulierung der Netzentgelte ist bereits er-
        folgreich. Die Netzentgelte sind gesunken. Um
        die Regulierung noch weiter zu verbessern, ha-
        ben wir eine Anreizregulierung beschlossen und
        eine entsprechende Rechtsverordnung verab-
        schiedet, die in Kürze in Kraft tritt. Hier sind die
        Dinge auf den Weg gebracht.
        (2) Hauptproblem ist derzeit die Stromerzeugung:
        Mit der Kraftwerks-Netzanschlussverordnung
        hat die Bundesregierung die Weichen dafür ge-
        stellt, dass sich durch den Netzanschluss neuer
        Kraftwerke mittelfristig die Wettbewerbssitua-
        tion bei der Stromerzeugung verbessern kann.
        12562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Denn wir brauchen neue Kraftwerke und gerade
        solche von neuen Anbietern. Die Verordnung er-
        leichtert und beschleunigt den Anschluss neuer
        Kraftwerke.
        (3) Kurzfristig brauchen wir die Schärfung der kar-
        tellrechtlichen Missbrauchsaufsicht: Die GWB-
        Novelle ist von der Bundesregierung im Früh-
        jahr beschlossen worden. Sie hat die Unterstüt-
        zung des Bundesrates erhalten und liegt derzeit
        dem Bundestag zur Entscheidung vor. Es ist
        wichtig, dass dieses Gesetz jetzt möglichst zügig
        in Kraft gesetzt wird, da es den Kartellbehörden
        den Nachweis von missbräuchlich überhöhten
        Strompreisen erleichtern soll.
        Besonders wichtig ist die Beweislastumkehr zulasten
        der Versorger. Hier müssen die Versorger stärker in die
        Begründungspflicht genommen werden.
        Außerdem schaffen wir größere Vergleichsmöglich-
        keiten bei der Preismissbrauchsaufsicht und einen So-
        fortvollzug kartellbehördlicher Entscheidungen. Und wo
        Vergleiche mit den Preisen anderer nicht helfen, weil
        alle zu teuer sind, erleichtern wir den Kartellbehörden
        einen kostenorientierten Prüfansatz.
        Es liegt nun in den Händen des Deutschen Bundesta-
        ges, dass die GWB-Novelle baldmöglichst in Kraft tre-
        ten kann!
        Anlage 8
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Fra-
        gen der Abgeordneten Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 10 und 11):
        Was sind aus Sicht der Bundesregierung die Gründe für
        die aktuellen Preiserhöhungen bei Strom und Erdgas?
        Wie wird die Bundesregierung gegen die aktuellen und die
        bereits in Aussicht gestellten künftigen Erhöhungen der Ener-
        gie- und Erdgaspreise vorgehen?
        Zu Frage 10:
        Als Gründe für die steigenden Strompreise werden
        von den Stromversorgungsunternehmen insbesondere
        die gestiegenen Strombeschaffungskosten und Zusatzbe-
        lastungen aus der Förderung erneuerbarer Energien
        genannt. Ob diese Gründe die Preissteigerungen in der
        vorgesehenen Höhe rechtfertigen, wird sich das Bundes-
        kartellamt genau ansehen. Die Importpreise für Erdgas
        sowie die deutschen Großhandelspreise sind über eine
        Preisgleitklausel an den Heizölpreis gekoppelt. Die an-
        gekündigten Preiserhöhungen für Erdgas werden mit
        dem steigenden Ölpreis und damit zusammenhängenden
        steigenden Beschaffungskosten begründet. Ob die ge-
        stiegenen Heizölpreise die angekündigten Preisstei-
        gerungen rechtfertigen, kann von den zuständigen
        Kartellbehörden nach Maßgabe des kartellrechtlichen
        Missbrauchs- und Diskriminierungsverbots überprüft
        werden.
        Zu Frage 11:
        Bei Strom hat die Bundesregierung ein Maßnahmen-
        programm auf den Weg gebracht, um den Wettbewerb
        besser in Gang zu bringen:
        Die Regulierung der Netzentgelte ist bereits erfolg-
        reich. Um die Aufsicht weiter zu verbessern, wurde eine
        Anreizregulierung der Netzentgelte beschlossen und
        eine entsprechende Rechtsverordnung verabschiedet.
        Bei der Stromerzeugung hat die Bundesregierung die
        Weichen dafür gestellt, dass durch den Netzanschluss
        neuer Kraftwerke sich mittelfristig die Wettbewerbs-
        situation bei der Stromerzeugung verbessern kann. Dafür
        ist eine Kraftwerks-Netzanschlussverordnung bereits im
        Juni dieses Jahres in Kraft getreten. Als kurzfristig wirk-
        sames Mittel sieht sie die Schärfung der kartellrechtli-
        chen Missbrauchsaufsicht: Die entsprechende Novelle
        ist von der Bundesregierung im Frühjahr beschlossen
        worden und liegt derzeit dem Bundestag zur Entschei-
        dung vor. Es ist wichtig, dass dieses Gesetz jetzt mög-
        lichst zügig in Kraft gesetzt wird. Das Bundeskartellamt
        und die Landeskartellbehörden führen halbjährlich eine
        einheitliche Umfrage zur Überprüfung der Gastarife für
        Haushaltskunden und Kleinkunden durch. Auf Basis
        dieser Ergebnisse können von den Kartellbehörden
        Preismissbrauchsverfahren eingeleitet werden. Mit der
        zurzeit im Gesetzgebungsverfahren befindlichen GWB-
        Novelle wird die Missbrauchsaufsicht der Kartellbehör-
        den weiter gestärkt.
        Anlage 9
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
        des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND-NIS
        90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Frage 13):
        Wie viele in Afghanistan gemachte Gefangene, insbeson-
        dere denen rechtsstaatswidrige Verfahren oder Strafen wie die
        Todesstrafe drohen könnten, übergab die Bundeswehr seit Be-
        ginn ihres dortigen Einsatzes je an afghanische und US-ameri-
        kanische Stellen, und gegen wie viele davon wurden dann ein
        rechtsstaatswidriges Verfahren durchgeführt, Folter vollzo-
        gen, die Todesstrafe angedroht, verhängt oder gar vollstreckt?
        Seit Beginn des ISAF-Einsatzes im Dezember 2001
        wurden durch deutsche Kräfte auf der Grundlage des
        ISAF-Mandates mehrere vorübergehend festgehaltene
        Personen an afghanische Stellen übergeben. Eine Über-
        gabe von Personen an US-amerikanische Stellen erfolgte
        in keinem Fall. Der Bundesregierung ist kein Fall be-
        kannt, in dem an einer Person, die durch deutsche Kräfte
        vorübergehend festgehalten und dann an afghanische
        Stellen übergeben wurde, ein rechtsstaatwidriges Verfah-
        ren durchgeführt, diese Person gefoltert oder gegen sie
        die Todesstrafe verhängt oder gar vollstreckt wurde. Im
        Rahmen der Operation Enduring Freedom wurden durch
        deutsche Streitkräfte bislang keine Personen in Gewahr-
        sam genommen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12563
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 10
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
        der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE)
        (Drucksache 16/6743, Frage 14):
        Trifft es zu, dass die Bundesregierung Panzer der Bundes-
        wehr an die kanadischen Truppen, die im Süden Afghanistans
        stationiert sind, im Rahmen eines Leasingvertrages verleiht,
        und welche weiteren Leasingverträge gibt es zur Weitergabe
        von Waffen der Bundeswehr (Wirtschaftswoche, 15. Oktober
        2007)?
        Es trifft nicht zu, dass Deutschland mit Kanada einen
        Leasingvertrag geschlossen hat, sondern Deutschland
        überlässt 20 Kampfpanzer Leopard 2 und zwei Berge-
        panzer Büffel bis zum 30. September 2009 an Kanada
        zum Einsatz in Afghanistan. Darüber hinaus wurde mit
        Spanien ein bis 2016 laufender Mietvertrag über die
        Überlassung von 108 Kampfpanzern Leopard 2 A4 ge-
        schlossen sowie mit Schweden ein Mietvertrag über
        160 Kampfpanzer Leopard 2 A4, der 2009 ausläuft.
        Anlage 11
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Fra-
        gen des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE)
        (Drucksache 16/6743, Fragen 15 und 16):
        Hält es die Bundesregierung für angemessen, wenn der
        ISAF-Generalstabschef, der deutsche Generalmajor Bruno
        Kasdorf, mit der Forderung nach mehr Einsatzkräften in Af-
        ghanistan in die Meinungsbildung des Bundestages eingreift
        (FAZ.NET vom 11. Oktober 2007)?
        Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des Gene-
        ralmajors Bruno Kasdorf, „alle Beschränkungen, die wir ha-
        ben, behindern uns in der militärischen Operationsführung“?
        Zu Frage 15:
        Herr Generalmajor Bruno Kasdorf ist als Chef des Sta-
        bes von ISAF der dienstgradhöchste deutsche Offizier im
        NATO HQ in Kabul. Er verfugt über einen tiefgehenden
        Einblick in die ISAF-Mission und die Entwicklung des
        internationalen Engagements in Afghanistan. Aufgrund
        seiner herausgehobenen Dienststellung wird erwartet,
        dass er sich zum Verlauf der ISAF Operation auch gegen-
        über den Medien äußert. Die von Herrn Generalmajor
        Kasdorf geäußerte Forderung nach Entsendung von mehr
        Einsatzkräften richtete sich an alle NATO-Mitgliedstaa-
        ten. Ihr liegt die Tatsache zugrunde, dass bislang nicht
        alle von den NATO-Kommandobehörden für ISAF als
        notwendig erachteten Kräfte und Fähigkeiten in vollem
        Umfang von den Nationen bereitgestellt wurden.
        Zu Frage 16:
        Die Verfügbarkeit der internationalen Truppen in Af-
        ghanistan unterliegt unterschiedlichen Beschränkungen.
        Teilweise handelt es sich dabei um nationale Beschrän-
        kungen, die dem Einsatz von Kräften räumliche, zeitli-
        che oder andere Beschränkungen für deren Einsatz auf-
        erlegen. Die zitierte Aussage von Herrn Generalmajor
        Kasdorf ist eine sachliche Feststellung, die sich an alle
        ISAF-Truppensteller richtet.
        Anlage 12
        Antwort
        der Parl. Staatssekretärin Karin Roth auf die Fragen des
        Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 17 und 18):
        Welche Aussagen zur Höhe der Anschubfinanzierung für
        den sechsstreifigen Ausbau der Autobahn 8 zwischen Mün-
        chen und Augsburg kann die Bundesregierung zum jetzigen
        Zeitpunkt treffen, nachdem das bisher einer Antwort entge-
        genstehende Nachprüfverfahren vor der Vergabekammer mitt-
        lerweile abgeschlossen werden konnte, und welche Vorhaltun-
        gen hinsichtlich des Zuschlags auf ein Unterangebot wurden
        dem Konzessionsgeber gemacht?
        Wie konnte die Bundesregierung den wirtschaftlichen Vor-
        teil des A-Modells gegenüber der herkömmlichen Finanzie-
        rung des sechsstreifigen Ausbaus der Autobahn 8 zwischen
        München und Augsburg mit 10,02 Prozent beziffern (Antwort
        zu Frage 22 auf Bundestagsdrucksache 16/6063), wenn der
        Ausbau und Unterhalt nach herkömmlichem Verfahren
        257 Millionen Euro gekostet hätten (Antworten zu den Fragen
        18 und 19 auf Bundestagsdrucksache 16/6063), das Konzes-
        sionsvolumen aber 730 Millionen Euro beträgt (Antwort zu
        Frage 21 auf Bundestagsdrucksache 16/6063) und eine Aus-
        sage zu den Kosten erst am Ende der Konzessionslaufzeit ge-
        troffen werden kann (Antwort zu Frage 15 auf Bundestags-
        drucksache 16/6063), und inwieweit hält die Bundesregierung
        das A-Modell für finanziell vorteilhafter für den Bund als das
        F-Modell oder die private Vorfinanzierung?
        Zu Frage 17:
        Die Höhe der Anschubfinanzierung des besten Bie-
        ters, auf dessen Angebot der Zuschlag erteilt wurde, be-
        trug 0 Euro. Entsprechend internationaler Praxis bei
        PPP-Vorhaben trägt der Konzessionsgeber Bund auch
        beim A-Modell Autobahn A 8 das sogenannte Referenz-
        zinssatzänderungsrisiko für den Zeitraum zwischen der
        Angebotslegung am 15. Februar 2007 und der Zuschlags-
        erteilung am 25. April 2007 nach festgelegten Regula-
        rien. Aufgrund von Zinsänderungen in dem genannten
        Zeitraum betrug die insoweit „angepasste“ Anschub-
        finanzierung 6,426 Millionen Euro (brutto). Dieser Be-
        trag wird dem Konzessionsnehmer während der Bauzeit
        in vier gleich hohen Raten gezahlt.
        Zu Frage 18:
        Die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung für das A-Mo-
        dell-Pilotprojekt Autobahn A 8 wurde unter Beachtung
        der Vorgaben des Leitfadens „Wirtschaftlichkeitsunter-
        suchungen bei PPP-Projekten“ erstellt, den die Finanz-
        minister der Länder gemeinsam mit der Bundes-Ar-
        beitsgruppe „Wirtschaftlichkeitsuntersuchung bei PPP-
        Projekten“ unter Mitwirkung des Bundesrechnungshofes
        im September 2006 verabschiedet haben. Danach wer-
        den bei Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen die Kosten
        für eine konventionelle Beschaffungsvariante der Maß-
        nahme (sogenannte PSC-Variante) der sogenannten PPP-
        Variante gegenübergestellt, wobei auf beiden Seiten eine
        zum Betrachtungszeitpunkt möglichst vollständige Kos-
        tenabschätzung durchzuführen ist. Es wurden daher auf
        der PSC-Seite nicht nur die Ausbau- und Unterhaltungs-
        12564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        kosten in Ansatz gebracht, sondern es mussten auch an-
        dere Kostenbestandteile eingerechnet werden, die bei ei-
        ner konventionellen Realisierung anfallen würden, zum
        Beispiel Erhaltungs-, Planungs- und Managementkosten
        sowie Kosten für zurückbehaltene Risiken.
        Darüber hinaus werden bei Wirtschaftlichkeitsunter-
        suchungen alle Kostenbestandteile sowohl auf der PSC-
        als auch auf der PPP-Seite auf einen bestimmten
        Betrachtungszeitpunkt diskontiert und die Zahlungs-
        ströme inflationiert (Barwertvergleich). Einzelbeträge
        werden somit nicht einfach addiert, sondern der Zeit-
        punkt der Auszahlung bzw. der Anfall von Kosten und
        Einnahmen werden berücksichtigt. Es liegt in der Natur
        der Sache jeder – durch die öffentliche Hand oder die
        Privatwirtschaft erstellten – Wirtschaftlichkeitsbetrach-
        tung, die vor Einführung eines Produktes auf dem Markt
        erstellt wird, dass sie prognostischen Charakter hat. Dies
        gilt in besonderem Maße für die Einnahmeprognose, so
        auch beim A-Modell mit verkehrsmengenabhängiger
        Vergütung. Aussagen über die wirtschaftliche Vor- oder
        Nachteilhaftigkeit können sich nur auf den Zeitpunkt der
        jeweiligen Betrachtung beziehen, die ermittelten
        10,02 Prozent bezogen sich auf den Zeitpunkt der Verga-
        beentscheidung. Im Gegensatz zu den auf der Lkw-Maut
        basierenden, im Ergebnis haushaltsfinanzierten A-Mo-
        dellen sind F-Modelle rein nutzerfinanzierte Projekte.
        Der Anwendungsbereich der F-Modelle ist jedoch ge-
        setzlich auf bestimmte Kategorien von Projekten be-
        schränkt. Da eine darüber hinausgehende allgemeine
        Nutzerfinanzierung nicht beabsichtigt ist, kommt ein
        Vergleich beider Modelle nicht in Betracht. PPP-Pro-
        jekte wie die A- und F-Modelle zeichnen sich dadurch
        aus, dass dem Privaten eine Infrastrukturmaßnahme über
        einen längeren, mehrere Lebenszyklusstufen umfassen-
        den Zeitraum übertragen wird. Die Verantwortlichkeit
        des Privaten endet somit nicht nach der maximal fünf-
        jährigen Gewährleistungsfrist, sondern erstreckt sich
        zum Beispiel über 30 Jahre. Dies wirkt sich positiv auf
        die Qualität der (Bau-)Leistung aus. Auch die Verzah-
        nung der einzelnen Bereiche Bauen, Erhalten und Be-
        treiben über den Lebenszyklus führt zu Synergien, was
        sich ebenfalls als (volks-)wirtschaftlich vorteilhaft er-
        weist. Die Projekte der privaten Vorfinanzierung sind
        demgegenüber reine Bau- und Vorfinanzierungsprojekte,
        denen der PPP-typische wirtschaftliche Anreiz zu hoch-
        wertigem, schnellen und möglichst wirtschaftlichen
        Bauen, Betreiben und Erhalten fehlt, weshalb sie im Ver-
        gleich zu PPP-Modellen als unwirtschaftlicher einzustu-
        fen sind.
        Anlage 13
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Achim Großmann auf die Fra-
        gen des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
        (Drucksache 16/6743, Fragen 19 und 20):
        Nach welchen Maßgaben und Kriterien und mit welchen
        Zielstellungen wird der barrierefreie Neu- und Umbau von
        Bahnhöfen der Deutschen Bahn durch den Bund gefördert?
        Inwieweit teilt die Bundesregierung die Kritik des Sozial-
        verbandes VdK Deutschland zu den Plänen vom Bundesmi-
        nister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tie-
        fensee, den barrierefreien Neu- und Umbau von Bahnhöfen
        mit weniger als 1 000 Reisenden pro Tag künftig nicht mehr
        zu fördern (siehe Pressemitteilung „Tiefensee plant Förder-
        verbot für Barrierefreiheit“ des VdK vom 11. Oktober 2007)?
        Zu Frage 19:
        Der Bund fördert die barrierefreie Gestaltung von Per-
        sonenverkehrsanlagen der Deutsche Bahn AG (DB AG)
        nach Maßgabe der in den eisenbahnrechtlichen Regelun-
        gen enthaltenen Zielbestimmungen zur Barrierefreiheit.
        Die nur schrittweise erreichbaren Verbesserungsmaßnah-
        men sind an ihrem Wirkungsgrad zu orientieren. Die Kri-
        terien für Maßnahmen zur barrierefreien Gestaltung rich-
        ten sich nach den jeweiligen besonderen Verhältnissen.
        Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers ist den Ei-
        senbahnen ein Handlungsspielraum darüber belassen, wie
        und wann die gesetzliche Zielbestimmung erreicht wird.
        Die DB AG hat die entsprechenden Vorgaben in ihrem
        Programm nach § 2 Abs. 3 Eisenbahn-Bau- und Betriebs-
        ordnung dargelegt. Die einschlägigen technischen Krite-
        rien sind in ihrer Konzernrichtlinie 813 über die Gestal-
        tung von Bahnanlagen festgeschrieben.
        Zu Frage 20:
        Die in der Pressemitteilung des Sozialverbandes VdK
        Deutschland vom 11. Oktober 2007 geäußerte Kritik, die
        Bundesregierung plane, zukünftig barrierefreie Neu- und
        Umbauten von Bahnhöfen mit weniger als 1 000 Reisen-
        den pro Tag nicht mehr zu fördern, ist unbegründet und
        beruht offensichtlich auf einem Missverständnis. Die Er-
        reichung bestimmter Benchmarks, nämlich für Bahnhöfe
        oder Stationen mit Mittelbahnsteig von 1 000 Ein-, Aus-
        oder Umsteigern pro (Werk-)Tag bzw. bei sonstigen
        Bahnhöfen oder Stationen mit Außenbahnsteigen von
        mindestens 100 Ein-, Aus- oder Umsteiger pro (Werk)-
        Tag, ist Voraussetzung für die Finanzierung des Baus
        neuer Bahnsteige, nicht aber für die Herstellung der Bar-
        rierefreiheit. Für Bahnhöfe der erstgenannten Kategorie
        ist Barrierefreiheit von vornherein herzustellen.
        Aber auch für Bahnsteige der zweitgenannten Kate-
        gorie ist eine barrierefreie Gestaltung möglich, soweit
        diese Ausgestaltung von den Eisenbahninfrastrukturun-
        ternehmen im Rahmen ihres Programms nach § 2 Abs. 3
        Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung im Einzelfall vor-
        gesehen ist. Dies wird in der Regel dann der Fall sein,
        wenn für entsprechende bauliche Maßnahmen für beson-
        dere Personengruppen ein tatsächlicher Bedarf aufgrund
        der örtlichen Gegebenheiten vorliegt, zum Beispiel we-
        gen der Anbindung einer Reha-Klinik oder eines Wohn-
        heimes für behinderte Menschen, soweit die Kosten
        nicht außer Verhältnis stehen. Diese Regelung, nach der
        der Bund seit zehn Jahren verfährt, soll auch künftig gel-
        ten.
        Anlage 14
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Achim Großmann auf die Fra-
        gen der Abgeordneten Veronika Bellmann (CDU/CSU)
        (Drucksache 16/6743, Fragen 21 und 22):
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12565
        (A) (C)
        (B) (D)
        Welches sind die Gründe dafür, dass die Bundesregierung
        entgegen dem Beschluss der Ministerpräsidenten-Konferenz
        Ost (MPK Ost) am 27. Juni 2007 offenbar nicht beabsichtigt,
        innerhalb des Vorhabens Nr. 22 in Anhang III der gemein-
        schaftlichen Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäi-
        schen Verkehrsnetzes (TEN-V-Leitlinien) die Neubaustrecke
        Prag–Dresden und die Ausbaustrecke Dresden–Berlin als
        „prioritär“ einzuordnen bzw. bei der EU-Kommission für die
        anstehende Revision der TEN-Leitlinien anzumelden, und
        welche Fortschritte sind für die Projekte in Ostdeutschland
        zu verzeichnen, mit deren Verwirklichung vor 2010 laut
        Anhang III begonnen werden soll?
        Welche Vor- und Nachteile (gegebenenfalls auch aus zeit-
        licher, planungsseitiger sowie finanzieller Sicht) würden sich
        aus einer Einordnung des Schienenstreckenabschnittes
        Prag–Dresden und Dresden–Berlin ins EFRE-Programm ge-
        genüber einer Anmeldung für die TEN-Projekte ergeben, und
        inwiefern werden im Rahmen einer integrierten Verkehrspoli-
        tik Einnahmen aus der Lkw-Maut für den Ausbau von Schie-
        nenwegen eingesetzt?
        Zu Frage 21:
        Eine Revision der TEN-Leitlinien, in die das von Ih-
        nen angesprochene Anliegen eingebracht werden
        könnte, wird von der Europäischen Kommission frühes-
        tens im Jahr 2009 initiiert werden. Es bleibt abzuwarten,
        welche Kriterien anlässlich der Revision für eine Auf-
        nahme in eine künftige Liste „Vorrangiger Vorhaben“ er-
        füllt werden müssen. Erst wenn diese Kriterien bekannt
        sind, kann eine entsprechende Prüfung und gegebenen-
        falls eine Beantragung erfolgen. In der im Anhang III
        aufgeführten Übersicht der „Vorrangigen Vorhaben, mit
        denen vor 2010 begonnen werden soll“ ist für Ost-
        deutschland das Projekt „Halle/Leipzig–Nürnberg“ ent-
        halten, das sich im Bau befindet.
        Zu Frage 22:
        Die Förderung im EFRE-Bundesprogramm Verkehrs-
        infrastruktur kann bis zu 65 Prozent der „anerkennungs-
        fähigen“ Kosten betragen. Es ist für die gesamte Finan-
        zierungsperiode bekannt, wie hoch die zur Verfügung
        stehenden Fördermittel sind. Es wird national entschie-
        den, welche Projekte zur Förderung vorgeschlagen wer-
        den. Sollte ein Projekt zum Beispiel wegen Bauverzöge-
        rungen die vorgesehenen Mittel nicht absorbieren
        können, kann nach nationaler Entscheidung ein anderes
        deutsches Projekt nachgemeldet werden. Die Förderung
        aus der Haushaltslinie für transeuropäische Netze kann
        höchstens bis zu 10 Prozent für „normale“ Vorhaben
        bzw. bis zu 20 Prozent für „Vorrangige Vorhaben“ betra-
        gen. Die Förderung von bis zu 30 Prozent greift nur bei
        grenzüberschreitenden Abschnitten „Vorrangiger Vorha-
        ben“. Bei TEN-Zuschüssen gibt es keine Quoten für die
        jeweiligen Mitgliedstaaten. Der Zuschussumfang für den
        jeweiligen Mitgliedstaat ist damit zu Beginn der Finanz-
        periode nicht bestimmbar. Für die Förderentscheidung
        hat die EU-Kommission ein Vorschlagsrecht, zudem be-
        darf es der Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaa-
        ten. Die Einstufung eines Projektes als „Vorrangiges
        Vorhaben“ der transeuropäischen Netze für Verkehr ga-
        rantiert keine Bereitstellung europäischer Mittel für die
        jeweiligen Aus- oder Neubaumaßnahmen. Aufgrund des
        Verfahrens über die Gewährung der TEN-Zuschüsse
        kann daher auch nicht sicher gestellt werden, dass frei
        werdende Mittel durch Verzögerungen bei deutschen
        Projekten anderen deutschen Projekten zugute kommen.
        Die im Bedarfsplan Schiene (Bundesschienenwegeaus-
        baugesetz) enthaltene Ausbaustrecke Dresden–Berlin
        wurde in die Indikative Liste der Großprojekte des
        EFRE-Bundesprogramms Verkehrsinfrastruktur (Förder-
        periode 2007 bis 2013) aufgenommen, das zurzeit der
        EU-Kommission zur Genehmigung vorliegt. Nach Ge-
        nehmigung des EFRE-Bundesprogramms kann Deutsch-
        land das Projekt zur Förderung vorschlagen. Eine Neu-
        baustrecke des Streckenabschnitts Dresden–Prag ist
        nicht förderwürdig, da ein solches Vorhaben zurzeit
        nicht Bestandteil des Bedarfsplans Schiene (Bundes-
        schienenwegeausbaugesetz) ist und insoweit keine
        Haushaltsmittel des Bundes zur Verfügung stehen.
        Hinsichtlich Ihrer Frage nach der Verwendung der
        Lkw-Mauteinnahmen legt gemäß § 11 Autobahnmautge-
        setz fest, dass die Mauteinnahmen nach Abzug der Sys-
        temkosten zweckgebunden zur Verbesserung der Verkehrs-
        infrastruktur – überwiegend für die Bundesfernstraßen – zu
        verwenden sind. Nach dem von der Bundesregierung
        verfolgten Konzept einer integrierten Verkehrspolitik
        werden die Einnahmen aus der streckenbezogenen Lkw-
        Maut verkehrsträgerübergreifend eingesetzt. So werden
        50 Prozent der nach Abzug der Betreiberkosten des
        Mautsystems verfügbaren Mautmittel in das Bundes-
        fernstraßennetz, 38 Prozent in das Bundesschienennetz
        und 12 Prozent in das Wasserstraßennetz investiert.
        Anlage 15
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Achim Großmann auf die Fragen
        des Abgeordneten Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 23 und 24):
        Wie lange will sich die Bundesregierung den verfahrenen
        Konflikt zwischen der Deutsche Bahn AG und der Lokführer-
        gewerkschaft GDL noch mit ansehen, ohne sich einzuschal-
        ten?
        Warum sorgt die Bundesregierung angesichts der hohen
        Verantwortung für die Bahnkunden, Bahnmitarbeiter und die
        Volkswirtschaft insgesamt nicht dafür, dass die Führung der
        bundeseigenen DB AG sich an die Schlichtungsvereinbarung
        hält und ein kompromissfähiges Angebot vorlegt, das einen
        „eigenständigen“ Tarifvertrag mit der GDL ermöglicht?
        Die Bundesregierung respektiert den Grundsatz der
        Tarifautonomie. Die Bundesregierung appelliert an die
        Tarifvertragsparteien, sich an das Ergebnis der Schlich-
        tung zu halten und vor diesem Hintergrund Verhandlun-
        gen mit dem Ziel der Einigung zu führen.
        Anlage 16
        Antwort
        der Parl. Staatssekretärin Astrid Klug auf die Fragen der
        Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 25 und 26):
        Welche präventiven Maßnahmen wird die Bundesregie-
        rung ergreifen, um die Bevölkerung vor der durch den Bun-
        desminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, öffentlich ge-
        äußerten Gefahr eines Nuklearterrorismus zu schützen?
        Welche präventiven Maßnahmen wird die Bundesregie-
        rung angesichts der durch den Bundesminister des Innern,
        12566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dr. Wolfgang Schäuble, öffentlich geäußerten Gefahr eines
        Nuklearterrorismus ergreifen, um Transporte von schwachra-
        dioaktivem Material und Lager mit schwachradioaktivem Ma-
        terial besser gegen Diebstahl zu schützen?
        Zu Frage 25:
        Die Äußerungen von Herrn Bundesinnenrninister be-
        ziehen sich auf eine Gefährdungsbewertung im Zusam-
        menhang mit einer sogenannten schmutzigen Bombe, das
        heißt mit einem Sprengsatz, dem radioaktive Stoffe beige-
        mengt sind. Dieses Szenario ist in Expertenkreisen seit ge-
        raumer Zeit bekannt und Anlass für umfangreiche Maß-
        nahmen. Dementsprechend hat die Bundesregierung
        bereits in der Vergangenheit vielfältige Maßnahmen zum
        Schutz vor Anschlägen mit radioaktivem Material ergrif-
        fen und wird diese weiterverfolgen. Diese präventiven
        Maßnahmen beinhalten Regelungen zum Schutz radioak-
        tiven Materials vor Missbrauch ebenso wie die Weiterent-
        wicklung der auf Bundesebene bestehenden Fähigkeiten
        zur Gefahrenabwehr bei missbräuchlicher Verwendung
        von radioaktivem Material, um den Ländern erforderli-
        chenfalls bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe im Ein-
        zelfall effizient Hilfe leisten zu können.
        Zu Frage 26:
        Deutschland verfügt bereits über ein umfangreiches
        und sicheres staatliches Kontrollsystem für radioaktive
        Stoffe. Die Nutzung radioaktiver Stoffe unterliegt nach
        dem Strahlenschutzrecht einem umfassenden Genehmi-
        gungsvorbehalt. Für hochradioaktive Strahlenquellen
        wurde zusätzlich ein zentrales Registrierungssystem ein-
        geführt. Zurzeit werden insbesondere die Anstrengungen
        zum Sabotageschutz bei schwach radioaktiven Stoffen,
        die bei technischen Anwendungen zum Beispiel in Kran-
        kenhäusern oder Forschungslaboren verwendet werden,
        in Zusammenarbeit mit den für die Aufsicht zuständigen
        Landesbehörden intensiviert. Trotz dieser Bemühungen
        wird es einen vollständigen Schutz gegen den Miss-
        brauch radioaktiver Stoffe, insbesondere durch Dieb-
        stahl, nicht geben können.
        Anlage 17
        Antwort
        der Parl. Staatssekretärin Astrid Klug auf die Fragen der
        Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN) (Drucksache 16/6743, Fragen 27 und 28):
        Inwiefern sind die Meldungen vom 17. Oktober 2007 der
        Nachrichtenagenturen AP und AFP zutreffend, dass Deutsch-
        land neben elf weiteren europäischen Staaten die sogenannte
        europäische Seveso-II-Richtlinie (Störfallrichtlinie) trotz
        mehrmaliger Aufforderung durch die EU-Kommission nur
        unzureichend umgesetzt habe und deshalb eine Klage vor dem
        Europäischen Gerichtshof drohe, und was sind die Gründe für
        die mangelnde Umsetzung?
        Welche Maßnahmen will die Bundesregierung bis wann
        zur vollständigen Umsetzung der Seveso-II-Richtlinie ergrei-
        fen, um eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof abzu-
        wenden?
        Zu Frage 27:
        Die zitierten Meldungen treffen zu. Es geht dabei um
        die aus Sicht der Kommission unzureichende Erstellung
        externer Notfallpläne für Betriebsbereiche, die den er-
        weiterten Pflichten der Seveso-II-Richtlinie unterliegen.
        Die Erstellung externer Notfallpläne ist Aufgabe der den
        Länderinnenministerien nachgeordneten Katastrophen-
        schutzbehörden. Nach letzter Mitteilung der Bundesre-
        gierung an die Kommission der Europäischen Gemein-
        schaften vom 23. Mai 2007 waren im April 2007 von
        897 erforderlichen externen Notfallplänen 593 abge-
        schlossen, 199 in Bearbeitung, 34 in der Öffentlichkeits-
        beteiligung in Angriff genommen. Als Gründe für die
        mangelnde Umsetzung nannten die Innenministerien der
        Länder unter anderem sehr zeitaufwändige Abstimmungs-
        probleme wegen der Komplexität vieler Betriebe und er-
        heblichen Zeitaufwand für die Öffentlichkeitsbeteiligung,
        um das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit mit dem
        gleichzeitigen Ziel des Schutzes von Industrieanlagen vor
        Terrorismus und Sabotage zu vereinbaren.
        Zu Frage 28:
        Das Bundesumweltministerium hat die Innenminister
        der Länder seit Oktober 2003 mehrfach auf die bestehen-
        den Defizite bei der Erstellung externer Notfallpläne
        hingewiesen und um schnellstmögliche Behebung der
        Defizite gebeten. Die Länder haben stets versichert, dass
        sie bemüht seien, bestehende Defizite so schnell wie
        möglich aufzuarbeiten. Nach Mitteilung der Länder vom
        Frühjahr 2007 soll dies in der weit überwiegenden Zahl
        der Fälle bis zum Ende des Jahres erfolgt sein. Das Bun-
        desumweltministerium wird die Innenministerien der
        Länder nunmehr erneut auf die besondere Dringlichkeit
        der Situation hinweisen und sie um Mitteilung bitten, bis
        wann die Erstellung der externen Notfallpläne abge-
        schlossen sein wird.
        Anlage 18
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Fragen des
        Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE
        LINKE) (Drucksache 16/6743, Fragen 30 und 31):
        Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
        den Forderungen der nordrhein-westfälischen SPD-Landes-
        vorsitzenden, Hannelore Kraft, und des Ministers für Arbeit,
        Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef
        Laumann, in der WAZ vom 15. Oktober 2007, nach Lösungen
        zu suchen, damit ältere ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher
        nicht „zwangsverrentet“ werden müssen?
        Plant die Bundesregierung gegebenenfalls Änderungen an
        den bestehenden Regelungen im SGB II bzw. SGB III vorzu-
        nehmen, damit ältere ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher
        auch weiterhin die Wahlmöglichkeit haben, dem Arbeitsmarkt
        zur Verfügung zu stehen, und wie sehen diese aus?
        Vor dem Hintergrund, dass die Regelung über den Be-
        zug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
        unter erleichterten Bedingungen vom 1. Januar 2008 an
        nur noch demjenigen zugute kommt, der vor diesem Tag
        das 58. Lebensjahr vollendet hat und dessen Anspruch
        vor dem 1. Januar 2008 entstanden ist, prüft die Bundes-
        regierung derzeit das weitere Vorgehen. Richtschnur ist
        hierbei der Gedanke, wie die Integration Älterer in Er-
        werbsarbeit weiter verbessert werden kann. Die Prüfung
        ist noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung hält
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12567
        (A) (C)
        (B) (D)
        den verwendeten Begriff der Zwangsverrentung für
        falsch. Weder bei § 5 Abs. 3 SGB II noch bei den ande-
        ren genannten Vorschriften handelt es sich um „Zwangs-
        verrentung“. Es ist in jedem Einzelfall unter Abwägung
        aller entscheidungserheblicher Belange zu prüfen, ob ein
        Rentenantrag gestellt werden kann. Insbesondere sind
        alle Möglichkeiten zu prüfen, ob nicht doch eine Integra-
        tion in Erwerbsarbeit möglich ist. Der Träger der Grund-
        sicherung für Arbeitsuchende kann daher nur dann für
        den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einen Antrag stel-
        len, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige zuvor zur
        Stellung des Antrags aufgefordert wurde und dieser dem
        nicht nachgekommen ist. Dabei hat der erwerbsfähige
        Hilfebedürftige Gelegenheit, etwaige Gründe darzule-
        gen, warum ihm die Antragstellung nicht zumutbar ist.
        Auch die zuständigen Rentenversicherungsträger haben
        zu prüfen, ob die Voraussetzungen zum Bezug einer
        Rente vorliegen.
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Neuordnung der Ressortforschung im Geschäfts-
        bereich des Bundesministeriums für Ernäh-
        rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
        (Tagesordnungspunkt 5)
        Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        weiß ja, dass Koalitionsfraktionen dazu verdammt sind,
        ziemlich viele Gesetzentwürfe schönzureden, von denen
        sie eigentlich auch nicht wirklich überzeugt sind. Aber
        es ist auch das Los von uns Oppositionsabgeordneten,
        diese Schönrederei ertragen zu müssen. Was ich aber in
        Sachen Neuordnung der Agrarressortforschung gehört
        habe, war doch des Schlechten eindeutig zu viel. Sie
        wollen 13 Prozent der Stellen abbauen und sprechen da-
        von, dass sich die Agrarforschung trotzdem verbessern
        wird. Glauben Sie wirklich an so hohe Effizienzgewinne
        durch die beschlossenen Institutszusammenlegungen?
        Glauben Sie wirklich, dass die Neuordnung der Institu-
        tionen die Einsparung von 350 Stellen kompensieren
        kann? Ich weiß nicht, wer Ihnen das abnehmen soll!
        Darüber hinaus bleiben Sie eine schlüssige Begrün-
        dung für die Schließung von vier Forschungsstandorten
        schuldig und haben so keinerlei Rechtfertigung für die
        Belastungen, die auf die betroffenen Mitarbeiter und ihre
        Familien, die mit umziehen und sich woanders einen
        neuen Job suchen müssen, zukommen.
        Man kann ein System auch kranksparen. Und das
        scheint mir gerade zu passieren: Die Forst- und die
        Fischereiwissenschaften verlieren ihre organisatorische
        Eigenständigkeit. Damit werden Bereiche, die zuneh-
        mendem Nutzungsdruck ausgesetzt sind und deshalb ho-
        hen Forschungsbedarf haben, marginalisiert. Dabei hät-
        ten sie eine Aufwertung verdient. Grundsätzlich ist es
        zwar richtig und notwendig, Zahl und Inhalt der For-
        schungsfelder immer wieder neu an die aktuellen He-
        rausforderungen anzupassen. Richtig ist zum Beispiel
        die Einrichtung des Instituts für Agrarrelevante Klima-
        forschung und des Instituts für Biodiversität. Ich be-
        zweifle aber sehr, dass man immer gleich komplett neue
        Institutslandschaften gestalten muss.
        Ich kritisiere auch, dass Minister Seehofer sein Kon-
        zept beschlossen hat, bevor der Agrarausschuss seine
        Anhörung zum Thema durchgeführt hat. Damit hat das
        Ministerium ziemlich deutlich gezeigt, was es von parla-
        mentarischer Beteiligung hält – nämlich nichts. Die An-
        hörung wurde so zur Farce. Aber diese Missachtung galt
        nicht nur dem Parlament. Auch die Beteiligung der
        Fachöffentlichkeit war von vornherein genau so wenig
        vorgesehen wie die des Parlamentes. Die Diskussion im
        Ausschuss und in der Öffentlichkeit fand nur statt, weil
        der Entwurf des Konzeptes gegen den Willen des Minis-
        teriums bekannt wurde. Immerhin führte die öffentliche
        Diskussion dazu, dass dem Konzept einige Zähne gezo-
        gen wurden.
        So ist es ein großer Erfolg, dass die gerade erst in den
        letzten Jahren aufgebaute Ökolandbauforschung am
        Standort Trenthorst fortgesetzt werden kann. Es wäre
        doch geradezu absurd gewesen, Trenthorst mit der Be-
        gründung, die Forschungsaufgaben seien woanders effi-
        zienter zu bewältigen, wieder zu schließen. Hier hat of-
        fenbar der Wunsch, am wirtschaftlichen Aufschwung
        von Ökolandbau und Biomarkt zu partizipieren, die ideo-
        logische Ablehnung des Ökolandbaus bezwungen. Das
        ist ein Beispiel dafür, dass Gutes sich auf Dauer durch-
        setzt, unter Schwarz-Rot geht das allerdings nur sehr
        mühsam.
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung:
        – Antrag: Kommunales Wahlrecht für Dritt-
        staatenangehörige einführen
        – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Grundgesetzes (Kommunales Ausländer-
        wahlrecht)
        (Tagesordnungspunkt 8 a und b)
        Gert Winkelmeier (fraktionslos): Es erscheint schon
        irgendwie ein wenig absurd: Österreicher dürfen in
        Deutschland auf kommunaler Ebene wählen, Schweizer
        dürfen es nicht. Hier verfängt das Argument vom Be-
        kenntnis zur christlich-abendländischen Werteordnung,
        die einen Menschen – wenn es nach großen Teilen der
        Union geht – erst berechtigt, deutscher Staatsbürger zu
        werden und damit dann auch wahlberechtigt zu sein,
        wohl eher nicht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der
        hessische CDU-Fraktionsvorsitzende, Dr. Wagner, ei-
        nem Schweizer die abendländische Herkunft absprechen
        würde.
        Das Wahlrecht an die christlich-abendländische Wer-
        teordnung zu koppeln, ist ein Schlag ins Gesicht all der
        Deutschen, die keiner christlichen Religionsgemein-
        12568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        schaft angehören. Will die CDU/CSU denen vielleicht
        auch das Wahlrecht entziehen?
        Das derzeit existierende Ausländerwahlrecht ist letzt-
        lich ein Zweiklassenwahlrecht. Ist es etwa plausibel, wa-
        rum ein EU-Bürger nach drei Monaten Aufenthalt in die-
        sem Lande Mitglied in einem Kommunalparlament
        werden kann, während ein Türke, der seit 15 Jahren hier
        lebt, sich vielleicht sogar in seiner Kommune engagiert,
        noch nicht einmal wählen darf? Das ist schlicht nicht
        nachvollziehbar und es ist ungerecht.
        Um den Art. 28 Abs. 1 des Grundgesetzes zu ändern,
        wäre – das wissen wir alle – eine Zweidrittelmehrheit in
        Bundesrat und Bundestag nötig. Sie scheint in weiter
        Ferne, wie die bisher nicht einmal begründete Ableh-
        nung der Bundesratsinitiative von Rheinland-Pfalz und
        Berlin durch die zuständigen Ausschüsse zeigt. Dabei
        haben die Gegner eines erweiterten Ausländerwahlrechts
        die deutlich schlechteren Argumente; denn gerade in
        Zeiten der Globalisierung, ist die ganze Welt der Ar-
        beitsmarkt. Im Jahr 2005 gab es weltweit 200 Millionen
        Migranten.
        In 45 Demokratien – unter anderem in Irland, Groß-
        britannien und den skandinavischen Ländern – gibt es
        ein Ausländerwahlrecht auf lokaler, regionaler oder so-
        gar auf nationaler Ebene. In Deutschland hingegen ist
        man nicht bereit, Drittstaatenangehörigen ihr Bürger-
        recht auf politische Partizipation in Form von Wahlen
        zuzugestehen, nicht einmal auf kommunaler Ebene. Das
        ist ein Skandal. Denn sie zahlen genauso ihre Steuern
        wie EU-Bürger oder deutsche Staatsbürger. Also sollten
        Ihnen auch vergleichbare Rechte eingeräumt werden.
        Längst ist erwiesen, dass Integration und Teilhabe-
        rechte zwei Seiten einer Medaille sind. Ein gleichbe-
        rechtigter Zugang zu politischen Entscheidungen auf der
        kommunalen Ebene für alle hier Lebenden gehört un-
        trennbar dazu.
        Es gibt inzwischen auch in der Union Rufe nach ei-
        nem kommunalen Ausländerwahlrecht auch für Dritt-
        staatenangehörige; ich darf nur an die Oberbürgermeis-
        terin von Frankfurt am Main, Petra Roth, erinnern. Ich
        möchte der Union ungerne unterstellen, dass ihre Ableh-
        nung mit den Umfragen unter betroffenen ausländischen
        Mitbürgern zusammenhängen könnte, die sehr deutlich
        zugunsten ihres derzeitigen Koalitionspartners ausfallen.
        Denn wir reden hier nicht von ein paar wenigen: Von
        den 6,7 Millionen Menschen in diesem Land ohne deut-
        schen Pass sind etwa 68 Prozent Drittstaatenangehörige,
        in erster Linie mit türkischer, kroatischer und serbischer
        Staatsangehörigkeit, die keineswegs nur vorübergehend
        bei uns leben. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer
        betrug im Jahr 2005 fast 20 Jahre.
        Wir haben es also mit 4,5 Millionen Menschen zu tun,
        die in diesem Land, in dem sie zum großen Teil dauer-
        haft leben und ihre Steuern zahlen, ihr Bürgerrecht auf
        politische Partizipation nicht wahrnehmen dürfen. Das
        muss sich schleunigst ändern.
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Deutsch-brasilianischen Atomvertrag
        durch Erneuerbare-Energien-Vertrag ersetzen
        (Tagesordnungspunkt 10)
        Gabriele Groneberg (SPD): Wenn wir heute über
        die Gestaltung des neuen Deutsch-brasilianischen Ener-
        gieabkommens sprechen, dann haben wir die Neuaus-
        richtung der bilateralen Zusammenarbeit im Energiesek-
        tor nicht zuletzt unserer parlamentarischen Initiative vor
        fast drei Jahren zu verdanken. Wir haben uns damals
        massiv dafür eingesetzt, dass ein umfassender Energie-
        vertrag zwischen Deutschland und Brasilien geschlossen
        wird, der die richtigen Schwerpunkte im Bereich Förde-
        rung erneuerbarer Energien und Energieeffizienz setzt.
        Im Übrigen möchte ich nochmals daran erinnern, dass
        die SPD-Bundestagsfraktion bereits 1994 dazu einen
        Antrag eingebracht hat.
        Wie gesagt, unsere Initiative war mit ausschlagge-
        bend dafür, dass es im November 2004 zum Notenwech-
        sel beider Regierungen kam, der Grundlage ist für die
        derzeit stattfindenden Verhandlungen. Mitte nächsten
        Monats steht voraussichtlich die nächste Verhandlungs-
        runde an. Das neue Energieabkommen soll ganz im Zei-
        chen einer nachhaltigen Energieversorgung stehen: Hier
        geht es um Technologietransfer im Bereich der Explora-
        tion, der Energieeffizienz sowie der erneuerbaren Ener-
        gien. Auch geht es um die Anwendung flexibler Mecha-
        nismen des Kioto-Protokolls und die Entwicklung
        innovativer Antriebstechniken.
        Als Entwicklungspolitikerin halte ich die jetzt einge-
        schlagene Richtung – hin zu einer Energieversorgung,
        die eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht – für abso-
        lut sinnvoll und notwendig. Denn Brasilien ist das größte
        und bevölkerungsreichste Land Südamerikas und die
        neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Land hat den
        zehntgrößten Energieverbrauch der Welt. Wir können
        davon ausgehen, dass die Entwicklung der brasiliani-
        schen Energiepolitik große Vorbildfunktion hat und da-
        mit natürlich auch starken Einfluss nimmt auf die ener-
        giepolitische Ausrichtung seiner Nachbarländer in
        Lateinamerika.
        Brasilien hat in den letzten Jahrzehnten seinen Energie-
        mix diversifiziert und ist somit weniger anfällig für Ener-
        giekrisen. Nicht ohne Grund setzt Brasilien bei diesem
        Energiemix auch stark auf den Ausbau erneuerbarer Ener-
        gien: Das Potenzial für erneuerbare Energien in Brasilien
        ist gewaltig, besonders für Wind- und Sonnenenergie. Die
        deutsche entwicklungspolitische Zusammenarbeit unter-
        stützt Brasilien bereits im Rahmen des Programms „Luz
        para todos“, vor allem durch Versorgung entlegener Ar-
        mutsgebiete im Norden und Nordosten des Landes im Be-
        reich Kleinwasserkraft, bei der Integration solcher Ener-
        gien in die nationale Stromversorgung. Zudem besteht
        eine Zusammenarbeit im Bereich der Energieeffizienz.
        Brasilien gehört immer noch zu den Ländern mit den
        höchsten Leitungsverlusten bei der Stromübertragung.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12569
        (A) (C)
        (B) (D)
        So weit zu den seit Jahren bestehenden Kooperatio-
        nen mit Brasilien.
        Weitere Projekte sind geplant im südbrasilianischen
        Bundesstaat Santa Catarina. Dort sollen vier Kleinwasser-
        kraftwerke entstehen, an deren Finanzierung sich die
        deutsche Zusammenarbeit mit rund 37,23 Millionen Euro
        beteiligt.
        Die jetzt praktizierte entwicklungspolitische Zusam-
        menarbeit wird – ebenso wie die geplanten Vorhaben –
        in das neue Deutsch-brasilianische Energieabkommen
        integriert.
        Liebe Kollegen und Kolleginnen von den Grünen, ich
        kann Ihnen versichern: Wir als SPD-Entwicklungspoliti-
        ker haben auch weiterhin nicht die Absicht, die entwick-
        lungspolitische Zusammenarbeit im Bereich Energiege-
        winnung durch Atomkraft zu unterstützen. Dagegen
        gewinnt die Förderung der erneuerbaren Energien und
        der Energieeffizienz nicht zuletzt vor dem Hintergrund
        der aktuellen Klimadiskussion einen wachsenden Stel-
        lenwert in der Entwicklungskooperation – und dies auch
        in besonderer Weise in der Zusammenarbeit mit Brasi-
        lien.
        Insofern erschließt sich die Ablehnung Ihres Antrages
        aus meinen Ausführungen.
        Rolf Hempelmann (SPD): Die heutige Debatte hat
        eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem deutsch-
        brasilianischen Abkommen über die Zusammenarbeit
        auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie
        von 1975. Damals sollte eine Basis geschaffen werden
        für die industrielle Zusammenarbeit und einen Informa-
        tionsaustausch im Bereich der Nukleartechnologien.
        Knapp 30 Jahre später gab es – nicht zuletzt vor dem
        Hintergrund des nationalen Ausstiegs aus der Nutzung
        der Kernenergie in Deutschland – entsprechende Bemü-
        hungen der damaligen Koalitionsfraktionen und der Re-
        gierungen auf beiden Seiten, die Energiezusammenarbeit
        auf eine neue Grundlage zu stellen. Mit einem diploma-
        tischen Notenaustausch hat sich unsere Regierung mit
        der brasilianischen Seite schließlich auf die Erarbeitung
        eines neuen, umfassenden Energieabkommens und die
        Ablösung des Atomvertrages verständigt.
        Mittlerweile sind jedoch wieder drei Jahre ins Land
        gegangen, ohne dass die Verhandlungen zum Abschluss
        gebracht worden wären. Offenbar handelt es sich hier
        um recht zähe Verhandlungen. Auch das diplomatische
        Parkett ist glatt. Ich begrüße aber, dass sich bereits eine
        Verständigung über neue Schwerpunkte der Zusammen-
        arbeit im Bereich der erneuerbaren Energien und der
        Energieeffizienz abzeichnet. In diesen Feldern streben
        Deutschland und Brasilien für die Zukunft einen intensi-
        ven Erfahrungsaustausch an.
        Außerdem sollen weitere Potenziale für die flexiblen
        Mechanismen des Kioto-Protokolls ausgeschöpft wer-
        den. Seit dem Jahr 2006 haben die sogenannten CDM-
        Projekte in Brasilien erheblich an Bedeutung gewonnen.
        Dabei handelt es sich um Investitionen im Bereich der
        Energiegewinnung aus Zuckerrohrrückständen, aber
        auch um Deponiegasprojekte oder emissionsmindernde
        Maßnahmen im Transportsektor. Die CDM-Maßnahmen
        bieten den in den Emissionshandel eingebunden Unter-
        nehmen die Möglichkeit, die vertraglich festgelegten
        Reduktionsziele auf einem möglichst kosteneffizienten
        Weg zu erfüllen. Das ist nicht nur gut für das Klima, weil
        es letztlich unwichtig ist, wo das CO2 eingespart wird,
        sondern das bringt auch Know-how über neue Energie-
        technologien und Investitionen nach Brasilien.
        In der künftigen deutsch-brasilianischen Energiezu-
        sammenarbeit werden natürlich auch die Biokraftstoffe
        eine große Rolle spielen. Brasilien ist bei der Herstel-
        lung von Bioethanol weltweit führend und verfügt in
        dieser Branche über langjährige Erfahrungen, von denen
        auch die deutsche Branche profitieren kann. In diesem
        Zusammenhang begrüße ich insbesondere auch die Be-
        mühungen der Verhandlungsführer, einen Dialog über
        ein Zertifizierungssystem für Biokraftstoffe einzuleiten.
        Wichtige Impulse für diesen Dialog liefert die geplante
        Nachhaltigkeitsverordnung für den Einsatz von Bio-
        kraftstoffen in Deutschland, die sich derzeit in Ressort-
        abstimmung befindet. Über die Verordnung soll unter
        anderem sichergestellt werden, dass die in Deutschland
        verarbeitete Biomasse nur über ökologisch nachhaltige
        Anbaumethoden gewonnen wird.
        All das sind – dass müssen auch die Kolleginnen und
        Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hono-
        rieren – wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einer zu-
        kunftsweisenden und ökologisch nachhaltigen Energie-
        zusammenarbeit zwischen Deutschland und Brasilien.
        Ihnen müsste klar sein, dass Ihr Antrag von den Tatsa-
        chen überholt ist.
        Aber lassen Sie mich noch kurz auf den Kontext der
        Energiezusammenarbeit mit Brasilien eingehen. Die glo-
        bale Herausforderung des Klimawandels bei einer
        gleichzeitig explodierenden demografischen Entwick-
        lung zeigen, wie wichtig die internationale Kooperation
        auf dem Gebiet der Energie geworden ist. Die Weltbe-
        völkerung wird von heute 6,5 Milliarden auf 8 Milliar-
        den im Jahr 2025 bzw. 9 Milliarden Menschen im Jahr
        2050 anwachsen. Diese Entwicklung wird von der nach-
        holenden Industrialisierung wichtiger Schwellenländer
        wie China, Indien oder eben Brasilien begleitet. Die
        Nachfrage nach dem Produktionsfaktor Energie nimmt
        entsprechend zu. Die Internationale Energieagentur
        prognostiziert, dass der Weltenergieverbrauch bis 2030
        um mehr als 50 Prozent zunehmen wird. Ein Großteil
        des Energiekonsums wird auf heutige Schwellen- und
        Entwicklungsländer entfallen.
        In wenigen Wochen werden die Vereinten Nationen
        auf Bali über ein Kioto-Nachfolgeabkommen verhan-
        deln. Auch im Hinblick darauf ist es für uns nur folge-
        richtig, mit Staaten wie Brasilien einen besonders inten-
        siven Dialog zu führen. Das Land ist mit über
        186 Millionen Einwohnern der größte Energiekonsu-
        ment Südamerikas. Angesichts der wachsenden Energie-
        binnennachfrage hat sich die brasilianische Regierung
        vorgenommen, den Energiemix des Landes zu diversifi-
        zieren. Dabei spielen vor dem Hintergrund großer Gas-
        und Ölvorkommen sowohl fossile Energien als auch re-
        12570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
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        generative und vor allem dezentrale Energieerzeugungs-
        arten eine Rolle. Brasilien hat ein Erneuerbare-Energien-
        Programm ins Leben gerufen, das sich an unserem Ex-
        portschlager, dem deutschen Erneuerbare-Energien-Ge-
        setz orientiert. Diese Linie können wir nur unterstützen.
        Deshalb kann ich nur betonen, wie wichtig es ist, die
        Kooperationsvorhaben im Bereich der angesprochenen
        Zukunftstechnologien der Energieerzeugung und der
        Energieeffizienz bald mit Leben auszufüllen, insbeson-
        dere, da der künftige Umgang mit der Kooperation im
        Bereich der friedlichen Nutzung von Kernenergie offen-
        bar noch zwischen den Vertragspartnern austariert wer-
        den muss. Die SPD-Fraktion strebt weiterhin nach einem
        höheren Maß an Kongruenz zwischen unserer Energiein-
        nenpolitik und unserer Energieaußenpolitik. Aber wir le-
        ben nicht hinter dem Mond und wissen um die zum Teil
        grundsätzlich verschiedenen Auffassungen zu diesem
        Thema auch innerhalb der Regierungskoalition. Das darf
        die Verhandlungen aber nicht weiter in die Länge ziehen.
        Wir haben uns vor nunmehr drei Jahren auf die Aus-
        handlung eines neuen Energieabkommens ohne nuklear-
        technologische Komponente verständigt. Nun wird es
        Zeit, dass wir hier zu einem tragbaren Ergebnis kom-
        men. Die bereits erreichten Gesprächsergebnisse weisen
        in die richtige Richtung.
        Angelika Brunkhorst (FDP): Am 1. März diesen
        Jahres haben wir den Antrag der Grünen, den deutsch-
        brasilianischen Atomvertrag durch einen Erneuerbare-
        Energien-Vertrag zu ersetzen, in 1. Lesung beraten.
        Seitdem hat es in Brasilien in Hinblick auf die Kern-
        energie keine nennenswerten Veränderungen gegeben.
        Insofern bleibe ich bei dem, was ich im März gesagt
        habe, freue mich, dass die Beschlussempfehlung auf
        „Ablehnung“ lautet.
        Denn im letzten Dreivierteljahr ist erneut deutlich ge-
        worden, was wir schon lange wussten: Brasilien ist auf
        Wachstumskurs. Brasilien setzt auf Kernkraft – komme,
        was da wolle.
        Lassen Sie mich ein Papier der Deutschen Bank vom
        Juli dieses Jahres zitieren, um zu veranschaulichen, von
        was für einen Wachstumskurs wir hier sprechen:
        Noch im Jahr 2002 war es während der Wirtschafts-
        und Finanzkrise nur knapp gelungen, die Zahlungs-
        unfähigkeit abzuwenden. Brasiliens Lage und Sta-
        bilität haben sich jedoch im Laufe der letzten fünf
        Jahre dramatisch verbessert. … Für 2009 strebt die
        Regierung einen ausgeglichenen Haushalt an.
        Brasilien ist also auf der wirtschaftlichen Erfolgsspur.
        Und diesem Land wollen die Grünen indirekt vor-
        schreiben, wie es seinen Energiemix zu gestalten hat.
        Stellen Sie sich den Realitäten: Brasilien baut seine
        Kernkraft kräftig aus. Das hat Präsident Lula diesen
        Sommer immer wieder in den Medien sehr deutlich an-
        gekündigt.
        In erster Linie geht es dabei um die Fertigstellung von
        Angra 3, die wir, die FDP-Fraktion, aus verschiedenen
        Gründen sehr begrüßen. Baubeginn soll hier noch in die-
        sem Jahr sein. Dieses Projekt schafft 10 500 direkte und
        indirekte Arbeitsplätze während des Baus und zukünftig
        500 dauerhafte Stellen im laufenden Betrieb.
        Präsident Lula hat aber über dieses Großprojekt hi-
        naus noch ganz andere Dinge vor: Bis 2016 will er ins-
        gesamt 386 Millionen Euro in die brasilianische Kern-
        energie investieren. Die Rede ist vom Bau von vier bis
        acht neuen Kernkraftwerken bis 2030 mit einer Leistung
        von je 1 000 Megawatt. Und die Pläne sind nachvollzieh-
        bar, denn Brasilien ist der sechstgrößte Uranproduzent
        der Welt und verfügt über eigene Anreicherungsanlagen.
        Für uns in Deutschland bedeutet diese Entwicklung,
        dass wir mit der Kompetenz unserer Fachleute weiterhin
        weltweit punkten können. Wahrlich kein Nachteil, wenn
        wir unsere weltweite Führungsposition, was deutsche In-
        genieurskunst angeht, ausbauen.
        Die FDP-Fraktion hatte erst vorgestern Experten zu
        einer Anhörung zum Thema „Reaktorsicherheit“ einge-
        laden. Die Experten mit unterschiedlicher Bewertung
        und Haltung zur Kernenergie stellten dennoch überein-
        stimmend fest, dass unsere Fachleute für die Kernener-
        gieanlagen in die Jahre gekommen sind, ohne dass aus-
        reichend junge Experten ausgebildet wurden. Es herrscht
        ein eklatanter Nachwuchsmangel.
        Gerade diese Experten brauchen wir aber auch, selbst
        wenn der Atomausstieg so kommt, wie er geplant ist.
        Es gibt ein Riesenproblem aus Forschungs-, sicher-
        heitstechnischer und wirtschaftlicher Sicht. Wir brau-
        chen weiterhin die Kompetenz der deutschen Wissen-
        schaft und Industrie und sollten daher aktiv um
        Nachwuchs werben. Übrigens brauchen wir auch für die
        Kontrollbehörden gut ausgebildete Leute.
        Eine erste Reaktion, um den Bedarf zu decken ist die
        Gründung des „Südwestdeutschen Forschungs- und
        Lehrverbund Kerntechnik“ vergangenen Montag.
        Zurück zu Brasilien und Ihrem Antrag. Fazit: Brasi-
        lien ist ein souveränes Land und wird sich nicht, wie Sie
        es wollen, durch vertragliche Änderungen zu einer ande-
        ren Energiepolitik missionieren lassen. Erneuerbare-
        Energien-Technologien sind sicher auch für Brasilien
        eine interessante Option. Zeitpunkt und Ausmaß an
        Nachfrage nach Erneuerbare-Energien-Technologien und
        die Ausgestaltung der vertraglichen Zusammenarbeit auf
        diesem Gebiet wird Brasilien aber selbst bestimmen.
        Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Die Bundesrepublik
        Deutschland hat sich aus guten Gründen für den Aus-
        stieg aus der gefährlichen Atomenergienutzung entschie-
        den. Ich möchte daran erinnern, dass das die Bürgerin-
        nen und Bürger hierzulande genau so sehen: Die
        überwiegende Mehrheit sagt: Atomkraft – nein danke!
        Auch im Bundestag gibt es eine parlamentarische Mehr-
        heit für den Weg in eine nichtnukleare Energieversor-
        gung. Das muss sich endlich auch in der außenpoliti-
        schen Arbeit dieser Bundesregierung widerspiegeln.
        Konsequenterweise bedeutet das: Die nukleare Zu-
        sammenarbeit mit Brasilien muss sofort beendet werden.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12571
        (A) (C)
        (B) (D)
        Stattdessen brauchen wir mit dem Land einen Dialog
        über und einen Transfer von Wissen und Technologie im
        Bereich der erneuerbaren Energien. Davon können beide
        Seiten langfristig profitieren, im wirtschaftlichen, im so-
        zialen und im ökologischen Bereich Nachhaltigkeit als
        Grundlage bilateraler Verträge, das ist die Devise.
        Die Linke stimmt dem Antrag der Grünen deshalb zu.
        Auch wenn der Vorschlag ein wenig spät kommt. In den
        sieben Jahren rot-grüner Regierungszeit wurden derart
        konsequente Forderungen, den deutsch-brasilianischen
        Atomvertrag durch einen Erneuerbare-Energien-Vertrag
        zu ersetzen, nicht vernommen.
        Dabei schielte Brasilien in den 70er-Jahren auf die
        Atombombe, als Deutschland damals unter SPD-Füh-
        rung anfing, Nuklearmaterial nach Lateinamerika zu lie-
        fern. Umso wichtiger ist es jetzt, sich davon zu distanzie-
        ren. Ohnehin verschluckt der Bau des von Siemens
        geplanten Atomkraftwerks Angra 3 Milliarden Dollar
        volkswirtschaftlichen Vermögens. Schon der davor mit
        deutscher Ingenieurskunst errichtete zweite Meiler ging
        nach über 25 Jahren Entwicklungszeit als teuerstes
        Atomkraftwerk der Welt unrühmlich in die Geschichte
        ein.
        Dennoch ist auch heute Gefahr in Verzug: Das staatli-
        che brasilianische Planungsunternehmen EPE hat die Er-
        richtung von vier weiteren Atommeilern vorgeschlagen.
        Niemand weiß, ob sich in Zukunft nicht auch andere
        südamerikanische Staaten auf einen ähnlich gefährlichen
        Weg einlassen. Die strahlende Nuklearspirale, die mit-
        hilfe deutscher Unternehmen bereits den Nahen und
        Mittleren Osten destabilisiert hat, könnte so auch in Süd-
        amerika zu drehen beginnen.
        Deshalb ist bei internationalen Energieverträgen eine
        konsequente Ausrichtung auf Wind, Wasser, Sonne und
        Bioenergie unverzichtbar; denn erneuerbare Energien
        bedeuten Klimaschutz. Das Nobelpreis Komitee hat un-
        längst richtig erkannt: Klimaschutz ist ein unverzichtba-
        rer Beitrag zum Frieden.
        Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein
        Zusammentreffen der beiden Außenminister hat im No-
        vember 2004 das Ende des anachronistischen Atomver-
        trages – aus Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur –
        eingeleitet. Ein nichtnuklearer Energievertrag mit dem
        Schwerpunkt der erneuerbare Energien sollte, so die ge-
        meinsame Willenserklärung – die in einem diplomati-
        schen Notenwechsel niedergelegt wurde –, an seine
        Stelle treten. Statt diese Chance beim Schopf zu packen,
        verhindert das Wirtschaftsministerium seither ein neues
        Abkommen. Der Wirtschaftsminister will sich offen-
        sichtlich auch weiterhin die umstrittene Nuklearoption
        offenhalten, im Zusammenspiel mit der Atomlobby in
        Deutschland und Brasilien.
        Bei der ersten Lesung im Bundestag hat die Koalition
        gezeigt, dass sie in dieser Frage tief gespalten ist. Die
        Abgeordneten der SPD unterstützten in ihren Reden un-
        seren Antrag und schlossen eine Hermes-Bürgschaft für
        das neue AKW Angra 3 aus. Die Union dagegen hielt
        ein flammendes Plädoyer für die Neubelebung der
        Atomkooperation mit Brasilien und bekam dafür den
        Beifall der FDP.
        Was gilt, können Sie heute zeigen, indem Sie diesem
        Antrag zustimmen. Wer offiziell am Atomausstieg fest-
        hält, aber Atomgeschäfte mit Brasilien und anderen Na-
        tionen fördern will, macht sich unglaubwürdig.
        Ich bin gespannt, was Sie sich, meine Damen und
        Herren von der SPD, überlegt haben. Wie man hört, wol-
        len Sie jetzt zum einen den Nuklearvertrag weiterlaufen
        lassen und zum anderen einen Erneuerbaren-Vertrag da-
        neben setzen. Dies ist keine Politik, sondern ein fauler
        Kompromiss, ein Kniefall vor der Atomlobby hüben und
        drüben.
        Im Energiemix Brasiliens hat die Atomenergie ledig-
        lich ein Gewicht von 1,2 Prozent, ist also energiepoli-
        tisch vollkommen unbedeutend. Dies lässt gleichzeitig
        die wirkliche Intention, die die Miltärjunta 1975 ver-
        folgte, hervortreten: Brasilien sollte zur Nuklearmacht
        aufsteigen. Brasilien verfolgte, als es merkte, dass über
        den Atomvertrag mit Deutschland kein entsprechender
        Technologietransfer zustande kam, ein geheimes Paral-
        lelprogramm. Dies zeigt, dass das Nuklearprogramm zu-
        mindest damals – und ich befürchte, es tut es noch im-
        mer – eine Ideologie des nuklearen Großmachtstrebens
        unterstützte.
        Mit gutem Grund prüfen wir die nukleare Zusammen-
        arbeit besonders intensiv. Die Gefahr der Proliferation
        – das Streben von immer mehr Ländern nach der Atom-
        bombe – zeigt sich an den aktuellen Konflikten mit
        Nordkorea und dem Iran deutlich. Dieser Gefahr muss
        man entschlossen entgegentreten.
        Während die Atomkraft für die Energiepolitik Brasi-
        liens bedeutungslos ist, haben die erneuerbaren Energien
        eine hervorragende Rolle im Energiemix des Landes:
        vor allem Wasserkraft und Biomasse. Die Stromerzeu-
        gung basiert hauptsächlich auf Wasserkraft und kann
        hervorragend durch Wind- und Solarenergie ergänzt
        werden. Große Möglichkeiten eröffnen sich – auch aus
        entwicklungspolitischer Perspektive – bei der dezentra-
        len ländlichen Energieversorgung, die unmittelbar zur
        „Armutsbekämpfung“ beiträgt. Die brasilianische Re-
        gierung hat 2004 ein Nationales Programm zur Produk-
        tion von Biodiesel aufgelegt. Dieses verfolgt gleichzeitig
        Umweltziele, Armutsbekämpfung und die wirtschaftli-
        che Stimulierung von ländlichen Regionen in den ärms-
        ten Landesteilen des Nordostens und Nordens.
        Durch die Rehabilitierung von Wasserkraftwerken
        und die Erneuerung von Transmissionssystemen können
        schnell fünf bis sechs AKWs eingespart werden; durch
        Ausweitung und Effizienzsteigerungen bei der Verarbei-
        tung von Zuckerrohr-Bagasse können in den nächsten
        Jahren noch einmal Produktionskapazitäten für Strom
        aus Biomasse im gleichen Umfang entstehen. All diese
        Optionen sind schnell, kostengünstig und ohne Sicher-
        heitsrisiko zu haben. Atomenergie ist die teuerste aller
        Energieoptionen. Es gäbe also viel zu tun, aber die Bun-
        desregierung scheint hier der Devise der brasilianischen
        Atomlobby zu folgen und nichts anzupacken. Damit
        12572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        wird die zukunftsfähige Energiekooperation auf dem Al-
        tar einer überkommenen Atompartnerschaft geopfert.
        Trotz besiegeltem Atomausstieg im Inland tut sich die
        Bundesregierung unglaublich schwer, die gleichen Re-
        geln auch für die Außenwirtschaft gelten zu lassen. Die
        Hermes-Umweltleitlinien sagen, dass keine Atom-
        exporte mehr mit öffentlichen Bürgschaften und Garan-
        tien gefördert werden dürfen. Das Wirtschaftsministerium
        versucht jetzt, die Kantinen in einem Atomkraftwerk so
        großzügig zu definieren, dass mit den Zulieferungen
        zum Kantinenbau bereits 80 Prozent eines AKWs ste-
        hen. Wir sagen „null Toleranz“: keinerlei Zulieferungen
        zum Neubau von Atomkraftwerken! Keine Hermes-Un-
        terstützung für den Bau von Angra 3!
        Bitte kommen Sie zur Besinnung. Gießen Sie kein
        Wasser mehr auf die Mühlen der Atomlobby. Das Ergeb-
        nis ist Stagnation, statt eine dynamische Energiepartner-
        schaft voranzubringen, die große Potenziale auch für den
        Klimaschutz hätte. Ich appelliere auch an die brasiliani-
        sche Seite, sich zu entscheiden. Dadurch dass Sie immer
        wieder die Atomkarte in den bilateralen Verhandlungen
        aufblitzen lassen, tragen Sie dazu bei, dass in attraktiven
        Bereichen wie Biotreibstoffen und Energieeffizienz
        nichts vorangeht.
        Anlage 22
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von
        Jugendfreiwilligendiensten
        – Unterichtung durch die Bundesregierung: Be-
        richt der Bundesregierung zu Prüfaufträgen
        zur Zukunft der Freiwilligendienste, Ausbau
        der Jugendfreiwilligendienste und der genera-
        tionsübergreifenden Freiwilligendienste als zi-
        vilgesellschaftlicher Generationenvertrag für
        Deutschland
        – Antrag: Jugendfreiwilligendienste in einem
        gemeinsamen Gesetzesrahmen zusammen-
        fassen
        – Antrag: Jugendfreiwilligendienste ausbauen
        und Gesamtkonzeption entwickeln
        (Tagesordnungspunkt 11 a und b, Zusatzord-
        nungspunkte 4 und 5)
        Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Die Große Koali-
        tion hält Wort. In der Koalitionsvereinbarung haben wir
        festgelegt, die finanziellen Grundlagen für die Jugend-
        freiwilligendienste zu stärken und ihre gesetzlichen
        Grundlagen zu verbessern. Deshalb haben wir trotz der
        unverändert geltenden Pflicht zur Haushaltskonsolidie-
        rung die Mittel für die Freiwilligendienste schon im letz-
        ten Bundeshaushalt erhöht, und deshalb beraten wir
        heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur
        Förderung von Jugendfreiwilligendiensten.
        Wir haben uns im Vorfeld dieser ersten Lesung auf ei-
        nen gegenüber dem ursprünglichen Zeitplan geänderten
        Beratungsverlauf verständigt. Ich bin sowohl dem Bun-
        desfamilienministerium als auch dem Bundesfinanzmi-
        nisterium für das Entgegenkommen dankbar, weil ich es
        für wichtig halte, dass wir uns bei diesem Gesetzesvor-
        haben nicht nur die Zeit nehmen, in einer Öffentlichen
        Anhörung die Experten anzuhören, sondern uns nach
        Möglichkeit auch interfraktionell auf die Lösung ver-
        ständigen. Die Atmosphäre der ersten Berichterstatterge-
        spräche lässt jedenfalls den Schluss zu, dass uns das ge-
        lingen könnte.
        Die grundsätzliche Zielrichtung des Gesetzentwurfs
        ist sicher unstrittig. Wenn wir die bislang unterschiedli-
        chen gesetzlichen Rahmenbedingungen für das Freiwil-
        lige Soziale Jahr, FSJ, und das Freiwillige Ökologische
        Jahr, FÖJ, zukünftig rechtlich unter einem Dach zusam-
        menführen, ist das ein Beitrag zur Transparenz und auch
        zur Vereinfachung. Und wenn sich in diesem Zusam-
        menhang die Gelegenheit bietet, im Interesse von Trä-
        gern wie Freiwilligen die eine oder andere Unebenheit
        zu glätten, dann sollten wir dies auch tun.
        Uns haben in den vergangenen Tagen eine ganze
        Reihe von Stellungnahmen erreicht; auch der Bundesrat
        hat sich bereits eingehend mit dem Thema befasst. Ver-
        mutlich ging es den Kolleginnen und Kollegen Bericht-
        erstatter ähnlich, dass wir an der einen oder anderen
        Stelle nochmals nachdenklich geworden sind, weil we-
        nigstens nach meiner Auffassung eine Vielzahl von An-
        regungen durchaus in die richtige Richtung geht. Ich will
        dies an einigen Punkten exemplarisch darstellen:
        Erstens. FSJ und FÖJ sind seit Jahren, ja seit Jahr-
        zehnten, feste Begriffe, die sich nicht nur etabliert ha-
        ben, sondern auch positiv besetzt sind. Wir sollten da-
        rauf achten, dass diese Marken erhalten bleiben. Wir tun
        niemandem einen Gefallen, wenn wir diese Begriffe
        ohne Not verändern. Das schlägt sich auch im Sprachge-
        brauch nieder. „Ich mache ein FSJ“, ein kurzer Satz,
        nach dem jeder Bescheid weiß. Dem gegenüber klingt
        der Satz „Ich leiste einen Freiwilligen Sozialen Dienst,
        der ein Jahr dauert“ zugegebenermaßen etwas umständ-
        lich.
        Zweitens. Ich bin der Auffassung, dass der Bildungs-
        charakter der Jugendfreiwilligendienste im Kern erhalten
        bleiben muss. Deshalb hat die Bundesregierung recht,
        wenn sie auf Seite 6 der Broschüre zum neuen Programm
        „Miteinander – füreinander“ formuliert: „Das Freiwillige
        Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr sind
        Bildungsjahre, in denen junge Menschen soziale Kompe-
        tenz erwerben und erproben.“ Konkret gemünzt auf den
        heute in erster Beratung zu diskutierenden Gesetzentwurf
        bedeutet dies, dass wir uns die Formulierung in § 1 noch-
        mals ansehen müssen, wenn nämlich die Jugendfreiwilli-
        gendienste unter die Überschrift „Bürgerschaftliches En-
        gagement“ subsummiert werden und durch diese
        Deklaration an prominenter Stelle der Bildungscharakter
        des Jugendfreiwilligendienstes in den Hintergrund tritt.
        Ich räume ein, dass andere Freiwilligendienste, etwa ge-
        nerationenübergreifende Freiwilligendienste oder For-
        men wie senior expert service weniger stark den Bil-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12573
        (A) (C)
        (B) (D)
        dungsauftrag verfolgen. Jugendfreiwilligendienste jedoch
        sollten auch zukünftig im Kinder- und Jugendplan des
        Bundes verankert sein, da sie einen zentralen Bestandteil
        der jugendpolitischen Agenda des Bundes sind.
        Drittens. Ein schwerer Stein im Magen ist vielen von
        uns das Thema Umsatzsteuer. Wir sind uns vermutlich
        von vornherein einig, dass Jugendfreiwilligendienste
        nicht umsatzsteuerpflichtig werden sollen. Nun stehen
        wir aber vor der Frage, wie wir das am besten bewerk-
        stelligen. Das Ministerium hat uns im Gesetzentwurf ei-
        nen Vorschlag unterbreitet, der sicher gut durchdacht
        und wohl – wenn man das einmal salopp formulieren
        darf – auch wasserdicht zu sein scheint. Viele Träger je-
        doch, insbesondere die kleineren, klagen jetzt schon über
        den Verwaltungsaufwand, der sich damit verbindet. Und
        wenn ich einmal ganz ehrlich sein soll: Ich selbst habe
        den Passus, der sich mit der Umsatzsteuer befasst, noch
        immer nicht ganz verstanden. Ich will stattdessen Ihr
        Augenmerk nochmals auf den Ansatz richten, den der
        Bundesrat in seiner Stellungnahme vorgeschlagen hat.
        Wir sollten insbesondere in der Anhörung die Gelegen-
        heit nutzen, um mit den Experten die Frage zu beraten, ob
        der Vorschlag des Bundesrates nicht zielführender ist –
        unter der Voraussetzung freilich, dass der Jugendfreiwil-
        ligendienst ganz klar und unmissverständlich als Bil-
        dungsmaßnahme deklariert wird und wir dann umsatz-
        steuerrechtlich analog der Leistungen nach dem Kinder-
        und Jugendhilfegesetz verfahren könnten.
        Viertens. Ich will in einem vierten Punkt auf eine An-
        regung zu sprechen kommen, die uns ebenfalls von der
        Länderseite zuging. Die Möglichkeit, Freiwilligen-
        dienste abschnittsweise zu leisten, hat schon im Vorfeld
        der Beratung für Gesprächsstoff gesorgt. Wo einerseits
        die Gefahr der Zerfaserung und damit der geringer wer-
        denden Attraktivität des Dienstes befürchtet wird, be-
        steht natürlich andererseits die Chance, wirklich innova-
        tive Projekte wie zum Beispiel FSJ-Plus in Baden-
        Württemberg, wo das FSJ mit der Erlangung des Real-
        schulabschlusses verbunden wird, auch in Zukunft an-
        bieten zu können. Ich plädiere daher dafür, das Eine zu
        tun und das Andere nicht zu lassen, will sagen: Die
        Möglichkeit, den Dienst abschnittsweise etwa in Blö-
        cken von drei Monaten zu tun, sollte die absolute Aus-
        nahme sein.
        Fünftens. Ein letzter Punkt: Wenn Jugendfreiwilligen-
        dienste tatsächlich etwas Zählbares in einem Lebenslauf
        darstellen sollen – und diesen Aspekt verfolgen wir ja
        bei der Neukonzeption des Zivildienstes als Lerndienstes
        auch –, dann ist der gesetzgeberische Ansatz sicher rich-
        tig, hierfür auch ein qualifiziertes Zeugnis und nicht nur
        eine Bescheinigung zu erhalten. Wir sollten diese Zeug-
        niserstellung zum Obligatorium machen und nicht nur
        als Option vorsehen, die neben einer automatisch auszu-
        stellenden Bescheinigung steht.
        Schlussbemerkung: Wir werden nach Abschluss die-
        ses Gesetzgebungsverfahrens noch nicht am Ende unse-
        rer Aktivitäten in Sachen Freiwilligendienste sein. Der
        Modellversuch „Generationsübergreifende Freiwilligen-
        dienste“ läuft im kommenden Jahr aus, wir müssen uns
        Gedanken machen, wie es weitergehen kann. Ich bin
        Staatssekretär Hoofe dankbar, dass er heute im Aus-
        schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend klar
        dargestellt hat, dass man über eine Regierungsinitiative
        nachdenkt, die zum Ziel haben soll, die unterschiedli-
        chen Ansätze in den einzelnen Bundesministerien beim
        Thema Freiwilligendienst – ich nenne exemplarisch nur
        den lobenswerten Dienst „weltwärts“ aus dem Bundes-
        ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
        Entwicklung – möglichst zu koordinieren, Dopplungen
        zu vermeiden und die Dinge aufeinander abzustimmen.
        Wir sollten letztlich nicht einen Bauchladen mit zig un-
        terschiedlichen Angeboten vor uns her tragen, sondern
        es schaffen, vom FSJ über FÖJ und das Freiwillige Jahr
        in der Kultur bis hin zum Freiwilligen Jahr im Sport eine
        Struktur aufzubauen, die einerseits den unterschiedli-
        chen Bedürfnissen und Wünschen von Freiwilligen ge-
        recht wird, andererseits aber auch sicherstellt, dass die
        unterschiedlichen Dienste zu vergleichbaren Bedingun-
        gen stattfinden können.
        Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Aus-
        schuss und zusammen mit den Berichterstatterinnen und
        Berichterstattern.
        Sönke Rix (SPD): Eine wichtige Säule unserer Bür-
        gergesellschaft sind die Jugendfreiwilligendienste. Sie
        sind ein Erfolgsmodell. Im Übergang zwischen Jugend-
        und Erwachsenenphase eröffnen das Freiwillige Soziale
        und das Freiwillige Ökologische Jahr die Chance per-
        sönlicher und beruflicher Orientierung. Sie bieten jun-
        gen Menschen nach der Schulausbildung oder in der
        weiteren Ausbildungsphase neue Lernerfahrungen. Sie
        vermitteln wichtige fachliche und soziale Fähigkeiten.
        Sie stärken Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein sowie
        Eigen- und Fremdverantwortung. Deshalb sind Jugend-
        freiwilligendienste wichtige Lernorte zwischen Schule
        und Beruf.
        Seit den 70er-Jahren hat sich die Zahl der Teilneh-
        menden am Freiwilligen Sozialen Jahr von 1 000 auf
        rund 25 000 pro Jahrgang erhöht. Hinzu kommen
        1 900 Freiwillige im Ökologischen Jahr. Es gibt aber im-
        mer noch viel mehr Bewerber als angebotene und finan-
        zierte Stellen. Im Durchschnitt kommen drei Bewerber
        auf einen freien Platz.
        Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben uns schon in
        den vergangenen Legislaturperioden für eine Stärkung
        der Freiwilligendienste eingesetzt. Die SPD-AG „Bür-
        gerschaftliches Engagement“ und der Unterausschuss
        „Bürgerschaftliches Engagement“ haben engagierte Ar-
        beit geleistet. Dafür bedanke ich mich an dieser Stelle
        bei allen, die für unsere Sache im Hintergrund die Vor-
        arbeit leisten. Es ist unter anderem diesen Gremien zu
        verdanken, dass das Thema Bürgergesellschaft längst
        kein Schattendasein mehr fristet. Wichtige Weichenstel-
        lungen für Jugendfreiwilligendienste wurden dort unter-
        nommen.
        Zur Erinnerung: Auf unsere Initiative der SPD-Bun-
        destagsfraktion ist im Jahre 2005 der Antrag „Zukunft
        der Freiwilligendienste“ im Bundestag fraktionsüber-
        greifend beschlossen worden. Darin haben wir die
        Weiterentwicklung der nationalen und internationalen
        12574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Jugendfreiwilligendienste gefordert. Vieles davon ist im
        aktuellen Gesetzentwurf aufgegriffen worden.
        Wir diskutieren heute den aktuellen Gesetzentwurf
        zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten. Doch
        erstmal ein Rückblick: Bereits mit der letzten Gesetzes-
        Novellierung 2002 haben wir viel erreicht: Die Platzzah-
        len der Träger haben sich stark erhöht. 4 000 neue Plätze
        sind im FSJ hinzugekommen. Die neuen Regelungen im
        § 14 c des ZDG brachten auch eine Erhöhung der Platz-
        zahlen in den klassischen Bereichen, wie zum Beispiel
        in Altenheimen, Krankenhäusern und Kindergärten, her-
        vor.
        Die Förderung durch das Bundesamt für Zivildienst
        ist für viele Träger so attraktiv, dass sie weitere bis dahin
        nicht finanzierbare Freiwilligenplätze anbieten. Diese
        werden angenommen: Der starke Anstieg bei den jungen
        Männern zwischen 2002 und 2004 ist weitgehend auf die
        neuen Möglichkeiten des Zivildienstgesetzes zurückzu-
        führen. Aber auch die neuen Einsatzfelder, wie bei-
        spielsweise der Sportbereich, ziehen Interessierte an.
        Zudem wurden die Freiwilligendienste auf das außer-
        europäische Ausland ausgeweitet. Dies hat zu einem An-
        stieg der Platzzahlen im Ausland geführt. Und es gibt
        neue Träger, die im Ausland Freiwilligenplätze schaffen.
        In diesem Jahr hat sich in Sachen Jugendfreiwilligen-
        dienste etwas Entscheidendes getan: Das Bundesfami-
        lienministerium hat mit „Freiwilligendienste machen
        kompetent!“ ein neues Programm aufgelegt. Letztes Jahr
        haben wir gefordert, dass die Integration der Jugendli-
        chen unter 17 Jahren und die der Jugendlichen mit Mi-
        grationshintergrund gefördert werden muss. Dafür soll-
        ten Einsatzstellen geschaffen und eine angemessene
        pädagogische Betreuung angeboten werden. Eine höhere
        Bezuschussung für diese Plätze war dringend notwen-
        dig. So können auch die Betreuer in den Einsatzstellen
        ausreichend qualifiziert werden. Außerdem habe schon
        damals einen Schwerpunkt unserer Politik klar formu-
        liert:
        Wir wollen, dass Jugendliche mit Hauptschul-
        abschluss und junge Menschen mit Migrations-
        hintergrund die Möglichkeit haben, einen Freiwilli-
        gendienst anzutreten. Denn der Freiwilligendienst
        bietet einmalige Chancen für eine langfristige Inte-
        gration in unsere Gesellschaft.
        Dies wird nun in dem neuen Programm verwirklicht.
        Es erreicht Jugendliche, die bisher nicht für eine Teil-
        nahme an einem FSJ oder FÖJ gewonnen werden konn-
        ten. Der Schwerpunkt liegt hier noch mehr als sonst auf
        dem Erwerb von sogenannten informellen Kompeten-
        zen. Dazu gehören: Teamfähigkeit, Durchhaltevermö-
        gen, Hilfsbereitschaft und selbstständiges Übernehmen
        von Aufgaben. Das wird den Jugendlichen in diesem
        Programm vermittelt. Auf unsere Initiative wurde eine
        zusätzliche Million Euro für dieses neue Programm zur
        Verfügung gestellt. Eine weitere Million Euro kommt
        aus dem Europäischen Sozialfonds. Es stehen also
        2 Millionen Euro zur Verfügung. Im September dieses
        Jahres fiel der Startschuss für „Freiwilligendienste ma-
        chen kompetent!“. Wir sind gespannt, wie die ersten Er-
        gebnisse ausfallen.
        Doch nun zurück zu dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf, der heute eingebracht wurde. Er heißt „Entwurf ei-
        nes Gesetzes zur Förderung von Jugendfreiwilligen-
        diensten“. Und genau das wollen wir damit erreichen.
        Wir wollen Jugendfreiwilligendienste und alle, die damit
        zu tun haben, fördern. Dazu gehört beispielsweise die
        Umsatzsteuerpflicht. Wir wollen verhindern, dass bei ei-
        nem Jugendfreiwilligendienst eine Umsatzsteuer erho-
        ben wird. Dies gab im Übrigen den Anstoß für den
        neuen Gesetzentwurf. Für die jungen Leute, die einen
        Freiwilligendienst leisten, hat dies direkt natürlich keine
        Auswirkungen. Sie nehmen ihr Freiwilliges Soziales
        oder Ökologisches Jahr ohne die Umsatzsteuerproble-
        matik wahr. Trotzdem ist eine Vermeidung der Umsatz-
        steuerpflicht natürlich umso wichtiger für die Träger und
        Einsatzstellen, um weiterhin eine hohe Zahl von Freiwil-
        ligendienstplätzen anbieten zu können. So tun wir auch
        den Freiwilligen und solchen, die es werden wollen, ei-
        nen Gefallen.
        Doch der Gesetzentwurf hat nicht nur mit Finanzen
        und Steuern zu tun. Wir wollen die Freiwilligendienste
        auch unter anderen Gesichtspunkten weiterentwickeln.
        Aus meinen Gesprächen mit Freiwilligen und ehemali-
        gen Freiwilligen weiß ich, dass sie ihr Soziales oder
        Ökologisches Jahr dazu nutzen, sich nach der Schulzeit
        zu orientieren und Kompetenzen zu erwerben, die es in
        anderen Ausbildungszusammenhängen so nicht gibt.
        Diesen Aspekt wollen wir mit dem neuen Gesetz und ei-
        ner stärkeren Betonung der informellen Bildung stärken.
        Außerdem wollen wir uns noch mehr als bisher an der
        Lebenswirklichkeit von jungen Menschen orientieren.
        Wir tun den jungen Menschen keinen Gefallen, indem
        wir starr an der 1-Jahres-Regelung festhalten. Wir müs-
        sen flexibel auf ihre Wünsche eingehen und uns daran
        gewöhnen, dass ein Freiwilliges Soziales Jahr auch ein-
        mal „nur“ ein halbes Jahr dauert, weil danach das Stu-
        dium oder ein Praktikum beginnt.
        Mit den neu geschaffenen Kombinationsdiensten er-
        möglichen wir es den jungen Freiwilligen, im Inland und
        im Ausland ihren Freiwilligendienst zu absolvieren. Das
        schafft interkulturelle Erfahrungen, und zwar andere als
        zum Beispiel ein Studiensemester im Ausland. Arbeitet
        ein Freiwilliger beispielsweise in einem spanischen Al-
        tenheim, werden dort sicherlich andere Fähigkeiten ge-
        fragt sein als an einer spanischen Uni.
        Außerdem wollen wir benachteiligten Jugendlichen
        mehr Bildungschancen ermöglichen, indem wir in be-
        stimmten Fällen ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein
        Freiwilliges Ökologisches Jahr mit einem formalen Bil-
        dungsauftrag verknüpfen. So konnten Jugendliche aus
        schwierigen sozialen Verhältnissen im „FSJplus“, das in
        den letzten zwei Jahren in Baden-Württemberg durchge-
        führt wurde, auch noch ihren Realschulabschluss erwer-
        ben. Das Programm war ein voller Erfolg.
        Sowohl für die Kombinationsdienste als auch für die
        Freiwilligendienste, die mit einem Bildungsabschluss
        verbunden sind, gilt: Diese Formen sind Ausnahmen.
        Wir wollen diese Ausnahmen fördern, aber gleichzeitig
        stehen wir voll hinter den klassischen FSJ und FÖJ. An
        diesen Abkürzungen, die mittlerweile bei Trägern, Frei-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12575
        (A) (C)
        (B) (D)
        willigen, Schülerinnen und Schülern zu echten Marken
        geworden sind, wollen wir festhalten. FSJ und FÖJ sind
        echte Qualitätsmarken und sollen es bleiben, auch wenn
        ein Freiwilliges Soziales oder Freiwilliges Ökologisches
        Jahr dann einmal 18 oder nur 6 Monate hat.
        Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste weiterent-
        wickeln. Wir möchten sie öffnen für neue Trägerstruktu-
        ren und neue Zielgruppen. Wir wollen, dass Jugendliche
        mit Migrationshintergrund und aus sogenannten bil-
        dungsfernen Schichten ein FSJ oder ein FÖJ genauso
        selbstverständlich für sich in Betracht ziehen wie die
        Abiturientin oder der Realschüler. Dafür wollen wir So-
        zialdemokraten die Migrantenselbstorganisationen als
        Träger und Einsatzstellen für Jugendfreiwilligendienste
        ins Boot holen. Ein erfolgversprechendes Instrument
        können unter anderem Tandemlösungen sein: Trägerge-
        meinschaften aus einem bereits zugelassenen Träger von
        FSJ/FÖJ und Träger, insbesondere aus dem Bereich der
        Migrantenselbsthilfeorganisationen arbeiten auf gleicher
        Augenhöhe zusammen. Das wollen wir ausdrückliche in
        diesem Gesetz regeln.
        Wir möchten, dass es bald mehr Freiwilligendienst-
        plätze gibt, dabei jedoch nicht die Qualität der Betreu-
        ung auf der Strecke bleibt. Neben optimalen strukturel-
        len Bedingungen muss auch der finanzielle Rahmen
        stimmen. Wir setzen uns deshalb für die Erhöhung der
        Haushaltsmittel für die Jugendfreiwilligendienste – um
        2 Millionen Euro für 2008 – ein. Aber auch die Länder
        und die Träger sind hier weiterhin in der Pflicht.
        Mit diesem Gesetz wird ein Schritt in die richtige
        Richtung getan. Wir sind noch nicht am Ziel unserer
        Wünsche, aber auf einem guten Weg. Lassen sie uns ge-
        meinsam daran arbeiten, dass sich noch mehr Jugendli-
        che als bisher und in vielfältigerer Weise für einen Ju-
        gendfreiwilligendienst interessieren, und dass wir bald
        jedem Jugendlichen, der es möchte, einen Platz zur Ver-
        fügung stellen können.
        Über bürgerschaftliches Engagement freue ich mich
        immer, besonders freue ich mich über Engagement von
        jungen Menschen. Denn diese nehmen die Erfahrung ei-
        nes FSJ oder FÖJ mit in ihr späteres Leben und werden
        zu engagierten und verantwortungsbewussten Erwachse-
        nen.
        Sibylle Laurischk (FDP): Die FDP begrüßt den Aus-
        bau von Jugendfreiwilligendiensten, wie es der Deutsche
        Bundestag bereits fraktionsübergreifend in der Be-
        schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio-
        ren, Frauen und Jugend (Bundestagsdrucksache 15/5175)
        aus der letzten Legislaturperiode zum Ausdruck gebracht
        hat. Hierbei war jedoch an den Ausbau der bestehenden
        Dienste gedacht. Nun erleben wir eine Stagnation beim
        Ausbau von FSJ und FÖJ, obwohl noch immer wesent-
        lich mehr Jugendliche dieses Angebot nachfragen als
        Plätze vorhanden sind, und gleichzeitig die explosionsar-
        tige Bereitstellung von Freiwilligenplätzen in anderen
        Ministerien.
        Was aber tut nun dieser Gesetzentwurf? Er trägt nicht
        dazu bei, das Platzangebot im FSJ/FÖJ zu erhöhen, er
        schafft neue Bürokratie und ist inhaltlich unausgegoren.
        Die Bundesregierung betont immer wieder, dass dieser
        Gesetzentwurf vor allem notwendig geworden sei und
        schnell kommen müsse, um die bestehende Umsatzsteu-
        erproblematik zugunsten der Träger und Einsatzstellen
        zu beheben. Hierin besteht überfraktionell absolute Ei-
        nigkeit. Zu prüfen ist allerdings, ob der vorliegende Ge-
        setzentwurf diesem Ziel tatsächlich gerecht wird. Wir er-
        halten momentan täglich Briefe aus der Praxis, die
        Zweifel wecken, ob der Reglungsgehalt des Gesetzes
        hinreichend eindeutig ist, um eine Umsatzsteuerpflicht
        abzuwehren.
        Überhaupt reibt sich der Leser bei der Gesetzeslek-
        türe verblüfft die Augen. Dieses Gesetz soll eindeutig
        nur für die bestehenden Dienste FSJ/FÖJ gelten, nicht
        für den neuen Freiwilligendienst „weltwärts“. Wenn Sie
        aber unter der Rubrik „Kosten des Gesetzes für öffentli-
        che Haushalte“ nachschauen, werden Sie erstaunt feststel-
        len, dass in Bezug auf den Kindergeldanspruch dieses Ge-
        setz nun doch einen Teil der anderen Freiwilligendienste
        neu regelt, allerdings wiederum nur „weltwärts“, nicht
        die anderen Neugründungen wie das „Freiwillige techni-
        sche Jahr“.
        Dies zeigt exemplarisch, dass dem Bundestag wieder
        einmal ein Gesetzesentwurf in großer Hast zugeleitet
        wird, dessen Qualität in vielerlei Hinsicht zu wünschen
        übrig lässt. Teilweise ist der Gesetzentwurf dringend
        notwendig, wie bei der bereits geschilderten Umsatz-
        steuerfrage, teilweise schießt er weit über das Ziel hi-
        naus, und allgemein bleibt er weit hinter den Erwartun-
        gen zurück.
        Der Bundesrat hat dies sehr zutreffend erkannt und in
        seinem Beschluss vom 12. Oktober 2007 die Bundesre-
        gierung aufgefordert, den vorliegenden Gesetzentwurf
        zurückzuziehen und zeitnah einen neuen Gesetzentwurf
        vorzulegen, der sich auf die Lösung der Umsatzsteuer-
        problematik beschränkt. Viele der Kritikpunkte des Bun-
        desrates finden sich auch in den Schreiben der Verbände,
        die uns erreichen und zeigen, dass nicht nur mit heißer
        Nadel ein schlechtes Gesetz gestrickt wurde, sondern
        dass die Kommunikationskompetenz des Ministeriums
        unhaltbar ist. Stellvertretend für die vielen Verbände
        möchte ich aus einem Schreiben des CVJM-Bundesver-
        bandes zitieren:
        Wir bedauern, dass unter diesem großen Zeitdruck
        gravierende Änderungen im Programm vorgenom-
        men werden sollen, ohne dies mit den handelnden
        Akteuren aus der Praxis grundlegend diskutieren zu
        können. Außerdem lassen sich die vorgesehenen
        Veränderungen in keiner Weise mit den Ergebnis-
        sen der FSJ-Evaluation aus dem Jahr 2006 begrün-
        den.
        Ich möchte an dieser Stelle nur noch einmal deutlich
        machen, dass das FSJ/FÖJ Jugendfreiwilligendienste
        sind und damit ein wunderbares Beispiel für das bürger-
        schaftliche Engagement unserer Jugendlichen. Hierzu
        passt das obrigkeitsstaatliche Gehabe des Ministeriums
        ganz und gar nicht. Es ist schlicht peinlich und unakzep-
        tabel, das Veränderungen an einem derartig wichtigen
        Gesetz nicht hinreichend mit den Verbänden besprochen
        12576 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        werden. Für mich ist dies ein einmaliger Vorgang politi-
        scher Borniertheit.
        Leider wirft dies ein negatives Schlaglicht auf die Ar-
        beit des Ministeriums, welches mir auch aus der Praxis
        bestätigt wird. Spricht man mit Verbänden über die FDP-
        Auffassung, dass der neue Freiwilligendienst „welt-
        wärts“, und natürlich auch die anderen neu geschaffenen
        Freiwilligendienste, im Jugendministerium gebündelt
        werden sollten, geht ein Stöhnen durch die Szene. Kurz
        gesagt, Sie haben den Ruf in puncto FSJ/FÖJ unfähig
        und unwillig zu sein. Die Szene ist momentan geradezu
        euphorisch, weil das Entwicklungsministerium genau
        den gegenteiligen Ruf genießt und Dinge ermöglicht,
        wohlgemerkt jenseits des Geldes, wovon die Träger hier
        seit Jahren träumen. In Sachen Verbandkommunikation
        erkundigen Sie sich bei Ihren Kollegen vom Entwick-
        lungsministerium, da können Sie noch was lernen!
        Trotz der Defizite im Familienministerium hält die
        FDP die Zerfledderung der Jugendfreiwilligendienste für
        nicht hinnehmbar. Es ist auch den Bürgern nicht ver-
        ständlich zu machen, warum die Unfähigkeit des Fami-
        lienministeriums nun dazu führt, dass in anderen Minis-
        terien eine spiegelbildliche kostspielige Bürokratie für
        den gleichen Sachverhalt aufgebaut werden muss. Viel-
        mehr müssen die Defizite im Familienministerium kon-
        sequent behoben werden und die Zuständigkeit für sämt-
        liche bestehenden und künftigen Freiwilligendienste hier
        verankert werden. Schließlich ist das FÖJ auch im Ju-
        gend- und nicht im Umweltministerium verankert. Das
        große Manko an dem vorliegenden Gesetz ist, dass ge-
        nau dieser Aspekt keine Berücksichtigung findet und da-
        mit der Zerfledderung der Freiwilligendienste Vorschub
        geleistet wird.
        Die Liberalen treten konsequent für gemeinsame qua-
        litative Mindeststandards bei allen Jugendfreiwilligen-
        diensten ein, die in einem gemeinsamen Rahmengesetz
        geregelt werden müssen. Selbstverständlich soll dies nur
        ein Rahmen zum Schutz der Freiwilligen sein und der je-
        weilige Dienst seinen individuellen und spannenden
        Charakter weiterhin entfalten können.
        Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Bisher ist es so, dass ein
        äußerst geringer Beitrag zur gesetzlichen Rentenversi-
        cherung für alle Teilnehmer des FSJ/FÖJ entrichtet wird.
        Dieser Beitrag entspricht bei Weitem nicht den Beiträ-
        gen zur GRV, die für Wehr- und Zivildienstleistende ent-
        richtet werden, um ihnen durch die Ableistung des
        Pflichtdienstes keinen Nachteil beim Renteneintritt er-
        wachsen zu lassen. Ich finde, dass bei einer Erhöhung
        der FSJ-Dauer auf maximal zwei Jahre von politischer
        Seite nochmals überlegt werden sollte, ob eine Anhe-
        bung der Rentenbeiträge auf das Niveau der Zivildienst-
        leistenden nicht opportun wäre. Was jedoch gar nicht
        geht – und da schaue ich besonders ärgerlich auf die
        Kollegen von der Sozialdemokratie – ist, dass ein Dienst
        „weltwärts“ eingerichtet wird und dieser überhaupt
        keine Zahlungen zur Rentenversicherung auslöst – und
        dies angesichts von 70 Millionen Euro Staatssubventio-
        nen. Wie soll ich denn den jungen Menschen noch erläu-
        tern, wie wichtig die Eigenvorsorge zur Rente ist, wie
        wichtig der Abschluss der sogenannten Riester-Rente ist,
        wenn hier mal eben nebenbei beschlossen wird, das es
        für Jugendliche über die Dauer von zwei Jahren über-
        haupt nicht notwendig sei, irgendwelche Zahlungen in
        die GRV zu tätigen? Das kann doch wohl nicht Ihr er-
        klärter Ernst sein!
        Die Koalition erhöht erst das Renteneintrittsalter von
        65 auf 67, also um zwei Jahre, um bei längerer Lebenser-
        wartung den Einzahlungszeitraum auszuweiten und hält
        es danach nicht für notwendig, dass junge Menschen in
        die GRV für genau diesen Zeitraum einzahlen. Ich wage
        zu behaupten, dass sogar Sie Ihre eigene Politik nicht
        mehr verstehen. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch wie
        notwendig ein gemeinsames Rahmengesetz für die Frei-
        willigendienste ist. Ich hoffe, dass die Bundesregierung
        bereit ist, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
        Elke Reinke (DIE LINKE): Ziel des Gesetzes zur
        Förderung der Jugendfreiwilligendienste soll es sein, die
        Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste in Deutsch-
        land zu verbessern und diese attraktiver zu machen. Lei-
        der erreicht der Entwurf das Ziel nicht ganz, sondern es
        blieb auf halber Strecke stehen.
        Freiwilligendienste sind eine besondere Form des
        bürgerschaftlichen Engagements mit Bildungscharakter.
        Sie leisten durch die Förderung „informellen Lernens
        durch praktische Tätigkeit“ einen bedeutenden Beitrag
        zum lebenslangen Lernen. Auch erlangen die Freiwilli-
        gen hier wichtige persönliche, soziale und (inter)kultu-
        relle Fähigkeiten.
        Alles in allem sollen noch mehr junge Menschen für
        diese Form des bürgerschaftlichen Engagements gewon-
        nen und begeistert werden. Ganz besonders wichtig ist
        es daher, Rücksicht auf die verschiedenen Lebenssitua-
        tionen und Lebensentwürfe von Jugendlichen zu neh-
        men. Das Motto muss lauten: Jugendliche unterstützen
        und schützen!
        Dem wird jedoch nicht durchgängig Rechnung getra-
        gen. Auf drei besonders kritische Bereiche möchte ich
        eingehen: Das Gesetz regelt in § 2 nur die maximale
        Höhe des Taschengeldes. Falls nicht zugleich eine Un-
        tergrenze gebildet wird, sieht Die Linke die Gefahr der
        Ausgrenzung: Bei einem niedrigen Taschengeld können
        möglicherweise nur finanziell besser gestellte Jugendli-
        che an Freiwilligendiensten teilnehmen. Wir sollten aber
        den Zugang für alle interessierten Jugendlichen sicher-
        stellen.
        Der zweite Punkt, der bei uns Linken Unbehagen her-
        vorruft: Ich zitiere aus den Erläuterungen zu § 10: Die
        Vorschrift stellt klar, dass das Teilnahmeverhältnis im
        freiwilligen sozialen Dienst oder im freiwilligen ökolo-
        gischen Dienst kein Arbeitsverhältnis im engeren Sinne
        ist, einem solchen hinsichtlich der Schutzrechte aber
        gleichgestellt werden soll. Gemeint ist der Arbeitneh-
        merschutz, das heißt es geht um die Bestimmungen, die
        Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vor den Gefahren
        des Arbeitslebens schützen sollen.
        Dass die gängigen Arbeitsschutzbestimmungen und
        das Bundesurlaubsgesetz angewendet werden, sollte
        schon eine Selbstverständlichkeit sein. Es wird hier al-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12577
        (A) (C)
        (B) (D)
        lerdings nicht klar definiert, um welches Arbeitsverhält-
        nis es sich denn überhaupt handelt. Sind die Jugendli-
        chen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder
        Arbeitskräfte oder ganz was anderes? Wie sehen ihre ge-
        nauen Rechte und Pflichten aus?
        Die Passage „kein Arbeitsverhältnis im engeren
        Sinne“ betrachten wir daher als mögliches Einfallstor,
        um Mitbestimmungsrechte der Jugendlichen und Mitbe-
        stimmungsrechte des Betriebsrates, nach dem Betriebs-
        verfassungsgesetz, zu beschneiden.
        Wenn man sich des Weiteren den arbeitsrechtlichen
        Teil des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG,
        anschaut, stößt man auf folgendes Problem: Im vorlie-
        genden Gesetzentwurf bleibt unklar, ob die Freiwilligen
        in den persönlichen Anwendungsbereich des § 6 AGG,
        der vor Diskriminierungen im Arbeitsverhältnis schüt-
        zen soll, einbezogen werden. Dürfen die Freiwilligen
        nun den Schutz des AGG genießen oder nicht?
        Abschließend komme ich noch zu einem Punkt, den
        die anderen Fraktionen nicht mehr hören wollen, und
        dies obwohl – oder gerade weil? – er wichtig ist: Die
        Linke warnt davor, die Jugendfreiwilligendienste – wie
        jede andere Form des bürgerschaftlichen Engagements –
        zum Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze
        zu missbrauchen. Prekarisierung und Verdrängung regu-
        lärer Beschäftigung dürfen nicht gefördert werden! Die
        maximale Dauer des Dienstes zu erhöhen, öffnet dafür
        jedenfalls etwas die Tür.
        Auch wenn es immer wieder standhaft geleugnet
        wird, ist die angesprochene Verdrängung in vielen Berei-
        chen, beispielsweise in der Pflege und in der Kinderbe-
        treuung, bereits zu beobachten. Verschließen Sie Ihre
        Augen nicht länger davor!
        Bei vielen lobenswerten Fortschritten sind in dem Ge-
        setzentwurf noch einige Makel zu beseitigen. Die Linke
        geht davon aus, dass die Anhörung am 12. November
        unsere Befürchtungen bestätigen wird.
        Eines muss man sich aber noch mal ganz deutlich ins
        Gedächtnis rufen: Wie Ihnen bekannt sein dürfte, fordert
        Die Linke die Abschaffung der Wehrpflicht. Damit fiele
        dann auch der Zivildienst weg. Nur ein attraktiver und
        ausreichend finanzierter Jugendfreiwilligendienst kann
        die entstehende Lücke schließen. Daran möchten wir mit
        Nachdruck arbeiten!
        Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
        Frau von der Leyens Gesetzentwurf deutlich anzumer-
        ken, dass ihr ein Gesamtkonzept für die Jugendfreiwilli-
        gendienste fehlt. Offenbar ist die Jugendpolitik im Fami-
        lienministerium wieder nur stiefmütterlich behandelt
        worden. Wir teilen deshalb die nahezu einhellige Kritik
        des Bundesrates und der Fachverbände an dem Entwurf.
        Zwar ist es grundsätzlich erfreulich, dass die Bundesre-
        gierung versucht, die Freiwilligendienste zu stärken,
        doch anstatt die Einzelinitiativen verschiedener Ministe-
        rien fachlich zu bündeln und auf eine pädagogisch sinn-
        volle Grundlage zu stellen, sollen mit dem Gesetz nur
        zwei Dienste geregelt werden. Selbst für diese beiden
        Dienste ist der Vorschlag unausgegoren.
        Die Orientierung der Freiwilligendienste an Lernzie-
        len kann mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Finan-
        zierungsstrukturen kaum umgesetzt werden. Die in der
        Evaluation der Freiwilligendienste angemahnte Ände-
        rung dieser Regelungen hat keinen Eingang in den Ge-
        setzentwurf gefunden. Für uns ist es ein unerlässliches
        politisches Signal, die Dienste eindeutig von der Um-
        satzsteuer zu befreien. Ob hierzu die im Gesetzentwurf
        vorgeschlagene Lösung der richtige Weg ist, sollten wir
        in der vorgesehenen Anhörung genauer diskutieren. Man
        merkt dem Gesetzentwurf deutlich an, dass er ursprüng-
        lich die Umsatzsteuerbefreiung zum Kernziel hatte, die
        inhaltliche Konzeption und Weiterentwicklung der Frei-
        willigendienste jedoch vernachlässigt wurden.
        Sehr kritisch sehen wir – wie auch der Bundesrat –
        die vorgesehene Möglichkeit zur Verkürzung der Dienst-
        abschnitte auf drei Monate. Dies widerspricht dem päda-
        gogischen Ziel der qualifizierten Begleitung und Lern-
        phase zur Persönlichkeitsentwicklung. Niemand hat
        etwas gegen kurzzeitiges Engagement oder Praktika; das
        hat dann aber einen anderen Charakter als ein Freiwilli-
        gendienst.
        Die vorgesehenen neuen Möglichkeiten zur Stücke-
        lung und Verlängerung der Dienste auf 24 Monate kön-
        nen im Extremfall dazu führen, dass ein Freiwilliger
        künftig bis zu acht Dreimonatsdienste bei verschiedenen
        Trägern leisten kann. Der Verwaltungsmehraufwand
        wäre gewaltig.
        Noch wichtiger: Das Freiwillige Soziale oder Ökolo-
        gische Jahr darf nicht zum unverbindlichen freiwilligen
        Quartal werden. Ein FSJ in der Psychiatrie oder einem
        Pflegeheim ist kein Schnupperpraktikum, sondern muss
        fundierter Lerndienst bleiben. Die zeitliche Ausweitung
        auf zwei Jahre wiederum birgt die große Gefahr, neue
        Warteschleifen anstelle sinnvoller Freiwilligentätigkeit
        für Jugendliche zu schaffen. Ein Beispiel hierfür ist auch
        das vom Bildungsministerium vorgeschlagene freiwil-
        lige technische Jahr, das zu einem getarnten Langzeit-
        praktikum zu werden droht. Damit ruiniert die Bundes-
        regierung die erfolgreiche Marke „Freiwilliges Jahr“.
        Das Innenministerium plant schon ein Katastrophen-
        schutzjahr. All das läuft unkoordiniert nebeneinander
        her.
        Neue Programme werden verkündet, ohne auf deren
        konkrete Abwicklung im Sinne von Freiwilligen und
        Trägern zu achten. Es gibt zudem keine abgestimmten
        Standards. Und: Die Dienste werden auch finanziell und
        sozialrechtlich willkürlich ungleich behandelt. All das
        zeigt: Der Entwurf eines Jugendfreiwilligendienstgeset-
        zes ist enttäuschend, konzeptionell schwach und kontra-
        produktiv. Wir haben deshalb einen eigenen Antrag zur
        Zukunft der Freiwilligendienste eingebracht. Darin for-
        dern wir die Bundesregierung auf, endlich ein Gesamtkon-
        zept zum deutlichen Ausbau der Jugendfreiwilligendienste
        vorzulegen, das ihr Jugend- und bildungspolitisches Profil
        schärft. Wir wollen die hohe Bereitschaft junger Men-
        schen zu ökologischem, sozialem und kulturellem En-
        gagement im In- und Ausland aufgreifen. Zusätzlich zu
        den 10 000 vorgesehenen entwicklungspolitischen Frei-
        12578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        willigenplätzen wollen wir die Zahl aller Plätze von
        2005 bis 2015 verdoppeln.
        Wesentlich ist für uns dabei auch die Sicherung der
        Qualität der Freiwilligendienste. Als selbst gewählte
        Lernphase müssen sie noch stärker auf Orientierung,
        Bildung und Qualifizierung ausgerichtet werden. Die pä-
        dagogische Begleitung muss Jugendliche bei der Gewin-
        nung neuer Erfahrungen unterstützen. Gerade bildungs-
        ferne Zielgruppen müssen besonders angesprochen und
        gewonnen werden. Wir fordern deshalb einen Freiwilli-
        gendienstplan, der die finanziellen Mittel für alle Frei-
        willigendienste analog zum Kinder- und Jugendplan
        bündelt.
        Auch im Antrag der FDP wird richtigerweise ein Ge-
        samtkonzept gefordert und die mangelnde Koordina-
        tionsleistung des eigentlich federführenden Familienmi-
        nisteriums beklagt. Wir teilen jedoch ausdrücklich nicht
        den FDP-Vorschlag, den entwicklungspolitischen Frei-
        willigendienst einzustellen.
        Das weltwärts-Programm kann ein gelungener Bei-
        trag zum globalen Lernen sein, das wir konstruktiv und
        kritisch begleiten werden. Der Ausbau der Freiwilligen-
        dienste wird nur dann gut gelingen, wenn wir die päda-
        gogische und fachliche Qualität im Rahmen eines Ge-
        samtkonzeptes sichern. Der von der Bundesregierung
        vorgelegte Schmalspurentwurf reicht hierfür bei weitem
        nicht aus.
        Anlage 23
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
        rung des Bundes-Bodenschutzgesetzes
        (BBodSchG)
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Boden-
        schutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten –
        Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit
        wahren
        (Tagesordnungspunkt 12, Zusatztagesordnungs-
        punkt 6)
        Ulrich Petzold (CDU/CSU): Wir beraten heute hier
        zu zwei Vorlagen, die nicht nur auf den ersten Blick als
        einzige Klammer die Beschäftigung mit dem Boden-
        schutz haben. Geht es den Linken um die Novellierung
        eines nationalen Gesetzes, so möchte die FDP mit ihrem
        Antrag eine stärkere Einflussnahme auf eine europäische
        Gesetzgebung erreichen. Grundsätzlich ist auch gerade
        vor dem Hintergrund der geradezu inflationären Aus-
        schussberatungen zum Thema Boden festzustellen, dass
        die Oppositionsparteien scheinbar den Boden als Spiel-
        wiese zu ihrer Profilierung entdeckt haben.
        Ganz deutlich wird das bei dem Gesetzesantrag der
        Linken. Hier wird ein Urteil des Bundesverfassungsge-
        richtes abgeschrieben, mit ein bisschen Propaganda-
        Prosa versetzt und dem staunenden Publikum als eigene
        Leistung verkauft. Dabei war es für diese Partei ein gro-
        ßes Glück, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem
        Grundsatzurteil zu einem Grundstück in den alten Bun-
        desländern geurteilt hat. Stellen sie sich einmal vor, die-
        ses beurteilte Grundstück hätte in Bitterfeld-Leuna oder
        Ronneburg gelegen. Hier hat diese Partei, die sich mit
        ihrem Gesetzentwurf populistisch als Rächer der Ent-
        rechteten aufspielt, wahrlich genug Dreck am Stecken.
        Die Bundesrepublik war es, die mit Milliardenbeträgen
        die Hinterlassenschaft des Aufbaus des Sozialismus
        wegräumen musste und immer noch muss. Wer sich in
        diesem Jahr einmal die Bundesgartenschau in Gera und
        Ronneburg angesehen hat, muss ehrlich bekennen, hier
        sind tatsächlich blühende Landschaften aus der – im
        wahrsten Sinne des Wortes – strahlenden Hinterlassen-
        schaft der linken Einheitspartei entstanden – und nicht
        nur blühende Landschaften als Fassade, nein, es wurde
        richtig tiefgründig in den Boden hinein saniert.
        Es wäre natürlich schön gewesen, wenn wir das viele
        Geld nicht nur für die Hinterlassenschaft der SED hätten
        ausgeben müssen und so auch bundesweit mehr für den
        Bodenschutz hätten machen können. Doch wenn Eigen-
        tum allen und jedem und damit keinem richtig gehört,
        dann fühlt sich auch keiner für die Schäden am sozialis-
        tischen Eigentum verantwortlich. Gerade diese Lehre
        müssen Sie von den Linken, aus Ihrem DDR-Experi-
        ment doch gelernt haben. Ruinen schaffen ohne Waffen
        und eine erschreckende Umweltverschmutzung – das
        war doch das Ergebnis Ihres Sozialismusexperimentes,
        was man nach über 40-jähriger Experimentierphase si-
        cherlich nicht als kleinen Betriebsunfall ansehen kann.
        Haben Sie das schon vergessen? Deshalb ist es gut, dass
        das bundesdeutsche Grundgesetz in Art. 14 dem Eigen-
        tümer Verantwortung zuweist.
        Dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
        vom Februar 2000 eine uneingeschränkte Haftung des
        Grundeigentümers verneint hat, ist meiner Auffassung
        nach bereits unserem Handeln im Rahmen der Privatisie-
        rung durch die Treuhandanstalt mit zuzurechnen. Bereits
        kurz nach der Wende haben wir uns darauf verständigt,
        die neuen Eigentümer bis auf den Flächenwert bei der
        Altlastenhaftung freizustellen, um auch wirklich eine
        wirtschaftliche Entwicklung auch auf Alt-Industrieflä-
        chen sicherzustellen und den Drang zur grünen Wiese zu
        begrenzen. Diese von uns entwickelte Rechtsauffassung,
        die dem neuen Grundeigentümer eine tragbare Verant-
        wortung zuweist, ihn aber nicht überlastet, findet sich di-
        rekt in dem Urteil aus dem Jahr 2000 wider. Auch wenn
        das Bundesverwaltungsgericht in vorhergehenden Urtei-
        len eine höhere Belastung, bis hin zur wirtschaftlichen
        Leistungsfähigkeit von gutgläubigen Grundeigentümern,
        für richtig hielt, hat das Bundesverfassungsgericht auf
        der geltenden Rechtsbasis anders geurteilt. Es führt dazu
        aus – ich zitiere –:
        „Solange der Gesetzgeber, dem es nach Art. 14 I 2.
        GG obliegt, Inhalt und Schranken des Eigentums zu
        bestimmen, die Grenzen des Eigentums nicht aus-
        drücklich regelt, haben die Behörden und Gerichte
        durch Auslegung und Anwendung der die Verant-
        wortlichkeit und Kostenpflicht begründenden Vor-
        schriften sicherzustellen, dass die Belastungen des
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12579
        (A) (C)
        (B) (D)
        Eigentümers das Maß des nach Art. 14 I 2 und II
        GG Zulässigen nicht überschreitet.“
        Da das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil den
        Verkehrswert als Maß des Zulässigen benennt, ist mit
        dem Urteil die Rechtslage mit folgenden Grundsätzen
        abschließend geklärt: Erstens. Das Bundesverfassungs-
        gericht gesteht dem Gesetzgeber zu, eine andere als die
        vom Gericht vorgegebene Regelung zur Eigentumsver-
        antwortung bei der Altlastensanierung zu treffen. Zwei-
        tens. So lange gilt die vom Gericht gefundene Begren-
        zung der Eigentümerbelastung bis zum Verkehrswert. Es
        besteht also für den Gesetzgeber nur Handlungsbedarf,
        wenn er mit dem Urteil nicht einverstanden ist. Da wir,
        wie ich bereits erläutert habe, die Voraussetzung für das
        Urteil mit geschaffen haben, sehen wir keinen Hand-
        lungsbedarf. Wenn die Linke im Jahr 2006 ein Urteil aus
        dem Jahr 2000 aufgreift und zu einem Gesetzentwurf
        entwickelt, obwohl das Urteil eine befriedende Wirkung
        bereits entfaltet hat, muss man wohl entweder von Popu-
        lismus oder Klientelpolitik ausgehen.
        So ein bisschen Scharlatanerie muss man dann auch
        der FDP mit ihrem Antrag vorhalten. Mein Kollege
        Müller hat es in seinen Ausführungen im Ausschuss nett
        ausgedrückt und hat sich bei der FDP für die Würdigung
        der Vorarbeit von CDU/CSU und SPD bedankt. Lassen
        Sie es mich etwas deutlicher sagen: Bis auf ein paar
        Schönheitsschnörkel ist es ein Plagiat, was uns heute
        vorliegt. In vielen Stunden und unendlichen Beratungen
        in den verschiedensten Gremien wurde ein Antrag ent-
        wickelt, in dem der Gehirnschmalz von vielen steckt,
        aber nur zum verschwindenden Teil von der FDP. Ich
        möchte heute hier dennoch unsere Beratungen zum An-
        lass nehmen, auch noch einmal meinem Kollegen Müller
        und seinem Team für die gute und vertrauensvolle Zu-
        sammenarbeit zu danken, für die vielen Ideen und Bei-
        träge. Leider wurde uns dann kurz vor dem Ziel durch
        die Bedenken einiger Landesregierungen ein Strich
        durch die Rechnung, sprich: unseren Antrag, gemacht.
        Selbstverständlich muss man diese Bedenken ernst neh-
        men: Entspricht eine Bodenschutzrahmenrichtlinie dem
        Gedanken der Subsidiarität nach Art. 175 II EG-Vertrag?
        Der Rechtssausschuss des Europäischen Parlaments hat
        in seinen Beratungen vom 3. Mai und 10. September die-
        ses Jahres diese Frage klar verneint. Sage und schreibe
        586 Änderungsanträge beim federführenden Umwelt-
        ausschuss des EU-Parlaments sprechen auch eine deutli-
        che Sprache.
        Es ist richtig, wir haben in Deutschland einen sehr ho-
        hen Standard im vor- und nachsorgenden Bodenschutz.
        In wohl kaum einem weiteren europäischen Mitglied-
        staat ist die Normensetzung so ausgefeilt und wird in der
        Praxis auch gelebt, wenn man sich zum Beispiel den Ni-
        tratschutzbericht der Kommission vom März dieses Jah-
        res ansieht. Ein Richtlinienentwurf mit einer anderen
        Rechtsbasis kann mehr Schaden als Nutzen in Deutsch-
        land anrichten. Sehr wohl ist es wahr, dass in leider zu
        vielen europäischen Ländern zu sorglos mit der Res-
        source Boden umgegangen wird. Aber ist Boden wirk-
        lich eine grenzüberschreitende Ressource? Boden ist re-
        gional gebunden. Auch Bodenabtragungen wie Wind-
        oder Wassererosion haben lokale Ursachen und lokale
        Auswirkungen. Ist eine Verletzung der Subsidiarität hier
        wirklich notwendig, oder erzielt man vor Ort mit vor Ort
        wirksamen Instrumenten nicht doch eine größere Wir-
        kung als mit Berichten nach Brüssel?
        Mit unseren Beratungen und Gesprächen in Brüssel
        und Berlin haben mein Kollege Müller und ich, so bin
        ich überzeugt, viele Denkprozesse angestoßen. Die
        Punkte, die von uns gemeinsam mit der Bundesregie-
        rung und auch mit Bundesländern als wichtig und verän-
        derungswürdig herausgearbeitet wurden, haben in den
        Diskussionen Wirkung gezeigt. Wenn Sie sich die Zeit
        nehmen und einmal den Kompromissvorschlag unserer
        europäischen Berichterstatterin und Kollegin Gutiérrez-
        Cortines mit dem Ausgangsentwurf vergleichen, so wer-
        den Sie sehen: Es sind doch eine ganze Zahl unserer For-
        derungen erfüllt.
        Ein Schaufensterantrag hier im Bundestag allein
        bringt gar nichts. Es muss schon richtige Arbeit in der
        Sache dazukommen. Den Antrag haben wir zwar nicht
        mehr formell im Parlament gestellt – wie wahr, aber die
        Erarbeitung haben wir als Koalition gemeinsam mit der
        Bundesregierung geleistet. Sollte es nun doch unter Ver-
        letzung des Subsidiaritätsprinzips, wie vom EU-Rechts-
        ausschuss festgestellt, zu einer Verabschiedung einer
        Bodenschutzrahmenrichtlinie kommen, haben die Frak-
        tionen von SPD und CDU/CSU des Deutschen Bundes-
        tages ein Gutteil dazu beigetragen, dass die Richtlinie
        weitgehend kompatibel zum deutschen Bodenschutz-
        recht ist. Wir können daher ganz ruhig dem Plagiat unse-
        rer Arbeit eine Abfuhr erteilen.
        Detlef Müller (Chemnitz) (SPD):Unser Boden ist die
        Lebensgrundlage für Mensch, Flora und Fauna. Die Bö-
        den in unseren Regionen sind das Ergebnis jahrtausende-
        langen Zusammenwirkens physikalischer, chemischer
        und biologischer Faktoren. Das Ausgangsgestein und
        Niederschläge, Klima und Witterung, pflanzliche, tieri-
        sche und kleinste Lebewesen auf und im Boden bestim-
        men letztendlich die Zusammensetzung und Entwick-
        lung des Bodens.
        Der Schutz der Böden wurde jahrzehntelang indirekt
        über Bestimmungen zur Luftreinhaltung, zur Abfallbe-
        seitigung und zur Anwendung von Dünge- und Pflan-
        zenschutzmitteln in der Landwirtschaft geregelt. Zum
        besseren Schutz der Böden verabschiedete die Bundesre-
        gierung 1985 erstmals eine Bodenschutzkonzeption und
        rückte den Bodenschutz damit so richtig ins Bewusstsein
        der Umweltpolitik. Anfang 1998 verabschiedete der
        Bundestag dann das Bundes-Bodenschutzgesetz. Mitte
        1999 erließ die Bundesregierung schließlich folgerichtig
        die dazugehörige Bodenschutz- und Altlastenverord-
        nung, um eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für
        den Schutz des Bodens zu schaffen. Mit diesen gesetzli-
        chen Regelungen hat die Bundesregierung deutschland-
        weit einheitliche Vorgaben für den Bereich der Altlas-
        tenbewertung und -sanierung geschaffen. Eigentümer
        und Investoren erhielten dadurch Rechts- und Investi-
        tionssicherheit.
        Heute, etwa neun Jahre später, kann man ein erstes
        Fazit ziehen. Das deutsche Bundes-Bodenschutzgesetz
        12580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        hat sich in den letzten Jahren nicht nur bewährt,
        Deutschland nimmt mit diesem Gesetz sogar eine Vor-
        reiterrolle in Europa ein. Durch die zusätzlich ange-
        strebte EU-Bodenschutzrichtlinie, die wir als SPD-Frak-
        tion fordern, wird in Zukunft ein grenzüberschreitender
        Bodenschutz durch einen EU-weiten Rechtsrahmen an-
        gestrebt, von dem vor allem die süd- und osteuropäi-
        schen Staaten der EU profitieren werden. Denn diese
        Staaten leiden oftmals unter größeren, teilweise noch
        nicht entdeckten Altlasten. In Deutschland sind mittler-
        weile mehr als 270 000 Flächen als altlastverdächtig er-
        fasst. Mit der fortschreitenden technologischen Entwick-
        lung oder infolge von Baumaßnahmen werden
        gelegentlich auch in Deutschland immer noch Altlasten
        entdeckt. Bei den sogenannten Altlasten handelt es sich
        um Altablagerungen und Altstandorte, die zu schädli-
        chen Bodenveränderungen oder zu anderen Gefahren für
        den Einzelnen oder die Allgemeinheit führen.
        Die Altlasten sind meistens Hinterlassenschaften der
        industriellen Entwicklung oder durch eine militärische
        Nutzung der Flächen und durch Rüstungsgüterproduk-
        tion entstanden. Die Kontaminierung der Böden fand zu-
        meist während des Zweiten Weltkrieges oder zu Zeiten
        der DDR-Planwirtschaft statt. Da die Entstehung der
        Altlasten meistens lange Zeit zurückliegt, können die
        Verursacher bzw. deren Gesamtrechtsnachfolger oft-
        mals nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden.
        In unserem Bundes-Bodenschutzgesetz ist geregelt,
        dass der Grundstückseigentümer verpflichtet ist, Boden
        und Altlasten so zu entsorgen, dass danach dauerhaft
        keine Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche
        Belästigungen für den Einzelnen oder die Allgemeinheit
        entstehen, unabhängig davon, ob der Eigentümer vor
        dem Erwerb des Grundstücks Kenntnis von den Altlas-
        ten hatte oder nicht. Eine Beschränkung, bis zu welcher
        Höhe sich der Eigentümer finanziell an der Sanierung
        beteiligen muss, gibt es derzeit nicht. Nicht selten
        kommt es aber vor, dass derartige Grundstücke ohne
        jede Kenntnis der verborgenen Altlasten gutgläubig von
        neuen Eigentümern erworben wurden, die dann bei der
        Entdeckung der Altlast vor gewaltigen Kosten durch
        eine ordnungsgemäße Sanierung stehen.
        So kann es im Extremfall passieren, dass Grund-
        stückseigentümern ohne eigenes Verschulden die Grund-
        lage ihrer Existenz zugunsten des Schutzes der Allge-
        meinheit und der natürlichen Lebensgrundlagen entzo-
        gen werden kann. Auf dieses Problem hat ein Urteil des
        Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 2000 hinge-
        wiesen. In der Urteilsbegründung hat das Bundesverfas-
        sungsgericht eine Verhältnismäßigkeit angemahnt. Es
        soll, so dass BVG, „nicht zu einer übermäßigen Belas-
        tung für den Eigentümer führen und den Eigentümer im
        vermögensrechtlichen Bereich unzumutbar treffen“.
        Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke bezieht
        sich auf dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
        Der Gesetzentwurf, über den wir hier beraten, will des-
        halb eine Änderung des Dritten Gesetzes des Bundes-
        Bodenschutzgesetzes. Er beinhaltet aus umweltpoliti-
        scher Sicht durchaus positive Aspekte, hat aber keinerlei
        Chancen auf eine Realisierbarkeit und wird deshalb von
        der SPD-Fraktion abgelehnt.
        Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Gesetzentwurf
        das Bundes-Bodenschutzgesetz dahin gehend ändern,
        dass bei gutgläubigem Erwerb die Übernahme der Kos-
        ten des Grundstückseigentümers oder Inhabers für die
        Altlastensanierung auf den Verkehrswert des Grund-
        stücks nach der Sanierung begrenzt wird. Würde das Re-
        alität und wäre zum Beispiel das belastete Grundstück
        der wesentliche Teil des Vermögens des Eigentümers, so
        würde er von der Kostentragungspflicht befreit werden.
        Mit dieser Forderung geht der Gesetzentwurf der Frak-
        tion Die Linke allerdings weit über die vom Bundesver-
        fassungsgericht angemahnte Verhältnismäßigkeit hinaus.
        Es ist festzuhalten, dass der Grundansatz des Gesetz-
        entwurfs aus umweltpolitischer Sicht positiv ist. Trotz-
        dem wird die SPD-Fraktion ihm nicht zustimmen, weil
        er überzogen und in der Realität nicht umzusetzen ist.
        Die Hauptfrage, wer die Rechnung bezahlt, wenn der
        Grundstückseigentümer die Kosten nicht übernehmen
        muss, lassen sie unbeantwortet. In Ihrem Gesetzentwurf
        findet sich nicht ein Hinweis darauf, woher Sie das Geld
        nehmen wollen. Das ist gelebte Praxis der Linkspartei.
        Würde der Gesetzentwurf umgesetzt, würde das be-
        deuten, dass die Bundesländer teilweise oder ganz für
        die Sanierung der Grundstücke aufkommen müssten. Sie
        können dies natürlich fordern, aber Sie wissen genauso
        gut wie ich, dass die Länder keinem Gesetzentwurf zu-
        stimmen werden, durch den sie finanziell zusätzlich be-
        lastet werden. Das ungelöste Problem der Finanzierung
        der Altlastensanierung wurde bereits von allen anderen
        Fraktionen bei der Beratung im Umweltausschuss ange-
        sprochen. Darüber hinaus wissen Sie um die Rechtslage
        nach der Verabschiedung der Föderalismusreform I. Sie
        macht es dem Bund fast unmöglich, Zuweisungen an die
        Bundesländer zur Finanzierung unzumutbarer Altlasten-
        sanierungskosten bereitzustellen. An dieser Stelle sei
        mir als Umweltpolitiker gestattet, darauf hinzuweisen,
        dass für mich auch fast eineinhalb Jahre nach Verab-
        schiedung der Föderalismusreform I die Neuregelung
        der Zuständigkeiten im Umweltbereich ärgerlich und un-
        verständlich bleibt.
        So gut das Ansinnen Ihres Gesetzentwurfes auch sein
        mag, in ihm steht nicht, in welcher Form Sie den Län-
        dern einen finanziellen Ausgleich geben wollen. Des-
        halb ist die Zustimmung der Länder illusorisch. Leider
        scheint mir dieser Gesetzentwurf ein weiterer Beleg zu
        sein für Ihre Art, Politik zu machen: populäre, oftmals
        populistische Forderungen aufstellen, die in der Realität
        nicht umsetzbar sind. Dies zieht sich leider wie ein roter
        Faden durch die parlamentarische Arbeit Ihrer Fraktion
        hier im Deutschen Bundestag. Außerdem enthält Ihr Ge-
        setzentwurf in einigen Punkten undeutliche Begrifflich-
        keiten, vor allem im Hinblick auf einen gutgläubigen
        Grundstückserwerb. Hier ist Ihr Gesetzentwurf schwam-
        mig und könnte Spekulationen zur Altlastensanierung
        auf Kosten der öffentlichen Hand Tür und Tor öffnen.
        Ich fasse zusammen: Wir erkennen an, dass die Frak-
        tion Die Linke mit ihrem Gesetzentwurf Verbesserungen
        für Eigentümer erreichen möchte, die gutgläubig mit
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12581
        (A) (C)
        (B) (D)
        Altlasten kontaminierte Grundstücke erworben haben.
        Auch aus umweltpolitischer Sicht ist Ihr Gesetzentwurf
        positiv zu bewerten. Trotzdem ist er vorschnell, in eini-
        gen Punkten unklar, und er setzt keine neuen Impulse.
        Der Knackpunkt Ihres Gesetzentwurfs ist, dass in ihm
        nicht einmal der Versuch unternommen wird, ein Kon-
        zept zur Gegenfinanzierung zu skizzieren. Er würde so
        im Bundesrat keine Mehrheit bekommen. Er wäre zum
        Scheitern verurteilt. Unter diesen Umständen wird die
        SPD-Fraktion Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Wir schla-
        gen stattdessen vor, die laufende Debatte über die EU-
        Bodenschutzrichtlinie konstruktiv zu begleiten und die
        endgültige Ausgestaltung der Richtlinie abzuwarten,
        weil daraus vielleicht Anstöße zu erwarten sind oder
        EU-Vorgaben umgesetzt werden müssen.
        Angelika Brunkhorst (FDP): Wer hätte gedacht,
        dass der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zum
        Bundes-Bodenschutzgesetz auch seine guten Seiten hat?
        In Anbetracht der aktuellen Diskussion zum Boden-
        schutz auf europäischer Ebene – den Beratungen in den
        Fachausschüssen und der geplanten Abstimmung im Eu-
        ropaparlament noch im November – ist die heutige De-
        batte im Bundestag ein Glücksfall. Gemeinsam mit un-
        serem Antrag zur europäischen Rahmenrichtlinie erhält
        der Bodenschutz hier noch einmal die notwendige Auf-
        merksamkeit.
        In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, dass
        der Vorschlag der Liberalen, die Bodenschutzrahmen-
        richtlinie aktiv mitzugestalten, der einzig richtige Weg
        war. Wir haben uns da ganz klar – und frühzeitig – posi-
        tioniert, was Ihnen, meine Damen und Herren von den
        Regierungsfraktionen, mal wieder nicht gelungen ist. Ich
        weiß, dass Sie uns jetzt vorhalten werden, Ihren eigenen
        Text nur kopiert zu haben. Schön! Das ändert aber über-
        haupt nichts an der Tatsache, dass wir als FDP in der
        Lage waren, unsere politische Meinung genau zu defi-
        nieren und zu vertreten. Eine klare politische Linie ver-
        missen wir bei Ihnen hingegen seit langem.
        Die Bundesregierung ist in Abstimmung mit der
        Mehrheit der Bundesländer ganz in unserem Sinne dazu
        übergegangen, den Beratungsprozess innerhalb der EU
        konstruktiv zu begleiten. Portugal als Inhaber der Rats-
        präsidentschaft gestaltet das Thema aktiv mit – sicher
        auch aufgrund der Unterstützung Deutschlands. Die
        „Fesseln“ der eigenen Ratspräsidentschaft haben wir
        diesbezüglich ja jetzt abgelegt. Nur der Bundestag
        schaut verlegen zu, wie in Europa wichtige Entscheidun-
        gen im Umweltschutz getroffen werden. Es ist eindeutig:
        Die FDP ist auch in dieser Frage regierungsfähig,
        Schwarz-Rot im Bundestag ist es nicht.
        Ich wiederhole meinen Appell aus dem März dieses
        Jahres an dieser Stelle gerne noch einmal und fordere Sie
        auf, Verantwortung zu übernehmen und sich den Aufga-
        ben des Bodenschutzes zu stellen und der Bundesregie-
        rung bei ihrer Arbeit ein klares Mandat zu erteilen. Neh-
        men Sie Ihre Verpflichtung gegenüber den betroffenen
        Unternehmen in Deutschland wahr, und folgen Sie unse-
        rem Antrag.
        Wir haben in Deutschland einen verlässlichen Stan-
        dard beim Schutz der Böden etabliert. Es gilt, einen ver-
        nünftigen Rahmen der Subsidiarität zu erhalten und
        Standards und Berichtspflichten nicht mit finanziell un-
        verhältnismäßigen Lasten zu belegen.
        Regelungen zum Bodenschutz finden sich bereits in
        verschiedenen Rechtsakten der EU. Des Weiteren sind
        Vereinbarungen wie Cross Compliance und die Regeln
        der „guten fachlichen Praxis“ ein Garant für den sorgsa-
        men Umgang mit der Ressource Boden. Es ist notwen-
        dig, für eindeutige Definitionen zu sorgen und Mehr-
        fachregelungen zu vermeiden. Ebenso muss der zu
        erwartende bürokratische Aufwand auf ein Minimum
        beschränkt bleiben.
        Abschließend komme ich noch einmal zurück auf den
        Anfang meiner Rede, den Gesetzentwurf der Fraktion
        Die Linke. Hier möchte ich mein erfreutes Staunen da-
        rüber zum Ausdruck bringen, dass ich den Kampf Ihrer
        Fraktion zur Stärkung der Eigentumsrechte sehr wohl be-
        grüße. Das alleine reicht aber nicht, um Ihrem Gesetzent-
        wurf die Zustimmung zu erteilen. Ihre Forderungen auf
        Übernahme der Kosten für etwaige Altlastensanierungen
        sind, wie man so schön sagt, nicht gegenfinanziert. Sie
        geben in Ihrem Gesetzentwurf keinerlei Hinweise darauf,
        wer denn letztendlich die Kosten übernehmen soll, wenn
        nicht der Grundstückseigentümer oder der Inhaber der
        tatsächlichen Gewalt. Auch wir wollen die Grundstücks-
        käufer nicht aus ihrer Verantwortung der sorgfältigen
        Prüfung entlassen. Mit Rechten sind ja auch immer
        Pflichten verbunden.
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Anlass unse-
        res Antrages – das will ich vorwegschicken – war der
        Kontakt zu einer Bürgerinitiative aus dem bayerischen
        Schonungen. Sie machte uns durch ihren Fall auf ein
        Problem aufmerksam, welches unserer Meinung nach
        bundesweit einer Lösung bedarf.
        In Deutschland werden gelegentlich Altlasten ent-
        deckt, deren Entstehung lange Zeit zurückliegt und wel-
        che von Unternehmen verursacht wurden, die längst
        nicht mehr existieren.
        Den jetzigen Eigentümern solcher Grundstücke sind
        solche Altlasten nicht selten bis zur Entdeckung gänzlich
        unbekannt. Sie haben das Grundstück gutgläubig erwor-
        ben, sind aber nach der geltenden Fassung des Bundes-
        Bodenschutzgesetzes (BBodSchG) als sogenannte Zu-
        standsstörer dennoch verpflichtet, den Boden sanieren
        zu lassen und die Kosten dafür vollständig zu tragen.
        So sollen die Bürger in Schonungen für die Sanierung
        von stark arsenverseuchtem Boden unter ihren Grund-
        stücken aufkommen. Die Vergiftung des Bodens wurde
        zwischen 1814 bis 1930 durch die Fabrik des damaligen
        Farbenhersteller Sattler verursacht, der in dieser Zeit un-
        ter anderem das berühmte – aber wie wir heute wissen,
        leider stark arsenhaltige – Schweinfurter Blau produ-
        zierte.
        In solchen Fällen kann den Eigentümern im Einzelfall
        ohne eigenes Verschulden die Grundlage ihrer Existenz
        entzogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in
        12582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        einem ähnlichen Fall deshalb entschieden, dass eine
        volle Haftung nicht haltbar sei. Sie müsse wenigstens
        auf den Verkehrswert des Grundstückes begrenzt wer-
        den.
        In Bayern wurde nun von der Staatsregierung für die
        Schonunger eine Regelung versprochen, nachdem die
        Zustandsstörerhaftung auf ein Drittel des Verkehrswertes
        beschränkt wird. Dies folgt dem Urteil, geht sogar noch
        ein wenig darüber hinaus. Es ist aber eine mehr oder we-
        niger gutwillige Einzelfallentscheidung, die vielleicht
        auch durch unseren Antrag und die lokale Presse darüber
        beeinflusst wurde.
        Wie dem auch sei, wir begrüßen, dass Bayern hier den
        betroffenen Bürgerinnen und Bürgern wenigstens die
        größten Ängste genommen hat. Gleichzeitig sind wir
        aber der Meinung, dass es hier einer gesetzlichen Lö-
        sung bedarf. Es ist doch nicht einzusehen, warum ein Ar-
        beiter oder kleiner Angestellter, sofern er beim Erwerb
        seines Grundstücks beim besten Willen nichts von einer
        Altlast wissen konnte, zur Kasse gebeten wird, wenn ir-
        gendwann eine Bodenverseuchung entdeckt wird.
        Natürlich ist uns klar, dass es auch eine Sozialpflich-
        tigkeit des Eigentums gibt – wir fordern diese an anderer
        Stelle ja oft genug ein. Darum meinen wir, dass Grund-
        stückseigentümer, bei denen das Grundstück nicht we-
        sentlicher Teil des persönlichen Vermögens ist, sich an-
        gemessen an den Sanierungskosten beteiligen können.
        Viele von ihnen verdienen ja auch am Grundstücks-
        eigentum, und zwar nicht zu knapp.
        Das Bundes-Bodenschutzgesetz soll nach unserer
        Auffassung nun dahin gehend geändert werden, dass bei
        gutgläubigem Erwerb die Kostentragungspflicht für die
        Altlastensanierung grundsätzlich auf den Verkehrswert
        des Grundstücks nach der Sanierung begrenzt wird. Dies
        ist die Höhe, die auch das Bundesverfassungsgericht im
        Auge hatte. Dass im Einzelfall die Länder über diese Re-
        gelung zugunsten der Eigentümer hinausgehen könnten,
        versteht sich von selbst. Wir haben es hier beim Ver-
        kehrswert belassen, denn wir wollten keinen generellen
        Freifahrtschein für große Unternehmen zulasten der
        Landeshaushalte. Schließlich müssen die Länder ja die
        Differenzkosten bezahlen.
        Ein anderes Herangehen schlagen wir für die kleinen
        Grundstückseigentümer vor: Ist das Grundstück der we-
        sentliche Teil des persönlichen Vermögens, soll die Kos-
        tentragungspflicht vollständig entfallen. Gutgläubige
        „Häuslebauer“ und kleine Gewerbebetriebe müssten also
        keine Sanierungskosten übernehmen.
        Hiermit geht unser Gesetzesantrag über die Regelung
        der bayerischen Staatsregierung hinaus. Denn nach der
        muss ja in Schonungen wohl jeder zahlen. Auch die Fa-
        milien, die sich mühsam jeden Groschen abgespart ha-
        ben, um ein kleines Stück Land mit einem Häuschen zu
        bebauen. Das empfinden wir als ungerecht.
        Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
        Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2000 festgestellt,
        dass es nicht verhältnismäßig ist, die aktuellen Eigentü-
        mer von Grundstücken auch dann mit ihrem ganzen Ver-
        mögen für Altlasten und Sanierungskosten haften zu las-
        sen, wenn sie diese nicht selbst verursacht haben. Der
        Gesetzentwurf der Linken weist richtigerweise darauf
        hin, dass die Regierung hier eine Neuregelung bisher
        schuldig geblieben ist. Daher müssen derzeit die Behör-
        den in jedem Einzelfall festlegen, wie weit die Eigentü-
        merhaftung reicht.
        Grundsätzlich besteht das Problem, dass Investoren
        oft vom Erwerb gebrauchter Grundstücke und einem
        Flächenrecycling Abstand nehmen. Stattdessen erschlie-
        ßen und überbauen sie regelmäßig frisches Land. Dieser
        Verzicht auf Flächenrecycling führt nicht nur zu einem
        hohen Maß an hässlichen Gewerbebrachen, sondern
        auch zu einem zusätzlichen Flächenverbrauch. Die
        Frage ist berechtigt, ob die problematisierte Haftung für
        Altlasten durch gutgläubige Flächenerwerber zu diesem
        Problem etwas beiträgt.
        Berechtigt ist auch die Frage, ob eine Begrenzung der
        Eigentümerhaftung in der von der Fraktion Die Linke
        beantragten Weise einen Beitrag zu einem verstärkten
        Flächenrecycling leisten könnte. Meine Antwort auf
        diese Frage lautet: Nein, der Gesetzentwurf trägt kaum
        zur Lösung des Problems der Gewerbebrachen bei und
        wird kaum zu mehr Flächenrecycling führen. Schließlich
        hat auch eine Haftung bis zum Verkehrswert immer noch
        eine ausreichend große abschreckende Wirkung, ein
        möglicherweise belastetes Grundstück zu erwerben.
        Außerdem muss der sogenannte gutgläubige Erwer-
        ber erst nachweisen, dass es sich tatsächlich um einen
        gutgläubigen Erwerb gehandelt hat. Hier bleiben zu
        große Rechtsunsicherheiten und Risiken bestehen. Auch
        zukünftig hätten daher alle Neuerwerber ein Interesse
        daran, vor dem Erwerb einer Fläche Altlasten auszu-
        schließen. Dies geht immer noch am einfachsten, si-
        chersten und billigsten, indem sie frisches Land erschlie-
        ßen.
        Hinzu kommt: Wenn die Sanierung belasteter Flächen
        zukünftig in stärkerem Maße von der öffentlichen Hand
        finanziert werden soll und die Länder diesen Schwarzen
        Peter wie zu erwarten an die Kommunen weiterreichen,
        dann werden die bereits jetzt finanziell überlasteten
        Kommunen die tatsächliche Sanierungsnotwendigkeit
        zur Gefahrenabwehr zukünftig so weit irgend möglich
        regelmäßig verneinen.
        Aus finanzpolitischer Sicht ist schlicht und einfach
        festzustellen, dass sich dieser Gesetzentwurf mit der
        Frage, wo denn das Geld herkommen soll, überhaupt gar
        nicht erst auseinandersetzt. Denn er verschafft den Län-
        dern zwar zusätzliche Kosten, aber keinerlei zusätzliche
        Einnahmen, mit denen sie diese Kosten finanzieren
        könnten.
        Kurz gesagt: Die vorgelegte Lösung wird ihrem An-
        spruch leider nicht gerecht und schießt zulasten des
        Steuerzahlers über das Ziel hinaus. Deshalb lehnen wir
        den Gesetzentwurf der Linken ab. Was wir brauchen in
        Deutschland, ist eine Hinwendung zu einem neuen Sys-
        tem der Flächenbewertung. Wenn Flächenversiegelung
        teurer wird als bisher, wenn beispielsweise Grundsteuer
        im Außenbereich von Kommunen höher wird als im In-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12583
        (A) (C)
        (B) (D)
        nenbereich, werden auch Anreize geschaffen, Altlastflä-
        chen zu recyceln.
        Die zentrale Frage ist deshalb, wie wir es schaffen
        können, genügend Gelder zur Sanierung von Altlastflä-
        chen zu mobilisieren.
        Anlage 24
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
        zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafzu-
        messung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe
        (… StrÄndG) (Tagesordnungspunkt 13)
        Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
        CSU): Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf
        eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, den
        die Bundesregierung eingebracht hat. Der Entwurf be-
        zweckt die Implementierung einer Kronzeugenregelung
        im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches. Dabei betre-
        ten wir kein rechtspolitisches Neuland; denn bis zum
        Jahre 1999 hatten wir in unserer Rechtsordnung eine
        Kronzeugenregelung, anfangs nur für terroristische
        Straftaten – § 129 a StGB – und damit zusammenhän-
        gende Begleitdelikte, später auch für das Organisations-
        delikt der Bildung krimineller Vereinigungen, § 129
        StGB.
        Die Kronzeugenregelung wurde zwei Mal befristet
        verlängert, weil sich mit ihr auf zwei Feldern Erfolge er-
        zielen ließen. Da waren zum einen die ehemaligen RAF-
        Terroristen, die in der ehemaligen DDR Unterschlupf
        gefunden hatten, zum anderen erleichterte sie die Auf-
        klärung von Anschlägen ausländischer Terrororganisa-
        tionen. Weil Ende 1999 eine Befristung dieser Regelung
        auslief und die damals rot-grüne Bundesregierung sich
        weder in der 14. noch in der 15. Legislaturperiode für
        eine von der CDU/CSU vorgeschlagene Verlängerung
        bzw. Wiedereinführung erwärmen konnte, ging dieses
        für Ermittlungsbehörden zur Tataufklärung im Bereich
        der terroristischen und organisierten Kriminalität not-
        wendige Rechtsinstitut verloren. Nur in einigen wenigen
        Teilbereichen – § 129 Abs. 6, auch in Verbindung mit
        § 129 a Abs. 7 StGB sowie in § 261 Abs. 10 StGB und
        im Betäubungsmittelrecht, § 31 BtMG – blieb die Kron-
        zeugenregelung bis heute erhalten. Gerade aus dem Be-
        reich des Betäubungsmittelrechts können wir daher Er-
        fahrungen mit der praktischen Anwendung einer
        Kronzeugenregelung ableiten.
        Die Kronzeugenregelung hat eine Parlamentsge-
        schichte, die von kritischen Stimmen, insbesondere aus
        der Wissenschaft und aus Kreisen der Strafverteidiger,
        aber auch mit Zustimmung aus den Reihen der Polizei-
        beamten, Strafrichter und Staatsanwälte begleitet wurde.
        Kritik an der und die Forderung nach einer Kronzeu-
        genregelung sind im vorliegenden Gesetzentwurf maß-
        voll berücksichtigt. Zu Recht wiesen Vertreter der Er-
        mittlungsbehörden darauf hin, dass man im Bereich der
        organisierten Kriminalität und des Terrorismus immer
        wieder vor erheblichen Beweisproblemen steht, insbe-
        sondere je höher der Beschuldigte in der Hierarchie eines
        kriminellen Netzwerkes steht, das durch Abschottung und
        der Drohung mit Repressionen zusammengehalten wird.
        Gerade in denjenigen Kriminalitätsfeldern also, wo Er-
        mittlungsbehörden mit Ermittlungsansätzen leicht schei-
        tern, ist die Kronzeugenregelung ein probates Instru-
        ment, um Straftaten aufzuklären und künftige Straftaten
        zu verhindern. Es lag daher nahe, die Erkenntnisquellen,
        die ein kooperationsbereiter Täter im Rahmen der Kron-
        zeugenregelung eröffnet, in größerem Umfang als nach
        altem Recht zu nutzen. Der Regierungsentwurf hat sich
        mit dem neu einzufügenden § 46 b des Strafgesetzbu-
        ches für die Schaffung einer allgemeinen Strafzumes-
        sungsvorschrift entschieden, die dem Kronzeugen eine
        Strafmilderung oder einen Straferlass nicht mehr nur bei
        wenigen bereichspezifischen Straftaten eröffnet. Die
        Rechtswohltat einer Strafmilderung oder eines Straferlas-
        ses soll sich ein Beschuldigter bei freiwilligem Offenba-
        ren seines Wissens bei Straftaten nach dem zukünftigen
        Straftatenkatalog des § 100 a Abs. 2 der Strafprozessord-
        nung verdienen können. Die Kronzeugenregelung gilt
        damit für den gesamten Bereich der schweren Kriminali-
        tät. Dies ist angemessen. Von der Bedeutung korrespon-
        diert die im Gesetzentwurf vorgesehene Kronzeugenre-
        gelung mit der im Betäubungsmittelgesetz in § 31 BtMG
        bereits bestehenden.
        Erfahrungen mit § 31 BtMG haben gezeigt, dass sich
        mit einer Kronzeugenregelung gute Ermittlungsansätze
        und letztendlich die Verurteilung von schwerkriminellen
        Drogendealern und die Zerschlagung von Drogenkartel-
        len bewerkstelligen lassen. Allerdings hat die Erfahrung
        mit dieser Vorschrift auch Gefahren aufgezeigt.
        Wer unter dem Druck einer eigenen Verurteilung steht
        und auf den eine langjährige Freiheitsstrafe wartet, neigt
        leicht dazu, Dritte zu Unrecht zu belasten und eine Straf-
        tat Dritter vorzutäuschen. Dem steuert der Gesetzent-
        wurf gezielt entgegen. Durch Änderungen der §§ 145 d
        und 164 StGB hat künftig ein Kronzeuge, der eine Straf-
        tat Dritter vortäuscht oder einen Dritten falsch verdäch-
        tigt, mit einer deutlich höheren Bestrafung als bisher zu
        rechnen. Dies soll ihn von falschen Anschuldigungen
        abhalten. Um den Ermittlungsbehörden Gelegenheit zu
        geben, die Wahrheit der Angaben des Kronzeugen recht-
        zeitig vor dessen eigener Hauptverhandlung zu prüfen,
        kann er sich Strafmilderung oder Straffreiheit nur bis zur
        Eröffnung des Hauptverfahrens in eigener Sache – § 207
        StPO – verdienen. Der Missbrauch einer Kronzeugenre-
        gelung lohnt sich demnach für den Beschuldigten nicht
        mehr.
        Sie sehen also, dass im Regierungsentwurf das Recht
        der Kronzeugenregelung grundlegend überarbeitet und
        neu gestaltet wurde. Das Rechtsinstitut ist jetzt als allge-
        meine Regelung im Sanktionenrecht des allgemeinen
        Teils des Strafgesetzbuches angesiedelt. Vorteile der Re-
        gelung sind sinnvoll genutzt und dem Missbrauch sind
        die gebotenen Schranken gesetzt. Es handelt sich somit
        um einen gelungenen Gesetzentwurf, der den Bedürfnis-
        sen nach Aufklärung besonders schwerer Straftaten in
        maßvoller Weise gerecht wird.
        12584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Sicherheitspolitische Bedenkenträger werden trotz-
        dem wieder die Gretchenfrage stellen: Brauchen wir eine
        Kronzeugenregelung überhaupt? Organisierte Kriminali-
        tät und Terrorismus agieren in abgeschotteten Struktu-
        ren. Dort einzudringen gelingt mit dem den Ermittlungs-
        behörden zur Verfügung stehenden Instrumentarium oft
        nicht. Warum also sollen wir die Chance, mit aussage-
        willigen Beteiligten Informationen insbesondere über
        geplante schwere Straftaten zu erhalten, nicht nutzen?
        Da solche selbst in kriminelle Handlungen Verstrickte
        kaum durch altruistische Motive zu Angaben bewegt
        werden können, muss die Justiz die Möglichkeit haben,
        einen Anreiz zur Kooperation zu bieten und sie mit dem
        Angebot einer Strafmilderung zu honorieren.
        Bedenken wurden nämlich schon 1982 gegen die mit
        dem Betäubungsmittelgesetz in dessen § 31 erlassene
        Kronzeugenregelung angemeldet. So wird beispiels-
        weise vorgebracht, die Glaubwürdigkeit von Kronzeu-
        gen sei generell fragwürdig. Tatsache ist, dass über § 31
        BtMG zahllose international agierende Drogenbanden
        ausgehoben werden konnten und Kronzeugenaussagen
        im Dominoeffekt weitere Geständnisse auslösten.
        Dieses Gesetz macht Deutschland ein Stück sicherer.
        Es wird deshalb von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        befürwortet.
        Joachim Stünker (SPD): Jede Implementierung ei-
        ner Kronzeugenregelung in die Strafprozessordnung be-
        darf der kritischen Bewertung, wie immer diese Kron-
        zeugenregelung auch ausgestaltet ist, auch dann, wenn
        sie wie im vorliegendem Fall als Strafzumessungsrege-
        lung im allgemeinen Teil gemäß § 46b StPO geregelt
        werden soll.
        Greift doch diese Regelung schwerwiegend in das Le-
        galitäts- und Öffentlichkeitsprinzip des Strafverfahrens
        ein und berührt sie zugleich den Gleichheits- und
        Schuldgrundsatz im Strafzumessungsrecht.
        Andererseits gibt es Deliktsbereiche, für die zu einer
        wirksamen Kriminalitätsbekämpfung „Anreize für po-
        tentiell kooperationsbereite Straftäter sinnvoll erschei-
        nen lassen“. Hierzu gehören die Bekämpfung des Terro-
        rismus in jeglicher Erscheinungsform ebenso wie die
        Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Hierin ein-
        geschlossen ist insbesondere die schwere Wirtschaftskri-
        minalität, deren Strukturen durch ein hohes Maß an
        Konspiration geprägt sind. Hier stoßen die Strafverfol-
        gungsbehörden in besonderem Maße auf Probleme im
        Rahmen der Beweisermittlung und Beweisführung. Mit
        von außen wirkenden Ermittlungsmaßnahmen gelingt es
        vielfach nicht, in die abgeschotteten Strukturen einzu-
        dringen und die zur Aufklärung und Verhinderung
        schwerer Straftaten erforderlichen Erkenntnisse zu ge-
        winnen. Die Ermittler sind daher zunehmend auf die
        Hinweise von selbst ins kriminelle Milieu verstrickten
        Personen angewiesen, die über wertvolle Informationen
        zu Strukturen und Hintermännern verfügen und bereit
        sind, diese zu offenbaren.
        Diesem Interessenausgleich – Legalitätsprinzip ver-
        sus wirksame Kriminalitätsbekämpfung – wird der vor-
        liegende Entwurf zu meiner Überzeugung gerecht. Wir
        schaffen eine ergänzende Strafzumessungsregelung da-
        für, dass schwerwiegende Straftaten nach § 100 a Abs. 2
        der StPO entweder aufgedeckt oder verhindert werden
        können. Straffreiheit kann sich der Straftäter nur bei ver-
        wirkter geringfügiger Freiheitsstrafe verdienen. Ansons-
        ten ist nur eine Strafmilderung möglich in einem Rah-
        men, dass der Grundsatz der schuldangemessenen Strafe
        im Einzelfall nicht verletzt wird.
        Für das Verfahren wichtig ist: Der Täter muss sein
        Wissen bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens offenbart
        haben. Danach gelten die allgemein gültigen Strafzu-
        messungsregeln.
        Lassen Sie uns die Einzelheiten der vorgeschlagenen
        Regelung in einer sorgfältigen Beratung des Rechtsaus-
        schusses unter Heranziehung externer Sachverständiger
        erörtern.
        Die Aufklärungs- und Präventionshilfe bedeutet aber
        immer auch eine Absprache zwischen dem Täter und
        den Strafverfolgungsbehörden.
        Damit befinden wir uns in dem weiten Bereich der
        Absprachen im Strafprozess. Ich möchte daher an dieser
        Stelle mit Nachdruck darauf hinweisen, dass zu meiner
        Überzeugung die Verabschiedung eines Gesetzes zur Im-
        plementierung einer Kronzeugenregelung nicht möglich
        sein wird, wenn wir nicht zugleich auch die Absprachen
        im Strafprozess generell in der Strafprozessordnung in
        eine verfassungskonforme, gesetzliche Grundlage brin-
        gen.
        Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, den erar-
        beiteten Gesetzentwurf zu Absprachen im Strafprozess
        endlich mit einem Regierungsentwurf in das parlamenta-
        rische Verfahren einzubringen.
        Jörg van Essen (FDP): Die Wiedereinführung der
        Kronzeugenregelung gehört zu den Themen, die uns in
        jeder Wahlperiode erneut beschäftigen. Nachdem die
        alte Kronzeugenregelung 1999 ausgelaufen ist und nicht
        verlängert wurde, hat sich der Bundestag in den Folge-
        jahren immer wieder mit unterschiedlichen Modellen be-
        fasst, wie eine neue Kronzeugenregelung aussehen
        könnte. Eine parlamentarische Mehrheit für eine Neu-
        aufnahme dieses besonderen Instruments zur Strafzu-
        messung war in den letzten Jahren nicht gegeben. Nun
        hat die Bundesregierung selbst einen Gesetzentwurf zur
        Kronzeugenregelung vorgelegt.
        Der Deutsche Bundestag hat in der 11. Wahlperiode
        die Einführung der Kronzeugenregelung beschlossen.
        Zielsetzung des Gesetzgebers war, die Begehung künfti-
        ger terroristischer Straftaten zu verhindern und die Auf-
        klärung bereits begangener Taten zu fördern. Die Kron-
        zeugenregelung kam im Zeitraum von 1989 bis 1999 im
        Terrorismusbereich in 20 bis 25 Fällen und im Bereich
        der organisierten Kriminalität seit 1994 in 25 Fällen zur
        Anwendung. Das Kriminologische Forschungsinstitut
        Niedersachsen hat 1999 eine empirische Studie zu der
        alten Kronzeugenregelung durchgeführt. Die im Rah-
        men der Studie befragten Polizeibeamten, Strafrichter
        und Staatsanwälte haben sich mit über 90 Prozent für
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12585
        (A) (C)
        (B) (D)
        den Fortbestand einer Kronzeugenregelung im Bereich
        der organisierten Kriminalität und des Terrorismus aus-
        gesprochen. Die Befürworter begründen den Bedarf ei-
        ner Kronzeugenregelung vor allem mit den erheblichen
        Beweisproblemen, die bei Delikten aus dem Bereich der
        organisierten Kriminalität und des Terrorismus auftreten.
        Die Strukturen der organisierten Kriminalität können
        in den meisten Fällen nur durchbrochen werden, wenn
        einer der Fäden des kriminellen Netzwerks selbst durch-
        trennt wird. Gerade im Bereich der Führungsebene be-
        steht häufig keinerlei direkter Bezug zu konkreten Op-
        fern, die etwa als Zeugen infrage kämen. Um hier die
        Mauer des Schweigens zu durchbrechen, bedarf es auch
        eines Anreizes vonseiten der Strafverfolgung.
        Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist
        nach wie vor eine wichtige Aufgabe der Sicherheitsbe-
        hörden. In den vergangenen Jahren hat sich der Fokus
        des öffentlichen Interesses deutlich verlagert hin zur Be-
        kämpfung des internationalen Terrorismus. Die Bekämp-
        fung der organisierten Kriminalität ist dadurch in der öf-
        fentlichen Debatte in den Hintergrund getreten. Die
        aktuellen Zahlen rechtfertigen dieses Schattendasein je-
        doch in keiner Weise. Ich erinnere in diesem Zusammen-
        hang nur an den grausamen sechsfachen Mord in Duis-
        burg in diesem Sommer. Nach dem aktuellen Lagebild
        des Bundeskriminalamts zur organisierten Kriminalität
        waren im Jahr 2006 insgesamt 622 Ermittlungsverfahren
        im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität an-
        hängig. Insgesamt wurde gegenüber 10 000 Tatverdäch-
        tigen ermittelt. Die ermittelte Schadenshöhe der zu-
        grunde liegenden Verfahren belief sich im Jahre 2006 auf
        circa 1,4 Milliarden Euro.
        Vor diesem Hintergrund ist es zunächst legitim, dass
        sich die Bundesregierung Gedanken darüber macht, ob
        dieser Entwicklung auch mit entsprechenden strafpro-
        zessualen Instrumenten entgegengewirkt werden kann.
        Man würde es sich zu einfach machen, wenn man ledig-
        lich die Neueinführung der alten Kronzeugenregelung
        fordern würde. Auch die Befürworter der Kronzeugenre-
        gelung haben deutliche Kritik an dem 1999 ausgelaufe-
        nen Gesetz geäußert. Es muss beispielsweise verhindert
        werden, dass sogenannte Pseudokronzeugen Strafmilde-
        rungsvorteile erhalten. Ein Straftäter, der erst Kooperati-
        onsbereitschaft zeigt, um Strafmilderung zu erlangen
        und dann die Mitarbeit verweigert oder durch Erinne-
        rungslücken oder Unwahrheiten die Justiz behindert, ist
        kein Kronzeuge. Er spielt mit dem Rechtsstaat und darf
        von diesem auch keinerlei Hilfe erhalten. Zudem darf
        eine Verurteilung keinesfalls allein aufgrund der Aus-
        sage eines Kronzeugen erfolgen. Der Rechtsstaat muss
        sich immer bewusst sein, dass er, wenn er sich eines
        Kronzeugen bedient, einem Menschen gegenübersteht,
        der durch seine Taten gezeigt hat, dass er die Rechtsord-
        nung nicht akzeptiert. Daher muss der vom Kronzeugen
        angegebene Geschehensablauf durch zusätzliche Be-
        weismittel deutlich erhärtet werden.
        Gegen eine Kronzeugenregelung werden von ver-
        schiedenen Seiten erhebliche Bedenken vorgetragen. So
        haben sich beispielsweise der Deutsche Anwaltverein,
        die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche
        Richterbund in einer gemeinsamen Erklärung gegen die
        Pläne der Bundesregierung gewandt, eine neue Kronzeu-
        genregelung einzuführen. Auch der Vizepräsident des
        Bundesverfassungsgerichts, Professor Hassemer, hat
        sich skeptisch geäußert. Die FDP-Bundestagsfraktion
        nimmt diese Kritik sehr ernst.
        Im Hinblick auf die konkreten Vorstellungen der Bun-
        desregierung habe ich für die Einwände aus der Praxis
        großes Verständnis. Im Gegensatz zu der alten Kronzeu-
        genregelung, die sich nur auf Straftaten aus dem Bereich
        des Terrorismus und der organisierten Kriminalität be-
        schränkte, soll die neue Strafzumessungsregel ausge-
        dehnt werden auf alle Fälle der mittelschweren oder
        Schwerstkriminalität. Daneben soll es ausreichen, dass
        der Täter Aussagen macht zu Straftaten, die keinerlei
        Bezug zu seinem eigenen Verhalten haben müssen. Da-
        mit wird jeder Bezug des Kronzeugen zu der Kriminali-
        tät aufgegeben, an deren Aufklärung er mitwirkt. Zu
        Recht weist der Vorsitzende des Deutschen Richterbun-
        des, Oberstaatsanwalt Frank, darauf hin, dass damit die
        innere Verknüpfung zwischen eigener Tat und Aufklä-
        rungshilfe aufgelöst wird. Auch aus Sicht der FDP-Bun-
        destagsfraktion geht der Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung zu weit. Ich freue mich, dass auch der Bundesrat
        diese Auffassung teilt. Der Bundesrat hat in seiner Stel-
        lungnahme die Bundesregierung gebeten, den Anwen-
        dungsbereich auf die Deliktsfelder des Terrorismus und
        der organisierten Kriminalität zu beschränken.
        Damit auch künftig Strafe schuldangemessen ver-
        hängt werden kann, muss aus Sicht der FDP-Bundes-
        tagsfraktion die Kronzeugenregelung eine Ausnahme im
        Rahmen der Strafzumessung bleiben. Es darf nicht ver-
        gessen werden, dass die Kronzeugenregelung eine Ab-
        kehr vom Legalitätsprinzip ist, wonach grundsätzlich bei
        Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Straftat ein Er-
        mittlungsverfahren durchzuführen und bei hinreichen-
        dem Tatverdacht Anklage zu erheben ist. Darüber hinaus
        muss gesehen werden, dass bereits heute im Strafverfah-
        rensrecht ausreichende Möglichkeiten bestehen, die Mit-
        wirkung eines Täters bei der Strafzumessung zu berück-
        sichtigen. Es besteht daher keinerlei Bedarf für eine sich
        auf weite Bereiche der Kriminalität erstreckende Kron-
        zeugenregelung. Fraglich ist auch, ob der Gesetzentwurf
        ausreichende Vorkehrungen trifft, um gegen missbräuch-
        liche Aussagen vorzugehen. Auf die Justiz wird viel Ar-
        beit zukommen, wenn es darum geht, einem Straftäter
        eine mögliche Falschaussage nachzuweisen. Auch die
        Rücknahme des zuvor zugesagten Straferlasses wird in
        der Praxis Probleme bereiten.
        Im Zusammenhang mit der Kronzeugenregelung stel-
        len sich eine Fülle von rechtssystematischen Fragen, die
        sorgfältig diskutiert werden müssen. Für die FDP steht
        fest: Nur eine rechtsstaatlich einwandfreie Kronzeugen-
        regelung wird sich in der Praxis bewähren. Der Gesetz-
        entwurf der Bundesregierung bietet hierfür lediglich eine
        Diskussionsgrundlage.
        Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Als die letzte
        Kronzeugenregelung im Jahre 1999 auslief, sorgte das in
        der Fachwelt für keine sonderlichen Reaktionen. Die
        12586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Kritiker der Regelung waren nicht sonderlich begeistert,
        ihre Befürworter nicht sonderlich verärgert.
        Im Vergleich zu der Kohl’schen Regelung sieht der
        aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Wie-
        dereinführung der Kronzeugenregelung aber einen sehr
        viel breiteren Anwendungsbereich vor. Sollte der Ent-
        wurf Gesetz werden, wird dies demnach in breiterem
        Umfang nutzlos für die Aufklärungsarbeit bleiben und
        für größeren Schaden an unserem Rechtsstaat sorgen.
        Lassen Sie mich zunächst etwas zum Schaden sagen,
        bevor ich zum ausbleibenden Nutzen komme. Der Scha-
        den betrifft ein wesentliches Grundprinzip unseres
        Rechtsstaates: das Schuldprinzip. Bislang gingen wir da-
        von aus, dass ein Gerichtssaal ein Ort ist, an dem stets
        und von Amts wegen die gerechte Strafe für eine nach-
        zuweisende Schuld zu suchen ist. Kurz gesagt: Justitia
        wägt; sie handelt nicht. Nach dem aktuellen Entwurf der
        Bundesregierung aber würde der Gerichtssaal zu einem
        Marktplatz werden, auf dem man – zuvor geleistete – Er-
        mittlungs- oder Präventionshilfe gegen Strafmilderung
        tauscht.
        Der Entwurf sieht vor, dass Täter, die mehr als ein
        bloßes Bagatelldelikt zu verantworten haben und vor der
        Eröffnung der Hauptverhandlung Aufklärungs- oder
        Präventionshilfe zu irgendeiner ganz anderen Tat aus
        dem ellenlangen Katalog des geplanten § 100 a Abs. 2
        StPO leisten, Strafmilderung genießen können. Weder
        brauchen diese Täter die Umstände der eigenen Taten
        aufzuklären noch Reue oder Mitleid mit ihren Opfern zu
        beweisen. Hier ist also durchaus kein Bonus für den ein-
        sichtigen Täter in Planung. Wer fortan einer Straftat an-
        geklagt wird, kann sich glücklich schätzen, wenn er zu-
        vor für ausreichend Nähe zu anderen Straftaten gesorgt
        hat, zu denen er dann Aufklärungsdienste anbieten kann.
        Wer dagegen seinen einzigen ernsten Fehltritt im Leben
        zu verantworten hat, dem fehlt es an dem nötigen Zaster
        auf dem neuen Gerichtsmarkt. Er wird nichts haben, das
        er gegen Milderung feilbieten kann. Ihn trifft die volle
        Härte des Gesetzes. Ein Verbrechen lohnt sich nicht.
        Viele dagegen schon. So wird auch das Prinzip der Ge-
        neralprävention in sein Gegenteil verkehrt. Ich frage
        mich außerdem, wie man dem Opfer einer Vergewalti-
        gung wohl vermitteln will, dass der Vergewaltiger straf-
        mildernd davonkommt, weil er zufällig Aufklärungshilfe
        – tatsächliche oder fiktive – zu einem Banküberfall leis-
        ten konnte.
        Der zu erwartende rechtliche und kriminalpolitische
        Schaden ist damit nicht einmal annähernd beschrieben.
        Schon jetzt aber müsste der abzuwiegende Nutzen
        enorm sein, um den bereits beschriebenen Schaden wie-
        der wettzumachen. Doch der Nutzen bleibt ganz aus;
        denn die Vertreter der Kronzeugenregelung verfolgen
        seit jeher einen Königs„irr“weg.
        Die erste Irrung liegt darin, dass es gelingen könne,
        hinter die verborgenen Strukturen des Terrorismus und
        des organisierten Verbrechens zu gelangen, weil man
        Plauderer aus dem Milieu privilegieren und herauslösen
        könne. Tatsächlich aber reagieren geschlossene Struktu-
        ren auf solche Versuche naturgemäß mit mehr Abschot-
        tung und mit Absicherung gegen Verrat. Sie erhöhen ein-
        fach das Ausmaß der Bedrohung gegenüber Plauderern,
        um die staatliche Privilegierung wieder wettzumachen.
        Es eröffnet sich ein gefährliches Wettrüsten zwischen
        den Vergünstigungen des Staates und den Verängstigun-
        gen im Milieu – ein Wettrüsten, das kein Rechtsstaat auf
        Dauer durchhalten kann. Die laufenden Erfahrungen mit
        der „Mini-Kronzeugenregelung“ im Betäubungsmittel-
        gesetz zeigen doch auf, dass es nicht annähernd gelingt,
        über Kronzeugen den organisierten Drogenhandel aus-
        zuforschen, wohl aber erhöht sich die Gewalt im Milieu
        stetig.
        Der zweite „königliche Fehlschluss“ besteht in der
        Erwartung, dass Kronzeugen überhaupt der Wahrheits-
        findung dienlich sein könnten. Schon ohne Kronzeugen-
        regelung betonen viele Angeklagte oft und gerne die
        Schuld anderer fiktiver und realer Personen, nur um den
        Blick von der eigenen Tat wegzulenken. Für diese – der
        Wahrheitsfindung abträgliche – Grundtendenz zur
        Fremdbezichtigung stellt der aktuelle Entwurf nun das
        passende rechtliche Institut zur Verfügung. Da nützt es
        auch nichts, dass der Aufklärungsbeitrag oder die Prä-
        ventionshilfe vor der Hauptverhandlung zu erbringen
        sind – als wäre dies schon ein Beleg für redliche Absich-
        ten. Es mag Sie überraschen, aber die meisten Beschul-
        digten eines Verbrechens wissen auch ohne Richter
        ziemlich gut, ob es später in der Hauptverhandlung für
        sie eng werden könnte.
        Es nützt auch nicht genug, dass der Entwurf Anpas-
        sungen der Tatbestände der falschen Verdächtigung und
        des Vortäuschens einer Straftat vorsieht; denn diese In-
        strumente bleiben oft stumpfe Waffen, weil die Ermitt-
        lung objektiver Wahrheit ebenso schwer fällt wie der
        Nachweis des nötigen Tätervorsatzes. So löst sich
        schließlich der letzte im Entwurf behauptete Vorteil in
        Luft auf: Den ganz unsicheren Erleichterungen bei der
        Aufklärung von Straftaten durch Kronzeugen stehen die
        ganz sicheren Erschwernisse bei der Nachprüfung ihrer
        Aussagen gegenüber.
        Nutzlos ist der Entwurf damit für das behauptete Vor-
        haben der Entlastung der Justiz. Was nach alledem tat-
        sächlich nützen würde, wäre, die neue Kronzeugenrege-
        lung ganz zu lassen. Der Nutzen läge schlicht darin, dass
        die geschilderten Schäden allesamt ausblieben.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Ende 1999 lief die alte Kronzeugenregelung aus.
        Wir Grüne wollten die Kronzeugenregelung nie. Wir
        hatten uns deshalb geweigert, der Verlängerung dieser
        Sonderegelung aus der Antiterrorismusgesetzgebung der
        Achtzigerjahre zuzustimmen. Durch die Kronzeugenre-
        gelung wurde der deal mit dem Mörder hoffähig ge-
        macht. Ein des vollendeten Mordes Verdächtiger musste
        sich nur genug einfallen lassen, was er den Strafverfol-
        gungsbehörden über andere und deren Beteiligung an
        schwersten Straftaten erzählen konnte, um eine milde
        Bestrafung zu erreichen. Das mit der damaligen Rege-
        lung beabsichtigte Ziel, ins Zentrum von terroristischen
        oder schwerstkriminelle Gruppen organisierter Krimina-
        lität einzudringen, indem Personen aus diesem Bereich
        als Kronzeugen gewonnen werden, wurde nicht erreicht.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12587
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deshalb und wegen erheblicher Gefahren und schwerer
        Mängel, wie etwa der Aufgabe des Legalitätsgrundsat-
        zes, die mit dieser Regelung verbunden waren, sprachen
        sich die meisten Experten gegen die Kronzeugenrege-
        lung aus. In einer Sachverständigenanhörung im Justiz-
        ministerium wurde dies damals deutlich.
        Die jetzt vorgelegte neue Vorschrift des § 46 b Straf-
        gesetzbuch ist im Kern die Wiedereinführung einer
        Kronzeugenregelung, wenn sie jetzt auch anders heißt
        und als bloße Strafzumessungsvorschrift daherkommt.
        Dabei verkenne ich nicht, dass die neue Vorschrift völlig
        anders gestrickt ist und versucht, die Kritik an der alten
        Regelung zu berücksichtigen. Ich übersehe auch nicht,
        dass die vorgeschlagene Regelung sehr weitgehend den
        Vorschlägen ähnelt, die wir zuletzt in der rot-grünen Ko-
        alition diskutiert hatten. Es stimmt allerdings nicht, dass
        wir Grünen bereit waren, diesem Vorschlag so ohne Wei-
        teres zuzustimmen. Nein, wir wollten überhaupt keine
        neue Kronzeugenregelung. Das hatten wir immer wieder
        betont. Nur wir sahen uns einem erheblichen Druck aus-
        gesetzt. Deshalb hatten wir verhandelt. Aber für uns
        blieb immer entscheidend, dass wir eine Regelung allen-
        falls mittragen, die die absolute Strafdrohung einer le-
        benslangen Freiheitsstrafe im § 211 Strafgesetzbuch
        ganz allgemein relativiert und nicht nur als Belohnung
        für den Mörder als Kronzeuge. Wir sehen nicht ein, dass
        bei einem Mord, der nach jahrelangem Martyrium durch
        das Opfer an dem Peiniger begangen wird, eine Milde-
        rung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach dem Geset-
        zeswortlaut absolut nicht möglich sein soll, bei einem
        Mörder, der sich aus ganz egoistischen Gründen als
        Kronzeuge zur Verfügung stellt, aber doch.
        Wir lehnen diese neue Kronzeugenregelung auch als
        Strafzumessungsvorschrift ab. Wir sind dagegen, dass
        der Staat mit Mördern ein Geschäft über die Strafhöhe
        abschließt. Ein solcher Deal ist eines Rechtsstaates un-
        würdig. Beim Handel des Staates mit schwerstkriminel-
        len Kronzeugen bleiben Gerechtigkeit und Rechtsstaat-
        lichkeit auf der Strecke.
        Die Regelung schafft Anreize für Kronzeugen in
        Mordprozessen, sich Taten und Tatbeteiligungen anderer
        auszudenken, sie „ins Blaue“ hinein zu verdächtigen und
        zu belasten – denn umso mehr andere beschuldigt wer-
        den, umso höher fällt der Strafnachlass aus. Damit wird
        der Gefahr der Verfolgung Unschuldiger und gerichtli-
        cher Fehlurteile gerade in Mordprozessen Vorschub ge-
        leistet. Dass von Strafverfolgern hofierte Kronzeugen
        vielfach ihre Aussagen nachträglich widerrufen und sich
        gar selbst wegen Falschbeschuldigung angezeigt haben,
        zeigt, welche großen Zweifel an der Glaubwürdigkeit
        solcher Kronzeugen stets grundsätzlich angebracht sind.
        Beispiele aus Italien zeigen, welch großes Unglück
        Kronzeugen über zu unrecht Verdächtigte bringen kön-
        nen.
        Justiz und Kronzeuge haben an der Überführung Be-
        schuldigter häufig ein gemeinsames Interesse. Sie nei-
        gen dazu, Widersprüche in dessen Aussage zulasten der
        Wahrheit, des Beschuldigten und der Verteidigung zu
        „glätten“.
        Die Kronzeugenregelung verletzt das verfassungs-
        kräftige Schuldprinzip, indem der für die Tat des Zeugen
        angemessene Strafrahmen selbst bei Mördern unter-
        schritten wird. Sie begründet Zweifel bei der recht-
        streuen Bevölkerung an der Legitimität und Gleichbe-
        handlung in der Strafrechtspflege.
        Schon nach geltendem Strafrecht kann das Gericht die
        Strafe mildern, wenn der Angeklagte hilft, fremde De-
        likte aufzuklären. Solches Verhalten nach der Tat ist
        nach § 46 StGB ein wichtiger Strafzumessungsgrund,
        nur eben nicht bei Mordvorwürfen. Und zur täglichen
        Praxis aller Strafgerichte in Deutschland gehört es, Hilfe
        bei der Aufklärung oder die Verhinderung von Straftaten
        durch Strafmilderung zu würdigen. Darüber wird auch in
        öffentlicher Sitzung oder auch auf Gerichtsfluren unter
        den Prozessbeteiligten gesprochen und verhandelt. Dazu
        braucht es die neue Vorschrift nicht, zumal es für den
        Bereich der Drogendelikte und des Terrorismus sogar
        Vorschriften und Aussageanreize schon im Gesetz gibt.
        Ganz im Gegenteil. Das neue Gesetz könnte sogar diese
        Praxis einschränken, denn danach kann die Milderung
        nur für Aufklärungshilfe gewährt werden, wenn diese
        bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens gewährt wird.
        Deshalb werden wir gegen eine neue Kronzeugenre-
        gelung stimmen, die den Handel mit dem Mörder gesetz-
        lich regelt.
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
        Bundesministerin der Justiz: Nach der Rechtsprechung
        des Bundesverfassungsgerichts gehört es zu den wesent-
        lichen Aufgaben des Staates, „gerade schwere Straftaten
        aufzuklären und zu verhindern“. Genau dies ist das
        Kernanliegen des Entwurfs der Bundesregierung zur
        Einführung einer allgemeinen Kronzeugenregelung, der
        uns zur Beratung vorliegt. Durch die Möglichkeit der
        Strafmilderung oder – in weniger schweren Fällen – des
        Absehens von Strafe soll für potenziell kooperationsbe-
        reite Straftäter ein stärkerer Anreiz geschaffen werden,
        Angaben zur Aufklärung oder Verhinderung von schwe-
        ren Straftaten zu machen, die ansonsten nicht oder nur
        schwer aufzudecken wären.
        Wir alle wissen, dass die Frage einer Kronzeugenre-
        gelung ein seit vielen Jahren immer wieder kontrovers
        diskutiertes Thema ist. Umso mehr freue ich mich, dass
        wir nun einen Entwurf vorlegen können, der beim Bun-
        desrat auf grundsätzliche Zustimmung stößt und bei dem
        ich zuversichtlich bin, dass er auch im Bundestag eine
        klare Mehrheit finden wird.
        Das Regelungskonzept des Entwurfs lässt sich leicht
        erläutern, wenn wir einen Blick auf die bisherigen Kron-
        zeugenregelungen werfen. Wir hatten eine solche bereits
        von 1989 bis 1999 für terroristische und von 1994 bis
        1999 zusätzlich für organisiert begangene Straftaten.
        Außerdem gibt es wenige sogenannte kleine oder be-
        reichsspezifische Kronzeugenregelungen, von denen vor
        allem die in der Praxis bedeutsame Vorschrift im Betäu-
        bungsmittelstrafrecht – § 31 BtMG – zu nennen ist.
        Trotz der nicht unerheblichen Erfolge, die mit diesen
        Regelungen erzielt werden konnten, wurde von Prakti-
        12588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        kerseite immer wieder moniert, dass diese Vorschriften
        einen zu eng begrenzten Anwendungsbereich haben.
        Nehmen wir zum Beispiel die damaligen Regelungen
        zum Terrorismusbereich und zur organisierten Krimina-
        lität. Die Regelungen waren nur auf Täter oder Teilneh-
        mer einer kriminellen und terroristischen Vereinigung
        und damit zusammenhängender Taten beschränkt. Kri-
        minelle Aktivitäten in diesen Bereichen beschränken
        sich aber keineswegs auf die Tätigkeit von Organisatio-
        nen, die die hohen Anforderungen an die Struktur sol-
        cher Vereinigungen erfüllen, ganz zu schweigen etwa
        vom terroristischen Einzeltäter. Eine weitere Beschrän-
        kung der bisherigen Regelungen bestand und besteht da-
        rin, dass nur Angaben innerhalb ein und desselben De-
        liktsbereichs honoriert werden. Zum Beispiel schafft die
        Regelung im Betäubungsmittelstrafrecht demzufolge
        zwar einen Anreiz für einen Drogenhändler, Angaben
        über die Tat eines anderen Drogenhändlers zu machen,
        nicht aber, die Straftaten eines ihm bekannten Men-
        schenhändlers oder einer Fälscherbande zu offenbaren.
        Diese meines Erachtens wenig sinnvollen Beschrän-
        kungen wollen wir aufheben. Vorrangig entscheidend
        soll vielmehr sein, welchen Wert eine Angabe hat, um
        den Staat bei seiner Aufgabe zu unterstützen, Straftaten
        aufzuklären und zu verhindern. Erst durch einen solchen
        breiten, deliktsübergreifenden Ansatz besteht die Mög-
        lichkeit, kriminelle Verflechtungen insgesamt besser
        aufzubrechen und ansonsten praktisch nicht erreichbare
        Ermittlungserfolge zu erzielen.
        Dabei beschränkt sich der Entwurf darauf, solche An-
        gaben zu honorieren, die sich auf eine schwere Straftat
        beziehen, bei der grundsätzlich auch eine Telefonüber-
        wachung möglich wäre. Durch die Anknüpfung an den
        Straftatenkatalog der Telefonüberwachung, wie er nach
        dem Regierungsentwurf zur Neuregelung der Telekom-
        munikationsüberwachung gefasst werden soll, erfassen
        wir nur besonders schwere Taten – zum Beispiel Tö-
        tungsdelikte – oder schwere Delikte, bei denen tendenzi-
        ell – insbesondere wegen einer häufig konspirativen Be-
        gehungsweise – ein Ermittlungsdefizit des Staates zu
        beklagen ist. Neben der Tätigkeit organisierter oder kri-
        mineller Vereinigungen ist dabei etwa an sonstige Staats-
        schutzdelikte, gemeingefährliche Straftaten, die Strafta-
        ten von Waffenhändlern, von Räuber-, Diebstahls-,
        Betrugs- oder Fälscherbanden, aber auch an schwere Se-
        xualdelikte und schwere Formen der Wirtschaftskrimi-
        nalität einschließlich schwerer Korruptionsdelikte zu
        denken.
        Die Bundesregierung verkennt nicht, dass eine Kron-
        zeugenregelung Täter zu dem Versuch animieren kann,
        mit unwahren Angaben eine unverdiente Strafmilderung
        zu erlangen. Wir haben jedoch Vorsorge getroffen, um
        diese Gefahr zu minimieren. Der Kronzeuge muss näm-
        lich seine Angaben bereits vor Eröffnung des gegen ihn
        gerichteten Hauptverfahrens machen. Damit soll den
        Strafverfolgungsbehörden und dem Gericht hinreichend
        Zeit bleiben, diese Angaben auf ihre Stichhaltigkeit zu
        überprüfen. Die Gewährung eines Strafrabattes nur des-
        halb, weil der Angeklagte am Ende der Hauptverhand-
        lung auf einmal mit Angaben kommt, die zwar plausibel
        erscheinen, aber nicht nachprüfbar sind, kann es so nicht
        geben. Außerdem wollen wir die Strafandrohungen für
        Falschaussagen ausweiten, um härter gegen die vorge-
        hen zu können, die bewusst falsche Angaben machen,
        um sich die Milderung der Kronzeugenregelung zu ver-
        schaffen.
        Ich habe bereits angedeutet, dass der Gesetzentwurf
        auch von den Ländern dem Grunde nach unterstützt
        wird, nachdem wir bereits bei der Abstimmung des Re-
        gierungsentwurfs viele Hinweise und Bedenken der Län-
        der zu Einzelpunkten aufgegriffen haben. Der Bundesrat
        hat lediglich drei Prüf- und eine Änderungsbitte vorge-
        bracht, die aus unserer Sicht keinen Anlass für Korrektu-
        ren bieten. Insbesondere hält die Bundesregierung aus
        den eben genannten Gründen die Präklusionsvorschrift
        für richtig, wonach der Kronzeuge seine Angaben vor
        Eröffnung des Hauptverfahrens machen muss.
        Grundsätzlichere, aber leider auch recht pauschale
        Kritik kommt hingegen von den Anwaltsverbänden und
        dem Deutschen Richterbund, die in einer Kronzeugenre-
        gelung per se einen „fragwürdigen Handel mit dem Ver-
        brechen“ sehen.
        Auch wenn wir alle wissen, dass eine Kronzeugenre-
        gelung nie ganz unproblematisch ist, halte ich diese
        rechtsstaatlichen Bedenken im Hinblick auf den vorlie-
        genden Regierungsentwurf für unbegründet. Ich möchte
        die wesentlichen Gründe hierfür kurz benennen:
        Erstens. Zu den zentralen verfassungsrechtlichen
        Aufgaben des Rechtsstaats gehört es – ich habe bereits
        eingangs darauf hingewiesen –, gerade schwere Verbre-
        chen aufzuklären und zu verhindern; genau dem dient
        die Regelung.
        Zweitens. Dass für die Strafzumessung auch ein posi-
        tives Nachtatverhalten zu berücksichtigen ist, ist nicht
        neu, sondern in § 46 StGB seit langem anerkannt. Wir
        konkretisieren nur diese Vorgaben und entwickeln sie
        weiter.
        Drittens. Weiterhin muss sich die Strafe maßgeblich
        an der Schuld des Täters orientieren. Zur Vermeidung
        unangemessen niedriger Strafen wird der mögliche
        Strafrabatt viel deutlicher limitiert als bei den Kronzeu-
        genregelungen der 80er- und 90er-Jahre. Bei Mord kann
        allenfalls eine Absenkung auf zehn Jahre Freiheitsstrafe
        erfolgen, ein Absehen ist nur bei einer an sich verwirk-
        ten Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren möglich.
        Viertens. Das Gericht muss auch nicht automatisch
        bei jeder Hilfe einen Strafrabatt gewähren, sondern kann
        dies tun. Es hat dabei insbesondere zu bewerten, ob ihm
        dies im Hinblick auf den Wert der Angaben und der
        Schwere der Tat des Kronzeugen gerechtfertigt er-
        scheint.
        Fünftens. Das Legalitätsprinzip bleibt bei unserer rein
        materiell-rechtlichen Regelung unberührt. Es bleibt da-
        bei, dass nur das Gericht über den Strafrabatt entschei-
        den kann. Auch im Ermittlungsverfahren muss es einer
        Einstellung zustimmen.
        Zum Schluss möchte ich noch kurz etwas zu dem Ver-
        hältnis dieses Entwurfs zu dem Vorhaben „Verständi-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12589
        (A) (C)
        (B) (D)
        gung im Strafverfahren“ anmerken, das derzeit noch in-
        nerhalb der Bundesregierung abgestimmt wird. Ich
        glaube, wir sollten beide Vorhaben klar auseinanderhal-
        ten. Die Kronzeugenregelung ist eine materiell-rechtli-
        che Regelung der Strafzumessung, die ohne die rein ver-
        fahrensrechtlichen Regelungen zur Verständigung zur
        Anwendung kommen kann. Ebensowenig bedarf die
        verfahrensrechtliche Absicherung der Verständigung ei-
        ner Kronzeugenaussage, um mit Leben gefüllt zu wer-
        den; vielmehr ist ihr Hauptanwendungsfall das Geständ-
        nis des Angeklagten. Auch in zeitlicher Hinsicht gibt es
        Unterschiede. Der Kronzeuge muss sich vor der Eröff-
        nung des Hauptverfahrens offenbaren, während eine
        Verständigung erst in der Hauptverhandlung erfolgen
        kann. Ein wie auch immer geartetes Junktim zwischen
        beiden Entwürfen wäre daher aus meiner Sicht nicht
        sachgerecht und würde aufgrund des deutlich unter-
        schiedlichen Verfahrensstandes auch nur zu unnötigen
        Verzögerungen führen.
        Ich freue mich auf die anstehenden Ausschussbera-
        tungen, wo wir uns über die Details des Regierungsvor-
        schlags unterhalten können.
        Anlage 25
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Programm „Energiewende in Ge-
        wächshäusern“ auflegen (Tagesordnungspunkt 14)
        Johannes Röring (CDU/CSU): Lassen Sie mich zu-
        nächst einen Blick auf die Branche werfen, die Gegen-
        stand des uns vorliegenden Antrags von Bündnis 90/Die
        Grünen ist. Der Gartenbau ist ein zukunftsorientierter
        Wirtschaftszweig innerhalb der Landwirtschaft, der sich
        seit Jahren sehr positiv weiterentwickelt. Mit über
        60 000 Betrieben mit gärtnerischer Produktion in
        Deutschland und einem Wirtschaftsvolumen von circa
        26 Milliarden Euro ist der Gartenbau schon für sich ge-
        nommen ein wichtiger Wirtschaftssektor. In der Branche
        sind direkt über 400 000 Arbeitskräfte beschäftigt, da-
        von circa 18 000 Auszubildende. Aufgrund der meist ge-
        gebenen Unternehmensstrukturen ist er im ländlichen
        Raum ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der Arbeitsplätze
        schafft. Ein Charakteristikum des Gartenbaus ist augen-
        scheinlich: Er ist nicht nur ein arbeitsintensiver Produk-
        tionszweig, sondern auch ein energieintensiver Bereich.
        Besonders dieses Thema, nämlich die Energie und im
        Besonderen deren effiziente Nutzung, ist in diesen Tagen
        eines der zentralen Themen der Politik. Wir haben uns
        als Große Koalition von Anfang an dieser Frage ange-
        nommen und schon im Koalitionsvertrag vereinbart, „bis
        2020 eine Verdopplung der Energieproduktivität gegen-
        über 1990 zu erreichen“ und die Marktpotenziale erneu-
        erbarer Energien auszubauen.
        Mit dem nun in Meseberg vorgelegten Klima- und
        Energiepaket gehen wir diesen Weg konsequent weiter.
        Wir wollen beispielsweise einen weiteren Ausbau der er-
        neuerbaren Energien im Strombereich. Wir setzen uns für
        eine Verdopplung des Anteils von Strom aus Kraft-
        Wärme-Kopplung bis 2020 ein, und besonders die Aufle-
        gung von Förderprogrammen für Klimaschutz und Ener-
        gieeffizienz hat für uns höchste Priorität. Wir haben be-
        reits Maßnahmen entwickelt und wollen für die Zukunft
        weitere Maßnahmen voranbringen, die beim Thema
        Energieeffizienz erfolgreich sind.
        Lassen Sie mich nach diesen allgemeinen Aussagen
        konkret werden und das Augenmerk auf die Situation
        des Energieeinsatzes und die Energieeffizienz in der
        Gartenbaubranche werfen, um die es ja in dem von
        Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Antrag geht, mit
        dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ein Pro-
        gramm zur Energiewende in Gewächshäusern aufzule-
        gen. Die Intention, die hinter diesem Antrag steckt ist
        grundsätzlich zu begrüßen; denn die Verringerung der
        CO2-Emissionen auch in dieser Branche ist ein erstre-
        benswertes Ziel. Dies ist im Gewächshausanbau von be-
        sonderer Bedeutung, da der Gartenbau etwa ein Drittel
        der von der Landwirtschaft verbrauchten Brennstoff-
        energie benötigt. Man kann den Antrag positiv beurtei-
        len, dass die Idee unterstützenswert ist. Aber die Umset-
        zung ist mangelhaft. Die ungerechtfertigte und sach-
        fremde Kritik an den existierenden Programmen, durch
        die der Bund schon jetzt energiesparende Maßnahmen in
        der Landwirtschaft und im Gartenbau fördert, zeigt dies
        eindeutig. Denn sowohl das Agrarinvestitionsförderpro-
        gramm, AFP, das im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
        „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-
        zes“, GAK, eine Förderung ermöglicht, als auch die Mit-
        tel aus dem Zweckvermögen des Bundes bei der Land-
        wirtschaftlichen Rentenbank, mit deren Hilfe die
        Unterstützung von Modellvorhaben im Bereich vorwett-
        bewerbliche Entwicklung sowie Modellvorhaben zur
        Markt- und Praxiseinführung innovativer Techniken und
        Verfahren geleistet wird, sind bereits jetzt von der Bran-
        che häufig genutzte Wege, Energieeffizienzmaßnahmen
        anzustoßen.
        Da wir diese effektiven Maßnahmenpakete ausbauen
        wollen, erörtern wir aktuell, mit welchen weiteren Mög-
        lichkeiten wir die Gartenbaubranche unterstützen kön-
        nen, um den Energieeinsatz zu reduzieren, das Klima zu
        schonen und damit einhergehend auch die Kosten der
        Betriebe zu senken. Hierfür ist der politische Wille in der
        CDU/CSU-Fraktion und bei der Bundesregierung zwei-
        felsfrei vorhanden. Daher prüfen wir zurzeit konkret,
        welche finanziellen Voraussetzungen wir schaffen müs-
        sen, um ein Förderprogramm zum Ausbau der Energie-
        effizienz im Gartenbau aufzulegen. Dies soll auch im
        Rahmen unserer Meseberg-Beschlüsse entwickelt wer-
        den können und über einen mehrjährigen Zeitraum Pla-
        nungs- und Investitionssicherheit bieten, um einerseits
        die Branche zukunftsfähig zu machen und andererseits
        unsere klima- und energiepolitischen Ziele realisieren zu
        können. Es geht hier nicht um einen politischen Schnell-
        schuss, wie beim vorliegenden Antrag der Grünen, son-
        dern unser Ziel ist es, ein Programm aufzulegen, das
        nachhaltig erfolgreich ist und der Branche Unterstützung
        garantiert, auf die sie vertrauen kann. Denn wir wollen
        der Gartenbaubranche ein verlässlicher Partner sein, da-
        mit die positiven Entwicklungen in diesem Wirtschafts-
        12590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        zweig weitergehen können. Dazu müssen wir neben dem
        geplanten Förderprogramm auch verstärkt dafür werben,
        lokal bereits bestehende Unterstützungspfade zu nutzen,
        sei es in der Beratung vor Ort, bei der Entwicklung und
        Aufstellung von Energieeffizienzkonzepten, beim Ein-
        satz von Biomasse aus Wald und Forst oder bei der Ko-
        operation von Biogasanlagenbetreibern und Gartenbau-
        ern bei der Nutzung der Wärme der Biogasanlagen.
        Dieser Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist abzu-
        lehnen, da wir bereits in konkreten Planungen sind, wie
        wir der Gartenbaubranche durch ein Investitionsförde-
        rungsprogramm helfen können, Energieeffizienzmaß-
        nahmen zur CO2-Verminderung umzusetzen, und da wir
        bestehende Maßnahmen haben, die auch diesem Ziel
        dienen.
        Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Oft wird be-
        hauptet, Umweltschutz sei ein Jobkiller. Wir aber wis-
        sen: Das Gegenteil ist richtig. Umwelt schafft Arbeit.
        Das rasante Wachstum der Erneuerbaren-Energien-Bran-
        che hat bisher schon rund 200 000 Arbeitsplätze ge-
        schaffen.
        Auch die Maßnahmen in unserem Klimapaket werden
        einen doppelten Nutzen bringen: Wir schützen das
        Klima, indem wir den CO2-Ausstoß senken, unseren
        Ressourcenverbrauch schonen und unsere Abhängigkeit
        von den Ölscheichs verringern. Gleichzeitig schaffen wir
        Arbeitsplätze in Handwerk, Industrie und Wirtschaft, in-
        dem wir Investitionen in Energieeffizienz und Moderni-
        sierung anschieben, unsere Technologieführerschaft aus-
        bauen und für Wirtschaftswachstum sorgen.
        Gerade beim Glashausanbau wird eines überaus deut-
        lich: Für die energieintensiven Branchen ist Umwelt-
        schutz eine Win-win-Situation. Weniger Energiever-
        brauch bedeutet weniger Treibhausgase und es bedeutet
        weniger Kosten. Der Gartenbau – und das ist uns allen
        bewusst – ist in besonderem Maße in seiner Kostenstruk-
        tur und damit letztendlich auch in seiner Wettbewerbs-
        stärke von den Energiepreisen abhängig.
        Die Herausforderungen des weltweiten Klimawan-
        dels sind auf das Engste mit der Frage verknüpft, wie un-
        ter den Bedingungen einer weltweit steigenden Energie-
        nachfrage in Zukunft die Versorgungssicherheit zu
        wirtschaftlichen Preisen gewährleistet und so insgesamt
        eine nachhaltige Energieversorgung verwirklicht werden
        kann. Eine ambitionierte Strategie zur Steigerung der
        Energieeffizienz und der weitere Ausbau der erneuerba-
        ren Energien sind die richtige Antwort, um die Emission
        der Treibhausgase zu reduzieren.
        Das Bundeskabinett hat bei seiner Klausursitzung in
        Meseberg ein umfangreiches Klima- und Energiepaket
        beschlossen. Mit diesen Maßnahmen und den zuvor
        durchgesetzten Reduzierungen werden wir eine CO2-
        Minderung von rund 35 Prozent erreichen. Das ist ein
        großer Schritt nach vorn. Dennoch: In der Klimapolitik
        brauchen wir einen langen Atem und viele Akteure. Je-
        der Einzelne kann durch sein Mobilitätsverhalten oder
        durch intelligentes Energiesparen in den eigenen vier
        Wänden mithelfen. Ohne jeden Komfortverlust könnten
        wir europaweit deutlich über 20 Prozent unseres Ener-
        gieverbrauchs reduzieren.
        Es existieren in allen Sektoren noch erhebliche Ein-
        sparpotenziale, die mit ökonomischen Anreizen ver-
        gleichsweise kostengünstig zu realisieren sind. Ich be-
        grüße es, dass in Meseberg auch die Land- und
        Forstwirtschaft in Förderprogramme aufgenommen
        wurde, die dazu dienen, Effizienzpotenziale zu mobili-
        sieren. Konkret beschlossen wurde bereits die Förderung
        der Energieberatung im Bereich der Land- und Forst-
        wirtschaft. Der Gewächshausanbau ist dabei von beson-
        derer Bedeutung: Der Gartenbau benötigt etwa ein Drit-
        tel der von der Landwirtschaft verbrauchten
        Brennstoffenergie. Die Effekte wären also besonders
        groß, die Mittel besonders effizient eingesetzt.
        Mit ihrem Antrag rennen die Grünen offene Türen
        ein. Der Bund fördert schon jetzt energiesparende Maß-
        nahmen in der Landwirtschaft und insbesondere im Gar-
        tenbau: Wir haben das Agrarinvestitionsförderprogramm
        im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
        der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Wir fördern
        aus dem Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirt-
        schaftlichen Rentenbank Modellvorhaben zur vorwett-
        bewerblichen Entwicklung sowie zur Markt- und Praxis-
        einführung innovativer Techniken und Verfahren. Auch
        im Innovationsprogramm und in den Projekten des Bil-
        dungs- und Forschungsministeriums werden Projekte im
        Gewächshausbau gefördert.
        Ich stimme Ihnen zu: Wir müssen auch die anwen-
        dungsorientierte Forschung und den Wissenstransfer in
        die Praxis verbessern und fördern. Es geht darum, im In-
        teresse des Klimaschutzes in der Landwirtschaft und hier
        vor allem im energieintensiven Gartenbau Fördermaß-
        nahmen zur Energieeinsparung zu ergreifen.
        Wir haben ja heute im Ausschuss deutlich gemacht,
        dass wir uns dafür einsetzen, dazu einen Teil der Einnah-
        men aus dem Verkauf von Emissionszertifikaten zu ver-
        wenden, die im Haushalt des Bundesumweltministeri-
        ums veranschlagt sind. Das dafür maßgebliche
        Zuteilungsgesetz 2012 bestimmt, dass über die Verwen-
        dung der Erlöse im Rahmen des jährlichen Haushaltsge-
        setzes entschieden wird. Ich denke, dafür sollte auch ein
        angemessener Teil für Maßnahmen zur Energieeinspa-
        rung, zur Energieberatung und zur Markteinführung kli-
        mafreundlicher Technologien im Bereich der Land- und
        Forstwirtschaft verwendet werden. In 2008 schlagen wir
        jedenfalls vor, 3 Millionen Euro für modellhafte Vorha-
        ben zur Verfügung zu stellen.
        Ich habe Ihnen deutlich gemacht, dass wir unseren
        Teil der Verantwortung übernehmen. Es macht Sinn, hier
        zu investieren. Es tut dem Klima gut. Lassen sie mich
        dennoch gezielt darauf hinweisen, dass ein geringerer
        Energieverbrauch im Unterglasanbau eine Gewinnsitua-
        tion für die Unternehmen ist. Weniger Energieverbrauch
        bedeutet niedrigere Kosten. Dafür lohnt es sich, zu in-
        vestieren.
        Wir haben nicht mehr die Chance, den Klimawandel
        zu verhindern. Wir können ihn nur noch begrenzen. Na-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12591
        (A) (C)
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        türlich kostet das Geld. Fakt ist aber auch: Zuschauen
        wäre teurer.
        Wir haben heute im Rahmen der Haushaltsberatungen
        2008 im Ausschuss beschlossen, dass wir das Bundes-
        programm Ökolandbau weiterhin mit 16 Millionen Euro
        fortführen, obwohl in der mittelfristigen Planung eine
        Rückführung vorgesehen war. Auch dieses Programm ist
        Klimaschutz, den wir als SPD durchgesetzt haben. Wir
        stehen nicht nur beim Unterglasanbau vor der Aufgabe,
        klimaschonende Produktionsformen weiterzuentwi-
        ckeln und zu sichern.
        Ich freue mich, dass wir diesen Antrag von Bündnis
        90/Die Grünen hier debattieren. Auf diese Weise habe
        ich nämlich die Möglichkeit, zu erläutern, was wir als
        Regierungskoalition auf den Weg gebracht haben und
        woran wir in der kommenden Zeit arbeiten werden. Der
        heute im Agrarausschuss beschlossene Entschließungs-
        antrag zum Haushalt zeigt ganz klar: Wir nehmen diese
        Herausforderung an.
        Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir brauchen
        keine Energiewende in Gewächshäusern, sondern bessere
        Wettbewerbsbedingungen für unsere Gartenbaubetriebe.
        Steigende Energiepreise verschärfen die Wettbewerbs-
        situation der Gartenbaubetriebe, die in Gewächshäusern
        Obst, Gemüse und Zierpflanzen anbauen. Wie leistungs-
        fähig unsere Gartenbaubetriebe sind, hat gerade die in der
        letzten Woche zu Ende gegangene Bundesgartenschau in
        Ronneburg und Gera bewiesen. Sie hat annähernd
        1,5 Millionen Besucher begeistert.
        Wir sind in der Pflicht, nach Lösungen zu suchen, da-
        mit der Gartenbau und auch der Unterglasanbau in
        Deutschland eine Zukunft hat. Dazu gehört insbeson-
        dere, zur Minderung der hohen Energiekosten beizutra-
        gen. Der Unterglasanbau ist eine sehr energieintensive
        Branche. Abhängig von den jeweiligen Kulturen wird
        entweder das ganze Jahr über eine hohe Wärmemenge
        benötigt oder nur saisonal insbesondere im Winter. Das
        bedeutet, dass jeder Betrieb individuell betrachtet wer-
        den muss: jeder Betrieb muss für sich ausrechnen, auf
        welche Weise er seine Energiekosten am besten senken
        kann.
        Eine Umfrage der Universität Hannover hat ermittelt,
        dass es einen erheblichen Investitionsstau bei den Unter-
        glasanbaubetrieben gibt. Die Stichprobe, die etwa
        10 Prozent der im Unterglasanbau bewirtschafteten Flä-
        che umfasste, zeigte, dass 60 Prozent der erfassten Ge-
        wächshäuser älter als 10 Jahre, über 30 Prozent älter als
        25 Jahre sind. Bei den Kesseln ist die Situation nicht
        wirklich besser, über 40 Prozent sind älter als 15 Jahre.
        Es besteht also die erste Aufgabe darin, den Betrie-
        ben, die sich teilweise in einer wirtschaftlich schwieri-
        gen Situation befinden, Investitionen zur Energieeinspa-
        rung zu ermöglichen.
        Im Ansatz geht der Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
        nen in die richtige Richtung, insbesondere vor dem Hin-
        tergrund der aktuell geführten Debatte um Klimawandel
        und CO2-Reduzierung. Die effizienteste Maßnahme zur
        Energieeinsparung bei Gewächshäusern ist jedoch in
        vielen Fällen der Abriss und Neubau der in der Regel
        überalterten Anlagen.
        Fördermaßnahmen für Neubauten sind bereits vor-
        handen, so zum Beispiel die Förderung im Rahmen der
        Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
        und des Küstenschutzes“. Dort heißt es: „Förderungsfä-
        hig sind betriebliche Investitionen zur Verbesserung der
        Umweltbedingungen im Bereich der Landwirtschaft wie
        Maßnahmen zur Förderung der Energieeinsparung und
        -umstellung auf alternative Energiequellen, wie zum
        Beispiel der Neubau energiesparender Gewächshäuser
        einschließlich des hierfür notwendigen Abrisses alter
        Anlagen, Wärme- und Kältedämmungsmaßnahmen,
        Solaranlagen, Biomasse- und Biogasanlagen, Biomasse-
        verfeuerung, die Umstellung der Heizanlagen auf um-
        weltverträglichere Energieträger sowie Steuer- und Re-
        geltechnik.“
        Die Praxis zeigt jedoch, dass diese Fördermittel bis-
        her nicht ausreichend genutzt werden. Bisher kommen in
        Gartenbaubetrieben vorwiegend fossile Energieträger
        zum Einsatz. Es ist an der Zeit, dass auch erneuerbare
        Energieträger wie zum Beispiel Holzhackschnitzel oder
        Pellets möglichst auch unter Nutzung der Kraft-Wärme-
        Kopplung zur Anwendung kommen. Die Betriebe brau-
        chen maßgeschneiderte Lösungen für die jeweilige Si-
        tuation.
        Es gibt in Deutschland Beispiele, die Mut machen. In
        Schleswig-Holstein ist eine neuartige Kombination aus
        einer Biogasanlage mit nachgeschaltetem Blockheiz-
        kraftwerk und einem Holzheizkraftwerk mit innovativer
        Organic-Rankine-Cycle(ORC)-Technik errichtet wor-
        den. In dieser Biogasanlage mit nachgeschaltetem Holz-
        heizkraftwerk werden Wärme und Strom produziert. Die
        Wärme soll zum Betrieb von Gewächshäusern genutzt
        werden, in denen unter anderem Tomaten angebaut wer-
        den sollen. Besonders spannend ist die Nutzung des bei
        der Verbrennung des Biogases frei werdenden CO2 zur
        Düngung der Pflanzen. Der moderne Gemüseanbau be-
        schleunigt mit einem gesteigerten CO2-Druck das
        Wachstum der Pflanzen. Das Projekt wurde vom Bun-
        deslandwirtschaftsministerium, der EU und dem Land
        Schleswig-Holstein gefördert.
        Wir brauchen mehr solche innovativen Projekte, um
        den Unterglasanbau in Deutschland zu unterstützen und
        den mittelständischen Betrieben die Wettbewerbssitua-
        tion zu erleichtern. Die Politik muss hierfür die notwen-
        digen Rahmenbedingungen schaffen. Der vorliegende
        Antrag geht in die richtige Richtung, berücksichtigt aber
        nur unzureichend die Ausnutzung bestehender Förder-
        möglichkeiten und setzt keine innovativen Impulse. Des-
        wegen werden wir uns enthalten.
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Der vorlie-
        gende Antrag der Grünen wendet sich einem energiepo-
        litisch wichtigen Bereich der Land- und Lebensmittel-
        wirtschaft zu. Der Anteil der Energiekosten für
        Gewächshäuser am Gesamtaufwand der Gartenbaube-
        triebe hat sich in den vergangenen Jahren drastisch er-
        höht. So müssen Gärtnerinnen und Gärtner 10 Prozent
        ihres jährlichen Umsatzes den Stromanbietern überwei-
        12592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        sen. Das schadet ihrem Geldbeutel und der Umwelt. Än-
        derungen wären also nicht nur im Hinblick auf eine Verbes-
        serung der gärtnereiwirtschaftlichen Betriebsergebnisse
        und eine Stärkung von Leben und Arbeit in den ländli-
        chen Räumen – dort befinden sich Gärtnereien in der Re-
        gel – sinnvoll, sondern vor allem auch aus ökologischen
        Gründen.
        Eine Energiewende weg von fossilen, hin zu ökolo-
        gisch erzeugten erneuerbaren Energien kann allerdings
        mittelfristig nur erreicht werden, wenn gleichzeitig der
        Energiebedarf gesenkt wird, auch bzw. gerade in der
        Landwirtschaft und in Gärtnereien. Dazu brauchen wir
        mehr Forschung, wie die Grünen richtig erkennen.
        Dabei bleiben einige Fragen offen: Wofür wird die
        Energie eigentlich benötigt? Wie alt ist das Gewächs-
        haus? Hat es einen Energieschirm? Wie wird die Fläche
        ausgenutzt? Wie ist die Wärmeübertragung der Rohrlei-
        tungen im Gewächshaus? Wie alt ist das Heizsystem und
        welche Möglichkeiten eines Neubaus gibt es für die
        Gärtnerei? Wie werden vorhandene Fördermöglichkei-
        ten ausgenutzt? Was begrenzt die Nutzung der Förder-
        programme?
        Bis zu 90 Prozent des Energiebedarfs einer Gärtnerei
        fallen beim Unterglasanbau an. Hier gibt es viele Mög-
        lichkeiten, aktiv Energie einzusparen, aber sie zu nutzen
        kostet Geld. Das Abdichten von Scheiben und Lüftun-
        gen kann laut der Energieagentur in NRW bis zu
        20 Prozent, die Erneuerung des Heizungssystems bis zu
        15 Prozent Energie einsparen. Ein dicht installierter
        Energieschirm zur Dämmung des Gewächshauses kann
        den Energiebedarf bis zu 40 Prozent senken, kostet aller-
        dings auch bis zu 20 Euro pro Quadratmeter. Aber ge-
        rade Eigenkapital fehlt in der Agrarwirtschaft – speziell
        in Ostdeutschland – bekanntlich an allen Ecken und En-
        den. So gesehen ist das von den Grünen geforderte För-
        derprogramm „Energiewende in Gewächshäusern“ in-
        haltlich richtig. Dafür sollen in den nächsten fünf Jahren
        25 Millionen Euro in Forschung, Entwicklung und Ener-
        gieberatung fließen. So weit, so gut.
        Aber neben Licht ist auch Schatten:
        Erstens. Es ist ja nicht so, wie im Antrag suggeriert,
        dass auf dem Gebiet nichts getan wird. Zahlreiche For-
        schungsvorhaben befassen sich mit dieser Problematik.
        Zum Beispiel wird an der Universität Leipzig unter-
        sucht, wie Wärmeverluste von Gewächshäusern mini-
        miert werden können.
        Zweitens. Der Antrag zieht den Vergleich zu Garten-
        baubetrieben in den Niederlanden, denen der niederlän-
        dische Staat mit einem solchen Programm stützend unter
        die Arme greift. Deshalb könnten wir doch nicht dahin-
        ter zurückbleiben. Ist allerdings die niederländische
        Gärtnerei wirklich mit der deutschen zu vergleichen?
        Werden hier nicht holländische Birnen mit deutschen
        Äpfeln verglichen? Das Pochen auf internationaler Wett-
        bewerbsfähigkeit ist in diesem Kontext kein nachvoll-
        ziehbares Argument.
        Ein solches Förderprogramm sollte für die beteiligten
        Betriebe mit ganz konkreten Pflichten einhergehen: Sie
        müssen nicht nur generell weniger Energie verbrauchen,
        sondern vor allem weniger fossil erzeugte Energie. Noch
        immer wird hauptsächlich Öl oder Kohle zur Beheizung
        der Gewächshäuser eingesetzt. Daher wurden die Gärt-
        nerinnen und Gärtner vergangenes Jahr von der rückwir-
        kenden Besteuerung ihres Mineralölverbrauchs hart ge-
        troffen; die bisher übliche Rückerstattung blieb nämlich
        aus: Kapital, das Betrieben zur Erneuerung und Moder-
        nisierung ihrer Anlagen fehlt. Ein neues Förderpro-
        gramm müsste genau dort ansetzen: weniger Öl, weniger
        Energieverbrauch und mehr ökologisch erzeugte erneu-
        erbare Energien. In einer Broschüre des Landes NRW
        heißt es dazu:
        Darüber hinaus ist für umweltbewusste Betriebe ein
        deutlicher Imagegewinn festzustellen: Immer mehr
        Endverbraucher wollen wissen, wo die Ware her-
        kommt, die sie kaufen. Und ob sie umweltschonend
        hergestellt wurde.
        Denkbar wäre zudem eine Anpassung des Erneuer-
        bare-Energien-Gesetzes. Noch immer wird in dezentra-
        len Anlagen Strom aus Biogas ohne gleichzeitige Wärme-
        nutzung erzeugt. Damit gehen gut 60 Prozent der in dem
        aufwendig erzeugten Biogas enthaltenen Energie verlo-
        ren. Gerade diese Abwärmenutzung ist ein idealer Ener-
        gieträger für Gewächshausbetreiber, wie erste Projekte
        zeigen. So wäre eine deutliche Erhöhung des Anreizes
        für Gewächshausbetreiber durch die schon im Bundesrat
        diskutierte Verdoppelung des BHKW-Bonus von 2 auf
        4 Cent gegeben.
        Wir unterstützen das Anliegen des Antrages, finden
        ihn allerdings zu kleinteilig. Die Linke wird sich auf-
        grund der genannten Kritikpunkte ihrer Stimme enthal-
        ten.
        Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als
        bündnisgrüne Bundestagsfraktion fordern wir ein För-
        derprogramm „Energiewende in Gewächshäusern“. Ziel
        dieses Bundesprogramms soll es sein, den Energiever-
        brauch im Unterglasanbau drastisch zu senken und den
        Einsatz erneuerbarer Energien gezielt voranzubringen.
        Für dieses Programm soll der Bund in den nächsten fünf
        Jahren insgesamt 25 Millionen Euro bereitstellen.
        Im Ausschuss wurde uns unterstellt, einen Show-
        Antrag vorzulegen. Weit gefehlt: Wir haben entspre-
        chende Haushaltsanträge vorgelegt. Insgeheim hatten
        wir gehofft, dass die Koalitionsfraktionen das Anliegen
        positiv aufgreifen würden. Denn auch sie müssen den
        dringenden Energieförderbedarf im Unterglasgartenbau
        erkannt haben. Aber offenbar ist der Großen Koalition
        der deutsche Gartenbau nicht so viel Mühe wert. Ein
        Verschieben des Problems auf den Haushalt 2009, wie
        im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen ange-
        regt, wird der schwierigen Situation des Gartenbaus
        nicht gerecht.
        Mit Ihrer Ablehnung lassen Sie die betroffenen Be-
        triebe mit ihrem hohen Investitionsbedarf für moderne
        Energietechnik allein. Angesichts hoher und weiter stei-
        gender Energiekosten und der ausgelaufenen Energie-
        steuererstattung müssen wir uns aber um die Wettbe-
        werbsfähigkeit der Branche in der Tat Sorgen machen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12593
        (A) (C)
        (B) (D)
        Weil der Unterglasanbau eine energieintensive Branche
        ist, bedarf es eines schnellen Umstiegs auf alternative
        Energieressourcen und effiziente Energienutzung, um
        das Klima zu schützen und die Wettbewerbsfähigkeit des
        Gartenbaus in Deutschland zu erhalten. Die Unterneh-
        men müssen zügig investieren, um die laufenden Ener-
        giekosten senken zu können. Aber viele Betriebe verfü-
        gen nicht über das nötige Kapital für die hohen
        Investitionen. Deswegen sind Bund und Länder gefor-
        dert, mit einem gut ausgestatteten Förderprogramm für
        einen schnellen Wechsel zu sorgen.
        Es reicht nicht aus, die Betriebe an bestehende För-
        derprogramme im Rahmen der GAK und der Landwirt-
        schaftlichen Rentenbank zu verweisen, so wie Sie es ge-
        tan haben. Diese Programme bestehen seit Jahren, ohne
        dass sich an der Lage der Betriebe etwas Entscheidendes
        geändert hätte. Das zeigt doch, dass eine neue Förder-
        initiative mit anderen Förderkonditionen notwendig ist.
        Außerdem sind neben zusätzlichen Investitionsförderun-
        gen auch Mittel für die Energieberatung notwendig. Mit
        mehr und besserer Energieberatung könnten dann auch
        die bestehenden Förderprogramme besser genutzt wer-
        den.
        Nicht vergessen wollen wir auch, dass es gilt, die For-
        schung und Entwicklung technischer Lösungen speziell
        für den Unterglasgartenbau voranzubringen. Hier gibt es
        sowohl im Bereich Energieeffizienz als auch der Einbin-
        dung von Systemen der erneuerbaren Energien beson-
        dere Anforderungen seitens der Branche. Auch hierfür
        sollte der Bund zusätzliches Geld zur Verfügung stellen.
        Den Investitionsbedarf macht auch ein Blick in die
        Niederlande deutlich. Die dortige Regierung stellt
        48 Millionen Euro für Investitionen in Energiesparmaß-
        nahmen im Unterglasanbau zur Verfügung. Bis 2020
        streben die Niederlande den energieneutralen Unterglas-
        anbau an, in dem das Gewächshaus auch als Energie-
        und Stromproduzent fungiert. Der Druck auf die Wettbe-
        werbsposition des deutschen Unterglasanbaus wird sich
        dadurch noch einmal erhöhen. Wenn Deutschland hier
        mithalten und Arbeitplätze erhalten will, dann sind
        25 Millionen Euro nicht zu viel.
        Anlage 26
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Missbräuche im Be-
        reich der Schönheitsoperationen gezielt verhin-
        dern – Verbraucher umfassend schützen (Ta-
        gesordnungspunkt 15)
        Gitta Connemann (CDU/CSU): Der Wunsch nach
        Schönheit ist so alt wie die Menschheit selbst. „Wenn
        ich zu wählen hätte, zwischen der Macht des persischen
        Königs und körperlicher Schönheit, würde ich mich für
        die Schönheit entscheiden“, schwor bereits der griechi-
        sche Feldherr Xenophon vor mehr als 2 000 Jahren „bei
        allen Göttern“.
        Zu allen Zeiten trachteten die Menschen danach, be-
        stimmten Schönheitsidealen zu entsprechen. Und sie
        wussten sich zu helfen. Schon in den Ausgrabungsstät-
        ten fanden sich Schminktiegel und Perückenteile.
        Das Schönheitsbild hat sich seit der Antike verändert.
        Aber auch die Methoden der Verschönerung. Seit den
        ersten Nasenoperationen vor 400 Jahren hat sich die
        Schönheitschirurgie in Quantensprüngen entwickelt.
        Maßgeschneiderte Schönheit – ein Traum scheint wahr
        zu werden, der Schlüssel zu Glück und Erfolg gefunden.
        Denn die sozialwissenschaftliche Forschung belegt:
        Schönheit öffnet Tür und Tor und zwar von Geburt an.
        Hübsche Babys erfahren mehr Zärtlichkeit und Zuwen-
        dung. Hübsche Kinder werden in der Schule stärker ge-
        fördert und seltener bestraft. Diese Bevorzugung setzt
        sich bis ins Alter fort. Schöne Menschen haben nicht nur
        bessere Chancen beim anderen Geschlecht, sondern
        auch größere Erfolge auf dem Arbeitsmarkt. Schönheit
        ist ein Wettbewerbsfaktor und damit bares Geld wert.
        Es heißt zwar: „Wahre Schönheit kommt von innen“.
        Aber es bedarf eines gehörigen Selbstbewusstseins, um
        diese Weisheit auch zu leben. Und wem es daran man-
        gelt, behilft sich mit der Erkenntnis von Goethe: „Schön-
        heit ist überall ein gar willkommener Gast.“ Und hilft
        nach – mit den Mitteln der Schönheitschirurgie.
        Jede Veränderung, alles scheint möglich und zwar
        ohne Risiko. Nur ein, zwei kleine Schnitte, hier ein we-
        nig Fett abgesaugt, dort ein Polster eingesetzt, an anderer
        Stelle ein Faltenmittel injiziert. Der Gang zum Schön-
        heitschirurgen erscheint so unkompliziert wie der Be-
        such des Friseurs. Und Träume scheinen wahr zu wer-
        den.
        Ist der Bundestag der richtige Ort, um über Träume zu
        reden? Gibt es nicht wichtigere Fragen, mit denen sich
        die Politik beschäftigen sollte? Mit diesen Fragen sahen
        wir uns als CDU/CSU-Fraktion im Dezember 2003 kon-
        frontiert. Damals thematisierten wir erstmal bundespoli-
        tisch den Patienten- und Verbraucherschutz bei Schön-
        heitsoperationen durch eine Anfrage an die damalige
        Bundesregierung.
        Betroffene und Verbände hatten im Vorfeld Miss-
        stände problematisiert. Die Beratung vor Operationen
        sei unzureichend. Der Begriff Schönheitschirurg sei
        nicht geschützt. Deshalb würden Eingriffe auch ohne die
        erforderliche fachliche Qualifikation durchgeführt. Be-
        troffen sei eine zunehmende Anzahl an Patienten. Es
        gäbe offene Rechtsfragen.
        Wir haben diese Hinweise ernst genommen. Leider
        standen wir damit anfangs sehr alleine da. Die damalige
        rot-grüne Bundesregierung beantwortete unsere Anfrage
        eher lieblos, erklärte sich im Wesentlichen für unzustän-
        dig und verwies im Übrigen auf das Fehlen aussagekräf-
        tiger Daten. Aber unser Kollege Dr. Hans Georg Faust
        und ich fanden auch Verbündete: in fachärztlichen Verei-
        nigungen wie der vormaligen Vereinigung der Deutschen
        Plastischen Chirurgen, heute der Deutschen Gesellschaft
        der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chi-
        rurgen, in engagierten Vorkämpferinnen wie Dr. med.
        Marita Eisenmann-Klein und Dr. med. Constance
        Neuhann-Lorenz und in der Bundesärztekammer. Diese
        12594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
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        rief daraufhin im Jahr 2004 die „Koalition gegen den
        Schönheitswahn“ ins Leben.
        Es war jedoch weitere Überzeugungsarbeit zu leisten.
        Denn ein Vorurteil hielt sich hartnäckig: Das ist ein
        Thema, das nur einige – vornehmlich ausländische –
        Filmstars betrifft, also kein Problem.
        Weit gefehlt. Es existieren zwar nicht so viele Zahlen
        wie in anderen Bereichen. Denn nicht jeder Mediziner
        gibt gerne seine Daten preis. Und die Grauzone ist er-
        heblich. Aber die vorliegenden Daten zeichnen ein ein-
        deutiges Bild: Eine Schönheitsoperation ist heute keine
        Ausnahme mehr.
        Je nach Schätzung werden in Deutschland zwischen
        500 000 und 1 Million ästhetische Eingriffe und Opera-
        tionen pro Jahr durchgeführt. Die Dunkelziffer ist hoch,
        da Eingriffe von Ärzten ohne Facharztausbildung oder
        von Heilpraktikern nicht erfasst werden. Auch die Ein-
        griffe, die im Rahmen eines Schönheitsoperationstouris-
        mus in Nachbarländern wie Tschechien etc. durchge-
        führt werden, können kaum erfasst werden.
        Von der Altenpflegerin bis zum Ingenieur – die Pa-
        tienten kommen aus einem breiten gesellschaftlichen
        Spektrum. Dies belegt eine in diesem Jahr vorgelegte
        Forschungsstudie im Auftrag der Bundesanstalt für
        Landwirtschaft und Ernährung. Danach belaufen sich
        die Kosten pro Eingriff auf bis zu 12 000 Euro. Dies
        lässt auf einen Gesamtmarkt von rund 700 Millionen
        Euro pro Jahr schließen. Gewerblich organisierte Anbie-
        ter führen von der Lidstraffung über die Kinnplastik bis
        hin zur Fettabsaugung fast alle Arten ästhetischer Ein-
        griffe durch. Die Patienten werden immer jünger. So
        weist vor allem die Gruppe der 20- bis 29-jährigen
        Frauen die höchste Rate bei Brustvergrößerungen auf.
        Selbst in der Altersgruppe von 9 bis 14 Jahren spricht
        man über das Thema. Der Wunsch nach einem „neuen
        Busen“ zum Schulabschluss oder zu Weihnachten ist
        keine Ausnahme mehr.
        Zunehmend bedrängen Jugendliche ihre Eltern mit
        dem Wunsch nach maßgeschneiderter Schönheit. Meiner
        Fraktion und mir geht es um den Schutz dieser Jugendli-
        chen – auch vor sich selbst.
        Denn manche Eltern stehen diesem Druck hilflos ge-
        genüber, auch weil diese das vermeintlich Beste für ihre
        Kinder wollen. „Hauptsache, meine Tochter ist glück-
        lich“, so wird die Mutter von Aylin zitiert – BILD
        19. Dezember 2005 – die ihrer Tochter zu Weihnachten
        eine Brustvergrößerung, Lippenaufspritzung, Fettabsau-
        gung an Bauch und Beinen finanzierte. Aylin war zu die-
        sem Zeitpunkt 19.
        Aber Schönheitsoperationen werden auch schon an
        Minderjährigen mit Einwilligung ihrer Eltern durchge-
        führt. Verstärkt wird diese Entwicklung auch durch die
        Berichterstattung in den Medien, nach der sich mit
        Schönheit jedes Ziel erreichen lässt und in jedem ein
        „Model“ schlummert, wenn er, sie es nur will. Das
        Thema wird ausgeschlachtet.
        Die beliebten Vorher-Nachher-Bilder sind jetzt zwar
        seit einer Änderung des Heilmittelwerbegesetzes verbo-
        ten. Aber Formate wie „I want a Famous Face“ oder
        „Der Schwan – endlich schön“ faszinieren – und erzeu-
        gen den Eindruck, zum Star operiert werden zu können.
        Körperliche Maßarbeit wird mit Erfolg und Glück
        gleichgesetzt. Aber auch die gelungenste ästhetische
        Operation wird mangelndes Selbstwertgefühl nicht er-
        setzen können, insbesondere dann nicht, wenn das
        Krankheitsbild der Dysmorphophobie vorliegt. Selbst
        wenn diese Störung nicht vorliegt: wie fühlt es sich an,
        wenn die eigene Persönlichkeit nicht mehr zur äußeren
        Hülle passt? „Man braucht fünf Jahre, um sein Gesicht
        wiederzubekommen. Es muß neu eingeweint, einge-
        lacht, eingedacht und eingefühlt werden.“ So schilderte
        die Schauspielerin Hildegard Knef die Folgen ihrer Ge-
        sichtshautstraffung.
        Und: nicht jede Schönheitsoperation gelingt. Jede
        Operation birgt das Risiko von Komplikationen – im Ex-
        tremfall bis zum Tod. Allein in Deutschland starben laut
        einer Studie der Ruhr-Universität in den Jahren 1998 bis
        2002 16 Patienten als Folge einer Fettabsaugung. Sili-
        konbusen müssen nachoperiert werden. Faltenspritzen
        können Hängelider verursachen. Und vieles mehr.
        Die Betroffenen wagen häufig noch nicht einmal, mit
        dem eigenen Partner, Freunden oder Bekannten zu re-
        den. Sie fürchten die Reaktion „Du hast ja selbst
        schuld“. Eine Schadensersatzforderung wird erst recht
        nicht geltend gemacht, denn diese wäre mit Öffentlich-
        keit verbunden. Davon profitieren die schwarzen Schafe
        unter den Ärzten. Und es gibt sie.
        Denn nicht jeder unterzieht sich der anspruchsvollen
        Ausbildung zum „Facharzt für plastische/ästhetische
        Chirurgie“ oder absolviert die Weiterbildung „Plastische
        Operationen“. Und es ist auch leider nicht erforderlich.
        Die Approbation allein reicht, um sich selbst zum
        Schönheitschirurgen zu ernennen. Und diese Möglich-
        keit wird genutzt.
        Ich habe mit Betroffenen gesprochen, Bilder gesehen
        wie die einer Patientin, deren Operateur sich in einem
        anderthalbtägigen Tageskurs zum Spezialisten für Fett-
        absaugungen ausbilden ließ. Nach Injektion von 27 Li-
        tern Flüssigkeit ins Gewebe entfernte der Operateur
        24,8 Liter Fettgewebe in einer 14-stündigen Operation.
        Die Patientin hat knapp überlebt und ist nach wie vor
        von ihrer Wunschfigur weit entfernt.
        Und es gibt weitere Missstände. So berichten Ver-
        braucherzentralen wie Verbände wie der Patientenschutz
        e. V., dass unzulässige Pauschalhonorare vereinbart wer-
        den. Für den Erstkontakt oder einen Erstberatungstermin
        müssen nicht selten Termingebühren in beträchtlicher
        Höhe im Voraus gezahlt werden. Und diese beklagen
        den nicht ausreichenden Versicherungsschutz. Denn an-
        ders als bei Rechtsanwälten wird die Zulassung eines
        Arztes nicht an den Nachweis einer Haftpflichtversiche-
        rung geknüpft.
        Wildwest pur – dieser Eindruck muss entstehen. Ge-
        rade weil der Gegensatz zu den verantwortungsvollen
        Fachärzten, die es eben auch gibt, die bestens ausgebil-
        det sind und sorgfältig operieren, so groß ist.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12595
        (A) (C)
        (B) (D)
        Es besteht offensichtlicher Handlungsbedarf. Eine
        Anhörung muss ergeben, wie groß dieser ist und auf
        welchen Feldern er besteht. Dieser Antrag legt die
        Grundlage für die entsprechende parlamentarische Be-
        fassung.
        Deshalb bin ich froh und dankbar, dass meine Fraktion
        sich seinerzeit von den Widerständen nicht hat entmuti-
        gen lassen, sondern mich und Dr. Hans Georg Faust be-
        gleitet hat. Denn unsere Kolleginnen und Kollegen,
        voran unsere Gruppe der Frauen, haben ihre Verantwor-
        tung für diejenigen erkannt, die sich auf den Weg zu einer
        Schönheitsoperation machen. Wer sich nach reiflicher
        Überlegung für eine Schönheitsoperation entscheidet,
        sollte diesen Weg gehen können, ohne dass hinter vorge-
        haltener Hand darüber getuschelt wird.
        Wichtig ist allein, dass die Patienten wissen, was sie
        tun; dass Ärzte umfassend aufklären; dass sie sorgfältig
        operieren; dass sie versichert sind – und dass Kinder und
        Jugendliche nur dann behandelt werden, wenn wirklich
        ein medizinischer Grund vorliegt.
        Denn Schönheit ist eben doch nicht alles.
        Mechthild Rawert (SPD): Die meisten Menschen
        wollen schön sein! Wer kennt diese Eitelkeiten nicht an
        sich selbst! Die Schönheitschirurgie erfreut sich in
        Deutschland einer großen Beliebtheit. Der Markt für die
        „Verbesserung oder Veränderung von Körperformen
        durch operative Eingriffe ohne medizinische Notwen-
        digkeit im Sinne des Krankenversicherungsrechts“
        (Schönheitschirurgie laut Verständnis des Bundesge-
        sundheitsministeriums) boomt. Laut der Ärzte-Zeitung
        (10. März 2006) ist die „Ästhetische Medizin (…) ein
        Milliarden Markt“: Der Umsatz wird in Deutschland
        mittlerweile auf jährlich 5 Milliarden Euro geschätzt, da-
        von circa 800 Millionen Euro auf plastische Operatio-
        nen, die nicht primär medizinisch indiziert sind. Dabei
        sind nicht nur die Frauen Vorreiterinnen, sondern auch
        die Männer lassen sich Fett absaugen, Falten behandeln,
        die Nase oder das Kinn korrigieren. Auch Kinder sind
        vor der „Schönheit aus der zweiten Hand“ nicht gefeit:
        Laut einer Umfrage des Kinderbarometers der LBS-Ini-
        tiative „Junge Familie“ wünschen sich jedes 5. Kind der
        unter 9- bis 14-Jährigen eine schönheitsoperative Be-
        handlung des eigenen Aussehens. Wünschen heißt aber
        noch nicht durchführen. Hier haben Eltern eine heraus-
        gehobene Verantwortung: Nicht nur bei der Lenkung
        realer erfüllbarer Wünsche, sondern auch als diejenigen,
        die schließlich einen Behandlungsvertrag unterschreiben
        müssen und die Kosten tragen. Der Anteil der Jugendli-
        chen beiderlei Geschlechts wächst, die sich mithilfe der
        Schönheit produzierenden operativen Eingriffe auf ein
        allgegenwärtiges Schönheitsideal trimmen wollen. Ju-
        gendliche fühlen sich durch dieses Schönheitsideal ei-
        nem enormen Druck ausgesetzt. Dabei sind nicht mehr
        nur Stars die Vorbilder, sondern durch computerretu-
        schierte Fotos wird der eigene Körper zu einem „perfek-
        ten Körper“ imaginiert und ein „unrealistisches Bild“
        soll zur Wirklichkeit werden. Der Weg der Jugendlichen
        in ihrem Prozess zur Selbstfindung und Identitätsbildung
        wird dadurch nicht einfacher. Denn es gibt Tage im Le-
        ben, da zweifeln wir alle an unserer Attraktivität. Nor-
        malerweise gehen diese Phasen auch im Leben eines
        oder einer Jugendlichen wieder vorbei und die Frage, ob
        der Busen zu klein oder groß und die Nase zu breit oder
        zu lang ist, wird später mit Gelassenheit ertragen. Damit
        dieser identitätsstiftende Weg von allen Jugendlichen ge-
        meistert werden kann, sind wir alle gefordert als Eltern,
        als Lehrerinnen und Lehrer, als Politikerinnen und Poli-
        tiker.
        Nicht selten aber lastet auf jungen Menschen der
        Druck, schöner, schlanker – das heißt perfekter sein zu
        müssen. Das Gefühl, dem gängigen, durch die Medien
        produzierten Schönheitsideal nicht zu entsprechen, min-
        dert den Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstwertge-
        fühl. Es kommt zu Essstörungen, Fitnesswahn und dem
        unbedingten Wunsch nach einer Schönheitsoperation,
        denn der eigene „un-perfekte“ Körper wird abgelehnt.
        Junge Menschen unterziehen sich vor laufender Kamera
        einer Schönheitschirurgie – immer in der Hoffnung, dass
        sie danach ein Leben als „The Swan“ (der Schwan)
        – vom unbeachteten Teenager zum stolzen Schwan – le-
        ben können. Die Zurschaustellung und Vermarktung der
        Schönheitschirurgie hatte mit dieser Sendung einen ab-
        solut unrühmlichen Höhepunkt in den Medien erreicht.
        Mit der Not und der Hoffnung auf Akzeptanz und Aner-
        kennung wurde kalkuliert Geschäftemacherei betrieben.
        Mittlerweile ist bekannt, dass postoperative Nachwir-
        kungen und Komplikationen (unter anderem Taubheits-
        gefühle, Schwellungen, Blutergüsse, deutliche Narben,
        Unregelmäßigkeiten/Dellen, Nachblutungen) bei 22 Pro-
        zent der Frauen und 8 Prozent der Männer auftreten. Ein
        weiterer operativer Eingriff ist dann häufig die Folge. Es
        gibt nachweislich auch Todesfälle infolge von schön-
        heitschirurgischen Eingriffen.
        Zu Recht hatte daher im Anschluss an „The Swan“
        der Niedersächsische Frauenrat in einer großen Unter-
        schriftsaktion die Programmverantwortlichen von Fern-
        sehsendern kategorisch gefordert, solche Sendungen zu
        unterlassen, die wegen ihres Showcharakters irrationale
        Hoffnungen wecken, unrealistische Schönheitsideale
        propagieren und vor allem auch die Risiken durch medi-
        zinische Eingriffe und Operationen verharmlosen und
        mögliche Komplikationen im Anschluss daran vollstän-
        dig negieren. Auch die Bundesärztekammer wurde ini-
        tiativ und hat eine „Koalition gegen den Schönheits-
        wahn“ gegründet, unter anderem unterstützt auch vom
        Deutschen Ärztetag sowie Initiativen und politisch Akti-
        ven. Das Bundesgesundheitsministerium hat sofort gesetz-
        geberische Konsequenzen gezogen: „Schönheitsoperatio-
        nen“ wurden in die Änderung des Heilmittelwerbegesetzes
        aufgenommen. Das Heilmittelwerbegesetz untersagt ir-
        reführende und ethisch bedenkliche Werbung. Darüber
        hinaus hat das Bundesgesundheitsministerium unter ande-
        rem die Informationsbroschüre Spieglein, Spieglein …
        vorgestellt. Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche
        Aufklärung hat sich verstärkt der Aufgabe gestellt, Fra-
        gen der Körperwahrnehmung und des Schönheitsideals
        in Schulen und anderen Settings zu thematisieren. Im
        Forschungsprojekt „Schönheitsoperationen: Daten, Pro-
        blem, Rechtsfragen“ (veröffentlicht am 16. Juli 2007
        durch das BMELV) wurden – meines Wissens nach
        12596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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        erstmalig – im Rahmen einer Angebotsanalyse, einer
        Befragung von Verbraucherinnen und Verbrauchern so-
        wie einer Evaluation verbraucherpolitischer Maßnahmen
        eine Marktanalyse und ein fundierter Überblick über die
        tatsächliche Inanspruchnahme dieser Dienstleistung, die
        für Verbraucherinnen und Verbrauchern daraus resultie-
        renden Probleme als auch den tatsächlich daraus resul-
        tierenden gesellschaftlichen Folgekosten erstellt. Zu
        Recht wird auch der Frage nachgegangen, wer denn nun
        die Nachfragerinnen und Nachfrager von „Schönheits-
        operationen“ sind: Sind es Patientinnen und Patienten
        oder sind es Kundinnen und Kunden? Die Begrifflich-
        keit ist deshalb von Bedeutung, da diese Begrifflichkei-
        ten in der Bevölkerung unterschiedliche Assoziationen
        hervorrufen. Darüber hinaus sind diese Rollen auch un-
        terschiedlichen Erwartungen und Verhaltensweisen hin-
        sichtlicht der Aufklärungspflicht, der berufsrechtlichen
        Regelungen, dem Haftungsschutz etc. verbunden. Für
        Kundinnen und Kunden gilt der Verbraucherschutz. Bei
        unserem Antrag „Missbräuche im Bereich der Schön-
        heitschirurgie gezielt verhindern – Verbraucher umfas-
        send schützen“ geht es nicht nur um den Schutz Minder-
        jähriger sondern aller Nutzer und Nutzerinnen der
        Schönheitschirurgie.
        Wir können davon ausgehen, dass die Schönheitschir-
        urgie ein zunehmend gewerblicher Markt mit den ent-
        sprechenden Regeln wird. Aber auch hier gilt: Qualität
        und Qualitätssicherung sind eine wesentliche Vorausset-
        zung für das erhoffte risikofreie Ergebnis schönheits-
        chirurgischer Eingriffe. Da diese in der Regel ohne me-
        dizinische Indikation erfolgen, sondern auf einer quasi
        privatrechtlichen Absprache zwischen Patientin und Pa-
        tient (Kundin und Kunde) und der Ärztin/dem Arzt als
        Leistungserbringerin und Leistungserbringer, greifen die
        Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen der Kranken-
        kassen aber nur eingeschränkt. Dieses ist vielen Men-
        schen nicht bekannt. Das ärztliche Berufsrecht umfasst
        die Frage nach den beruflichen Kompetenzen und An-
        forderungen an Ärzte. Die Kontrolle obliegt den Län-
        dern, die zumeist in ihren Kammer- und Heilberufsgeset-
        zen die Ausgestaltung den Ärztekammern übertragen
        haben. Ich erwarte im Interesse von uns allen von den
        entsprechenden Akteuren, eine stärkere Befassung mit
        diesem teilweise vorhandenen „grauen Markt“ der
        Schönheitschirurgie. Auch die Kontrolle und Überwa-
        chung der vielfältigen Angebote ist verstärkt zu überwa-
        chen und bei Zuwiderhandeln gegen Qualitätsstandards
        mit entsprechenden Sanktionen zu versehen. Nach wie
        vor ist beispielsweise richtig: „Fettabsaugung“ ist kein
        Friseurbesuch, sondern muss von einem sehr gut ausge-
        bildeten Operateur durchgeführt werden, sonst sind
        hässliche, oft irreparable Schäden (Dellen) die Folge.
        Nicht immer ist aber tatsächlich eine fundierte Ausbil-
        dung gegeben. Positiv erwähnen möchte ich die Landes-
        ärztekammer Nordrhein-Westfalen, die allgemeine In-
        formationen ins Netz gestellt hat und dabei auch auf die
        haftungsrechtlichen Konsequenzen verwiesen hat. Mitt-
        lerweile hat sich eine Expertenkommission zum „Quali-
        tätsmanagement in der Ästhetischen Medizin“ bei der
        „Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wiederher-
        stellungschirugie“ gebildet. Sie wird Qualitätsstandards
        entwickeln, die später auch zur Grundlage für die Aus-
        bildung der Ärzte und Ärztinnen in der Ästhetischen
        Medizin werden können und aktuelle Missstände helfen
        zu beseitigen. Solche Standardsetzungen unterstützen
        wir. Wir wollen, dass Personen, die in der Schönheitsme-
        dizin tätig sind, verpflichtet werden, eine umfassende
        Haftpflichtversicherung abzuschließen. Denn bisher ist
        der Abschluss einer entsprechenden Haftpflichtversiche-
        rung lediglich eine standesrechtliche Berufspflicht, und
        nur in einigen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen
        ist sie gesetzlich vorgeschrieben. Hier besteht aufseiten
        der Länder Handlungsbedarf. Das Heilmittelwerbege-
        setz zeigt Wirkung, die aggressive Werbung in diesem
        Bereich ist zurückgegangen. Die Folgebehandlungen
        missglückter Eingriffe belasten nicht nur die geschädig-
        ten Personen selbst, sondern auch die Solidargemein-
        schaft der Krankenversicherten. Im Gesetz zur Stärkung
        des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversiche-
        rung wurde geregelt, dass Versicherte, die sich in der
        Folge einer Schönheitsoperation eine Krankheit zugezo-
        gen haben, bei den dadurch entstehenden Behandlungs-
        kosten in angemessener Höhe von der Krankenkasse zu
        beteiligen sind. So kann unter anderem das Krankengeld
        für die Dauer der Behandlung ganz oder teilweise ver-
        sagt oder zurückgefordert werden.
        Zwischen der ärztlichen Selbstverwaltung und den
        Krankenkassen wurde aktuell einvernehmlich geklärt,
        dass seitens der Medizinerinnen und Mediziner aus-
        schließlich die Folgebehandlungen von Schönheitschir-
        urgie, Piercing- und Tatoobehandlungen an die Kranken-
        kassen zu melden sind. Diese klare Regelung stellt
        sicher, dass ein Konflikt im Ärztinnen- und Arzt- und
        Patientinnen- und Patient-Verhältnis nicht entsteht, das
        Vertrauensverhältnis bestehen bleibt. Ich gehe selbstver-
        ständlich davon aus, dass im Vorfeld eines schönheits-
        chirurgischen Eingriffs eine entsprechende Beratung und
        Aufklärung der Verbraucherinnen und Verbraucher bzw.
        Kundinnen und Kunden durch die Behandelnden statt-
        findet. Unseres Erachtens kann nur ein insgesamt be-
        wussterer Umgang mit der eigenen Gesundheit und mit
        den Ressourcen des Gesundheitswesen dazu führen, un-
        ser Gesundheitswesen zu erhalten.
        Dr. Konrad Schily (FDP): Die sogenannte Schön-
        heitschirurgie gehört in die wunscherfüllende Medizin.
        Darunter versteht man ärztliche Eingriffe und Verfahren,
        die nicht in Abwehr einer Krankheit oder eines anderen
        schädlichen Einflusses von außen auf den Menschen zu-
        kommen, sondern ärztliche Eingriffe oder Verfahren, die
        einen Wunsch der Patienten nach Veränderung ihrer kör-
        perlichen Verfassung zur Erfüllung verhelfen sollen.
        Das Verführungspotenzial einer solchen Medizin ist
        groß. Wer möchte nicht einen wohlgestalteten Leib ha-
        ben – Chirurgie – oder die besten sportlichen Leistungen
        erbringen – Dopingmittel – oder der Sorgen enthoben
        sein – Pharmaka?
        Bei der Schönheitschirurgie sind die Übergänge zwi-
        schen Erfüllung von ästhetischen Wünschen und medizi-
        nisch Nötigem fließend. Individuell empfundene Störun-
        gen des äußeren Erscheinungsbilds können heute
        behoben werden. Aber es gibt auch Fehlbildungen, die
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12597
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        eine medizinische Indikation zur chirurgischen Korrek-
        tur darstellen.
        Wenn Sie zum Beispiel eine spitz nach oben zulau-
        fende Nase haben, die zwar Ihre familiäre Ähnlichkeit
        unterstreicht, unter der Sie aber leiden, dann kann ein
        Eingriff notwendig sein. Was auch immer die Ursache
        ist, sie kann für die Erscheinung so bestimmend sein,
        dass sie aus ärztlichen Gründen einer Korrektur bedarf.
        Das heißt, es muss immer eine ärztliche Entscheidung
        sein, ob wir es mit der Therapie einer Krankheit oder
        eben mit wunscherfüllender Medizin zu tun haben.
        Aber bei der wunscherfüllenden Medizin, genauso
        wie bei jedem anderen medizinischen Eingriff, muss die
        Qualität gewahrt bleiben, damit der Traum von der
        Schönheit nicht in einem Albtraum endet. Daher ist es
        durchaus besorgniserregend, wenn man von der steigen-
        den Zahl von schönheitschirurgischen Eingriffen hört,
        die von Ärzten ohne diesbezügliche Zusatzqualifikation
        vorgenommen werden. Dazu kommt, dass das Risiko
        von Fehlbildungen und schweren Gesundheitsschädi-
        gungen steigt. Die Zielrichtung des zugrunde liegenden
        Antrags, hier für höhere Qualität und Sicherheit für die
        Betroffenen zu sorgen, ist daher zu begrüßen.
        Um ärztlichem Missbrauch vorzubeugen, sollte da-
        rüber hinaus aber auch auf eine europäische Ärzteverein-
        barung hingewirkt werden, in der die in diesem Bereich
        arbeitenden Ärzte verpflichtet werden, vor jedem Ein-
        griff die Zweitmeinung eines Kollegen einzuholen, und
        zudem zu einer deutlichen Dokumentation verpflichtet
        werden, wie auch zu einer umfangreichen Haftungssi-
        cherung. Dies gehört in meinen Augen zu einem qualita-
        tiven und verantwortungsvollen Umgang mit wunsch-
        erfüllender Medizin in der Ärzteschaft, die sich diesem
        Anspruch stellen muss.
        Ob es sich um medial vermittelte kurzfristige Mode-
        trends oder um langfristige Veränderungen der Ästhetik
        in der Gesellschaft handelt – die Ursache des Phäno-
        mens, dass immer mehr Jugendliche schönheitschirurgi-
        sche Eingriffe wünschen, kann hier nicht abschließend
        geklärt werden. Zu bedenken sind aus medizinischer
        Sicht die Auswirkungen auf den im Wachstum befindli-
        chen Körper und die weitere psychische Entwicklung.
        Zwar ist rechtlich derzeit ein Eingriff nur unter Vorlie-
        gen einer Einwilligungserklärung der Erziehungsberech-
        tigten möglich, doch sollten wir uns aus Sorge um das
        körperliche und geistige Wohl der Minderjährigen über-
        legen, ob dies ausreichen kann. Die Eingriffe wirken
        sich bei Minderjährigen viel schwerwiegender aus als
        bei Erwachsenen und können zu einer massiven Schädi-
        gung der weiteren Entwicklung führen.
        Meines Erachtens sollte man daher eine medizinisch
        qualifizierte Zweitmeinung vor dem Eingriff fordern.
        Die Zweitmeinung ist nicht nur bei Minderjährigen
        wichtig, da es fließende Übergänge gibt. Ein kieferortho-
        pädischer Eingriff etwa kann notwendig werden durch
        eine mehr oder weniger massive Fehlstellung des Gebis-
        ses, durch funktionsbeeinträchtigende Fehlstellungen
        oder durch massive kosmetische Beeinträchtigungen.
        Oder er kann vom Patienten gewünscht werden, weil
        er zum Beispiel auf Bühnen oder im Film oder ähnli-
        chem tätig ist und entsprechenden Schönheitsidealen ge-
        nügen möchte.
        Zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Schön-
        heitsoperationen gehört es auch, umfassend zu doku-
        mentieren und über die weit reichenden Risiken aufzu-
        klären, die mit solchen Eingriffen verbunden sind. Eine
        öffentliche Diskussion halte ich für wichtig, gerade
        wenn es um den Schutz der Minderjährigen geht.
        Frank Spieth (DIE LINKE): „Missbräuche im Be-
        reich der Schönheitsoperationen gezielt verhindern –
        Verbraucher umfassend schützen“: Das ist der schöne
        Titel dieses Antrages. Natürlich will niemand Missbräu-
        che in der Schönheitschirurgie oder in einem anderen
        Bereich des Medizinbetriebes. Natürlich sind auch wir,
        die Fraktion Die Linke, für einen umfassenden Patien-
        tenschutz. Wenn also in dem Antrag das drinstecken
        würde, was draufsteht, würden wir dem gerne zustim-
        men.
        Einige Punkte gefallen mir recht gut. Jedoch sind gute
        Ideen noch keine konkrete Politik. Beispiel: Oft laufen
        Schadensersatzansprüche der Patienten nach missglück-
        ten Schönheitsoperationen ins Leere, weil die Opera-
        teure keine Versicherung haben und zudem privat nicht
        ausreichend zahlungsfähig sind. Daher wird gefordert,
        dass Ärzte, die operieren, über eine entsprechende Haft-
        pflichtversicherung verfügen müssen. Das ist zu begrü-
        ßen. Ungeklärt bleibt jedoch, wie diese Schadensersatz-
        ansprüche – auch bei anderen ärztlichen Fehlern – von
        armen Patienten vor Gericht durchgesetzt werden sollen.
        Es sollen Verbote für medizinisch nicht indizierte äs-
        thetische Operationen Minderjähriger geprüft werden.
        Es ist aber meines Erachtens nicht ausreichend, wenn die
        Eltern einem solchen Wunsch ihrer minderjährigen Kin-
        der zustimmen. Teenager sollen sich eben nicht mit el-
        terlichem Segen zum Realschulabschluss einen neuen
        Busen oder eine neue Nase operieren lassen können. Die
        Beteiligten sind in der Regel nicht in der Lage, die Fol-
        gen einer solchen Operation abzuschätzen. Der Antrag
        fordert aber kein Verbot, sondern lediglich, dass die
        Bundesregierung das Handeln der Operateure „kritisch
        beobachten“ soll. Der Antrag hält nicht, was er ver-
        spricht. Es bleibt bei wirkungslosen Appellen an die Me-
        dien, die Ärzte, die Bundesregierung und die Länder.
        Appelle reichen aber nicht.
        Was ist von der Aufforderung zu halten, dass Bundes-
        regierung und Länder die Medien zu einem „verantwor-
        tungsvollen Umgang mit dem Thema Schönheitsopera-
        tionen“ bringen sollen? Welcher Privatsender wird
        angesichts des großen Konkurrenzdruckes dem folgen?
        In einer Medienanalyse hat das Institut für Kommunika-
        tionswissenschaft und Medienforschung der Universität
        München innerhalb von vier Monaten 105 Sendungen
        über Schönheits-OPs ausfindig machen können, fast alle
        auf Privatsendern. Eine Studie der American Society of
        Plastic Surgeons – ASPS – ergab, dass 57 Prozent der
        Schönheitschirurgiepatienten große Fans solcher Shows
        waren und mindestens eine zum Zeitpunkt der Untersu-
        12598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
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        chung laufende Serie verfolgten. Die Freiwillige Selbst-
        kontrolle des Privatfernsehens in Deutschland wehrt sich
        derzeit gerichtlich gegen Beschränkungen, etwa das Ver-
        bot, entsprechende Sendungen vor 23 Uhr zu zeigen, wie
        es die Kommission für Jugendmedienschutz will. Wirk-
        same Maßnahmen sind gefragt und keine weichgespül-
        ten Appelle.
        Nach dem vorliegenden Antrag sollen die Ärztever-
        bände eine Aufklärungsbroschüre zu Schönheits-OPs er-
        stellen. Inhaltlich kann ich da zustimmen. Leider verlie-
        ren Sie kein Wort darüber, wie Ihr Wunsch an die Ärzte
        durchgesetzt werden soll.
        Auch an die Länder gibt es – das liegt in der Natur der
        Sache – nur Appelle; schließlich kann der Bundestag
        schon verfassungsrechtlich den Ländern nicht vorschrei-
        ben, was sie tun und lassen sollen. Die Länder sollen
        nach dem Willen der Koalition das Geschehen auf dem
        Markt der Schönheitschirurgie beobachten. Ein solcher
        Aufruf mag inhaltlich in Ordnung sein, aus bekannten
        rechtlichen Gründen bleibt der Koalitionsantrag auch in
        diesem Punkt wirkungslos.
        Der Antrag kritisiert zwar in seiner lang gehaltenen
        Einleitung die Tatsache, dass auch Ärzte ohne die ent-
        sprechende mehrjährige Fortbildung in plastischer Chir-
        urgie Schönheitsoperationen durchführen dürfen. In
        Deutschland darf jeder approbierte Arzt operieren, also
        auch Schönheitsoperationen durchführen, ob Kardio-
        loge, Anästhesist, Hausarzt oder Gynäkologe. Wer dann
        aber im Antrag der Koalition eine Forderung oder einen
        Lösungsvorschlag sucht, mit dem sich der Zustand än-
        dern würde, der reibt sich enttäuscht die Augen.
        CDU/CSU und SPD nutzen die Debatte zur Schön-
        heitschirurgie zu etwas ganz anderem: Sie wollen bei
        diesem Thema ihre unsolidarische Regelung zum Selbst-
        verschulden, die sie mit dem GKV-Wettbewerbsstär-
        kungsgesetz – GKV-WSG – eingeführt hatten und die
        sie von der Öffentlichkeit unbemerkt mit ihrem Gesetz
        zur Pflegeversicherung scharf stellen, in ein gutes Licht
        rücken. Sie haben im GKV-WSG geregelt, dass Versi-
        cherte an den Kosten für Behandlungen, die sie durch
        medizinisch nicht indizierte Maßnahmen selbst verur-
        sacht haben, beteiligt werden. Dafür ist jedoch erforder-
        lich, dass der Arzt der Krankenkasse mitteilt, dass ein
        sogenanntes Selbstverschulden vorliegt. Dies ist bei Ta-
        toos, Piercings und Schönheitsoperationen der Fall.
        Diese konkrete Verpflichtung des Arztes zum Brechen
        seiner Schweigepflicht gibt es bisher nicht, soll jetzt aber
        zusammen mit dem Pflegegesetz verabschiedet werden.
        Der Arzt soll nach dem Willen der Koalition zum Ge-
        sundheitsspitzel werden.
        Konkret: Wenn sich wegen eines Piercings eine Ent-
        zündung herausbildet, muss der Versicherte die Behand-
        lungskosten selbst tragen. In diesem Fall handelt es sich
        meist um eine Bagatellerkrankung, für die oft keine
        ärztliche Behandlung notwendig ist. Wenn aber bei
        Schönheitsoperationen – etwa nach dem Fettabsaugen
        Schmerzen – Infektionen, Blutungen oder gar eine Lun-
        genembolie auftreten, dann können auch lebenswichtige,
        „selbstverschuldete“ Therapien den Patienten schnell fi-
        nanziell überfordern.
        Die Bundesregierung bauscht mit dieser Regelung ein
        vollkommen nebensächliches Problem des Gesundheits-
        wesens auf. Warum? Weil damit ein neues Prinzip in die
        gesetzliche Krankenversicherung eingeführt werden
        soll: das Selbstverschulden. Es wird ein neues Stellrad in
        der Gesundheitspolitik geschaffen, an dem man zukünf-
        tig nur noch drehen muss, um weitere Leistungskom-
        plexe aus der Erstattungsfähigkeit auszuschließen. Im
        derzeit vorliegenden Regierungsentwurf müsste man vor
        die Auflistung „ästhetische Operation, eine Tätowierung
        oder ein Piercing“ nur die beiden Wörter „zum Beispiel“
        einfügen, um den Geltungsbereich drastisch zu erweitern
        und damit die Spitzeltätigkeit des Arztes zu intensivie-
        ren. Nach dem Referentenentwurf des Gesundheitsmi-
        nisteriums war dies vor wenigen Wochen sogar noch so
        vorgesehen.
        Mit der gleichen Logik wie bei Piercings oder Schön-
        heitsoperationen kann man zukünftig auch die Kosten
        von Sportverletzungen oder Unsportlichkeit, von Krebs-
        behandlungen bei Rauchern und anderes privatisieren.
        Diese Liste lässt sich mit selbstverschuldeten Autounfäl-
        len über Fettleibigkeit bis hin zu Besuchen in Solarien
        beliebig verlängern. Zum Schluss bleibt nur noch ein
        stark gerupfter Leistungskatalog der gesetzlichen Kran-
        kenversicherung übrig. Auf den übrigen Behandlungs-
        kosten bleiben die Versicherten dann alleine sitzen und
        die Arbeitgeber werden nicht mehr über die gesetzliche
        Krankenversicherung an der Finanzierung beteiligt. Die
        Fraktion Die Linke wird daher diesen Antrag ablehnen.
        Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Spät-
        abends diskutieren wir einen Antrag, dessen Überschrift
        seit wenigen Tagen, dessen Inhalte aber erst seit etwa
        24 Stunden bekannt sind. Wahrlich keine gute Vorausset-
        zung für eine qualifizierte Diskussion im Plenum.
        Schönheitsoperationen – ein schillernder Begriff, der
        auch mit Dokusoaps wie „Die Beauty Klinik“ oder „The
        Swan – Endlich schön“ verbunden ist, die vorspiegeln,
        Schönheit ist machbar. Es ist gut, gegen solche Idealisie-
        rungen vorzugehen. Es ist hilfreich, aufzudecken, dass
        viele Frauen hinter von Männern formulierten Schön-
        heitsidealen hinterherlaufen und nicht davor zurück-
        schrecken, sich mit Skalpellen traktieren zu lassen. Auch
        der Jugendlichkeitswahn meiner Generation, die mit 50
        noch wie 25 aussehen will, sollte thematisiert werden.
        Aber wir stehen nicht am Anfang dieser Diskussion.
        Es hat in den letzten Jahren bereits einige Initiativen ge-
        geben, die versuchen, den Missbräuchen in diesem Be-
        reich etwas entgegenzusetzen. Zu nennen sind:
        Erstens die „Koalition gegen den Schönheitswahn“,
        die durch die Bundesärztekammer initiiert wurde und
        von vielen aus Politik und Gesellschaft mitgetragen wird
        und seit 2004 besteht.
        Zweitens. Ebenfalls 2004 hat die Kommission für Ju-
        gendmedienschutz (KJM) entschieden, dass TV-For-
        mate, in denen Schönheitsoperationen zu Unterhaltungs-
        zwecken angeregt oder begleitet werden, grundsätzlich
        nicht vor 23.00 Uhr gezeigt werden dürfen. Die Abgren-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12599
        (A) (C)
        (B) (D)
        zung zwischen einer Reportage und einem Unterhal-
        tungszweck dürfte jedoch nicht so einfach sein.
        Drittens. Die Facharztbezeichnung „Plastische Chi-
        rurgie“ wurde 2005 in der Musterweiterbildungsordnung
        um den Zusatz „Ästhetische“ ergänzt. Es dürfte jedoch
        an der flächendeckenden Umsetzung in den Bundeslän-
        dern mangeln.
        Viertens. Einer suggestiven und irreführenden Werbung
        wurde unter Rot-Grün – da schmückt sich der Antrag der
        Koalition mit falschen Federn – durch die Änderung des
        Heilmittelwerbegesetzes ein Riegel vorgeschoben.
        Fünftens. Auch bei den Aktivitäten der Bundeszen-
        trale für gesundheitliche Aufklärung freut sich Schwarz-
        Rot über das, was Rot-Grün auf den Weg gebracht hat.
        Geradezu grotesk wird es, wenn die Koalition die von
        allen Seiten kritisierte Regelung im GKV-WSG, dass bei
        „medizinisch nicht indizierten Maßnahmen“ gesetzlich
        Versicherte faktisch den Versicherungsschutz verlieren,
        als hilfreich für den kritischen Umgang mit Schönheits-
        operationen ansieht. Wir Grünen waren und sind gegen
        diese Regelung, da hiermit durch die Hintertür das
        Selbstverschuldensprinzip in der GKV eingeführt wird.
        Bereits jetzt besteht die Unklarheit der Abgrenzung, die
        durch die in die Pflegereform geschmuggelte Denunzia-
        tionspflicht für Ärzte nicht besser wird. Nachdem die
        Büchse der Pandora geöffnet ist, lässt sich trefflich über
        Erweiterungen streiten: der chipsessende Couch-Potato
        oder die handballspielende junge Frau. Falls man jedoch
        der Ansicht ist, dass die Risiken einer Schönheitsopera-
        tion nicht von der Versichertengemeinschaft getragen
        werden sollen, ist nicht nachvollziehbar, warum das Ri-
        siko auf diejenigen, die sich operieren lassen, und nicht
        auf die Verursacher – die Operateure – abgewälzt wird.
        Bei Schönheitsoperationen an Minderjährigen gehen
        zum Glück die Warnleuchten an. Die etwas versteckte
        Forderung eines Verbotes von nicht medizinisch indi-
        zierten Schönheitsoperationen an Minderjährigen kann
        nicht auf Horrorvisionen basieren. Unklar ist, ob die
        durch die Medien geisternde Zahl von jährlich 100 000
        operierten Jugendlichen unter 20 Jahren korrekt ist, wie
        viele Minderjährige betroffen sind, und welche Behand-
        lungen sich dahinter verbergen. Eine der einschlägigen
        Fachgesellschaften geht davon aus, dass es sich dabei
        nahezu ausschließlich um Ohrenkorrekturen handelt.
        Diese zu verbieten wäre für viele Kinder und Jugendli-
        che und deren Eltern Psychoterror. Wer kennt nicht die
        Berichte über unerträgliche Hänseleien in der Klasse
        oder auf dem Schulhof?
        Im Bereich der Schönheitschirurgie sind viele Fragen
        offen, und bevor der Bundestag hier Empfehlungen im
        luftleeren Raum abgibt, sollte das gemeinsame Gespräch
        mit Expertinnen und Experten gesucht werden. Wir wer-
        den dabei sehr schnell auf grundsätzliche Fragestellun-
        gen stoßen:
        Wie kann das Recht der Patientinnen und Patienten
        zum Beispiel auf umfassende Aufklärung, Darstellung
        der Risiken und Alternativen gewährleistet werden? Wie
        lässt sich sicherstellen, dass dabei das Ziel „informierte
        Entscheidung“ und nicht der Ausschluss von Haftungsri-
        siken im Vordergrund steht? Das ist nicht nur bei Schön-
        heitsoperationen und IGeL-Leistungen, sondern bei je-
        der ärztlichen Behandlung notwendig.
        Reicht hierbei der Verweis auf das ärztliche Standes-
        recht und die Broschüre von Gesundheits- und Justizmi-
        nisterium zu den existierenden Patientenrechten, oder
        besteht nicht die Notwendigkeit eines eigenen Patienten-
        rechte- bzw. Patientenschutzgesetzes?
        Wie ist die Qualitätssicherung in der ambulanten Ver-
        sorgung zu gewährleisten? Ist eine entsprechende Quali-
        fikation als Facharzt bzw. Fachärztin ausreichend? Wie
        kann die Ergebnisqualität gemessen werden? Sind Krite-
        rien wie zum Beispiel Mindestmengen sinnvoll und not-
        wendig?
        Wie gewinnen wir Informationen über das Leistungs-
        geschehen von Ärztinnen und Ärzten sowie Heilprakti-
        kerinnen und Heilpraktikern außerhalb der Abrechnung
        über GKV und PKV?
        Wie kann eine unabhängige, qualitätsgeprüfte sowie
        einfach zugängliche und verständliche Information über
        den Sinn und Unsinn von IGeL-Leistungen und Schön-
        heitsoperationen gewährleistet werden? Gleiches gilt für
        Behandlungen im Rahmen des Leistungskataloges.
        Ich bin gespannt, ob die Koalition sich auf solche Dis-
        kussionen, die ans Eingemachte gehen, einlässt, oder ob
        es beim An-der-Oberfläche-Kratzen bleiben wird.
        Anlage 27
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
        dem Abkommen vom 26. Juli 2007 zwischen der
        Europäischen Union und den Vereinigten Staa-
        ten von Amerika über die Verarbeitung von
        Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records-
        PNR) und deren Übermittlung durch die Flug-
        gesellschaften an das United States Depart-
        ement of Homeland Security (DHS) (PNR-Ab-
        kommen 2007) (Tagesordnungspunkt 16)
        Beatrix Phillip (CDU/CSU): Sozusagen als krönen-
        der Abschluss der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist
        es beinahe wider Erwarten gelungen, ein Abkommen
        zwischen der EU und den USA zur Übermittlung von
        Fluggastdatensätzen – „passenger name records“ oder
        auch kurz PNR-Daten genannt – zu vereinbaren.
        Die Verhandlungen hierzu konnten am 27. Juni 2007
        erfolgreich abgeschlossen werden. Damit wurde der un-
        befriedigende Zustand, der sich durch das Urteil des Eu-
        ropäischen Gerichtshofs vom 30. Mai 2006 noch ver-
        schärft hatte, beendet.
        Nachdem dieser das erste Abkommen für „kompetenz-
        widrig zustande gekommen“ erklärt hatte, musste es
        zwangsläufig seitens der EU gekündigt werden.
        Dies führte wiederum dazu, dass im Oktober 2006 ein
        Interimsabkommen geschlossen wurde, das allerdings
        12600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        bis zum 31. Juli dieses Jahres befristet war. Es schien, als
        hätten wir es mit einer „never ending story“ zu tun.
        Bevor ich auf einige wesentliche inhaltliche Punkte
        des Abkommens zu sprechen komme, lassen Sie mich
        vorweg klar sagen: Es ist gut, dass das Abkommen zu-
        stande gekommen ist! Diese Ansicht teilt auch der Bun-
        desbeauftragte für den Datenschutz. Das Abkommen be-
        endet nicht nur den unhaltbaren rechtlichen Zustand,
        sondern bietet vor allem eines: Rechtssicherheit.
        Sowohl das Abkommen, als auch der „verlinkte“
        Briefwechsel wurden für rechtlich verbindlich erklärt.
        Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Ver-
        handlungen zeitweilig kurz vor dem Scheitern standen,
        eine sehr beachtliche Verhandlungsleistung, für die wir
        ausdrücklich Danke sagen.
        Bei allen Diskussionen dürfen wir einen Punkt nicht
        aus dem Blick verlieren: Die USA sind souverän. Sie be-
        stimmen völlig allein, wer unter welchen Bedingungen
        und mit welchen Auflagen einreisen kann und darf.
        Ich wiederhole hier nur, was ich bereits in den letzten
        Debatten immer wieder ausgeführt habe und was ab und
        zu in der Debatte zweifellos zu kurz gekommen ist: Wir
        haben den Datenschutz der USA nicht zu bewerten. Es
        war schon immer so, dass sich Besucher eines Landes
        den Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten, und
        daran wird sich auch kaum – von außen – etwas ändern
        lassen. In diesem Zusammenhang haben alle auch die
        entsprechenden Einreisebestimmungen zu akzeptieren.
        Die USA haben mit diesem Abkommen keine Son-
        derregelung für die Bürger der EU geschaffen. Im Ge-
        genteil, die EU-Bürger sind den US-amerikanischen
        Bürgern in diesem Aspekt völlig gleichgestellt.
        Dass insgesamt noch einiges wünschenswert gewesen
        wäre, steht außer Frage, aber mehr war schlichtweg nicht
        möglich. Wir haben hier mehrfach darüber gesprochen.
        Inhaltlich ist Folgendes besonders positiv hervorzu-
        heben: erstens die vielzitierte Reduzierung der Daten-
        sätze von 34 auf 19, zweitens die Beendigung des bis-
        herigen Abrufzugriffs vonseiten der USA. Ab dem
        1. Januar 2008 wird vom Pull- auf das Push-Verfahren
        umgestellt, das heißt, der direkte Zugang der US-Behör-
        den zu den Buchungscomputern der Fluggesellschaften
        ist damit ausgeschlossen.
        An dieser Stelle sei aber auch noch mal darauf hinge-
        wiesen, dass bereits während des Interimsabkommens
        13 Fluggesellschaften die PNR-Daten im Push-Verfah-
        ren übermittelt haben.
        Durch die verbindliche Lösung im neuen Abkommen
        wird nunmehr sichergestellt, dass auch die übrigen Flug-
        gesellschaften auf das Push-Verfahren umstellen wer-
        den.
        Drittens. Ein weiterer positiver Aspekt des Abkom-
        mens ist die getroffene Regelung zur Behandlung von
        sensiblen Daten, wie zum Beispiel Rasse, ethnische Her-
        kunft, Religion oder Daten über die Gesundheit. Die
        USA haben sich verpflichtet, erhobene sensible EU-
        PNR-Daten herauszufiltern, sie danach nicht zu nutzen
        und sie umgehend zu löschen. Auch wenn Herr Schaar
        hierzu wiederholt anmerkte, dass vor diesem Abkom-
        men keine Verpflichtung bestand, sensible Daten über-
        haupt zu übermitteln, so ist doch die Verpflichtung zur
        Filterung, Nichtnutzung und Löschung insgesamt eine
        maßgebliche Verbesserung.
        Viertens. Auch im Punkt Zweckbindung ist ein gutes
        Ergebnis erzielt worden: Die Präambel des Abkommens
        regelt klar und ausdrücklich die strikte Zweckbindung.
        Das heißt: Die Datenübermittlung und -verwendung darf
        ausschließlich für die Bekämpfung und Verhütung des
        Terrorismus und der damit verbundenen grenzüber-
        schreitenden Kriminalität erfolgen. Damit zeigt sich
        wieder, dass es den USA eben nicht um die willkürliche
        Anhäufung von personenbezogenen Daten geht, sondern
        die Datenübermittlung und -verwendung konkret und
        zweckgebunden ist.
        Fünftens. Zu den Regelungen der Speicherfristen: Zu-
        nächst werden die PNR-Daten in einer aktiven Daten-
        bank sieben Jahre lang gespeichert. Während dieser Zeit
        werden diese Daten an inländische Regierungsbehörden
        der USA weitergegeben, die mit Terrorismus- bzw. Kri-
        minalitätsbekämpfung befasst sind.
        Danach gehen sie für weitere acht Jahre in eine „ru-
        hende“ Speicherung über. In dieser Zeit ist der Zugriff
        nur durch hochrangige Homeland-Security-Mitarbeiter
        gestattet und auch nur für den Fall zulässig, dass eine be-
        stimmte Bedrohung oder Gefahr gegeben ist.
        Damit ergibt sich zwar eine Erhöhung der Speicher-
        frist bei aktiven Daten von dreieinhalb Jahren auf sieben
        Jahre, aber auch während des Interimsabkommens galt
        schon eine Höchstspeicherfrist von elfeinhalb Jahren.
        Demnach ist de facto der qualitative Sprung von 11,5
        auf 15 Jahre bei weitem nicht so gravierend, wie er auf
        den ersten Blick erscheinen mag.
        Darüber hinaus darf auch nicht unerwähnt bleiben,
        dass die USA ursprünglich bei ihren Verhandlungen
        ganz selbstverständlich von 40 Jahren Speicherung aus-
        gegangen sind. Hinter den 40 Jahren verbirgt sich die
        Annahme, dass dies die Dauer einer durchschnittlichen
        Verbrecherkarriere sei.
        Im Übrigen speichern die USA ihre eigenen Daten
        ebenfalls 40 Jahre lang, also ohne Speicherung kein Ab-
        kommen. Damit ist auch diese Regelung zur Speicher-
        frist alles in allem als positiv zu bewerten.
        Sechstens. In dem Abkommen hat man sich auf ge-
        meinsame regelmäßige Überprüfungen der Umsetzung
        des Abkommens einigen können. Dies ist deshalb von
        besonderer Bedeutung, da die USA das Konzept eines
        Datenschutzbeauftragten nicht kennen. Durch die ge-
        meinsame Überprüfung können hier die verschiedenen
        Interessen aller Beteiligten besser berücksichtigt wer-
        den; wir versprechen uns jedenfalls etwas davon.
        Siebtens. Lassen sie mich als letzten inhaltlichen As-
        pekt auf die Festschreibung des Grundsatzes der Gegen-
        seitigkeit verweisen:
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12601
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das Department of Homeland Security hat sich bereit
        erklärt, die aus PNR-Daten gewonnenen analytischen In-
        formationen an die EU und ihre Mitgliedstaaten zu über-
        mitteln. Wir haben auch in der Vergangenheit schon öf-
        ter davon profitiert, wie wir alle wissen.
        Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass
        Datenschutz kein Selbstzweck ist. Es geht immer um
        eine Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen substan-
        ziellen Sicherheitsinteressen wie Terrorismusbekämp-
        fung auf der einen Seite und den Forderungen des Daten-
        schutzes auf der anderen.
        Ich bin mir aber sicher, dass die Bürgerinnen und Bür-
        ger dieses Abkommen als eine gelungene Balance zwi-
        schen Datenschutz- und Sicherheitsinteressen werten
        werden.
        Gerade vor dem Hintergrund der Anschläge in Lon-
        don, Glasgow und der Festnahme von drei mutmaßli-
        chen Mitgliedern der terroristischen Vereinigung „Isla-
        mische Dschihad Union“ am 4. September im Sauerland
        ist es vor allem das Sicherheitsbedürfnis, das die Bürge-
        rinnen und Bürger unseres Landes bewegt.
        Wir werden unseren Ansatz der Verhältnismäßigkeit
        auch in Zukunft konsequent verfolgen, auch wenn es um
        die derzeit diskutierte Errichtung eines europäischen
        PNR-Systems gehen wird. Den auch daraus resultieren-
        den Diskussionen sehe ich schon heute erwartungsvoll
        entgegen. Mit der Überweisung sind wir einverstanden.
        Wolfgang Gunkel (SPD): Auf der heutigen Tages-
        ordnung steht erneut eine Debatte zu dem durchaus kon-
        troversen Thema der Übermittlung von Flugpassagierda-
        ten an die Vereinigten Staaten. Allerdings sind wir im
        Gegensatz zur letzten Aussprache einen Schritt nach
        vorn gekommen. Inzwischen liegt uns das Abkommen
        zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten
        Staaten von Amerika vor. Dies muss jetzt noch von den
        Mitgliedstaaten der EU umgesetzt werden. Hierin wer-
        den die Übermittlung von Fluggastdaten bei Passagier-
        flügen in die oder aus den Vereinigten Staaten und die
        dortige Datenverwendung geregelt. Der Begründungszu-
        sammenhang bleibt bestehen: Die Übermittlung und
        Auswertung dient der Bekämpfung von Terrorismus und
        sonstiger schwerer Straftaten grenzüberschreitender Art
        einschließlich der organisierten Kriminalität.
        Wenn ich mir das vorliegende Übereinkommen an-
        schaue, so muss ich an dieser Stelle den Verhandlungs-
        leitern, die mit dem United States Department of Home-
        land Security um die Vereinbarung gerungen haben,
        zugestehen, dass sie nach Lage der Dinge nur ein Mini-
        mum erreichen konnten. Und das war sicherlich keine
        leichte Aufgabe. Gerade aus den hochsensiblen Berei-
        chen, in denen es um die Bekämpfung des internationa-
        len Terrorismus geht, kennen wir alle genug Beispiele, in
        denen sich die Vereinigten Staaten von Amerika nicht
        sehr verhandlungsbereit gezeigt haben. Insgesamt – und
        damit möchte ich mich zunächst zu den positiven Aspek-
        ten des Abkommens äußern – können wir mit dem Er-
        reichten einigermaßen zufrieden sein.
        Zuallererst garantiert das Abkommen eine Rechtssi-
        cherheit, die es ohne eine solche Vereinbarung ganz si-
        cher nicht gegeben hätte. Die EU hatte das bestehende
        Abkommen im vergangenen Jahr gekündigt, nachdem es
        vom Europäischen Gerichtshof für nichtig erklärt wor-
        den war. Damit rutschte die Europäische Union selbst in
        eine defensive Rolle, in der sie die Initiative ergreifen
        musste. Schließlich hätten die USA auch mit jedem Mit-
        gliedstaat selbst ein Abkommen abschließen können.
        Dass es trotzdem gelang, für alle Mitgliedstaaten einen
        gemeinsamen Vertrag abzuschließen, ist vor allem der
        deutschen Ratspräsidentschaft zu verdanken.
        Ausgesprochen zufrieden bin ich auch mit dem Um-
        stand, dass es in der Datenübermittlung einen konkreten
        Zeitpunkt für die angekündigte Umstellung vom Push-
        zum Pullverfahren geben wird. Denn diese soll bereits
        am 1. Januar 2008 erfolgen. Nach diesem Verfahren
        werden die Datensätze von den europäischen Fluggesell-
        schaften an das United States Department of Homeland
        Security übermittelt und nicht von den Vereinigten Staa-
        ten selbst recherchiert. Hiermit wurde einer wichtigen
        europäischen Forderung entsprochen. Den Betroffenen
        werden damit die gleichen Auskunftsrechte und Rechts-
        behelfe wie den Bürgerinnen und Bürgern der Vereinig-
        ten Staaten eingeräumt.
        Ebenfalls begrüßenswert ist der bereichsspezifische
        Datenschutz, der in seinen wichtigsten Punkten die
        Zweckbindung der erfassten und übermittelten Daten ga-
        rantiert. Es wäre für uns weder tragbar noch verantwort-
        bar gewesen, offene Bücher mit den kompletten Daten-
        sätzen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger zur
        unbeschränkten Einsicht freizugeben. Mit dem jetzigen
        Abkommen werden sensible Daten, also personenbezo-
        gene Daten wie politische Meinungen, religiöse oder
        weltanschauliche Überzeugungen, eventuelle Gewerk-
        schaftszugehörigkeiten oder Daten über die Gesundheit
        oder das Sexualleben einer Person, nicht gespeichert,
        sondern automatisch gelöscht. Nur in Ausnahmefällen,
        wenn das Leben von betroffenen Personen oder Dritten
        gefährdet oder ernsthaft beeinträchtigt werden könnte,
        kann auf diese Daten zugegriffen werden. Die nun fest-
        gelegte Dauer, für die die Daten gespeichert werden,
        kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet
        werden. Prinzipiell erscheint auch mir die festgesetzte
        Speicherdauer von 15 Jahren als sehr lang. Unter dem
        Blickwinkel, dass die Vereinigten Staaten zunächst eine
        Dauer von 40 Jahren planten, kann man mit der Reduzie-
        rung um mehr als die Hälfte der Zeit jedoch leben.
        Doch damit komme ich auch schon zu den negativen
        Aspekten des vorliegenden Abkommens. Tatsächlich er-
        folgt nur während der ersten sieben Jahre der gerade be-
        schriebenen Speicherdauer eine auswertungsfähige Spei-
        cherung. In den darauffolgenden Jahren sind die Daten
        gewissermaßen archiviert und nur unter zusätzlichen Da-
        tenschutzvorkehrungen zugänglich. Warum die US-ame-
        rikanische Seite dennoch auf einer so langen Speicher-
        zeit beharrt, macht mich stutzig.
        Als problematisch betrachte ich es weiterhin, dass die
        konkreten Vereinbarungen für die Datenübertragung
        nicht Bestandteil des Vertrages sind, sondern in einem
        12602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Briefwechsel zwischen United States Department of
        Homeland Security und Europäischer Kommission fest-
        gehalten wurden, die den Vertrag ergänzen. Auf diese
        Art und Weise sollten meiner Ansicht nach diese so zen-
        tralen und wichtigen Regelungen nicht einfach dazuge-
        geben werden.
        Wenn ich mir das vorliegende Abkommen über den
        Austausch von Fluggastdaten anschaue, kann ich fest-
        stellen, dass die positiven Aspekte die negativen As-
        pekte schlussendlich überwiegen. Wir kommen nicht
        umhin, ein neues Abkommen mit den USA zu finden.
        Wir müssen daher genau abwägen, ob wir das gesamte
        ausgehandelte Abkommen für nicht zustimmungsfähig
        erachten, nur weil einige Regelungen weiterhin Ecken
        und Kanten haben. Ich sage Ihnen, das sollten wir nicht.
        Ich weise hierbei noch einmal darauf hin, dass dieses
        Abkommen uns die nötige Rechtssicherheit verschafft,
        die es ohne einen solchen Vertrag sicher nicht geben
        würde. Daher werde ich für die SPD-Bundestagsfraktion
        dem Ihnen vorliegenden PNR-Abkommen 2007 unsere
        Zustimmung geben.
        Ernst Burgbacher (FDP): Die FDP-Bundestags-
        fraktion hat den Bundesinnenminister wiederholt aufge-
        fordert, sich für ein Abkommen zwischen der EU und
        den USA einzusetzen. Nachdrücklich habe ich an den
        Bundesinnenminister appelliert, sich für Rechtssicher-
        heit einzusetzen und den europäischen Fluggästen sowie
        den europäischen Fluggesellschaften Klarheit zu ver-
        schaffen, auf welcher Rechtsgrundlage Daten an die
        USA übermittelt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion
        begrüßt deshalb grundsätzlich, dass ein Abkommen zwi-
        schen der EU und den USA geschlossen und der unhalt-
        bare Zustand der Rechtsunsicherheit bei der Datenüber-
        mittlung überwunden wurde.
        Die FDP-Bundestagsfraktion hat aber auch wieder-
        holt den Bundesinnenminister darauf hingewiesen, dass
        er als Vertreter der EU mit den USA auf Augenhöhe ver-
        handeln und sich für die Wahrung europäischer Daten-
        schutzstandards einsetzen muss. Dies hat der Bundesin-
        nenminister leider bei den Verhandlungen versäumt.
        Eine Vielzahl von datenschutzrechtlichen Bedenken
        konnten nicht ausgeräumt werden. Sie galten für das ur-
        sprüngliche Abkommen, welches der EuGH kassierte,
        und sie sind ohne Abstriche auch für das neue Abkom-
        men anzubringen.
        Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat wiederholt
        kritisiert, dass im Gegensatz zum ursprünglichen Ab-
        kommen künftig „alle verfügbaren Daten“ bestimmter
        Informationsbereiche übermittelt werden. Hier hat somit
        noch eine Ausweitung der Datenerfassung stattgefun-
        den. Vor allem wurde aber bemängelt, dass keine Evalu-
        ierung des Abkommens stattgefunden hat. Vor Ab-
        schluss eines neuen Abkommens hätte eine umfassende
        Prüfung erfolgen müssen, ob die Übermittlung der im
        Abkommen nunmehr aufgeführten 19 Datensätze über-
        haupt einen Sicherheitsgewinn gebracht hat. Dies er-
        scheint höchst fraglich. Auch können die europäischen
        Datenschutzbehörden künftig an einer Überprüfung des
        Abkommens, dem sogenannten Joint Review, nicht teil-
        nehmen, da das Abkommen eine Beteiligung der euro-
        päischen Datenschützer nicht vorsieht. Dies ist ein we-
        sentlicher Mangel des neuen Abkommens, da hierdurch
        zu befürchten ist, dass der europäische Datenschutz
        nicht ausreichend berücksichtigt werden wird.
        Neben der nicht erfolgten Evaluierung bestehen je-
        doch weitere Bedenken gegen dieses Abkommen. Der
        Bundesinnenminister hat nach Abschluss des Abkom-
        mens erklärt, dass es der EU-Seite gelungen sei, die zu
        übermittelnde Datensatzmenge von 34 Passagierdaten
        auf 19 Daten zu reduzieren. Leider hat der Bundesinnen-
        minister entweder nicht erkannt – oder aber er hat ver-
        sucht, die Bevölkerung im Unklaren zu lassen –, dass die
        übermittelten Informationen die gleichen geblieben sind,
        lediglich einzelne Datengruppen zusammengefasst wur-
        den. Tatsächlich hat sich an den zu liefernden Daten fast
        nichts geändert.
        Auch der Hinweis des Bundesinnenministers, dass
        sich die Speicherzeit verkürzt habe, geht in der Sache
        fehl. Die US-Seite hat sich eine Verlängerung der Spei-
        cherzeit auf bis zu 15 Jahre vorbehalten – und dies nicht
        nur für die künftig zu sammelnden Daten, sondern auch
        für diejenigen Daten, die nach dem ursprünglichen Ab-
        kommen bereits nach dreieinhalb Jahren hätten gelöscht
        werden müssen. Dies stellt keine Verbesserung des
        Rechtsschutzes für europäische Fluggäste dar, sondern
        verschlechtert ihn hingegen noch. Von einer Verhand-
        lung auf Augenhöhe kann hier nicht mehr die Rede sein.
        Das US-amerikanische Department of Homeland Secu-
        rity hat sich in allen Punkten durchgesetzt, und die EU-
        Seite hat europäische Bedenken gegen das Abkommen
        in keiner Weise durchsetzen können. Hier hätte der Bun-
        desinnenminister mit „härteren Bandagen“ in die Ver-
        handlungen gehen müssen, um gegenüber den USA eu-
        ropäische Belange mit in das Abkommen einbringen zu
        können.
        Auch die europäischen Fluggesellschaften müssen
        neuerliche Belastungen erdulden. Künftig sollen den
        US-Behörden die Fluggastdaten bereits eine halbe
        Stunde vor Abflug in die USA übermittelt werden. Dies
        wird zu erheblichen Behinderungen beim Check-in füh-
        ren und weitere Belastungen für die Flugpassagiere brin-
        gen.
        Insgesamt führt das Abkommen zwischen der EU und
        den USA zu keiner Verbesserung hinsichtlich des Daten-
        schutzes. Auch ist weiterhin völlig unklar, welchen Nut-
        zen dieses Abkommen bei der Bekämpfung des interna-
        tionalen Terrorismus bringen wird. Angesichts der
        Datenmenge, die durch dieses Abkommen durch die
        USA gesammelt wird, und angesichts der Speicherdauer,
        die sich die USA vorbehalten, bleibt fraglich, ob Auf-
        wand und Wirksamkeit in einem angemessenen Verhält-
        nis stehen.
        Vor allem aber ist das vorliegende Abkommen in kei-
        ner Weise geeignet, ein Vorbild für eine europäische Da-
        tenerfassung darzustellen. Die datenschutzrechtlichen
        Bedenken bestehen hierbei in gleicher Weise wie bei der
        Datenweitergabe an die USA. Die Datenerfassung bei
        besonderen Gefahrenlagen ist bereits nach geltendem
        EU-Recht möglich, sodass eine Übernahme des vorlie-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12603
        (A) (C)
        (B) (D)
        genden Abkommens zwischen der EU und den USA auf
        innereuropäische Flüge der falsche Weg wäre.
        Der Bundesinnenminister ist nicht nur für den Erhalt
        der inneren Sicherheit zuständig, er hat auch die Wah-
        rung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu
        schützen. Diese hat der Bundesinnenminister bei den
        Verhandlungen zum Abkommen über die Verarbeitung
        von Fluggastdatensätzen zwischen der EU und den USA
        nicht ausreichend berücksichtigt. Jede neue Maßnahme
        zur Terrorismusbekämpfung muss einen echten Sicher-
        heitsmehrwert bringen. Dem Vorrang der Grundrechte
        hat der Bundesinnenminister auf europäischer Ebene
        nun endlich ausreichend Rechnung zu tragen. Eine kri-
        tiklose Übertragung der Regelungen des Abkommens
        auf die europäische Ebene lehnt die FDP ab.
        Jan Korte (DIE LINKE): Wer aus EU-Europa in die
        USA fliegt, wird durchleuchtet. Alles rechtens, behaup-
        ten Innenminister Wolfgang Schäuble und EU-Verant-
        wortliche, und dies offenbar ohne zu wissen, was sie da
        sagen.
        Als im Mai 2006 der EuGH das Abkommen zur
        Übermittlung von Fluggastdaten zwischen der EU und
        den USA kippte, waren die Administrationen in Brüssel
        und Washington ratlos. Der 2004 geschlossene Vertrag
        zur Übermittlung von 34 personenbezogenen Informa-
        tionen europäischer Flugreisender mit Ziel USA wurde
        damals aufgrund einer fehlenden Rechtsgrundlage für
        nichtig erklärt. Eile war geboten, ein neues Abkommen
        musste her. Und so sieht das neue, unter der deutschen
        Ratspräsidentschaft geschlossene Abkommen auch aus.
        Eilig und ohne Grundrechtsüberprüfung oder die Einbe-
        ziehung des europäischen Datenschutzbeauftragten hat
        man einen Vertrag geschlossen, der viele Fragen unbe-
        antwortet lässt. Immer wieder wurden die Eile und die
        fast konspirativen Verhandlungen mit der Furcht seitens
        des Innenministers begründet, ohne ein Abkommen
        noch in diesem Jahr würden europäischen Fluggesell-
        schaften die Landerechte in den USA verweigert.
        Im Dezember letzten Jahres sorgten Recherchen einer
        Nachrichtenagentur dann erneut für einige Aufregung,
        als sich herausstellte, dass Daten der Flugpassagiere aus
        dem Übergangsabkommen in den USA mit weiteren In-
        formationen verknüpft und die Passagiere nach ihrem in-
        dividuellen Sicherheitsrisiko benotet werden. Technisch
        soll dies durch das „Automated Targeting System“
        (ATS) bewerkstelligt worden sein. Die Existenz des be-
        reits vor vier Jahren eingeführten ATS soll aber den EU-
        Verantwortlichen nicht bekannt gewesen sein. Dies ver-
        wundert mich, denn einen ersten Hinweis gab es bereits
        im März 2005, als der Beauftragte des US-Zolls, Robert
        C. Bonner, in einer Anhörung vor dem US-Repräsentan-
        tenhaus auf die Existenz und die Nutzung des ATS auf-
        merksam machte – und auch darauf, dass es sich dabei
        nicht nur um ein Kontrollsystem für das Frachtwesen
        handle, sondern dass es auch zur Risikobewertung von
        über 87 Millionen Menschen, die über den Luftweg die
        USA erreichen, genutzt wird. Doch in Brüssel und Ber-
        lin – so die offiziellen Darstellungen – will man erst im
        November 2006 von dem computergestützten Bewer-
        tungssystem erfahren haben, als im „Federal Register“,
        ähnlich dem Bundesgesetzblatt, die Existenz des Sys-
        tems mit einer kurzen Notiz öffentlich gemacht wurde.
        Pikant ist neben dieser „Unwissenheit“ auch die Tatsa-
        che, dass die PNR-Daten entgegen der Vereinbarung im
        Übergangsabkommen nicht für dreieinhalb, sondern für
        letztendlich 40 Jahre gespeichert werden sollten.
        Die Verhandlungen über ein neues, längerfristiges
        Abkommen fielen nun in die Zeit des deutschen EU-Vor-
        sitzes, und heute liegt uns das fertige Dokument vor.
        Das neue Abkommen, so wird es in dem Vertrags-
        werk festgehalten, basiert auf den „gemeinsamen Wer-
        ten“ der EU und der USA in Sachen Bekämpfung des
        Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität.
        Dabei sei der „Austausch von Informationen ein wesent-
        licher Faktor bei der Bekämpfung des Terrorismus …“.
        Was jedoch beide Seiten unter der Bekämpfung von Ter-
        rorismus verstehen, wird nicht ausgeführt. Überhaupt ist
        weder in der Europäischen Union noch in der Bundesre-
        publik eine Verständigung darüber geführt worden, was
        denn unter Terrorismus, ergo auch unter der Bekämp-
        fung von Terrorismus, zu verstehen ist. Die Antwort auf
        diese Frage ist die deutsche Regierung bislang schuldig
        geblieben. Dennoch, so steht es im Abkommen, werden
        „gemeinsame Werte“ zwischen der USA und der EU im
        Kampf gegen den Terrorismus vorausgesetzt. Ich hoffe,
        dass hiermit nicht Werte und Prinzipien wie zum Bei-
        spiel die „Rendition-Praxis“ gemeint sind.
        Grundlage des Abkommens zur Übermittlung von
        Passagierdaten an das US-Heimatschutzministerium
        (DHS) stellt ein Schreiben der US-Administration dar, in
        dem – wie es heißt – „Zusicherungen“ bezüglich der
        Verfahrensweise beim Schutz der PNR-Daten gemacht
        und erläutert werden. Diese „Zusicherungen“ sind je-
        doch nicht Bestandteil des Abkommens selbst. Unter
        Absatz 6 des Abkommens heißt es weiter: „In Bezug auf
        die Anwendung dieses Abkommens wird davon ausge-
        gangen, dass das DHS einen angemessenen Schutz der
        aus der EU übermittelten PNR-Daten gewährleistet.“
        Wir beraten heute also über ein Abkommen, dessen we-
        sentliche Bestandteile zum Schutz personenbezogener
        Daten lediglich auf einem Schreiben der US-Administra-
        tion beruhen, in dem „Zusicherungen“ gemacht werden,
        von denen wir „ausgehen“ sollen, dass diese auch einge-
        halten werden. Ich bitte Sie, dies kann doch nicht Grund-
        lage eines seriösen bilateralen Abkommens sein, zumal
        es sich das Heimatschutzministerium vorbehält, PNR-
        Daten nach „eigenem Ermessen“ an andere US-Regie-
        rungsbehörden mit Aufgaben im Bereich der Strafverfol-
        gung, der öffentlichen Sicherheit oder der Terrorismus-
        bekämpfung und an sogenannte Drittstaaten weiter zu
        geben. Im Klartext bedeutet dies, dass auch zukünftig Si-
        cherheitsbehörden und Geheimdienste wie NSA und FBI
        über die PNR-Daten im Rahmen ihrer Aufgaben verfü-
        gen können. Dies wurde jedoch bereits an den beiden
        Vorgängerabkommen von verschiedenen Seiten kriti-
        siert. Eine Verbesserung ist in diesem Bereich mit dem
        neuen Abkommen also nicht erreicht worden.
        In Absatz 4 des Abkommens wird festgehalten, dass
        die Durchführung des Abkommens regelmäßig durch die
        12604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
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        EU und die USA überprüft wird. Im Anhang zum Ab-
        kommen, also in dem Schreiben der US-Administration
        an die EU, wird denn auch gleich festgehalten, durch
        wen auf europäischer Seite diese Evaluierung vorge-
        nommen werden soll: „Bei der Überprüfung werden die
        EU durch das für den Bereich Recht, Freiheit und Si-
        cherheit zuständige Mitglied der Kommission … vertre-
        ten.“ Gemeint sind Justizkommissar Franco Frattini und
        seine Mitarbeiter. Der Europäische Datenschutzbeauf-
        tragte oder die EU-Datenschutzgruppe werden hier er-
        neut außen vor gelassen. Auch während der Verhandlun-
        gen über das Abkommen wurden sie nicht einbezogen.
        Ihre geäußerte Kritik wurde demzufolge auch nicht be-
        rücksichtigt, wie ein Blick in das vorliegende Abkom-
        men verrät.
        Doch nun zu den konkreten Verabredungen im Ab-
        kommen: Zukünftig sollen alle Passagierdaten zunächst
        für sieben Jahre in einer aktiven und danach für acht
        Jahre in einer passiven Vorhaltung vom US-Heimat-
        schutzministerium gespeichert werden. Die ursprünglich
        im Übergangsabkommen vorgesehene Speicherfrist von
        dreieinhalb Jahren stand anscheinend nicht mehr zur De-
        batte. Trotzdem, so Innenminister Schäuble, seien die
        nun vereinbarten Speicherfristen ein Erfolg.
        Als zweiten Erfolg verkauft Wolfgang Schäuble die in
        Zukunft vorgenommene Art der Datenübermittlung.
        Spätestens ab 2008 sollen die Fluggesellschaften die Da-
        ten dann eigenständig übermitteln. Die Sache hat nur ei-
        nen Haken: Die Umstellung vom Pull- zum Push-System
        sei nur dann möglich – so die Forderung der US-Heimat-
        schützer –, wenn die Fluggesellschaften dieselben tech-
        nischen Standards nutzten wie die US-Behörde. Derzeit
        trifft dies lediglich auf 13 Unternehmen zu. Dass Mi-
        chael Chertoff nicht mit handelsüblichen Computerpro-
        grammen europäische Daten durchleuchtet, scheint lo-
        gisch zu sein. Dies bedeutet aber letztlich, dass eine
        Umstellung auf neue technische Systeme auch mit Kos-
        ten für die Airlines verbunden ist.
        Im Ergebnis bedeutet dies, dass Fluggesellschaften,
        auch um Kosten zu sparen, auf eine Umrüstung verzich-
        ten und US-Geheimdienste weiterhin direkt aus ihren
        Systemen Daten abrufen können. Ich frage mich in die-
        sem Zusammenhang, warum der deutsche Innenminister
        nicht noch während der deutschen Ratspräsidentschaft
        im Ministerrat eine Initiative angeschoben hat, die die
        Fluggesellschaften verpflichtet, ihre technischen Sys-
        teme anzupassen, wenn dies schon im Abkommen mit
        den USA vereinbart worden ist. Vielleicht hätten sogar
        Gelder der EU für die technischen Umrüstungen den
        Fluggesellschaften zur Verfügung gestellt werden kön-
        nen, um einen Zugriff US-amerikanischer Dienste auf
        europäische Datenbanken ausschließen zu können. Doch
        nichts dergleichen ist passiert.
        Den größten Erfolg aus Sicht der deutschen Ratsprä-
        sidentschaft aber soll die Reduzierung der bisher 34 Da-
        tensätze auf nun 19 darstellen. Ein genauer Blick in den
        Datenkatalog offenbart jedoch, dass dieser Erfolg kos-
        metischer Natur ist. Denn auch zukünftig werden nicht
        nur Informationen zum Passagier selbst, sondern auch
        zum gesamten Reiseverlauf des Passagiers, alle weiteren
        verfügbaren Kontaktinformationen und der Name des
        Sachbearbeiters des Reisebüros gespeichert, der die
        Reise organisiert hat. Auch hier frage ich mich ernsthaft,
        warum eine derartige Datenflut notwendig ist.
        Dabei ignoriert Die Linke mitnichten Sicherheitsbe-
        dürfnisse. Im Gegenteil, diese sind aus unserer Sicht legi-
        tim und nachvollziehbar. Auf der anderen Seite aber, ist
        auch das individuelle Sicherheitsbedürfnis europäischer
        Bürgerinnen und Bürger in die Betrachtungen des PNR-
        Abkommens einzubeziehen. Und es muss deutlich gesagt
        werden, dass hier Versäumnisse offenbar werden. Wir
        haben es seit einiger Zeit mit einem enthemmten Anti-
        terrorkampf zu tun. Eine Evaluierung dieses Kampfes
        findet hingegen nicht statt.
        Die Linke hätte sich ein Abkommen gewünscht, das
        beide Sicherheitsinteressen berücksichtigt. Und wir hät-
        ten uns ein Abkommen gewünscht, in dem die Bedenken
        der europäischen Datenschützer berücksichtigt worden
        wären, um einen an der Verhältnismäßigkeit orientierten
        Datenaustausch – also eine wirkliche Reduzierung der
        Datensätze – und einen größtmöglichen Grundrechts-
        schutz zu gewährleisten. Dazu hätte es allerdings auch
        eines Abkommens bedurft, das alle wesentlichen Be-
        standteile in einem vereint und nicht mit „Zusicherun-
        gen“ hantiert. Dies ermöglichte es dann auch den Betrof-
        fenen, also den Flugpassagieren, sich über ein solches
        Abkommen zu informieren und gegebenenfalls die ihnen
        zustehenden Rechte in Anspruch zu nehmen.
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Nicht zum ersten Mal beraten wir hier im
        Parlament über die umfangreiche Weitergabe von Flug-
        gastdaten an die USA. Es ist auch nicht das erste Mal,
        dass wir unsere Reden zu diesem wichtigen Daten-
        schutzthema zu Protokoll geben. Die offene Debatte
        zum Abkommen der EU mit den USA zur Übermittlung
        von Passagierdaten scheut Schwarz-Rot aus guten Grün-
        den. Bei Lichte betrachtet kann man nur zu dem Schluss
        kommen, dass hier erneut ein rechtswidriges Abkommen
        von den Regierungen unterzeichnet wurde. Dieses
        zweite Abkommen, von der Regierung als Meilenstein
        ihrer Ratspräsidentschaft gefeiert, ist um keinen Deut
        besser, als das vom EuGH kassierte erste Abkommen.
        Zu diesem Ergebnis kommt auch das Europäische Parla-
        ment, und mich würde schon interessieren, wie Sie ihren
        europäischen Schwesterfraktionen die Umsetzung der
        Resolution erläutern. Mit den Stimmen von SPD und
        Union fordert das Europaparlament Sie auf, „den Ent-
        wurf sorgfältig im Licht der in dieser Resolution ange-
        stellten Beobachtungen zu überprüfen.“ Wie diese Sorg-
        falt aussieht, darauf bin ich gespannt.
        Jetzt kriegen wir als nationales Parlament wieder den
        Ball zugeworfen, werden aber nicht wirklich etwas än-
        dern können. Die Regierungsfraktionen werden erneut
        auf den Beschluss des Rates verweisen. Wir drehen uns
        im Kreis, die Parlamente empören sich, schauen aber
        letztlich dabei zu, was die Regierungen so treiben. So ist
        mehr Demokratie durch Europa nicht vermittelbar.
        Lassen Sie mich zu den kritischen Punkten des Ver-
        tragswerks kommen. Von Bundesinnenminister Schäuble
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12605
        (A) (C)
        (B) (D)
        groß gefeiert wurde die Reduzierung der an die US-Be-
        hörden übermittelten Datenfelder von 34 auf 19. Das
        war ganz klar eine Mogelpackung, da hier lediglich Da-
        tenelemente zusammengefasst wurden. Die Anzahl der
        zu übermittelnden Daten wurde eher erhöht als verrin-
        gert. Katastrophal ist, dass die Datenschützer nicht mehr
        an den jährlichen Evaluationen beteiligt sind und die
        Zweckbindung der Daten völlig unzureichend ist. Die
        von der Art.-29-Gruppe vorgeschlagene Installation ei-
        ner Filtersoftware, die lediglich die vereinbarten Daten
        übermittelt, wurde ebenso wenig durchgesetzt wie die
        Beibehaltung der ursprünglichen Speicherungsdauer von
        drei Jahren. Jetzt beträgt sie sieben Jahre mit einer Ver-
        längerungsoption um weitere acht Jahre. Als Erfolg ge-
        feiert wird von Bundesinnenminister Schäuble: Es wer-
        den mehr Daten übermittelt, die Weitergabe der Daten
        innerhalb der USA ist weniger geschützt, die Lö-
        schungsfristen wurden erheblich verlängert. Die Freude
        von Herrn Schäuble ist nur zu verstehen vor dem Hinter-
        grund, dass es nie sein Ziel war, weniger sensible Daten
        an die USA zu liefern. Er will die Kopie der amerikani-
        schen Datensammelwut für Europa.
        Die Antwort von Schwarz-Rot auf die nach dem euro-
        päischen und deutschen Datenschutzrecht unzulässige
        Weitergabe der Fluggastdaten an die USA ist die Ein-
        richtung eines europäischen Systems zur Speicherung al-
        ler Fluggastdaten. Von der Ankündigung, das System
        wenigstens auf das sogenannte Push-System umzustel-
        len, ist außer leeren Versprechungen wenig geblieben.
        Nicht weiter hinnehmbar ist, dass die Luftfahrtunterneh-
        men ihre Kunden über die umfangreiche Weitergabe ih-
        rer personenbezogenen Daten nicht hinreichend infor-
        mieren. Wenn die Regierungen an den Parlamenten
        vorbei so massiv und ungeniert gegen geltendes nationa-
        les und europäisches Datenschutzrecht verstoßen, bleibt
        nur die Klärung über die Gerichte.
        Gert Winkelmeier (fraktionslos): Liest man die Stel-
        lungnahme des Europäischen Parlaments zu dem hier
        vorliegenden Fluggastdatenabkommen zwischen der Eu-
        ropäischen Union und den USA, könnte man fast traurig
        werden, so viel Bedauern ist dort zu finden. Es ist wirk-
        lich traurig, was da – unter der Federführung des Bundes-
        innenministers – zustande gekommen ist. Aber es ist
        auch in einem Höchstmaße empörend, wie Dr. Schäuble
        auf europäischer Ebene die Bürgerrechte abbaut und da-
        bei das EU-Parlament übergeht. Es ist schon ein sehr ge-
        schickter Umweg. Jetzt kann er auch das hiesige Parla-
        ment ausbremsen, mit der Begründung, dass die
        Bundesrepublik dringend ein Gesetz braucht, damit die-
        ses Abkommen EU-weit ratifiziert werden kann.
        So viel Nichtachtung parlamentarischer Mitsprache
        und Kontrolle hat mit Demokratie nicht mehr viel zu tun.
        Aber das Formale passt wunderbar zu den Inhalten.
        Denn auch die Art und Weise, wie in diesem Abkommen
        zur Weitergabe von Fluggastdaten mit datenschutzrecht-
        lichen Bestimmungen umgegangen wird, ist mit dem de-
        mokratischen Recht auf informationelle Selbstbestim-
        mung nicht mehr vereinbar. Aber das stört den deutschen
        Verfassungsminister wenig. In seinem Sicherheitswahn
        sind ihm Bürgerrechte längst ein lästiger Dorn im Auge.
        Die Weitergabe von personenbezogenen Daten ist an
        sich schon ein massiver Eingriff in die Bürgerrechte.
        Dass in diesem Abkommen dem US-Heimatministerium
        aber zugestanden wird, die Daten innerhalb der USA an
        die verschiedensten Behörden – unter anderem auch an
        die mehr als zweifelhaften Geheimdienste – weiterzuge-
        ben, sprengt jeglichen Rahmen. Und dabei bleibt es noch
        nicht einmal: Das Innenministerium der USA ist zudem
        befugt, die Fluggastdaten Drittländern zu überlassen. Für
        all diese Maßnahmen finden sich in dem Abkommen
        keine klar abgesteckten Regeln.
        Zwar hat man den Umfang der zu übermittelnden
        Einzeldaten gegenüber dem bisherigen Abkommen von
        34 auf 19 gesenkt, aber das sind nichts als kosmetische
        Maßnahmen, handelt es sich doch in den meisten Fällen
        schlicht um Bündelungen mehrerer Einzeldaten. Bei-
        spielsweise wurden vorher Straße, Postleitzahl und Ort
        als Einzeldaten behandelt. Jetzt sind sie unter dem Punkt
        „alle verfügbaren Kontaktinformationen“ zu einem
        Punkt zusammengefasst worden.
        Dafür dürfen die Daten in den USA jetzt aber
        15 Jahre gespeichert werden, bisher waren es nur 3,5.
        Allerdings waren bis zu 50 Jahre im Gespräch; die Euro-
        päische Kommission brüstet sich jetzt mit dem „Ver-
        handlungserfolg“.
        Was da hinter verschlossenen Türen verhandelt
        wurde, soll auch im Weiteren zu einem nicht geringen
        Teil geheime Verschlusssache bleiben. Statt einen so
        sensiblen Sachverhalt von einem gewählten Parlament
        begleiten und gegebenenfalls auch kontrollieren zu las-
        sen, schafft man Tatsachen in Hinterzimmern.
        Das ist nicht nur schlechter Stil; es hat auch mit De-
        mokratie nicht mehr viel zu tun.
        Auch deshalb hat das Europäische Parlament die na-
        tionalen Parlamente aufgefordert, das Abkommen im
        parlamentarischen Prozess sehr sorgsam zu prüfen. Die
        Bundesregierung scheint dieses Ansinnen des EU-Parla-
        ments nicht sonderlich ernst zu nehmen. Wie anders lässt
        sich erklären, dass die Debatte zu einem so heiklen
        Thema mitten in der Nacht auf die Tagesordnung gesetzt
        wird! Aber auch das passt ins Bild.
        Anlage 28
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset-
        zes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge-
        setzbuch (Tagesordnungspunkt 17)
        Karl Schiewerling (CDU/CSU): Den größten Teil
        des Arbeitslosengeldes II schultert der Bund. Die Kom-
        munen übernehmen überwiegend die Wohnkosten der
        Hilfeempfänger, wobei sie dafür einen Zuschuss vom
        Bund erhalten.
        Im Rahmen des Ersten Gesetzes zur Änderung des
        Zweiten Buches Sozialgesetzbuch wurde die Bundesbe-
        teiligung für die Jahre 2005 und 2006 auf jeweils
        29,1 Prozent festgelegt. Ende vergangenen Jahres wurde
        12606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        mit dem Gesetz zur Änderung des SGB II und des Fi-
        nanzausgleichsgesetzes die durchschnittliche Bundesbe-
        teiligung für das Jahr 2007 auf 31,8 Prozent festgelegt.
        Diese Regelung war und ist in besonderer Weise fair –
        fair nämlich gegenüber Bundesländern wie Baden-
        Württemberg und Rheinland-Pfalz. Bei ihnen wäre es
        bei einer bundeseinheitlichen Beteiligung des Bundes
        von 31,8 Prozent zu den bekannten „horizontalen Ver-
        werfungen“ gekommen. An der bundesweiten Entlas-
        tung von 2,5 Milliarden Euro hätten dann vor allem
        Kommunen aus diesen beiden Bundesländern nicht an-
        gemessen partizipieren können. Aus diesem Grund
        wurde ein horizontaler Ausgleich unter den Ländern ge-
        schaffen. Durch das einstimmige Votum im Bundesrat
        wurde die Bundesbeteiligung für Baden-Württemberg
        auf 35,2 Prozent und für Rheinland-Pfalz auf 41,2 Pro-
        zent erhöht. Gleichzeitig hatten sich die anderen 14 Län-
        der auf eine Bundesbeteiligung in Höhe von 31,2 Pro-
        zent geeinigt.
        In dem Anpassungsgesetz hatte man sich auch darauf
        geeinigt, dass die Höhe der Bundesbeteiligung in den
        Jahren ab 2008 bis 2010 nach einer gesetzlich vorge-
        schriebenen Anpassungsformel ermittelt wird. Inner-
        halb der Anpassungsformel spielt die Entwicklung der
        Zahl der Bedarfsgemeinschaften eine wesentliche Rolle.
        Um es kurz zu fassen: Mehr Bedarfsgemeinschaften be-
        deuten mehr Bundeszuschuss. Weniger Bedarfsgemein-
        schaften bedeuten weniger Bundeszuschuss.
        Dass sich die Zahl der Bedarfsgemeinschaften verrin-
        gert hat, lässt sich nicht von der Hand weisen. Gab es im
        Juni 2006 in Deutschland knapp 4 107 000 Bedarfsge-
        meinschaften; sank die Zahl im Juni 2007 auf 3 742 199.
        Betrachtet man sich nun die vorläufigen Daten für Sep-
        tember 2007, ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften
        nochmals gesunken, und zwar auf 3 518 681.
        Das sind positive Entwicklungen, an denen der Bund
        wesentlich mitgewirkt hat. Durch das Erste SGB-II-Än-
        derungsgesetz können Jugendliche unter 25 Jahren nicht
        mehr so einfach auf Kosten des Staates von zu Hause
        ausziehen und eine eigene Bedarfsgemeinschaft grün-
        den. Mittlerweile ist die Gewährung von Leistungen für
        Unterkunft und Heizung in diesen Fällen von der Zusi-
        cherung des kommunalen Trägers abhängig.
        Der Bund hat sich seit der Einführung des SGB II den
        Kommunen gegenüber immer als verlässlicher Partner
        gezeigt. Das beweisen auch die Zahlen. Für seine Betei-
        ligung an den Wohn- und Heizkosten wird der Bund bis
        Ende dieses Jahres 4,3 Milliarden Euro an die Kommu-
        nen überweisen. Diese Summe ist mehr als das Doppelte
        von dem, was der Regierungsentwurf zum Bundeshaus-
        halt ursprünglich für das Jahr 2007 vorgesehen hatte. Da
        sich nun die Zahl der Bedarfsgemeinschaften verringert
        hat, wird der Bund für das Jahr 2008 300 Millionen
        Euro weniger an die Kommunen überweisen, aber im-
        mer noch rund 4 Milliarden Euro. Auch mit diesem Be-
        trag verhält sich der Bund den Kommunen gegenüber
        fair und zeigt seine Verlässlichkeit.
        Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass trotz weni-
        ger Bedarfsgemeinschaften die Kosten gestiegen sind.
        Dennoch halte ich es für notwendig, dass wir dieses Ge-
        setz beschließen. Im Bundesrat werden dann, wenn not-
        wendig, weitere Beratungen stattfinden. Der Bund bleibt
        dabei, dass wir die Kommunen um 2,5 Milliarden Euro
        entlasten wollen. Das ist der Maßstab, der letztendlich
        bei einer möglichen Prüfung des Belastungsvolumens zu
        berücksichtigen ist.
        Jörg Rohde (FDP): Gesetze werden nicht besser, in-
        dem man sie jährlich neu auflegt. Dies gilt auch für das
        Gesetz über die anteilige Kostenbeteiligung des Bundes
        an den Kosten für Unterkunft und Heizung im Rahmen
        der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
        Der vorliegende Gesetzentwurf soll sicherstellen,
        dass die Kommunen auch 2008 um 2,5 Milliarden Euro
        im Bereich des SGB II entlastet werden. Sämtliche kom-
        munalen Spitzenverbände bezweifeln aber, dass die Ent-
        lastung in dieser Höhe erreicht werden wird. Denn der
        Annahme des Bundes, dass allein infolge des Rückgangs
        der Zahl der Bedarfsgemeinschaften automatisch auch
        die Kosten der Unterkunft sinken werden, stehen nach-
        gewiesene Kostensteigerungen bei den Kommunen für
        die KdU entgegen.
        Die FDP hat bereits im vergangenen Jahr kritisiert,
        dass die Zahl der Bedarfsgemeinschaften allein als Be-
        rechnungsgrundlage für die Höhe des Bundeszuschusses
        zu kurz greift. Denn trotz einer sinkenden Zahl von Be-
        darfsgemeinschaften sind die Kosten vieler Kommunen
        für Unterkunft und Heizung gestiegen. Die Gründe dafür
        sind vielfältig und der Bundesregierung sowie den Ko-
        alitionsfraktionen durchaus bekannt: steigende Energie-
        kosten und Mieten, Zuschüsse zu den Unterkunftskosten
        für BAföG-Bezieher, Inflation etc.
        Der Städtetag hat ausgerechnet, dass allein im zwei-
        ten Halbjahr 2006 die durchschnittlichen Kosten für Un-
        terkunft und Heizung pro Bedarfsgemeinschaft von
        290 Euro auf 316 Euro gestiegen sind. Das entspricht ei-
        ner Zunahme von fast 10 Prozent in einem halben Jahr,
        die die Kommunen tragen müssen.
        Dazu kommt, dass auch immer mehr Erwerbstätige
        mit niedrigen Einkommen, die sogenannten Aufstocker,
        Zuschüsse zu den Unterkunftskosten nach SGB II bean-
        tragen. Circa 530 000 Menschen erhalten derzeit neben
        ihrer Erwerbstätigkeit Unterkunftsleistungen nach
        SGB II.
        Gerne erläutere ich am Beispiel der Stadt Erlangen
        einmal die Diskrepanz zwischen dem Rückgang der Be-
        darfsgemeinschaften und der Entwicklung der KdU.
        Zwar ist in Erlangen in den ersten acht Monaten 2007
        die Zahl der Bedarfsgemeinschaften um 11 Prozent zu-
        rückgegangen, die Leistungen zu den Kosten der Unter-
        kunft sind im gleichen Zeitraum jedoch nur um gerade
        einmal 3 Prozent gesunken. Bundesweit ist hier übrigens
        kein Rückgang, sondern ein Anstieg der KdU-Kosten
        um circa 10 Prozent zu verzeichnen. Bei einer Kürzung
        der Bundesbeteiligung wie vorgesehen müsste allein der
        Stadt Erlangen im nächsten Jahr ein Defizit von voraus-
        sichtlich 300 000 Euro aus städtischen Mitteln ausglei-
        chen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12607
        (A) (C)
        (B) (D)
        Auch die Regelsatzerhöhung in diesem Jahr wirkt
        sich indirekt auf die Kosten der Unterkunft aus und be-
        lastet die Kommunen bei den Kosten der Unterkunft zu-
        sätzlich.
        Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung auf stei-
        gende Kosten der Kommunen mit einer Senkung des
        Bundeszuschusses reagiert, selbst dann nicht, wenn die
        Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt.
        Bedarfsgemeinschaften lassen sich nicht als Rechen-
        größe über einen Kamm scheren. Ein Singlehaushalt
        verursacht niedrigere Miet- und Heizkosten als eine
        Großfamilie. Legt man hier einen Mittelwert zugrunde,
        werden zum Beispiel automatisch Kommunen in Gegen-
        den mit einer höheren Kinderzahl pro Familie benachtei-
        ligt. Auch verändert sich die Zahl der Bedarfsgemein-
        schaften innerhalb eines Jahres ständig.
        Die FDP hat sich im vergangenen Jahr noch bei der
        Abstimmung enthalten, obwohl schon damals nicht die
        tatsächlichen KdU-Kosten als Berechnungsgrundlage
        verwendet wurden. Mit unserer Enthaltung haben wir
        honoriert, dass immerhin im Vergleich zu den Vorjahren
        Planungssicherheit für die Kommunen bei der Bundes-
        beteilung zu den KdU hergestellt wurde.
        Ich fordere die Fraktionen der Regierungskoalition
        auf: Suchen Sie das Gespräch mit den kommunalen Spit-
        zenverbänden und überdenken Sie den Gesetzentwurf.
        Die Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro
        muss gesetzlich eindeutig gewährleistet sein. Ist dies
        nicht der Fall und kommt es nicht zu einer Korrektur des
        Gesetzentwurfes in Richtung einer Orientierung an den
        tatsächlichen KdU-Kosten, werden wir den Gesetzent-
        wurf ablehnen.
        Katja Kipping (DIE LINKE): Ursprünglich wurden
        von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard
        Schröder den Kommunen finanzielle Einsparungen
        durch Hartz IV in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ver-
        sprochen. Davon spüren die meisten Kommunen nichts.
        Es ist fraglich, ob der Bundeszuschuss in seiner jetzigen
        Höhe diese Einsparungen garantiert. Vielmehr geht es
        heute nur noch darum, die Mehrausgaben, die auf Kom-
        munen im Zuge von Hartz IV zugekommen sind,
        wenigstens in Grenzen zu halten. Und dies ist mehr als
        angebracht. Denn: Erwerbslosigkeit ist ein gesamtgesell-
        schaftliches Problem. Die daraus resultierenden Kosten
        dürfen weder auf den Einzelnen noch auf die Kommu-
        nen abgewälzt werden. Insofern ist die Beteiligung des
        Bundes an den Kosten der Unterkunft, die von den Kom-
        munen zu tragen ist, politisch erforderlich.
        Der vorliegende Gesetzentwurf setzt nun lediglich
        eine gesetzliche Bestimmung um und ist insofern eher
        formal. Der eigentliche Stein des Anstoßes ist die zu-
        grunde liegende Norm, der § 46 SGB II mit seiner An-
        passungsformel. Diese Formel ist abzulehnen, denn die-
        ser Paragraf ist schlichtweg nicht sachgerecht.
        Zur Entstehung dieser Anpassungsformel: Seit In-
        krafttreten des SGB II ist die Kostenbeteiligung des
        Bundes zwischen Kommunen und Bund umstritten. Für
        die Jahre 2005 und 2006 wurde die Bundesbeteiligung
        auf 29,1 Prozent festgelegt und – nach langen Diskussio-
        nen – für 2007 auf durchschnittlich 31,8 Prozent angeho-
        ben. Die Beteiligung ist für 2007 nach Ländern unter-
        durchschnittlich: Baden Württemberg erhält 35,2 Pro-
        zent, Rheinland-Pfalz 41,2 Prozent und die anderen Län-
        der 31,2 Prozent. Dieser Verteilungsschlüssel wurde mit
        16 : 0 Stimmen im Bundesrat akzeptiert. Für die Fort-
        schreibung der Bundesbeteiligung wurde jedoch in § 46
        SGB II eine Anpassungsformel aufgenommen, die sich
        an der Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften orien-
        tiert. Wenn die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften zu-
        nimmt, steigt auch die Bundesbeteiligung und vice
        versa.
        Die Linke lehnt eine Fortschreibung auf der Grund-
        lage dieser Anpassungsformel ab. Schließlich steht die
        Anzahl der Bedarfsgemeinschaften in keinem systemati-
        schen und faktischen Zusammenhang mit der Entwick-
        lung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft. Wenn die
        Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt, bedeutet dies
        nicht automatisch, dass es weniger Bedürftige und An-
        spruchsberechtigte gibt. Die Zahl der Bedarfsgemein-
        schaften kann auch sinken, weil mehr Menschen zusam-
        men in einer Bedarfsgemeinschaft leben müssen.
        Faktisch sind die Bedarfsgemeinschaften größer gewor-
        den – nicht zuletzt aufgrund der Einordnung der Men-
        schen unter 25 in die elterliche Bedarfsgemeinschaft –
        und damit auch die entsprechenden Kosten der Unter-
        kunft gestiegen. Dies gesteht die Bundesregierung in ei-
        nem Schreiben an den Haushaltsausschuss vom 28. Sep-
        tember auch ein. Die Gesamtausgaben sind 2007
        gegenüber 2006 angestiegen, während die Zahl der Be-
        darfsgemeinschaften rückgängig war. Die Gesamtausga-
        ben für Kosten der Unterkunft – Bund und Kommunen –
        belaufen sich 2007 auf schätzungsweise 13,8 bis
        14,2 Milliarden Euro, von denen der Bund 4,4 bis
        4,5 Milliarden übernimmt. Für 2008 wird ein „leichter
        Rückgang der Gesamtausgaben“ angenommen, gleich-
        zeitig aber die Bundesbeteiligung aufgrund der Anpas-
        sungsformel deutlich reduziert. Das Bundesministerium
        für Arbeit und Soziales gesteht auch zu, dass der Finan-
        zierungsanteil der Kommunen bei einer rückläufigen
        Anzahl an Bedarfgemeinschaften steigt.
        Das muss man sich noch einmal vergegenwärtigen:
        Der Bund kann durch entsprechende Gesetzgebung, wie
        zum Beispiel durch die Verschärfung der Regelungen für
        unter 25-jährige Erwachsene, darauf hinwirken, dass die
        Zahl der Bedarfgemeinschaften sinkt. Im Zuge dessen
        verringert sich der Anteil des Bundes. Die Kosten, die
        jedoch für die Kommunen anfallen, sinken womöglich
        nicht in dem Maße oder bleiben sogar konstant. Die An-
        passungsformel führt faktisch zu einer Verlagerung der
        Kosten der Unterkunft auf die Kommunen. Damit wer-
        den die Kosten von Erwerbslosigkeit und Niedriglöhnen
        auf die Kommunen abgewälzt.
        Dem kann die Fraktion die Linke nicht zustimmen.
        Der Anpassungsmechanismus in § 46 SGB II muss in
        dem Sinne geändert werden, dass er auf die faktischen
        Gesamtausgaben bezogen wird. Prinzipiell sollte der
        Anteil des Bundes auch insgesamt erhöht werden.
        12608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Noch
        im letzten Jahr hatten sich Bund und Länder auf einen
        Verteilungsschlüssel für die Kosten der Unterkunft von
        ALG-II-Beziehenden geeinigt und eine Anpassungsfor-
        mel für die kommenden Jahre vereinbart. Trotz verfas-
        sungsrechtlich fragwürdiger Sonderregelungen, die zwei
        Bundesländer gegenüber den übrigen finanziell begüns-
        tigten, schien die Frage der Finanzverteilung zwischen
        Bund und Kommunen bei den Unterkunftskosten im
        SGB II letztlich gelöst. Allerdings stellen in diesem Jahr
        die Kommunen fest, dass die Kosten für Unterkunftsleis-
        tungen von ALG-II-Beziehenden im letzten Jahr um
        rund 10 Prozent gestiegen sind. Nach dem Willen der
        Koalition wird der Bund hingegen seinen Anteil an der
        Finanzierung dieser Leistungen um 400 Millionen Euro
        – dies sind ebenfalls circa 10 Prozent seines Anteils – re-
        duzieren. Die Große Koalition verweist – durchaus mit
        Recht – auf die gesunkene Zahl der Bedarfsgemein-
        schaften, die entsprechend der mit allen Bundesländern
        vereinbarten Anpassungsformel maßgeblich für die Fort-
        schreibung der Kostenbeteiligung des Bundes bis zu-
        nächst 2010 ist.
        Wir sind allerdings der Meinung, dass man auch die
        Sorgen der Kommunen zumindest ernsthaft prüfen und
        langfristig tragfähige Lösungswege in der Dauerstreit-
        frage der Wohnkosten suchen muss. Denn: Wir wissen
        aus dem Wohngeld- und Mietenbericht, dass die warmen
        Betriebskosten – Heizung und Warmwasser – um
        35 Prozent gestiegen sind. Zudem sank zwar die Zahl
        der Bedarfsgemeinschaften zwischen Juli 2006 bis Juni
        2007 um 3,5 Prozent, von 3,96 Millionen auf 3,835 Mil-
        lionen Bedarfsgemeinschaften im gleichen Zeitraum je-
        doch hat sich die Zahl der Personen pro Bedarfsgemein-
        schaft von durchschnittlich 1,81 auf 1,92 erhöht. Eine
        wesentliche Ursache für diese Entwicklung ist die von
        der Koalition zum 1. Juli 2006 vorgenommene Ein-
        schränkung des Rechts hilfebedürftiger junger Men-
        schen auf eine eigene Wohnung. Diese sozialpolitisch
        äußerst fragwürdige Regelung zeigt inzwischen ihre be-
        absichtigten finanzpolitischen Wirkungen. Aufgrund der
        in der Anpassungsformel festgelegten Orientierung an
        der Größe der Bedarfsgemeinschaften geht dies aller-
        dings zulasten der Kommunen.
        Um eine nachhaltige Lösung bei der Finanzierung der
        Kosten der Unterkunft zu erzielen, muss man sowohl bei
        der Finanzaufteilung als auch bei den Leistungsinstru-
        menten ansetzen. Will man die Kostenbelastung neu ver-
        teilen, so scheidet eine Orientierung an den tatsächlichen
        Ausgaben für die Kosten der Unterkunft von vornherein
        aus, weil die Vorstellungen der Vertreter von Kommu-
        nen, Land und Bund hinsichtlich der Berechnungsgrund-
        lage für die tatsächlichen Ausgaben weit auseinander-
        driften. Damit hätte man den Verteilungskonflikt für die
        nächsten Jahre fortgeschrieben. Von daher kommt nur
        eine Veränderung der in § 46 Abs. 7 SGB II festgelegten
        Anpassungsformel in Betracht. Der entscheidende Fak-
        tor, der die Höhe der Bundesbeteiligung bestimmt, ist
        die relative Veränderung der Zahl der Bedarfsgemein-
        schaften. Nicht berücksichtigt wird die Zahl der Perso-
        nen in den Bedarfsgemeinschaften und die Ausgaben für
        Unterkunft und Heizung pro Bedarfsgemeinschaft.
        Bündnis 90/Die Grünen halten deshalb eine Korrektur
        der in § 46 Abs. 7 SGB II festgelegten Anpassungsfor-
        mel in der Weise für denkbar, dass die Anpassungsfor-
        mel um eine Variable ergänzt wird, die die Veränderung
        der Personenzahl in Bedarfsgemeinschaften berücksich-
        tigt.
        Doch selbst mit einer Änderung der Anpassungsfor-
        mel würde man jedoch das eigentliche Problem nicht
        wirklich lösen, denn die Zahl derjenigen, die so wenig
        verdienen, dass sie ergänzend das Arbeitslosengeld II
        beantragen müssen – Aufstocker –, wächst. Rund
        1,1 Millionen Beschäftigte sind auf ALG-II-Leistungen
        angewiesen. Davon beziehen rund 530 000 Personen
        ausschließlich Unterkunftsleistungen. Im Vergleich dazu
        sind mit den Reformen am Arbeitsmarkt die Kosten für
        das von Bund und Ländern getragene Wohngeld rapide
        zurückgegangen. Wurden im Jahre 2004 noch 5,2 Mil-
        liarden Euro für Wohngeld ausgegeben, so waren es in
        2005 nur noch 1,2 Milliarden Euro. Die letzte Anpas-
        sung des Wohngeldes an die Mietpreisentwicklung er-
        folgte im Jahre 2001. Da die Unterkunftsleistungen des
        ALG II höher sind als das Wohngeld nach dem Wohn-
        geldgesetz, beantragen immer mehr Niedrigverdiener er-
        gänzendes ALG II statt Wohngeld.
        Wir fordern die Bundesregierung auf, das Übel an der
        Wurzel anzupacken, statt mit den Kommunen Finanzie-
        rungskonflikte auszutragen. Zum einen ist durch eine
        konsequente Ausweitung von Mindestlöhnen – meiner
        Meinung nach am besten durch einen flächendeckenden
        gesetzlichen Mindestlohn – die Zahl der Niedriglöhner
        einzudämmen. Zum anderen muss mit einer längst fälli-
        gen Anpassung der Wohngeldhöhe das Wohngeld wieder
        als vorgelagertes Sicherungssystem etabliert werden. Zu
        unserem Bedauern unternehmen bisher weder die Bun-
        desländer noch die Bundesregierung in dieser Hinsicht
        irgendwelche Anstrengungen. Mit dem erst kürzlich
        vorgelegten Entwurf zur Änderung der Wohngeldgeset-
        zes – Drucksache 16/6543 – versäumt es die Regierung,
        das Wohngeld seit 2001 erstmals wieder anzuheben. Die
        Kommunen werden deshalb auch in kommenden Jahren
        steigende Unterkunftskosten zu beklagen haben. Das in-
        zwischen etablierte Verteilungsspiel wird jedes Jahr von
        neuem beginnen.
        Die Bundesländer und diese Regierung sind aufgefor-
        dert, endlich eine langfristig tragfeste Lösung auszuhan-
        deln, die nicht zulasten Dritter geht. Am Ende des Tages
        sind es schließlich die Langzeitarbeitslosen, die durch
        eine restriktive Handhabung der Angemessenheit der
        Wohnung zu Umzügen gezwungen werden oder die aus
        dem Regelsatz ihre Mietzahlung bestreiten müssen.
        Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
        nister für Arbeit und Soziales: Bundestag und Bundesrat
        haben sich im Vermittlungsausschuss 2004 darauf ver-
        ständigt, dass die Kommunen im Zuge der Umsetzung
        des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am
        Arbeitsmarkt um insgesamt 2,5 Milliarden Euro entlastet
        werden sollen. In § 46 Abs. 5 SGB II wurde dieses Ziel
        gesetzlich verankert. Ziel dieser Entlastung war es auch,
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007 12609
        (A) (C)
        (B) (D)
        den Kommunen finanziellen Spielraum für den Ausbau
        von Kinderbetreuungsmaßnahmen einzuräumen.
        Um das Ziel der Entlastung zu erreichen, haben Bun-
        destag und Bundesrat – ebenfalls im Vermittlungsaus-
        schussverfahren 2004 – vereinbart, dass sich der Bund
        an den Kosten der Unterkunft von SGB-II-Beziehern be-
        teiligt. Im 1. SGB-II-Änderungsgesetz wurde im De-
        zember 2005 für die Jahre 2005 und 2006 die Bundesbe-
        teiligung abschließend auf 29,1 Prozent festgelegt.
        Für das Jahr 2007 wurde nach langen Verhandlungen
        mit den Ländern letzten Herbst eine Vereinbarung getrof-
        fen, die im Wesentlichen zwei Punkte umfasst: Erstens.
        Die Bundesbeteiligung an den Leistungen der Kommunen
        für Unterkunft und Heizung wurde für das Jahr 2007 im
        Bundesdurchschnitt auf 31,8 Prozent festgesetzt. Aus
        Sicht des Bundes ergibt sich daraus eine deutlich höhere
        Entlastung als die zugesagten 2,5 Milliarden Euro. Für
        14 Länder wurde die Bundesbeteiligung auf 31,2 Prozent
        festgelegt, für Baden-Württemberg auf 35,2 Prozent und
        Rheinland-Pfalz auf 41,2 Prozent.
        Zweitens. Die Berechnung zur Be- und Entlastung der
        Gesamtheit der Kommunen wurde geändert. Sie war zuvor
        von den Ländern immer wieder streitig gestellt worden.
        Wir haben deshalb vereinbart, dass die weitere Anpassung
        von der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften
        im SGB II abhängen sollte.
        Gerade die zweite Vereinbarung ist ein wichtiger
        Schritt, da auf diese Weise keine fiktive Berechnung der
        Entlastungen der Kommunen mehr vorgenommen wer-
        den muss. Eine solche fiktive Rechnung – das wissen
        wir alle – wird immer schwieriger, je weiter man sich
        von dem Ausgangsjahr 2004 entfernt.
        Um es an dieser Stelle klar zu sagen: Trotz der verän-
        derten Berechnungsmethode steht der Bund zu der Zu-
        sage, die Kommunen um insgesamt 2,5 Milliarden Euro
        jährlich zu entlasten. Insgesamt – das ist wichtig; denn
        der Bund kann nicht die Entlastung jeder einzelnen
        Kommune garantieren. Das lässt unsere Finanzverfas-
        sung nicht zu.
        Ich weiß, dass sich manche wünschen, der Bund
        würde auch lokal für einen Ausgleich sorgen. Hier sind
        aber eindeutig die Länder gefordert. Sie müssen im Zuge
        des kommunalen Finanzausgleichs für einen angemesse-
        nen Ausgleich sorgen.
        Wenn nun die Höhe der Bundesbeteiligung an den
        Leistungen für Unterkunft und Heizung im Jahr 2008 be-
        stimmt wird, dann ist die Anpassungsformel maßgebend,
        auf die wir uns im vergangenen Jahr im Bundestag und
        im Bundesrat geeinigt haben und die gesetzlich veran-
        kert ist.
        Der Mechanismus ist klar: Die jahresdurchschnittli-
        che Zahl der Bedarfsgemeinschaften von Jahresmitte
        2006 bis Jahresmitte 2007 wird ins Verhältnis zu der jah-
        resdurchschnittlichen Zahl der Bedarfsgemeinschaften
        von Jahresmitte 2005 bis Jahresmitte 2006 gesetzt. Aus
        der sich ergebenden Veränderung – multipliziert mit dem
        Faktor 0,7 – resultiert die Veränderung der Bundesbetei-
        ligung in Prozentpunkten.
        Die Berechnungen haben eine durchschnittliche Ver-
        änderung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Höhe
        von minus 3,7 Prozent und damit eine erforderliche An-
        passung der Bundesbeteiligung in Höhe von minus
        2,6 Prozentpunkten ergeben. Dementsprechend muss
        – das ist der Auftrag des Gesetzes – die Bundesbeteili-
        gung an den Leistungen für Unterkunft für 2008 auf bun-
        desdurchschnittlich 29,2 Prozent angepasst werden.
        Die im letzten Jahr vereinbarten unterschiedlichen
        Bundesbeteiligungen für Rheinland-Pfalz und Baden-
        Württemberg sowie für die restlichen 14 Länder führen
        dazu, dass die Bundesbeteiligung in 2008 für 14 Länder
        gemäß der Anpassungsformel auf eine Höhe von
        28,6 Prozent, für Baden-Württemberg auf 32,6 Prozent
        und für Rheinland-Pfalz auf 38,6 Prozent festzulegen ist.
        Das ist das, worauf wir uns Ende 2006 geeinigt haben.
        Die gemeinsam gefundene Regelung setzt der vorge-
        legte Gesetzentwurf um – eins zu eins. Einen substan-
        ziellen Hintergrund für die hier und da geäußerte Kritik
        kann ich deshalb nicht erkennen. Im Bundesrat wurde
        mit überwiegender Mehrheit diesem Berechnungsmodus
        zugestimmt. Heute, nach einem Jahr, will keiner mehr
        etwas davon wissen. Eine Anpassung der Bundesbeteili-
        gung auf Basis der Ausgabenentwicklung würde bedeu-
        ten, dass der Bund über die Bundesbeteiligung die Mehr-
        kosten tragen würde. Die Kommunen hätten dann keine
        finanziellen Anreize mehr, auf die Angemessenheit der
        Leistungen hinzuwirken.
        Darüber hinaus wird jetzt gefordert, dass die notwen-
        dige Anpassung der Bundesbeteiligung für das Jahr 2008
        für jedes der 16 Länder gesondert, also in unterschiedli-
        chem Umfang, erfolgt. Das entspricht meines Erachtens
        nicht mehr den Intentionen des Gesetzgebers und den im
        Vermittlungsauschuss getroffenen Vereinbarungen. Es
        ist vereinbart, die Kommunen in der Gesamtheit um
        jährlich 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Ich betone es
        noch einmal: Der Bund kann nicht die Entlastung jeder
        einzelnen Kommune garantieren. Für eine spezifische
        Entlastung einzelner existieren andere Ausgleichsme-
        chanismen unterhalb der Bundesebene.
        Bürokratieabbau ist ein Gebot unserer Zeit. Deshalb
        haben wir in den Gesetzentwurf eine weitere Regelung
        aufgenommen, die dieser Maxime Rechnung tragen und
        den Verwaltungsaufwand reduzieren soll. Worum geht
        es? Im letzten Jahr wurde mit dem Gesetz zur Änderung
        des SGB II und des Finanzausgleichgesetzes die bis da-
        hin geltende periodengerechte Abgrenzung der KdU-Er-
        stattung präzisiert. Es hat sich zwischenzeitlich aber he-
        rausgestellt, dass diese Präzisierung zwar sachgerecht
        und korrekt war, in der Verwaltungspraxis jedoch zu ei-
        nem erheblichen Mehraufwand führt.
        Im Rahmen dieses Gesetzes soll daher ergänzend mit
        einer gesetzlichen Anpassung eine verwaltungsprakti-
        kable Umsetzung dieser Präzisierung ermöglicht wer-
        den.
        Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetz.
        120. Sitzung
        Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21
        Anlage 22
        Anlage 23
        Anlage 24
        Anlage 25
        Anlage 26
        Anlage 27
        Anlage 28