Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9947
        (A) (C)
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        des Abgeordneten Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN) (96. Sitzung, Drucksache 16/5213, Frage 12):
        schen Bundesbank zu machen. Diese Position wird nach
        bisheriger Rechtslage vom Bund besetzt.
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlage 2
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Beckmeyer, Uwe SPD 10.05.2007
        Bismarck, Carl-Eduard
        von
        CDU/CSU 10.05.2007
        Dağdelen, Sevim DIE LINKE 10.05.2007
        Gabriel, Sigmar SPD 10.05.2007
        Gloser, Günter SPD 10.05.2007
        Griefahn, Monika SPD 10.05.2007
        Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 10.05.2007
        Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 10.05.2007
        Höger, Inge DIE LINKE 10.05.2007
        Kasparick, Ulrich SPD 10.05.2007
        Knoche, Monika DIE LINKE 10.05.2007
        Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        10.05.2007
        Lafontaine, Oskar DIE LINKE 10.05.2007
        Leibrecht, Harald FDP 10.05.2007
        Merten, Ulrike SPD 10.05.2007
        Dr. Miersch, Matthias SPD 10.05.2007
        Raidel, Hans CDU/CSU 10.05.2007
        Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 10.05.2007
        Schummer, Uwe CDU/CSU 10.05.2007
        Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        10.05.2007
        Dr. Troost, Axel DIE LINKE 10.05.2007
        Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 10.05.2007
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Welches besondere außen- und sicherheitspolitische Inte-
        resse gemäß den politischen Grundsätzen der Bundesregie-
        rung für den Export von Kriegswaffen liegt für einen Export
        deutscher U-Boote und dessen Absicherung durch Bürgschaf-
        ten aus Sicht der Bundesregierung vor?
        Über derartige Rüstungsexportvorhaben befindet der
        Bundessicherheitsrat, der in geheimer Sitzung tagt. Von
        daher ist es nicht möglich, zu den einzelnen Abwägungs-
        kriterien, die dem jeweiligen Einzelfall zugrunde liegen,
        Auskunft zu geben. Diese Abwägung findet jeweils auf
        der Grundlage der Politischen Grundsätze der Bundes-
        regierung für Rüstungsexporte statt und kann – wie dies
        auch bereits in der Vergangenheit wiederholt der Fall
        war – zur Genehmigung des Exports von U-Booten in
        Länder außerhalb der EU und der NATO führen. Export-
        kreditgarantien des Bundes können nur im Rahmen der
        im Außenwirtschaftsrecht geltenden rechtlichen Vor-
        schriften übernommen werden. Für Exportkreditgaran-
        tien im Zusammenhang mit dem Export von Kriegswaf-
        fen und sonstigen Rüstungsgütern gelten die Politischen
        Grundsätze der Bundesregierung vom 19. Januar 2000
        und die Entscheidungen des Bundessicherheitsrates.
        Anlage 3
        Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage
        des Abgeordneten Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN) (96. Sitzung, Drucksache 16/5213, Frage 13):
        Wie beurteilt die Bundesregierung unter Berücksichtigung
        der fortgeschrittenen Bestrebungen Pakistans, den nuklearfä-
        higen Marschflugkörper „Babur“ auch in U-Boote zu integrie-
        ren, die Auswirkungen auf die regionale Sicherheitslage?
        Die Bundesregierung genehmigt – auch gemäß ihren
        Verpflichtungen aus den entsprechenden Nichtverbrei-
        tungsregimen – keine Exporte, die die Nuklearwaffen-
        oder Trägertechnologiefähigkeiten Pakistans stärken
        könnten. Der Bundesregierung liegen im Übrigen auch
        keine Erkenntnisse über „fortgeschrittene Bestrebungen“
        Pakistans zur Integration des Marschflugkörpers
        „Babur“ in U-Boote vor.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Hans Eichel (SPD) zur
        Abstimmung über den Entwurf eines Achten
        Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
        Deutsche Bundesbank (Tagesordnungspunkt 15)
        Dem Regierungsentwurf eines Achten Gesetzes zur
        Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank
        stimme ich nicht zu, weil dem Bundesrat nunmehr zu-
        sätzlich das Recht eingeräumt werden soll, einen Vor-
        schlag für die Besetzung des Vizepräsidenten der Deut-
        9948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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        (B) (D)
        Es gibt seit der Eingliederung der Bundesbank in das
        System der europäischen Zentralbanken keinen plau-
        siblen Grund mehr für eine Mitbestimmung der Länder
        bei der Besetzung des Vorstandes der Bundesbank. Da-
        her geht die jetzt angestrebte Gesetzesänderung in die
        falsche Richtung. Sie schwächt die Position der Bundes-
        bank national und international.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegeben Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Achten Geset-
        zes zur Änderung des Gesetzes über die Deut-
        sche Bundesbank (Tagesordnungspunkt 15)
        Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Mit Spannung ha-
        ben Bankvolkswirte heute die Sitzung des EZB-Rates in
        Dublin erwartet. Die große Frage: Wird EZB-Präsident
        Jean-Claude Trichet – wie von ihnen prognostiziert –
        den Weg für eine weitere geldpolitische Straffung eb-
        nen? Er hat ihn geebnet. Eine Zinserhöhung von
        3,75 Prozent auf 4 Prozent im Juni ist damit wahrschein-
        lich.
        Seit nunmehr acht Jahren ist die EZB – nicht mehr die
        Deutsche Bundesbank – der geld- und währungspoliti-
        sche Souverän, auf den einmal monatlich alle Augen und
        Ohren gerichtet sind.
        Was für uns mittlerweile gängige Praxis ist, bedeutete
        für die Institution Bundesbank über Jahre hinweg einen
        herausfordernden Veränderungsprozess: Leitungs-, Ent-
        scheidungs- und Personalstrukturen mussten reformiert
        und an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst
        werden.
        Mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Gesetzes
        über die Deutsche Bundesbank haben wir im Jahr 2002
        den rechtlichen Rahmen für eine umfassende Strukturre-
        form der Deutschen Bundesbank gesteckt. Mit dem
        heute zur Verabschiedung anstehenden Achten Ände-
        rungsgesetz nehmen wir eine weitere sinnvolle Anpas-
        sung vor: Der Vorstand der Bundesbank wird spätestens
        zum 30. April 2009 von derzeit acht auf sechs Mitglieder
        verkleinert.
        Die mittelfristige Verkleinerung des Bundesbankvor-
        standes ist aus zwei Gründen zu unterstützen: Zum einen
        bin ich davon überzeugt, dass – angesichts der neuen
        Aufgaben der Bundesbank – eine kleinere Leitungs-
        ebene noch effizienter arbeiten kann. Zum anderen ist
        die Verkleinerung des Bundesbankvorstandes ein wichti-
        ges Signal an die Mitarbeiter. Die Mitarbeiter mussten
        bei den Umstrukturierungsmaßnahmen in den letzten
        Jahren ein großes Maß an Flexibilität unter Beweis stel-
        len und Gehaltskürzungen in Kauf nehmen. Erst im letz-
        ten Jahr haben wir im Haushaltsbegleitgesetz 2006 eine
        Kürzung der Bundesbankzulage vereinbart. Durch die
        Verkleinerung des Vorstandes leistet nun auch die Bun-
        desbankspitze einen wichtigen Sparbeitrag. Das ist mehr
        als nur Symbolik.
        An dem Bestellungsverfahren für den Bundesbank-
        vorstand ändert sich mit dem Achten Änderungsgesetz
        zunächst einmal nichts. Das heißt, es bleibt kurz- und
        mittelfristig beim Vorschlagsrecht von Bundesregierung
        und Bundesrat. Dieser Pluralismus der Vorschlagsinstan-
        zen hat sich in der Vergangenheit bewährt, insbesondere
        weil dadurch die Unabhängigkeit der Bundesbank
        zusätzlich gestärkt wurde. Gerade in Zeiten, als die Bun-
        desbank noch die geld- und währungspolitische Souve-
        ränität innehatte, war es wichtig, politische Einfluss-
        nahme auf Zinsentscheidungen zu unterbinden.
        In den letzten Tagen hat das jüngste Bestellungsver-
        fahren für den Bundesbankvorstand viel öffentliche Auf-
        merksamkeit erweckt. Ich möchte diese Diskussion, die
        ich im Übrigen für alle Beteiligten etwas unrühmlich
        fand, nicht weiter kommentieren. Nur so viel: Grund-
        sätzlich darf ich doch davon ausgehen, dass Ministerprä-
        sident Oettinger mit Unterstützung des Bundesrates eine
        kompetente Person mit entsprechenden Qualifikationen
        vorgeschlagen hat.
        Abseits und unabhängig von dieser Diskussion ist es
        allerdings mittelfristig richtig, die Frage zu stellen, ob
        das derzeitige Bestellungsverfahren auch künftig noch
        angemessen ist. Berücksichtigt man den verkleinerten
        Vorstand sowie die Tatsache, dass die ehemaligen Lan-
        deszentralbanken mittlerweile weisungsabhängige
        Hauptverwaltungen sind, könnte man da zu unterschied-
        lichen Ergebnissen kommen. Die Frage des künftigen
        Bestellungsverfahrens müssen wir aber jetzt nicht ab-
        schließend klären.
        Fünf Jahre nach Verabschiedung des Siebten Bundes-
        bankänderungsgesetzes ist es mir vor allem wichtig, zu
        würdigen, dass die Bundesbank die durch das Gesetz in
        Gang gesetzte Organisationsreform mittlerweile erfolg-
        reich bewältigt hat und weiter auf veränderte Anforde-
        rungen reagiert. Gerade die Neuorganisation der Haupt-
        verwaltungen – ehemals Landeszentralbanken – und des
        Filialnetzes war für die Bundesbank eine große Heraus-
        forderung. Diese neue Struktur trägt heute wesentlich zu
        schlankeren und effizienteren Organisationsabläufen in
        der Bundesbank bei.
        Die Übertragung der geld- und währungspolitischen
        Souveränität von der Bundesbank auf die EZB ist schon
        seit geraumer Zeit – für die Öffentlichkeit sichtbar – abge-
        schlossen. Weniger transparent und bekannt sind die
        wichtigen Aufgaben, die die Bundesbank weiterhin – ins-
        besondere für die Stabilität des deutschen Finanzplatzes –
        innehat.
        Die „neue“ Deutsche Bundesbank befindet sich in ei-
        ner Doppelrolle: Sie ist zum einen eine unabhängige In-
        stitution Deutschlands. Zum anderen ist sie integraler
        Bestandteil des einheitlichen europäischen Zentralban-
        kensystems.
        Im Fokus der strategischen Neuausrichtung der Deut-
        schen Bundesbank stehen fünf Geschäftsfelder: Preis-
        stabilität im Euroraum, Stabilität des Finanz- und
        Währungssystems, Sicherheit und Effizienz von Zah-
        lungsverkehrs- und Abwicklungssystemen, effiziente
        Bargeldversorgung und -infrastruktur und Funktionsfä-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9949
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        higkeit der deutschen Kredit- und Finanzdienstleistungs-
        institute.
        Gerade für die Funktionsfähigkeit der deutschen Kre-
        ditwirtschaft übernimmt die Bundesbank wertvolle Auf-
        gaben. Nicht zuletzt aufgrund ihrer jahrelangen Erfah-
        rung ist sie bei der Überwachung der Kreditinstitute ein
        wichtiger Partner für die BaFin. Wenn wir uns in den
        kommenden Wochen an die Neujustierung einiger Pro-
        zesse bei der BaFin begeben, sollten wir dies immer mit
        bedenken.
        Kurzum: Die Aufgabenvielfalt der Bundesbank zeigt:
        Auch wenn in puncto Zinsentscheidung an Tagen wie
        heute mittlerweile alle Augen auf die EZB gerichtet
        sind, bleibt die Deutsche Bundesbank eine Institution
        mit herausragender Bedeutung für Deutschland. Weil
        dem so ist, bleibt es unsere Aufgabe als Gesetzgeber, die
        Deutsche Bundesbank als Institution immer wieder den
        neuen Anforderungen anzupassen.
        So beschließen wir also das Achte Bundesbankände-
        rungsgesetz, wissend, dass irgendwann ein Neuntes
        kommen wird und kommen muss, um die Bundesbank
        wiederum auf neue Entwicklungen im Finanzsystem ein-
        zustellen.
        Jörg-Otto Spiller (SPD): Der vorliegende Gesetz-
        entwurf zur Änderung des Bundesbankgesetzes ist ein
        weiterer Schritt zur Anpassung der Bundesbank an die
        veränderte Situation, die existiert, seit es die Europäi-
        sche Zentralbank gibt.
        Die Deutsche Bundesbank hat seit ihrer Gründung
        über Jahrzehnte eine hervorragende Arbeit geleistet. Sie
        war so erfolgreich, dass die Europäische Zentralbank
        nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank gestaltet
        ist. Allerdings hat die Bundesbank heute aufgrund der
        Einführung unserer gemeinsamen Währung Euro nicht
        mehr dieselbe Stellung wie in der Vergangenheit. Sie äh-
        nelt ein Stück weit der Stellung, die zu D-Mark-Zeiten
        die Landeszentralbanken innegehabt haben. Es ist des-
        halb folgerichtig, dass mit dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf der Vorstand der Bundesbank verkleinert wird, und
        zwar auf sechs Mitglieder.
        Gleichwohl hat die Bundesbank weiterhin wichtige
        Funktionen. Sie ist einmal integraler Bestandteil des Eu-
        ropäischen Systems der Zentralbanken, ESZB. Sie er-
        füllt wichtige Funktionen für den Zahlungsverkehr. Er-
        wähnen möchte ich auch ihre Arbeit im Bereich der
        monetären und volkswirtschaftlichen Statistiken und
        Analysen. Eine besonders wichtige Aufgabe ist ihre Mit-
        wirkung bei der Bankenaufsicht.
        Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, dem Mann
        meine Hochschätzung auszusprechen, der über ein Jahr-
        zehnt als Mitglied des Direktoriums beziehungsweise
        des Vorstands der Bundesbank für die Bankenaufsicht
        zuständig war und vor ein paar Tagen aus Altersgründen
        aus der Bundesbank ausgeschieden ist: Edgar Meister.
        Herr Dr. Meister hat wie kein anderes Mitglied des Di-
        rektoriums oder Vorstands der Bundesbank den Kontakt
        zum Finanzausschuss des Deutschen Bundestages ge-
        pflegt. In allen Fragen des Finanzmarktes war er für uns
        ein fairer und sachkundiger Partner. Besonders möchte
        ich auf seine Arbeit bei der Ausarbeitung der Eigenkapi-
        talregeln für Kreditinstitute hinweisen, die unter dem Be-
        griff „Basel II“ bekannt geworden sind. Edgar Meister
        hat in Sachen Verbesserung der Stabilität der Finanz-
        märkte viel vorangetrieben.
        Der veränderten Situation der Deutschen Bundesbank
        entspricht es auch, dass das Benennungsverfahren für
        die Vorstandsmitglieder etwas geändert wird. Der Bun-
        desrat wird die Möglichkeit haben, der Bundesregierung
        bei der Bestellung des Vizepräsidenten einen Vorschlag
        zu machen. Die Bundesregierung ist daran nicht gebun-
        den, aber es erhöht bestimmt die Chance des Bundesra-
        tes, mit seinem Vorschlag auch Gehör zu finden, wenn
        die vorgeschlagene Person neben aller sonstigen Kom-
        petenz und Qualifikation auch eine spezifische Eignung
        für das Bankenwesen mitbringt.
        Frank Schäffler (FDP): Wir begrüßen die Verklei-
        nerung des Bundesbankvorstandes, die mit dem vorlie-
        genden Gesetzentwurf vorgenommen wird. Sie ist eine
        logische Folge der mit der Einrichtung der Europäischen
        Zentralbank, EZB, eingeleiteten europäischen Entwick-
        lung. Die Strukturen der Bundesbank wurden bereits mit
        dem Siebten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die
        Deutsche Bundesbank angepasst; nunmehr wird auch die
        Leitungsebene der Bundesbank effizienter gestaltet.
        Bedenklich ist die zunehmende Politisierung der Bun-
        desbank. Diese gefährdet ihre Unabhängigkeit. Die Un-
        abhängigkeit ist gerade für die Bundesbank aber von be-
        sonderer Bedeutung. Die Bundesbank war mit ihrer
        erfolgreichen Rolle als Garant der Stabilität der D-Mark
        ein Vorbild für die EZB, die nun selbst zum Erfolgsmo-
        dell geworden ist.
        Kritisch betrachten wir die aktuelle Diskussion über
        die Aufgaben der Bundesbank. Dabei werden der Bun-
        desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, im-
        mer mehr Aufgaben übertragen. Aktuell überlegt die
        Bundesregierung nach Medienberichten, die Aufsicht
        über die „systemrelevanten“ Kreditinstitute auf die
        BaFin zu übertragen. Damit legt die Bundesregierung
        die Axt an die bewährte Tätigkeit der Bundesbank. Dies
        würde dem Finanzmarkt in Deutschland schaden. Einen
        schleichenden Verlust von Zuständigkeiten der Bundes-
        bank sollte es nach Auffassung der FDP-Fraktion daher
        nicht geben. Nicht zuletzt das Gutachten des Deutschen
        Instituts für Wirtschaftsforschung zur Evaluierung der
        Bankenaufsicht hat im vergangenen Jahr bestätigt, dass
        die Kreditwirtschaft mit der Tätigkeit der Bundesbank
        zufrieden ist. Dabei wurden die Prüfer der Bundesbank
        tendenziell besser bewertet als die der BaFin. Es muss zu
        einer klaren Aufgabenverteilung zwischen Bundesbank
        und BaFin kommen, um Doppelprüfungen bei Kredit-
        instituten zu vermeiden; dieses Ziel teilen wir ausdrück-
        lich. So, wie es die Bundesregierung zu planen scheint,
        ist es jedoch der falsche Weg.
        Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Nachdem der Euro
        eingeführt und die EZB gegründet worden ist, sind die
        Kompetenzen der Bundesbank bedeutend geringer ge-
        9950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
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        worden. Das ist seit 1999 der Fall. Von diesem Zeitpunkt
        an wäre es angezeigt gewesen, den Vorstand der Bundes-
        bank zu verkleinern; denn wo weniger zu entscheiden
        ist, da sind auch weniger Vorständler nötig. Schließlich
        nimmt die Bundesbank nach Gründung der Europäi-
        schen Zentralbank nun eine viel weniger bedeutende
        Funktion wahr. Sie ist jetzt einer früheren Landeszentral-
        bank sehr ähnlich. Man bedenke: Die Führung der EZB
        besteht aus sechs Personen, der Vorstand der Banque de
        France lediglich aus drei. Da sollten doch drei Vor-
        standsmitglieder für die Bundesbank vollauf reichen.
        Nun endlich wird ein Gesetz vorgelegt, das nach einer
        Übergangsregelung spätestens im Frühjahr 2009 den
        Vorstand auf sechs Mitglieder verringern will. Wenn
        auch spät und unzureichend, so ist es doch endlich eine
        kleine Reaktion auf die veränderten Umstände. Die
        Linke stimmt diesem Gesetz zu, wenngleich mit Beden-
        ken, denn drei Vorständler statt acht würden zu Erspar-
        nissen in Höhe von 1,125 Millionen Euro führen.
        Zufrieden ist die Koalition mit dem von der Bundes-
        regierung eingebrachten Gesetz offenbar nicht. Der
        haushaltspolitische Sprecher der SPD, Carsten
        Schneider, sagt in der ARD, dass er eine Verkleinerung
        des Vorstandes auf fünf Personen wünsche. Hans Eichel
        unterstützt ihn hierbei. Warum also nicht gleich ein Ge-
        setz, das die Größe des Vorstands der Bundesbank auf
        drei Personen verringert?
        Scheinbar steht dem das Vorschlagsrecht der Länder
        entgegen. Baden-Württemberg ist gegenwärtig an der
        Reihe. Ministerpräsident Oettinger wünscht, dass der
        Posten von Böhmler besetzt wird. Das neue Bundes-
        bankgesetz könnte sich darüber hinwegsetzen. Die
        Kanzlerin aber will sich zu der Sache nicht äußern. Der
        Fall sei zu unwichtig. Einen Konflikt mit ihrem Partei-
        freund Oettinger will sie deswegen nicht riskieren. Posi-
        tion zu beziehen, ist hier aber wichtig. Denn offenbar hat
        nicht nur die SPD Bedenken. Die Bundesbank selbst, de-
        ren Vorstand bei der Neubesetzung angehört werden
        muss, hat sich eindeutig gegen Böhmler als neues Vor-
        standsmitglied ausgesprochen. All das soll aber nichts
        bedeuten, weil die Kanzlerin es sich mit dem Minister-
        präsidenten Oettinger nicht verderben will.
        Die Verkleinerung des Vorstandes der Bundesbank ist
        jedoch kein unwichtiger Fall. Es sind nicht nur
        1,125 Millionen Euro einzusparen; es geht hier überdies
        darum, nichtrationale, nichtwirtschaftliche Verwaltung
        umzugestalten. Das ist eine sehr grundsätzliche Frage,
        wegen der die Bundesregierung bekanntlich den Nor-
        menkontrollrat berufen hat. Ist dieses Gremium in dieser
        Angelegenheit tätig geworden? Nichts ist bekannt. Und
        weiter: Böhmler kümmert sich in Stuttgart im Auftrag
        des Ministerpräsidenten um die Beseitigung von über-
        flüssiger Verwaltung, also um den so genannten Büro-
        kratieabbau. Wenn er aber seinen mit 225 000 Euro jähr-
        lich bezahlten Posten bei der Bundesbank antritt, dann
        kann von „Bürokratieabbau“ nicht die Rede sein. Im Ge-
        genteil: Das sind sinnlose Verwaltungsausgaben, hier:
        unnötige Bürokratie als Preis für Frieden in der CDU.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Bundesregierung plant mit ihrem Gesetzentwurf,
        den Vorstand der Bundesbank zu verkleinern und damit
        die Leitungsebene effizienter zu gestalten. Statt acht soll
        der Bundesbankvorstand künftig nur noch sechs Mitglie-
        der umfassen. Die Umstrukturierung des Vorstandes soll
        bis April 2009 abgeschlossen sein. Ich kann für meine
        Fraktion vorweg sagen, dass wir die Stoßrichtung der
        neuen Regelung begrüßen, uns aber wegen zwei zentra-
        ler Kritikpunkte der Stimme enthalten werden.
        Wir meinen, dass die Bundesregierung bei der Vor-
        lage des Gesetzes die Chance vertan hat, gleich noch
        weitere Mängel am Bundesbankgesetz zu beseitigen. Da
        ist an erster Stelle das Besetzungsverfahren zu nennen.
        Im Gesetz steht zwar, dass die Mitglieder des Vorstandes
        „besondere fachliche Eignungen besitzen“ müssen. In
        der Praxis kam es in jüngster Vergangenheit erneut da-
        rauf an, aus welchem Bundesland ein Kandidat für den
        Vorstand kommt und welches Parteibuch er besitzt. An-
        ders ist es nicht zu erklären, dass Rudolf Böhmler an die-
        sen Posten gekommen ist. Nichts gegen Herrn Böhmler,
        er ist ein ausgewiesener Verwaltungsfachmann und seit
        langem im Dienst verschiedener Ministerpräsidenten
        meines Heimatbundeslandes Baden-Württemberg. Aber
        Herr Böhmler ist weder Geld- noch Bankenspezialist.
        Das ist auch den anderen Vorstandsmitgliedern der Bun-
        desbank nicht entgangen, worauf sie ihn bei einer inter-
        nen Anhörung durchfallen ließen. Das spielt aber für die
        Berufungschancen von Herrn Böhmler keine Rolle, denn
        er ist Chef der Stuttgarter Staatskanzlei und Kandidat
        von Ministerpräsident Oettinger; also haben dessen Kol-
        legen der Personalie zugestimmt, anschließend hat die
        Bundesregierung den Vorgang abgenickt. Ein Bundes-
        bankvorstand ist aber kein Ort, an dem verdiente Beamte
        nur aufgrund ihrer Herkunft und ihres Parteibuchs sitzen
        dürfen. Wenn die Bundesbank weiterhin bedeutsam sein
        soll im System der europäischen Notenbanken, dann
        geht das in Zeiten der einheitlichen Geldpolitik nur
        durch Kompetenz, aber auf gar keinen Fall durch Pro-
        porz. Die föderalen Besetzungsstrukturen sind untaug-
        lich. Dass sie nicht im Zuge der Föderalismusreform
        abgeschafft wurden, beweist erneut deren schlechte Qua-
        lität. Dass sie auch nicht durch das vorliegende Gesetz
        geändert wurden, ist ein großes Versäumnis.
        Neben dem Besetzungsverfahren sollte die Bundes-
        regierung über eine weitere Verkleinerung des Bundes-
        bankvorstandes nachdenken und konkrete Vorschläge
        vorlegen. Die Strukturreformen sind ja an anderer Stelle
        bereits mutig angegangen worden, allein der Filialbe-
        stand wird bis Ende 2007 mit 47 Filialen um etwa zwei
        Drittel, der Personalbestand mit etwa 11 100 Beschäftig-
        ten um gut 30 Prozent geringer sein als fünf Jahre zuvor.
        Die Zahl der Führungspositionen wurde insgesamt um
        74 Stellen und damit um mehr als die Hälfte verringert.
        Ab 2008 werden die jährlichen Kosten im Vergleich zum
        Jahre 2002 um rund 280 Millionen Euro geringer sein,
        wobei die Beschäftigten der Bundesbank dabei den
        größten Anteil geleistet haben. Hier hinkt die Entwick-
        lung beim Vorstand deutlich hinterher. Erst bis April
        2009 soll die vorgeschlagene Verkleinerung abgeschlos-
        sen sein. Das ist zu langsam.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9951
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das Bundesbankgesetz muss deutlicher als durch den
        vorgelegten Entwurf geändert werden. Das Besetzungs-
        verfahren spiegelt einen falsch verstandenen Föderalis-
        mus wider, der in Zeiten einer einheitlichen Geldpolitik
        erst recht nichts mehr zu suchen hat. Die vorgeschlagene
        Verkleinerung des Vorstands geht zwar in die richtige
        Richtung, aber nicht weit und nicht schnell genug. Des-
        wegen wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung zu
        diesem Gesetz der Stimme enthalten.
        Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim
        Bundesminister der Finanzen: Der dem Bundestag zur
        Annahme vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, die
        Anzahl der Mitglieder des Vorstandes der Deutschen
        Bundesbank mittelfristig von acht auf sechs Mitglieder
        zu verringern. Die Bundesregierung hatte einen solchen
        Vorschlag bereits in ihrem Gesetzentwurf für die Bun-
        desbankstrukturreform von 2002 gemacht. Im Gesetzge-
        bungsverfahren war seinerzeit diese Passage im Kom-
        promisswege geändert worden. Die Notwendigkeit einer
        Verkleinerung des Vorstandes der Deutschen Bundes-
        bank aus Effizienzgründen besteht aus Sicht der Bundes-
        regierung unverändert fort.
        Dem sechsköpfigen Vorstand sollen künftig der Präsi-
        dent, der Vizepräsident und vier weitere Mitglieder an-
        gehören. Damit wird die Effizienz der Leitungsebene der
        Deutschen Bundesbank weiter verbessert; gleichzeitig
        werden Kosten reduziert. Das bisherige Bestellungsver-
        fahren für die Vorstandsmitglieder wird beibehalten. Das
        heißt, der Präsident, Vizepräsident und ein weiteres Mit-
        glied des Vorstandes werden von der Bundesregierung,
        die übrigen Mitglieder vom Bundesrat vorgeschlagen.
        Allerdings ist nunmehr vorgesehen, dass der Bundesrat
        zukünftig der Bundesregierung für die Bestellung des
        Vizepräsidenten einen Vorschlag unterbreiten kann, den
        die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung berücksich-
        tigen kann, aber nicht muss.
        Während einer Übergangszeit – längstens bis zum
        30. April 2009 – kann der Bundesbankvorstand aus sie-
        ben Mitgliedern bestehen. Dies ermöglicht eine Vor-
        standsverkleinerung ohne Entlassung von Vorstandsmit-
        gliedern, denn der Zeitplan ist mit dem normalen
        Auslaufen der Verträge von Vorstandsmitgliedern abge-
        stimmt.
        Ich freue mich, dass heute ein weiterer Schritt zur Re-
        form der Leitungsebene der Deutschen Bundesbank um-
        gesetzt werden kann.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebenen Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Bildungszugang von Kindern und Jugend-
        lichen stärken – Finanzierung von Schüler-
        und Schülerinnenbeförderung im SGB II
        ermöglichen
        – Kommerzialisierungstendenzen im Schul-
        wesen stoppen – Bildungsteilhabe für alle
        Kinder und Jugendlichen sichern
        – Teilhabechancen für Kinder und Jugend-
        liche aus armen Haushalten fördern
        (Tagesordnungspunkt 16 a bis c)
        Karl Schiewerling (CDU/CSU): Nicht zuletzt seit
        den PISA-Studien wird die Bildungssituation in
        Deutschland beklagt. Bildungsdebakel, Bildungsrück-
        stand und soziale Ungleichheit sind die Schlagworte,
        welche die Diskussion um das deutsche Bildungswesen
        bestimmen. Im Kreuzfeuer der Kritik steht dabei der
        enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und er-
        zielten Bildungsleistungen. Dass es diesen Zusammen-
        hang gibt, ist nicht wegzudiskutieren.
        Auch wir machen uns zunehmend um die Kinder Sor-
        gen, die aus sozial schwachen Familien kommen und
        nicht den Fuß in die Tür des Berufslebens setzen kön-
        nen. Die starke Verknüpfung zwischen geringer Qualifi-
        kation und Arbeitslosigkeit zeigt, dass Bildungsförde-
        rung auch eine präventive Beschäftigungspolitik ist.
        Aus diesem Grund ist es in meinen Augen notwendig,
        in Zukunft wesentlich stärker präventiv zu arbeiten. Ich
        stelle mir hierbei eine Vernetzung zwischen dem SGB II,
        dem SGB VIII und dem SGB XII vor.
        Gerade erst haben wir den ersten Teil der Föderalis-
        musreform verabschiedet. Was wir nun bestimmt nicht
        machen werden, ist, in den Kompetenzbereich der Län-
        der einzugreifen. Nicht nur die Bildungshoheit liegt bei
        den Ländern, auch die Beförderung der Schüler zu den
        Schulen. Jedes Bundesland regelt in speziellen Gesetzen,
        Verordnungen und Erlassen, wie die Beförderung der
        Schüler zu organisieren ist und wer die Kosten dafür
        trägt. Oft werden die Kosten für die Beförderung im öf-
        fentlichen Nahverkehr bezuschusst oder in ländlichen
        Gebieten die Beförderung mit speziellen Schulbussen
        gewährleistet.
        In Ihrem Antrag gehen Sie auch auf Privatschulen ein.
        Ich kann nichts Verwerfliches daran erkennen, wenn El-
        tern sich es leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen
        zu schicken. Das ist keine Katastrophe, sondern eine
        Chance. Zu einer Katastrophe wird es erst, wenn Schüle-
        rinnen und Schüler anderer Schulen dadurch benachtei-
        ligt werden. Das kann ich nicht erkennen. Diese Diskus-
        sion schürt Neid. Es geht nicht um Gleichheit, sondern
        um gerechte Bildungschancen. Es geht um Chancen-
        gleichheit.
        Ich verstehe auch nicht, warum Sie ein Problem ha-
        ben, wenn Unternehmen Schulen Computer spenden.
        Vielmehr frage ich mich, warum Sie es der Wirtschaft
        verbieten wollen, sich im Bildungsbereich zu engagie-
        ren? In meinem Wahlkreis klappt die Zusammenarbeit
        zwischen Unternehmen und Berufskollegs hervorra-
        gend.
        9952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Firmen stellen das Material zur Verfügung, und
        die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Ausbildungs-
        und weiterführenden Bildungsgängen entwickeln durch
        ihre innovativen Projekte Lösungen, die von den Betrie-
        ben nachgefragt werden. Nicht zuletzt durch diese Ver-
        netzung von Schule und Betrieb erfolgt eine Stärkung
        des Mittelstandes. Die Arbeitslosenquote in meinem
        Wahlkreis beträgt 5,5 Prozent. Das ist für mich perfekte
        Vernetzung von Schule und Wirtschaft.
        Natürlich hat Schul-Sponsoring auch seine Grenzen.
        Sponsoring darf niemals staatliche Leistungen und
        Pflicht ersetzen. Gutes Sponsoring ist dann gegeben,
        wenn die Schulen einen Mehrwert erfahren. Der pädago-
        gische Nutzen muss im Vordergrund stehen. Die Schule
        darf auf keinen Fall instrumentalisiert werden.
        Sponsoring hat auch nicht immer etwas nur mit Geld
        zu tun. Wenn der Chemiekurs einmal im Jahr seine
        Experimente in den Profi-Labors des benachbarten Che-
        miekonzerns machen darf, ist das für die Schülerinnen
        und Schüler nicht nur ein unvergessliches Erlebnis, son-
        dern auch möglicherweise die Brücke zur Berufsausbil-
        dung.
        Im SGB II ist geregelt, welche Leistungen der Bund
        und welche die Kommunen zu erbringen haben. Die
        Kommunen sind zuständig für die Schüler- und Schüle-
        rinnenbeförderung. Ebenso für die Schulspeisung und
        die Übernachmittagsbetreuung.
        Es ist übrigens zu beobachten, dass es in vielen Län-
        dern innovative Schulprojekte gibt, die ganz bewusst in
        sozial schwierigen Regionen durchgeführt werden.
        Ich weise daraufhin, dass es beispielsweise in Nord-
        rhein-Westfalen diverse Projekte rund um das Thema ge-
        sunde Ernährung an Schulen gibt. Doch die präventive
        Arbeit hat nur Erfolg, wenn wir es den Kindern vorle-
        ben, in der Schule, in der Freizeit und vor allem in der
        Familie. Eltern haben eine Vorbildfunktion, egal, ob bei
        gesunder Ernährung oder bei der täglichen Arbeit.
        Wenn es eine zunehmende Anzahl von Familien gibt,
        in der Kinder nie erlebt haben, dass Eltern durch eigene
        Arbeit den Lebensunterhalt verdienen, sondern nur von
        Transferleistungen leben, kann das für die Entwicklung
        des Kindes höchst problematisch sein.
        Dank der guten Konjunktur sinkt die Arbeitslosigkeit
        und steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen
        Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben große Chancen,
        Langzeitarbeitslose aus dem SGB-II-Bezug herauszu-
        führen und ihnen durch Arbeit eine neue Perspektive zu
        geben. Hier müssen auch vor Ort Lösungen gefunden
        werden. Diese liegen sicherlich nicht darin, über eine an-
        gebliche Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern
        durch Unternehmen zu diskutieren, die Schulen einen
        Computer spenden.
        Wolfgang Grotthaus (SPD): Das Thema „Bildungs-
        zugang von Kindern und Jugendlichen stärken“ wird
        heute auf der Grundlage von drei Anträgen der Opposi-
        tionsparteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
        erstmals beraten. Als Mitglied des Ausschusses für Ar-
        beit und Soziales möchte ich mich auf den Aspekt der
        Anträge konzentrieren, der sich um Regelungen im
        Sozialgesetzbuch II und XII dreht. Die Bewertung der
        mehr bildungspolitischen Gesichtspunkte wird meine
        Kollegin Gesine Multhaupt vornehmen.
        Die Intention der Anträge, armutsbedingte Benachtei-
        ligungen beim Zugang zu Bildung zu beseitigen, ist
        nicht falsch und steht auch nicht im Widerspruch zu der
        von uns verfolgten Politik. So wie es sich die Antragstel-
        ler vorstellen, ist ein Auffangen einer Benachteiligung in
        Bezug auf die Gewährung von Fahrtkostenzuschüssen
        und Lehrmittelfreiheit über eine Regelung im SGB nicht
        zu regeln.
        Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen der schu-
        lischen Ausbildung fällt vorrangig in die Kultuszustän-
        digkeit der Länder. Deshalb muss dort auch die Kosten-
        beteiligung so geregelt werden, dass hilfebedürftige
        Familien von den finanziellen Belastungen, die durch
        die Fahrtkosten oder durch Lernmittel, Mittagsspeisung
        entstehen können, nicht in einem unangemessenen Um-
        fang belastet werden. Oder es muss sogar eine Befreiung
        von den Kosten ermöglicht werden.
        Diese Leistungen dann vom Bund einzufordern, wenn
        die Länder sich weigern oder die Notwendigkeit nicht
        erkennen, bedeutet eine Verlagerung von Zuständigkei-
        ten. Warum sollen die Länder dann überhaupt noch an-
        schließend die Leistungen übernehmen, wenn sie doch
        wissen, dass der Bund hier einspringt.
        Nein, die von den Oppositionsfraktionen für ihre An-
        träge zum Anlass genommene Problematik der Schüler-
        beförderungskosten und anderer Sozialleistungen ist
        nicht Sache des Bundes.
        Uns ist auch nur aus dem Land Niedersachsen diese
        Problematik bekannt. Das Bundesministerium für Arbeit
        und Soziales ist bereits tätig geworden. Die zuständigen
        Stellen haben sich mit jenen des Landes Niedersachsen
        ins Benehmen gesetzt, um zu veranlassen, dass dort die
        erforderlichen Schritte durch das Land eingeleitet wer-
        den.
        Einen Handlungsbedarf auf Bundesebene darüber hi-
        naus sehe ich nicht, insbesondere deshalb nicht, weil der
        Umfang der Leistungen abschließend gesetzlich geregelt
        ist. Die Regelleistung bildet das soziokulturelle Exis-
        tenzminimum ab und umfasst auch Ausgaben für die
        Nutzung von Verkehrsmitteln, Nahrung und Schulmate-
        rial. Das Bundessozialgericht hat noch im November
        2006 Höhe und Art der Bedarfsermittlung als verfas-
        sungsgemäß in § 23 Abs. 3 SGB II geregelt und mit dem
        Gesetz zur Fortentwicklung des SGB II sind weiterge-
        hende Sonderleistungen ausdrücklich ausgeschlossen.
        Gesetzlicher Regelungsbedarf besteht auch nicht im Be-
        reich des SGB XII und des Asylbewerberleistungsgeset-
        zes.
        Von daher werden wir die uns vorliegenden Anträge
        ablehnen.
        Gesine Multhaupt (SPD): Mit den vorliegenden
        Anträgen glaubt die Fraktion Die Linke, einen Beitrag
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9953
        (A) (C)
        (B) (D)
        zur Verbesserung des Bildungszugangs von Kindern und
        Jugendlichen leisten zu können. In einem entsprechen-
        den Forderungskatalog werden die Finanzierung der
        Schülerbeförderung, Kosten für Mittagessen und Lern-
        mittel sowie die Zulassung von privaten Bildungsein-
        richtungen thematisiert. Mein Kollege Wolfgang
        Grotthaus hat sich bereits zur sozialpolitischen Dimen-
        sion der vorliegenden Anträge geäußert.
        Auch auf der Suche nach dem bildungspolitischen
        Kern der vorliegenden Texte kann ich an keiner Stelle
        bundespolitische Kompetenzen entdecken. Die Ausge-
        staltung der Schulpolitik, die Beförderung von Schülern,
        Kontrolle von Schulbüchern, Unterrichtsmaterialien und
        Unterrichtsinhalten liegt in der Zuständigkeit der Län-
        der. Der Bund hat keine Möglichkeit, hier gestaltend ein-
        zugreifen.
        In der Tat werfen die von Ihnen angesprochenen The-
        men – Bildungserfolge von Schülern mit problemati-
        scher sozialer Herkunft sowie die wachsende Bedeutung
        privater Nachhilfe – insgesamt Fragen zur Leistungsfä-
        higkeit unseres Schulsystems auf. Die SPD-Bundestags-
        fraktion hat diese Probleme rechtzeitig erkannt, und wir
        haben auch gehandelt.
        Schon in der letzten Legislaturperiode hat die SPD-
        geführte Bundesregierung mit Edelgard Bulmahn und
        Renate Schmidt den Zug auf die richtige Schiene ge-
        setzt. Mit einem Investitionsprogramm von insgesamt
        4 Milliarden Euro haben wir gezielt durch bauliche
        Maßnahmen Schulen zu Ganztagsschulen ausgebaut
        oder erweitert und damit den Zugang zu Bildung für alle
        Schüler in unserem Land erheblich verbessert.
        Die Betreuungsangebote werden wir auch in dieser
        Legislaturperiode für Kinder unter drei Jahren quantita-
        tiv und qualitativ weiter ausbauen. Obwohl es sich beim
        Ausbau der Kinderbetreuung und dem Ausbau von
        Ganztagsschulen um eine Pflichtaufgabe von Ländern
        und Kommunen handelt, haben wir hier mit erheblichen
        Bundesmitteln die Schulbildung und die Betreuung deut-
        lich verbessert. Sie sehen, wir debattieren nicht nur über
        bessere Chancen für alle Kinder und Jugendlichen; wir
        handeln auch.
        Nicht folgen kann ich der Ihrem Antrag zugrunde lie-
        genden Logik, dass die unzureichende Bildungsbetei-
        ligung von Kindern aus den genannten Familien ur-
        sächlich mit mangelnden oder gar fehlenden
        Transferleistungen zu tun hat. Um den Teufelskreislauf
        – Arbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau, kein struk-
        turierter Tagesablauf und eine Mentalität des „Durch-
        wurschtelns“ – zu durchbrechen, müssen diese Kinder so
        früh wie möglich öffentliche Bildungsangebote wahr-
        nehmen. Diese Familien benötigen Angebote und Unter-
        stützung, um ihre Kinder frühzeitig aus dem familiären
        Teufelskreislauf herauszunehmen.
        Wir sorgen dafür, dass diese Kinder Angebote wohn-
        ortnaher Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wahr-
        nehmen können. Allein mit immer mehr finanziellen
        Mitteln – das wissen Sie so gut wie ich – helfen Sie hier
        niemandem.
        Die Länder sind aufgefordert, im Sinne unserer Kin-
        der den hier begonnenen Weg konsequent fortzusetzen.
        Zu Recht weisen Sie auf wesentliche Unterschiede bei
        der Unterstützung in den einzelnen Bundesländern hin.
        Aus Rheinland-Pfalz wissen wir, dass die Landesre-
        gierung zu einem Vorbild geworden ist. Dort ist der
        Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im letzten
        Kindergartenjahr vor der Einschulung seit Januar 2006
        beitragsfrei. Damit entlastet das Land die Familien um
        durchschnittlich 600 Euro pro Kind. Weiterhin bekommt
        jedes Kind mit Sprachproblemen vor dem Schuleintritt
        eine spezielle Förderung.
        Die Umsetzung des Ganztagsschulprogramms in Nie-
        dersachsen findet hingegen nur sehr halbherzig statt. Da
        zusätzliche Lehrer von der niedersächsischen Landesre-
        gierung gegenwärtig nicht eingestellt werden, können
        die Ganztagsschulen nicht ausreichend Förderunter-
        richt, Übungsstunden und Betreuungsangebote am
        Nachmittag bereitstellen. Dies erklärt möglicherweise
        den wachsenden Bedarf an privater Nachhilfe.
        In Thüringen beschäftigt sich eine gemeinsame Ar-
        beitsgruppe mit dem Phänomen von materieller Armut,
        Erziehungsdefiziten, mangelnden sozialen Kontakten
        und Bildungsarmut. Ich bin davon überzeugt, dass hier
        auch gerade im Hinblick auf die von ihnen angesproche-
        nen Themen sinnvolle Lösungsansätze gefunden wer-
        den.
        Die Schülerbeförderung in den Ländern stellt sich
        zwar sehr unterschiedlich dar, in der Regel wird aber die
        soziale Lage der Familien berücksichtigt. Außerdem bie-
        ten die Nahverkehrsverbunde ermäßigte Schülerzeitkar-
        ten an, die alle Schüler nutzen können, die aufgrund der
        Landesregelung keinen kostenfreien Transfer in An-
        spruch nehmen können.
        Ich möchte abschließend feststellen: Sie analysieren
        Probleme in unserem Schulsystem, die wir bereits vor
        vielen Jahren erkannt haben. Mit unserem Regierungs-
        handeln geben wir für Kinder und Jugendliche die richti-
        gen Antworten, während Sie sich damit begnügen, in al-
        ter Tradition mehr Geld zu fordern und dann zu hoffen,
        dass damit einer guten Bildung und Betreuung Genüge
        getan sei. Dass dieses nicht ausreicht, haben wir Ihnen
        aus sozial- und bildungspolitischer Sicht erklärt. Dass
        wir die vorliegenden Anträge ablehnen, wird Sie von da-
        her nun nicht verwundern.
        Die SPD wird sich auch in Zukunft in den Ländern, in
        denen wir Verantwortung tragen, und auf Bundesebene
        sehr dafür einsetzen, dass wir insbesondere bei Kindern
        und Jugendlichen zu mehr Chancengleichheit gelangen.
        Miriam Gruß (FDP): Hätte die Bundesregierung
        den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernor
        Muñoz aufmerksam gelesen und daraus die richtigen
        Schlüsse gezogen, würden wir heute Abend nicht über
        dieses Thema debattieren. Denn die Quintessenz aus
        dem Muñoz-Bericht ist klar: Hinter den Ungleichheiten
        im deutschen Bildungssystem steht eine soziale Un-
        gleichheit, die weitreichende Folgen für die betroffenen
        9954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Kinder und Jugendlichen hat. Diese soziale Ungerech-
        tigkeit gilt es abzubauen.
        Bei der Bundesregierung kann ich den entschiedenen
        Willen dazu leider immer noch nicht erkennen. Aber wie
        soll sie auch tätig werden, wenn sie sich selbst aller bil-
        dungspolitischen Kompetenzen dank der Föderalismus-
        reform beraubt hat?
        In seinem Bericht stellt Muñoz zweifelsfrei fest:
        Deutschland verfügt nicht über ein einheitliches Bil-
        dungssystem, da es keinen länderübergreifenden konsis-
        tenten Rahmen gibt.
        Leider hat die Bundesregierung damit nicht nur sich
        selbst viel Ärger eingebrockt, sondern auch unseren Kin-
        dern, die nun qua Geburtsort dem Bildungssystem ihres
        Bundeslandes ausgeliefert sind. Ihre Anträge, werte Kol-
        legen der Grünen und der Linken, lesen sich in Teilen
        wie eine Parodie auf den Föderalismusmurks.
        Die PISA-E-Studie hat gezeigt, dass es in keinem
        deutschen Bundesland gelungen ist, allen Heranwach-
        senden gleich gute Bildungschancen zu geben, sie indi-
        viduell zu fördern und gleichzeitig soziale, ethnische
        und kulturelle Unterschiede der Bildungsbeteiligung und
        des Bildungserfolgs auszugleichen. Dies sind ja gerade
        die Ziele Ihrer Anträge!
        Doch wie können wir es nun schaffen, soziale Un-
        gleichheiten im Bildungssystem abzubauen und damit
        allen Kindern – unabhängig von ihrem Elternhaus – das
        Rüstzeug mit auf den Weg zu geben, das so essentiell ist
        für die Entwicklung ihres gesamten Leben, nämlich Bil-
        dung?
        Ich glaube, wir müssen erstens ganz gezielt bei den
        Elternhäusern und Familien der Kinder ansetzen. Ein in-
        taktes, bildungsorientiertes Zuhause ist ein Grundstein
        für gute Bildungschancen, das steht fest.
        Zweitens müssen wir auch in die Schulen investieren.
        Sie sind kein Auffanglager für vernachlässigte Kinder.
        Schule muss sich darauf verlassen können, dass Eltern
        ihren Kindern ein Mindestmaß an Benehmen, Sozial-
        kompetenz, Sprachvermögen und Allgemeinbildung
        vermitteln, auf dem Lehrer aufbauen können.
        Eltern müssen sich jedoch ebenso darauf verlassen
        können, dass ihren Kindern in den Schulen das Wissen
        beigebracht wird, das sie für einen erfolgreichen Start in
        die Berufsausbildung benötigen, und darauf, dass Schule
        ihren Kindern nicht schadet, dass also das schulische
        Umfeld und die Aktivitäten dort keinen negativen Ein-
        fluss auf die Schüler haben. Im Gegenteil: Schule muss
        auf ein Fundament aufbauen und weiterbilden, ohne zu
        selektieren.
        Schule und Eltern sind also gleichermaßen in der
        Pflicht und in einer Erwartung. Sie bedingen sich gegen-
        seitig, soll den Kindern eine optimale Bildung und Er-
        ziehung zuteil werden. Versagt eine der beiden Institu-
        tionen, kommt es zum Zusammenbruch des Systems,
        denn die jeweils andere Seite kann dieses Versagen nur
        sehr bedingt auffangen oder ausgleichen. Leidtragende
        sind dann die einzelnen Kinder, die weder für das eine
        noch für das andere etwas können.
        Bundespolitisch sind uns die Hände in dieser Sache
        gebunden. Deshalb sind viele Ihrer Forderungen, liebe
        Kollegen der Bündnisgrünen und der Linken, so ehren-
        haft sie auch sein mögen, leider von uns nicht beein-
        flussbar.
        Wir können aber für einen breiten gesellschaftlichen
        Konsens werben, der Erziehung und Bildung Priorität
        vor anderen Zielen einräumt. Das bedeutet vor allem,
        mehr Geld in Bildung und in Familien zielgenau zu in-
        vestieren. Lebensstandard und Wohlstand einer Familie
        dürfen nicht mit der Geburt eines oder mehrerer Kinder
        sinken. Kinder müssen gesellschaftlich besser abgesi-
        chert werden. Gleiches gilt für Mütter, die sich frei für
        Kinder entscheiden sollen, ohne gleichzeitig Angst vor
        Arbeitslosigkeit oder schlechteren Chancen auf dem Ar-
        beitsmarkt zu haben.
        Insgesamt muss es zu einer besseren Verzahnung von
        Kindertagesstätten, Vorschulerziehung und Grundschule
        kommen, um Kindern einen möglichsten gleichen Start
        in die Schulzeit und gleiche Zugangschancen zu Bildung
        zu ermöglichen. Es müssen die elterlichen Ressourcen
        gestärkt, die institutionellen Rahmenbedingungen ver-
        bessert und das Bewusstsein aller, für das Aufwachsen
        von Kindern mitverantwortlich zu sein, gefördert wer-
        den.
        Darüber hinaus muss die Bildungsforschung, insbeson-
        dere im Bereich der frühkindlichen Bildung, intensiviert
        werden. Hier brauchen wir außerdem eine Qualitätsoffen-
        sive mit pädagogischen Zielen und Bildungsmindest-
        standards. Wir Liberalen schlagen zur Qualitätssiche-
        rung ein System der Akkreditierung bzw. Zertifizierung
        der Einrichtungen vor.
        Das Kinderhilfswerk UNICEF hat heute in einer Pres-
        semitteilung noch einmal darauf hingewiesen: Bildung
        ist das wichtigste Kapital für die Zukunft der Welt –
        preiswert, erneuerbar und voller Energie.
        Werden wir alle zu Bildungsbotschaftern in unseren
        Gemeinden und Kommunen. Denn nur wer Bildung auf-
        baut, baut soziale Ungleichheiten ab!
        Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Wenn im Bundestag
        und in der Öffentlichkeit über Bildung diskutiert wird,
        betonen Abgeordnete aller Fraktionen, dass Bildung für
        sie ein überaus wichtiges Thema ist. Mit dieser Einigkeit
        ist aber Schluss, sobald es zur konkreten Politik und
        Herangehensweise kommt. Die Linke ist der Auffas-
        sung, dass Bildung – gerade weil sie sowohl für die indi-
        viduelle als auch die gesellschaftliche Entwicklung so
        bedeutend ist – ein Grundrecht sein muss. Die Teilhabe
        an Bildung muss für alle garantiert werden. Von Ihnen
        hören wir dagegen, dass Bildung wichtig sei, weil sie je-
        dem einzelnen Menschen die Chance bietet, sich eigen-
        verantwortlich um gute Zukunftsperspektiven zu küm-
        mern. Wer diese Chance nicht nutzt, hat eben Pech
        gehabt. Auf diese Weise verschleiern Sie aber, dass nicht
        jeder und jede gleichermaßen die Möglichkeit zur Teil-
        habe an Bildung hat. Schlimmer noch: Mit Ihrer Politik
        vergrößern Sie die Kluft zwischen Arm und Reich und
        produzieren immer mehr Armut. Armut führt aber zu
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9955
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ausgrenzung und dies verhindert gerade auch die Teil-
        habe an Bildung.
        Ich möchte Ihnen das an drei Beispielen verdeutli-
        chen. Das erste Beispiel betrifft Ihre Sozialpolitik. Die
        Linke lehnt Hartz IV ab; alle anderen Fraktionen waren
        dafür. Ich empfehle Ihnen allen deshalb, sich das Flug-
        blatt der GEW zu diesem Thema durchzulesen. Dort
        wird anhand eines typischen Falls auf die Folgen von
        Hartz IV verwiesen: Nicole. Sie ist vierzehn und lebt in
        einer Bedarfsgemeinschaft. Der monatliche Regelsatz
        von Nicole beträgt 207 Euro. Darin sind weniger als
        3 Euro pro Tag für Verpflegung enthalten, weniger als
        neun Euro monatlich für Fahrtkosten und kein einziger
        Cent für sonstige Schulkosten. Nicole zahlt aber
        2,50 Euro für das Mittagessen in der Schule. Ihre Mo-
        natskarte kostet fast 30 Euro. An sonstigen Schulkosten
        kommen für Bücher, sonstige Lernmaterialien oder
        Klassenfahrten viele weitere Ausgaben zusammen. Mit
        einem Regelsatz von 207 Euro lässt sich das nicht finan-
        zieren. Das Beispiel von Nicole – und solche Beispiele
        könnte man zu Tausenden finden – zeigt: Ihre Politik
        führt zu Armut. Und diese Armut verhindert gerade auch
        die Teilhabe an Bildung.
        Mit unseren heutigen Anträgen fordern wir Sie des-
        halb dazu auf, das SGB II anzupassen und zu erweitern.
        Dies wäre zumindest ein erster Schritt in die richtige
        Richtung. Umfassend lässt sich Bildungsteilhabe aller-
        dings nur realisieren, wenn die Gebührenfreiheit der Bil-
        dung grundlegend gesichert ist. Die Bundesregierung
        muss gemeinsam mit den Ländern für die Wiedereinfüh-
        rung der Lernmittelfreiheit eintreten. Darüber hinaus
        muss mit Armutslöhnen endlich Schluss sein: Beenden
        Sie endlich Ihr Koalitionstheater, und führen Sie einen
        gesetzlichen Mindestlohn ein.
        Zweites Beispiel. Mit Ihrer Politik unterstützen Sie
        private Bildungsdienstleister, während zugleich das öf-
        fentliche Bildungssystem immer weiter ausgehöhlt wird.
        Dies lässt sich unter anderem an der wachsenden Bedeu-
        tung von Nachhilfe zeigen: Jedes vierte Kind nimmt pri-
        vate Nachhilfe in Anspruch. Die Kosten liegen durch-
        schnittlich bei rund 100 Euro monatlich. Anders als
        Nicoles Eltern können die Eltern der gleichaltrigen
        Katrin, die zu den Gutverdienenden gehören, die Nach-
        hilfe ihrer Tochter finanzieren. Nicole bleibt außen vor.
        Förderangebote in ihrer Schule gibt es so gut wie keine
        mehr. Schließlich kann selbst der reguläre Unterricht nur
        mit Mühe und hohen Belastungen für die Lehrkräfte auf-
        rechterhalten werden. Privatisierung zeigt sich auch an
        der Entwicklung der Privatschulen: In den letzten zehn
        Jahren hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler an
        Privatschulen mehr als verdoppelt. Im Grundgesetz ist
        zwar festgelegt, dass dies nicht mit einer sozialen Sortie-
        rung einhergehen darf. Inzwischen gibt es aber Privat-
        schulen, deren Gründungszweck Gewinnerzielung ist.
        Welches Interesse besteht hier, Kinder wie Nicole aufzu-
        nehmen?
        Noch weiter verbreitet als Privatschulen ist
        Schulsponsoring. Schulen sind mehr und mehr darauf
        angewiesen, private Spenden einzuwerben. Die Haupt-
        schule, die Nicole besucht, kann aber nicht auf viele
        Spenden hoffen. Es fehlt somit an allen Ecken und En-
        den an Geld. Das Gymnasium, auf das Katrin geht und
        das in einer guten Wohngegend liegt, hat da deutlich
        mehr Möglichkeiten. Schließlich gelten ihre Mitschüle-
        rinnen und Mitschüler als besonders kaufkräftig und das
        Sponsoring an dieser Schule ist eine überaus gute Wer-
        bemöglichkeit für Unternehmen.
        All diese Entwicklungen folgen dem Prinzip: Gute
        Bildung für wenige, die es sich leisten können, schlechte
        Bildung für die große Mehrheit, die wenig Geld hat. Die
        Linke findet das falsch. Wir wollen das öffentliche
        Schulsystem stärken, und dazu braucht es allen voran
        eine bessere öffentliche Finanzierung. Ein erster Schritt
        dahin wäre es, wenn Sie endlich die Umsatzsteuerbefrei-
        ung für kommerzielle Nachhilfeanbieter abschaffen.
        Drittes und letztes Beispiel ist Ihr ständiges Gerede
        von Wettbewerb. Auch in der Bildung können Sie nicht
        genug vom Wettbewerb bekommen. Mit mehr Wettbe-
        werb – so behaupten Sie – wäre sichergestellt, dass sich
        die Besten der Besten durchsetzen. Bitte erinnern Sie
        sich noch einmal an das Beispiel von Katrin und Nicole.
        Nicole hatte keinen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz,
        und ich habe beschrieben, mit welch geringen finanziel-
        len Mitteln sie auskommen muss. In der Grundschule
        hatte sie von vorneherein deutlich schlechtere Ausgangs-
        bedingungen als Katrin, die nicht nur einen Kindergarten
        besucht hat, sondern dank der Finanzierung ihrer Eltern
        nebenbei auch noch Geigenstunden nehmen konnte.
        Kein Wunder also, dass Nicole nach der Grundschule in
        die Hauptschule und Katrin aufs Gymnasium kommt.
        Diverse Studien haben dieses selektive Sortieren des
        deutschen Schulsystems kritisiert. Und wenn es Nicole
        ausnahmsweise doch aufs Gymnasium geschafft hätte,
        dann hätten sie noch viele weitere Hürden erwartet. Spä-
        testens der Zugang zum Studium wäre ihr dann ange-
        sichts von Studiengebühren und nicht ausreichendem
        BAföG versperrt geblieben. Ihr bliebe nur die Alterna-
        tive, sich durch Studienkredite hoch zu verschulden.
        Katrin muss sich um solche Dinge keine Sorgen machen.
        Diese Beispiele zeigen, dass das Gerede um „die Bes-
        ten“ schlicht Blödsinn ist. Diejenigen, die die besten
        Ausgangsbedingungen haben, kommen nach oben. Un-
        gleiche Ausgangsbedingungen werden durch Wettbe-
        werb weiter zementiert und verschärft. Das Muster Ihrer
        Politik ist: Denjenigen, die viel haben, wird weiter viel
        gegeben. Denjenigen, die wenig haben, müssen damit
        rechnen, aussortiert zu werden.
        Die Linke steht für eine andere Bildungspolitik. Ich
        möchte unsere zentralen Forderungen abschließend noch
        einmal zusammenfassen: Erstens. Für uns ist Bildung
        kein Patentrezept gegen Armut. Bildungsteilhabe setzt
        die Bekämpfung von Armut voraus. Deshalb streiten wir
        für eine grundlegende Umverteilung von oben nach un-
        ten. Nur so kann auch das Recht auf Bildung wirklich für
        alle eingelöst werden.
        Zweitens. Wir wollen das öffentliche Bildungssystem
        stärken. Privatisierung von Bildung heißt gute Bildung
        für wenige und schlechte Bildung für viele! Deshalb leh-
        nen wir Bildungsprivatisierungen egal in welcher Form
        ab.
        9956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Drittens. Wir fordern ein Bildungssystem, das auf
        Gleichheit und nicht auf Wettbewerb zielt. Wettbewerb
        zementiert und verschärft ungleiche Ausgangsbedingun-
        gen. Dies machen die aufgeführten Beispiele mehr als
        deutlich! Indem Sie unseren heutigen Anträgen zustim-
        men, können Sie ein Zeichen setzen: Machen sie endlich
        einen Schritt in die richtige Richtung – auch wenn es zu-
        nächst nur ein kleiner ist.
        Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
        Inkrafttreten des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
        – SGB II – wird ein Problem immer deutlicher: In meh-
        reren Bundesländern – darunter NRW und Niedersach-
        sen – sind Kinder in Haushalten mit Arbeitslosengeld-II-
        Beziehenden nicht mit Schulbüchern versorgt. Die Lern-
        mittelfreiheit in diesen Ländern wurde abgeschafft, ohne
        dass eine Ausnahme für Kinder aus armen Haushalten,
        insbesondere ALG-II-Haushalten geschaffen wurde.
        Das Land NRW hat in der erst kürzlich erfolgten No-
        vellierung des Landesschulgesetzes erneut nicht die Ge-
        legenheit genutzt, diesen unsäglichen Missstand zu be-
        enden. Stattdessen verweist die NRW-Schulministerin
        Sommer von der CDU darauf, sie überlasse es den Kom-
        munen, ob sie die Schulbücher für Kinder von Langzeit-
        arbeitslosen bezahlen. Nur: Längst nicht alle Kommunen
        können oder dürfen die Kosten für Lernmittel überneh-
        men.
        Die Kostenübernahme für Lernmittel ist eine freiwil-
        lige Leistung der Kommune, keine Pflichtleistung. Ste-
        hen Kommunen in der sogenannten Haushaltssicherung,
        kann die Kommunalaufsicht ihnen die Genehmigung des
        Haushalts versagen, wenn sie die Kostenerstattung für
        Lernmittel garantieren. Dass Kommunen – wie etwa das
        rot-grün regierte Dortmund – die Kosten trotz Haushalts-
        sicherung übernehmen, ist anzuerkennen. In vielen ande-
        ren Städten jedoch müssen Kinder mit kopierten Zetteln
        hantieren, anstatt wie ihre Klassenkameraden ein Buch
        aufschlagen zu können.
        Ich sage es deutlich: Dieser Zustand ist ein Skandal.
        Die Länder versagen auf ihrem ureigensten Gebiet, ob-
        wohl sie bei jeder Gelegenheit – zuletzt im Rahmen der
        Föderalismusreform – die Bildungskompetenz für sich
        reklamieren.
        Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert
        nun in ihrem Antrag, für die Jobcenter die Möglichkeit
        zu schaffen, die Kosten für Schulbücher zu erstatten. Da-
        bei wollen wir die Länder nicht aus ihrer Pflicht entlas-
        sen und sehen deshalb auch nicht die Kostenübernahme
        als Pflichtleistung für den Träger der Grundsicherung für
        Arbeitslose vor. Würde man dies tun – wie es etwa die
        Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert –, würden
        unverzüglich alle Bundesländer die Finanzierung der
        Lernmittel für Kinder von Langzeitarbeitslosen dem
        Bund überlassen.
        Unser Antrag ist als eine Art Sofortmaßnahme für be-
        dürftige Kinder und Jugendliche zu sehen, die eindeuti-
        gen Notfallcharakter hat, um das völlige Versagen eini-
        ger Bundesländer zumindest teilweise auszugleichen.
        Nach unserer Vorstellung sollten die Sozialhilfeträger
        und Jobcenter vor Ort in Zukunft wenigstens eine
        Rechtsgrundlage haben, um auf aktuelle Hilfebedarfe
        von Kindern und Jugendlichen durch die Gewährung
        von Sachleistungen schnell und unbürokratisch reagie-
        ren zu können.
        Diese Maßnahmen sollen für die Versorgung mit
        Lernmitteln, aber auch für die Verpflegung in Schulen
        und Kitas gelten. Gegenwärtig können die örtlichen
        SGB-II- und SGB-XII-Leistungsträger selbst im Einzel-
        fall keine Lernmittel auf dem Weg der Vorleistung zur
        Verfügung stellen.
        Viele Eltern im Leistungsbezug haben ihre Kinder
        von der Schulverpflegung abgemeldet. Die Kostenbetei-
        ligung für ein Mittagessen in einem Kindergarten, einem
        Hort oder einer Ganztagsschule liegt in der Regel deut-
        lich höher als die im Regelsatz täglich vorgesehenen
        1 Euro.
        Nach unserem Antrag soll zum Beispiel die Differenz
        zu den tatsächlichen Kosten als Sachleistung auf Antrag
        gewährt werden können. Ebenso wollen wir die Inan-
        spruchnahme von kommunalen Sportangeboten, Musik-
        schulen und Bibliotheken für Kinder von Sozialleis-
        tungsbeziehern dadurch erleichtern. Auch die Kosten
        hierfür sollen künftig als Sachleistung in angemessenem
        Umfang gewährt werden können.
        Bei der Bekämpfung von Armut geht es nicht nur um
        finanzielle Transferleistungen. Dennoch müssen die
        staatlichen Leistungen so ausgestaltet sein, dass sie das
        Existenzminimum sichern. Wir stellen dies bei den aktu-
        ellen und nun für das gesamte Bundesgebiet einheitli-
        chen Regelsätzen stark infrage. Umso wichtiger wäre
        eine flexible Regelung, durch die kurzfristig dringliche
        Sonderbedarfe wenigstens bei Kindern ermöglicht wer-
        den können.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung medizinprodukterechtlicher und
        anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 17)
        Jens Spahn (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Än-
        derung medizinprodukterechtlicher und anderer Vor-
        schriften passen wir die gesetzlichen Regelungen des
        Medizinprodukterechts neuesten Entwicklungen an, be-
        heben akute Vollzugsprobleme und schließen vorsorg-
        lich Lücken für den Zivil- und Katastrophenschutz.
        Erstens. Es ist in Zukunft möglich, die vom Bund
        zum Zwecke einer möglichen Pockenschutzimpfung an-
        geschafften Impfnadeln über das darauf angegebene Ver-
        fallsdatum hinaus zu verwenden. Dies ist unschädlich,
        da nach Einschätzung der Experten die Sterilität der Na-
        deln bei entsprechender Lagerung auch nach Ablauf des
        Gewährleistungszeitraumes des Herstellers gewahrt ist.
        So können unnötige und kostspielige Neuanschaffungen
        vermieden werden. Die regelmäßige Überprüfung der
        Produkte wird von den bevorratenden Stellen sicherge-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9957
        (A) (C)
        (B) (D)
        stellt. Diese Freistellung hat sich bereits in der Ver-
        gangenheit für die Bundeswehr bewährt, welche Ihre
        Produkte von vornherein ohne Verfallsdatum beziehen
        kann.
        Zweitens wird zur Klarstellung der Erstattungspraxis
        arzneimittelähnlicher Medizinprodukte die Erstattungs-
        fähigkeit im Gesetz präzisiert. Bereits nach geltendem
        Recht sind arzneimittelähnliche Medizinprodukte, die
        im Sinne des Arzneimittelgesetzes mit Stand vom
        31. Dezember 1994 apothekenpflichtige Arzneimittel
        gewesen wären, in die Arzneimittelversorgung einbezo-
        gen. Allerdings führte diese Formulierung zu Schwierig-
        keiten in der praktischen Umsetzung, nahm sie doch auf
        einen überholten Gesetzestext Bezug. Deswegen soll der
        Gemeinsame Bundesausschuss dazu künftig in Richtli-
        nien festlegen, in welchen Fällen ausnahmsweise arznei-
        mittelähnliche Medizinprodukte in die Arzneimittelver-
        sorgung einbezogen werden. Das bedeutet, dass der
        Gemeinsame Bundesausschuss den gesetzlichen Auftrag
        erhält, eine Liste mit erstattungsfähigen arzneimittelähn-
        lichen Medizinprodukten abzufassen. Die Hersteller
        können und sollen frühzeitig die Aufnahme in die Liste
        beantragen. Um sicherzustellen, dass die Erstattungsfä-
        higkeit dieser Produkte nicht zum 30. Juni diesen Jahres
        schlagartig einbricht, haben wir auf die Anregung des
        Gemeinsamen Bundesausschusses reagiert, die Rege-
        lung umformuliert und sichergestellt, dass die Gesetzes-
        änderung erst zum 1. Juli 2008 in Kraft tritt. Dadurch
        wird auch künftig sichergestellt, dass etwa eine Mull-
        binde, die eine schmerzlindernde Salbe abgibt, von der
        gesetzlichen Krankenversicherung auch künftig nicht er-
        stattet werden muss, wenn der Gemeinsame Bundesaus-
        schuss der Auffassung ist, dass dieses Kombinationspro-
        dukt arzneimittelähnlich und etwa in seiner Wirkung der
        heute bereits nicht erstattungsfähigen Schmerzsalbe in
        Kombination mit einer einfachen Mullbinde vergleich-
        bar ist.
        In Zukunft werden wir drittens medizinprodukte-
        rechtliche Vorschriften auch auf Produkte anwenden,
        welche nicht als solche in den Verkehr gebracht, aber mit
        der Zweckbestimmung eines Medizinproduktes einge-
        setzt werden. Hierbei haben wir die begründeten Beden-
        ken einiger Sachverständiger sowie der über den Bun-
        desrat beteiligten Bundesländer als zuständige Prüf- und
        Kontrollinstanzen berücksichtigt. Es galt dabei zu be-
        rücksichtigen, dass die Überwachungs-, Dokumenta-
        tions- sowie Sicherheitsanforderungen in der prakti-
        schen, ärztlichen Anwendung durch diese Regelung
        nicht überdehnt werden und keine unnötige Bürokratie
        entsteht. Bei enger Auslegung wäre sonst womöglich so-
        gar ein Waschlappen, mit welchem einem Patienten das
        Gesicht gereinigt wird, als überwachungspflichtiges Pro-
        dukt anzusehen gewesen. Der Anwendungsbereich die-
        ser Regelung wird deswegen ausdrücklich auf solche
        Produkte eingegrenzt, für welche nach der Medizinpro-
        dukte-Betreiberverordnung sicherheits- bzw. messtech-
        nische Kontrollen vorgesehen sind. Damit werden im
        Sinne eines vorbeugenden Verbraucherschutzes in si-
        cherheitsrelevanten Bereichen alle Medizinprodukte und
        als solche verwendete Produkte künftig der Überprüfung
        unterzogen.
        Weiterhin haben wir auch im Bereich der Medizinpro-
        dukte-Sicherheitsplanverordnung im Sinne einer Entbü-
        rokratisierung Veränderungen vorgenommen. Künftig
        werden die zuständigen Behörden des Bundes für bereits
        ausreichend untersuchte Vorkommnisse Ausnahmen von
        der Meldepflicht oder eine zusammenfassende Meldung
        in regelmäßigen Zeitabständen anordnen. Damit stellen
        wir einen ressourcensparenden, risikoangemessenen
        Einsatz der personellen Kapazitäten sicher, ohne die ef-
        fektive Gefahrenabwehr zu vernachlässigen. Zudem
        wurde die Kontrollzuständigkeit des Bundesinstituts für
        Arzneimittel und Medizinprodukte im Zuge des Gesetz-
        gebungsverfahrens auf aus dem Ausland stammende Me-
        dizinprodukte beschränkt. Damit vermeiden wir im Sinne
        der Deregulierung Doppelzuständigkeiten von Bundes-
        und Landesbehörden für Produkte aus dem Inland.
        Hierneben haben wir im Omnibusverfahren einige
        Korrekturen und Ergänzungen am SGB V vorgenom-
        men, welche Inkrafttretensregelungen im GKV-Wettbe-
        werbsstärkungsgesetz korrigieren. Damit stellen wir si-
        cher, dass die erstrebten Wirkungen sich sachgerecht
        entfalten können.
        Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir im
        Sinne klarer Erstattungsregeln, unbürokratischen Ver-
        braucherschutzes und der Vorsorge für Katastrophenfälle
        wichtige Detailfragen regeln und dabei auch viele Anre-
        gungen aus der Anhörung aufgenommen haben. Daher
        freut es mich sehr, dass die gesamte Opposition dieses
        Gesetz unterstützt. Solch konstruktives Verhalten
        wünschte ich mir öfter.
        Dr. Marlies Volkmer (SPD): Wir beschäftigen uns
        heute mit der Reform des Medizinproduktegesetzes,
        einer notwendigen und sinnvollen Reform wie ich an-
        merken möchte. Die letzte Änderung des Medizinpro-
        duktegesetzes liegt bereits über drei Jahre zurück, und es
        ist müßig, darauf hinzuweisen, dass sich in einem sol-
        chen Zeitraum einige notwendige Änderungen ansam-
        meln. Dieses Gesetz steht sicherlich nicht im Mittel-
        punkt des öffentlichen Interesses. Nichtsdestoweniger ist
        es von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Un-
        ternehmen der Medizinproduktebranche, für Labore und
        natürlich für die Patientinnen und Patienten in Deutsch-
        land, die zu Recht ein Höchstmaß an Schutz durch den
        Gesetzgeber erwarten.
        Ein wichtiger Bestandteil dieser Novelle ist die Aus-
        weitung des Anwendungsbereichs des Medizinprodukte-
        gesetzes. Bisher war ein Medizinprodukt ein Produkt,
        das von seinem Hersteller als solches auf den Markt ge-
        bracht wurde, nachdem es die notwendigen Sicherheits-
        prüfungen erfolgreich durchlaufen hat, zum Beispiel
        eine Gehhilfe oder ein Katheterschlauch. Produkte, die
        zwar den Zweck eines Medizinproduktes erfüllten, aber
        von ihren Herstellern nicht als solche deklariert wurden,
        mussten die hohen Sicherheitsstandards hingegen nicht
        erfüllen. Diese Sicherheitslücke wird durch dieses Ge-
        setz nun geschlossen. So wird die Patientensicherheit in
        Deutschland nachhaltig erhöht.
        Kritiker der Ausweitung des Anwendungsbereichs
        haben die Befürchtung geäußert, dass nun auch Wasch-
        9958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        lappen oder Kühlschränke nachträglich zu Medizinpro-
        dukten gemacht würden. Dies würde die genannten Pro-
        dukte nicht nur unnötig verteuern, sondern widerspricht
        ganz einfach dem gesunden Menschenverstand. Durch
        entsprechende Änderungsanträge haben wir im Ausschuss
        für Gesundheit dieses Problem gelöst und ungewollte
        Konsequenzen der Ausweitung des Anwendungsbereichs
        ausgeschlossen. Nun können weder ein Kühlschrank
        noch ein Waschlappen nachträglich zum Medizinpro-
        dukt erklärt werden, sondern nur Produkte, die die fest-
        gelegten Kriterien eines Medizinproduktes wirklich er-
        füllen.
        Ein weiteres wichtiges Element dieses Gesetzes ist
        die Frage der Erstattung von arzneimittelähnlichen Me-
        dizinprodukten. Die Erstattung durch die gesetzliche
        Krankenversicherung war in der Vergangenheit zwar
        grundsätzlich möglich, aber die bisherige Fassung des
        betreffenden Paragrafen im Fünften Buch Sozialgesetz-
        buch hat sich in der Praxis leider nicht bewährt. In der
        Vergangenheit gab es an dieser Stelle immer wieder Un-
        sicherheiten bis hin zu Gerichtsverfahren über die Frage,
        ob ein bestimmtes Medizinprodukt von den gesetzlichen
        Krankenkassen erstattet wird. Um eine sichere und ein-
        deutige Rechtslage zu schaffen, haben wir diesen Para-
        grafen neu formuliert.
        Die Opposition kritisiert doch so häufig die angeblich
        fehlenden Bemühungen der Großen Koalition beim Bü-
        rokratieabbau. Sehen Sie sich dieses Gesetz ruhig einmal
        näher an; denn hier wird an vielen Stellen Deregulierung
        und Entbürokratisierung konsequent umgesetzt. Davon
        profitieren die betroffenen Unternehmen und letztend-
        lich die ganze Volkswirtschaft. Um nur einige Beispiele
        zu nennen: Überflüssig gewordene Regelungen zu In-
        vitro-Diagnostica werden gestrichen, nicht notwendige
        Anzeigepflichten bei Klinischen Prüfungen entfallen
        und Einrichtungen, die Medizinprodukte steril aufberei-
        ten und den Behörden bereits bekannt sind, müssen nicht
        mehr zusätzlich behördlich erfasst werden.
        Dieses Gesetz verfolgt mehrere Ziele: mehr Transpa-
        renz, Entbürokratisierung und vor allem die Erhöhung
        der Sicherheit der Medizinprodukte für die Patienten.
        Verantwortliche Gesundheits- und Verbraucherpolitik
        muss den Patientenschutz immer in den Mittelpunkt ih-
        res Handelns stellen. Diesem Grundsatz folgt dieses Ge-
        setz.
        Daniel Bahr (Münster) (FDP): Heute beraten wir
        hier im Deutschen Bundestag nicht nur über den von der
        Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
        derung medizinprodukterechtlicher und anderer Vor-
        schriften, sondern auch noch einmal über das GKV-
        WSG und hier im Speziellen über die Arbeitsweise bzw.
        die handwerklichen Fähigkeiten der Bundesregierung.
        Im sogenannten Omnibusverfahren haben Sie eine
        große Anzahl von Änderungen im GKV-WSG dem vor-
        liegenden Gesetzentwurf angehängt, um „formale“ Feh-
        ler zu beheben. Nach Ihrer Darstellung beheben die Än-
        derungen lediglich technische und redaktionelle Fehler.
        Sie sind aber vor allem ein Beleg für eine schlecht ge-
        machte Gesundheitsreform.
        So muss die Finanzierungsregelung für die Selbsthilfe
        zum 1. Januar 2008 und nicht – wie bislang in der Ge-
        sundheitsreform geregelt – zum 1. April 2007 außer
        Kraft treten, da es ansonsten zu einer Finanzierungslü-
        cke kommt. Peinlich genug!
        Was haben Sie nicht im Herbst des letzten Jahres alles
        versprochen, als Sie den Start der Gesundheitsreform um
        drei Monate verschoben haben: „Qualität geht vor
        Schnelligkeit“ konnte man landauf, landab lesen. An
        dieser Stelle möchte ich nicht über inhaltliche Fehler des
        GKV-WSG sprechen, sondern darauf hinweisen, dass
        Sie, obwohl Sie sich mehr Zeit nahmen, eine so große
        Fülle von Fehlern fabrizierten. Es ist ein Armutszeugnis,
        wenn Sie so eine Leistung abliefern. Mehrfach wurde
        diese Reform als Meisterstück der schwarz-roten Koali-
        tion angekündigt – mit dieser Leistung wären Sie kra-
        chend durch jede Gesellenprüfung gefallen.
        Die FDP-Bundestagsfraktion hatte seinerzeit in ihrem
        Entschließungsantrag zum GKV-WSG ausführlich dar-
        gelegt, warum sie dieses Gesetz ablehnt. Nun stellt sich
        hier und heute die Frage: Wie wollen wir uns hinsicht-
        lich des Gesetzes zur Änderung medizinprodukterechtli-
        cher und anderer Vorschriften verhalten?
        Wir haben immer unsere Unterstützung zugesagt,
        wenn von der Bundesregierung sachgerechte Gesetze
        vorgelegt werden. Immer dort, wo es dem Wohle des
        Patienten, der Erleichterung der Arbeit der Ärzteschaft
        und es der Unterstützung der Medizintechnologieunter-
        nehmen und damit der Sicherung von über 150 000 Ar-
        beitsplätzen dient, wird die FDP sich nicht verweigern.
        Solchen Gesetzen werden wir zustimmen.
        An dieser Stelle lohnt ein Blick in die Branche, um
        die es hier geht. Wir sprechen von hochinnovativen Un-
        ternehmen, die in über 11 000 Unternehmen insgesamt
        über 150 000 Menschen einen Arbeitsplatz bieten. Der
        Medizintechnologiemarkt in Deutschland ist nach den
        USA und Japan der drittwichtigste Markt weltweit.
        Circa 20 Milliarden Euro werden jährlich in Deutsch-
        land umgesetzt. Übrigens führt die Branche der Medi-
        zintechnik die Liste der angemeldeten Patente in
        Deutschland an, weit vor anderen Branchen. Die Unter-
        nehmen der Medizintechnik investieren 7 Prozent ihres
        Umsatzes in Forschung und Entwicklung und tragen so
        zur Arbeitsplatzsicherheit und zu innovativen Produkten
        in Deutschland bei. Das ist vorbildlich, vor allem zum
        Wohle der Patienten, denen innovative und gute Pro-
        dukte zur Verfügung stehen.
        Es ist gut und richtig, dass dieses Gesetz heute auf
        den Weg kommt. Es baut Bürokratie ab, trägt zur
        Kostenersparnis der öffentlichen Hand bei und stärkt die
        Innovationskraft der Unternehmen. Ziel des Gesetzent-
        wurfs zur Änderung medizinprodukterechtlicher und an-
        derer Vorschriften ist es unter anderem, dass Medizin-
        produkte zum Zivil- und Katastrophenschutz auch nach
        Ablauf des Verfalldatums eingesetzt werden können.
        Hervorzuheben ist das Beispiel der vom Bund zum Zwe-
        cke einer möglichen Pockenimpfung beschafften Impf-
        nadeln. Da diese Nadeln nach Einschätzung von Exper-
        ten gefahrlos auch über das Verfalldatum hinaus
        eingesetzt werden können, soll dies künftig auch recht-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9959
        (A) (C)
        (B) (D)
        lich zulässig sein, um eine unnötige und kostenintensive
        Neuanschaffung zu vermeiden. Voraussetzung ist, dass
        Qualität, Leistung und Sicherheit der Produkte weiterhin
        gewährleistet sind. Schon bisher hat die Möglichkeit be-
        standen, Medizinprodukte ohne Verfalldatum an die
        Bundeswehr abzugeben. Dies sollte nun auch für die Ab-
        gabe an die zuständigen Behörden des Bundes und der
        Länder zum Zweck des Zivil- und Katastrophenschutzes
        gelten. Befürchtungen über Qualitätsverluste haben sich
        in den Beratungen nicht bestätigt.
        Eine weitere Änderung des Medizinproduktegesetzes
        betrifft die Eigenherstellung, die speziell von In-vitro-
        Diagnostika. Zudem will die Bundesregierung mit einem
        Verzicht auf bestimmte Anzeigepflichten in Bezug auf
        klinische Prüfungen, Aufbereitung und Sonderanferti-
        gungen einen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten.
        Die Regelung der Aufnahme von Produkten in das
        Medizinproduktegesetz, die nicht originär als Medizin-
        produkte hergestellt wurden, wurde verändert. Damit
        wurde die Kritik der Fachverbände und der FDP aufge-
        nommen und eingearbeitet. Der ursprünglich geplanten
        Regelung hätten wir nicht zustimmen können. Die Aus-
        weitung wäre zu weit gegangen und hätte viel Aufwand
        in den Praxen bedeutet. Es wäre zu befürchten gewesen,
        dass selbst ein Teelöffel, den ein Arzt bei Untersuchun-
        gen nutzt, als Medizinprodukt gegolten hätte. Unsere
        Bedenken haben sich in der Anhörung bestätigt. Erfreu-
        licherweise hat die Koalition aber die Kritik aufgegriffen
        und mit einem Änderungsantrag eine praktikable und
        sachgerechte Lösung gefunden. Somit besteht nunmehr
        Klarheit, welche Produkte unter den Anwendungsbe-
        reich des Medizinproduktegesetzes fallen. Die Grenzen
        zwischen normalen Produkten und Medizinprodukten
        droht nun nicht mehr zu verwischen.
        Deswegen wird die FDP heute dem Gesetz zum
        Wohle der Patienten, der Arbeitsfähigkeit der Ärzte-
        schaft und zur Unterstützung der Medizintechnologie-
        branche zustimmen. Ich betone aber ausdrücklich, dass
        die Zustimmung zum Gesetz keine Zustimmung zur ver-
        korksten Gesundheitsreform ist.
        Frank Spieth (DIE LINKE): In dem Gesetz ist mehr
        drin, als draufsteht. Es werden im Huckepackverfahren
        gleichzeitig handwerkliche Fehler des GKV-Wettbe-
        werbsstärkungsgesetzes korrigiert. So beseitigt die Re-
        gierung die offensichtlichen Macken, die im Gesetz
        reichlich Platz gefunden haben. In den Änderungsanträ-
        gen werden Fristen verschoben und Rechtschreibfehler
        behoben. Da diese Änderungen für sich gesehen schlüs-
        sig sind, stimmen wir ihnen zu. An unserer grundsätzlich
        ablehnenden Haltung zum WSG halten wir aber weiter
        fest, denn mit dieser „Reform“ wird ein Systemwechsel
        vollzogen. Willentlich wird die Solidarität preisgegeben,
        indem junge und gesunde Versicherte auf kostenspa-
        rende Teilkaskotarife ausweichen, während ältere und
        chronisch kranke Versicherte keine Chance auf solche
        Rabattangebote haben und weiter „Vollkasko“ zahlen
        müssen. Damit wird die Solidargemeinschaft zerfallen.
        Trotz der nun bestehenden Möglichkeit, wieder in die
        alte Krankenkasse aufgenommen zu werden, sind von
        den betroffenen 300 000 Menschen, die in Deutschland
        ohne Versicherungsschutz sind, immer noch circa
        295 000 unversichert. Sie müssen sich vor jeder Erkran-
        kung, jeder Verletzung fürchten, weil ein Beinbruch zum
        persönlichen Bankrott führen kann. Denn sie können
        sich im wahrsten Sinne des Wortes die Beiträge nicht
        leisten. Arbeitslose, die aus Furcht vor Arbeitslosen-
        geld II in die Selbstständigkeit gegangen sind, haben oft
        nur 700 bis 800 Euro brutto und müssen davon 200 Euro
        Krankenversicherungsbeitrag und die Miete zahlen. Da
        bleibt zum Leben nichts mehr übrig.
        Doch nun zum eigentlichen Gesetzentwurf. Von dem
        Medizinprodukterecht werden in Deutschland über
        500 000 Medizinprodukte mit einem geschätzten Jahres-
        umsatz von etwa 23 Milliarden Euro erfasst. Ein be-
        trächtlicher Markt, der für die Industrie wie auch für die
        Nutzer von großem Interesse ist. Angefangen bei einem
        Verband bis hin zu Operationsrobotern – alle Gerätschaf-
        ten, die für die Behandlung von Patienten zum Einsatz
        kommen, werden auf dieser Grundlage zugelassen und
        überprüft. Das ist notwendig, ist allerdings in seiner An-
        wendung oftmals schwerfällig. Deshalb sollte das Medi-
        zinproduktegesetz mit diesem Entwurf entbürokratisiert
        und dereguliert werden. Aber was hier vorgelegt wird,
        führt nach Meinung vieler der in der Ausschussanhörung
        vertrenen Experten mitnichten zu einer Vereinfachung.
        Stattdessen werden nun auch Geräte, die bisher nicht als
        Medizinprodukte gehandelt werden, unter dieses Gesetz
        fallen. So muss der Arzt ein Fahrradergometer, mit dem
        er Belastungs-EKGs durchführt, nun ebenfalls regelmä-
        ßig überprüfen lassen. Ein Mehr an Sicherheit kann ich
        daran nicht erkennen, aber die beträchtlichen Mehrkos-
        ten, die eine Zertifizierung mit sich bringt, sehe ich
        wohl. Ist dieses Vorgehen entbürokratisierend, deregu-
        lierend und im Sinne der Nutzer?
        Für Patienten ist das Medizinproduktegesetz wegen
        der Sondennahrung zur künstlichen Ernährung von be-
        sonderem Interesse. Denn nur, wenn das entsprechende
        Präparat auf der Ausnahmeliste der arzneiähnlichen Me-
        dizinprodukte steht, kann es auch von der Krankenkasse
        erstattet werden. Patientenverbände mahnen an, dass die
        im Entwurf genannte Liste nicht ausreichend sei. Der
        Gemeinsame Bundesausschuss soll nun diese Liste über-
        prüfen und gegebenenfalls ergänzen. Wir unterstützen
        ausdrücklich die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbst-
        hilfe, die zu Recht auf dieses Problem aufmerksam ge-
        macht hat, und werden genau überprüfen, welche Konse-
        quenzen der Gemeinsame Bundesausschuss aus diesem
        Auftrag zieht.
        Für den Katastrophenschutz wird es demnächst mög-
        lich sein, Spritzen und Verbände auch dann zu verwen-
        den, wenn diese Medizinprodukte bereits das Haltbar-
        keitsdatum überschritten haben. Es mag ja sein, dass
        besondere Situationen besondere Maßnahmen erfordern.
        Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen,
        dass eines der reichsten Länder der Welt sich ausgerech-
        net für den Katastrophenfall gesundsparen möchte! Un-
        ter anderem wegen der vorgenannten Gründe wird meine
        Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
        9960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Kaum ist die Gesundheitsreform in Kraft, be-
        schäftigt sie uns schon wieder. Die Koalition wollte die
        Diskussion um die misslungene Reform so schnell wie
        nur irgend möglich beenden. Deshalb hat sie auf der
        Zielgeraden des Gesetzgebungsverfahrens mehr auf
        Schnelligkeit als auf Sorgfalt gesetzt. Die Folgen sind
        offensichtlich: Eine schier unübersehbare Zahl von tech-
        nischen Fehlern. Diese Schludrigkeiten haben die Bera-
        tungen zum eigentlichen Inhalt des vorliegenden Geset-
        zesentwurfs stark behindert. Die Koalition hat die vielen
        Flicken, die sie noch auf das GKV-Wettbewerbsstär-
        kungsgesetz zu kleben hatte, einfach an den Gesetzes-
        entwurf angehängt. Damit werden aber zwei Gesetzes-
        materien vermischt, die überhaupt nichts miteinander zu
        tun haben. Alleine dieses Vorgehen würde schon eine
        Ablehnung des Gesetzentwurfes rechtfertigen.
        Inhaltlich sind die diversen Änderungen der Gesund-
        heitsreform unproblematisch. Allerdings sollen sie ein
        Gesetz nachbessern, das wir aus guten Gründen abge-
        lehnt haben. Hinsichtlich des eigentlichen Anliegens des
        Gesetzesentwurfs – der Änderung des Medizinprodukte-
        gesetzes – wechseln Licht und Schatten. Zu begrüßen
        sind die Regelungen, die den Patientenschutz verbes-
        sern. Dazu gehört die bessere Kontrolle von Geräten, die
        nicht als Medizinprodukte hergestellt wurden, aber in
        Krankenhäusern und Praxen als solche angewendet wer-
        den. Sinnvoll ist auch die Regelung, dass künftig auch
        mittelbare Gefährdungen durch ein Medizinprodukt
        durch das Gesetz erfasst werden. Zu begrüßen ist auch
        die Beendigung von Rechtsunsicherheiten bei der Erstat-
        tung arzneimittelähnlicher Medizinprodukte. Allerdings
        wird man genau beobachten müssen, wie sich die vorge-
        sehene Listung durch den Gemeinsamen Bundesaus-
        schuss auf die Leitungsansprüche der Patientinnen und
        Patienten auswirkt. Auch die erweiterten Handlungs-
        spielräume für die Eigenherstellung von In-vitro-Dia-
        gnostika sind grundsätzlich richtig. Allerdings ist der
        Begriff „Medizinprodukte aus Eigenherstellung“ zu un-
        bestimmt. Hier wären deutlichere Anforderungen erfor-
        derlich gewesen, um für die notwendige Rechtssicher-
        heit zu sorgen.
        Aus Sicht des Patientenschutzes problematisch ist die
        Regelung, dass Medizinprodukte, die für Krisen- und
        Katastrophenfälle angeschafft werden, auch nach Ablauf
        des Verfallsdatums verwendet werden können. Die Be-
        dingung, „dass Qualität, Leistung und Sicherheit der
        Medizinprodukte gewährleistet sind“, ist rechtlich zu un-
        bestimmt. Es braucht klare Vorgaben für anzuwendende
        Kontrollverfahren. Falsch ist auch, dass der Zugang zur
        Datenbank des DJMDI auf Behörden beschränkt werden
        soll. Damit geht Transparenz gerade auch für Patientin-
        nen und Patienten verloren.
        Wir werden den Gesetzesentwurf ablehnen. Die Än-
        derungen des Medizinprodukterechts werden an einigen
        Stellen zu neuen Rechtsunsicherheiten führen. Für mehr
        Transparenz auf dem unübersichtlichen Markt für Medi-
        zinprodukte wird nichts getan.
        Rolf Schwanitz, Parlamentarischer Staatssekretär
        bei der Bundesministerin für Gesundheit: Wir beschlie-
        ßen heute das Gesetz zur Änderung medizinprodukte-
        rechtlicher und anderer Vorschriften. Mit diesem Gesetz
        werden im Bereich des Medizinprodukterechts einige
        Punkte neu geregelt bzw. klargestellt, die in den letzten
        Jahren Probleme im praktischen Vollzug bereitet haben.
        Außerdem werden Aufgaben von Behörden des Bundes
        neu geordnet, um sie künftig unbürokratischer zu erledi-
        gen. In Teilbereichen der Anzeigepflichten wird zudem
        dereguliert. Wir führen außerdem eine Ausnahme-
        regelung in das Medizinproduktegesetz für Krisen- und
        Katastrophenfälle ein, die hilft, unnötige Ausgaben zu
        vermeiden.
        Näher eingehen möchte ich auf drei Punkte, die in der
        Anhörung des Gesundheitsausschusses am 28. März
        2007 intensiv diskutiert wurden. Neben Medizinproduk-
        ten werden auch andere Produkte mit der Zweckbestim-
        mung eines Medizinproduktes eingesetzt. Ein Beispiel:
        Der Arzt setzt ein Fahrradergometer aus dem Fitnessbe-
        reich für die Erstellung eines Belastungs-EKGs in seiner
        Praxis ein. Da dieses Produkt jedoch nicht als Medizin-
        produkt in Verkehr gebracht wurde, können die für Me-
        dizinprodukte geforderten messtechnischen Kontrollen
        für diese Produkte bisher nicht verlangt werden, obwohl
        die Messgenauigkeit hier von großer Bedeutung für
        Diagnose und Therapie ist. Hier wurde in der Anhörung
        vorgetragen, dass künftig angeblich zum Beispiel Tee-
        löffel, Waschlappen und Kühlschränke zu Medizinpro-
        dukten gemacht würden. Mein Kommentar: Das war nie
        beabsichtigt. Um dies für jedermann klarzustellen,
        wurde die Regelung aber überarbeitet. Durch die Ein-
        schränkung der Erweiterung des Anwendungsbereichs
        auf Produkte mit hoher Sicherheitsrelevanz sowie auf
        bestimmte, insbesondere für die Diagnostik wichtige
        Produkte mit Messfunktion erreichen wir drei Dinge:
        Erstens. Ein Arzt darf auch weiterhin im Rahmen seiner
        Therapiefreiheit Nichtmedizinprodukte einsetzen. Zwei-
        tens. Der vorbeugende Patientenschutz wird verbessert.
        Drittens. Eine Überregulierung wird verhindert.
        Auf eine neue rechtliche Grundlage wird künftig auch
        die Erstattung sogenannter arzneimittelähnlicher Medi-
        zinprodukte gestellt. Der Gemeinsame Bundesaus-
        schuss (G-BA) soll in Richtlinien nach § 92 SGB V die
        erstattungsfähigen Produkte listen. Den in der Anhörung
        vorgetragenen Bedenken gegen eine entsprechende An-
        wendung von § 34 Abs. 1 Satz 1 bis 3 SGB V wurde
        durch einen Änderungsantrag Rechnung getragen. Diese
        Produkte müssen nicht der Behandlung einer schwerwie-
        genden Erkrankung als Therapiestandard dienen. An-
        sonsten gelten die Ausschlusskriterien für Arzneimittel
        entsprechend. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss
        wird ein Jahr Zeit gegeben, die Richtlinien zu erarbeiten.
        Dies kann aber nur gelingen, wenn die Hersteller früh-
        zeitig entsprechend § 34 Abs. 6 SGB V Anträge an den
        Gemeinsamen Bundesausschuss stellen. Der letzte Punkt
        betrifft die hauseigene Herstellung von In-vitro-
        Diagnostika. Wir brauchen eine Regelung, welche die
        Belange von Patienten, Gesundheitseinrichtungen und
        Herstellern ausgewogen berücksichtigt. Unser Aus-
        gangs- und Zielpunkt ist stets die Gesundheit der Bürge-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9961
        (A) (C)
        (B) (D)
        rinnen und Bürger. Die Eigenherstellung in Gesundheits-
        einrichtungen ist wichtig und anerkannt – nicht nur für
        Tests zur Erkennung „seltener Erkrankungen“. Sie ist
        ebenso wichtig für die Neu- und Weiterentwicklung von
        Diagnostika, die bereits auf dem Markt erhältlich sind.
        Produkte aus Eigenherstellung müssen die gleichen An-
        forderungen im Hinblick auf Sicherheit und Leistungsfä-
        higkeit erfüllen wie kommerzielle Produkte. Soweit die
        Eigenherstellung in einem überschaubaren Rahmen
        stattfindet, genügt aber ein vereinfachtes Verfahren zum
        Nachweis, dass die Produkte die gesetzlichen Anforde-
        rungen erfüllen. Spielt sich die Herstellung allerdings in
        einem industriellen Maßstab ab, gelten die gleichen Be-
        dingungen, die auch für die Diagnostikaindustrie gelten.
        Diese Neuregelung ermöglicht Innovation, ohne die Si-
        cherheit von Patienten zu gefährden.
        Mein Dank gilt allen Beteiligten. Wir haben in einem
        positiven Miteinander kontrovers diskutierte Punkte zu
        einer weitgehend einvernehmlichen Lösung geführt. Ich
        bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag: Energieeinsparverord-
        nung zügig verabschieden – Energieausweis als
        Bedarfsausweis einführen (Tagesordnungs-
        punkt 18)
        Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Die Bundes-
        gartenschau 2007 in Gera, in Ronneburg und im Land-
        kreis Greiz hat in diesen Tagen ihre Pforten erfolgreich
        geöffnet. Bei diesem Großereignis in meiner Thüringer
        Heimat sieht man, dass Umweltschutz und die Bewah-
        rung der Schöpfung in allen gesellschaftlichen Berei-
        chen und Branchen einen hohen Stellenwert haben.
        Zur Frage, was die Buga mit der Energieeinsparver-
        ordnung – EnEV 2006 – zu tun hat, sage ich, nicht ohne
        ein Augenzwinkern:
        Erstens. Ich wäre ein schlechter Patriot, wenn ich die-
        ses Ereignis im Herzen meiner ostthüringer Heimat nicht
        erwähnte.
        Zweitens. Wesentlicher ist, dass die Buga ein hervor-
        ragendes Beispiel dafür ist, wie Menschen einer ge-
        schundene Natur und Landschaft zu neuem Glanz und
        im wahrsten Sinne des Wortes zu neuer Blüte verholfen
        haben.
        Drittens. Die nachwachsenden Rohstoffe sind ein
        wichtiges Themenfeld dieser Bundesgartenschau.
        Man sollte selbst kommen und sich anschauen, was
        man tun kann, um dem Klimawandel aktiv entgegenzu-
        wirken.
        Auch der Entwurf der Novelle zur EnEV ist ein Bei-
        trag dazu. Sie wurde vom Kabinett beschlossen. Mit der
        Einführung von Energieausweisen für Bestandsgebäude
        wurde eine sachgerechte Lösung für die Frage der Wahl-
        freiheit bei den Energiesparausweisen gefunden.
        Ich möchte in diesem Zusammenhang deutlich ma-
        chen, dass man einzelne Bestandteile unserer Klima-
        schutzanstrengungen, wie der EnEV, niemals isoliert be-
        trachten darf. Aus Sicht meiner Fraktion dürfen wir auf
        keinen Fall den Blick für die Gesamtzusammenhänge
        verlieren.
        Der beste Klimaschutz besteht darin, erstens dafür zu
        sorgen, dass weniger Energie verbraucht wird; denn
        Energiesparen ist die beste und billigste Maßnahme zum
        Klimaschutz. Deshalb kommt es zweitens darauf an, die
        benötigte Energie so effizient wie möglich zu nutzen.
        Energiesparen und Energieeffizienz werden drittens
        durch die Verwendung erneuerbarer Energien ergänzt.
        Neben der Energieeinsparverordnung gibt es eine
        Reihe von Instrumenten, die diesen richtigen Ansatz um-
        setzen. Um nur einige zu nennen: das CO2-Gebäude-
        sanierungsprogramm, das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
        EEG, und das Marktanreizprogramm.
        Bürger und Unternehmen in Deutschland haben in
        den letzten Jahren sowohl im privaten als auch im öf-
        fentlichen Bereich freiwillig viel getan, um durch spar-
        samen Verbrauch von Energie, bauliche Veränderungen
        und CO2-neutrale erneuerbare Energien einen Beitrag
        zum Klimaschutz zu leisten. Daran sieht man: Die beste-
        henden Instrumente wirken. Die Menschen verstehen, in
        der Praxis damit umzugehen und sie anzuwenden. Wir
        sollten also vorsichtig sein, wenn wir weitere Instru-
        mente entwickeln, damit wir die Nutzer nicht überfor-
        dern.
        Vielmehr müssen wir bestehende Instrumentarien
        fortschreiben, vereinfachen und ihre Finanzierung lang-
        fristig sicherstellen und verstetigen.
        Wir müssen uns immer vor Augen führen: Energie-
        verbrauch und -nutzung sind für die Menschen nicht die
        einzigen Probleme, die sie zu bewältigen haben. Deswe-
        gen dürfen wir sie nicht mit bürokratischen Anforderun-
        gen überfrachten und sie im Rahmen ordnungspoliti-
        scher Maßnahmen ständig überwachen und maßregeln.
        Eine Energiepolizei – wenn man das so nennen darf –
        lehnt die Union ab; eine solche wäre kontraproduktiv.
        Den Menschen würde die Eigeninitiative verleidet, mit
        der sie schon jetzt erfolgreich Maßnahmen gegen den
        Klimawandel ergriffen haben.
        Die Einführung des Energieausweises, der in Umset-
        zung einer EU-Richtlinie erfolgte, dokumentiert die Er-
        folge, gleichzeitig aber auch die noch vorhandenen
        Schwachstellen. Nach Auffassung der Union muss der
        Energieausweis objektiv und einfach verständlich Aus-
        kunft über den wesentlichen energetischen Zustand eines
        Gebäudes geben. Er muss ohne bürokratischen Aufwand
        erstellt werden können und auch für den schmalen Geld-
        beutel erschwinglich bleiben.
        Da die Praktiker unter uns wissen, dass jeder Haus-
        eigentümer ohnehin eine Energieanalyse für sich macht,
        ist es richtig, dass der Energieausweis nur bei Vermie-
        tung oder Verkauf erforderlich wird. Für Gebäude, die
        9962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        der Wärmeschutzverordnung von 1977 oder vergleich-
        baren Richtlinien entsprechen, ist der Energieausweis
        auf Verbrauchsgrundlage ausreichend, ebenso bei mehr
        als fünf Wohnungen, da hier das subjektive Wohnverhal-
        ten eine geringere Rolle spielt.
        Der teurere Energiebedarfsausweis soll nur bei Woh-
        nungen erforderlich sein, die den beschriebenen Wärme-
        dämmstandard nicht erfüllen. Hier war es gerade unser
        Interesse, die Eigentümer von kleineren Häusern, die
        sich schon in der Vergangenheit um die energetische Sa-
        nierung ihrer Häuser gekümmert haben, nicht durch
        teure Energiebedarfsausweise unnötig zu belasten.
        Mit der Regelung in der vorliegenden Novelle haben
        wir dafür Sorge getragen, dass der notwendige Ausweis
        finanziell erschwinglich bleibt. Vielleicht nicht für je-
        den, aber doch für den Großteil der Hauseigentümer
        macht es durchaus einen Unterschied, ob man 50 Euro
        oder 500 Euro dafür aufwenden muss. Da zieht auch das
        Argument, das Haus werde ja vermietet oder verkauft,
        wenig; denn Kosten sind Kosten. Es gilt, sie stets vor-
        sichtig zu planen und zu kalkulieren. Überbordende
        Bürokratieausgaben würden dafür sorgen, dass für den
        eigentlichen Zweck, nämlich die energetische Sanie-
        rung, Mittel fehlen.
        Erklärte Ziele der Union sind Planungssicherheit und
        Verlässlichkeit für die Menschen. Mit einer Übergangs-
        frist von zehn Jahren bei der Gültigkeit aller Energieaus-
        weise können Hauseigentümer planen.
        Da sich der Kabinettsbeschluss zur EnEV-Novelle in
        das Jahr 2007 hinein verzögert hat, halte ich die verein-
        barte vollständige Wahlfreiheit bis zum Inkrafttreten der
        geänderten Verordnung am 1. Januar 2008 für zu kurz.
        Bleibt es bei der Frist, könnte es zu einem Antragsstau
        kommen; die Kapazitäten zur Erstellung der Bedarfsaus-
        weise sind vielleicht nicht ausreichend. Die Preise für
        die Ausfertigung könnten steigen; die Qualität der Er-
        arbeitung könnte sinken. Das wollen wir alle nicht.
        Eine angemessene Fristverlängerung kann die mögli-
        chen Missstände minimieren. Solche Forderungen aus
        der Wohnungswirtschaft, den Verbänden der Hauseigen-
        tümer sowie aus den Ländern sollten ernst genommen
        werden.
        Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, dass wir mit
        den vorhandenen Instrumenten in der Lage sind, unsere
        ehrgeizigen klimapolitischen Ziele zu realisieren. So ha-
        ben wir uns vorgenommen, bis 2020 den CO2-Ausstoß
        um mindestens 30 Prozent, gegenüber 1990, zu reduzie-
        ren. Unser Ziel prägte auch wesentlich den Klimagipfel
        im März: Die EU strebt bis 2020 ebenfalls eine Verringe-
        rung um 30 Prozent an.
        Darum sollten wir die Diskussion der nächsten Mo-
        nate dafür nutzen, notwendige Maßnahmen und mögli-
        che Entwicklungsschritte in die bestehenden Instrumente
        einzuarbeiten und nicht neue bürokratische Gebilde aus
        dem Boden zu stampfen. Eine weitere Novellierung die-
        ser EnEV ist dazu ein wichtiger Baustein.
        Die materiellen Anforderungen werden steigen. Das
        Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
        lung hat daher ein Gutachten in Auftrag gegeben, dessen
        Erkenntnisse in eine weitere Novellierung einfließen.
        Die EnEV ist auch der richtige Platz, um Regelungen
        für die Anwendung regenerativer Wärmeenergie zu for-
        mulieren und Förderkriterien festzuschreiben. Geson-
        derte Gesetze sind daher nicht erforderlich.
        Rainer Fornahl (SPD): Die Bundesregierung hat am
        25. April eine Verordnung zur Energieeinsparung be-
        schlossen und darin den Handlungsrahmen für die Aus-
        stellung von Energieausweisen für den Gebäudebestand
        festgelegt. Damit hat sich ein Teil der Forderungen in
        dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, beispielsweise
        die Forderung, den Energieausweis Mietern oder Käu-
        fern auszuhändigen, erledigt. Die Berücksichtigung wei-
        terer Forderungen ginge über eine 1:1-Umsetzung der
        zugrunde liegenden EU-Richtlinie 2002/91/EG über die
        Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden hinaus, würde zu
        Verzögerungen bei der Verabschiedung der novellierten
        Energieeinsparverordnung und erheblichen Mehrkosten
        führen. Allein der Vorschlag, einen Ortstermin zwingend
        vorzuschreiben, würde wesentliche Bemühungen um
        eine kostenverträgliche Ausgestaltung der Energieaus-
        weise zunichtemachen und die Mindestkosten wenigs-
        tens verdoppeln. Auch die Einführung eines Zertifizie-
        rungsverfahrens wäre eine unnötige bürokratische
        Zusatzbelastung. Die Richtlinie fordert dies nicht,
        ebenso wenig Vorgaben zum Einsatz erneuerbarer Ener-
        gien. Hier gibt es Anreize durch die EnEV, das EEG und
        weitere Förderprogramme, sodass es keiner zusätzlichen
        Regelung bedarf.
        Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass der sparsame
        und effiziente Umgang mit Energie unabdingbare Vo-
        raussetzung für eine sichere und kostengünstige Energie-
        versorgung ist, und dass in gleichem Maße Ressourcen
        und Klima geschont werden müssen. Ohne Zweifel ist
        der Gebäudebereich dabei von zentraler Bedeutung. Hier
        gibt es ein großes Potenzial, Energie einzusparen und et-
        was für den Klimaschutz zu tun, indem wir die CO2-
        Emissionen minimieren. Knapp 40 Prozent der gesamten
        deutschen Endenergie geht in Gebäuden drauf, im We-
        sentlichen für die Heizung. Und drei Viertel der deut-
        schen Wohngebäude sind älter als 30 Jahre; sie liegen
        damit außerhalb aller Wärmeschutzregeln, die erst 1977
        erlassen wurden. Das geht am Klima nicht spurlos vor-
        bei: In deutschen Heizungskellern entsteht annähernd so
        viel CO2 wie im Autoverkehr. Durch Maßnahmen zur
        energetischen Gebäudesanierung kann der Ausstoß von
        Kohlendioxid in diesem Feld binnen zehn Jahren um
        30 Prozent reduziert werden. Es lassen sich bis 2020
        rund 40 Milliarden Euro Energiekosten sparen. Dies ent-
        spricht einer Einsparung von 500 Euro jährlich für eine
        80-Quadratmeter-Wohnung.
        Die jetzige Novelle der EnEV ist ein wichtiger Schritt
        in diese Richtung. Die künftigen Energieausweise mit
        ihren Modernisierungsempfehlungen zeigen, wie viele
        Kilowattstunden Energie pro Quadratmeter und Jahr nö-
        tig sind, um die Räume von Gebäuden zu heizen und
        warmes Wasser zu erzeugen. Dadurch wird es Mietern
        und Käufern künftig erleichtert, die anstehenden Neben-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9963
        (A) (C)
        (B) (D)
        kosten abzuschätzen. Gleichzeitig wird mit dem neuen
        Energieausweis ein Anreiz geschaffen, Gebäude so zu
        sanieren, dass danach Energie gespart und besser genutzt
        wird. Ziel ist es auch, den Ausstoß von Kohlendioxid zu
        verringern. Zwei verschiedene Verfahren werden ver-
        wendet, um Energieausweise zu erstellen. Der Ver-
        brauchsausweis wertet die Energieabrechnungen von
        drei Jahren aus. Den Bedarfspass errechnen Energiebera-
        ter nach einer Untersuchung der Bausubstanz. Es gab
        dazu Kritik von verschiedenen Seiten, insbesondere aus
        der Wohnungswirtschaft.
        Die Bundesregierung hat in dieser Frage einen Kom-
        promiss beschlossen. Für alle nicht modernisierten Ge-
        bäude, die vor 1977, also vor der ersten Wärmeschutz-
        verordnung, gebaut wurden, gilt der bedarfsorientierte
        Ausweis zwingend, wenn es in diesem Gebäude weniger
        als fünf Wohnungen gibt. Für alle anderen Gebäude be-
        steht Wahlfreiheit. Mit diesem Kompromiss wurde,
        glaube ich, eine ausgewogene Lösung gefunden, die so-
        wohl dem Anliegen der fachlichen Aussagekraft des
        Energieausweises und dem Anliegen einer ausreichen-
        den Berücksichtigung der Kostenseite angemessen
        Rechnung trägt. Gleichzeitig ist der Kompromiss ein
        Spiegelbild dessen, was mit dem Energieausweis be-
        zweckt wird: mehr Transparenz auf dem Immobilien-
        markt. Der Kauf- und Mietinteressent soll energetisch
        schlechte Gebäude erkennen können. Der Eigentümer
        soll Anreize zur sinnvollen energetischen Sanierung be-
        kommen. Vor diesem Hintergrund ist die mit dem Kom-
        promiss gefundene Grenzziehung bei der Anwendung
        von Bedarfs- und Verbrauchsausweis zu verstehen. Der
        Bedarfsausweis hat gerade bei Gebäuden mit wenigen
        Wohneinheiten Vorteile, weil seine Aussagegenauigkeit
        größer ist und er nicht das Nutzerverhalten abbildet.
        Wenn kleine Gebäude jedoch unter dem Regime der
        Wärmeschutzverordnung, also ab Ende 1977 oder später
        errichtet oder entsprechend modernisiert worden sind,
        weisen sie bereits eine bessere energetische Qualität
        auf, sodass für sie der Verbrauchsausweis ausreichend
        ist.
        Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der bedarfsorien-
        tierte Ausweis flächendeckend durchsetzen wird, ist
        meines Erachtens groß, denn wer künftig staatliche Gel-
        der für die Gebäudesanierung in Anspruch nehmen will,
        braucht den Bedarfsausweis. Deshalb muss man die no-
        vellierte EnEV im Zusammenhang mit dem CO2-Gebäu-
        desanierungsprogramm sehen. Die EnEV schafft Trans-
        parenz und stellt Forderungen an den Vermieter oder
        Verkäufer. Das Gebäudesanierungsprogramm bietet Un-
        terstützung, sodass tatsächlich saniert werden kann. Im
        Jahr 2006 sind über die KfW 1,5 Milliarden Euro geflos-
        sen. Es wurden 265 000 Wohneinheiten saniert. Dadurch
        sparen wir rund 1 Million Tonnen CO2-Emissionen ein.
        Die beschlossene Novellierung der EnEV ist ein
        wichtiger Beitrag zu mehr Energieeffizienz, wir dürfen
        aber hier nicht stehenbleiben. Die Ankündigung von
        Verkehrsminister Tiefensee, die Energieeinsparverord-
        nung im kommenden Jahr weiter zu verschärfen, die
        Standards für Neugebäude anzuheben und die Energie-
        effizienz um bis zu 30 Prozent zu verbessern, ist jeden-
        falls uneingeschränkt zu begrüßen.
        Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir haben ges-
        tern im Bauausschuss lange über Klimaschutz und damit
        verbundene Fragen der Reduzierung von CO2-Emissio-
        nen gesprochen. Wir sind uns auch alle darin einig, dass
        vor allem der Bausektor dazu einen gewaltigen Beitrag
        leisten kann. Immerhin stammen mehr als 40 Prozent der
        CO2-Emissionen aus dem Gebäudebereich. Also nicht
        nur, weil wir ohnehin durch die EU-Richtlinie (Energie-
        effizienzrichtlinie 2002/91/EG) verpflichtet sind, diese
        in nationales Recht umzusetzen, sondern auch, weil es
        ein Gebot der Zeit und eine Pflicht gegenüber nachkom-
        menden Generationen ist, müssen wir uns diesen Fragen
        zuwenden.
        Im September 2005 ist das 2. Änderungsgesetz zum
        Energieeinsparungsgesetz in Kraft getreten, das die Er-
        mächtigungsgrundlage für die Einführung eines Energie-
        ausweises durch Verordnung der Bundesregierung ent-
        hält. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, können sich
        sicher noch alle gut daran erinnern, wie schwierig es
        war, Konsens zu Fragen des Energieausweises im Ener-
        gieeinsparungsgesetz zu finden. Die FDP hat sich seiner-
        zeit – damals noch gemeinsam mit der Fraktion der
        CDU/CSU – dafür stark gemacht, dass das Gesetz die
        Wahlfreiheit zwischen Bedarfs- und Verbrauchsausweis
        vorsieht und dass der Energieausweis lediglich Empfeh-
        lungen ohne Sanktionscharakter haben soll. Mit beiden
        Forderungen haben wir uns damals durchgesetzt. Mit
        dem heute hier vorliegenden Antrag der Grünen soll eine
        dieser beiden Regelungen, nämlich die Wahlfreiheit,
        wieder rückgängig gemacht werden. Dieselbe Forderung
        ist der Grund, weshalb wir erst jetzt, mehr als eineinhalb
        Jahre nach Inkrafttreten des 2. Änderungsgesetzes zum
        Energieeinsparungsgesetz, über Inhalte eines Energie-
        ausweises reden können, denn seit Anfang 2006 hatte
        der Bundesumweltminister versucht, das Gesetz zu kon-
        terkarieren, indem er – wie jetzt die Grünen mit ihrem
        Antrag – die Wahlfreiheit wieder aufheben und stattdes-
        sen die Einführung des Bedarfsausweises durchsetzen
        wollte.
        Das sieht die mir seit vorgestern nun vorliegende Fas-
        sung der Energieeinsparverordnung zum Glück nicht
        vor. Sie beschränkt zwar ab dem 1. Januar 2008 für
        einige Gebäudetypen diese absolute Wahlfreiheit, aber
        damit können wir als FDP leben. Die FDP begrüßt vor
        allem, dass der Verordnungsentwurf klar herausstellt,
        dass die mit einem Energieausweis gegebenen Empfeh-
        lungen keine rechtlichen Sanktionen nach sich ziehen für
        den Fall, dass der Gebäudeeigentümer diese nicht um-
        setzt. Es ist richtig, es dem Wettbewerb der Gebäude-
        eigentümer untereinander zu überlassen, wann sie in
        welchem Umfang Maßnahmen zur Energieeinsparung
        unternehmen. Die Marktpreise beim Verkauf oder der
        Vermietung von Immobilien werden das konkrete Ver-
        halten der Eigentümer steuern – davon bin ich persönlich
        fest überzeugt. Einer staatlichen Reglementierung bedarf
        es deshalb nicht. Die mit dem Antrag der Grünen gefor-
        derte Ortsbesichtigung durch den Gutachter halten wir
        für ein zusätzliches bürokratisches Monster, das außer-
        dem den Energieausweis verteuern würde.
        Aus den genannten Gründen wird dem Antrag der
        Grünen nicht zugestimmt.
        9964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Schon am Beginn die-
        ser Legislaturperiode hatte Die Linke in ihrem Antrag
        „Die zukünftige Energieversorgung sozial und ökolo-
        gisch gestalten“ die Einführung des bedarfsorientierten
        Energieausweises für Gebäude gefordert. Nach EU-Vor-
        gabe hätte der Energiepass schon Anfang 2006 Pflicht
        sein müssen. Aber nach guter Gewohnheit der Großen
        Koalition, Warten statt Taten, wurde auch dieses Vorha-
        ben um eineinhalb Jahre verschleppt. Dieses Problem
        zieht sich wie ein roter Faden durch die Legislatur: Es
        wird viel angekündigt beim Klimaschutz, tatsächlich ge-
        macht wird wenig. Ich nenne nur KWK-Novelle, regene-
        ratives Energien-Gesetz und Emissionshandel.
        Nun hat die Regierung die Verordnung vorgelegt.
        Doch das Ergebnis ist das Papier nicht wert, auf dem der
        Text geschrieben steht. Mit wirksamem Klimaschutz hat
        das nichts zu tun.
        Der Wahl-Energiepass ist doch Augenwischerei,
        meine Damen und Herren von der Regierungskoalition.
        Das ist ein fauler Kompromiss und ein Kniefall vor der
        Immobilienlobby. Denn genau die hat eine Wahl, der
        einfache Häuslebauer nicht. Ihr Energieausweis führt
        zum Missbrauch und nicht zu sinkenden Nebenkosten.
        Wie viel Energie ein Gebäude tatsächlich verbraucht,
        werden Wohnungsnutzer auch in Zukunft nicht wissen.
        Wesentliche Beiträge zum Klimaschutz sind deshalb
        auch nicht zu erwarten.
        Das Problem: Die meisten Gebäudeeigner brauchen
        lediglich die Verbrauchswerte der letzten Jahre anzuge-
        ben. Das sagt aber nur wenig über ein Gebäude aus. Das
        zeigt nur an, wie sich der Vormieter beim Heizen verhal-
        ten hat. Denn der Energieverbrauch kann je nach Nutzer-
        verhalten um 50 Prozent schwanken. Vielleicht kann
        Herr Schäuble die Daten für seine innere Sicherheit ge-
        brauchen, den Verbraucherinnen und Verbrauchern sa-
        gen die Zahlen nur wenig.
        Die Linke fordert deshalb aus gutem Grund einen Be-
        darfs-Energiepass, der den Energiebedarf eines Hauses
        vergleichbar darstellt. Dabei werden verwendete Bau-
        stoffe und Heizungstechniken auf fachlichen Grundla-
        gen bewertet. Gleichzeitig müssen Defizite bei der
        Wärmesanierung angezeigt und Vorschläge zur Energie-
        einsparung gemacht werden. Das macht Sinn, denn ein
        Energiepass für Gebäude muss den Mietern helfen, kost-
        spielige Wohnungen von denen mit guter Wärmedäm-
        mung und sparsamer Heizung zu unterscheiden.
        Die Kollegen von der CDU/CSU hatten ja angeführt,
        dass bei einem Bedarfs-Energiepass „auf die Haus- und
        Wohnungseigentümer erhebliche Kosten zukommen
        würden.“ Das stimmt natürlich nur, wenn sich Gebäude-
        eigner weigern, in Wärmedämmung und moderne Hei-
        zungen zu investieren. Der Wert von klimaschädlichen
        und energieverschwendenden Häusern würde natürlich
        fallen. Aber genau das ist doch der Sinn der Verordnung:
        Energieeffiziente Häuser werden mehr nachgefragt. Wer
        Mieter an der Nase herumführen will, muss auffliegen.
        Das hat die Bundesregierung nun verhindert.
        Die Punkte drei bis fünf des vorliegenden Antrags
        sind also von der Großen Koalition nicht abgearbeitet
        worden. Deshalb stimmen wir dem Antrag zu.
        Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
        schon ein Kreuz mit dieser Bundesregierung. Vor über
        einem Jahr verkündete Minister Tiefensee noch stolz, er
        habe sich mit seinem Kollegen Glos über die Energieein-
        sparverordnung geeinigt. Und dann? Still ruhte der
        Tiefensee! Tatsächlich dauerte es noch bis vor 14 Tagen,
        als uns im Ausschuss die soeben im Kabinett beschlos-
        sene Verordnung vorgestellt wurde, und dies auch nur,
        weil wir das Thema als Selbstbefassung auf die Tages-
        ordnung gesetzt hatten. Selbstredend, dass wir den ge-
        druckten Entwurf auch dann noch nicht einmal vorliegen
        hatten. Dies alles erinnerte mich doch sehr an das ver-
        gangene Trauerspiel mit Ihrem Infrastrukturplanungsbe-
        schleunigungsgesetz.
        Jetzt könnte ich ja wenigstens sagen: „Was lange
        währt, wird endlich gut.“ Aber auch dieses Attribut kann
        ich dieser schwachen Energieeinsparverordnung beim
        besten Willen nicht zubilligen.
        Denn sie bleibt in vielen Punkten weit hinter dem zu-
        rück, was wir bereits heute im Bereich der Energieein-
        sparung und Effizienzsteigerung baulich und technisch
        realisieren können und angesichts des Klimawandels
        und der drohenden Klimakatastrophe auch dringend um-
        setzen müssten. Es scheint mir, als ob Sie bis heute
        schon wieder vergessen haben, worüber wir in den ver-
        gangenen Wochen so viele Debatten geführt haben.
        Mit dieser Energieeinsparverordnung wird die
        Chance vergeben, zumindest im Gebäudesektor bezüg-
        lich der CO2-Emissionsreduktion einen großen Schritt
        nach vorne zu machen, und das in einem Sektor, in dem
        Investitionen häufig eine Festlegung auf 50 Jahre und
        mehr bedeuten, und wir auch aus diesen Gründen keine
        Zeit mehr zu verlieren haben.
        Alle Welt diskutiert die IPCC-Berichte, und dieses
        Gremium hat in der letzten Woche – auch von der Bun-
        desregierung unwidersprochen – gefordert, dass wir un-
        sere Emissionen in den nächsten acht bis 15 Jahren und
        nicht erst in 50 Jahren drastisch reduzieren müssen. Aber
        das scheint Sie nicht zu tangieren. Da setzen Sie lieber
        mühsam und bürokratisch eine uralte EU-Verordnung
        aus dem Jahre 2002 um, auch wenn ein paar Jahre zu
        spät. Und natürlich muss dies auch eins zu eins gesche-
        hen; das steht ja schließlich so im Koalitionsvertrag. Ob
        es dem Klima hilft oder nicht, ist egal, Hauptsache eins
        zu eins.
        Dabei hätten wir von Ihnen erwarten müssen, dass Sie
        einem Sektor, der für mindestens 20 Prozent der CO2-
        Emissionen verantwortlich zeichnet, ambitionierte Ziele
        vorgeben, um wenigstens die von Ihnen selbst geforder-
        ten Reduktionsziele erreichen zu können.
        Das kann und wird mit dieser Verordnung nicht gelin-
        gen, denn sowohl bei den Wohn- als auch bei den Nicht-
        wohngebäuden, sowohl beim Neubau als auch beim Be-
        standsbau bleiben Ihre Anforderungen weit hinter den
        Möglichkeiten zurück. Wir fördern schon heute mit
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9965
        (A) (C)
        (B) (D)
        KfW-Mitteln Passivhäuser oder Niedrigenergiehäuser
        40 und 60 und wissen, dass es sogar noch besser geht.
        Aber selbst in der Bedarfsberechnung liegen normale
        Neubauten nach ENEV im Standard noch deutlich über
        100 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Noch
        schlimmer sieht es bei den Nichtwohngebäuden aus, bei
        denen der Standardbedarf bei 200 und mehr Kilowatt-
        stunden pro Quadratmeter und Jahr liegt, ganz zu
        schweigen von dem noch schlechteren Niveau bei mo-
        dernisierten Bestandsgebäuden.
        Ich will nur am Rande darauf hinweisen, dass es sich
        bei den Bedarfswerten um theoretische Werte handelt; in
        der Praxis dürften der Energiebedarf und damit die CO2-
        Emissionen noch deutlich höher – selbst bei Neubauten –
        sein. Das zeigen stichprobenartige Überprüfungen der
        Ausführungsqualität. Aber darüber spricht man ja lieber
        nicht.
        Die weiterhin unterschiedlichen Anforderungen an
        Wohn- bzw. Nichtwohngebäude zeigen zudem, dass der
        gewerbliche und industrielle Sektor geschont wird und
        die privaten Haushalte offensichtlich die Hauptlast der
        CO2-Reduktion im Gebäudesektor tragen sollen.
        Bei den hochgelobten Energieausweisen schauen die
        Verbraucherinnen und Verbraucher in die Röhre. Nur auf
        ausdrückliche Anforderung ist jetzt der Vermieter ver-
        pflichtet, den Mieterinnen und Mietern eine Kopie des
        Energieausweises zu übergeben. Dann können sich diese
        mit den vermutlich fotokopierten – eigentlich farbigen –
        Diagrammen in Schwarz-Weiß herumärgern und rätseln,
        ob denn ihr Mietshaus vor oder nach dem Stichtag er-
        richtet wurde und ob und warum es sich um einen Be-
        darfs- oder einen Verbrauchsausweis handelt. Was das
        mit Transparenz zu tun hat, wird mir auf ewig ein Rätsel
        bleiben. Auch hier wird eine große Chance vergeben,
        denn durch eine optimale Information der Verbraucher
        hätten diese bei der Wohnungswahl künftig mit den
        Füßen abstimmen können. Ob das so kommt, daran habe
        ich meine ernsten Zweifel.
        Wir werden bei diesem Thema nicht locker lassen,
        und wir kündigen Ihnen schon jetzt an, dass wir Sie bei
        der von Ihnen bereits angekündigten erneuten Novellie-
        rung der EnEV noch in dieser Legislaturperiode zum Ja-
        gen tragen werden. Wir haben einfach keine Zeit mehr!
        Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
        minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der An-
        trag betrifft die Novellierung der Energieeinsparverord-
        nung, die das Kabinett am 25. April 2007 beschlossen
        hat, und dabei insbesondere die Energieausweise. Mit
        dem Antrag werden unter anderen die Einbringung der
        EnEV in die parlamentarische Beratung und bestimmte
        Regelungen zu Energieausweisen und Modernisierungs-
        empfehlungen gefordert, die über die EG-Richtlinie über
        die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden hinausgehen.
        Ich bitte um Ablehnung des Antrags, der bereits in al-
        len beteiligten Ausschüssen abgelehnt wurde.
        Zu bedenken ist, dass der Deutsche Bundestag die
        Bundesregierung im Energieeinsparungsgesetz ermäch-
        tigt hat, mit Zustimmung des Bundesrates die neue Ener-
        gieeinsparverordnung zu erlassen. Die im Antrag gefor-
        derte parlamentarische Beratung der neuen EnEV würde
        zudem deren Verabschiedung erheblich verzögern. Dies
        würde bei der Öffentlichkeit, die an dieser Novellierung
        großes Interesse zeigt, auf Unverständnis stoßen und
        wäre nicht sachgerecht. Weitere im Antrag aufgestellte
        Forderungen würden eine überschießende Richtlinien-
        umsetzung darstellen.
        Die Bundesregierung ist, wie übrigens grundsätzlich
        bei Umsetzung von EG-Richtlinien, vom Grundkonzept
        der Eins-zu-eins-Umsetzung ausgegangen. Wir haben
        also bewusst nicht aufgesattelt, sondern uns an das, was
        die Richtlinie von den Mitgliedstaaten verlangt, gehal-
        ten.
        Hinzu kommt, dass wir in Zeiten, in denen Entbüro-
        kratisierung, bessere Rechtsetzung und Bürokratiekos-
        tenmessung wichtige Elemente unserer Politik sind,
        nicht ohne Not neue Bürokratien und neue Bürokratie-
        kosten aufbauen dürfen.
        Dies betrifft zum einen die Forderung nach einem
        Zertifizierungsverfahren für die Energieausweisausstel-
        ler. Die Einführung eines Zertifizierungsverfahrens führt
        sowohl zu neuen bürokratischen Strukturen als auch zu
        mehr Kosten.
        Unser Konzept besteht deshalb darin, ohne Zulas-
        sungsverfahren die erforderliche Qualifikation der Aus-
        steller durch die rechtlichen Vorgaben in der Verordnung
        sicherzustellen.
        Die zweite Forderung, die mir in diesem Zusammen-
        hang besonders ins Auge sticht, ist die Forderung nach
        einer durchgängigen Verpflichtung, für alle Gebäudety-
        pen sogenannte Bedarfsausweise vorzulegen, die auf in-
        genieurtechnischen Berechnungen beruhen.
        Hier sind wir beim zentralen Punkt dieser Verord-
        nung. Künftig muss den Interessenten bei Verkauf und
        Vermietung von Gebäuden ein Energieausweis zugäng-
        lich gemacht werden. Der Interessent soll wissen, ob es
        um ein energetisch gutes oder um ein energetisch
        schlechtes Gebäude geht. Deshalb werden in Zukunft
        Energieausweise eine wesentliche Rolle bei der Ent-
        scheidungsfindung von Kauf- und Mietinteressenten für
        Gebäude oder Wohnungen spielen. Hierdurch wird die
        Transparenz bezüglich der Energieeffizienz von Gebäu-
        den auf dem Immobilienmarkt erheblich verbessert.
        Bei der Frage, welcher Energieausweis in welchen
        Fällen zulässig ist, also der ingenieurtechnische Bedarfs-
        ausweis oder der sogenannte Verbrauchsausweis, hat die
        Koalition sehr sorgfältig abgewogen und sich bei den
        Wohngebäuden auf ein differenziertes Modell verstän-
        digt, das die entstehenden Kosten für die Immobilien-
        wirtschaft auf ein vertretbares Maß begrenzt: Energie-
        ausweis auf Bedarfsgrundlage bei „alten, unrenovierten“
        Wohngebäuden mit weniger als fünf Wohnungen, also
        mit einem relativ schlechten Wärmedämmstandard, das
        erreicht nicht das Niveau der 1. Wärmeschutzverord-
        nung von 1977; Energieausweis auf Verbrauchsgrund-
        lage als Wahlmöglichkeit bei allen anderen Wohngebäu-
        den.
        9966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mit diesem Kompromiss hat die Bundesregierung
        eine ausgewogene Lösung gefunden, die den verschiede-
        nen betroffenen Belangen angemessen Rechnung trägt,
        also dem Anliegen nach fachlicher Aussagekraft des
        Energieausweises und dem Anliegen nach ausreichender
        Berücksichtigung der Kostenseite. Grundsätzlich ist der
        Energieausweis dem Kauf- und Mietinteressenten zu-
        gänglich zu machen. Auf Verlangen ist dem Interessen-
        ten auch eine Kopie zu überlassen. Wir haben also
        durchaus die Fälle berücksichtigt, in denen ein Interes-
        sent eine Kopie mitnimmt, um zu einer Beurteilung und
        Entscheidungsfindung kommen zu können.
        Eine Verschärfung der materiellen Anforderungen an
        Gebäude, Neu- und Altbauten, ist jetzt nicht vorgesehen,
        wegen der eben erwähnten Eins-zu-eins-Umsetzung,
        wird aber unmittelbar im Anschluss an diese Novelle
        vorbereitet und zeitnah umgesetzt.
        Über die Notwendigkeit einer Anpassung der energe-
        tischen Anforderungen herrscht innerhalb der Bundesre-
        gierung Einigkeit. Mit dieser Novelle sind unsere An-
        strengungen zur Verbesserung der energetischen Qualität
        im Gebäudebereich noch nicht am Ende angelangt. Wir
        werden alles tun, um die Potenziale der Energieeinspa-
        rung und die Nutzung von erneuerbaren Energien im Ge-
        bäudebereich weiter auszuschöpfen.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        Zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Begrenzung der Aufwendungen für die Prozess-
        kostenhilfe (Prozesskostenhilfebegrenzungsge-
        setz – PKHBegrenzG) (Tagesordnungspunkt 19)
        Elisabeth Heister-Neumann, Ministerin der Justiz
        (Niedersachsen): Als Beauftragte des Bundesrates ist es
        meine Aufgabe, den vom Bundesrat eingebrachten Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Aufwendungen
        für die Prozesskostenhilfe vor diesem Hohen Hause zu
        vertreten. Dieser Aufgabe komme ich gern nach, gibt sie
        mir doch Gelegenheit, Ihnen den Handlungsbedarf und
        die besondere Dringlichkeit des Gesetzentwurfs aus
        Sicht der Länder deutlich zu machen.
        Die Justizhaushalte der Länder sind seit Jahren mit ei-
        ner enormen Ausgabensteigerung konfrontiert. Betroffen
        sind insbesondere die Bereiche der Prozesskostenhilfe
        und der Beratungshilfe sowie das Betreuungsrecht und
        Verfahren nach der Insolvenzordnung. Auf allen diesen
        Feldern sind die Ausgaben durch Bundesgesetze vorge-
        geben. Sie können von den Ländern nicht ohne weiteres
        beeinflusst werden. Deshalb brauchen wir die Unterstüt-
        zung des Bundesgesetzgebers, um die ich Sie nach-
        drücklich bitten möchte.
        Besorgniserregend ist insbesondere die Entwicklung
        der Ausgaben für die Prozesskostenhilfe. Allein in der or-
        dentlichen Gerichtsbarkeit haben sich die Zahlungen an
        beigeordnete Rechtsanwälte bundesweit von 261,7 Millio-
        nen Euro im Jahre 1998 auf 361,8 Millionen Euro im Jahre
        2005 erhöht. Das ist ein Anstieg um fast 40 Prozent inner-
        halb von acht Jahren. Diese Kostenlast trifft fast aus-
        schließlich die Länder, denn bei den wenigen Bundesge-
        richten spielt die Prozesskostenhilfe keine nennenswerte
        Rolle.
        Der Ausgabenexplosion bei der Prozesskostenhilfe
        können die Länder nicht tatenlos zusehen. Hier gilt es
        gegenzusteuern, um den Anstieg der Ausgaben schnell
        und dauerhaft zu begrenzen und so die Haushalte der
        Länder von vermeidbaren Ausgaben zu entlasten. Der
        Bundesrat hat daher mit breiter Mehrheit den heute zur
        Beratung anstehenden Gesetzentwurf eingebracht, weil
        er hier vordringlichen Handlungsbedarf sieht. Er befin-
        det sich dabei in erfreulicher Übereinstimmung mit der
        Bundesregierung, die in ihrer Stellungnahme zu dem
        Entwurf ihre Bereitschaft erklärt hat, die Länder bei der
        Konsolidierung ihrer Haushalte zu unterstützen.
        Der Entwurf schlägt eine Vielzahl von Maßnahmen
        zur Ausgabenbegrenzung vor, die eine Entlastung der
        Länderhaushalte um annähernd 100 Millionen Euro pro
        Jahr erwarten lassen. Sie sollen hier nur knapp skizziert
        werden. Ein wesentliches Ziel ist es, den Gerichten wirk-
        samere Mittel gegen die missbräuchliche Inanspruch-
        nahme von Prozesskostenhilfe an die Hand zu geben.
        Dazu wird die Versagung der Prozesskostenhilfe bei
        mutwilliger Rechtsverfolgung erleichtert.
        Darüber hinaus sollen die Vorschriften über das Ver-
        fahren verbessert werden, um sicherzustellen, dass die
        persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des An-
        tragstellers einheitlich und zutreffend erfasst werden.
        Dazu werden die Gerichte zum einen in die Lage versetzt,
        ähnlich wie schon jetzt Sozial- und Finanzbehörden, die
        Angaben des Antragstellers zu überprüfen. Zum anderen
        soll die arbeitsintensive und von vielen Einzelumständen
        abhängige Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen
        Verhältnisse vom Richter auf den Rechtspfleger übertra-
        gen werden können. Wenn ein Rechtspfleger diese Auf-
        gabe für das ganze Gericht erledigt, entlastet dies nicht
        nur die Richter, sondern es fördert auch die Einheitlichkeit
        der Rechtsanwendung.
        Zentrales Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Ver-
        stärkung der Eigenbeteiligung des Antragstellers. Dazu
        gehört zunächst die Änderung der Freibeträge für das
        Einkommen des Antragstellers, die an das sozialhilfe-
        rechtliche Existenzminimum angeglichen werden sollen.
        Wer mit seinem Einkommen über diesen Freibeträgen
        liegt, muss sich, wie schon nach geltendem Recht, durch
        Ratenzahlungen an den Prozesskosten beteiligen. Jedoch
        soll ihm die Ratenzahlung künftig nicht mehr nach
        48 Monaten erlassen werden, sondern erst dann, wenn
        die von ihm zu tragenden Kosten des Rechtsstreits ge-
        deckt sind. Schließlich soll der Antragsteller künftig zur
        Deckung der Prozesskosten dasjenige einsetzen, was
        ihm im Rechtsstreit zugesprochen worden ist. Ebenso
        wie eine vermögende Partei kann er den erstrittenen Be-
        trag nur nach Abzug der Prozesskosten beanspruchen.
        Mir ist bewusst, dass vor allem die zuletzt genannten
        Änderungsvorschläge Kritik auf sich gezogen haben.
        Auch die Bundesregierung macht verfassungsrechtliche
        Bedenken geltend. Ich teile diese Bedenken nicht. Der
        Bundesrat ist sich der Bedeutung der Prozesskostenhilfe,
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9967
        (A) (C)
        (B) (D)
        die unbemittelten Bürgerinnen und Bürgern den Zugang
        zum gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, vollauf
        bewusst. Er hat daher besonderen Wert darauf gelegt,
        dass die Funktion dieses für unser rechtsstaatliches Ge-
        meinwesen notwendigen Instituts durch den Gesetzent-
        wurf nicht beeinträchtigt wird. Die Vorgaben, die sich
        aus dem Grundgesetz und aus der Rechtsprechung des
        Bundesverfassungsgerichts für die Ausgestaltung des
        Rechts der Prozesskostenhilfe ergeben, sind vollständig
        beachtet worden. Der Gesetzentwurf verlangt an keiner
        Stelle, dass die bedürftige Partei denjenigen Teil ihres
        ursprünglich vorhandenen Einkommens und Vermögens
        einsetzt, den sie zur Deckung des Existenzminimums be-
        nötigt. Er verlangt lediglich eine stärkere Eigenbeteili-
        gung mit dem darüber hinausgehenden Einkommen und
        Vermögen. Für die Bezieher von Sozialleistungen wird
        sich also nichts ändern.
        Der Gesetzentwurf des Bundesrates unterscheidet
        sich damit deutlich von einem Referentenentwurf, den
        das Bundesministerium der Justiz im Januar 2007 vorge-
        legt hat. Mit dem sogenannten „Entwurf eines Gesetzes
        zur Entschuldung völlig mittelloser Personen“ – als ob
        sich mittellos noch steigern ließe – soll ein vereinfachtes
        Restschuldbefreiungsverfahren eingeführt werden. Zu
        dessen Kosten soll der mittellose Schuldner mit einem
        monatlichen Beitrag von 13 Euro herangezogen werden,
        und zwar auch dann, wenn er lediglich Sozialhilfe oder
        Arbeitslosengeld II bezieht. Dies erklärt der Entwurf
        ausdrücklich für verfassungsrechtlich zulässig. Ich er-
        wähne dies nur, um zu zeigen, dass der verfassungs-
        rechtliche Spielraum offenbar größer ist, als es die Stel-
        lungnahme der Bundesregierung zu unserem Entwurf
        auf den ersten Blick vermuten lässt. Darüber wird bei
        den Ausschussberatungen im Einzelnen zu reden sein.
        Der Bundesrat würde es begrüßen, wenn der Bundes-
        tag seine Beratungen über die Vorlage konstruktiv füh-
        ren und zeitnah abschließen würde. Darum bitte ich Sie
        im Interesse der Länder.
        Dirk Manzewski (SPD): Ziel des Gesetzentwurfs des
        Bundesrats ist eine Reduzierung der Ausgaben im Be-
        reich der Prozesskostenhilfe. Ich kann ja durchaus nach-
        vollziehen, dass dem weiteren Anstieg der zugegebener-
        maßen in den letzten Jahren erheblich gestiegenen
        Kosten für die Prozesskostenhilfe Einhalt geboten wer-
        den soll. Ich finde jedoch, dass es sich der Bundesrat mit
        dem vorliegenden Gesetzentwurf dabei etwas zu einfach
        macht.
        Mir fehlt es in dem Gesetzentwurf zum Beispiel
        bereits an einer umfassenden und nachvollziehbaren
        Analyse der Gründe für die Steigerungen. Die dem Ge-
        setzentwurf zugrunde liegende Untersuchung des Rech-
        nungshofes Baden-Württemberg halte ich schon alleine
        deshalb nicht für exemplarisch, weil sich die finanziellen
        Situationen in den einzelnen Bundesländern erheblich
        voneinander unterscheiden.
        Zudem ist die Begründung widersprüchlich. Zum ei-
        nen wird hierin immer wieder insbesondere auf die Kos-
        tenexplosion von 2002 auf 2003 hingewiesen. Zum an-
        deren wird als Hauptursache für den Kostenanstieg die
        Anhebung der Freibeträge zum 31. Dezember 2004 so-
        wie der Anstieg der Rechtsanwaltsvergütung zum 5. Mai
        2004 genannt. Anhebung und Anstiege im Jahre 2004
        können aber nicht maßgeblich für Kostensteigerungen
        im Jahr 2003 sein. Hierzu fehlt vielmehr weiterhin jegli-
        cher Vortrag.
        Im Übrigen hätte ich Probleme damit, dass die be-
        dürftigen Parteien die Folge staatlicher Eingriffe – und
        nichts anderes sind ja Anhebung von Freibeträgen und
        Rechtsanwaltsvergütungen – zu tragen hätten.
        Mir fehlt es auch an einer konkreten Erfassung der
        tatsächlichen Belastung der Länderhaushalte. Denn die
        bloße Darlegung der Steigerung von gewährter Prozess-
        kostenhilfe ist nichtssagend, wenn nicht zugleich auch
        die Rückflüsse präzisiert werden. Zudem lassen sich nur
        so auch die tatsächlich angedachten Einsparungen ver-
        nünftig einschätzen.
        Man muss bei dem Gesetzentwurf meiner Meinung
        nach leider auch erhebliche verfassungsrechtliche Be-
        denken anmelden. Aufgrund des in Art. 3 Abs. 1 GG
        normierten Prinzips der Rechtsgleichheit haben wir als
        Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass auch die nicht
        so bemittelten Parteien in die Lage versetzt werden, ihre
        Ansprüche in einem Rechtsstreit geltend zu machen.
        Diesen Grundsatz sehe ich zum Beispiel gefährdet, wenn
        die Partei nach dem Vorschlag des Bundesrats zur He-
        rausgabe sämtlicher Vermögenswerte verpflichtet wer-
        den soll, die sie zuvor mithilfe von Prozesskostenhilfe
        erstritten hat.
        Zwar muss eine Partei bereits nach geltendem Recht
        die Verfahrenskosten mit dem in einem Rechtsstreit Er-
        langten zurückzahlen; der Vorschlag des Bundesrates
        geht jedoch weit über die bisherige Rechtslage hinaus,
        weil er keine Rücksicht darauf nimmt, ob das Erlangte
        der Sicherung des grundgesetzlich geschützten Existenz-
        minimums dient oder entsprechendes Schonvermögen
        darstellt. Wenn dann auch noch die Begrenzung der Ra-
        tenzahlungsdauer aufgehoben, die Einkommensfreibe-
        träge auf das sozialhilferechtliche Existenzminimum ab-
        gesenkt und eine Pauschalierung der Ratenhöhe auf zwei
        Drittel des einzusetzenden Einkommens vorgenommen
        werden sollten, dann ist – um es vorsichtig auszudrü-
        cken – zumindest das Bündel dieser Maßnahmen geeig-
        net, Parteien, denen es nicht so gut geht, von der gericht-
        lichen Durchsetzung ihrer Rechte abzuhalten.
        Denn abgesehen davon, dass sich dadurch die Pro-
        zesskostenhilfe quasi vom Zuschuss zum Darlehen ver-
        ändern würde, würde dies aufgrund der nicht mehr zu
        überblickenden zukünftigen Belastung dazu führen, dass
        das Risiko einer Prozessführung gescheut und damit auf
        die gerichtliche Durchsetzung der Rechte verzichtet
        wird. Dies kann weder gewollt sein noch von uns sozial-
        demokratischen Rechtspolitikern akzeptiert werden.
        Soweit nach dem Vorschlag des Bundesrats bei der
        Bemessung der Freibeträge der bundesweit pauschal
        maßgebliche Regelsatz gestrichen und stattdessen auf
        die in den jeweiligen Bundesländern maßgeblichen
        Sätze abgestellt werden soll, halte ich dies für eine Ver-
        9968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        komplizierung und weitere Belastung der Gerichte bei
        der Berechnung von Prozesskostenhilfe.
        Von dem Vorschlag der Einführung einer gesonderten
        Gebühr für die Festsetzung von Raten halte ich ebenso
        wenig. Abgesehen davon, dass insoweit schon eine
        Schlechterstellung gegenüber denjenigen vorliegt, die
        zwar keine Prozesskostenhilfe erhalten haben, aber im
        Nachhinein dann im Zusammenhang mit der Kosten-
        rechnung eine Zahlungsvereinbarung mit der Landes-
        kasse treffen, würden gerade bei Verfahren mit niedrigen
        Streitwerten Streitwert und Gebühr in keinem vernünfti-
        gen Verhältnis stehen.
        Ich halte es durchaus für legitim, dass wir uns hier
        darüber unterhalten, ob unsere Regelungen zur Prozess-
        kostenhilfe so tatsächlich noch zeitgemäß sind oder aber
        ob wir die Regularien nicht überarbeiten müssen. Ich
        selbst frage mich zum Beispiel schon seit langem, wa-
        rum Richter statt Rechtspfleger die Bedürftigkeit über-
        prüfen müssen und wieso überhaupt auch noch bei den-
        jenigen die Bedürftigkeit überprüft werden muss, denen
        dies gerade aktuell vom Sozialamt bzw. der Arge bestä-
        tigt worden ist.
        Den Entwurf des Bundesrates halte ich jedoch zumin-
        dest in der jetzigen Form allenfalls als Denkanstoß ge-
        eignet.
        Mechthild Dyckmans (FDP): Die Prozesskosten-
        hilfe ermöglicht es auch Bürgerinnen und Bürgern, die
        nur über ein geringes Einkommen oder über geringe
        Finanzmittel verfügen, ein prozessuales Verfahren anzu-
        strengen. Damit wird sichergestellt, dass die Gewährung
        von Rechtsschutz nicht von den finanziellen Verhältnis-
        sen der beteiligten Personen abhängt. Die Gewährung
        von Prozesskostenhilfe ist eine tragende Säule des
        Rechtsstaatsprinzips. Der Zugang zu den Gerichten er-
        gibt sich neben der Rechtsschutzgarantie auch aus dem
        Justizgewährleistungsanspruch.
        Die Bundesländer behaupten, dass die Kosten der Jus-
        tizhaushalte für die Gewährung von Prozesskostenhilfe
        in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind. Dies
        trifft für einige Bundesländer sicherlich zu. Ich habe je-
        doch Zweifel an den Berechnungen, die sich in der Be-
        gründung des Gesetzentwurfs finden. Die Hochrechnung
        von Zahlen für einzelne Bundesländer auf das gesamte
        Bundesgebiet erscheint mir doch sehr gewagt. Offen
        spricht der Gesetzentwurf die Gründe an, die zum Teil
        ursächlich sind für den Anstieg der Prozesskostenhilfe.
        Dies sind zum einen die Erhöhung der Rechtsanwaltsge-
        bühren durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz
        und die Auswirkungen des Gesetzes zur Einordnung des
        Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch aus der ver-
        gangenen Wahlperiode. In diesem Zusammenhang
        möchte ich deutlich darauf hinweisen, dass diese beiden
        Gesetzesinitiativen nicht an den Ländern vorbeigegan-
        gen sind. Die Länder waren an den entsprechenden Ge-
        setzgebungsverfahren beteiligt. Es kann also niemand
        zum jetzigen Zeitpunkt die Behauptung aufstellen, er
        trage für die Erhöhung der Prozesskostenhilfe keine Ver-
        antwortung.
        Die FDP hat in den vergangenen Jahren immer wieder
        darauf hingewiesen, dass Reformen der Justiz im Inte-
        resse der Bürgerinnen und Bürger nicht mit einer Ein-
        schränkung des Rechtsschutzes einhergehen dürfen. Re-
        formeifer, der nur durch das Ziel der Kostenreduktion
        getrieben ist, wird in der FDP keine Verbündeten finden.
        Reformen, die ausschließlich von fiskalischen Gründen
        bestimmt sind, schwächen den Rechtsstaat und gefähr-
        den den Justizgewährleistungsanspruch. Die Ausgestal-
        tung unseres Rechtsstaates ist zu Recht Vorbild für viele
        junge Demokratien überall in der Welt. Es ist daher je-
        der, der weitere Reformen in der Justiz und insbesondere
        im Bereich der Prozesskostenhilfe vorschlägt, dafür be-
        weispflichtig, dass diese Reformen auch tatsächlich ge-
        boten sind. An diesen Grundsätzen werden wir den Ge-
        setzentwurf des Bundesrates messen.
        Der Gesetzentwurf enthält einige Regelungen, die
        durchaus überlegenswert sind und die in der Tat zu einer
        Effektivierung des Bewilligungsverfahrens beitragen
        können. Dazu zählt beispielsweise die Erweiterung des
        Aufgabenbereichs der Rechtspfleger im PKH-Bewilli-
        gungsverfahren. Es ist sachgerecht, dass die Prüfung der
        Bedürftigkeit der Partei, die mitunter äußerst kompliziert
        und zeitaufwendig sein kann, vom Rechtspfleger über-
        nommen wird.
        Insgesamt überwiegen jedoch die Bedenken. In Teilen
        enthält der Gesetzentwurf Regelungen – so zum Beispiel
        die Definition der Mutwilligkeit in § 114 Abs. 2 ZPO –,
        die bereits ständige Rechtsprechung sind und daher einer
        zusätzlichen Erwähnung im Gesetzentwurf nicht zwin-
        gend bedürfen. § 114 Abs. 2 Satz 2 ZPO ist darüber hi-
        naus bedenklich, da dadurch der Eindruck entsteht, Baga-
        tellfälle sollen grundsätzlich aus der Prozesskostenhilfe
        hinausgedrängt werden. Der Kern der Kritik betrifft je-
        doch die Vorschriften zur Art und Weise der Erhöhung der
        Eigenbeteiligung der bedürftigen Partei an den Prozess-
        kosten. Diejenigen, deren Einkommen und Vermögen
        über das im Sozialhilferecht definierte Existenzminimum
        hinausgeht, sollen Prozesskostenhilfe künftig nur noch als
        Darlehen erhalten, das durch Zahlungen aus ihrem einzu-
        setzenden Einkommen und Vermögen vollständig zurück-
        zuzahlen ist. Damit holt sich der Staat vom Bürger das zu-
        rück, was er ihm kurz zuvor erst gegeben hat. Wenn der
        Bürger zur Durchsetzung von Ansprüchen, die sein Exis-
        tenzminimum sichern sollen, vor Gericht geht und ihm
        das Gericht hierfür Prozesskostenhilfe gewährt, soll er bei
        positivem Ausgang des Prozesses die geforderten Zahlun-
        gen umgehend an die Staatskasse zurückgeben müssen.
        Wir sollten hier die Bewertung der Bundesregierung ernst
        nehmen, die gegen die Vorschriften zur stärkeren Eigen-
        beteiligung durchgreifende verfassungsrechtliche Beden-
        ken vorträgt. Der Gesetzentwurf weist zwar an verschie-
        denen Stellen darauf hin, dass die vorgeschlagenen
        Maßnahmen sich in dem Rahmen bewegen, der verfas-
        sungsrechtlich geboten ist. Ich möchte für die FDP-Bun-
        destagsfraktion aber die Frage aufwerfen, ob das, was ver-
        fassungsrechtlich als Mindeststandard geboten ist, auch
        rechtspolitisch so gewünscht ist.
        Ich glaube, dass der Bundesrat zur Lösung des Pro-
        blems den falschen Weg einschlägt. Es macht keinen
        Sinn, die Prozesskostenhilfe pauschal zu kürzen und die
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9969
        (A) (C)
        (B) (D)
        für den Anstieg der Prozesskostenhilfe verantwortlichen
        Strukturen innerhalb der Justiz unangetastet zu lassen.
        Wir haben es hier in erster Linie mit Strukturproblemen
        zu tun. Es ist bekannt, dass es die Justiz mit den ihr zur
        Verfügung stehenden Mitteln nicht schafft, nach Ab-
        schluss eines Prozesses von der obsiegenden Partei die
        gewährte Prozesskostenhilfe zurückzufordern bzw. in-
        nerhalb der Vierjahresfrist eine Überprüfung der Bedürf-
        tigkeit vorzunehmen. Ein weiteres Problem liegt darin,
        dass die Gerichte personell kaum in der Lage sind, die
        PKH-Anträge umfassend zu prüfen. Hier wäre eine Auf-
        stockung der Ressourcen notwendig, um das Bewilli-
        gungsverfahren insgesamt zu effektivieren. Auch die
        Rechtsanwälte als Organ der Rechtspflege sollten jede
        Möglichkeit nutzen, bei der Eindämmung etwaiger
        Missbrauchsfälle mitzuhelfen. Ich halte es daher für den
        falschen Weg, zuerst beim Bürger anzusetzen, anstatt in
        erster Linie die Strukturprobleme in der Justiz zu behe-
        ben.
        Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich die Koalition
        zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates verhalten wird.
        In der Debatte zum Justizhaushalt vom September 2006
        hat der Kollege Stünker gesagt, der Gesetzentwurf des
        Bundesrats werde in diesem Haus keine Mehrheit fin-
        den. Die folgenden Beratungen im Rechtsausschuss ver-
        sprechen daher spannend zu werden.
        Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Ich bin mir nicht
        ganz sicher, ob man den sozialpolitischen Absichtserklä-
        rungen der SPD wenigstens gelegentlich noch einmal
        Glauben schenken darf. Entgegen aller Vernunft und ent-
        gegen aller Erfahrung will ich diese Zuversicht – test-
        weise – für den aktuellen Gesetzgebungsprozess aufbrin-
        gen.
        Grund für so viel unvorsichtige Hoffnung geben mir
        die kraftvollen Bekundungen des Kollegen Stünker in
        der 45. Sitzung im September des vergangenen Jahres.
        In der 45. Sitzung wies ich in meiner Rede zum Haushalt
        auf die Tatsache hin, dass der heute zu behandelnde Ent-
        wurf des Bundesrates zur Begrenzung der Prozesskos-
        tenhilfe vor allem eines erkennbar und empfindlich be-
        grenzen wird: die soziale Gerechtigkeit. Sollte dieser
        Entwurf Gesetz werden, dann wird fortan der Zugang zu
        den Gerichten für sozial schlechter gestellte Menschen
        erheblich erschwert sein.
        Es handelt sich um ein Vorhaben, das nicht nur der so-
        zialen Intention unseres Grundgesetzes zuwiderläuft,
        sondern auch einen echten Anachronismus darstellt. Es
        wäre die Rückkehr zum historischen Armenrecht, das
        die Rechtsdurchsetzung für die Unbemittelten einst als
        ein gnädiges Almosen vergab.
        Während die Kolleginnen der CDU/CSU in der da-
        maligen Debatte angesichts des Entwurfs um ihren eige-
        nen Rechtschutz kaum bange waren und sich daher zu
        meinen Ausführungen prächtig amüsierten, reagierte der
        Kollege Stünker von der SPD einigermaßen entrüstet.
        Immerhin war das wohl der zaghafte Ausdruck eines ei-
        genen Unrechtsgefühls in dieser Sache. Wörtlich sagte
        uns der Kollege Stünker: „Herr Kollege Nešković, Sie
        können ganz sicher sein, dass das, was Sie über das be-
        richtet haben, was über den Bundesrat auf uns zukommt,
        in diesem Haus in absehbarer Zeit keine Mehrheit finden
        wird.“
        Ganz sicher wäre ich gerne. Ich hoffe nun, dass der
        Kollege Stünker in seiner Fraktion einen ausreichenden
        Stand hat, um daran zu arbeiten, dass sich seine Voraus-
        sagen im Stimmverhalten in den Ausschüssen und noch
        später im Plenum bewahrheiteten. Denn dieser Entwurf
        darf keinesfalls Gesetz werden! Das sollte sogar die SPD
        erkennen.
        Zu den unverbrüchlichen Prinzipien der sozialen De-
        mokratie gehört es, dass die Kraft des Rechtes und sein
        Schutz jeden Einzelnen erreichen müssen, und zwar un-
        abhängig vom persönlichen Vermögen oder Unvermö-
        gen. Doch zur Durchsetzung und der Verteidigung seiner
        Rechte braucht der Mensch in aller Regel zweierlei: ei-
        nen guten Rechtsbeistand und den Zugang zu den Ge-
        richten. Beide Voraussetzungen stellt für sozial Schwa-
        che die Prozesskostenhilfe sicher. Beide gefährdet der
        aktuelle Entwurf, der die Prozesskostenhilfe beschnei-
        den will und zudem an eine ganze Reihe von unzumut-
        baren Bedingungen und Voraussetzungen knüpft.
        An dieser Stelle nur einige Beispiele: Auch in den
        Fällen eindeutiger Erfolgsaussicht soll es künftig noch
        leichter möglich werden, Prozesskostenhilfe wegen et-
        waiger mutwilliger Rechtsverfolgung zu verweigern.
        Der vorgesehene § 114 Abs. 2 ZPO unternimmt zu dem
        Kriterium der Mutwilligkeit eine Definition, die die Ge-
        fahr der Unwägbarkeit und des staatlichen Missbrauchs
        gleich mitbringt. Sie ist auch aus sich heraus entlarvend.
        Sie entlarvt die Kaltherzigkeit der Entwurfsersteller.
        Während es nach dem Entwurf nämlich jedem Gutbe-
        tuchten unbenommen sein wird, um einen Kleckerbetrag
        jahrelang zu prozessieren, werden für den PKH-Antrag
        des Mittellosen der „Einsatz“ und der „Gewinn“ eines
        Verfahrens ins Verhältnis gesetzt. Doch eigentlich kann
        es keinem Menschen schwerfallen, zu erkennen, dass ein
        vermeintlicher Kleckerbetrag gleichzeitig eine sehr be-
        deutende Summe sein kann, und zwar für jemanden, der
        in der Situation ist, überhaupt PKH beantragen zu müs-
        sen.
        Die angesprochene Abwägung ist also nicht weniger
        als eine unverhohlene Verhöhnung der Armen. Lesen Sie
        den Absatz einmal richtig! Man sagt dort den sozial Be-
        dürftigen: Wenn ihr um das Wenige kämpfen wollt, das
        euch noch zusteht, dann helfen wir euch nicht mehr!
        Denn dieses Wenige ist uns zu billig. Es ist uns vor allem
        zu teuer, euch dabei zu helfen, dieses Wenige zu erhal-
        ten.
        Darüber hinaus sorgen die vom Entwurf vorgesehe-
        nen drastischen Mitwirkungs- und Informationspflichten
        dafür, dass sich der Bedürftige wie ein glückloser Bitt-
        steller vor dem Recht fühlen muss. Als Richter kann ich
        Ihnen versichern, dass jedes Erfordernis, jede Mitwir-
        kung, jede Bedingung, die der Gesetzgeber den Bürge-
        rinnen abverlangt, zuallererst diejenigen trifft, denen es
        stets am schwersten fällt, vor solchen Hürden ihr Risiko
        und ihre Pflichten noch zu kalkulieren: den sozial
        9970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Schwachen! Man macht es denen zusätzlich schwer, die
        es ohnehin schon schwer haben.
        Teilt der Antragsteller etwa eine Anschriftsänderung
        versehentlich nicht oder verspätet mit, so soll dies nach
        dem neuen § 124 Nr. 3 a ZPO – trotz anhaltender Be-
        dürftigkeit – zu einer Versagung oder Aufhebung der
        PKH führen. Willigt der Antragsteller nicht schon bei
        der Beantragung in die Einholung von Auskünften zu
        seinem Vermögen bei Dritten ein, zieht das nach den
        vorgesehenen neuen §§ 117, 118 ZPO die Ablehnung
        der PKH nach sich. Ein begründeter Anlass für die Wei-
        gerung im Einzelfall wird schon gar nicht für möglich
        gehalten. Es wird dem Antragsteller bereits verwehrt,
        überhaupt konkret erläutern zu dürfen, warum er einer
        solchen Auskunftseinholung aufgrund konkreter Um-
        stände mit berechtigter Sorge begegnet.
        Und dann kann sich der Entwurf, der ja auch die
        Übernahme von Gerichtsgebühren begrenzen will, rüh-
        men, selbst eine neue Gebühr einzuführen: Die Bewilli-
        gung eines PKH-Antrages soll nach dem Entwurf jedem
        Antragsteller, der sich auch nur knapp überhalb des
        Existenzminimums befindet, eine Pflicht zur Zahlung
        von 50 Euro bescheren. Das sind 50 Euro, die nicht er-
        stattet werden und von der Gegenseite selbst im Falle
        des Obsiegens nicht zu übernehmen sind.
        Zu schlechter Letzt ist es das Existenzminimum
        selbst, das der Entwurf für die ratenfreie PKH praktisch
        neu definieren will: Das einzusetzende Schoneinkom-
        men wird in etwa halbiert. Halbiert! Ich komme daher
        auf die eingangs getroffene Überlegung zu der Glaub-
        würdigkeit sozialdemokratischer Absichtserklärungen
        zurück: Sollte die SPD – trotz gegenteiliger Bekundun-
        gen – diesem Entwurf dennoch ihre Zustimmung geben,
        hätte sie sich endgültig als Partei sozialer Restgerechtig-
        keit disqualifiziert.
        Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
        Gesetzentwurf des Bundesrates verfolgt das Ziel, der an-
        geblich exorbitant gestiegenen Prozesskostenhilfe einen
        Riegel vorzuschieben. Es ist ein reines Kostendämp-
        fungsgesetz ohne Rücksicht auf Verluste an Sozialstaat-
        lichkeit wie Rechtsstaatlichkeit. Die im Entwurf genann-
        ten Zahlen, mit denen die Länder die behauptete
        „Kostenexplosion bei der Prozesskostenhilfe“ belegen
        wollen, basieren auf recht windigen Hochrechnungen
        Sie stammen aus einer unveröffentlichten Kosten-Leis-
        tungs-Gegenüberstellung des Landes Baden-Württem-
        berg. Eine bundesweite Regelung, die die Prozesskos-
        tenhilfe grundlegend infrage stellt, lässt sich so nicht
        seriös begründen. Ob die Länder – wie von der Bundes-
        regierung angemahnt – inzwischen geeignete Maßnah-
        men zur genaueren Erfassung der PKH-Aufwendungen
        ergriffen haben, ist nicht bekannt.
        Richtig ist, dass die staatlichen Aufwendungen für die
        Prozesskostenhilfe gestiegen sind. Der Hauptgrund liegt
        in der gesetzlichen Anhebung der Rechtsanwaltsvergü-
        tung durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz von
        2004. Sie war viele Jahre nicht angehoben worden und
        garantierte schon viel zu lang kein ausreichendes Ange-
        bot an qualifizierter anwaltlicher Vertretung vor Gericht.
        Dieses Gesetz hatte der Bundesrat übrigens einstimmig
        mitgetragen. Die schon damals vorhersehbaren und ge-
        wollten Folgen, die mit der notwendigen Anhebung der
        Anwaltsvergütung verbunden waren, jetzt auf sozial
        Schwache abwälzen zu wollen, ist sozialpolitischer
        Kahlschlag und – offen gesagt – schlicht unverfroren.
        Ich will nun auf die einzelnen Vorschläge des Bundes-
        rates eingehen. Die schwerwiegendsten ignorieren die
        mit dem Justizgewährungsanspruch gezogenen verfas-
        sungsrechtlichen Grenzen und – das möchte ich schon
        jetzt vorwegnehmen – werden von uns Grünen konse-
        quent abgelehnt:
        Die Prozesskostenhilfe beantragende Partei soll nach
        der Vorstellung der Länder eine noch stärkere Eigenbe-
        teiligung als bisher leisten. Zu diesem Zweck schlägt der
        Bundesrat vor, die Einkommensfreibeträge auf das so-
        zialhilferechtliche Existenzminimum abzusenken. Im
        Fall der Ratenzahlung sollen sogar pauschal Zweidrittel
        des Einkommens als Ratenhöhe eingesetzt werden. Und
        damit nicht genug: Die gegenwärtige zeitliche Begren-
        zung der Ratenzahlung auf maximal 48 Monate soll ge-
        strichen werden. Damit werden gerade Menschen in pre-
        kären finanziellen Situationen auf unabsehbare Zeit
        belastet.
        Wir schließen uns der Bundesregierung hier aus-
        drücklich an, die in ihrer Stellungnahme gegenüber die-
        sem und fast allen anderen Vorschlägen der Länder
        „durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken“ gel-
        tend macht.
        An den Rand des Existenzminimums will der Bun-
        desrat die Rechtssuchenden offenbar auch treiben, wenn
        er vorschlägt, dass das durch den Prozess Erlangte für
        die Rückzahlung der Prozesskostenhilfe vollumfänglich
        eingesetzt werden muss, und zwar ohne Begrenzung auf
        Existenzminimum oder Schonvermögen. Neben ihrer ins
        Auge springenden Verfassungswidrigkeit schaffen sol-
        che Vorschläge darüber hinaus den an anderer Stelle oft
        so verteufelten Bürokratiezuwachs.
        Doch nicht genug: Die Länder wollen daneben auch
        noch – im Fall der Ratenzahlung – eine sogenannte Pro-
        zesskostenhilfe-Bewilligungsgebühr in Höhe von
        50 Euro einführen. Auch dies lehnen wir Grünen ab. Der
        Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 GG liegt
        auf der Hand, wenn diejenigen keine Gebühr entrichten
        müssen, die ohne Bewilligung von Prozesshilfe eine Ra-
        tenzahlung erst nach Eingang der Kostenrechnung mit
        der Landeskasse vereinbaren. Abgesehen davon ent-
        spricht die Gebühr nicht – wie erforderlich – einer kon-
        kreten staatlichen Leistung.
        Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung: Aus
        sämtlichen Regelungsvorschlägen der Länder springt
        einen Missgunst an – eine Missgunst gegenüber denje-
        nigen, die nur mithilfe des Staates ihr Recht vor Ge-
        richt geltend machen können. Als Beispiel sei hier nur
        ein Satz aus der Begründung zitiert: „Zu den zentralen
        Anliegen des Gesetzentwurfs gehört es daher, den Ge-
        richten wirksamere Mittel gegen die missbräuchliche
        Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe an die Hand
        zu geben.“ Die Vorschläge richten sich aber mitnichten
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9971
        (A) (C)
        (B) (D)
        gegen Einzelne, sondern gegen alle Menschen, die Pro-
        zesskostenhilfe benötigen, um zu ihrem Recht zu kom-
        men.
        Ich fordere deshalb alle in diesem Hohen Hause auf,
        der bisher auf den verschiedensten Podien und öffentli-
        chen Veranstaltungen zuweilen zu hörenden Ablehnung
        solcher Vorschläge Taten folgen zu lassen: Dieses Ge-
        setz verdient nichts anderes als ein einhelliges Nein.
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
        desministerin der Justiz: Der Gesetzentwurf des Bundes-
        rates soll die Ausgaben im Bereich der Prozesskostenhilfe
        spürbar reduzieren. Diese Ausgaben sind zuletzt erheblich
        gestiegen. Natürlich steht die Bundesregierung den Län-
        dern bei der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen
        Haushalte zur Seite. Allerdings müssen die Einschnitte für
        die Betroffenen zumutbar sein, und sie dürfen nicht gegen
        die Verfassung verstoßen.
        Die Bundesregierung begrüßt Maßnahmen, die einer
        missbräuchlichen Inanspruchnahme von Prozesskosten-
        hilfe entgegenwirken. Es ist daher richtig, wenn der Ent-
        wurf die Empfänger von Prozesskostenhilfe verpflichtet,
        dem Gericht unaufgefordert eine Verbesserung ihrer Ein-
        kommenssituation mitzuteilen. Sinnvoll ist es außerdem,
        mutwillige Prozesskostenhilfeanträge genauer unter die
        Lupe zu nehmen, damit der Staat keine unsinnigen Pro-
        zesse finanziert.
        Kernstück des vorliegenden Entwurfes ist allerdings
        die stärkere Eigenbeteiligung der Partei an den Kosten
        des Rechtsstreits. Auch hier gibt es sicherlich Verbes-
        serungsmöglichkeiten, an die aber mit Augenmaß heran-
        gegangen werden muss. Der Justizgewährungsanspruch
        zieht klare verfassungsrechtliche Grenzen, die wir zu
        respektieren haben. Daraus folgt, dass niemand dazu ge-
        zwungen werden darf, zur Verfolgung seiner Rechte das
        verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum einzu-
        setzen.
        Ich habe Bedenken, ob diese verfassungsrechtlichen
        Vorgaben in dem vorliegenden Entwurf überall hinrei-
        chend beachtet worden sind. Problematisch erscheint
        mir insbesondere der Vorschlag, die Partei zur Heraus-
        gabe sämtlicher Vermögenswerte zu verpflichten, die sie
        mithilfe der Prozesskostenhilfe erstritten hat. Mit diesem
        Vorschlag sollen auch solche Beträge abgeschöpft wer-
        den, die das Existenzminimum sichern oder sogenanntes
        Schonvermögen darstellen. Das können insbesondere
        Unterhaltsansprüche oder Arbeitslohn sein. Es ist aber
        widersprüchlich, ineffizient und bürokratisch, der be-
        dürftigen Partei im Prozesskostenhilfeverfahren das zu
        nehmen, was ihr der Staat bei der Sozialhilfe sogleich
        wieder zukommen lassen müsste.
        Im Übrigen könnte sich die bedürftige Partei gegen
        eine Vollstreckung von Verfahrenskosten durch den Staat
        auf einen Pfändungsschutz berufen, wenn zum Beispiel
        unpfändbarer Unterhalt oder Arbeitsentgelt abgeschöpft
        werden sollen. Die hier vorgeschlagene Gesetzesänderung
        zielt also letztlich darauf ab, dem Justizfiskus mit dem ei-
        nen Gesetz einen Anspruch zu verschaffen, den er wegen
        eines anderen Gesetzes gar nicht durchsetzen darf. Beson-
        ders bedenklich erscheint dies vor dem Hintergrund von
        Plänen in Baden-Württemberg, die Einziehung von For-
        derungen gerade auch für den Bereich der Prozesskosten-
        hilfe auf private Inkassounternehmen zu übertragen.
        Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen außer-
        dem die Freibeträge an die sozialhilferechtlichen Regel-
        sätze angeglichen und auf das reine Existenzminimum re-
        duziert werden. Der Entwurf sieht neben dieser
        betragsmäßigen Absenkung auch eine Streichung der bis-
        her geltenden bundesweiten Pauschalierung der Freibe-
        träge vor und plädiert für eine Differenzierung nach einzel-
        nen Ländern und Lebensaltersstufen bei Freibeträgen für
        Unterhaltsberechtigte. Zwar mag dieser Vorschlag den ver-
        fassungsrechtlichen Vorgaben noch genügen, ich glaube
        aber, dass dadurch das Bewilligungsverfahren verkompli-
        ziert und bürokratischer wird. Es ist mehr als fraglich, ob
        sich so die erhofften Einsparpotenziale realisieren lassen.
        Ich bin alles in allem gleichwohl zuversichtlich, dass
        am Ende der nun anstehenden Beratungen in diesem
        Hause ein gutes Ergebnis stehen wird, das die sinnvollen
        und richtigen Vorschläge aus dem Bundesratsentwurf für
        ein Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz fortentwickelt
        und umsetzt.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
        setzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhe-
        bung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
        der Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG) (Ta-
        gesordnungspunkt 20)
        Norbert Geis (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
        will mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weitere Ur-
        teile, die in der nationalsozialistischen Zeit ergangen
        sind, ohne Einzelfallprüfung pauschal aufheben und für
        ungültig erklären. Mit dem Gesetz über die Aufhebung
        nationalsozialistischer Urteile vom 25. August 1998 hat
        der Gesetzgeber Gesetze aufgelistet, die den elementa-
        ren Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprochen ha-
        ben. Die aufgrund dieser Gesetze ergangenen Urteile
        wurden durch Gesetz pauschal aufgehoben. Den Katalog
        dieser Gesetze hat die rot-grüne Koalition mit Gesetz
        vom 23. Juli 2002 ergänzt. Nun will die Fraktion Die
        Linke diesen Katalog um die Tatbestände des Militär-
        strafgesetzbuches, die vom Kriegsverrat handeln (§ 57,
        59 und 60 NStGB) erweitern und damit auch alle Ur-
        teile, die auf Grundlage dieses Gesetzes ergangen sind,
        pauschal aufheben.
        Man fragt sich natürlich, warum mehr als 60 Jahre
        nach Ende der Nazizeit immer noch die Forderung
        kommt, Urteile aus dieser Zeit pauschal aufzuheben.
        Pauschal heißt, ohne Prüfung des Einzelfalles, ohne sich
        die Frage zu stellen, ob einzelne Urteile damals, bei allen
        Abstrichen, die man machen muss, nach den damaligen
        Umständen nicht doch rechtens gewesen sein könnten.
        Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil
        vom 19. Februar 1957 bei der pauschalen Aufhebung
        9972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        von Gesetzen nationalsozialistischer Herkunft sehr abge-
        wogene Maßstäbe gesetzt. Es hat festgestellt, dass unter
        der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Gesetze
        entstanden sind, denen die Unmenschlichkeit und Unge-
        rechtigkeit gewissermaßen auf der Stirn geschrieben
        stand, und dass ihnen deshalb jede Gültigkeit als Recht
        abgesprochen werden muss. Selbstverständlich sind
        dann auch die Urteile, die auf solchen Gesetzesgrundla-
        gen ergangen sind, von Anfang an nichtig.
        Das Verfassungsgericht hat aber auch ausgeführt, dass
        nicht alle Gesetze, nur weil sie in der Nazizeit erlassen
        wurden, ohne Prüfung ihres Inhaltes pauschal als rechts-
        unwirksam aufgehoben werden dürfen: „Eine solche An-
        nahme würde übersehen, dass auch eine ungerechte und
        von geläuterter Auffassung aus abzulehnende Gesetzge-
        bung durch das auch ihr innewohnende Ordnungsele-
        ment Geltung gewinnen kann.“ Das Verfassungsgericht
        weist darauf hin, dass durch solche Gesetze wenigstens
        Rechtssicherheit geschaffen werden konnte und, wenn
        die äußersten Grenzen der Gerechtigkeit nicht über-
        schritten wurden, so dem Rechtschaos entgegengewirkt
        werden konnte. In diesem Sinne können auch Urteile
        Bestand haben, wenn sie innerhalb des weit gesteckten
        Rahmens der Gerechtigkeit für Rechtssicherheit und für
        Rechtsordnung gesorgt und dem Rechtschaos entgegen-
        gewirkt haben. Deshalb ist also bei der pauschalen Auf-
        hebung solcher Urteile größte Sorgfalt anzuwenden. Im-
        mer muss gefragt werden, ob diese Urteile, wenn auch
        bei aller Unzulänglichkeit, nicht doch der Rechtsidee
        entsprochen haben, wie sie zu allen Zeiten Gültigkeit
        hat.
        Diesen Gedanken des Verfassungsgerichtes hat das
        Gesetz vom 25. August 1998 aufgegriffen. Durch § 1
        dieses Gesetzes wurden Urteile, die unter Verstoß gegen
        elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem
        30. Januar 1933 erlassen wurden, pauschal aufgehoben.
        In diesen Fällen kann die Staatsanwaltschaft auf Antrag
        die Aufhebung des Urteils feststellen. Über die Feststel-
        lung der Aufhebung erteilt die Staatsanwaltschaft eine
        Bescheinigung. Nicht also die Staatsanwaltschaft hebt
        auf, sondern die Staatsanwaltschaft stellt nur fest, dass
        dieses Urteil unter die Generalklausel des § 1 und damit
        durch das Gesetz vom 25. August 1998 pauschal aufge-
        hoben worden ist.
        Um nun der Staatsanwaltschaft die Feststellung, dass
        ein Urteil aus der NS-Zeit im Sinne dieser genannten
        Generalklausel aufgehoben ist, zu erleichtern, hat der
        Gesetzgeber in § 2 Regelbeispiele gebildet. Dazu gehört
        ein langer Katalog von Nazigesetzen. Bei solchen Geset-
        zen ist davon auszugehen, dass Urteile, die darauf beru-
        hen, gegen die Generalklausel verstoßen und deshalb
        ohne Einzelfallprüfung aufgehoben sind. Beruhen Ur-
        teile nicht auf diesen Regelbeispielen, hat die Staatsan-
        waltschaft im Einzelfall dennoch die Möglichkeit, fest-
        zustellen, dass ein Urteil im Sinne der Generalklausel
        des § 1 des Gesetzes vom 25. August 1998 aufgehoben
        ist, weil die Voraussetzung des § 1 gegeben ist. Der da-
        mals mit Gesetz von 1998 erstellte Katalog von Geset-
        zen wurde über die Parteigrenzen hinweg einvernehm-
        lich beschlossen.
        Mit dem Gesetz vom 23. Juli 2002 hat die damalige
        rot-grüne Regierungskoalition diesen Katalog gegen das
        Votum von CDU/CSU nochmals erweitert und darin die
        § 175, 174 a RStGB sowie einzelne Vorschriften des
        Militärstrafgesetzbuches (unter anderem Desertion,
        Feigheit vor dem Feind, unerlaubte Entfernung) aufge-
        nommen. Für die CDU/CSU-Fraktion war bei der Ab-
        stimmung klar, dass die Urteile von Militärgerichten ge-
        gen Homosexuelle pauschal aufzuheben waren, weil sie
        dem elementaren Gedanken der Gerechtigkeit wider-
        sprachen. Dies hatte der Bundestag bereits in einer frü-
        heren Entschließung auch so zum Ausdruck gebracht.
        Die CDU/CSU-Fraktion war jedoch nicht damit einver-
        standen, dass auch die Urteile wegen Desertion pauschal
        aufzuheben waren, weil bekannt war, dass in manchen
        Fällen durch Desertion Unrecht geschehen ist. Dieses
        Unrecht wollte die CDU/CSU damals im Nachhinein
        nicht für Recht erklären. Im Übrigen wollten wir auch
        nicht die Richter, wie Dr. Sack, der mit Bonhoeffer hin-
        gerichtet worden ist, nachträglich pauschal ins Unrecht
        setzen, weil sie solche Urteile erlassen haben. Deshalb
        hat die CDU/CSU diesem Gesetz nicht zugestimmt.
        Immerhin aber hat der Gesetzgeber bei dieser Ände-
        rung des NS-Aufhebungsgesetzes im Jahre 2002 be-
        wusst davon abgesehen, Verurteilungen wegen Kriegs-
        verrat per se als nationalsozialistisches Unrecht zu
        qualifizieren. Dies heißt nicht, dass nicht nach Prüfung
        des Einzelfalles die Staatsanwaltschaft feststellen kann,
        dass es sich um ein Unrechtsurteil handelt, das aufgeho-
        ben ist, weil es gegen die Generalklausel des § 1 des Ge-
        setzes vom 25. August 1998 verstößt. Die rot-grüne Ko-
        alition sah aber in einer generellen Aufhebung von
        Urteilen, die sich auf den Tatbestand des Kriegsverrates
        bezogen, neues Unrecht. Wer Kriegsverrat beging, hat
        oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kame-
        raden geschadet, ja sie oft in Lebensgefahr gebracht, in
        der sie dann auch umgekommen sind, dies zum Beispiel
        dann, wenn der Verräter zu den feindlichen Linien über-
        wechselte und, um sich dort lieb Kind zu machen, die
        Stellungen der eigenen Kameraden verriet, von der er
        geflüchtet war. Der Feind konnte sich darauf einrichten
        und den Standort der Truppe unter Beschuss nehmen,
        wobei viele ihr Leben verloren haben.
        Dies gilt auch für die Fälle, dass Überläufer Pläne von
        Truppenbewegungen an den Feind verraten haben. Dies
        führte dazu, dass die eigenen Kameraden nicht selten in
        eine tödliche Falle gerieten. Der Verräter hat in diesen
        Fällen auch nach unseren heutigen Maßstäben verwerf-
        lich gehandelt. Aus diesem Grund hat die rot-grüne Ko-
        alition bei der seinerzeitigen Ergänzung des Gesetzes zur
        Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
        Strafrechtspflege vom 23. Juli 2002 ausdrücklich davon
        abgesehen, die Urteile wegen Kriegsverrates pauschal
        aufzuheben. Die damalige Mehrheit scheute davor zu-
        rück, ein Verhalten, durch welches das Leben der eige-
        nen Kameraden schwer in Gefahr geraten ist, nachträg-
        lich zu sanktionieren. Wer desertiert ist, um die eigene
        Haut zu retten und um beim Feind überhaupt aufgenom-
        men zu werden, auch die Stellungen seiner Kameraden
        verriet, hat sich nach allen Maßstäben der zivilisierten
        Welt in höchstem Maße verwerflich verhalten. Durch die
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9973
        (A) (C)
        (B) (D)
        generelle Aufhebung dieser damaligen Urteile wegen
        Kriegsverrates aber würde ein solch verwerfliches Ver-
        halten nachträglich sanktioniert werden. Dies kann nicht
        rechtens sein.
        Die Fraktion Die Linke will sich aber über diese
        Grundsätze hinwegsetzen. Ihren Gesetzentwurf begrün-
        det sie damit, der Kriegsverrat sei immer politisch und
        moralisch motiviert gewesen und sei mit kriminellen Ta-
        ten nicht vereinbar. Dass dies im Einzelfall gerade nicht
        richtig ist, habe ich dargetan.
        Im Gesetzentwurf wird als weiterer Grund genannt,
        durch solche verräterische Taten sei die Militärmacht
        Hitlers geschwächt worden und der Krieg sei auf diese
        Weise zu einem schnelleren Ende gekommen.
        Ganz abgesehen davon, dass ganz andere Gründe den
        Zusammenbruch des Nazi-Regimes verursacht haben, ist
        diese Argumentation in hohem Maße machiavellistisch.
        Man kann nicht den Teufel mit dem Beelzebub austrei-
        ben, kann nicht Unrecht durch Unrecht ersetzen. So ent-
        steht immer neues Unrecht. Außerdem missachtet dieses
        Argument den wichtigen Unterschied, den das Völker-
        recht zu allen Zeiten gemacht hat: das ius in bello und
        das ius ad bellum. Hitler hatte zweifellos kein Recht zum
        Angriffskrieg. Das ius ad bellum stand ihm nicht zur
        Seite. Er ist deshalb einer der größten Kriegsverbrecher
        aller Zeiten. Aber auch in einem ungerechten Krieg müs-
        sen Rechtsregeln gelten, kann nicht das Verbrechen des
        Verrates generell als gerechtfertigte Tat abgesegnet wer-
        den.
        Das heißt nicht, dass eine solche Tat im Einzelfall
        nicht als eine Widerstandstat anzusehen ist. Dazu aber
        bedarf es einer Einzelfallprüfung. Sonst würde man pau-
        schal Widerstandskämpfer mit simplen verbrecherischen
        Verrätern auf eine Stufe stellen. Deshalb lehnen wir die
        pauschale Aufhebung von Urteilen, die auf Kriegsverrat
        gestützt sind, ab.
        Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Zu Beginn mei-
        ner Rede möchte ich eine grundsätzliche Feststellung
        treffen: Ein Diskurs um Rechtsprechung im Dritten
        Reich ist erst vor wenigen Wochen wieder aufgeflammt.
        Ich bin der festen Überzeugung, dass uns dieser Ab-
        schnitt unserer Rechtsgeschichte eines ganz besonders
        lehrt: Aus Wissen allein entstehen weder persönliche
        Moral noch ethische Überzeugungen. Gesetzestexte und
        Kommentare aus der Zeit des Nationalsozialismus ma-
        chen dies ebenso deutlich wie die Tatsache, dass auch
        viele Richter und andere Praktiker davon überzeugt wa-
        ren, dass der Nationalsozialismus auf der Höhe der Zeit
        sei. Darauf basierende Entscheidungen waren in Wahr-
        heit Akte der Menschenverachtung und der Vernichtung
        in der Form des Urteils.
        Wir beraten heute in erster Lesung den PDS-Entwurf
        eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
        Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
        Strafrechtspflege. Diese Thematik ist – wir alle wissen
        dies – nicht zum ersten Mal Gegenstand der parlamenta-
        rischen Beratungen in unserem Hause. Angesichts des
        Ausmaßes des Unrechts, das uns der Nationalsozialis-
        mus hinterlassen hat, ist dies auch nicht weiter verwun-
        derlich.
        Lassen Sie mich zunächst auf die bisherige Rechts-
        entwicklung eingehen. Durch das Gesetz zur Aufhebung
        nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechts-
        pflege vom 25. August 1998 wurden verurteilende straf-
        gerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen
        elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem
        30. Januar 1933 zur Durchsetzung des nationalsozialisti-
        schen Terrors ergangen sind, aufgehoben. Berücksichtigt
        wurden hier strafgerichtliche Entscheidungen, die aus
        politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder
        weltanschaulichen Gründen ergangen sind. Dieses Ge-
        setz hat sich zwar grundsätzlich bewährt, jedoch wurde
        die in einigen Fällen vorgesehene Einzelfallprüfung der
        Aufgabenstellung teilweise nicht gerecht. Aus diesem
        Grund wurde das Gesetz am 23. Juli 2002 entsprechend
        geändert. Einige Verurteilungen – zum Beispiel wegen
        Kriegsverrats – blieben von der generellen Aufhebung
        weiterhin ganz bewusst ausgeschlossen – und dies aus
        guten Gründen, wie die Gesetzesänderung deutlich ge-
        macht hat. Hier wurde ja versucht, sämtliche Tatbe-
        stände des Militärstrafgesetzbuches zu erfassen, die eine
        pauschale Aufhebung rechtfertigten. Dies hatte zur
        Folge, dass insgesamt 44 Straftatbestände zusätzlich in
        das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Un-
        rechtsurteile aufgenommen wurden. Ausdrücklich nicht
        aufgenommen wurden Straftatbestände, bei denen die
        Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach wie
        vor nicht verantwortbar erschien. Von zentraler Bedeu-
        tung ist dabei der Kriegsverrat – §§ 57, 59, 60 MStGB –,
        da in Fällen des Kriegsverrats möglicherweise doch ein
        Unrechtsgehalt gegeben ist. Ich möchte hierbei vor al-
        lem die nicht ausschließbare Lebensgefährdung für eine
        Vielzahl von Soldaten hervorheben, die auch durch den
        Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen
        Angriffskrieges begangen wurde, keinen Anlass zur pau-
        schalen Rehabilitierung geben konnte.
        An dieser Einschätzung wird festgehalten, wie die
        Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
        der PDS vom 19. Juni 2006 belegt. Auf die Fragestel-
        lung „Ist aus Sicht der Bundesregierung der Verrat des
        nationalsozialistischen Vernichtungskriegs verurteilens-
        wert, und, wenn ja, warum?“ stellt die Bundesregierung
        fest:
        Die Frage lässt sich nur im konkreten Einzelfall be-
        antworten. Dabei kommt es darauf an, ob infolge
        des Verrats zusätzliche Opfer unter der Zivilbevöl-
        kerung und/oder deutsche Soldaten zu beklagen
        waren oder ob infolge des Verrats derartige Opfer
        gerade vermieden wurden. Der Gesetzgeber hat
        sich deshalb nach Auffassung der Bundesregierung
        zu Recht dafür entschieden, bei der Änderung des
        Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Un-
        rechtsurteile in der Strafrechtspflege für diese Fälle
        eine pauschale Aufhebung abzulehnen und es bei
        der Einzelfallprüfung zu belassen …
        Da es bei den Verurteilungen wegen Kriegsverrats ge-
        rade auf die Motive ankommt, ist eine Einzelfallprüfung
        dringend geboten.
        9974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dieser Sachverhalt macht deutlich, dass es für die hier
        im Fokus stehende Problematik keine pauschale Lösung
        geben kann, sondern dass es der Einzelbetrachtung eines
        jeden Falles bedarf. Insofern ist die in dem Gesetzent-
        wurf der PDS vorgesehene Lösung, die Anlage zu § 2
        Nr. 3 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer
        Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August
        1998 in Nr. 26 a durch die §§ 51, 59, 60 des in der Zeit
        der nationalsozialistischen Herrschaft geltenden Militär-
        strafbuches zu ergänzen, abzulehnen.
        Wenn wir uns an die Zeit des Nationalsozialismus er-
        innern, dann gedenken wir vor allem anderen der Millio-
        nen Opfer, die dieses verbrecherische Regime verschul-
        det hat. Das geschehene Unrecht kann niemals
        ungeschehen gemacht werden. Kein Gesetz und keine
        Entschädigungsleistung könnten dieses Ziel Wirklich-
        keit werden lassen, könnten dieses millionenfache Leid
        auch nur ansatzweise aus der Welt schaffen. Ich bin mir
        aber sicher, dass wir mit den Regelungen, die das Gesetz
        bisher vorsieht, das Maximum der pauschalen Aufhe-
        bung von Unrechtsurteilen erreicht haben. Alles, was
        darüber hinausreichen soll, muss im Einzelfall geprüft
        werden.
        Jörg van Essen (FDP): Ich finde es fast schon ge-
        spenstisch, dass wir uns heute mit diesem Antrag be-
        schäftigen. Es hat den Eindruck, man hätte es hier mit
        Untoten zu tun. Wie oft – das müssen sich die Antrag-
        steller von der Linksfraktion fragen lassen – wollen wir
        uns denn noch mit den Schandurteilen aus der NS-Zeit
        beschäftigen? Man kann doch juristisch ein Urteil nur
        einmal aufheben! Weder das Dritte Reich überdauerte
        1 000 Jahre, noch leben aufgehobene NS-Urteile immer
        wieder auf!
        Nein, mit diesem Antrag machen Sie sich schon hand-
        werklich nicht um unseren Rechtsstaat verdient. Das
        wundert auch nicht weiter, da Sie in dieser Legislaturpe-
        riode nicht sonderlich mit rechtspolitischen Anträgen
        aufgefallen sind.
        Leider ist das Thema zu ernst, als dass man Ihren
        Antrag einfach unkommentiert stehen lassen könnte.
        Deswegen erlauben Sie mir bitte die nachfolgenden Aus-
        führungen: Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti-
        scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege von 1998
        ist unmissverständlich. Nach § 1 werden verurteilende
        strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß ge-
        gen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem
        30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhal-
        tung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus
        politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder
        weltanschaulichen Gründen ergangen sind, aufgehoben.
        Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Verfahren
        werden eingestellt.
        Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke für ein
        zweites Gesetz zur Änderung dieses Gesetzes, wie wir
        ihn heute in erster Lesung beraten, stellt Erreichtes in
        Frage, mehr noch: Er verunsichert Opfer der NS-Un-
        rechtsjustiz mehr, anstatt ihnen zu helfen.
        Zunächst eine grundsätzliche Anmerkung: Der An-
        trag verkennt die Systematik von § 2, der Regelbeispiele
        für Unrechtsentscheidungen bildet, und dabei in der Tat
        in Nr. 3 auf Entscheidungen Bezug nimmt, die auf den in
        einer Anlage genannten gesetzlichen Vorschriften beru-
        hen. Der Katalog dieser gesetzlichen Vorschriften erhob
        schon nach der Gesetzesbegründung keinen Anspruch
        auf Vollständigkeit und sollte auch keine Ausschluss-
        funktion haben.
        Dadurch, dass wir – nach dem ersten Änderungsge-
        setz – nun schon zum zweiten Mal Änderungen dieses
        Kataloges diskutieren, erhöhen wir ihn in seiner Bedeu-
        tung und entwerten gleichzeitig die Klarheit und Unmiss-
        verständlichkeit der Generalklausel in § 1. Ich würde mir
        wünschen – übrigens nicht nur hier –, wenn wir als Ge-
        setzgeber mehr Vertrauen in unsere Gerichte und die Be-
        deutung von Generalklauseln hätten.
        Erlauben Sie mir, dass ich Herrn Korte als einen der
        Verfasser des Antrages direkt anspreche. Ehrlich gesagt,
        finde ich insbesondere die Tonalität Ihres Antrages und
        die Begleitmusik sehr befremdlich und der Sache nicht
        dienlich. Der Antrag versucht Zwietracht dort zu säen,
        wo große Einigkeit in diesem Haus – auch mit Blick auf
        den Eindruck im Ausland – angebracht wäre und in mei-
        nen Augen bei der Bewertung von NS-Unrecht auch im-
        mer gegeben war.
        In den vergangenen Jahren haben wir uns wiederholt
        mit der Frage der Aufhebung der NS-Unrechtsurteile be-
        fasst. Dieses Haus hat bewiesen, dass der Bundestag sehr
        wohl in der Lage ist, seiner besonderen Verantwortung
        für die Opfer des Naziregimes gerecht zu werden. Wir
        müssen alles tun, um dem Eindruck der Fortgeltung na-
        tionalsozialistischen Unrechts zu begegnen.
        Der Antrag Ihrer Fraktion lag dem Deutschen Bun-
        destag schon einmal in der 14. Legislaturperiode zur Be-
        ratung vor. Damals hat dieses Haus mit großer Mehrheit
        dagegenvotiert. Die Rednerin der PDS, Frau Dr. Evelyn
        Kenzler, sagte dennoch damals – ich darf aus dem Proto-
        koll vom 17. Mai 2002 zitieren –:
        Der Gesetzentwurf wird weitgehend dem gerecht,
        was meine Fraktion mit ihrem Antrag vom März
        2001 erreichen wollte.
        Die jetzt gewählte Tonalität passt dazu nicht. Ich habe
        mit Befremden verfolgt, wie Sie diese Gesetzesinitiative
        vorbereitet haben.
        Sie zitieren in einer Kleinen Anfrage mit dem Titel
        „Aufhebung der NS-Militärgerichtsurteile wegen
        Kriegsverrates“ im Sommer letzten Jahres die Bundes-
        justizministerin mit dem Satz, dass der „in Fällen des
        Kriegsverrates möglicherweise gegebene Unrechtsgehalt
        (nicht ausschliessbare Lebensgefährdung für eine Viel-
        zahl von Soldaten)“ äußerst hoch erschiene, „so dass
        auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechts-
        widrigen Angriffskrieges begangen worden sind, keinen
        Anlass zur pauschalen Rehabilitierung begründen
        konnte.“ Sie kritisieren sodann diese Äußerungen und
        führen unter anderem aus, dass es als äußerst fragwürdig
        erscheine, warum hier eine „nicht ausschliessbare Le-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9975
        (A) (C)
        (B) (D)
        bensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten“ als „Un-
        recht“ bezeichnet werde.
        Leben ist ein kostbares Gut. Das gilt auch für das Le-
        ben von Soldaten, unabhängig davon – auch wenn diese
        Aussage manchmal schwerfällt –, in wessen Dienst sie
        stehen. Achtung vor dem Leben ist eine der Kernaussa-
        gen unseres Grundgesetzes. Ich bitte Sie, auch in dieser
        Debatte diesen Respekt zu wahren. Unterlassen Sie Po-
        lemik!
        Erinnern wir uns: Bei den Beratungen über das NS-
        Aufhebungsgesetz haben wir uns bereits vor Jahren auch
        mit den Urteilen der NS-Militärjustiz gegen Deserteure
        der Wehrmacht intensiv beschäftigt. Der Bundestag hat
        dabei festgestellt, dass die Gerichte der Militärjustiz im
        NS-Staat keine Gerichte im rechtsstaatlichen Sinne wa-
        ren.
        Wir haben in diesen Fragen so viel Konsens – ich be-
        fürchte, dass Sie diesen mit der Tonalität und Wortwahl
        im Kontext mit diesem Antrag gefährden. Das wäre
        brandgefährlich. Es wäre insbesondere nicht im Sinne
        der Opfer.
        Ich habe schon 2002 in der Debatte um das erste Än-
        derungsgesetz klargestellt, dass es für die FDP selbstver-
        ständlich ist, dass die NS-Unrechtsurteile bereits 1998
        aufgehoben worden sind. Hier nun wieder Einzelfälle
        herauszugreifen, ist – so meine Befürchtung – eine er-
        neute Demütigung der Opfer. Erneut wird der Eindruck
        erweckt, dass diese Menschen weitere Jahre lang nicht
        rehabilitiert gewesen seien. Das ist etwas, was ich uner-
        träglich finde.
        Ich habe den Antrag sorgfältig gelesen. Und es ist
        auch bekannt, dass ich Kritik von Herrn Ludwig
        Baumann, dem Vorsitzenden der Bundsvereinigung der
        Opfer der NS-Militärjustiz sehr ernst nehme. Ich bin mir
        aber nicht sicher, ob hier wirklich Regelungsbedarf be-
        steht. In meiner Erinnerung haben wir uns 1998 sehr
        gründlich und sachlich mit all den vielen verschiedenen
        Situationen der NS-Justiz befasst und sind ihr, so meine
        ich, gerecht geworden. Unsere Beratungen damals waren
        sorgfältig und von großem Respekt vor den Opfern ge-
        prägt. Ich bitte die Kollegen von der Linken, diesen Res-
        pekt vor den Opfern nicht für kurze Effekte in Frage zu
        stellen.
        Als FDP-Bundestagsfraktion darf ich Ihnen versi-
        chern, dass wir uns bei den Beratungen des Antrages ins-
        besondere darum bemühen werden, die Opfer der NS-
        Justiz nicht zu verunsichern und Erreichtes von 1998 zu
        bewahren.
        Jan Korte (DIE LINKE): Ich freue mich, dass der
        Bundestag heute erneut zu einem geschichtspolitischen
        Thema die Debatte sucht. Wichtig ist es auch deshalb,
        weil es bei dem von der Linksfraktion vorgelegten Ge-
        setzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung
        nationalsozialistischer Unrechtsurteile um die Aufarbei-
        tung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte
        geht. Leider – das muss an dieser Stelle aber auch gesagt
        werden – findet diese Debatte viel zu spät statt: 62 Jahre
        nach der Befreiung vom Hitler-Faschismus, 62 Jahre
        nach dem Holocaust, 62 Jahre nach dem fürchterlichsten
        Krieg, den die Menschheit erlebt hat, 62 Jahre nach dem
        Massenmord durch deutsche Kriegsschergen an über
        60 Millionen Menschen. Die Bundesrepublik Deutsch-
        land und der Deutsche Bundestag haben 58 Jahre ver-
        streichen lassen, um Menschen zu rehabilitieren, die aus
        politischen und moralischen Gründen gegen das Hitler-
        Regime handelten und deshalb bis heute vorbestraft sind
        und gesellschaftlich stigmatisiert werden. Die Rede ist
        von den sogenannten Kriegsverrätern.
        Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti-
        scher Unrechtsurteile, NS-AufhG, wurde in der Straf-
        rechtspflege 1998 ein wichtiger Schritt in Richtung Auf-
        arbeitung deutscher Geschichte eingeschlagen. Im § 1
        des NS-AufhG werden verurteilende strafgerichtliche
        Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Ge-
        danken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur
        Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozia-
        listischen Unrechtsregimes aus politischen, militäri-
        schen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen
        Gründen ergangen sind, aufgehoben. Die genannten Ent-
        scheidungen betreffen nach § 2 des Gesetzes unter ande-
        rem auch solche, die auf den in der Anlage zu § 2 Nr. 3
        NS-AufhG genannten gesetzlichen Vorschriften beru-
        hen. Ausgenommen sind darin jedoch die §§ 57, 59 und
        60 des Militärstrafgesetzbuches von 1934, also der
        Kriegsverrat. Betroffene müssen sich seither einer Ein-
        zelfallprüfung unterziehen. Dies ist unserer Meinung
        nach nicht nur unzumutbar, sondern auch undurchführ-
        bar; denn außer bei Verurteilungen in Abwesenheit wur-
        den sie grundsätzlich zum Tode verurteilt und hingerich-
        tet.
        Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde der
        Katalog der Straftaten, die im Anhang zu § 2 Nr. 3
        NS-AufhG aufgeführt sind, mit Gesetz vom 23. Juli
        2002 erweitert. Mit dem Änderungsgesetz wurden die
        §§ 175, 175 a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches sowie
        eine Vielzahl von Verurteilungen unter anderem wegen
        Desertion (§ 69 Militärstrafgesetzbuch), Feigheit (§ 85)
        oder unerlaubte Entfernung (§ 64) in die Anlage zu § 2
        Nr. 3 NS-AufhG (Nr. 26 a) aufgenommen. Die Begrün-
        dung damals: Die Einzelfallprüfung führe zu Unzuträg-
        lichkeiten.
        Der Gesetzgeber konnte sich trotz der Aufnahme ei-
        ner großen Zahl von Straftatbeständen des Militärstraf-
        gesetzbuches in die Anlage zu § 2 Nr. 3 nicht dazu ent-
        schließen, dieses Gesetz im Ganzen einzufügen. In der
        Begründung zum Änderungsgesetz heißt es:
        Es finden sich eine ganze Reihe von Straftatbestän-
        den, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Ein-
        zelfallprüfung nicht verantwortbar erscheint. Bei-
        spielhaft seien hier der Kriegsverrat, die
        Plünderung, die Fledderei sowie Misshandlungen
        von Untergebenen genannt.
        Diese Aussage ist gleich in mehrfacher Hinsicht skan-
        dalös: zum einen, weil sie zum Ausdruck bringt, dass
        Unrechtsurteile von Nazirichtern, die ohne rechtsstaatli-
        che Grundsätze und zum Schütze eines menschenver-
        achtenden Systems gefällt wurden, nur durch Einzelfall-
        prüfung revidiert werden können, zum anderen aber
        9976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        stellt diese Begründung den Kriegsverrat in eine Reihe
        mit Plünderungen und Fleddereien. Das ist nicht hin-
        nehmbar.
        Die unter dem Straftatbestand des Kriegsverrates sub-
        sumierten Handlungen sind mit den anderen genannten
        Straftatbeständen des Militärstrafgesetzbuches nicht ver-
        gleichbar; denn sie waren fast durchweg politisch oder
        moralisch motiviert, wie auch neuere Forschungen von
        zum Beispiel Professor Dr. Wolfram Wette belegen. Ein
        vergleichbarer krimineller Unrechtsgehalt wie bei Delik-
        ten der Plünderung ist nicht erkennbar.
        Um es deutlich zu sagen: Beim sogenannten Kriegs-
        verrat handelte es sich um den Verrat des deutschen An-
        griffs- und Vernichtungskrieges, der zu Mord, Vertrei-
        bungen und Vergewaltigungen an Millionen geführt hat.
        Neuere Untersuchungen zeigen zudem, dass das Verhal-
        ten der Menschen, die wegen Kriegsverrats verfolgt und
        verurteilt wurden, fast durchweg, wie bereits angespro-
        chen, moralisch-ethisch oder politisch motiviert war.
        Diese Menschen riskierten ihr Leben, um das barbari-
        sche Morden, um den Angriffs- und Vernichtungskrieg
        zu beenden. Diese Menschen verdienen Anerkennung
        und höchsten Respekt. Deshalb müssen unserer Mei-
        nung nach die §§ 57, 59 und 60 Militärstrafgesetzbuch in
        die Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG aufgenommen wer-
        den.
        In seinem Urteil vom 11. September 1991 stellt das
        Bundessozialgericht hinsichtlich der Todesurteile der
        Militärstrafjustiz während des Zweiten Weltkrieges fest,
        dass angesichts der Gesamtumstände die Rechtswidrig-
        keit der Urteile zu vermuten sei. Angesichts der durch
        die NS-Militärjustiz gefällten 30 000 Todesurteile und
        Zehntausenden Zuchthausurteilen kann man wohl kaum
        mehr nur von einer Vermutung sprechen, sondern muss
        von einer belegbaren Tatsache in diesem Zusammen-
        hang ausgehen.
        Ihnen allen wird der Name Ludwig Baumann sicher-
        lich bekannt sein. Ludwig Baumann streitet seit Jahren
        gemeinsam mit seiner „Bundesvereinigung Opfer der
        NS-Militärjustiz e. V.“ für die Rehabilitierung von
        Wehrmachtsdeserteuren und Kriegsverrätern. Sein be-
        wegtes Leben bietet ein plastisches Beispiel für die Ver-
        hältnisse in Wehrmacht und NS-Regime und für die
        Aufarbeitung der deutschen Geschichte durch die Bun-
        desrepublik. Im Zuge der Gesetzesänderung unter Rot-
        Grün im Jahr 2002 hat er sich intensiv in die politische
        und parlamentarische Debatte eingebracht, hat gute
        Kontakte zur damaligen PDS-Fraktion, aber auch zu den
        Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
        hergestellt. Nachdem der Straftatbestand des Kriegsver-
        rats von der Gesetzesänderung 2002 ausdrücklich ausge-
        nommen wurde, unternahm er 2006 einen erneuten Ver-
        such und machte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries
        auf das Thema aufmerksam.
        In ihrem Antwortschreiben vom 25. April 2006 an
        Ludwig Baumann nimmt Frau Zypries zum Sachverhalt
        wie folgt Stellung:
        Bei der Erarbeitung des NS-AufhG, der als Entwurf
        der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
        nen in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht
        worden ist (BT-Drs. 14/8276), wurde versucht,
        sämtliche Tatbestände des Militärstrafgesetzbuches
        zu erfassen, bei denen eine pauschale Aufhebung
        gerechtfertigt werden konnte. Als Ergebnis wurden
        insgesamt 44 Straftatbestände zusätzlich in das NS-
        AufhG aufgenommen. Ausdrücklich nicht aufge-
        nommen wurden Straftatbestände, bei denen die
        Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach
        wie vor nicht vertretbar erschien. […] Der in Fällen
        des Kriegsverrats möglicherweise gegebene Un-
        rechtsgehalt (nicht ausschließbare Lebensgefähr-
        dung für eine Vielzahl von Soldaten) erschien äu-
        ßerst hoch, so dass der Umstand, dass sie während
        eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges began-
        gen worden sind, keinen Anlass zur pauschalen Re-
        habilitierung begründen könnte.
        Für mich übersetzt heißt dies, dass der Widerstand ge-
        gen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht an-
        erkannt wird, auch wenn es sich dabei um einen Vernich-
        tungsfeldzug im Namen des Hitler-Faschismus handelte.
        In Bezug auf die Äußerungen der Ministerin zur Gefähr-
        dung einer Vielzahl von Soldaten durch den Kriegsverrat
        ergeben sich für mich Fragen. Bedeutet dies übersetzt,
        dass das Leben von Soldaten, die einen Angriffskrieg
        führen, höher bewertet wird, als das Leben von Millio-
        nen von Zivilisten, die durch den Verrat von Kriegsvor-
        bereitungen oder -handlungen hätten gerettet werden
        können? Es wäre hilfreich, wenn Frau Zypries im Rah-
        men dieser Gesetzesdebatte ihre Position noch einmal
        deutlich machen würde, um Missverständnisse auszu-
        schließen.
        Die Antwort der Frau Ministerin ist umso besorgnis-
        erregender, als der Bundestag in seiner Entschließung
        vom 15. Mai 1997 auf Drucksache 13/7669 bereits fest-
        stellte:
        Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Ver-
        nichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen
        Deutschland verschuldetes Verbrechen.
        Der Verrat eines, wie der Bundestag sagt, „Vernich-
        tungskrieges“ ist nach Meinung der Bundesjustizminis-
        terin offenbar nicht rehabilitierungswürdig, zumindest
        nicht ohne Einzelfallprüfung. Diese juristische Position
        zeugt von wenig politischer Souveränität; denn wie be-
        reits dargestellt, ist eine Einzelfallprüfung kaum mög-
        lich, da die meisten Betroffenen den NS-Henkern zum
        Opfer gefallen sind. Für die wenigen noch lebenden ist
        eine solche Prüfung erniedrigend und beschädigt das Ge-
        denken an den Widerstand gegen die NS-Diktatur.
        Ich möchte zum Schluss noch einmal daran erinnern,
        was die NS-Justiz unter dem Straftatbestand des Kriegs-
        verrates verstand: Verraten deutscher Angriffspläne und
        -termine an die Niederlande, Frankreich, Belgien, Eng-
        land, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien; das Knüpfen
        konspirativer Auslandskontakte; der Versuch, Jüdinnen
        und Juden das Leben zu retten; die Aufnahme von Kon-
        takten zu sowjetischen Kriegsgefangenen; das Überlau-
        fen zu den Partisanen und die Unterstützung des einhei-
        mischen Widerstandes durch Weitergabe kriegswichtiger
        Informationen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9977
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wie Sie sehen können, verbirgt sich hinter dem einfa-
        chen Wort „Kriegsverrat“ eine ganze Reihe von Tätig-
        keiten, die heute, beispielsweise im Zusammenhang mit
        dem 20. Juli, durch die Öffentlichkeit und den Bundes-
        tag gewürdigt werden.
        Ich bitte Sie also, unserem Gesetzesentwurf Ihre Zu-
        stimmung zu geben. Es ist an der Zeit. Kurt Tucholsky
        schrieb 1921 im Hamburger Echo: „Aber wenn wir nicht
        mehr wollen: dann gibt es nie wieder Krieg!“ Und wenn
        wir wollen, dann werden wir endlich auch die Kriegsver-
        räter rehabilitieren und anerkennen, dass sie Gegner des
        Krieges waren und die Anerkennung der Bundesrepublik
        verdienen.
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der Deut-
        sche Bundestag immer wieder mit der Rehabilitierung
        der Wehrmachtsdeserteure beschäftigt, mit den Män-
        nern, die dem verbrecherischen Krieg Hitlers den
        Rücken kehrten, die sich dem Morden verweigerten.
        Im Bundestag war die Anerkennung und Würdigung
        der Opfer der NS-Militärjustiz ein quälend langsamer
        Prozess. Ich kann mich an sehr schwierige Diskussionen
        im Parlament erinnern, aber auch an Vorträge von Sach-
        verständigen bei Anhörungen, die einen wirklich schau-
        dern ließen. So hatte 2002 der von der Union benannte
        Sachverständige Professor Seidler im Rechtsausschuss
        gesagt, dass das Verhängen der Todesstrafe bei Deser-
        tion zur Durchsetzung der Manneszucht in der Truppe
        notwendig gewesen sei.
        Und fünf Jahre später? Die Fehlleistung des Baden-
        Württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger
        bei der Trauerfeier für Hans Filbinger und sein tagelanges
        Ringen um eine angemessene Reaktion auf das Entsetzen
        und den Protest zeigen: In unserem Land ist immer noch
        vieles nicht wirklich aufgearbeitet.
        Das 1998, im letzten Jahr der Regierung Kohl, be-
        schlossene Gesetz zur Aufhebung von NS-Unrechtsur-
        teilen hatte für Deserteure noch keine befriedigende Lö-
        sung gebracht. Während ansonsten NS-Unrechtsurteile
        durch dieses Gesetz pauschal aufgehoben wurden, blie-
        ben Deserteure auf den demütigenden Weg der Einzel-
        fallprüfung verwiesen.
        Der wirkliche Durchbruch erfolgte dann 2002. Mit ei-
        ner Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes haben wir
        für Gerechtigkeit für Deserteure gesorgt. Die Deserteure
        der Wehrmacht haben sich dem Angriffskrieg Hitlers
        verweigert. Dennoch mussten sie in der Bundesrepublik
        den Makel des verurteilten Straftäters tragen. Mit der
        Ergänzung von 2002 wurde ihnen die Ehre wiedergege-
        ben. Das Gleiche gilt für die Verurteilungen von Homo-
        sexuellen nach § 175 in der NS-Zeit.
        Die Gesetzesergänzung von 2002 führte hinsichtlich
        der Militärjustizurteile eine lange Liste von Tatbestän-
        den des Militärstrafgesetzesbuches auf. Urteile, die nach
        diesen Vorschriften ergangen waren, wurden pauschal
        aufgehoben.
        Die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz
        hat die Reform damals sehr begrüßt, allerdings seitdem
        auch moniert, dass in dieser langen Liste der Strafvor-
        schriften die Bestimmungen zum Kriegsverrat noch feh-
        len. Es ist ein großes Verdienst dieser Vereinigung und
        insbesondere ihres Vorsitzenden Ludwig Baumann, das
        Schicksal der Wehrmachtsdeserteure und den Umgang
        mit ihnen nach dem Krieg ins öffentliche Bewusstsein
        getragen zu haben. Ich möchte Herrn Baumann und sei-
        ner Vereinigung hierfür nachdrücklich danken. Sie ha-
        ben sich um die Demokratie in Deutschland sehr ver-
        dient gemacht.
        Das Anliegen, auch noch die Bestimmungen gegen
        Kriegsverrat in das NS-Aufhebungsgesetz mit einzube-
        ziehen, ist berechtigt. Wir werden dem Antrag also zu-
        stimmen.
        Die jüngsten Forschungen des Militärhistorikers
        Wolfram Wette haben sehr eindrucksvoll aufgezeigt, um
        welche Tatbestände, um welche Personen und welche
        Motivlagen es hier ging. Als Kriegsverrat zählte zum
        Beispiel die Übermittlung von Informationen über den
        Holocaust an die Alliierten, die Aufnahme von Kontak-
        ten zu russischen Kriegsgefangenen, die Unterstützung
        von Widerstandsgruppen in den besetzten Ländern.
        Die Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes von 2002
        wollte damals ein Teil des Hauses leider nicht mittragen.
        Ich hoffe sehr, dass die Diskussion fünf Jahre später nun
        versachlicht werden kann und dass wir zu einer Einigung
        im Bundestag kommen.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        Zur Beratung des Antrags: Weg vom Öl im
        Kunststoffbereich – Chance der Novelle der
        Verpackungsverordnung nutzen und mit Bio-
        kunststoffen echte Kreisläufe schließen (Tages-
        ordnungspunkt 21)
        Michael Brand (CDU/CSU): Der Antrag von Bünd-
        nis 90/Die Grünen wäre ein besserer Antrag, wenn nicht
        die im Prinzip konservativen Ansätze zur Schonung von
        Ressourcen und natürlichen Lebensgrundlagen am
        Beispiel der Förderung von biologisch abbaubaren
        Werkstoffen, BAW, mit klassischen ideologischen Vor-
        behalten gegen die haushaltsnahe und getrennte Wert-
        stofferfassung vermischt würden. Als Abgeordneter aus
        dem wunderschönen Wahlkreis Fulda kenne ich die Pro-
        duktion und den Einsatz von nachwachsenden und biolo-
        gisch abbaubaren Rohstoffen aus eigener Anschauung.
        Ich kann aus eigener örtlicher Kenntnis sowohl die
        Chancen und Schwierigkeiten bei biologisch abbaubaren
        Werkstoffen, BAW, in der Produktion als auch beim Ein-
        satz und in der Akzeptanz bei Verbraucherinnen und
        Verbrauchern in einiger Tiefe beurteilen.
        Wenn in der Begründung dieses Antrages dann die
        altbekannte Skepsis mancher Grünen zur aktuellen Ver-
        fassung der Verpackungsverordnung dokumentiert wird,
        dann erinnert das stark an traditionelle, ideologische
        9978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bedenken der Grünen gegen die dualen Systeme und den
        immer wieder unternommenen Versuch, der Sammlung
        in der Gelben Tonne die Basis abzugraben. Dass diese
        unter Umweltminister Klaus Töpfer entworfene und von
        der Umweltministerin Angela Merkel weiterentwickelte
        Verpackungsverordnung der in der Produktverantwor-
        tung zugrunde gelegten Einbeziehung der Kosten bereits
        in die Produktion von Produkten und damit dem obers-
        ten Prinzip der Vermeidung von Abfällen dient, wird all-
        gemein anerkannt. Dass nach der Produktion und nach
        der Verwendung eine werkstoffliche Verwertung vorge-
        geben wird, dient der Entwicklung von Märkten, die ge-
        schlossene Kreisläufe schaffen und ausbauen. Von der
        Kreislaufwirtschaft wird es in Zukunft in die Stoffstrom-
        wirtschaft gehen, und manche Kämpfe heute haben in
        der angestrebten Kontrolle von Stoffströmen ihre eigent-
        liche Ursache.
        Dass der alte, schon in Nordrhein-Westfalen unter
        Frau Höhn gescheiterte Versuch, die erfolgreiche und
        breit akzeptierte getrennte Sammlung von Verpackungs-
        müll zu ersetzen durch eine großtechnische Sammlung
        gemeinsam mit Restmüll, bei dem hier vorgelegten An-
        trag ausgespart wurde, ist bezeichnend. Dass diese in
        NRW gescheiterte grüne Ideologie von Frau Kollegin
        Höhn nach der Abwahl in NRW nun in den Bundestag
        transportiert wurde, macht das Unterfangen nicht Erfolg
        versprechender.
        Ausgerechnet die Novellen von Umweltminister
        Trittin als Erfolg abzufeiern, zeugt dabei schon von sehr
        eingeengtem Blickwinkel und Nostalgie. Wer erinnert
        sich nicht mehr an das „Dosenpfand-Chaos“ und die un-
        glückliche Rolle des grünen Umweltministers? Und dass
        wir heute beim Thema Mehrweg teils drastische Einbrü-
        che zu verzeichnen haben, ist klarer Beleg dafür, dass
        grüne Ideologie und kurzfristige Ansätze nur zu mise-
        rablen Ergebnissen und weiteren Reparaturnotwendig-
        keiten führen.
        Für die CDU/CSU und auch für die gesamte Koali-
        tion kann und will ich ein glasklares Bekenntnis zur
        Sammlung von Verpackungen über duale Systeme abge-
        ben. Dass wir immer wieder an der einen oder anderen
        Stellschraube nachjustieren müssen, ist dabei auch klar.
        Aber wir werden als CDU/CSU weder aus Ideologie
        noch aus einseitigen Interessen heraus das Kind mit dem
        Bade ausschütten. Und wir wissen uns mit dieser Posi-
        tion auch einig mit der ganz übergroßen Mehrheit bei
        Kommunen, Recyclingwirtschaft und – das müsste Ih-
        nen doch zu denken geben – mit Umwelt- und Verbrau-
        cherverbänden.
        Getrennte Erfassung und werkstoffliche Kreisläufe
        stellen eine entscheidende Voraussetzung für marktfä-
        hige Recycling-Produkte aus LVP dar. Dass Bündnis 90/
        Die Grünen diese teils sehr innovativen mittelständi-
        schen Unternehmen hier pauschal des „Downcyling“ be-
        schuldigt, ist ideologisch und in einer Reihe von Studien
        und Praxisbeispielen mehr als widerlegt. Wer Ressour-
        censchonung propagiert, der muss dies nachhaltig und
        glaubwürdig tun. Um es klar zu sagen: die Propagierung
        von biologisch abbaubaren Werkstoffen, BAW, und die
        Öffnung der Verpackungsverordnung in diesem Punkt
        wäre glaubwürdiger, wenn die offenen oder indirekten
        Attacken auf die getrennte Sammlung und die werkstoff-
        liche Verwertung unterblieben.
        Dass wir bei der aktuellen Novelle der Verpackungs-
        verordnung noch andere Baustellen als die BAW zu re-
        geln haben, ist weithin bekannt. Dass dabei auch weiter-
        gehende Innovationen von Teilen der Bundesregierung
        ins Gespräch gebracht werden, ist auch kein Geheimnis.
        Wir müssen allerdings bei dieser jetzigen fünften No-
        velle vor allem das Hauptziel der Sicherung der haus-
        haltsnahen Sammlung erreichen und diejenigen Inver-
        kehrbringer erfassen, die sich bislang gegen die
        rechtlichen Vorgaben weder an der haushaltsnahen noch
        an einer anderen Sammlung von Verpackungsabfällen
        beteiligen. Dass wir nach der aktuellen dann bei der si-
        cher anstehenden sechsten Novelle auch grundsätzli-
        chere Fragen angehen müssen, ist in der Koalition sowie
        zwischen Bund und Ländern schon heute Diskussionsge-
        genstand. Dabei werden wir uns allerdings davor hüten
        uns von Bündnis 90 einen „grünen Trojaner“ in ein er-
        folgreiches System schleusen zu lassen.
        Aus der anfangs erwähnten eigenen Anschauung von
        Produktion über Einsatz beim Kunden bis hin zur Ent-
        sorgung weiß ich auch um die vielen kleinen roten Teu-
        fel, die im Detail stecken.
        Ich streite ja hier und da schon bei der jetzigen No-
        velle mit Teilen der Bürokratie um eine klare Datenbasis
        und um ein realistisches Abbild beim Thema Verpa-
        ckung. Nur auf solider Basis können wir Prognosen ab-
        geben und unsere politischen Entscheidungen verant-
        wortlich treffen.
        Was den Ansatz zu biologisch abbaubaren Werkstof-
        fen und den erwähnten „grünen Trojaner“ angeht, so
        werden wir in den Ausschüssen erheblich ernster und er-
        gebnisoffener diskutieren, wenn Bündnis 90/Die Grünen
        die Ideologie, auch gegen die dualen Systeme, abrüstet
        und sich um ein ganzheitliches Konzept mitbemüht, das
        den BAW die großen Chancen wirklich eröffnet.
        Wir von der CDU/CSU hoffen auf diese ideologisch
        unbelastete Erörterung in den Ausschüssen zu dieser Zu-
        kunftsfrage. Wir sind bereit, ernsthaft über ernst ge-
        meinte Konzepte zu sprechen. Der vorliegende Antrag
        wird dabei dann nicht der schlussendliche Antrag sein
        können. Wir sehen das ganze Bild, und dazu gehört die
        ganze Kette, um biologisch abbaubare Werkstoffe zu
        dem Erfolg zu verhelfen, den wir zum Schutz unserer
        natürlichen Lebensgrundlagen und zum Schutz des Kli-
        mas anstreben.
        Gerd Bollmann (SPD): Grundsätzlich haben Verpa-
        ckungen aus Biokunststoffen viele Vorteile und sind
        ökologisch besser als andere Kunststoffverpackungen.
        Sie werden nicht auf Erdölbasis, sondern auf Pflanzen-
        basis hergestellt. Aus diesem Grund sind sie nicht nur
        kompostierbar und ressourcenschonend. Sie können
        auch klimaneutral energetisch verwertet werden.
        Inzwischen werden zahlreiche Produkte aus Bio-
        kunststoffen hergestellt. Neben Einkaufs- und Abfalltü-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9979
        (A) (C)
        (B) (D)
        ten und Folien sind dies auch Trinkbecher oder Plastik-
        teile von Automobilen.
        Aus eigener Anschauung weiß ich, dass sich die ver-
        schiedenartigen Produkte auf den ersten Blick nicht
        mehr von normalem Plastik unterscheiden. Sie sind qua-
        litativ gleichwertig und in manchen Fällen sogar besser.
        Trotzdem haben Produkte aus Biokunststoff nur einen
        geringen Marktanteil. Sie sind nämlich trotz hoher Öl-
        preise immer noch teurer als normaler Kunststoff.
        Ich halte Biokunststoffe insgesamt für eine sinnvolle
        Alternative und eine zukunftsweisende Technologie.
        Aus diesem Grund hat sich die SPD bei der 3. Novelle
        der Verpackungsverordnung für eine Förderung von bio-
        logisch abbaubaren Werkstoffen eingesetzt. Kunststoffver-
        packungen aus diesem Material sind bis zum 31. Dezem-
        ber 2012 von der Teilnahme an Rücknahmesystemen
        befreit.
        Die SPD befürwortet grundsätzlich den Einsatz von
        Biokunststoffen. Für erdölbasierte Produkte sind Verpa-
        ckungen und andere Produkte aus nachwachsenden Roh-
        stoffen eine sinnvolle Alternative. Eine weitergehende
        Förderung, wie sie in dem vorgelegten Antrag gefordert
        wird, muss jedoch genau geprüft werden.
        Zahlreiche Fragen sind bisher ungeklärt. Eine Ökobi-
        lanz, die internationalen Standards genügt und belegt,
        dass Biokunststoffe umweltfreundlicher sind, liegt bis-
        her noch nicht vor.
        Aus diesem Grund steht das Umweltbundesamt der
        Sache skeptisch gegenüber. So ein Vertreter des Um-
        weltbundesamtes in der Zeitung „Die Zeit“ vom 23. No-
        vember letzten Jahres.
        Ein weiteres Problem entsteht bei der Kompostierung
        von Biokunststoffen. Nach der jetzigen Gesetzeslage er-
        laubt die Bioabfall- und Düngemittelverordnung den
        Einsatz als Düngemittel nur, wenn sie zu 100 Prozent
        aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wurden. Die
        meisten Produkte aus Biokunststoffen enthalten aber
        noch einen Anteil von Kunststoff auf Erdölbasis. Dem-
        entsprechend dürfen sie nicht als Düngemittel eingesetzt
        werden.
        Zusätzlich gibt es Absatzprobleme für Kompost aus
        Bioabfall. Wie sich jeder vorstellen kann, ist gesammel-
        ter Bioabfall selten rein. Insbesondere im Abfall aus
        Biotonnen finden sich häufig Verschmutzungen.
        Allein die Möglichkeit der Verunreinigung führt dazu,
        dass Kompost aus Abfall kaum Abnehmer findet. An-
        ders ausgedrückt: Derzeit gibt es kaum Verwendung für
        Kompost aus Bioabfall.
        Diese Problematik ist inzwischen bekannt. In dem
        Antrag wird die Förderung von Biokunststoffen daher
        durch deren klimaneutrale Nutzung bei der energeti-
        schen Verwertung begründet.
        Wir müssen die Nutzung fossiler Rohstoffe bei der
        Energieerzeugung senken. Zukünftig muss Energie aus
        erneuerbaren, klimaneutralen Energien produziert wer-
        den. Hierbei muss die Biomasse ihren Anteil haben.
        Ich setze mich daher insbesondere für die energeti-
        sche Nutzung von Bioabfall ein. Dabei sollte die Nut-
        zung in der Regel in Form von Kraft-Wärme-Kopplung
        erfolgen. Die Koalition plant deshalb auch, die thermi-
        sche Verwertung von Bioabfall zum Beispiel in Biogas-
        anlagen zu fördern.
        Ein vermehrter Einsatz von Biokunststoffabfall ist bei
        der Energieerzeugung meiner Meinung nach begrüßens-
        wert.
        Wie ich dargelegt habe, stehe ich einem vermehrten
        Einsatz, einer Förderung von Biokunststoffen grundsätz-
        lich positiv gegenüber. Bevor wir jedoch konkrete ge-
        setzliche Schritte unternehmen, müssen wir grundle-
        gende Fragen klären.
        Der Antrag entwirft ein Szenarium, in dem Kunst-
        stoffe aus Erdöl durch Biokunststoffe ersetzt werden.
        Andere „Visionäre“ fordern den Ersatz von Benzin
        und Diesel durch Biosprit. Energiepflanzen wie Weizen
        sollen zur Energieerzeugung eingesetzt werden. Beim
        ökologischen Bauen sollen pflanzliche Rohstoffe ver-
        stärkt Verwendung finden. Ebenso sollen nachwach-
        sende Rohstoffe vermehrt fossile Rohstoffe ersetzen.
        Biosprit, Energiepflanzen, neue Verwendung als Ersatz
        fossiler Rohstoffe, traditioneller Einsatz in Möbel- und
        Textilindustrie. Die Einsatzmöglichkeiten von Bio-
        masse, oder einfacher ausgedrückt von Pflanzen, sind
        riesig und laufend kommen neue hinzu.
        Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: die Nah-
        rungsmittelproduktion.
        Die Erzeugung von Biosprit, Biokunststoff und Ener-
        giepflanzen steht in Konkurrenz zur Nahrungsmittelpro-
        duktion. Wollen wir die Anbauflächen von Nahrungs-
        mitteln verringern? Wollen wir den Einsatz gentechnisch
        veränderter Pflanzen?
        Meiner Meinung nach müssen wir die grundsätzli-
        chen Fragen der Nutzung von Biomasse erst einmal klä-
        ren, bevor wir immer neue Verwendungsformen fördern.
        Die Anbauflächen in Deutschland und Europa sind
        begrenzt. Aus diesem Grund stehen die verschiedenen
        Nutzungsformen der Pflanzen in Konkurrenz. Wir kön-
        nen nicht einfach so tun, als ließen sich die Pflanzenwelt
        und ihre Produkte unendlich nutzen.
        Wir müssen uns grundsätzlich überlegen, welche Nut-
        zung der Pflanzenwelt bzw. Biomasse in welchem Um-
        fang und welcher Form wir wollen. Wir müssen auch die
        wirtschaftlichen Konsequenzen genau feststellen. All
        diese Fragen und viele Einzelaspekte sind zu klären.
        Ich verweise zum Beispiel auf den Arten- und Natur-
        schutz. Natürlich können wir die Produktion von Ener-
        giepflanzen und Biokunststoffen durch großflächigen
        Monoanbau steigern. Nach derzeitigem Stand ist der
        großflächige Anbau in Monokulturen notwendig.
        Ein solcher Anbau schädigt aber die pflanzliche und
        tierische Artenvielfalt. Wollen wir also einen verminder-
        ten Arten- und Naturschutz, weil der verstärkte Einsatz
        nachwachsender Rohstoffe dem Klimaschutz dient?
        9980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Kurz erwähnen möchte ich in diesem Zusammen-
        hang, dass wir uns für eine nachhaltige biologische
        Landwirtschaft in der Nahrungsmittelproduktion einset-
        zen. Also das Gegenteil dessen, was beim Anbau indus-
        triell genutzter Pflanzen ökonomisch sinnvoll ist.
        Ungeklärt ist auch der Einsatz der Gentechnik in die-
        sem Bereich. Manche Vertreter aus der Wirtschaft befür-
        worten den Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen.
        Sie argumentieren damit, dass Energiepflanzen und
        nachwachsende Rohstoffe nicht in den Nahrungskreis-
        lauf gelangen. Auf den ersten Blick stimmt dies. Auf den
        ersten Blick erscheint der Einsatz grüner Gentechnik
        auch wirtschaftlich sinnvoll.
        Schnelleres Wachstum im Allgemeinen, höheres
        Energiepotenzial bei Energiepflanzen, mehr Stärke für
        die Produktion von Biokunststoffen, gentechnisch ist das
        machbar.
        Aber stimmt es wirklich, dass es keine Auswirkungen
        auf den Nahrungsmittelkreislauf gibt? Ich bin skeptisch.
        Vor allem aber bin ich der Meinung, dass hier genauer
        untersucht werden muss.
        Meiner Meinung nach entspricht die derzeitige Förde-
        rung von Biokunststoffen in der 3. Novelle der Verpa-
        ckungsverordnung den Notwendigkeiten.
        Bevor wir jedoch konkrete Schritte für eine zusätzli-
        che Förderung einleiten, müssen wir die grundsätzlichen
        Fragen klären.
        Im Rahmen der jetzigen 5. Novelle der Verpackungs-
        verordnung lehne ich aus zeitlichen Gründen und den er-
        wähnten grundsätzlichen Fragen eine weitere Förderung
        von Biokunststoffen ab.
        Ich plädiere dafür, zeitnah die aufgeworfenen Fragen
        zu klären und erst dann weitere Fördermaßnahmen für
        Biokunststoffe aufzulegen.
        Horst Meierhofer (FDP): Wieder einmal steht uns
        eine Novelle der Verpackungsverordnung bevor – die
        fünfte mittlerweile. Für die Grünen ist dies der Anlass zu
        fordern: „Weg vom Öl im Kunststoffbereich – Chancen
        der Verpackungsverordnung nutzen und mit Biokunst-
        stoffen echte Kreisläufe schließen“.
        Wenn ich mir den Feststellungsteil des Antrags an-
        schaue, kann ich in vielen Punkten nur zustimmen:
        Auch die FDP ist der Meinung, dass nach mittlerweile
        gut 15 Jahren Verpackungsverordnung eine kritische
        Überprüfung mehr als überfällig ist. Keine Frage, die
        Einführung der gelben Säcke Anfang der 1990er-Jahre
        war gut und richtig, um den damaligen Verpackungsber-
        gen Herr zu werden. Wir sagen aber auch: Die Zeiten ha-
        ben sich geändert. Moderne Techniken sind teilweise in
        der Lage, Hausmüll und Wertstoffe maschinell zu tren-
        nen. Wenn man bedenkt, dass vor allem in Ballungsräu-
        men der Inhalt von Restmülltonne und gelbem Sack na-
        hezu identisch ist, muss man sich meiner Meinung nach
        schon fragen, ob die Trennung von Hand wirklich noch
        überall sinnvoll ist.
        Darüber erreicht das Grüne-Punkt-System für einen
        Milliardenaufwand gerade einmal 0,3 Prozent der Ge-
        samtabfallmasse in Deutschland. Während wir unsere
        Joghurtbecher im Idealfall brav in den gelben Sack wer-
        fen, wandern stoffgleiche Nichtverpackungen nach wie
        vor in den Restmüll.
        Kurzum: Auch die FDP ist der Meinung, dass die Ver-
        packungsverordnung anstelle von weiteren „Reförm-
        chen“ grundlegend überarbeitet werden muss. Nur die
        haushaltsnahe Entsorgung der Verkaufsverpackungen si-
        cherzustellen reicht nicht aus. Und alle wie wir hier sit-
        zen wissen eigentlich schon jetzt, dass die 5. Novelle
        nicht die letzte sein wird. Anstatt der geplanten Novelle
        ist es deshalb Zeit für den großen Wurf. Die Abfallwirt-
        schaft in Deutschland muss vom Kopf auf die Füße ge-
        stellt werden.
        Aber – spätestens hier ist es vorbei mit der trauten
        Zweisamkeit, Frau Kotting-Uhl – auch Ihr Antrag ist
        nicht mehr als ein – wenn auch begrüßenswertes – „Re-
        förmchen“. Mehr Anreize für den Einsatz sogenannter
        Biokunststoffe zu schaffen, löst die derzeitigen Pro-
        bleme rund um die Verpackungsverordnung nicht grund-
        legend. Natürlich ist der Einsatz von Biokunststoffen,
        soweit möglich, gut: Biokunststoffe sind bei ihrer ener-
        getischen Verwertung klimaneutral, darüber hinaus bio-
        logisch abbaubar und sie führen uns weg von der sehr
        endlichen Ressource Öl. Ein höherer Marktanteil wäre
        deshalb sicherlich wünschenswert.
        Trotz alledem: Der Einsatz von Biokunststoffen bietet
        nur geringe Möglichkeiten, sich von der endlichen Res-
        source Öl unabhängiger zu machen und Treibhausgase
        einzusparen. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass rund
        10 Prozent des gesamten Erdölimportes in den Bereich
        der Chemie und Kunststoffproduktion gehen. Lässt man
        die Chemie weg, so sind es gerade einmal 4 Prozent des
        Erdöls, die Ausgangsmaterial für Kunststoffe sind. Ein
        Tropfen auf den heißen Stein, vor allem wenn man be-
        denkt, dass nicht alle Kunststoffe durch Biokunststoffe
        ersetzt werden können.
        Hinzu kommt, dass es bislang keine einheitliche Linie
        gibt, was die Förderung bzw. Nichtförderung nachwach-
        sender Rohstoffe angeht: bei den erneuerbaren Energien
        haben wir das EEG, bei erneuerbarer Wärme gibt es
        nichts. Bei den Biokraftstoffen haben wir wiederum die
        Beimischungspflicht. Und jetzt auch noch die Biokunst-
        stoffe, die übrigens auch jetzt schon bis Ende 2012 privi-
        legiert sind, wenn Sie einmal in die Übergangsvorschrif-
        ten der Verpackungsverordnung schauen! Alles nicht
        gerade systematisch!
        Im Übrigen sind wir der Meinung, dass die energeti-
        sche Verwertung generell und nicht nur bei den Bio-
        kunststoffen ökologisch und ökonomisch sinnvoll sein
        kann. Schließlich ersetzt sie fossile Energieträger wie
        Kohle, Gas und Öl. Und schließlich sind es nicht die
        stofflichen Verwertungsquoten, sondern erst die Verrin-
        gerung von Emissionen, die zu einer Entlastung der Um-
        welt führen. Die Rolle des Staates sollte sich deshalb
        darauf beschränken, die Höhe der Emissionen festzule-
        gen. Wie diese Restriktionen kosteneffizient erfüllt wer-
        den können, muss dem Markt überlassen bleiben.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9981
        (A) (C)
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        Fazit: Das System insgesamt muss sich öffnen. An
        einzelnen Stellen herumzudoktern, bringt auf lange Sicht
        nichts. Was wir – über den Einsatz von Biokunststoffen
        hinaus – brauchen, ist ein flexibles System, in dem duale
        Systeme, maschinelle Sortierung und thermische Ver-
        wertung miteinander konkurrieren können.
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich kann vo-
        rausschicken, dass wir den Antrag der Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen unterstützen. Verpackungen aus bio-
        logisch abbaubaren Werkstoffen machen in mehrerer
        Hinsicht Sinn.
        Erstens. Sie können auf der Basis nachwachsender
        Rohstoffe wie Stärke, Zucker, Zellulose, Pflanzenöle
        oder Proteine hergestellt werden. Der Vorteil liegt auf
        der Hand: Wir sparen wertvolle fossile Rohstoffe und
        vermindern den Ausstoß von Kohlendioxid.
        Zweitens. Sie fördern den Gedanken der Kreislauf-
        wirtschaft. Hier wird am Produkt angesetzt und nicht
        nachher aufwendig getrennt und recycelt. Dadurch wird
        übrigens wiederum Energie eingespart.
        Drittens. Sie verringern weitere Abfallprobleme wie
        das Vermüllen, und zwar dadurch, dass weggeworfene
        Verpackungen schnell in der Umwelt schadlos zersetzt
        werden.
        Und viertens schaffen sie Einkommensalternativen
        für die deutsche Landwirtschaft.
        Unserer Ansicht nach sollten nicht nur Verpackungs-
        materialien aus biologisch abbaubaren Werkstoffen her-
        gestellt werden, sondern auch Einweggeschirr oder
        Folien für den Garten und den Landschaftsbau. Anwen-
        dungsbereiche sind auch Produkte wie Bindegarne oder
        Pflanztöpfe.
        Um die Anwendung im Landschaftsbau oder in der
        Landwirtschaft voranzubringen sollte schnellstmöglich
        eine DIN-Norm entwickelt werden, die die Abbaubar-
        keit im Freilandbereich regelt. Denn wie wir von der
        Forschungsgemeinschaft Biologisch Abbaubare Werk-
        stoffe, FBAW, in Hannover wissen, bestehen einige Pro-
        dukte aus diesem Bereich aus einem Verbund von nach-
        wachsenden und nicht nachwachsenden Rohstoffen. Es
        muss aber gewährleistet sein, dass das Produkt in jedem
        Fall vollständig biologisch abbaubar ist. Das kann eine
        DIN-Norm leisten.
        Eine solche DIN-Zertifizierung wurde bereits auf Ini-
        tiative von European Bioplastics und FBAW für den Be-
        reich Biokompostierung entwickelt. Allerdings fehlt es
        hier noch an einer entsprechenden Regelung in der Bio-
        abfall-Verordnung. Nach der muss nämlich momentan
        Bioabfall zu 100 Prozent aus nachwachsenden Rohstof-
        fen bestehen. Es ist jedoch nicht einsichtig, dass Verpa-
        ckungen, die lediglich zu einem geringen Teil aus nicht
        nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wurden, aber
        entsprechend der DIN EN 13432 nachweislich vollstän-
        dig kompostierbar sind, der Weg in die Biotonne verbaut
        wird.
        In den Niederlanden, Großbritannien, Italien und der
        Schweiz gibt es diese Einschränkung nicht. Die Anwen-
        dung solcher Verpackungen hat davon profitiert.
        Biologisch abbaubare Verpackungen müssen also aus
        unserer Sicht nicht in jedem Fall vollständig aus nach-
        wachsenden Rohstoffen gemacht sein, obwohl das viel-
        leicht ökologisch der konsequenteste Weg wäre. Aber
        man muss ja die Sache technisch-ökonomisch nicht
        schwieriger gestalten, als sie ohnehin ist. Davon hat
        dann die Umwelt auch nichts.
        Die Linke unterstützt das Anliegen der Grünen, recht-
        lich den Weg für die Verbrennung von Bioverpackungen
        freizugeben. Die energetische Nutzung wäre hier weitge-
        hend CO2-neutral und es würde für bestimmte mögliche
        Anwendungen den letzten Kick für eine positive Bilanz
        geben. Damit kann die Anwendung solch innovativer
        Materialien nach vorn gebracht werden.
        Die rot-grüne Bundesregierung hat von April 2001
        bis März 2002 einen Demonstrationsversuch in Kassel
        zur verstärkten Verwendung kompostierbarer Verpa-
        ckungen in der kommunalen Bioabfallsammlung gestar-
        tet. Es gab bereits hoffnungsvolle Ergebnisse. Auch in
        anderen Forschungsprojekten wurden öffentliche Mittel
        investiert.
        Nun käme es darauf an, die Entwicklung dieser Werk-
        stoffe von der Bundesregierung weiterhin nach vorn zu
        bringen. Neben den rechtlichen Schritten wären das
        Maßnahmen im Bereich der Materialentwicklung und
        Produktanwendung sowie der Forschungsförderung.
        Nicht zuletzt muss die Produktkennzeichnung verbes-
        sert und die Bevölkerung besser aufgeklärt werden.
        Denn es wäre schade, wenn die Bioverpackungen am
        Ende in der falschen Tonne landen.
        Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die ökologische, ökonomische und friedenspolitische
        Notwendigkeit zur Abkehr vom Erdöl als Rohstoff und
        Energieträger ist unbestritten. Es ist die zentrale Zu-
        kunftsherausforderung unserer Gesellschaft, unser Wirt-
        schaftssystem auf eine Basis erneuerbarer Ressourcen
        umzustellen. Im Bereich der Bioenergien haben wir be-
        reits einiges erreicht, bei der Produktion von Waren und
        Gütern stehen wir dagegen noch ganz am Anfang der
        notwendigen Umstellung auf eine erneuerbare Ressour-
        cenbasis. Vor allem in der Chemie- und Kunststoffindus-
        trie sind wir noch immer zu über 90 Prozent vom impor-
        tierten Rohstoff Erdöl abhängig, was neben den
        ökologischen Problemen vor allem immense wirtschaft-
        lichen Risken birgt.
        Obwohl derzeit nur etwa 10 Prozent des gesamten
        Erdölimportes in den Bereich der Chemie- und Kunst-
        stoffproduktion gehen, sind die in diesem Bereich un-
        mittelbar angesiedelten Beschäftigungsverhältnisse von
        großer Bedeutung. Nach Angaben des Statistischen Bun-
        desamtes von 2005 sind im Bereich der Chemie- und
        Kunststoffindustrie über 800 000 Menschen unmittelbar
        beschäftigt. Gehen fossile Rohstoffe wie Erdöl und Erd-
        gas zur Neige, gibt es in der Chemie- und Kunststoffin-
        dustrie keine andere Alternative als die Nutzung von Bio-
        9982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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        masse. Es kommt deshalb darauf an, jetzt die
        notwendigen Weichenstellungen vorzunehmen. Produk-
        te auf regenerativer Rohstoffbasis müssen gefördert und
        vor allem aber bestehende Hemmnisse wie die im Ab-
        fallrecht abgebaut werden.
        Die Umstellung der Rohstoffbasis in der Chemie ist
        jedoch nicht nur eine wirtschaftspolitische Notwendig-
        keit, sondern vor allem auch eine ökologische. Kunst-
        stoffe sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken,
        sie haben unbestritten viele Vorteile in der Nutzung; hin-
        sichtlich ihrer Recyclingeigenschaften sind sie jedoch
        problematisch. Echte Kreislaufprodukte sind es nicht.
        Statt dessen steht am Ende des Recyclingprozesses meist
        ein minderwertigeres Produkt, das früher oder später
        doch in der Verbrennungsanlage landet.
        es klar und unmissverständlich heißt, „dass eine ökologi-
        sche Industriepolitik mehrere Dinge gleichzeitig leisten
        muss, unter anderem die stoffliche Basis der Industrie in
        wichtigen Bereichen zunehmend auf nachwachsende
        Rohstoffe umzustellen.“
        Ihre tatsächliche Politik, Herr Minister, ist aber wie so
        oft eine andere. Sie lassen Ihren Ankündigungen keine
        Taten folgen. Sie machen sogar das Gegenteil, indem sie
        im vorliegenden Referentenentwurf zur fünften Novelle
        die bisher geltende Freistellung von der Verpflichtung
        zur Teilnahme an einem Dualen System für alle Bio-
        kunststoffe bis 2012 wieder einschränken und die pfand-
        freien Getränke aus der Befreiung ausnehmen wollen.
        Sie tun dies, obwohl Biokunststoffe am Verpackungs-
        markt gerade erst am Start stehen.
        Ein Ausstieg aus dem Downcycling von Kunststoffen
        gelingt jedoch mit Biokunststoffen. Durch den Einsatz
        lang- und kurzlebiger Biokunststoffe auf der Basis nach-
        wachsender Rohstoffe eröffnet sich für Kreislaufwirt-
        schaft- und Abfallpolitik eine neue Perspektive. Wäh-
        rend die bisherige Abfallgesetzgebung – insbesondere
        die Verpackungsverordnung – aus Gründen des Ressour-
        censchutzes ein möglichst hochwertiges werkstoffliches
        Recycling zum Ziel hat, können Produkte auf regenerati-
        ver Basis entweder recycelt werden oder durch eine
        energetische Verwertung in einen echten Kreislauf ge-
        führt werden. Durch den Anteil an biogenem Kohlen-
        stoff kann zum Beispiel klimaneutral Strom und Wärme
        erzeugt werden. Es gibt keinen Treibhausgaseffekt, denn
        nachwachsende Rohstoffe werden durch Sonnenlicht aus
        Wasser und CO2 ständig neu gebildet, und nur diese
        Komponenten werden bei der Verwertung wieder freige-
        setzt. Biokunststoffe sind auch keine Konkurrenz zu den
        Bioenergien, sondern ganz im Gegenteil eine sinnvolle
        Ergänzung. So wird Biomasse zuerst stofflich genutzt
        und erst anschließend energetisch. Solche Nutzungskas-
        kaden erhöhen die Unabhängigkeit vom Erdöl, ohne den
        Bedarf an Anbaufläche zu vergrößern.
        Diese Chancen durch Biokunststoffe werden aber
        noch immer viel zu wenig erkannt und genutzt, die Bun-
        desregierung ist in dieser Hinsicht untätig. Herr Minister
        Gabriel, ich möchte Sie an dieser Stelle gerne an das von
        Ihnen in Oktober 2006 vorgelegte Memorandum für ei-
        nen „New Deal“ von Wirtschaft, Umwelt und Beschäfti-
        gung zur ökologischen Industriepolitik erinnern, in dem
        sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
        Sie verstehen unter Produktverantwortung lediglich
        die Existenzsicherung der Dualen Systeme, aber nicht
        die Chance ökologischer Innovationen, die sie selber
        doch immer so vehement an anderer Stelle einfordern.
        Die Verpackungsverordnung bietet tatsächlich die
        Chance, den Umstieg wichtiger Wirtschaftsbereiche auf
        nachwachsende Rohstoffe zu forcieren. Der Verpa-
        ckungsmarkt ist derzeit einer der wenigen, in denen
        Kunststoffe auf der Basis nachwachsender Rohstoffe
        überhaupt eine Rolle spielen und marktreife Produkte
        angeboten und vertrieben werden.
        Wenn es gelingt, Biokunststoffe im Verpackungs-
        markt zu etablieren, bringt das die notwendige Dynamik,
        um auch in den anderen Wirtschaftsbereichen den not-
        wendigen Wechsel hin zu erneuerbaren Ressourcen zu
        vollziehen. Kunststoffe auf der Basis nachwachsender
        Rohstoffe sind eine Chance für Umwelt und Wirtschaft.
        Herr Minister, lassen Sie ihren Ankündigungen end-
        lich mal Taten folgen und sorgen Sie dafür, dass anstelle
        eines weiteren Reförmchens des bestehenden Systems,
        die Verpackungsverordnung grundlegend mit dem Ziel
        überarbeitet wird, Anreize für die Umstellung von erdöl-
        basierten Kunststoffen auf Biokunststoffe aus nach-
        wachsenden Rohstoffen zu setzen. Sorgen Sie dafür,
        dass die Verpackungsverordnung konsequent in Rich-
        tung Ressourcenschutz weiterentwickelt wird und die
        Verwendung der nachwachsenden Rohstoffbasis zusam-
        men mit der biologischen Abbaubarkeit als Produktver-
        antwortung anerkannt wird.
        nd 91, 1
        2, 0, T
        22
        97. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11