Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9947
(A) (C)
(B) (D)
des Abgeordneten Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (96. Sitzung, Drucksache 16/5213, Frage 12):
schen Bundesbank zu machen. Diese Position wird nach
bisheriger Rechtslage vom Bund besetzt.
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Beckmeyer, Uwe SPD 10.05.2007
Bismarck, Carl-Eduard
von
CDU/CSU 10.05.2007
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 10.05.2007
Gabriel, Sigmar SPD 10.05.2007
Gloser, Günter SPD 10.05.2007
Griefahn, Monika SPD 10.05.2007
Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 10.05.2007
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 10.05.2007
Höger, Inge DIE LINKE 10.05.2007
Kasparick, Ulrich SPD 10.05.2007
Knoche, Monika DIE LINKE 10.05.2007
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.05.2007
Lafontaine, Oskar DIE LINKE 10.05.2007
Leibrecht, Harald FDP 10.05.2007
Merten, Ulrike SPD 10.05.2007
Dr. Miersch, Matthias SPD 10.05.2007
Raidel, Hans CDU/CSU 10.05.2007
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 10.05.2007
Schummer, Uwe CDU/CSU 10.05.2007
Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.05.2007
Dr. Troost, Axel DIE LINKE 10.05.2007
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 10.05.2007
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Welches besondere außen- und sicherheitspolitische Inte-
resse gemäß den politischen Grundsätzen der Bundesregie-
rung für den Export von Kriegswaffen liegt für einen Export
deutscher U-Boote und dessen Absicherung durch Bürgschaf-
ten aus Sicht der Bundesregierung vor?
Über derartige Rüstungsexportvorhaben befindet der
Bundessicherheitsrat, der in geheimer Sitzung tagt. Von
daher ist es nicht möglich, zu den einzelnen Abwägungs-
kriterien, die dem jeweiligen Einzelfall zugrunde liegen,
Auskunft zu geben. Diese Abwägung findet jeweils auf
der Grundlage der Politischen Grundsätze der Bundes-
regierung für Rüstungsexporte statt und kann – wie dies
auch bereits in der Vergangenheit wiederholt der Fall
war – zur Genehmigung des Exports von U-Booten in
Länder außerhalb der EU und der NATO führen. Export-
kreditgarantien des Bundes können nur im Rahmen der
im Außenwirtschaftsrecht geltenden rechtlichen Vor-
schriften übernommen werden. Für Exportkreditgaran-
tien im Zusammenhang mit dem Export von Kriegswaf-
fen und sonstigen Rüstungsgütern gelten die Politischen
Grundsätze der Bundesregierung vom 19. Januar 2000
und die Entscheidungen des Bundessicherheitsrates.
Anlage 3
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage
des Abgeordneten Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (96. Sitzung, Drucksache 16/5213, Frage 13):
Wie beurteilt die Bundesregierung unter Berücksichtigung
der fortgeschrittenen Bestrebungen Pakistans, den nuklearfä-
higen Marschflugkörper „Babur“ auch in U-Boote zu integrie-
ren, die Auswirkungen auf die regionale Sicherheitslage?
Die Bundesregierung genehmigt – auch gemäß ihren
Verpflichtungen aus den entsprechenden Nichtverbrei-
tungsregimen – keine Exporte, die die Nuklearwaffen-
oder Trägertechnologiefähigkeiten Pakistans stärken
könnten. Der Bundesregierung liegen im Übrigen auch
keine Erkenntnisse über „fortgeschrittene Bestrebungen“
Pakistans zur Integration des Marschflugkörpers
„Babur“ in U-Boote vor.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Hans Eichel (SPD) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Deutsche Bundesbank (Tagesordnungspunkt 15)
Dem Regierungsentwurf eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank
stimme ich nicht zu, weil dem Bundesrat nunmehr zu-
sätzlich das Recht eingeräumt werden soll, einen Vor-
schlag für die Besetzung des Vizepräsidenten der Deut-
9948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
Es gibt seit der Eingliederung der Bundesbank in das
System der europäischen Zentralbanken keinen plau-
siblen Grund mehr für eine Mitbestimmung der Länder
bei der Besetzung des Vorstandes der Bundesbank. Da-
her geht die jetzt angestrebte Gesetzesänderung in die
falsche Richtung. Sie schwächt die Position der Bundes-
bank national und international.
Anlage 5
Zu Protokoll gegeben Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Achten Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes über die Deut-
sche Bundesbank (Tagesordnungspunkt 15)
Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Mit Spannung ha-
ben Bankvolkswirte heute die Sitzung des EZB-Rates in
Dublin erwartet. Die große Frage: Wird EZB-Präsident
Jean-Claude Trichet – wie von ihnen prognostiziert –
den Weg für eine weitere geldpolitische Straffung eb-
nen? Er hat ihn geebnet. Eine Zinserhöhung von
3,75 Prozent auf 4 Prozent im Juni ist damit wahrschein-
lich.
Seit nunmehr acht Jahren ist die EZB – nicht mehr die
Deutsche Bundesbank – der geld- und währungspoliti-
sche Souverän, auf den einmal monatlich alle Augen und
Ohren gerichtet sind.
Was für uns mittlerweile gängige Praxis ist, bedeutete
für die Institution Bundesbank über Jahre hinweg einen
herausfordernden Veränderungsprozess: Leitungs-, Ent-
scheidungs- und Personalstrukturen mussten reformiert
und an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst
werden.
Mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Gesetzes
über die Deutsche Bundesbank haben wir im Jahr 2002
den rechtlichen Rahmen für eine umfassende Strukturre-
form der Deutschen Bundesbank gesteckt. Mit dem
heute zur Verabschiedung anstehenden Achten Ände-
rungsgesetz nehmen wir eine weitere sinnvolle Anpas-
sung vor: Der Vorstand der Bundesbank wird spätestens
zum 30. April 2009 von derzeit acht auf sechs Mitglieder
verkleinert.
Die mittelfristige Verkleinerung des Bundesbankvor-
standes ist aus zwei Gründen zu unterstützen: Zum einen
bin ich davon überzeugt, dass – angesichts der neuen
Aufgaben der Bundesbank – eine kleinere Leitungs-
ebene noch effizienter arbeiten kann. Zum anderen ist
die Verkleinerung des Bundesbankvorstandes ein wichti-
ges Signal an die Mitarbeiter. Die Mitarbeiter mussten
bei den Umstrukturierungsmaßnahmen in den letzten
Jahren ein großes Maß an Flexibilität unter Beweis stel-
len und Gehaltskürzungen in Kauf nehmen. Erst im letz-
ten Jahr haben wir im Haushaltsbegleitgesetz 2006 eine
Kürzung der Bundesbankzulage vereinbart. Durch die
Verkleinerung des Vorstandes leistet nun auch die Bun-
desbankspitze einen wichtigen Sparbeitrag. Das ist mehr
als nur Symbolik.
An dem Bestellungsverfahren für den Bundesbank-
vorstand ändert sich mit dem Achten Änderungsgesetz
zunächst einmal nichts. Das heißt, es bleibt kurz- und
mittelfristig beim Vorschlagsrecht von Bundesregierung
und Bundesrat. Dieser Pluralismus der Vorschlagsinstan-
zen hat sich in der Vergangenheit bewährt, insbesondere
weil dadurch die Unabhängigkeit der Bundesbank
zusätzlich gestärkt wurde. Gerade in Zeiten, als die Bun-
desbank noch die geld- und währungspolitische Souve-
ränität innehatte, war es wichtig, politische Einfluss-
nahme auf Zinsentscheidungen zu unterbinden.
In den letzten Tagen hat das jüngste Bestellungsver-
fahren für den Bundesbankvorstand viel öffentliche Auf-
merksamkeit erweckt. Ich möchte diese Diskussion, die
ich im Übrigen für alle Beteiligten etwas unrühmlich
fand, nicht weiter kommentieren. Nur so viel: Grund-
sätzlich darf ich doch davon ausgehen, dass Ministerprä-
sident Oettinger mit Unterstützung des Bundesrates eine
kompetente Person mit entsprechenden Qualifikationen
vorgeschlagen hat.
Abseits und unabhängig von dieser Diskussion ist es
allerdings mittelfristig richtig, die Frage zu stellen, ob
das derzeitige Bestellungsverfahren auch künftig noch
angemessen ist. Berücksichtigt man den verkleinerten
Vorstand sowie die Tatsache, dass die ehemaligen Lan-
deszentralbanken mittlerweile weisungsabhängige
Hauptverwaltungen sind, könnte man da zu unterschied-
lichen Ergebnissen kommen. Die Frage des künftigen
Bestellungsverfahrens müssen wir aber jetzt nicht ab-
schließend klären.
Fünf Jahre nach Verabschiedung des Siebten Bundes-
bankänderungsgesetzes ist es mir vor allem wichtig, zu
würdigen, dass die Bundesbank die durch das Gesetz in
Gang gesetzte Organisationsreform mittlerweile erfolg-
reich bewältigt hat und weiter auf veränderte Anforde-
rungen reagiert. Gerade die Neuorganisation der Haupt-
verwaltungen – ehemals Landeszentralbanken – und des
Filialnetzes war für die Bundesbank eine große Heraus-
forderung. Diese neue Struktur trägt heute wesentlich zu
schlankeren und effizienteren Organisationsabläufen in
der Bundesbank bei.
Die Übertragung der geld- und währungspolitischen
Souveränität von der Bundesbank auf die EZB ist schon
seit geraumer Zeit – für die Öffentlichkeit sichtbar – abge-
schlossen. Weniger transparent und bekannt sind die
wichtigen Aufgaben, die die Bundesbank weiterhin – ins-
besondere für die Stabilität des deutschen Finanzplatzes –
innehat.
Die „neue“ Deutsche Bundesbank befindet sich in ei-
ner Doppelrolle: Sie ist zum einen eine unabhängige In-
stitution Deutschlands. Zum anderen ist sie integraler
Bestandteil des einheitlichen europäischen Zentralban-
kensystems.
Im Fokus der strategischen Neuausrichtung der Deut-
schen Bundesbank stehen fünf Geschäftsfelder: Preis-
stabilität im Euroraum, Stabilität des Finanz- und
Währungssystems, Sicherheit und Effizienz von Zah-
lungsverkehrs- und Abwicklungssystemen, effiziente
Bargeldversorgung und -infrastruktur und Funktionsfä-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9949
(A) (C)
(B) (D)
higkeit der deutschen Kredit- und Finanzdienstleistungs-
institute.
Gerade für die Funktionsfähigkeit der deutschen Kre-
ditwirtschaft übernimmt die Bundesbank wertvolle Auf-
gaben. Nicht zuletzt aufgrund ihrer jahrelangen Erfah-
rung ist sie bei der Überwachung der Kreditinstitute ein
wichtiger Partner für die BaFin. Wenn wir uns in den
kommenden Wochen an die Neujustierung einiger Pro-
zesse bei der BaFin begeben, sollten wir dies immer mit
bedenken.
Kurzum: Die Aufgabenvielfalt der Bundesbank zeigt:
Auch wenn in puncto Zinsentscheidung an Tagen wie
heute mittlerweile alle Augen auf die EZB gerichtet
sind, bleibt die Deutsche Bundesbank eine Institution
mit herausragender Bedeutung für Deutschland. Weil
dem so ist, bleibt es unsere Aufgabe als Gesetzgeber, die
Deutsche Bundesbank als Institution immer wieder den
neuen Anforderungen anzupassen.
So beschließen wir also das Achte Bundesbankände-
rungsgesetz, wissend, dass irgendwann ein Neuntes
kommen wird und kommen muss, um die Bundesbank
wiederum auf neue Entwicklungen im Finanzsystem ein-
zustellen.
Jörg-Otto Spiller (SPD): Der vorliegende Gesetz-
entwurf zur Änderung des Bundesbankgesetzes ist ein
weiterer Schritt zur Anpassung der Bundesbank an die
veränderte Situation, die existiert, seit es die Europäi-
sche Zentralbank gibt.
Die Deutsche Bundesbank hat seit ihrer Gründung
über Jahrzehnte eine hervorragende Arbeit geleistet. Sie
war so erfolgreich, dass die Europäische Zentralbank
nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank gestaltet
ist. Allerdings hat die Bundesbank heute aufgrund der
Einführung unserer gemeinsamen Währung Euro nicht
mehr dieselbe Stellung wie in der Vergangenheit. Sie äh-
nelt ein Stück weit der Stellung, die zu D-Mark-Zeiten
die Landeszentralbanken innegehabt haben. Es ist des-
halb folgerichtig, dass mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf der Vorstand der Bundesbank verkleinert wird, und
zwar auf sechs Mitglieder.
Gleichwohl hat die Bundesbank weiterhin wichtige
Funktionen. Sie ist einmal integraler Bestandteil des Eu-
ropäischen Systems der Zentralbanken, ESZB. Sie er-
füllt wichtige Funktionen für den Zahlungsverkehr. Er-
wähnen möchte ich auch ihre Arbeit im Bereich der
monetären und volkswirtschaftlichen Statistiken und
Analysen. Eine besonders wichtige Aufgabe ist ihre Mit-
wirkung bei der Bankenaufsicht.
Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, dem Mann
meine Hochschätzung auszusprechen, der über ein Jahr-
zehnt als Mitglied des Direktoriums beziehungsweise
des Vorstands der Bundesbank für die Bankenaufsicht
zuständig war und vor ein paar Tagen aus Altersgründen
aus der Bundesbank ausgeschieden ist: Edgar Meister.
Herr Dr. Meister hat wie kein anderes Mitglied des Di-
rektoriums oder Vorstands der Bundesbank den Kontakt
zum Finanzausschuss des Deutschen Bundestages ge-
pflegt. In allen Fragen des Finanzmarktes war er für uns
ein fairer und sachkundiger Partner. Besonders möchte
ich auf seine Arbeit bei der Ausarbeitung der Eigenkapi-
talregeln für Kreditinstitute hinweisen, die unter dem Be-
griff „Basel II“ bekannt geworden sind. Edgar Meister
hat in Sachen Verbesserung der Stabilität der Finanz-
märkte viel vorangetrieben.
Der veränderten Situation der Deutschen Bundesbank
entspricht es auch, dass das Benennungsverfahren für
die Vorstandsmitglieder etwas geändert wird. Der Bun-
desrat wird die Möglichkeit haben, der Bundesregierung
bei der Bestellung des Vizepräsidenten einen Vorschlag
zu machen. Die Bundesregierung ist daran nicht gebun-
den, aber es erhöht bestimmt die Chance des Bundesra-
tes, mit seinem Vorschlag auch Gehör zu finden, wenn
die vorgeschlagene Person neben aller sonstigen Kom-
petenz und Qualifikation auch eine spezifische Eignung
für das Bankenwesen mitbringt.
Frank Schäffler (FDP): Wir begrüßen die Verklei-
nerung des Bundesbankvorstandes, die mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf vorgenommen wird. Sie ist eine
logische Folge der mit der Einrichtung der Europäischen
Zentralbank, EZB, eingeleiteten europäischen Entwick-
lung. Die Strukturen der Bundesbank wurden bereits mit
dem Siebten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die
Deutsche Bundesbank angepasst; nunmehr wird auch die
Leitungsebene der Bundesbank effizienter gestaltet.
Bedenklich ist die zunehmende Politisierung der Bun-
desbank. Diese gefährdet ihre Unabhängigkeit. Die Un-
abhängigkeit ist gerade für die Bundesbank aber von be-
sonderer Bedeutung. Die Bundesbank war mit ihrer
erfolgreichen Rolle als Garant der Stabilität der D-Mark
ein Vorbild für die EZB, die nun selbst zum Erfolgsmo-
dell geworden ist.
Kritisch betrachten wir die aktuelle Diskussion über
die Aufgaben der Bundesbank. Dabei werden der Bun-
desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, im-
mer mehr Aufgaben übertragen. Aktuell überlegt die
Bundesregierung nach Medienberichten, die Aufsicht
über die „systemrelevanten“ Kreditinstitute auf die
BaFin zu übertragen. Damit legt die Bundesregierung
die Axt an die bewährte Tätigkeit der Bundesbank. Dies
würde dem Finanzmarkt in Deutschland schaden. Einen
schleichenden Verlust von Zuständigkeiten der Bundes-
bank sollte es nach Auffassung der FDP-Fraktion daher
nicht geben. Nicht zuletzt das Gutachten des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung zur Evaluierung der
Bankenaufsicht hat im vergangenen Jahr bestätigt, dass
die Kreditwirtschaft mit der Tätigkeit der Bundesbank
zufrieden ist. Dabei wurden die Prüfer der Bundesbank
tendenziell besser bewertet als die der BaFin. Es muss zu
einer klaren Aufgabenverteilung zwischen Bundesbank
und BaFin kommen, um Doppelprüfungen bei Kredit-
instituten zu vermeiden; dieses Ziel teilen wir ausdrück-
lich. So, wie es die Bundesregierung zu planen scheint,
ist es jedoch der falsche Weg.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Nachdem der Euro
eingeführt und die EZB gegründet worden ist, sind die
Kompetenzen der Bundesbank bedeutend geringer ge-
9950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
worden. Das ist seit 1999 der Fall. Von diesem Zeitpunkt
an wäre es angezeigt gewesen, den Vorstand der Bundes-
bank zu verkleinern; denn wo weniger zu entscheiden
ist, da sind auch weniger Vorständler nötig. Schließlich
nimmt die Bundesbank nach Gründung der Europäi-
schen Zentralbank nun eine viel weniger bedeutende
Funktion wahr. Sie ist jetzt einer früheren Landeszentral-
bank sehr ähnlich. Man bedenke: Die Führung der EZB
besteht aus sechs Personen, der Vorstand der Banque de
France lediglich aus drei. Da sollten doch drei Vor-
standsmitglieder für die Bundesbank vollauf reichen.
Nun endlich wird ein Gesetz vorgelegt, das nach einer
Übergangsregelung spätestens im Frühjahr 2009 den
Vorstand auf sechs Mitglieder verringern will. Wenn
auch spät und unzureichend, so ist es doch endlich eine
kleine Reaktion auf die veränderten Umstände. Die
Linke stimmt diesem Gesetz zu, wenngleich mit Beden-
ken, denn drei Vorständler statt acht würden zu Erspar-
nissen in Höhe von 1,125 Millionen Euro führen.
Zufrieden ist die Koalition mit dem von der Bundes-
regierung eingebrachten Gesetz offenbar nicht. Der
haushaltspolitische Sprecher der SPD, Carsten
Schneider, sagt in der ARD, dass er eine Verkleinerung
des Vorstandes auf fünf Personen wünsche. Hans Eichel
unterstützt ihn hierbei. Warum also nicht gleich ein Ge-
setz, das die Größe des Vorstands der Bundesbank auf
drei Personen verringert?
Scheinbar steht dem das Vorschlagsrecht der Länder
entgegen. Baden-Württemberg ist gegenwärtig an der
Reihe. Ministerpräsident Oettinger wünscht, dass der
Posten von Böhmler besetzt wird. Das neue Bundes-
bankgesetz könnte sich darüber hinwegsetzen. Die
Kanzlerin aber will sich zu der Sache nicht äußern. Der
Fall sei zu unwichtig. Einen Konflikt mit ihrem Partei-
freund Oettinger will sie deswegen nicht riskieren. Posi-
tion zu beziehen, ist hier aber wichtig. Denn offenbar hat
nicht nur die SPD Bedenken. Die Bundesbank selbst, de-
ren Vorstand bei der Neubesetzung angehört werden
muss, hat sich eindeutig gegen Böhmler als neues Vor-
standsmitglied ausgesprochen. All das soll aber nichts
bedeuten, weil die Kanzlerin es sich mit dem Minister-
präsidenten Oettinger nicht verderben will.
Die Verkleinerung des Vorstandes der Bundesbank ist
jedoch kein unwichtiger Fall. Es sind nicht nur
1,125 Millionen Euro einzusparen; es geht hier überdies
darum, nichtrationale, nichtwirtschaftliche Verwaltung
umzugestalten. Das ist eine sehr grundsätzliche Frage,
wegen der die Bundesregierung bekanntlich den Nor-
menkontrollrat berufen hat. Ist dieses Gremium in dieser
Angelegenheit tätig geworden? Nichts ist bekannt. Und
weiter: Böhmler kümmert sich in Stuttgart im Auftrag
des Ministerpräsidenten um die Beseitigung von über-
flüssiger Verwaltung, also um den so genannten Büro-
kratieabbau. Wenn er aber seinen mit 225 000 Euro jähr-
lich bezahlten Posten bei der Bundesbank antritt, dann
kann von „Bürokratieabbau“ nicht die Rede sein. Im Ge-
genteil: Das sind sinnlose Verwaltungsausgaben, hier:
unnötige Bürokratie als Preis für Frieden in der CDU.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Bundesregierung plant mit ihrem Gesetzentwurf,
den Vorstand der Bundesbank zu verkleinern und damit
die Leitungsebene effizienter zu gestalten. Statt acht soll
der Bundesbankvorstand künftig nur noch sechs Mitglie-
der umfassen. Die Umstrukturierung des Vorstandes soll
bis April 2009 abgeschlossen sein. Ich kann für meine
Fraktion vorweg sagen, dass wir die Stoßrichtung der
neuen Regelung begrüßen, uns aber wegen zwei zentra-
ler Kritikpunkte der Stimme enthalten werden.
Wir meinen, dass die Bundesregierung bei der Vor-
lage des Gesetzes die Chance vertan hat, gleich noch
weitere Mängel am Bundesbankgesetz zu beseitigen. Da
ist an erster Stelle das Besetzungsverfahren zu nennen.
Im Gesetz steht zwar, dass die Mitglieder des Vorstandes
„besondere fachliche Eignungen besitzen“ müssen. In
der Praxis kam es in jüngster Vergangenheit erneut da-
rauf an, aus welchem Bundesland ein Kandidat für den
Vorstand kommt und welches Parteibuch er besitzt. An-
ders ist es nicht zu erklären, dass Rudolf Böhmler an die-
sen Posten gekommen ist. Nichts gegen Herrn Böhmler,
er ist ein ausgewiesener Verwaltungsfachmann und seit
langem im Dienst verschiedener Ministerpräsidenten
meines Heimatbundeslandes Baden-Württemberg. Aber
Herr Böhmler ist weder Geld- noch Bankenspezialist.
Das ist auch den anderen Vorstandsmitgliedern der Bun-
desbank nicht entgangen, worauf sie ihn bei einer inter-
nen Anhörung durchfallen ließen. Das spielt aber für die
Berufungschancen von Herrn Böhmler keine Rolle, denn
er ist Chef der Stuttgarter Staatskanzlei und Kandidat
von Ministerpräsident Oettinger; also haben dessen Kol-
legen der Personalie zugestimmt, anschließend hat die
Bundesregierung den Vorgang abgenickt. Ein Bundes-
bankvorstand ist aber kein Ort, an dem verdiente Beamte
nur aufgrund ihrer Herkunft und ihres Parteibuchs sitzen
dürfen. Wenn die Bundesbank weiterhin bedeutsam sein
soll im System der europäischen Notenbanken, dann
geht das in Zeiten der einheitlichen Geldpolitik nur
durch Kompetenz, aber auf gar keinen Fall durch Pro-
porz. Die föderalen Besetzungsstrukturen sind untaug-
lich. Dass sie nicht im Zuge der Föderalismusreform
abgeschafft wurden, beweist erneut deren schlechte Qua-
lität. Dass sie auch nicht durch das vorliegende Gesetz
geändert wurden, ist ein großes Versäumnis.
Neben dem Besetzungsverfahren sollte die Bundes-
regierung über eine weitere Verkleinerung des Bundes-
bankvorstandes nachdenken und konkrete Vorschläge
vorlegen. Die Strukturreformen sind ja an anderer Stelle
bereits mutig angegangen worden, allein der Filialbe-
stand wird bis Ende 2007 mit 47 Filialen um etwa zwei
Drittel, der Personalbestand mit etwa 11 100 Beschäftig-
ten um gut 30 Prozent geringer sein als fünf Jahre zuvor.
Die Zahl der Führungspositionen wurde insgesamt um
74 Stellen und damit um mehr als die Hälfte verringert.
Ab 2008 werden die jährlichen Kosten im Vergleich zum
Jahre 2002 um rund 280 Millionen Euro geringer sein,
wobei die Beschäftigten der Bundesbank dabei den
größten Anteil geleistet haben. Hier hinkt die Entwick-
lung beim Vorstand deutlich hinterher. Erst bis April
2009 soll die vorgeschlagene Verkleinerung abgeschlos-
sen sein. Das ist zu langsam.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9951
(A) (C)
(B) (D)
Das Bundesbankgesetz muss deutlicher als durch den
vorgelegten Entwurf geändert werden. Das Besetzungs-
verfahren spiegelt einen falsch verstandenen Föderalis-
mus wider, der in Zeiten einer einheitlichen Geldpolitik
erst recht nichts mehr zu suchen hat. Die vorgeschlagene
Verkleinerung des Vorstands geht zwar in die richtige
Richtung, aber nicht weit und nicht schnell genug. Des-
wegen wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung zu
diesem Gesetz der Stimme enthalten.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister der Finanzen: Der dem Bundestag zur
Annahme vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, die
Anzahl der Mitglieder des Vorstandes der Deutschen
Bundesbank mittelfristig von acht auf sechs Mitglieder
zu verringern. Die Bundesregierung hatte einen solchen
Vorschlag bereits in ihrem Gesetzentwurf für die Bun-
desbankstrukturreform von 2002 gemacht. Im Gesetzge-
bungsverfahren war seinerzeit diese Passage im Kom-
promisswege geändert worden. Die Notwendigkeit einer
Verkleinerung des Vorstandes der Deutschen Bundes-
bank aus Effizienzgründen besteht aus Sicht der Bundes-
regierung unverändert fort.
Dem sechsköpfigen Vorstand sollen künftig der Präsi-
dent, der Vizepräsident und vier weitere Mitglieder an-
gehören. Damit wird die Effizienz der Leitungsebene der
Deutschen Bundesbank weiter verbessert; gleichzeitig
werden Kosten reduziert. Das bisherige Bestellungsver-
fahren für die Vorstandsmitglieder wird beibehalten. Das
heißt, der Präsident, Vizepräsident und ein weiteres Mit-
glied des Vorstandes werden von der Bundesregierung,
die übrigen Mitglieder vom Bundesrat vorgeschlagen.
Allerdings ist nunmehr vorgesehen, dass der Bundesrat
zukünftig der Bundesregierung für die Bestellung des
Vizepräsidenten einen Vorschlag unterbreiten kann, den
die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung berücksich-
tigen kann, aber nicht muss.
Während einer Übergangszeit – längstens bis zum
30. April 2009 – kann der Bundesbankvorstand aus sie-
ben Mitgliedern bestehen. Dies ermöglicht eine Vor-
standsverkleinerung ohne Entlassung von Vorstandsmit-
gliedern, denn der Zeitplan ist mit dem normalen
Auslaufen der Verträge von Vorstandsmitgliedern abge-
stimmt.
Ich freue mich, dass heute ein weiterer Schritt zur Re-
form der Leitungsebene der Deutschen Bundesbank um-
gesetzt werden kann.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebenen Reden
zur Beratung der Anträge:
– Bildungszugang von Kindern und Jugend-
lichen stärken – Finanzierung von Schüler-
und Schülerinnenbeförderung im SGB II
ermöglichen
– Kommerzialisierungstendenzen im Schul-
wesen stoppen – Bildungsteilhabe für alle
Kinder und Jugendlichen sichern
– Teilhabechancen für Kinder und Jugend-
liche aus armen Haushalten fördern
(Tagesordnungspunkt 16 a bis c)
Karl Schiewerling (CDU/CSU): Nicht zuletzt seit
den PISA-Studien wird die Bildungssituation in
Deutschland beklagt. Bildungsdebakel, Bildungsrück-
stand und soziale Ungleichheit sind die Schlagworte,
welche die Diskussion um das deutsche Bildungswesen
bestimmen. Im Kreuzfeuer der Kritik steht dabei der
enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und er-
zielten Bildungsleistungen. Dass es diesen Zusammen-
hang gibt, ist nicht wegzudiskutieren.
Auch wir machen uns zunehmend um die Kinder Sor-
gen, die aus sozial schwachen Familien kommen und
nicht den Fuß in die Tür des Berufslebens setzen kön-
nen. Die starke Verknüpfung zwischen geringer Qualifi-
kation und Arbeitslosigkeit zeigt, dass Bildungsförde-
rung auch eine präventive Beschäftigungspolitik ist.
Aus diesem Grund ist es in meinen Augen notwendig,
in Zukunft wesentlich stärker präventiv zu arbeiten. Ich
stelle mir hierbei eine Vernetzung zwischen dem SGB II,
dem SGB VIII und dem SGB XII vor.
Gerade erst haben wir den ersten Teil der Föderalis-
musreform verabschiedet. Was wir nun bestimmt nicht
machen werden, ist, in den Kompetenzbereich der Län-
der einzugreifen. Nicht nur die Bildungshoheit liegt bei
den Ländern, auch die Beförderung der Schüler zu den
Schulen. Jedes Bundesland regelt in speziellen Gesetzen,
Verordnungen und Erlassen, wie die Beförderung der
Schüler zu organisieren ist und wer die Kosten dafür
trägt. Oft werden die Kosten für die Beförderung im öf-
fentlichen Nahverkehr bezuschusst oder in ländlichen
Gebieten die Beförderung mit speziellen Schulbussen
gewährleistet.
In Ihrem Antrag gehen Sie auch auf Privatschulen ein.
Ich kann nichts Verwerfliches daran erkennen, wenn El-
tern sich es leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen
zu schicken. Das ist keine Katastrophe, sondern eine
Chance. Zu einer Katastrophe wird es erst, wenn Schüle-
rinnen und Schüler anderer Schulen dadurch benachtei-
ligt werden. Das kann ich nicht erkennen. Diese Diskus-
sion schürt Neid. Es geht nicht um Gleichheit, sondern
um gerechte Bildungschancen. Es geht um Chancen-
gleichheit.
Ich verstehe auch nicht, warum Sie ein Problem ha-
ben, wenn Unternehmen Schulen Computer spenden.
Vielmehr frage ich mich, warum Sie es der Wirtschaft
verbieten wollen, sich im Bildungsbereich zu engagie-
ren? In meinem Wahlkreis klappt die Zusammenarbeit
zwischen Unternehmen und Berufskollegs hervorra-
gend.
9952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
Die Firmen stellen das Material zur Verfügung, und
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Ausbildungs-
und weiterführenden Bildungsgängen entwickeln durch
ihre innovativen Projekte Lösungen, die von den Betrie-
ben nachgefragt werden. Nicht zuletzt durch diese Ver-
netzung von Schule und Betrieb erfolgt eine Stärkung
des Mittelstandes. Die Arbeitslosenquote in meinem
Wahlkreis beträgt 5,5 Prozent. Das ist für mich perfekte
Vernetzung von Schule und Wirtschaft.
Natürlich hat Schul-Sponsoring auch seine Grenzen.
Sponsoring darf niemals staatliche Leistungen und
Pflicht ersetzen. Gutes Sponsoring ist dann gegeben,
wenn die Schulen einen Mehrwert erfahren. Der pädago-
gische Nutzen muss im Vordergrund stehen. Die Schule
darf auf keinen Fall instrumentalisiert werden.
Sponsoring hat auch nicht immer etwas nur mit Geld
zu tun. Wenn der Chemiekurs einmal im Jahr seine
Experimente in den Profi-Labors des benachbarten Che-
miekonzerns machen darf, ist das für die Schülerinnen
und Schüler nicht nur ein unvergessliches Erlebnis, son-
dern auch möglicherweise die Brücke zur Berufsausbil-
dung.
Im SGB II ist geregelt, welche Leistungen der Bund
und welche die Kommunen zu erbringen haben. Die
Kommunen sind zuständig für die Schüler- und Schüle-
rinnenbeförderung. Ebenso für die Schulspeisung und
die Übernachmittagsbetreuung.
Es ist übrigens zu beobachten, dass es in vielen Län-
dern innovative Schulprojekte gibt, die ganz bewusst in
sozial schwierigen Regionen durchgeführt werden.
Ich weise daraufhin, dass es beispielsweise in Nord-
rhein-Westfalen diverse Projekte rund um das Thema ge-
sunde Ernährung an Schulen gibt. Doch die präventive
Arbeit hat nur Erfolg, wenn wir es den Kindern vorle-
ben, in der Schule, in der Freizeit und vor allem in der
Familie. Eltern haben eine Vorbildfunktion, egal, ob bei
gesunder Ernährung oder bei der täglichen Arbeit.
Wenn es eine zunehmende Anzahl von Familien gibt,
in der Kinder nie erlebt haben, dass Eltern durch eigene
Arbeit den Lebensunterhalt verdienen, sondern nur von
Transferleistungen leben, kann das für die Entwicklung
des Kindes höchst problematisch sein.
Dank der guten Konjunktur sinkt die Arbeitslosigkeit
und steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben große Chancen,
Langzeitarbeitslose aus dem SGB-II-Bezug herauszu-
führen und ihnen durch Arbeit eine neue Perspektive zu
geben. Hier müssen auch vor Ort Lösungen gefunden
werden. Diese liegen sicherlich nicht darin, über eine an-
gebliche Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern
durch Unternehmen zu diskutieren, die Schulen einen
Computer spenden.
Wolfgang Grotthaus (SPD): Das Thema „Bildungs-
zugang von Kindern und Jugendlichen stärken“ wird
heute auf der Grundlage von drei Anträgen der Opposi-
tionsparteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
erstmals beraten. Als Mitglied des Ausschusses für Ar-
beit und Soziales möchte ich mich auf den Aspekt der
Anträge konzentrieren, der sich um Regelungen im
Sozialgesetzbuch II und XII dreht. Die Bewertung der
mehr bildungspolitischen Gesichtspunkte wird meine
Kollegin Gesine Multhaupt vornehmen.
Die Intention der Anträge, armutsbedingte Benachtei-
ligungen beim Zugang zu Bildung zu beseitigen, ist
nicht falsch und steht auch nicht im Widerspruch zu der
von uns verfolgten Politik. So wie es sich die Antragstel-
ler vorstellen, ist ein Auffangen einer Benachteiligung in
Bezug auf die Gewährung von Fahrtkostenzuschüssen
und Lehrmittelfreiheit über eine Regelung im SGB nicht
zu regeln.
Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen der schu-
lischen Ausbildung fällt vorrangig in die Kultuszustän-
digkeit der Länder. Deshalb muss dort auch die Kosten-
beteiligung so geregelt werden, dass hilfebedürftige
Familien von den finanziellen Belastungen, die durch
die Fahrtkosten oder durch Lernmittel, Mittagsspeisung
entstehen können, nicht in einem unangemessenen Um-
fang belastet werden. Oder es muss sogar eine Befreiung
von den Kosten ermöglicht werden.
Diese Leistungen dann vom Bund einzufordern, wenn
die Länder sich weigern oder die Notwendigkeit nicht
erkennen, bedeutet eine Verlagerung von Zuständigkei-
ten. Warum sollen die Länder dann überhaupt noch an-
schließend die Leistungen übernehmen, wenn sie doch
wissen, dass der Bund hier einspringt.
Nein, die von den Oppositionsfraktionen für ihre An-
träge zum Anlass genommene Problematik der Schüler-
beförderungskosten und anderer Sozialleistungen ist
nicht Sache des Bundes.
Uns ist auch nur aus dem Land Niedersachsen diese
Problematik bekannt. Das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales ist bereits tätig geworden. Die zuständigen
Stellen haben sich mit jenen des Landes Niedersachsen
ins Benehmen gesetzt, um zu veranlassen, dass dort die
erforderlichen Schritte durch das Land eingeleitet wer-
den.
Einen Handlungsbedarf auf Bundesebene darüber hi-
naus sehe ich nicht, insbesondere deshalb nicht, weil der
Umfang der Leistungen abschließend gesetzlich geregelt
ist. Die Regelleistung bildet das soziokulturelle Exis-
tenzminimum ab und umfasst auch Ausgaben für die
Nutzung von Verkehrsmitteln, Nahrung und Schulmate-
rial. Das Bundessozialgericht hat noch im November
2006 Höhe und Art der Bedarfsermittlung als verfas-
sungsgemäß in § 23 Abs. 3 SGB II geregelt und mit dem
Gesetz zur Fortentwicklung des SGB II sind weiterge-
hende Sonderleistungen ausdrücklich ausgeschlossen.
Gesetzlicher Regelungsbedarf besteht auch nicht im Be-
reich des SGB XII und des Asylbewerberleistungsgeset-
zes.
Von daher werden wir die uns vorliegenden Anträge
ablehnen.
Gesine Multhaupt (SPD): Mit den vorliegenden
Anträgen glaubt die Fraktion Die Linke, einen Beitrag
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9953
(A) (C)
(B) (D)
zur Verbesserung des Bildungszugangs von Kindern und
Jugendlichen leisten zu können. In einem entsprechen-
den Forderungskatalog werden die Finanzierung der
Schülerbeförderung, Kosten für Mittagessen und Lern-
mittel sowie die Zulassung von privaten Bildungsein-
richtungen thematisiert. Mein Kollege Wolfgang
Grotthaus hat sich bereits zur sozialpolitischen Dimen-
sion der vorliegenden Anträge geäußert.
Auch auf der Suche nach dem bildungspolitischen
Kern der vorliegenden Texte kann ich an keiner Stelle
bundespolitische Kompetenzen entdecken. Die Ausge-
staltung der Schulpolitik, die Beförderung von Schülern,
Kontrolle von Schulbüchern, Unterrichtsmaterialien und
Unterrichtsinhalten liegt in der Zuständigkeit der Län-
der. Der Bund hat keine Möglichkeit, hier gestaltend ein-
zugreifen.
In der Tat werfen die von Ihnen angesprochenen The-
men – Bildungserfolge von Schülern mit problemati-
scher sozialer Herkunft sowie die wachsende Bedeutung
privater Nachhilfe – insgesamt Fragen zur Leistungsfä-
higkeit unseres Schulsystems auf. Die SPD-Bundestags-
fraktion hat diese Probleme rechtzeitig erkannt, und wir
haben auch gehandelt.
Schon in der letzten Legislaturperiode hat die SPD-
geführte Bundesregierung mit Edelgard Bulmahn und
Renate Schmidt den Zug auf die richtige Schiene ge-
setzt. Mit einem Investitionsprogramm von insgesamt
4 Milliarden Euro haben wir gezielt durch bauliche
Maßnahmen Schulen zu Ganztagsschulen ausgebaut
oder erweitert und damit den Zugang zu Bildung für alle
Schüler in unserem Land erheblich verbessert.
Die Betreuungsangebote werden wir auch in dieser
Legislaturperiode für Kinder unter drei Jahren quantita-
tiv und qualitativ weiter ausbauen. Obwohl es sich beim
Ausbau der Kinderbetreuung und dem Ausbau von
Ganztagsschulen um eine Pflichtaufgabe von Ländern
und Kommunen handelt, haben wir hier mit erheblichen
Bundesmitteln die Schulbildung und die Betreuung deut-
lich verbessert. Sie sehen, wir debattieren nicht nur über
bessere Chancen für alle Kinder und Jugendlichen; wir
handeln auch.
Nicht folgen kann ich der Ihrem Antrag zugrunde lie-
genden Logik, dass die unzureichende Bildungsbetei-
ligung von Kindern aus den genannten Familien ur-
sächlich mit mangelnden oder gar fehlenden
Transferleistungen zu tun hat. Um den Teufelskreislauf
– Arbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau, kein struk-
turierter Tagesablauf und eine Mentalität des „Durch-
wurschtelns“ – zu durchbrechen, müssen diese Kinder so
früh wie möglich öffentliche Bildungsangebote wahr-
nehmen. Diese Familien benötigen Angebote und Unter-
stützung, um ihre Kinder frühzeitig aus dem familiären
Teufelskreislauf herauszunehmen.
Wir sorgen dafür, dass diese Kinder Angebote wohn-
ortnaher Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wahr-
nehmen können. Allein mit immer mehr finanziellen
Mitteln – das wissen Sie so gut wie ich – helfen Sie hier
niemandem.
Die Länder sind aufgefordert, im Sinne unserer Kin-
der den hier begonnenen Weg konsequent fortzusetzen.
Zu Recht weisen Sie auf wesentliche Unterschiede bei
der Unterstützung in den einzelnen Bundesländern hin.
Aus Rheinland-Pfalz wissen wir, dass die Landesre-
gierung zu einem Vorbild geworden ist. Dort ist der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im letzten
Kindergartenjahr vor der Einschulung seit Januar 2006
beitragsfrei. Damit entlastet das Land die Familien um
durchschnittlich 600 Euro pro Kind. Weiterhin bekommt
jedes Kind mit Sprachproblemen vor dem Schuleintritt
eine spezielle Förderung.
Die Umsetzung des Ganztagsschulprogramms in Nie-
dersachsen findet hingegen nur sehr halbherzig statt. Da
zusätzliche Lehrer von der niedersächsischen Landesre-
gierung gegenwärtig nicht eingestellt werden, können
die Ganztagsschulen nicht ausreichend Förderunter-
richt, Übungsstunden und Betreuungsangebote am
Nachmittag bereitstellen. Dies erklärt möglicherweise
den wachsenden Bedarf an privater Nachhilfe.
In Thüringen beschäftigt sich eine gemeinsame Ar-
beitsgruppe mit dem Phänomen von materieller Armut,
Erziehungsdefiziten, mangelnden sozialen Kontakten
und Bildungsarmut. Ich bin davon überzeugt, dass hier
auch gerade im Hinblick auf die von ihnen angesproche-
nen Themen sinnvolle Lösungsansätze gefunden wer-
den.
Die Schülerbeförderung in den Ländern stellt sich
zwar sehr unterschiedlich dar, in der Regel wird aber die
soziale Lage der Familien berücksichtigt. Außerdem bie-
ten die Nahverkehrsverbunde ermäßigte Schülerzeitkar-
ten an, die alle Schüler nutzen können, die aufgrund der
Landesregelung keinen kostenfreien Transfer in An-
spruch nehmen können.
Ich möchte abschließend feststellen: Sie analysieren
Probleme in unserem Schulsystem, die wir bereits vor
vielen Jahren erkannt haben. Mit unserem Regierungs-
handeln geben wir für Kinder und Jugendliche die richti-
gen Antworten, während Sie sich damit begnügen, in al-
ter Tradition mehr Geld zu fordern und dann zu hoffen,
dass damit einer guten Bildung und Betreuung Genüge
getan sei. Dass dieses nicht ausreicht, haben wir Ihnen
aus sozial- und bildungspolitischer Sicht erklärt. Dass
wir die vorliegenden Anträge ablehnen, wird Sie von da-
her nun nicht verwundern.
Die SPD wird sich auch in Zukunft in den Ländern, in
denen wir Verantwortung tragen, und auf Bundesebene
sehr dafür einsetzen, dass wir insbesondere bei Kindern
und Jugendlichen zu mehr Chancengleichheit gelangen.
Miriam Gruß (FDP): Hätte die Bundesregierung
den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernor
Muñoz aufmerksam gelesen und daraus die richtigen
Schlüsse gezogen, würden wir heute Abend nicht über
dieses Thema debattieren. Denn die Quintessenz aus
dem Muñoz-Bericht ist klar: Hinter den Ungleichheiten
im deutschen Bildungssystem steht eine soziale Un-
gleichheit, die weitreichende Folgen für die betroffenen
9954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
Kinder und Jugendlichen hat. Diese soziale Ungerech-
tigkeit gilt es abzubauen.
Bei der Bundesregierung kann ich den entschiedenen
Willen dazu leider immer noch nicht erkennen. Aber wie
soll sie auch tätig werden, wenn sie sich selbst aller bil-
dungspolitischen Kompetenzen dank der Föderalismus-
reform beraubt hat?
In seinem Bericht stellt Muñoz zweifelsfrei fest:
Deutschland verfügt nicht über ein einheitliches Bil-
dungssystem, da es keinen länderübergreifenden konsis-
tenten Rahmen gibt.
Leider hat die Bundesregierung damit nicht nur sich
selbst viel Ärger eingebrockt, sondern auch unseren Kin-
dern, die nun qua Geburtsort dem Bildungssystem ihres
Bundeslandes ausgeliefert sind. Ihre Anträge, werte Kol-
legen der Grünen und der Linken, lesen sich in Teilen
wie eine Parodie auf den Föderalismusmurks.
Die PISA-E-Studie hat gezeigt, dass es in keinem
deutschen Bundesland gelungen ist, allen Heranwach-
senden gleich gute Bildungschancen zu geben, sie indi-
viduell zu fördern und gleichzeitig soziale, ethnische
und kulturelle Unterschiede der Bildungsbeteiligung und
des Bildungserfolgs auszugleichen. Dies sind ja gerade
die Ziele Ihrer Anträge!
Doch wie können wir es nun schaffen, soziale Un-
gleichheiten im Bildungssystem abzubauen und damit
allen Kindern – unabhängig von ihrem Elternhaus – das
Rüstzeug mit auf den Weg zu geben, das so essentiell ist
für die Entwicklung ihres gesamten Leben, nämlich Bil-
dung?
Ich glaube, wir müssen erstens ganz gezielt bei den
Elternhäusern und Familien der Kinder ansetzen. Ein in-
taktes, bildungsorientiertes Zuhause ist ein Grundstein
für gute Bildungschancen, das steht fest.
Zweitens müssen wir auch in die Schulen investieren.
Sie sind kein Auffanglager für vernachlässigte Kinder.
Schule muss sich darauf verlassen können, dass Eltern
ihren Kindern ein Mindestmaß an Benehmen, Sozial-
kompetenz, Sprachvermögen und Allgemeinbildung
vermitteln, auf dem Lehrer aufbauen können.
Eltern müssen sich jedoch ebenso darauf verlassen
können, dass ihren Kindern in den Schulen das Wissen
beigebracht wird, das sie für einen erfolgreichen Start in
die Berufsausbildung benötigen, und darauf, dass Schule
ihren Kindern nicht schadet, dass also das schulische
Umfeld und die Aktivitäten dort keinen negativen Ein-
fluss auf die Schüler haben. Im Gegenteil: Schule muss
auf ein Fundament aufbauen und weiterbilden, ohne zu
selektieren.
Schule und Eltern sind also gleichermaßen in der
Pflicht und in einer Erwartung. Sie bedingen sich gegen-
seitig, soll den Kindern eine optimale Bildung und Er-
ziehung zuteil werden. Versagt eine der beiden Institu-
tionen, kommt es zum Zusammenbruch des Systems,
denn die jeweils andere Seite kann dieses Versagen nur
sehr bedingt auffangen oder ausgleichen. Leidtragende
sind dann die einzelnen Kinder, die weder für das eine
noch für das andere etwas können.
Bundespolitisch sind uns die Hände in dieser Sache
gebunden. Deshalb sind viele Ihrer Forderungen, liebe
Kollegen der Bündnisgrünen und der Linken, so ehren-
haft sie auch sein mögen, leider von uns nicht beein-
flussbar.
Wir können aber für einen breiten gesellschaftlichen
Konsens werben, der Erziehung und Bildung Priorität
vor anderen Zielen einräumt. Das bedeutet vor allem,
mehr Geld in Bildung und in Familien zielgenau zu in-
vestieren. Lebensstandard und Wohlstand einer Familie
dürfen nicht mit der Geburt eines oder mehrerer Kinder
sinken. Kinder müssen gesellschaftlich besser abgesi-
chert werden. Gleiches gilt für Mütter, die sich frei für
Kinder entscheiden sollen, ohne gleichzeitig Angst vor
Arbeitslosigkeit oder schlechteren Chancen auf dem Ar-
beitsmarkt zu haben.
Insgesamt muss es zu einer besseren Verzahnung von
Kindertagesstätten, Vorschulerziehung und Grundschule
kommen, um Kindern einen möglichsten gleichen Start
in die Schulzeit und gleiche Zugangschancen zu Bildung
zu ermöglichen. Es müssen die elterlichen Ressourcen
gestärkt, die institutionellen Rahmenbedingungen ver-
bessert und das Bewusstsein aller, für das Aufwachsen
von Kindern mitverantwortlich zu sein, gefördert wer-
den.
Darüber hinaus muss die Bildungsforschung, insbeson-
dere im Bereich der frühkindlichen Bildung, intensiviert
werden. Hier brauchen wir außerdem eine Qualitätsoffen-
sive mit pädagogischen Zielen und Bildungsmindest-
standards. Wir Liberalen schlagen zur Qualitätssiche-
rung ein System der Akkreditierung bzw. Zertifizierung
der Einrichtungen vor.
Das Kinderhilfswerk UNICEF hat heute in einer Pres-
semitteilung noch einmal darauf hingewiesen: Bildung
ist das wichtigste Kapital für die Zukunft der Welt –
preiswert, erneuerbar und voller Energie.
Werden wir alle zu Bildungsbotschaftern in unseren
Gemeinden und Kommunen. Denn nur wer Bildung auf-
baut, baut soziale Ungleichheiten ab!
Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Wenn im Bundestag
und in der Öffentlichkeit über Bildung diskutiert wird,
betonen Abgeordnete aller Fraktionen, dass Bildung für
sie ein überaus wichtiges Thema ist. Mit dieser Einigkeit
ist aber Schluss, sobald es zur konkreten Politik und
Herangehensweise kommt. Die Linke ist der Auffas-
sung, dass Bildung – gerade weil sie sowohl für die indi-
viduelle als auch die gesellschaftliche Entwicklung so
bedeutend ist – ein Grundrecht sein muss. Die Teilhabe
an Bildung muss für alle garantiert werden. Von Ihnen
hören wir dagegen, dass Bildung wichtig sei, weil sie je-
dem einzelnen Menschen die Chance bietet, sich eigen-
verantwortlich um gute Zukunftsperspektiven zu küm-
mern. Wer diese Chance nicht nutzt, hat eben Pech
gehabt. Auf diese Weise verschleiern Sie aber, dass nicht
jeder und jede gleichermaßen die Möglichkeit zur Teil-
habe an Bildung hat. Schlimmer noch: Mit Ihrer Politik
vergrößern Sie die Kluft zwischen Arm und Reich und
produzieren immer mehr Armut. Armut führt aber zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9955
(A) (C)
(B) (D)
Ausgrenzung und dies verhindert gerade auch die Teil-
habe an Bildung.
Ich möchte Ihnen das an drei Beispielen verdeutli-
chen. Das erste Beispiel betrifft Ihre Sozialpolitik. Die
Linke lehnt Hartz IV ab; alle anderen Fraktionen waren
dafür. Ich empfehle Ihnen allen deshalb, sich das Flug-
blatt der GEW zu diesem Thema durchzulesen. Dort
wird anhand eines typischen Falls auf die Folgen von
Hartz IV verwiesen: Nicole. Sie ist vierzehn und lebt in
einer Bedarfsgemeinschaft. Der monatliche Regelsatz
von Nicole beträgt 207 Euro. Darin sind weniger als
3 Euro pro Tag für Verpflegung enthalten, weniger als
neun Euro monatlich für Fahrtkosten und kein einziger
Cent für sonstige Schulkosten. Nicole zahlt aber
2,50 Euro für das Mittagessen in der Schule. Ihre Mo-
natskarte kostet fast 30 Euro. An sonstigen Schulkosten
kommen für Bücher, sonstige Lernmaterialien oder
Klassenfahrten viele weitere Ausgaben zusammen. Mit
einem Regelsatz von 207 Euro lässt sich das nicht finan-
zieren. Das Beispiel von Nicole – und solche Beispiele
könnte man zu Tausenden finden – zeigt: Ihre Politik
führt zu Armut. Und diese Armut verhindert gerade auch
die Teilhabe an Bildung.
Mit unseren heutigen Anträgen fordern wir Sie des-
halb dazu auf, das SGB II anzupassen und zu erweitern.
Dies wäre zumindest ein erster Schritt in die richtige
Richtung. Umfassend lässt sich Bildungsteilhabe aller-
dings nur realisieren, wenn die Gebührenfreiheit der Bil-
dung grundlegend gesichert ist. Die Bundesregierung
muss gemeinsam mit den Ländern für die Wiedereinfüh-
rung der Lernmittelfreiheit eintreten. Darüber hinaus
muss mit Armutslöhnen endlich Schluss sein: Beenden
Sie endlich Ihr Koalitionstheater, und führen Sie einen
gesetzlichen Mindestlohn ein.
Zweites Beispiel. Mit Ihrer Politik unterstützen Sie
private Bildungsdienstleister, während zugleich das öf-
fentliche Bildungssystem immer weiter ausgehöhlt wird.
Dies lässt sich unter anderem an der wachsenden Bedeu-
tung von Nachhilfe zeigen: Jedes vierte Kind nimmt pri-
vate Nachhilfe in Anspruch. Die Kosten liegen durch-
schnittlich bei rund 100 Euro monatlich. Anders als
Nicoles Eltern können die Eltern der gleichaltrigen
Katrin, die zu den Gutverdienenden gehören, die Nach-
hilfe ihrer Tochter finanzieren. Nicole bleibt außen vor.
Förderangebote in ihrer Schule gibt es so gut wie keine
mehr. Schließlich kann selbst der reguläre Unterricht nur
mit Mühe und hohen Belastungen für die Lehrkräfte auf-
rechterhalten werden. Privatisierung zeigt sich auch an
der Entwicklung der Privatschulen: In den letzten zehn
Jahren hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler an
Privatschulen mehr als verdoppelt. Im Grundgesetz ist
zwar festgelegt, dass dies nicht mit einer sozialen Sortie-
rung einhergehen darf. Inzwischen gibt es aber Privat-
schulen, deren Gründungszweck Gewinnerzielung ist.
Welches Interesse besteht hier, Kinder wie Nicole aufzu-
nehmen?
Noch weiter verbreitet als Privatschulen ist
Schulsponsoring. Schulen sind mehr und mehr darauf
angewiesen, private Spenden einzuwerben. Die Haupt-
schule, die Nicole besucht, kann aber nicht auf viele
Spenden hoffen. Es fehlt somit an allen Ecken und En-
den an Geld. Das Gymnasium, auf das Katrin geht und
das in einer guten Wohngegend liegt, hat da deutlich
mehr Möglichkeiten. Schließlich gelten ihre Mitschüle-
rinnen und Mitschüler als besonders kaufkräftig und das
Sponsoring an dieser Schule ist eine überaus gute Wer-
bemöglichkeit für Unternehmen.
All diese Entwicklungen folgen dem Prinzip: Gute
Bildung für wenige, die es sich leisten können, schlechte
Bildung für die große Mehrheit, die wenig Geld hat. Die
Linke findet das falsch. Wir wollen das öffentliche
Schulsystem stärken, und dazu braucht es allen voran
eine bessere öffentliche Finanzierung. Ein erster Schritt
dahin wäre es, wenn Sie endlich die Umsatzsteuerbefrei-
ung für kommerzielle Nachhilfeanbieter abschaffen.
Drittes und letztes Beispiel ist Ihr ständiges Gerede
von Wettbewerb. Auch in der Bildung können Sie nicht
genug vom Wettbewerb bekommen. Mit mehr Wettbe-
werb – so behaupten Sie – wäre sichergestellt, dass sich
die Besten der Besten durchsetzen. Bitte erinnern Sie
sich noch einmal an das Beispiel von Katrin und Nicole.
Nicole hatte keinen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz,
und ich habe beschrieben, mit welch geringen finanziel-
len Mitteln sie auskommen muss. In der Grundschule
hatte sie von vorneherein deutlich schlechtere Ausgangs-
bedingungen als Katrin, die nicht nur einen Kindergarten
besucht hat, sondern dank der Finanzierung ihrer Eltern
nebenbei auch noch Geigenstunden nehmen konnte.
Kein Wunder also, dass Nicole nach der Grundschule in
die Hauptschule und Katrin aufs Gymnasium kommt.
Diverse Studien haben dieses selektive Sortieren des
deutschen Schulsystems kritisiert. Und wenn es Nicole
ausnahmsweise doch aufs Gymnasium geschafft hätte,
dann hätten sie noch viele weitere Hürden erwartet. Spä-
testens der Zugang zum Studium wäre ihr dann ange-
sichts von Studiengebühren und nicht ausreichendem
BAföG versperrt geblieben. Ihr bliebe nur die Alterna-
tive, sich durch Studienkredite hoch zu verschulden.
Katrin muss sich um solche Dinge keine Sorgen machen.
Diese Beispiele zeigen, dass das Gerede um „die Bes-
ten“ schlicht Blödsinn ist. Diejenigen, die die besten
Ausgangsbedingungen haben, kommen nach oben. Un-
gleiche Ausgangsbedingungen werden durch Wettbe-
werb weiter zementiert und verschärft. Das Muster Ihrer
Politik ist: Denjenigen, die viel haben, wird weiter viel
gegeben. Denjenigen, die wenig haben, müssen damit
rechnen, aussortiert zu werden.
Die Linke steht für eine andere Bildungspolitik. Ich
möchte unsere zentralen Forderungen abschließend noch
einmal zusammenfassen: Erstens. Für uns ist Bildung
kein Patentrezept gegen Armut. Bildungsteilhabe setzt
die Bekämpfung von Armut voraus. Deshalb streiten wir
für eine grundlegende Umverteilung von oben nach un-
ten. Nur so kann auch das Recht auf Bildung wirklich für
alle eingelöst werden.
Zweitens. Wir wollen das öffentliche Bildungssystem
stärken. Privatisierung von Bildung heißt gute Bildung
für wenige und schlechte Bildung für viele! Deshalb leh-
nen wir Bildungsprivatisierungen egal in welcher Form
ab.
9956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
Drittens. Wir fordern ein Bildungssystem, das auf
Gleichheit und nicht auf Wettbewerb zielt. Wettbewerb
zementiert und verschärft ungleiche Ausgangsbedingun-
gen. Dies machen die aufgeführten Beispiele mehr als
deutlich! Indem Sie unseren heutigen Anträgen zustim-
men, können Sie ein Zeichen setzen: Machen sie endlich
einen Schritt in die richtige Richtung – auch wenn es zu-
nächst nur ein kleiner ist.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
Inkrafttreten des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
– SGB II – wird ein Problem immer deutlicher: In meh-
reren Bundesländern – darunter NRW und Niedersach-
sen – sind Kinder in Haushalten mit Arbeitslosengeld-II-
Beziehenden nicht mit Schulbüchern versorgt. Die Lern-
mittelfreiheit in diesen Ländern wurde abgeschafft, ohne
dass eine Ausnahme für Kinder aus armen Haushalten,
insbesondere ALG-II-Haushalten geschaffen wurde.
Das Land NRW hat in der erst kürzlich erfolgten No-
vellierung des Landesschulgesetzes erneut nicht die Ge-
legenheit genutzt, diesen unsäglichen Missstand zu be-
enden. Stattdessen verweist die NRW-Schulministerin
Sommer von der CDU darauf, sie überlasse es den Kom-
munen, ob sie die Schulbücher für Kinder von Langzeit-
arbeitslosen bezahlen. Nur: Längst nicht alle Kommunen
können oder dürfen die Kosten für Lernmittel überneh-
men.
Die Kostenübernahme für Lernmittel ist eine freiwil-
lige Leistung der Kommune, keine Pflichtleistung. Ste-
hen Kommunen in der sogenannten Haushaltssicherung,
kann die Kommunalaufsicht ihnen die Genehmigung des
Haushalts versagen, wenn sie die Kostenerstattung für
Lernmittel garantieren. Dass Kommunen – wie etwa das
rot-grün regierte Dortmund – die Kosten trotz Haushalts-
sicherung übernehmen, ist anzuerkennen. In vielen ande-
ren Städten jedoch müssen Kinder mit kopierten Zetteln
hantieren, anstatt wie ihre Klassenkameraden ein Buch
aufschlagen zu können.
Ich sage es deutlich: Dieser Zustand ist ein Skandal.
Die Länder versagen auf ihrem ureigensten Gebiet, ob-
wohl sie bei jeder Gelegenheit – zuletzt im Rahmen der
Föderalismusreform – die Bildungskompetenz für sich
reklamieren.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert
nun in ihrem Antrag, für die Jobcenter die Möglichkeit
zu schaffen, die Kosten für Schulbücher zu erstatten. Da-
bei wollen wir die Länder nicht aus ihrer Pflicht entlas-
sen und sehen deshalb auch nicht die Kostenübernahme
als Pflichtleistung für den Träger der Grundsicherung für
Arbeitslose vor. Würde man dies tun – wie es etwa die
Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert –, würden
unverzüglich alle Bundesländer die Finanzierung der
Lernmittel für Kinder von Langzeitarbeitslosen dem
Bund überlassen.
Unser Antrag ist als eine Art Sofortmaßnahme für be-
dürftige Kinder und Jugendliche zu sehen, die eindeuti-
gen Notfallcharakter hat, um das völlige Versagen eini-
ger Bundesländer zumindest teilweise auszugleichen.
Nach unserer Vorstellung sollten die Sozialhilfeträger
und Jobcenter vor Ort in Zukunft wenigstens eine
Rechtsgrundlage haben, um auf aktuelle Hilfebedarfe
von Kindern und Jugendlichen durch die Gewährung
von Sachleistungen schnell und unbürokratisch reagie-
ren zu können.
Diese Maßnahmen sollen für die Versorgung mit
Lernmitteln, aber auch für die Verpflegung in Schulen
und Kitas gelten. Gegenwärtig können die örtlichen
SGB-II- und SGB-XII-Leistungsträger selbst im Einzel-
fall keine Lernmittel auf dem Weg der Vorleistung zur
Verfügung stellen.
Viele Eltern im Leistungsbezug haben ihre Kinder
von der Schulverpflegung abgemeldet. Die Kostenbetei-
ligung für ein Mittagessen in einem Kindergarten, einem
Hort oder einer Ganztagsschule liegt in der Regel deut-
lich höher als die im Regelsatz täglich vorgesehenen
1 Euro.
Nach unserem Antrag soll zum Beispiel die Differenz
zu den tatsächlichen Kosten als Sachleistung auf Antrag
gewährt werden können. Ebenso wollen wir die Inan-
spruchnahme von kommunalen Sportangeboten, Musik-
schulen und Bibliotheken für Kinder von Sozialleis-
tungsbeziehern dadurch erleichtern. Auch die Kosten
hierfür sollen künftig als Sachleistung in angemessenem
Umfang gewährt werden können.
Bei der Bekämpfung von Armut geht es nicht nur um
finanzielle Transferleistungen. Dennoch müssen die
staatlichen Leistungen so ausgestaltet sein, dass sie das
Existenzminimum sichern. Wir stellen dies bei den aktu-
ellen und nun für das gesamte Bundesgebiet einheitli-
chen Regelsätzen stark infrage. Umso wichtiger wäre
eine flexible Regelung, durch die kurzfristig dringliche
Sonderbedarfe wenigstens bei Kindern ermöglicht wer-
den können.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung medizinprodukterechtlicher und
anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 17)
Jens Spahn (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Än-
derung medizinprodukterechtlicher und anderer Vor-
schriften passen wir die gesetzlichen Regelungen des
Medizinprodukterechts neuesten Entwicklungen an, be-
heben akute Vollzugsprobleme und schließen vorsorg-
lich Lücken für den Zivil- und Katastrophenschutz.
Erstens. Es ist in Zukunft möglich, die vom Bund
zum Zwecke einer möglichen Pockenschutzimpfung an-
geschafften Impfnadeln über das darauf angegebene Ver-
fallsdatum hinaus zu verwenden. Dies ist unschädlich,
da nach Einschätzung der Experten die Sterilität der Na-
deln bei entsprechender Lagerung auch nach Ablauf des
Gewährleistungszeitraumes des Herstellers gewahrt ist.
So können unnötige und kostspielige Neuanschaffungen
vermieden werden. Die regelmäßige Überprüfung der
Produkte wird von den bevorratenden Stellen sicherge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9957
(A) (C)
(B) (D)
stellt. Diese Freistellung hat sich bereits in der Ver-
gangenheit für die Bundeswehr bewährt, welche Ihre
Produkte von vornherein ohne Verfallsdatum beziehen
kann.
Zweitens wird zur Klarstellung der Erstattungspraxis
arzneimittelähnlicher Medizinprodukte die Erstattungs-
fähigkeit im Gesetz präzisiert. Bereits nach geltendem
Recht sind arzneimittelähnliche Medizinprodukte, die
im Sinne des Arzneimittelgesetzes mit Stand vom
31. Dezember 1994 apothekenpflichtige Arzneimittel
gewesen wären, in die Arzneimittelversorgung einbezo-
gen. Allerdings führte diese Formulierung zu Schwierig-
keiten in der praktischen Umsetzung, nahm sie doch auf
einen überholten Gesetzestext Bezug. Deswegen soll der
Gemeinsame Bundesausschuss dazu künftig in Richtli-
nien festlegen, in welchen Fällen ausnahmsweise arznei-
mittelähnliche Medizinprodukte in die Arzneimittelver-
sorgung einbezogen werden. Das bedeutet, dass der
Gemeinsame Bundesausschuss den gesetzlichen Auftrag
erhält, eine Liste mit erstattungsfähigen arzneimittelähn-
lichen Medizinprodukten abzufassen. Die Hersteller
können und sollen frühzeitig die Aufnahme in die Liste
beantragen. Um sicherzustellen, dass die Erstattungsfä-
higkeit dieser Produkte nicht zum 30. Juni diesen Jahres
schlagartig einbricht, haben wir auf die Anregung des
Gemeinsamen Bundesausschusses reagiert, die Rege-
lung umformuliert und sichergestellt, dass die Gesetzes-
änderung erst zum 1. Juli 2008 in Kraft tritt. Dadurch
wird auch künftig sichergestellt, dass etwa eine Mull-
binde, die eine schmerzlindernde Salbe abgibt, von der
gesetzlichen Krankenversicherung auch künftig nicht er-
stattet werden muss, wenn der Gemeinsame Bundesaus-
schuss der Auffassung ist, dass dieses Kombinationspro-
dukt arzneimittelähnlich und etwa in seiner Wirkung der
heute bereits nicht erstattungsfähigen Schmerzsalbe in
Kombination mit einer einfachen Mullbinde vergleich-
bar ist.
In Zukunft werden wir drittens medizinprodukte-
rechtliche Vorschriften auch auf Produkte anwenden,
welche nicht als solche in den Verkehr gebracht, aber mit
der Zweckbestimmung eines Medizinproduktes einge-
setzt werden. Hierbei haben wir die begründeten Beden-
ken einiger Sachverständiger sowie der über den Bun-
desrat beteiligten Bundesländer als zuständige Prüf- und
Kontrollinstanzen berücksichtigt. Es galt dabei zu be-
rücksichtigen, dass die Überwachungs-, Dokumenta-
tions- sowie Sicherheitsanforderungen in der prakti-
schen, ärztlichen Anwendung durch diese Regelung
nicht überdehnt werden und keine unnötige Bürokratie
entsteht. Bei enger Auslegung wäre sonst womöglich so-
gar ein Waschlappen, mit welchem einem Patienten das
Gesicht gereinigt wird, als überwachungspflichtiges Pro-
dukt anzusehen gewesen. Der Anwendungsbereich die-
ser Regelung wird deswegen ausdrücklich auf solche
Produkte eingegrenzt, für welche nach der Medizinpro-
dukte-Betreiberverordnung sicherheits- bzw. messtech-
nische Kontrollen vorgesehen sind. Damit werden im
Sinne eines vorbeugenden Verbraucherschutzes in si-
cherheitsrelevanten Bereichen alle Medizinprodukte und
als solche verwendete Produkte künftig der Überprüfung
unterzogen.
Weiterhin haben wir auch im Bereich der Medizinpro-
dukte-Sicherheitsplanverordnung im Sinne einer Entbü-
rokratisierung Veränderungen vorgenommen. Künftig
werden die zuständigen Behörden des Bundes für bereits
ausreichend untersuchte Vorkommnisse Ausnahmen von
der Meldepflicht oder eine zusammenfassende Meldung
in regelmäßigen Zeitabständen anordnen. Damit stellen
wir einen ressourcensparenden, risikoangemessenen
Einsatz der personellen Kapazitäten sicher, ohne die ef-
fektive Gefahrenabwehr zu vernachlässigen. Zudem
wurde die Kontrollzuständigkeit des Bundesinstituts für
Arzneimittel und Medizinprodukte im Zuge des Gesetz-
gebungsverfahrens auf aus dem Ausland stammende Me-
dizinprodukte beschränkt. Damit vermeiden wir im Sinne
der Deregulierung Doppelzuständigkeiten von Bundes-
und Landesbehörden für Produkte aus dem Inland.
Hierneben haben wir im Omnibusverfahren einige
Korrekturen und Ergänzungen am SGB V vorgenom-
men, welche Inkrafttretensregelungen im GKV-Wettbe-
werbsstärkungsgesetz korrigieren. Damit stellen wir si-
cher, dass die erstrebten Wirkungen sich sachgerecht
entfalten können.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir im
Sinne klarer Erstattungsregeln, unbürokratischen Ver-
braucherschutzes und der Vorsorge für Katastrophenfälle
wichtige Detailfragen regeln und dabei auch viele Anre-
gungen aus der Anhörung aufgenommen haben. Daher
freut es mich sehr, dass die gesamte Opposition dieses
Gesetz unterstützt. Solch konstruktives Verhalten
wünschte ich mir öfter.
Dr. Marlies Volkmer (SPD): Wir beschäftigen uns
heute mit der Reform des Medizinproduktegesetzes,
einer notwendigen und sinnvollen Reform wie ich an-
merken möchte. Die letzte Änderung des Medizinpro-
duktegesetzes liegt bereits über drei Jahre zurück, und es
ist müßig, darauf hinzuweisen, dass sich in einem sol-
chen Zeitraum einige notwendige Änderungen ansam-
meln. Dieses Gesetz steht sicherlich nicht im Mittel-
punkt des öffentlichen Interesses. Nichtsdestoweniger ist
es von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Un-
ternehmen der Medizinproduktebranche, für Labore und
natürlich für die Patientinnen und Patienten in Deutsch-
land, die zu Recht ein Höchstmaß an Schutz durch den
Gesetzgeber erwarten.
Ein wichtiger Bestandteil dieser Novelle ist die Aus-
weitung des Anwendungsbereichs des Medizinprodukte-
gesetzes. Bisher war ein Medizinprodukt ein Produkt,
das von seinem Hersteller als solches auf den Markt ge-
bracht wurde, nachdem es die notwendigen Sicherheits-
prüfungen erfolgreich durchlaufen hat, zum Beispiel
eine Gehhilfe oder ein Katheterschlauch. Produkte, die
zwar den Zweck eines Medizinproduktes erfüllten, aber
von ihren Herstellern nicht als solche deklariert wurden,
mussten die hohen Sicherheitsstandards hingegen nicht
erfüllen. Diese Sicherheitslücke wird durch dieses Ge-
setz nun geschlossen. So wird die Patientensicherheit in
Deutschland nachhaltig erhöht.
Kritiker der Ausweitung des Anwendungsbereichs
haben die Befürchtung geäußert, dass nun auch Wasch-
9958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
lappen oder Kühlschränke nachträglich zu Medizinpro-
dukten gemacht würden. Dies würde die genannten Pro-
dukte nicht nur unnötig verteuern, sondern widerspricht
ganz einfach dem gesunden Menschenverstand. Durch
entsprechende Änderungsanträge haben wir im Ausschuss
für Gesundheit dieses Problem gelöst und ungewollte
Konsequenzen der Ausweitung des Anwendungsbereichs
ausgeschlossen. Nun können weder ein Kühlschrank
noch ein Waschlappen nachträglich zum Medizinpro-
dukt erklärt werden, sondern nur Produkte, die die fest-
gelegten Kriterien eines Medizinproduktes wirklich er-
füllen.
Ein weiteres wichtiges Element dieses Gesetzes ist
die Frage der Erstattung von arzneimittelähnlichen Me-
dizinprodukten. Die Erstattung durch die gesetzliche
Krankenversicherung war in der Vergangenheit zwar
grundsätzlich möglich, aber die bisherige Fassung des
betreffenden Paragrafen im Fünften Buch Sozialgesetz-
buch hat sich in der Praxis leider nicht bewährt. In der
Vergangenheit gab es an dieser Stelle immer wieder Un-
sicherheiten bis hin zu Gerichtsverfahren über die Frage,
ob ein bestimmtes Medizinprodukt von den gesetzlichen
Krankenkassen erstattet wird. Um eine sichere und ein-
deutige Rechtslage zu schaffen, haben wir diesen Para-
grafen neu formuliert.
Die Opposition kritisiert doch so häufig die angeblich
fehlenden Bemühungen der Großen Koalition beim Bü-
rokratieabbau. Sehen Sie sich dieses Gesetz ruhig einmal
näher an; denn hier wird an vielen Stellen Deregulierung
und Entbürokratisierung konsequent umgesetzt. Davon
profitieren die betroffenen Unternehmen und letztend-
lich die ganze Volkswirtschaft. Um nur einige Beispiele
zu nennen: Überflüssig gewordene Regelungen zu In-
vitro-Diagnostica werden gestrichen, nicht notwendige
Anzeigepflichten bei Klinischen Prüfungen entfallen
und Einrichtungen, die Medizinprodukte steril aufberei-
ten und den Behörden bereits bekannt sind, müssen nicht
mehr zusätzlich behördlich erfasst werden.
Dieses Gesetz verfolgt mehrere Ziele: mehr Transpa-
renz, Entbürokratisierung und vor allem die Erhöhung
der Sicherheit der Medizinprodukte für die Patienten.
Verantwortliche Gesundheits- und Verbraucherpolitik
muss den Patientenschutz immer in den Mittelpunkt ih-
res Handelns stellen. Diesem Grundsatz folgt dieses Ge-
setz.
Daniel Bahr (Münster) (FDP): Heute beraten wir
hier im Deutschen Bundestag nicht nur über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung medizinprodukterechtlicher und anderer Vor-
schriften, sondern auch noch einmal über das GKV-
WSG und hier im Speziellen über die Arbeitsweise bzw.
die handwerklichen Fähigkeiten der Bundesregierung.
Im sogenannten Omnibusverfahren haben Sie eine
große Anzahl von Änderungen im GKV-WSG dem vor-
liegenden Gesetzentwurf angehängt, um „formale“ Feh-
ler zu beheben. Nach Ihrer Darstellung beheben die Än-
derungen lediglich technische und redaktionelle Fehler.
Sie sind aber vor allem ein Beleg für eine schlecht ge-
machte Gesundheitsreform.
So muss die Finanzierungsregelung für die Selbsthilfe
zum 1. Januar 2008 und nicht – wie bislang in der Ge-
sundheitsreform geregelt – zum 1. April 2007 außer
Kraft treten, da es ansonsten zu einer Finanzierungslü-
cke kommt. Peinlich genug!
Was haben Sie nicht im Herbst des letzten Jahres alles
versprochen, als Sie den Start der Gesundheitsreform um
drei Monate verschoben haben: „Qualität geht vor
Schnelligkeit“ konnte man landauf, landab lesen. An
dieser Stelle möchte ich nicht über inhaltliche Fehler des
GKV-WSG sprechen, sondern darauf hinweisen, dass
Sie, obwohl Sie sich mehr Zeit nahmen, eine so große
Fülle von Fehlern fabrizierten. Es ist ein Armutszeugnis,
wenn Sie so eine Leistung abliefern. Mehrfach wurde
diese Reform als Meisterstück der schwarz-roten Koali-
tion angekündigt – mit dieser Leistung wären Sie kra-
chend durch jede Gesellenprüfung gefallen.
Die FDP-Bundestagsfraktion hatte seinerzeit in ihrem
Entschließungsantrag zum GKV-WSG ausführlich dar-
gelegt, warum sie dieses Gesetz ablehnt. Nun stellt sich
hier und heute die Frage: Wie wollen wir uns hinsicht-
lich des Gesetzes zur Änderung medizinprodukterechtli-
cher und anderer Vorschriften verhalten?
Wir haben immer unsere Unterstützung zugesagt,
wenn von der Bundesregierung sachgerechte Gesetze
vorgelegt werden. Immer dort, wo es dem Wohle des
Patienten, der Erleichterung der Arbeit der Ärzteschaft
und es der Unterstützung der Medizintechnologieunter-
nehmen und damit der Sicherung von über 150 000 Ar-
beitsplätzen dient, wird die FDP sich nicht verweigern.
Solchen Gesetzen werden wir zustimmen.
An dieser Stelle lohnt ein Blick in die Branche, um
die es hier geht. Wir sprechen von hochinnovativen Un-
ternehmen, die in über 11 000 Unternehmen insgesamt
über 150 000 Menschen einen Arbeitsplatz bieten. Der
Medizintechnologiemarkt in Deutschland ist nach den
USA und Japan der drittwichtigste Markt weltweit.
Circa 20 Milliarden Euro werden jährlich in Deutsch-
land umgesetzt. Übrigens führt die Branche der Medi-
zintechnik die Liste der angemeldeten Patente in
Deutschland an, weit vor anderen Branchen. Die Unter-
nehmen der Medizintechnik investieren 7 Prozent ihres
Umsatzes in Forschung und Entwicklung und tragen so
zur Arbeitsplatzsicherheit und zu innovativen Produkten
in Deutschland bei. Das ist vorbildlich, vor allem zum
Wohle der Patienten, denen innovative und gute Pro-
dukte zur Verfügung stehen.
Es ist gut und richtig, dass dieses Gesetz heute auf
den Weg kommt. Es baut Bürokratie ab, trägt zur
Kostenersparnis der öffentlichen Hand bei und stärkt die
Innovationskraft der Unternehmen. Ziel des Gesetzent-
wurfs zur Änderung medizinprodukterechtlicher und an-
derer Vorschriften ist es unter anderem, dass Medizin-
produkte zum Zivil- und Katastrophenschutz auch nach
Ablauf des Verfalldatums eingesetzt werden können.
Hervorzuheben ist das Beispiel der vom Bund zum Zwe-
cke einer möglichen Pockenimpfung beschafften Impf-
nadeln. Da diese Nadeln nach Einschätzung von Exper-
ten gefahrlos auch über das Verfalldatum hinaus
eingesetzt werden können, soll dies künftig auch recht-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9959
(A) (C)
(B) (D)
lich zulässig sein, um eine unnötige und kostenintensive
Neuanschaffung zu vermeiden. Voraussetzung ist, dass
Qualität, Leistung und Sicherheit der Produkte weiterhin
gewährleistet sind. Schon bisher hat die Möglichkeit be-
standen, Medizinprodukte ohne Verfalldatum an die
Bundeswehr abzugeben. Dies sollte nun auch für die Ab-
gabe an die zuständigen Behörden des Bundes und der
Länder zum Zweck des Zivil- und Katastrophenschutzes
gelten. Befürchtungen über Qualitätsverluste haben sich
in den Beratungen nicht bestätigt.
Eine weitere Änderung des Medizinproduktegesetzes
betrifft die Eigenherstellung, die speziell von In-vitro-
Diagnostika. Zudem will die Bundesregierung mit einem
Verzicht auf bestimmte Anzeigepflichten in Bezug auf
klinische Prüfungen, Aufbereitung und Sonderanferti-
gungen einen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten.
Die Regelung der Aufnahme von Produkten in das
Medizinproduktegesetz, die nicht originär als Medizin-
produkte hergestellt wurden, wurde verändert. Damit
wurde die Kritik der Fachverbände und der FDP aufge-
nommen und eingearbeitet. Der ursprünglich geplanten
Regelung hätten wir nicht zustimmen können. Die Aus-
weitung wäre zu weit gegangen und hätte viel Aufwand
in den Praxen bedeutet. Es wäre zu befürchten gewesen,
dass selbst ein Teelöffel, den ein Arzt bei Untersuchun-
gen nutzt, als Medizinprodukt gegolten hätte. Unsere
Bedenken haben sich in der Anhörung bestätigt. Erfreu-
licherweise hat die Koalition aber die Kritik aufgegriffen
und mit einem Änderungsantrag eine praktikable und
sachgerechte Lösung gefunden. Somit besteht nunmehr
Klarheit, welche Produkte unter den Anwendungsbe-
reich des Medizinproduktegesetzes fallen. Die Grenzen
zwischen normalen Produkten und Medizinprodukten
droht nun nicht mehr zu verwischen.
Deswegen wird die FDP heute dem Gesetz zum
Wohle der Patienten, der Arbeitsfähigkeit der Ärzte-
schaft und zur Unterstützung der Medizintechnologie-
branche zustimmen. Ich betone aber ausdrücklich, dass
die Zustimmung zum Gesetz keine Zustimmung zur ver-
korksten Gesundheitsreform ist.
Frank Spieth (DIE LINKE): In dem Gesetz ist mehr
drin, als draufsteht. Es werden im Huckepackverfahren
gleichzeitig handwerkliche Fehler des GKV-Wettbe-
werbsstärkungsgesetzes korrigiert. So beseitigt die Re-
gierung die offensichtlichen Macken, die im Gesetz
reichlich Platz gefunden haben. In den Änderungsanträ-
gen werden Fristen verschoben und Rechtschreibfehler
behoben. Da diese Änderungen für sich gesehen schlüs-
sig sind, stimmen wir ihnen zu. An unserer grundsätzlich
ablehnenden Haltung zum WSG halten wir aber weiter
fest, denn mit dieser „Reform“ wird ein Systemwechsel
vollzogen. Willentlich wird die Solidarität preisgegeben,
indem junge und gesunde Versicherte auf kostenspa-
rende Teilkaskotarife ausweichen, während ältere und
chronisch kranke Versicherte keine Chance auf solche
Rabattangebote haben und weiter „Vollkasko“ zahlen
müssen. Damit wird die Solidargemeinschaft zerfallen.
Trotz der nun bestehenden Möglichkeit, wieder in die
alte Krankenkasse aufgenommen zu werden, sind von
den betroffenen 300 000 Menschen, die in Deutschland
ohne Versicherungsschutz sind, immer noch circa
295 000 unversichert. Sie müssen sich vor jeder Erkran-
kung, jeder Verletzung fürchten, weil ein Beinbruch zum
persönlichen Bankrott führen kann. Denn sie können
sich im wahrsten Sinne des Wortes die Beiträge nicht
leisten. Arbeitslose, die aus Furcht vor Arbeitslosen-
geld II in die Selbstständigkeit gegangen sind, haben oft
nur 700 bis 800 Euro brutto und müssen davon 200 Euro
Krankenversicherungsbeitrag und die Miete zahlen. Da
bleibt zum Leben nichts mehr übrig.
Doch nun zum eigentlichen Gesetzentwurf. Von dem
Medizinprodukterecht werden in Deutschland über
500 000 Medizinprodukte mit einem geschätzten Jahres-
umsatz von etwa 23 Milliarden Euro erfasst. Ein be-
trächtlicher Markt, der für die Industrie wie auch für die
Nutzer von großem Interesse ist. Angefangen bei einem
Verband bis hin zu Operationsrobotern – alle Gerätschaf-
ten, die für die Behandlung von Patienten zum Einsatz
kommen, werden auf dieser Grundlage zugelassen und
überprüft. Das ist notwendig, ist allerdings in seiner An-
wendung oftmals schwerfällig. Deshalb sollte das Medi-
zinproduktegesetz mit diesem Entwurf entbürokratisiert
und dereguliert werden. Aber was hier vorgelegt wird,
führt nach Meinung vieler der in der Ausschussanhörung
vertrenen Experten mitnichten zu einer Vereinfachung.
Stattdessen werden nun auch Geräte, die bisher nicht als
Medizinprodukte gehandelt werden, unter dieses Gesetz
fallen. So muss der Arzt ein Fahrradergometer, mit dem
er Belastungs-EKGs durchführt, nun ebenfalls regelmä-
ßig überprüfen lassen. Ein Mehr an Sicherheit kann ich
daran nicht erkennen, aber die beträchtlichen Mehrkos-
ten, die eine Zertifizierung mit sich bringt, sehe ich
wohl. Ist dieses Vorgehen entbürokratisierend, deregu-
lierend und im Sinne der Nutzer?
Für Patienten ist das Medizinproduktegesetz wegen
der Sondennahrung zur künstlichen Ernährung von be-
sonderem Interesse. Denn nur, wenn das entsprechende
Präparat auf der Ausnahmeliste der arzneiähnlichen Me-
dizinprodukte steht, kann es auch von der Krankenkasse
erstattet werden. Patientenverbände mahnen an, dass die
im Entwurf genannte Liste nicht ausreichend sei. Der
Gemeinsame Bundesausschuss soll nun diese Liste über-
prüfen und gegebenenfalls ergänzen. Wir unterstützen
ausdrücklich die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbst-
hilfe, die zu Recht auf dieses Problem aufmerksam ge-
macht hat, und werden genau überprüfen, welche Konse-
quenzen der Gemeinsame Bundesausschuss aus diesem
Auftrag zieht.
Für den Katastrophenschutz wird es demnächst mög-
lich sein, Spritzen und Verbände auch dann zu verwen-
den, wenn diese Medizinprodukte bereits das Haltbar-
keitsdatum überschritten haben. Es mag ja sein, dass
besondere Situationen besondere Maßnahmen erfordern.
Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen,
dass eines der reichsten Länder der Welt sich ausgerech-
net für den Katastrophenfall gesundsparen möchte! Un-
ter anderem wegen der vorgenannten Gründe wird meine
Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
9960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Kaum ist die Gesundheitsreform in Kraft, be-
schäftigt sie uns schon wieder. Die Koalition wollte die
Diskussion um die misslungene Reform so schnell wie
nur irgend möglich beenden. Deshalb hat sie auf der
Zielgeraden des Gesetzgebungsverfahrens mehr auf
Schnelligkeit als auf Sorgfalt gesetzt. Die Folgen sind
offensichtlich: Eine schier unübersehbare Zahl von tech-
nischen Fehlern. Diese Schludrigkeiten haben die Bera-
tungen zum eigentlichen Inhalt des vorliegenden Geset-
zesentwurfs stark behindert. Die Koalition hat die vielen
Flicken, die sie noch auf das GKV-Wettbewerbsstär-
kungsgesetz zu kleben hatte, einfach an den Gesetzes-
entwurf angehängt. Damit werden aber zwei Gesetzes-
materien vermischt, die überhaupt nichts miteinander zu
tun haben. Alleine dieses Vorgehen würde schon eine
Ablehnung des Gesetzentwurfes rechtfertigen.
Inhaltlich sind die diversen Änderungen der Gesund-
heitsreform unproblematisch. Allerdings sollen sie ein
Gesetz nachbessern, das wir aus guten Gründen abge-
lehnt haben. Hinsichtlich des eigentlichen Anliegens des
Gesetzesentwurfs – der Änderung des Medizinprodukte-
gesetzes – wechseln Licht und Schatten. Zu begrüßen
sind die Regelungen, die den Patientenschutz verbes-
sern. Dazu gehört die bessere Kontrolle von Geräten, die
nicht als Medizinprodukte hergestellt wurden, aber in
Krankenhäusern und Praxen als solche angewendet wer-
den. Sinnvoll ist auch die Regelung, dass künftig auch
mittelbare Gefährdungen durch ein Medizinprodukt
durch das Gesetz erfasst werden. Zu begrüßen ist auch
die Beendigung von Rechtsunsicherheiten bei der Erstat-
tung arzneimittelähnlicher Medizinprodukte. Allerdings
wird man genau beobachten müssen, wie sich die vorge-
sehene Listung durch den Gemeinsamen Bundesaus-
schuss auf die Leitungsansprüche der Patientinnen und
Patienten auswirkt. Auch die erweiterten Handlungs-
spielräume für die Eigenherstellung von In-vitro-Dia-
gnostika sind grundsätzlich richtig. Allerdings ist der
Begriff „Medizinprodukte aus Eigenherstellung“ zu un-
bestimmt. Hier wären deutlichere Anforderungen erfor-
derlich gewesen, um für die notwendige Rechtssicher-
heit zu sorgen.
Aus Sicht des Patientenschutzes problematisch ist die
Regelung, dass Medizinprodukte, die für Krisen- und
Katastrophenfälle angeschafft werden, auch nach Ablauf
des Verfallsdatums verwendet werden können. Die Be-
dingung, „dass Qualität, Leistung und Sicherheit der
Medizinprodukte gewährleistet sind“, ist rechtlich zu un-
bestimmt. Es braucht klare Vorgaben für anzuwendende
Kontrollverfahren. Falsch ist auch, dass der Zugang zur
Datenbank des DJMDI auf Behörden beschränkt werden
soll. Damit geht Transparenz gerade auch für Patientin-
nen und Patienten verloren.
Wir werden den Gesetzesentwurf ablehnen. Die Än-
derungen des Medizinprodukterechts werden an einigen
Stellen zu neuen Rechtsunsicherheiten führen. Für mehr
Transparenz auf dem unübersichtlichen Markt für Medi-
zinprodukte wird nichts getan.
Rolf Schwanitz, Parlamentarischer Staatssekretär
bei der Bundesministerin für Gesundheit: Wir beschlie-
ßen heute das Gesetz zur Änderung medizinprodukte-
rechtlicher und anderer Vorschriften. Mit diesem Gesetz
werden im Bereich des Medizinprodukterechts einige
Punkte neu geregelt bzw. klargestellt, die in den letzten
Jahren Probleme im praktischen Vollzug bereitet haben.
Außerdem werden Aufgaben von Behörden des Bundes
neu geordnet, um sie künftig unbürokratischer zu erledi-
gen. In Teilbereichen der Anzeigepflichten wird zudem
dereguliert. Wir führen außerdem eine Ausnahme-
regelung in das Medizinproduktegesetz für Krisen- und
Katastrophenfälle ein, die hilft, unnötige Ausgaben zu
vermeiden.
Näher eingehen möchte ich auf drei Punkte, die in der
Anhörung des Gesundheitsausschusses am 28. März
2007 intensiv diskutiert wurden. Neben Medizinproduk-
ten werden auch andere Produkte mit der Zweckbestim-
mung eines Medizinproduktes eingesetzt. Ein Beispiel:
Der Arzt setzt ein Fahrradergometer aus dem Fitnessbe-
reich für die Erstellung eines Belastungs-EKGs in seiner
Praxis ein. Da dieses Produkt jedoch nicht als Medizin-
produkt in Verkehr gebracht wurde, können die für Me-
dizinprodukte geforderten messtechnischen Kontrollen
für diese Produkte bisher nicht verlangt werden, obwohl
die Messgenauigkeit hier von großer Bedeutung für
Diagnose und Therapie ist. Hier wurde in der Anhörung
vorgetragen, dass künftig angeblich zum Beispiel Tee-
löffel, Waschlappen und Kühlschränke zu Medizinpro-
dukten gemacht würden. Mein Kommentar: Das war nie
beabsichtigt. Um dies für jedermann klarzustellen,
wurde die Regelung aber überarbeitet. Durch die Ein-
schränkung der Erweiterung des Anwendungsbereichs
auf Produkte mit hoher Sicherheitsrelevanz sowie auf
bestimmte, insbesondere für die Diagnostik wichtige
Produkte mit Messfunktion erreichen wir drei Dinge:
Erstens. Ein Arzt darf auch weiterhin im Rahmen seiner
Therapiefreiheit Nichtmedizinprodukte einsetzen. Zwei-
tens. Der vorbeugende Patientenschutz wird verbessert.
Drittens. Eine Überregulierung wird verhindert.
Auf eine neue rechtliche Grundlage wird künftig auch
die Erstattung sogenannter arzneimittelähnlicher Medi-
zinprodukte gestellt. Der Gemeinsame Bundesaus-
schuss (G-BA) soll in Richtlinien nach § 92 SGB V die
erstattungsfähigen Produkte listen. Den in der Anhörung
vorgetragenen Bedenken gegen eine entsprechende An-
wendung von § 34 Abs. 1 Satz 1 bis 3 SGB V wurde
durch einen Änderungsantrag Rechnung getragen. Diese
Produkte müssen nicht der Behandlung einer schwerwie-
genden Erkrankung als Therapiestandard dienen. An-
sonsten gelten die Ausschlusskriterien für Arzneimittel
entsprechend. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss
wird ein Jahr Zeit gegeben, die Richtlinien zu erarbeiten.
Dies kann aber nur gelingen, wenn die Hersteller früh-
zeitig entsprechend § 34 Abs. 6 SGB V Anträge an den
Gemeinsamen Bundesausschuss stellen. Der letzte Punkt
betrifft die hauseigene Herstellung von In-vitro-
Diagnostika. Wir brauchen eine Regelung, welche die
Belange von Patienten, Gesundheitseinrichtungen und
Herstellern ausgewogen berücksichtigt. Unser Aus-
gangs- und Zielpunkt ist stets die Gesundheit der Bürge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9961
(A) (C)
(B) (D)
rinnen und Bürger. Die Eigenherstellung in Gesundheits-
einrichtungen ist wichtig und anerkannt – nicht nur für
Tests zur Erkennung „seltener Erkrankungen“. Sie ist
ebenso wichtig für die Neu- und Weiterentwicklung von
Diagnostika, die bereits auf dem Markt erhältlich sind.
Produkte aus Eigenherstellung müssen die gleichen An-
forderungen im Hinblick auf Sicherheit und Leistungsfä-
higkeit erfüllen wie kommerzielle Produkte. Soweit die
Eigenherstellung in einem überschaubaren Rahmen
stattfindet, genügt aber ein vereinfachtes Verfahren zum
Nachweis, dass die Produkte die gesetzlichen Anforde-
rungen erfüllen. Spielt sich die Herstellung allerdings in
einem industriellen Maßstab ab, gelten die gleichen Be-
dingungen, die auch für die Diagnostikaindustrie gelten.
Diese Neuregelung ermöglicht Innovation, ohne die Si-
cherheit von Patienten zu gefährden.
Mein Dank gilt allen Beteiligten. Wir haben in einem
positiven Miteinander kontrovers diskutierte Punkte zu
einer weitgehend einvernehmlichen Lösung geführt. Ich
bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Energieeinsparverord-
nung zügig verabschieden – Energieausweis als
Bedarfsausweis einführen (Tagesordnungs-
punkt 18)
Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Die Bundes-
gartenschau 2007 in Gera, in Ronneburg und im Land-
kreis Greiz hat in diesen Tagen ihre Pforten erfolgreich
geöffnet. Bei diesem Großereignis in meiner Thüringer
Heimat sieht man, dass Umweltschutz und die Bewah-
rung der Schöpfung in allen gesellschaftlichen Berei-
chen und Branchen einen hohen Stellenwert haben.
Zur Frage, was die Buga mit der Energieeinsparver-
ordnung – EnEV 2006 – zu tun hat, sage ich, nicht ohne
ein Augenzwinkern:
Erstens. Ich wäre ein schlechter Patriot, wenn ich die-
ses Ereignis im Herzen meiner ostthüringer Heimat nicht
erwähnte.
Zweitens. Wesentlicher ist, dass die Buga ein hervor-
ragendes Beispiel dafür ist, wie Menschen einer ge-
schundene Natur und Landschaft zu neuem Glanz und
im wahrsten Sinne des Wortes zu neuer Blüte verholfen
haben.
Drittens. Die nachwachsenden Rohstoffe sind ein
wichtiges Themenfeld dieser Bundesgartenschau.
Man sollte selbst kommen und sich anschauen, was
man tun kann, um dem Klimawandel aktiv entgegenzu-
wirken.
Auch der Entwurf der Novelle zur EnEV ist ein Bei-
trag dazu. Sie wurde vom Kabinett beschlossen. Mit der
Einführung von Energieausweisen für Bestandsgebäude
wurde eine sachgerechte Lösung für die Frage der Wahl-
freiheit bei den Energiesparausweisen gefunden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang deutlich ma-
chen, dass man einzelne Bestandteile unserer Klima-
schutzanstrengungen, wie der EnEV, niemals isoliert be-
trachten darf. Aus Sicht meiner Fraktion dürfen wir auf
keinen Fall den Blick für die Gesamtzusammenhänge
verlieren.
Der beste Klimaschutz besteht darin, erstens dafür zu
sorgen, dass weniger Energie verbraucht wird; denn
Energiesparen ist die beste und billigste Maßnahme zum
Klimaschutz. Deshalb kommt es zweitens darauf an, die
benötigte Energie so effizient wie möglich zu nutzen.
Energiesparen und Energieeffizienz werden drittens
durch die Verwendung erneuerbarer Energien ergänzt.
Neben der Energieeinsparverordnung gibt es eine
Reihe von Instrumenten, die diesen richtigen Ansatz um-
setzen. Um nur einige zu nennen: das CO2-Gebäude-
sanierungsprogramm, das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
EEG, und das Marktanreizprogramm.
Bürger und Unternehmen in Deutschland haben in
den letzten Jahren sowohl im privaten als auch im öf-
fentlichen Bereich freiwillig viel getan, um durch spar-
samen Verbrauch von Energie, bauliche Veränderungen
und CO2-neutrale erneuerbare Energien einen Beitrag
zum Klimaschutz zu leisten. Daran sieht man: Die beste-
henden Instrumente wirken. Die Menschen verstehen, in
der Praxis damit umzugehen und sie anzuwenden. Wir
sollten also vorsichtig sein, wenn wir weitere Instru-
mente entwickeln, damit wir die Nutzer nicht überfor-
dern.
Vielmehr müssen wir bestehende Instrumentarien
fortschreiben, vereinfachen und ihre Finanzierung lang-
fristig sicherstellen und verstetigen.
Wir müssen uns immer vor Augen führen: Energie-
verbrauch und -nutzung sind für die Menschen nicht die
einzigen Probleme, die sie zu bewältigen haben. Deswe-
gen dürfen wir sie nicht mit bürokratischen Anforderun-
gen überfrachten und sie im Rahmen ordnungspoliti-
scher Maßnahmen ständig überwachen und maßregeln.
Eine Energiepolizei – wenn man das so nennen darf –
lehnt die Union ab; eine solche wäre kontraproduktiv.
Den Menschen würde die Eigeninitiative verleidet, mit
der sie schon jetzt erfolgreich Maßnahmen gegen den
Klimawandel ergriffen haben.
Die Einführung des Energieausweises, der in Umset-
zung einer EU-Richtlinie erfolgte, dokumentiert die Er-
folge, gleichzeitig aber auch die noch vorhandenen
Schwachstellen. Nach Auffassung der Union muss der
Energieausweis objektiv und einfach verständlich Aus-
kunft über den wesentlichen energetischen Zustand eines
Gebäudes geben. Er muss ohne bürokratischen Aufwand
erstellt werden können und auch für den schmalen Geld-
beutel erschwinglich bleiben.
Da die Praktiker unter uns wissen, dass jeder Haus-
eigentümer ohnehin eine Energieanalyse für sich macht,
ist es richtig, dass der Energieausweis nur bei Vermie-
tung oder Verkauf erforderlich wird. Für Gebäude, die
9962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
der Wärmeschutzverordnung von 1977 oder vergleich-
baren Richtlinien entsprechen, ist der Energieausweis
auf Verbrauchsgrundlage ausreichend, ebenso bei mehr
als fünf Wohnungen, da hier das subjektive Wohnverhal-
ten eine geringere Rolle spielt.
Der teurere Energiebedarfsausweis soll nur bei Woh-
nungen erforderlich sein, die den beschriebenen Wärme-
dämmstandard nicht erfüllen. Hier war es gerade unser
Interesse, die Eigentümer von kleineren Häusern, die
sich schon in der Vergangenheit um die energetische Sa-
nierung ihrer Häuser gekümmert haben, nicht durch
teure Energiebedarfsausweise unnötig zu belasten.
Mit der Regelung in der vorliegenden Novelle haben
wir dafür Sorge getragen, dass der notwendige Ausweis
finanziell erschwinglich bleibt. Vielleicht nicht für je-
den, aber doch für den Großteil der Hauseigentümer
macht es durchaus einen Unterschied, ob man 50 Euro
oder 500 Euro dafür aufwenden muss. Da zieht auch das
Argument, das Haus werde ja vermietet oder verkauft,
wenig; denn Kosten sind Kosten. Es gilt, sie stets vor-
sichtig zu planen und zu kalkulieren. Überbordende
Bürokratieausgaben würden dafür sorgen, dass für den
eigentlichen Zweck, nämlich die energetische Sanie-
rung, Mittel fehlen.
Erklärte Ziele der Union sind Planungssicherheit und
Verlässlichkeit für die Menschen. Mit einer Übergangs-
frist von zehn Jahren bei der Gültigkeit aller Energieaus-
weise können Hauseigentümer planen.
Da sich der Kabinettsbeschluss zur EnEV-Novelle in
das Jahr 2007 hinein verzögert hat, halte ich die verein-
barte vollständige Wahlfreiheit bis zum Inkrafttreten der
geänderten Verordnung am 1. Januar 2008 für zu kurz.
Bleibt es bei der Frist, könnte es zu einem Antragsstau
kommen; die Kapazitäten zur Erstellung der Bedarfsaus-
weise sind vielleicht nicht ausreichend. Die Preise für
die Ausfertigung könnten steigen; die Qualität der Er-
arbeitung könnte sinken. Das wollen wir alle nicht.
Eine angemessene Fristverlängerung kann die mögli-
chen Missstände minimieren. Solche Forderungen aus
der Wohnungswirtschaft, den Verbänden der Hauseigen-
tümer sowie aus den Ländern sollten ernst genommen
werden.
Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, dass wir mit
den vorhandenen Instrumenten in der Lage sind, unsere
ehrgeizigen klimapolitischen Ziele zu realisieren. So ha-
ben wir uns vorgenommen, bis 2020 den CO2-Ausstoß
um mindestens 30 Prozent, gegenüber 1990, zu reduzie-
ren. Unser Ziel prägte auch wesentlich den Klimagipfel
im März: Die EU strebt bis 2020 ebenfalls eine Verringe-
rung um 30 Prozent an.
Darum sollten wir die Diskussion der nächsten Mo-
nate dafür nutzen, notwendige Maßnahmen und mögli-
che Entwicklungsschritte in die bestehenden Instrumente
einzuarbeiten und nicht neue bürokratische Gebilde aus
dem Boden zu stampfen. Eine weitere Novellierung die-
ser EnEV ist dazu ein wichtiger Baustein.
Die materiellen Anforderungen werden steigen. Das
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung hat daher ein Gutachten in Auftrag gegeben, dessen
Erkenntnisse in eine weitere Novellierung einfließen.
Die EnEV ist auch der richtige Platz, um Regelungen
für die Anwendung regenerativer Wärmeenergie zu for-
mulieren und Förderkriterien festzuschreiben. Geson-
derte Gesetze sind daher nicht erforderlich.
Rainer Fornahl (SPD): Die Bundesregierung hat am
25. April eine Verordnung zur Energieeinsparung be-
schlossen und darin den Handlungsrahmen für die Aus-
stellung von Energieausweisen für den Gebäudebestand
festgelegt. Damit hat sich ein Teil der Forderungen in
dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, beispielsweise
die Forderung, den Energieausweis Mietern oder Käu-
fern auszuhändigen, erledigt. Die Berücksichtigung wei-
terer Forderungen ginge über eine 1:1-Umsetzung der
zugrunde liegenden EU-Richtlinie 2002/91/EG über die
Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden hinaus, würde zu
Verzögerungen bei der Verabschiedung der novellierten
Energieeinsparverordnung und erheblichen Mehrkosten
führen. Allein der Vorschlag, einen Ortstermin zwingend
vorzuschreiben, würde wesentliche Bemühungen um
eine kostenverträgliche Ausgestaltung der Energieaus-
weise zunichtemachen und die Mindestkosten wenigs-
tens verdoppeln. Auch die Einführung eines Zertifizie-
rungsverfahrens wäre eine unnötige bürokratische
Zusatzbelastung. Die Richtlinie fordert dies nicht,
ebenso wenig Vorgaben zum Einsatz erneuerbarer Ener-
gien. Hier gibt es Anreize durch die EnEV, das EEG und
weitere Förderprogramme, sodass es keiner zusätzlichen
Regelung bedarf.
Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass der sparsame
und effiziente Umgang mit Energie unabdingbare Vo-
raussetzung für eine sichere und kostengünstige Energie-
versorgung ist, und dass in gleichem Maße Ressourcen
und Klima geschont werden müssen. Ohne Zweifel ist
der Gebäudebereich dabei von zentraler Bedeutung. Hier
gibt es ein großes Potenzial, Energie einzusparen und et-
was für den Klimaschutz zu tun, indem wir die CO2-
Emissionen minimieren. Knapp 40 Prozent der gesamten
deutschen Endenergie geht in Gebäuden drauf, im We-
sentlichen für die Heizung. Und drei Viertel der deut-
schen Wohngebäude sind älter als 30 Jahre; sie liegen
damit außerhalb aller Wärmeschutzregeln, die erst 1977
erlassen wurden. Das geht am Klima nicht spurlos vor-
bei: In deutschen Heizungskellern entsteht annähernd so
viel CO2 wie im Autoverkehr. Durch Maßnahmen zur
energetischen Gebäudesanierung kann der Ausstoß von
Kohlendioxid in diesem Feld binnen zehn Jahren um
30 Prozent reduziert werden. Es lassen sich bis 2020
rund 40 Milliarden Euro Energiekosten sparen. Dies ent-
spricht einer Einsparung von 500 Euro jährlich für eine
80-Quadratmeter-Wohnung.
Die jetzige Novelle der EnEV ist ein wichtiger Schritt
in diese Richtung. Die künftigen Energieausweise mit
ihren Modernisierungsempfehlungen zeigen, wie viele
Kilowattstunden Energie pro Quadratmeter und Jahr nö-
tig sind, um die Räume von Gebäuden zu heizen und
warmes Wasser zu erzeugen. Dadurch wird es Mietern
und Käufern künftig erleichtert, die anstehenden Neben-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9963
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kosten abzuschätzen. Gleichzeitig wird mit dem neuen
Energieausweis ein Anreiz geschaffen, Gebäude so zu
sanieren, dass danach Energie gespart und besser genutzt
wird. Ziel ist es auch, den Ausstoß von Kohlendioxid zu
verringern. Zwei verschiedene Verfahren werden ver-
wendet, um Energieausweise zu erstellen. Der Ver-
brauchsausweis wertet die Energieabrechnungen von
drei Jahren aus. Den Bedarfspass errechnen Energiebera-
ter nach einer Untersuchung der Bausubstanz. Es gab
dazu Kritik von verschiedenen Seiten, insbesondere aus
der Wohnungswirtschaft.
Die Bundesregierung hat in dieser Frage einen Kom-
promiss beschlossen. Für alle nicht modernisierten Ge-
bäude, die vor 1977, also vor der ersten Wärmeschutz-
verordnung, gebaut wurden, gilt der bedarfsorientierte
Ausweis zwingend, wenn es in diesem Gebäude weniger
als fünf Wohnungen gibt. Für alle anderen Gebäude be-
steht Wahlfreiheit. Mit diesem Kompromiss wurde,
glaube ich, eine ausgewogene Lösung gefunden, die so-
wohl dem Anliegen der fachlichen Aussagekraft des
Energieausweises und dem Anliegen einer ausreichen-
den Berücksichtigung der Kostenseite angemessen
Rechnung trägt. Gleichzeitig ist der Kompromiss ein
Spiegelbild dessen, was mit dem Energieausweis be-
zweckt wird: mehr Transparenz auf dem Immobilien-
markt. Der Kauf- und Mietinteressent soll energetisch
schlechte Gebäude erkennen können. Der Eigentümer
soll Anreize zur sinnvollen energetischen Sanierung be-
kommen. Vor diesem Hintergrund ist die mit dem Kom-
promiss gefundene Grenzziehung bei der Anwendung
von Bedarfs- und Verbrauchsausweis zu verstehen. Der
Bedarfsausweis hat gerade bei Gebäuden mit wenigen
Wohneinheiten Vorteile, weil seine Aussagegenauigkeit
größer ist und er nicht das Nutzerverhalten abbildet.
Wenn kleine Gebäude jedoch unter dem Regime der
Wärmeschutzverordnung, also ab Ende 1977 oder später
errichtet oder entsprechend modernisiert worden sind,
weisen sie bereits eine bessere energetische Qualität
auf, sodass für sie der Verbrauchsausweis ausreichend
ist.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der bedarfsorien-
tierte Ausweis flächendeckend durchsetzen wird, ist
meines Erachtens groß, denn wer künftig staatliche Gel-
der für die Gebäudesanierung in Anspruch nehmen will,
braucht den Bedarfsausweis. Deshalb muss man die no-
vellierte EnEV im Zusammenhang mit dem CO2-Gebäu-
desanierungsprogramm sehen. Die EnEV schafft Trans-
parenz und stellt Forderungen an den Vermieter oder
Verkäufer. Das Gebäudesanierungsprogramm bietet Un-
terstützung, sodass tatsächlich saniert werden kann. Im
Jahr 2006 sind über die KfW 1,5 Milliarden Euro geflos-
sen. Es wurden 265 000 Wohneinheiten saniert. Dadurch
sparen wir rund 1 Million Tonnen CO2-Emissionen ein.
Die beschlossene Novellierung der EnEV ist ein
wichtiger Beitrag zu mehr Energieeffizienz, wir dürfen
aber hier nicht stehenbleiben. Die Ankündigung von
Verkehrsminister Tiefensee, die Energieeinsparverord-
nung im kommenden Jahr weiter zu verschärfen, die
Standards für Neugebäude anzuheben und die Energie-
effizienz um bis zu 30 Prozent zu verbessern, ist jeden-
falls uneingeschränkt zu begrüßen.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir haben ges-
tern im Bauausschuss lange über Klimaschutz und damit
verbundene Fragen der Reduzierung von CO2-Emissio-
nen gesprochen. Wir sind uns auch alle darin einig, dass
vor allem der Bausektor dazu einen gewaltigen Beitrag
leisten kann. Immerhin stammen mehr als 40 Prozent der
CO2-Emissionen aus dem Gebäudebereich. Also nicht
nur, weil wir ohnehin durch die EU-Richtlinie (Energie-
effizienzrichtlinie 2002/91/EG) verpflichtet sind, diese
in nationales Recht umzusetzen, sondern auch, weil es
ein Gebot der Zeit und eine Pflicht gegenüber nachkom-
menden Generationen ist, müssen wir uns diesen Fragen
zuwenden.
Im September 2005 ist das 2. Änderungsgesetz zum
Energieeinsparungsgesetz in Kraft getreten, das die Er-
mächtigungsgrundlage für die Einführung eines Energie-
ausweises durch Verordnung der Bundesregierung ent-
hält. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, können sich
sicher noch alle gut daran erinnern, wie schwierig es
war, Konsens zu Fragen des Energieausweises im Ener-
gieeinsparungsgesetz zu finden. Die FDP hat sich seiner-
zeit – damals noch gemeinsam mit der Fraktion der
CDU/CSU – dafür stark gemacht, dass das Gesetz die
Wahlfreiheit zwischen Bedarfs- und Verbrauchsausweis
vorsieht und dass der Energieausweis lediglich Empfeh-
lungen ohne Sanktionscharakter haben soll. Mit beiden
Forderungen haben wir uns damals durchgesetzt. Mit
dem heute hier vorliegenden Antrag der Grünen soll eine
dieser beiden Regelungen, nämlich die Wahlfreiheit,
wieder rückgängig gemacht werden. Dieselbe Forderung
ist der Grund, weshalb wir erst jetzt, mehr als eineinhalb
Jahre nach Inkrafttreten des 2. Änderungsgesetzes zum
Energieeinsparungsgesetz, über Inhalte eines Energie-
ausweises reden können, denn seit Anfang 2006 hatte
der Bundesumweltminister versucht, das Gesetz zu kon-
terkarieren, indem er – wie jetzt die Grünen mit ihrem
Antrag – die Wahlfreiheit wieder aufheben und stattdes-
sen die Einführung des Bedarfsausweises durchsetzen
wollte.
Das sieht die mir seit vorgestern nun vorliegende Fas-
sung der Energieeinsparverordnung zum Glück nicht
vor. Sie beschränkt zwar ab dem 1. Januar 2008 für
einige Gebäudetypen diese absolute Wahlfreiheit, aber
damit können wir als FDP leben. Die FDP begrüßt vor
allem, dass der Verordnungsentwurf klar herausstellt,
dass die mit einem Energieausweis gegebenen Empfeh-
lungen keine rechtlichen Sanktionen nach sich ziehen für
den Fall, dass der Gebäudeeigentümer diese nicht um-
setzt. Es ist richtig, es dem Wettbewerb der Gebäude-
eigentümer untereinander zu überlassen, wann sie in
welchem Umfang Maßnahmen zur Energieeinsparung
unternehmen. Die Marktpreise beim Verkauf oder der
Vermietung von Immobilien werden das konkrete Ver-
halten der Eigentümer steuern – davon bin ich persönlich
fest überzeugt. Einer staatlichen Reglementierung bedarf
es deshalb nicht. Die mit dem Antrag der Grünen gefor-
derte Ortsbesichtigung durch den Gutachter halten wir
für ein zusätzliches bürokratisches Monster, das außer-
dem den Energieausweis verteuern würde.
Aus den genannten Gründen wird dem Antrag der
Grünen nicht zugestimmt.
9964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Schon am Beginn die-
ser Legislaturperiode hatte Die Linke in ihrem Antrag
„Die zukünftige Energieversorgung sozial und ökolo-
gisch gestalten“ die Einführung des bedarfsorientierten
Energieausweises für Gebäude gefordert. Nach EU-Vor-
gabe hätte der Energiepass schon Anfang 2006 Pflicht
sein müssen. Aber nach guter Gewohnheit der Großen
Koalition, Warten statt Taten, wurde auch dieses Vorha-
ben um eineinhalb Jahre verschleppt. Dieses Problem
zieht sich wie ein roter Faden durch die Legislatur: Es
wird viel angekündigt beim Klimaschutz, tatsächlich ge-
macht wird wenig. Ich nenne nur KWK-Novelle, regene-
ratives Energien-Gesetz und Emissionshandel.
Nun hat die Regierung die Verordnung vorgelegt.
Doch das Ergebnis ist das Papier nicht wert, auf dem der
Text geschrieben steht. Mit wirksamem Klimaschutz hat
das nichts zu tun.
Der Wahl-Energiepass ist doch Augenwischerei,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition.
Das ist ein fauler Kompromiss und ein Kniefall vor der
Immobilienlobby. Denn genau die hat eine Wahl, der
einfache Häuslebauer nicht. Ihr Energieausweis führt
zum Missbrauch und nicht zu sinkenden Nebenkosten.
Wie viel Energie ein Gebäude tatsächlich verbraucht,
werden Wohnungsnutzer auch in Zukunft nicht wissen.
Wesentliche Beiträge zum Klimaschutz sind deshalb
auch nicht zu erwarten.
Das Problem: Die meisten Gebäudeeigner brauchen
lediglich die Verbrauchswerte der letzten Jahre anzuge-
ben. Das sagt aber nur wenig über ein Gebäude aus. Das
zeigt nur an, wie sich der Vormieter beim Heizen verhal-
ten hat. Denn der Energieverbrauch kann je nach Nutzer-
verhalten um 50 Prozent schwanken. Vielleicht kann
Herr Schäuble die Daten für seine innere Sicherheit ge-
brauchen, den Verbraucherinnen und Verbrauchern sa-
gen die Zahlen nur wenig.
Die Linke fordert deshalb aus gutem Grund einen Be-
darfs-Energiepass, der den Energiebedarf eines Hauses
vergleichbar darstellt. Dabei werden verwendete Bau-
stoffe und Heizungstechniken auf fachlichen Grundla-
gen bewertet. Gleichzeitig müssen Defizite bei der
Wärmesanierung angezeigt und Vorschläge zur Energie-
einsparung gemacht werden. Das macht Sinn, denn ein
Energiepass für Gebäude muss den Mietern helfen, kost-
spielige Wohnungen von denen mit guter Wärmedäm-
mung und sparsamer Heizung zu unterscheiden.
Die Kollegen von der CDU/CSU hatten ja angeführt,
dass bei einem Bedarfs-Energiepass „auf die Haus- und
Wohnungseigentümer erhebliche Kosten zukommen
würden.“ Das stimmt natürlich nur, wenn sich Gebäude-
eigner weigern, in Wärmedämmung und moderne Hei-
zungen zu investieren. Der Wert von klimaschädlichen
und energieverschwendenden Häusern würde natürlich
fallen. Aber genau das ist doch der Sinn der Verordnung:
Energieeffiziente Häuser werden mehr nachgefragt. Wer
Mieter an der Nase herumführen will, muss auffliegen.
Das hat die Bundesregierung nun verhindert.
Die Punkte drei bis fünf des vorliegenden Antrags
sind also von der Großen Koalition nicht abgearbeitet
worden. Deshalb stimmen wir dem Antrag zu.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
schon ein Kreuz mit dieser Bundesregierung. Vor über
einem Jahr verkündete Minister Tiefensee noch stolz, er
habe sich mit seinem Kollegen Glos über die Energieein-
sparverordnung geeinigt. Und dann? Still ruhte der
Tiefensee! Tatsächlich dauerte es noch bis vor 14 Tagen,
als uns im Ausschuss die soeben im Kabinett beschlos-
sene Verordnung vorgestellt wurde, und dies auch nur,
weil wir das Thema als Selbstbefassung auf die Tages-
ordnung gesetzt hatten. Selbstredend, dass wir den ge-
druckten Entwurf auch dann noch nicht einmal vorliegen
hatten. Dies alles erinnerte mich doch sehr an das ver-
gangene Trauerspiel mit Ihrem Infrastrukturplanungsbe-
schleunigungsgesetz.
Jetzt könnte ich ja wenigstens sagen: „Was lange
währt, wird endlich gut.“ Aber auch dieses Attribut kann
ich dieser schwachen Energieeinsparverordnung beim
besten Willen nicht zubilligen.
Denn sie bleibt in vielen Punkten weit hinter dem zu-
rück, was wir bereits heute im Bereich der Energieein-
sparung und Effizienzsteigerung baulich und technisch
realisieren können und angesichts des Klimawandels
und der drohenden Klimakatastrophe auch dringend um-
setzen müssten. Es scheint mir, als ob Sie bis heute
schon wieder vergessen haben, worüber wir in den ver-
gangenen Wochen so viele Debatten geführt haben.
Mit dieser Energieeinsparverordnung wird die
Chance vergeben, zumindest im Gebäudesektor bezüg-
lich der CO2-Emissionsreduktion einen großen Schritt
nach vorne zu machen, und das in einem Sektor, in dem
Investitionen häufig eine Festlegung auf 50 Jahre und
mehr bedeuten, und wir auch aus diesen Gründen keine
Zeit mehr zu verlieren haben.
Alle Welt diskutiert die IPCC-Berichte, und dieses
Gremium hat in der letzten Woche – auch von der Bun-
desregierung unwidersprochen – gefordert, dass wir un-
sere Emissionen in den nächsten acht bis 15 Jahren und
nicht erst in 50 Jahren drastisch reduzieren müssen. Aber
das scheint Sie nicht zu tangieren. Da setzen Sie lieber
mühsam und bürokratisch eine uralte EU-Verordnung
aus dem Jahre 2002 um, auch wenn ein paar Jahre zu
spät. Und natürlich muss dies auch eins zu eins gesche-
hen; das steht ja schließlich so im Koalitionsvertrag. Ob
es dem Klima hilft oder nicht, ist egal, Hauptsache eins
zu eins.
Dabei hätten wir von Ihnen erwarten müssen, dass Sie
einem Sektor, der für mindestens 20 Prozent der CO2-
Emissionen verantwortlich zeichnet, ambitionierte Ziele
vorgeben, um wenigstens die von Ihnen selbst geforder-
ten Reduktionsziele erreichen zu können.
Das kann und wird mit dieser Verordnung nicht gelin-
gen, denn sowohl bei den Wohn- als auch bei den Nicht-
wohngebäuden, sowohl beim Neubau als auch beim Be-
standsbau bleiben Ihre Anforderungen weit hinter den
Möglichkeiten zurück. Wir fördern schon heute mit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9965
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KfW-Mitteln Passivhäuser oder Niedrigenergiehäuser
40 und 60 und wissen, dass es sogar noch besser geht.
Aber selbst in der Bedarfsberechnung liegen normale
Neubauten nach ENEV im Standard noch deutlich über
100 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Noch
schlimmer sieht es bei den Nichtwohngebäuden aus, bei
denen der Standardbedarf bei 200 und mehr Kilowatt-
stunden pro Quadratmeter und Jahr liegt, ganz zu
schweigen von dem noch schlechteren Niveau bei mo-
dernisierten Bestandsgebäuden.
Ich will nur am Rande darauf hinweisen, dass es sich
bei den Bedarfswerten um theoretische Werte handelt; in
der Praxis dürften der Energiebedarf und damit die CO2-
Emissionen noch deutlich höher – selbst bei Neubauten –
sein. Das zeigen stichprobenartige Überprüfungen der
Ausführungsqualität. Aber darüber spricht man ja lieber
nicht.
Die weiterhin unterschiedlichen Anforderungen an
Wohn- bzw. Nichtwohngebäude zeigen zudem, dass der
gewerbliche und industrielle Sektor geschont wird und
die privaten Haushalte offensichtlich die Hauptlast der
CO2-Reduktion im Gebäudesektor tragen sollen.
Bei den hochgelobten Energieausweisen schauen die
Verbraucherinnen und Verbraucher in die Röhre. Nur auf
ausdrückliche Anforderung ist jetzt der Vermieter ver-
pflichtet, den Mieterinnen und Mietern eine Kopie des
Energieausweises zu übergeben. Dann können sich diese
mit den vermutlich fotokopierten – eigentlich farbigen –
Diagrammen in Schwarz-Weiß herumärgern und rätseln,
ob denn ihr Mietshaus vor oder nach dem Stichtag er-
richtet wurde und ob und warum es sich um einen Be-
darfs- oder einen Verbrauchsausweis handelt. Was das
mit Transparenz zu tun hat, wird mir auf ewig ein Rätsel
bleiben. Auch hier wird eine große Chance vergeben,
denn durch eine optimale Information der Verbraucher
hätten diese bei der Wohnungswahl künftig mit den
Füßen abstimmen können. Ob das so kommt, daran habe
ich meine ernsten Zweifel.
Wir werden bei diesem Thema nicht locker lassen,
und wir kündigen Ihnen schon jetzt an, dass wir Sie bei
der von Ihnen bereits angekündigten erneuten Novellie-
rung der EnEV noch in dieser Legislaturperiode zum Ja-
gen tragen werden. Wir haben einfach keine Zeit mehr!
Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der An-
trag betrifft die Novellierung der Energieeinsparverord-
nung, die das Kabinett am 25. April 2007 beschlossen
hat, und dabei insbesondere die Energieausweise. Mit
dem Antrag werden unter anderen die Einbringung der
EnEV in die parlamentarische Beratung und bestimmte
Regelungen zu Energieausweisen und Modernisierungs-
empfehlungen gefordert, die über die EG-Richtlinie über
die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden hinausgehen.
Ich bitte um Ablehnung des Antrags, der bereits in al-
len beteiligten Ausschüssen abgelehnt wurde.
Zu bedenken ist, dass der Deutsche Bundestag die
Bundesregierung im Energieeinsparungsgesetz ermäch-
tigt hat, mit Zustimmung des Bundesrates die neue Ener-
gieeinsparverordnung zu erlassen. Die im Antrag gefor-
derte parlamentarische Beratung der neuen EnEV würde
zudem deren Verabschiedung erheblich verzögern. Dies
würde bei der Öffentlichkeit, die an dieser Novellierung
großes Interesse zeigt, auf Unverständnis stoßen und
wäre nicht sachgerecht. Weitere im Antrag aufgestellte
Forderungen würden eine überschießende Richtlinien-
umsetzung darstellen.
Die Bundesregierung ist, wie übrigens grundsätzlich
bei Umsetzung von EG-Richtlinien, vom Grundkonzept
der Eins-zu-eins-Umsetzung ausgegangen. Wir haben
also bewusst nicht aufgesattelt, sondern uns an das, was
die Richtlinie von den Mitgliedstaaten verlangt, gehal-
ten.
Hinzu kommt, dass wir in Zeiten, in denen Entbüro-
kratisierung, bessere Rechtsetzung und Bürokratiekos-
tenmessung wichtige Elemente unserer Politik sind,
nicht ohne Not neue Bürokratien und neue Bürokratie-
kosten aufbauen dürfen.
Dies betrifft zum einen die Forderung nach einem
Zertifizierungsverfahren für die Energieausweisausstel-
ler. Die Einführung eines Zertifizierungsverfahrens führt
sowohl zu neuen bürokratischen Strukturen als auch zu
mehr Kosten.
Unser Konzept besteht deshalb darin, ohne Zulas-
sungsverfahren die erforderliche Qualifikation der Aus-
steller durch die rechtlichen Vorgaben in der Verordnung
sicherzustellen.
Die zweite Forderung, die mir in diesem Zusammen-
hang besonders ins Auge sticht, ist die Forderung nach
einer durchgängigen Verpflichtung, für alle Gebäudety-
pen sogenannte Bedarfsausweise vorzulegen, die auf in-
genieurtechnischen Berechnungen beruhen.
Hier sind wir beim zentralen Punkt dieser Verord-
nung. Künftig muss den Interessenten bei Verkauf und
Vermietung von Gebäuden ein Energieausweis zugäng-
lich gemacht werden. Der Interessent soll wissen, ob es
um ein energetisch gutes oder um ein energetisch
schlechtes Gebäude geht. Deshalb werden in Zukunft
Energieausweise eine wesentliche Rolle bei der Ent-
scheidungsfindung von Kauf- und Mietinteressenten für
Gebäude oder Wohnungen spielen. Hierdurch wird die
Transparenz bezüglich der Energieeffizienz von Gebäu-
den auf dem Immobilienmarkt erheblich verbessert.
Bei der Frage, welcher Energieausweis in welchen
Fällen zulässig ist, also der ingenieurtechnische Bedarfs-
ausweis oder der sogenannte Verbrauchsausweis, hat die
Koalition sehr sorgfältig abgewogen und sich bei den
Wohngebäuden auf ein differenziertes Modell verstän-
digt, das die entstehenden Kosten für die Immobilien-
wirtschaft auf ein vertretbares Maß begrenzt: Energie-
ausweis auf Bedarfsgrundlage bei „alten, unrenovierten“
Wohngebäuden mit weniger als fünf Wohnungen, also
mit einem relativ schlechten Wärmedämmstandard, das
erreicht nicht das Niveau der 1. Wärmeschutzverord-
nung von 1977; Energieausweis auf Verbrauchsgrund-
lage als Wahlmöglichkeit bei allen anderen Wohngebäu-
den.
9966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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Mit diesem Kompromiss hat die Bundesregierung
eine ausgewogene Lösung gefunden, die den verschiede-
nen betroffenen Belangen angemessen Rechnung trägt,
also dem Anliegen nach fachlicher Aussagekraft des
Energieausweises und dem Anliegen nach ausreichender
Berücksichtigung der Kostenseite. Grundsätzlich ist der
Energieausweis dem Kauf- und Mietinteressenten zu-
gänglich zu machen. Auf Verlangen ist dem Interessen-
ten auch eine Kopie zu überlassen. Wir haben also
durchaus die Fälle berücksichtigt, in denen ein Interes-
sent eine Kopie mitnimmt, um zu einer Beurteilung und
Entscheidungsfindung kommen zu können.
Eine Verschärfung der materiellen Anforderungen an
Gebäude, Neu- und Altbauten, ist jetzt nicht vorgesehen,
wegen der eben erwähnten Eins-zu-eins-Umsetzung,
wird aber unmittelbar im Anschluss an diese Novelle
vorbereitet und zeitnah umgesetzt.
Über die Notwendigkeit einer Anpassung der energe-
tischen Anforderungen herrscht innerhalb der Bundesre-
gierung Einigkeit. Mit dieser Novelle sind unsere An-
strengungen zur Verbesserung der energetischen Qualität
im Gebäudebereich noch nicht am Ende angelangt. Wir
werden alles tun, um die Potenziale der Energieeinspa-
rung und die Nutzung von erneuerbaren Energien im Ge-
bäudebereich weiter auszuschöpfen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Begrenzung der Aufwendungen für die Prozess-
kostenhilfe (Prozesskostenhilfebegrenzungsge-
setz – PKHBegrenzG) (Tagesordnungspunkt 19)
Elisabeth Heister-Neumann, Ministerin der Justiz
(Niedersachsen): Als Beauftragte des Bundesrates ist es
meine Aufgabe, den vom Bundesrat eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Aufwendungen
für die Prozesskostenhilfe vor diesem Hohen Hause zu
vertreten. Dieser Aufgabe komme ich gern nach, gibt sie
mir doch Gelegenheit, Ihnen den Handlungsbedarf und
die besondere Dringlichkeit des Gesetzentwurfs aus
Sicht der Länder deutlich zu machen.
Die Justizhaushalte der Länder sind seit Jahren mit ei-
ner enormen Ausgabensteigerung konfrontiert. Betroffen
sind insbesondere die Bereiche der Prozesskostenhilfe
und der Beratungshilfe sowie das Betreuungsrecht und
Verfahren nach der Insolvenzordnung. Auf allen diesen
Feldern sind die Ausgaben durch Bundesgesetze vorge-
geben. Sie können von den Ländern nicht ohne weiteres
beeinflusst werden. Deshalb brauchen wir die Unterstüt-
zung des Bundesgesetzgebers, um die ich Sie nach-
drücklich bitten möchte.
Besorgniserregend ist insbesondere die Entwicklung
der Ausgaben für die Prozesskostenhilfe. Allein in der or-
dentlichen Gerichtsbarkeit haben sich die Zahlungen an
beigeordnete Rechtsanwälte bundesweit von 261,7 Millio-
nen Euro im Jahre 1998 auf 361,8 Millionen Euro im Jahre
2005 erhöht. Das ist ein Anstieg um fast 40 Prozent inner-
halb von acht Jahren. Diese Kostenlast trifft fast aus-
schließlich die Länder, denn bei den wenigen Bundesge-
richten spielt die Prozesskostenhilfe keine nennenswerte
Rolle.
Der Ausgabenexplosion bei der Prozesskostenhilfe
können die Länder nicht tatenlos zusehen. Hier gilt es
gegenzusteuern, um den Anstieg der Ausgaben schnell
und dauerhaft zu begrenzen und so die Haushalte der
Länder von vermeidbaren Ausgaben zu entlasten. Der
Bundesrat hat daher mit breiter Mehrheit den heute zur
Beratung anstehenden Gesetzentwurf eingebracht, weil
er hier vordringlichen Handlungsbedarf sieht. Er befin-
det sich dabei in erfreulicher Übereinstimmung mit der
Bundesregierung, die in ihrer Stellungnahme zu dem
Entwurf ihre Bereitschaft erklärt hat, die Länder bei der
Konsolidierung ihrer Haushalte zu unterstützen.
Der Entwurf schlägt eine Vielzahl von Maßnahmen
zur Ausgabenbegrenzung vor, die eine Entlastung der
Länderhaushalte um annähernd 100 Millionen Euro pro
Jahr erwarten lassen. Sie sollen hier nur knapp skizziert
werden. Ein wesentliches Ziel ist es, den Gerichten wirk-
samere Mittel gegen die missbräuchliche Inanspruch-
nahme von Prozesskostenhilfe an die Hand zu geben.
Dazu wird die Versagung der Prozesskostenhilfe bei
mutwilliger Rechtsverfolgung erleichtert.
Darüber hinaus sollen die Vorschriften über das Ver-
fahren verbessert werden, um sicherzustellen, dass die
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des An-
tragstellers einheitlich und zutreffend erfasst werden.
Dazu werden die Gerichte zum einen in die Lage versetzt,
ähnlich wie schon jetzt Sozial- und Finanzbehörden, die
Angaben des Antragstellers zu überprüfen. Zum anderen
soll die arbeitsintensive und von vielen Einzelumständen
abhängige Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse vom Richter auf den Rechtspfleger übertra-
gen werden können. Wenn ein Rechtspfleger diese Auf-
gabe für das ganze Gericht erledigt, entlastet dies nicht
nur die Richter, sondern es fördert auch die Einheitlichkeit
der Rechtsanwendung.
Zentrales Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Ver-
stärkung der Eigenbeteiligung des Antragstellers. Dazu
gehört zunächst die Änderung der Freibeträge für das
Einkommen des Antragstellers, die an das sozialhilfe-
rechtliche Existenzminimum angeglichen werden sollen.
Wer mit seinem Einkommen über diesen Freibeträgen
liegt, muss sich, wie schon nach geltendem Recht, durch
Ratenzahlungen an den Prozesskosten beteiligen. Jedoch
soll ihm die Ratenzahlung künftig nicht mehr nach
48 Monaten erlassen werden, sondern erst dann, wenn
die von ihm zu tragenden Kosten des Rechtsstreits ge-
deckt sind. Schließlich soll der Antragsteller künftig zur
Deckung der Prozesskosten dasjenige einsetzen, was
ihm im Rechtsstreit zugesprochen worden ist. Ebenso
wie eine vermögende Partei kann er den erstrittenen Be-
trag nur nach Abzug der Prozesskosten beanspruchen.
Mir ist bewusst, dass vor allem die zuletzt genannten
Änderungsvorschläge Kritik auf sich gezogen haben.
Auch die Bundesregierung macht verfassungsrechtliche
Bedenken geltend. Ich teile diese Bedenken nicht. Der
Bundesrat ist sich der Bedeutung der Prozesskostenhilfe,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9967
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die unbemittelten Bürgerinnen und Bürgern den Zugang
zum gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, vollauf
bewusst. Er hat daher besonderen Wert darauf gelegt,
dass die Funktion dieses für unser rechtsstaatliches Ge-
meinwesen notwendigen Instituts durch den Gesetzent-
wurf nicht beeinträchtigt wird. Die Vorgaben, die sich
aus dem Grundgesetz und aus der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts für die Ausgestaltung des
Rechts der Prozesskostenhilfe ergeben, sind vollständig
beachtet worden. Der Gesetzentwurf verlangt an keiner
Stelle, dass die bedürftige Partei denjenigen Teil ihres
ursprünglich vorhandenen Einkommens und Vermögens
einsetzt, den sie zur Deckung des Existenzminimums be-
nötigt. Er verlangt lediglich eine stärkere Eigenbeteili-
gung mit dem darüber hinausgehenden Einkommen und
Vermögen. Für die Bezieher von Sozialleistungen wird
sich also nichts ändern.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates unterscheidet
sich damit deutlich von einem Referentenentwurf, den
das Bundesministerium der Justiz im Januar 2007 vorge-
legt hat. Mit dem sogenannten „Entwurf eines Gesetzes
zur Entschuldung völlig mittelloser Personen“ – als ob
sich mittellos noch steigern ließe – soll ein vereinfachtes
Restschuldbefreiungsverfahren eingeführt werden. Zu
dessen Kosten soll der mittellose Schuldner mit einem
monatlichen Beitrag von 13 Euro herangezogen werden,
und zwar auch dann, wenn er lediglich Sozialhilfe oder
Arbeitslosengeld II bezieht. Dies erklärt der Entwurf
ausdrücklich für verfassungsrechtlich zulässig. Ich er-
wähne dies nur, um zu zeigen, dass der verfassungs-
rechtliche Spielraum offenbar größer ist, als es die Stel-
lungnahme der Bundesregierung zu unserem Entwurf
auf den ersten Blick vermuten lässt. Darüber wird bei
den Ausschussberatungen im Einzelnen zu reden sein.
Der Bundesrat würde es begrüßen, wenn der Bundes-
tag seine Beratungen über die Vorlage konstruktiv füh-
ren und zeitnah abschließen würde. Darum bitte ich Sie
im Interesse der Länder.
Dirk Manzewski (SPD): Ziel des Gesetzentwurfs des
Bundesrats ist eine Reduzierung der Ausgaben im Be-
reich der Prozesskostenhilfe. Ich kann ja durchaus nach-
vollziehen, dass dem weiteren Anstieg der zugegebener-
maßen in den letzten Jahren erheblich gestiegenen
Kosten für die Prozesskostenhilfe Einhalt geboten wer-
den soll. Ich finde jedoch, dass es sich der Bundesrat mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf dabei etwas zu einfach
macht.
Mir fehlt es in dem Gesetzentwurf zum Beispiel
bereits an einer umfassenden und nachvollziehbaren
Analyse der Gründe für die Steigerungen. Die dem Ge-
setzentwurf zugrunde liegende Untersuchung des Rech-
nungshofes Baden-Württemberg halte ich schon alleine
deshalb nicht für exemplarisch, weil sich die finanziellen
Situationen in den einzelnen Bundesländern erheblich
voneinander unterscheiden.
Zudem ist die Begründung widersprüchlich. Zum ei-
nen wird hierin immer wieder insbesondere auf die Kos-
tenexplosion von 2002 auf 2003 hingewiesen. Zum an-
deren wird als Hauptursache für den Kostenanstieg die
Anhebung der Freibeträge zum 31. Dezember 2004 so-
wie der Anstieg der Rechtsanwaltsvergütung zum 5. Mai
2004 genannt. Anhebung und Anstiege im Jahre 2004
können aber nicht maßgeblich für Kostensteigerungen
im Jahr 2003 sein. Hierzu fehlt vielmehr weiterhin jegli-
cher Vortrag.
Im Übrigen hätte ich Probleme damit, dass die be-
dürftigen Parteien die Folge staatlicher Eingriffe – und
nichts anderes sind ja Anhebung von Freibeträgen und
Rechtsanwaltsvergütungen – zu tragen hätten.
Mir fehlt es auch an einer konkreten Erfassung der
tatsächlichen Belastung der Länderhaushalte. Denn die
bloße Darlegung der Steigerung von gewährter Prozess-
kostenhilfe ist nichtssagend, wenn nicht zugleich auch
die Rückflüsse präzisiert werden. Zudem lassen sich nur
so auch die tatsächlich angedachten Einsparungen ver-
nünftig einschätzen.
Man muss bei dem Gesetzentwurf meiner Meinung
nach leider auch erhebliche verfassungsrechtliche Be-
denken anmelden. Aufgrund des in Art. 3 Abs. 1 GG
normierten Prinzips der Rechtsgleichheit haben wir als
Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass auch die nicht
so bemittelten Parteien in die Lage versetzt werden, ihre
Ansprüche in einem Rechtsstreit geltend zu machen.
Diesen Grundsatz sehe ich zum Beispiel gefährdet, wenn
die Partei nach dem Vorschlag des Bundesrats zur He-
rausgabe sämtlicher Vermögenswerte verpflichtet wer-
den soll, die sie zuvor mithilfe von Prozesskostenhilfe
erstritten hat.
Zwar muss eine Partei bereits nach geltendem Recht
die Verfahrenskosten mit dem in einem Rechtsstreit Er-
langten zurückzahlen; der Vorschlag des Bundesrates
geht jedoch weit über die bisherige Rechtslage hinaus,
weil er keine Rücksicht darauf nimmt, ob das Erlangte
der Sicherung des grundgesetzlich geschützten Existenz-
minimums dient oder entsprechendes Schonvermögen
darstellt. Wenn dann auch noch die Begrenzung der Ra-
tenzahlungsdauer aufgehoben, die Einkommensfreibe-
träge auf das sozialhilferechtliche Existenzminimum ab-
gesenkt und eine Pauschalierung der Ratenhöhe auf zwei
Drittel des einzusetzenden Einkommens vorgenommen
werden sollten, dann ist – um es vorsichtig auszudrü-
cken – zumindest das Bündel dieser Maßnahmen geeig-
net, Parteien, denen es nicht so gut geht, von der gericht-
lichen Durchsetzung ihrer Rechte abzuhalten.
Denn abgesehen davon, dass sich dadurch die Pro-
zesskostenhilfe quasi vom Zuschuss zum Darlehen ver-
ändern würde, würde dies aufgrund der nicht mehr zu
überblickenden zukünftigen Belastung dazu führen, dass
das Risiko einer Prozessführung gescheut und damit auf
die gerichtliche Durchsetzung der Rechte verzichtet
wird. Dies kann weder gewollt sein noch von uns sozial-
demokratischen Rechtspolitikern akzeptiert werden.
Soweit nach dem Vorschlag des Bundesrats bei der
Bemessung der Freibeträge der bundesweit pauschal
maßgebliche Regelsatz gestrichen und stattdessen auf
die in den jeweiligen Bundesländern maßgeblichen
Sätze abgestellt werden soll, halte ich dies für eine Ver-
9968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
komplizierung und weitere Belastung der Gerichte bei
der Berechnung von Prozesskostenhilfe.
Von dem Vorschlag der Einführung einer gesonderten
Gebühr für die Festsetzung von Raten halte ich ebenso
wenig. Abgesehen davon, dass insoweit schon eine
Schlechterstellung gegenüber denjenigen vorliegt, die
zwar keine Prozesskostenhilfe erhalten haben, aber im
Nachhinein dann im Zusammenhang mit der Kosten-
rechnung eine Zahlungsvereinbarung mit der Landes-
kasse treffen, würden gerade bei Verfahren mit niedrigen
Streitwerten Streitwert und Gebühr in keinem vernünfti-
gen Verhältnis stehen.
Ich halte es durchaus für legitim, dass wir uns hier
darüber unterhalten, ob unsere Regelungen zur Prozess-
kostenhilfe so tatsächlich noch zeitgemäß sind oder aber
ob wir die Regularien nicht überarbeiten müssen. Ich
selbst frage mich zum Beispiel schon seit langem, wa-
rum Richter statt Rechtspfleger die Bedürftigkeit über-
prüfen müssen und wieso überhaupt auch noch bei den-
jenigen die Bedürftigkeit überprüft werden muss, denen
dies gerade aktuell vom Sozialamt bzw. der Arge bestä-
tigt worden ist.
Den Entwurf des Bundesrates halte ich jedoch zumin-
dest in der jetzigen Form allenfalls als Denkanstoß ge-
eignet.
Mechthild Dyckmans (FDP): Die Prozesskosten-
hilfe ermöglicht es auch Bürgerinnen und Bürgern, die
nur über ein geringes Einkommen oder über geringe
Finanzmittel verfügen, ein prozessuales Verfahren anzu-
strengen. Damit wird sichergestellt, dass die Gewährung
von Rechtsschutz nicht von den finanziellen Verhältnis-
sen der beteiligten Personen abhängt. Die Gewährung
von Prozesskostenhilfe ist eine tragende Säule des
Rechtsstaatsprinzips. Der Zugang zu den Gerichten er-
gibt sich neben der Rechtsschutzgarantie auch aus dem
Justizgewährleistungsanspruch.
Die Bundesländer behaupten, dass die Kosten der Jus-
tizhaushalte für die Gewährung von Prozesskostenhilfe
in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind. Dies
trifft für einige Bundesländer sicherlich zu. Ich habe je-
doch Zweifel an den Berechnungen, die sich in der Be-
gründung des Gesetzentwurfs finden. Die Hochrechnung
von Zahlen für einzelne Bundesländer auf das gesamte
Bundesgebiet erscheint mir doch sehr gewagt. Offen
spricht der Gesetzentwurf die Gründe an, die zum Teil
ursächlich sind für den Anstieg der Prozesskostenhilfe.
Dies sind zum einen die Erhöhung der Rechtsanwaltsge-
bühren durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz
und die Auswirkungen des Gesetzes zur Einordnung des
Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch aus der ver-
gangenen Wahlperiode. In diesem Zusammenhang
möchte ich deutlich darauf hinweisen, dass diese beiden
Gesetzesinitiativen nicht an den Ländern vorbeigegan-
gen sind. Die Länder waren an den entsprechenden Ge-
setzgebungsverfahren beteiligt. Es kann also niemand
zum jetzigen Zeitpunkt die Behauptung aufstellen, er
trage für die Erhöhung der Prozesskostenhilfe keine Ver-
antwortung.
Die FDP hat in den vergangenen Jahren immer wieder
darauf hingewiesen, dass Reformen der Justiz im Inte-
resse der Bürgerinnen und Bürger nicht mit einer Ein-
schränkung des Rechtsschutzes einhergehen dürfen. Re-
formeifer, der nur durch das Ziel der Kostenreduktion
getrieben ist, wird in der FDP keine Verbündeten finden.
Reformen, die ausschließlich von fiskalischen Gründen
bestimmt sind, schwächen den Rechtsstaat und gefähr-
den den Justizgewährleistungsanspruch. Die Ausgestal-
tung unseres Rechtsstaates ist zu Recht Vorbild für viele
junge Demokratien überall in der Welt. Es ist daher je-
der, der weitere Reformen in der Justiz und insbesondere
im Bereich der Prozesskostenhilfe vorschlägt, dafür be-
weispflichtig, dass diese Reformen auch tatsächlich ge-
boten sind. An diesen Grundsätzen werden wir den Ge-
setzentwurf des Bundesrates messen.
Der Gesetzentwurf enthält einige Regelungen, die
durchaus überlegenswert sind und die in der Tat zu einer
Effektivierung des Bewilligungsverfahrens beitragen
können. Dazu zählt beispielsweise die Erweiterung des
Aufgabenbereichs der Rechtspfleger im PKH-Bewilli-
gungsverfahren. Es ist sachgerecht, dass die Prüfung der
Bedürftigkeit der Partei, die mitunter äußerst kompliziert
und zeitaufwendig sein kann, vom Rechtspfleger über-
nommen wird.
Insgesamt überwiegen jedoch die Bedenken. In Teilen
enthält der Gesetzentwurf Regelungen – so zum Beispiel
die Definition der Mutwilligkeit in § 114 Abs. 2 ZPO –,
die bereits ständige Rechtsprechung sind und daher einer
zusätzlichen Erwähnung im Gesetzentwurf nicht zwin-
gend bedürfen. § 114 Abs. 2 Satz 2 ZPO ist darüber hi-
naus bedenklich, da dadurch der Eindruck entsteht, Baga-
tellfälle sollen grundsätzlich aus der Prozesskostenhilfe
hinausgedrängt werden. Der Kern der Kritik betrifft je-
doch die Vorschriften zur Art und Weise der Erhöhung der
Eigenbeteiligung der bedürftigen Partei an den Prozess-
kosten. Diejenigen, deren Einkommen und Vermögen
über das im Sozialhilferecht definierte Existenzminimum
hinausgeht, sollen Prozesskostenhilfe künftig nur noch als
Darlehen erhalten, das durch Zahlungen aus ihrem einzu-
setzenden Einkommen und Vermögen vollständig zurück-
zuzahlen ist. Damit holt sich der Staat vom Bürger das zu-
rück, was er ihm kurz zuvor erst gegeben hat. Wenn der
Bürger zur Durchsetzung von Ansprüchen, die sein Exis-
tenzminimum sichern sollen, vor Gericht geht und ihm
das Gericht hierfür Prozesskostenhilfe gewährt, soll er bei
positivem Ausgang des Prozesses die geforderten Zahlun-
gen umgehend an die Staatskasse zurückgeben müssen.
Wir sollten hier die Bewertung der Bundesregierung ernst
nehmen, die gegen die Vorschriften zur stärkeren Eigen-
beteiligung durchgreifende verfassungsrechtliche Beden-
ken vorträgt. Der Gesetzentwurf weist zwar an verschie-
denen Stellen darauf hin, dass die vorgeschlagenen
Maßnahmen sich in dem Rahmen bewegen, der verfas-
sungsrechtlich geboten ist. Ich möchte für die FDP-Bun-
destagsfraktion aber die Frage aufwerfen, ob das, was ver-
fassungsrechtlich als Mindeststandard geboten ist, auch
rechtspolitisch so gewünscht ist.
Ich glaube, dass der Bundesrat zur Lösung des Pro-
blems den falschen Weg einschlägt. Es macht keinen
Sinn, die Prozesskostenhilfe pauschal zu kürzen und die
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(B) (D)
für den Anstieg der Prozesskostenhilfe verantwortlichen
Strukturen innerhalb der Justiz unangetastet zu lassen.
Wir haben es hier in erster Linie mit Strukturproblemen
zu tun. Es ist bekannt, dass es die Justiz mit den ihr zur
Verfügung stehenden Mitteln nicht schafft, nach Ab-
schluss eines Prozesses von der obsiegenden Partei die
gewährte Prozesskostenhilfe zurückzufordern bzw. in-
nerhalb der Vierjahresfrist eine Überprüfung der Bedürf-
tigkeit vorzunehmen. Ein weiteres Problem liegt darin,
dass die Gerichte personell kaum in der Lage sind, die
PKH-Anträge umfassend zu prüfen. Hier wäre eine Auf-
stockung der Ressourcen notwendig, um das Bewilli-
gungsverfahren insgesamt zu effektivieren. Auch die
Rechtsanwälte als Organ der Rechtspflege sollten jede
Möglichkeit nutzen, bei der Eindämmung etwaiger
Missbrauchsfälle mitzuhelfen. Ich halte es daher für den
falschen Weg, zuerst beim Bürger anzusetzen, anstatt in
erster Linie die Strukturprobleme in der Justiz zu behe-
ben.
Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich die Koalition
zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates verhalten wird.
In der Debatte zum Justizhaushalt vom September 2006
hat der Kollege Stünker gesagt, der Gesetzentwurf des
Bundesrats werde in diesem Haus keine Mehrheit fin-
den. Die folgenden Beratungen im Rechtsausschuss ver-
sprechen daher spannend zu werden.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Ich bin mir nicht
ganz sicher, ob man den sozialpolitischen Absichtserklä-
rungen der SPD wenigstens gelegentlich noch einmal
Glauben schenken darf. Entgegen aller Vernunft und ent-
gegen aller Erfahrung will ich diese Zuversicht – test-
weise – für den aktuellen Gesetzgebungsprozess aufbrin-
gen.
Grund für so viel unvorsichtige Hoffnung geben mir
die kraftvollen Bekundungen des Kollegen Stünker in
der 45. Sitzung im September des vergangenen Jahres.
In der 45. Sitzung wies ich in meiner Rede zum Haushalt
auf die Tatsache hin, dass der heute zu behandelnde Ent-
wurf des Bundesrates zur Begrenzung der Prozesskos-
tenhilfe vor allem eines erkennbar und empfindlich be-
grenzen wird: die soziale Gerechtigkeit. Sollte dieser
Entwurf Gesetz werden, dann wird fortan der Zugang zu
den Gerichten für sozial schlechter gestellte Menschen
erheblich erschwert sein.
Es handelt sich um ein Vorhaben, das nicht nur der so-
zialen Intention unseres Grundgesetzes zuwiderläuft,
sondern auch einen echten Anachronismus darstellt. Es
wäre die Rückkehr zum historischen Armenrecht, das
die Rechtsdurchsetzung für die Unbemittelten einst als
ein gnädiges Almosen vergab.
Während die Kolleginnen der CDU/CSU in der da-
maligen Debatte angesichts des Entwurfs um ihren eige-
nen Rechtschutz kaum bange waren und sich daher zu
meinen Ausführungen prächtig amüsierten, reagierte der
Kollege Stünker von der SPD einigermaßen entrüstet.
Immerhin war das wohl der zaghafte Ausdruck eines ei-
genen Unrechtsgefühls in dieser Sache. Wörtlich sagte
uns der Kollege Stünker: „Herr Kollege Nešković, Sie
können ganz sicher sein, dass das, was Sie über das be-
richtet haben, was über den Bundesrat auf uns zukommt,
in diesem Haus in absehbarer Zeit keine Mehrheit finden
wird.“
Ganz sicher wäre ich gerne. Ich hoffe nun, dass der
Kollege Stünker in seiner Fraktion einen ausreichenden
Stand hat, um daran zu arbeiten, dass sich seine Voraus-
sagen im Stimmverhalten in den Ausschüssen und noch
später im Plenum bewahrheiteten. Denn dieser Entwurf
darf keinesfalls Gesetz werden! Das sollte sogar die SPD
erkennen.
Zu den unverbrüchlichen Prinzipien der sozialen De-
mokratie gehört es, dass die Kraft des Rechtes und sein
Schutz jeden Einzelnen erreichen müssen, und zwar un-
abhängig vom persönlichen Vermögen oder Unvermö-
gen. Doch zur Durchsetzung und der Verteidigung seiner
Rechte braucht der Mensch in aller Regel zweierlei: ei-
nen guten Rechtsbeistand und den Zugang zu den Ge-
richten. Beide Voraussetzungen stellt für sozial Schwa-
che die Prozesskostenhilfe sicher. Beide gefährdet der
aktuelle Entwurf, der die Prozesskostenhilfe beschnei-
den will und zudem an eine ganze Reihe von unzumut-
baren Bedingungen und Voraussetzungen knüpft.
An dieser Stelle nur einige Beispiele: Auch in den
Fällen eindeutiger Erfolgsaussicht soll es künftig noch
leichter möglich werden, Prozesskostenhilfe wegen et-
waiger mutwilliger Rechtsverfolgung zu verweigern.
Der vorgesehene § 114 Abs. 2 ZPO unternimmt zu dem
Kriterium der Mutwilligkeit eine Definition, die die Ge-
fahr der Unwägbarkeit und des staatlichen Missbrauchs
gleich mitbringt. Sie ist auch aus sich heraus entlarvend.
Sie entlarvt die Kaltherzigkeit der Entwurfsersteller.
Während es nach dem Entwurf nämlich jedem Gutbe-
tuchten unbenommen sein wird, um einen Kleckerbetrag
jahrelang zu prozessieren, werden für den PKH-Antrag
des Mittellosen der „Einsatz“ und der „Gewinn“ eines
Verfahrens ins Verhältnis gesetzt. Doch eigentlich kann
es keinem Menschen schwerfallen, zu erkennen, dass ein
vermeintlicher Kleckerbetrag gleichzeitig eine sehr be-
deutende Summe sein kann, und zwar für jemanden, der
in der Situation ist, überhaupt PKH beantragen zu müs-
sen.
Die angesprochene Abwägung ist also nicht weniger
als eine unverhohlene Verhöhnung der Armen. Lesen Sie
den Absatz einmal richtig! Man sagt dort den sozial Be-
dürftigen: Wenn ihr um das Wenige kämpfen wollt, das
euch noch zusteht, dann helfen wir euch nicht mehr!
Denn dieses Wenige ist uns zu billig. Es ist uns vor allem
zu teuer, euch dabei zu helfen, dieses Wenige zu erhal-
ten.
Darüber hinaus sorgen die vom Entwurf vorgesehe-
nen drastischen Mitwirkungs- und Informationspflichten
dafür, dass sich der Bedürftige wie ein glückloser Bitt-
steller vor dem Recht fühlen muss. Als Richter kann ich
Ihnen versichern, dass jedes Erfordernis, jede Mitwir-
kung, jede Bedingung, die der Gesetzgeber den Bürge-
rinnen abverlangt, zuallererst diejenigen trifft, denen es
stets am schwersten fällt, vor solchen Hürden ihr Risiko
und ihre Pflichten noch zu kalkulieren: den sozial
9970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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Schwachen! Man macht es denen zusätzlich schwer, die
es ohnehin schon schwer haben.
Teilt der Antragsteller etwa eine Anschriftsänderung
versehentlich nicht oder verspätet mit, so soll dies nach
dem neuen § 124 Nr. 3 a ZPO – trotz anhaltender Be-
dürftigkeit – zu einer Versagung oder Aufhebung der
PKH führen. Willigt der Antragsteller nicht schon bei
der Beantragung in die Einholung von Auskünften zu
seinem Vermögen bei Dritten ein, zieht das nach den
vorgesehenen neuen §§ 117, 118 ZPO die Ablehnung
der PKH nach sich. Ein begründeter Anlass für die Wei-
gerung im Einzelfall wird schon gar nicht für möglich
gehalten. Es wird dem Antragsteller bereits verwehrt,
überhaupt konkret erläutern zu dürfen, warum er einer
solchen Auskunftseinholung aufgrund konkreter Um-
stände mit berechtigter Sorge begegnet.
Und dann kann sich der Entwurf, der ja auch die
Übernahme von Gerichtsgebühren begrenzen will, rüh-
men, selbst eine neue Gebühr einzuführen: Die Bewilli-
gung eines PKH-Antrages soll nach dem Entwurf jedem
Antragsteller, der sich auch nur knapp überhalb des
Existenzminimums befindet, eine Pflicht zur Zahlung
von 50 Euro bescheren. Das sind 50 Euro, die nicht er-
stattet werden und von der Gegenseite selbst im Falle
des Obsiegens nicht zu übernehmen sind.
Zu schlechter Letzt ist es das Existenzminimum
selbst, das der Entwurf für die ratenfreie PKH praktisch
neu definieren will: Das einzusetzende Schoneinkom-
men wird in etwa halbiert. Halbiert! Ich komme daher
auf die eingangs getroffene Überlegung zu der Glaub-
würdigkeit sozialdemokratischer Absichtserklärungen
zurück: Sollte die SPD – trotz gegenteiliger Bekundun-
gen – diesem Entwurf dennoch ihre Zustimmung geben,
hätte sie sich endgültig als Partei sozialer Restgerechtig-
keit disqualifiziert.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Gesetzentwurf des Bundesrates verfolgt das Ziel, der an-
geblich exorbitant gestiegenen Prozesskostenhilfe einen
Riegel vorzuschieben. Es ist ein reines Kostendämp-
fungsgesetz ohne Rücksicht auf Verluste an Sozialstaat-
lichkeit wie Rechtsstaatlichkeit. Die im Entwurf genann-
ten Zahlen, mit denen die Länder die behauptete
„Kostenexplosion bei der Prozesskostenhilfe“ belegen
wollen, basieren auf recht windigen Hochrechnungen
Sie stammen aus einer unveröffentlichten Kosten-Leis-
tungs-Gegenüberstellung des Landes Baden-Württem-
berg. Eine bundesweite Regelung, die die Prozesskos-
tenhilfe grundlegend infrage stellt, lässt sich so nicht
seriös begründen. Ob die Länder – wie von der Bundes-
regierung angemahnt – inzwischen geeignete Maßnah-
men zur genaueren Erfassung der PKH-Aufwendungen
ergriffen haben, ist nicht bekannt.
Richtig ist, dass die staatlichen Aufwendungen für die
Prozesskostenhilfe gestiegen sind. Der Hauptgrund liegt
in der gesetzlichen Anhebung der Rechtsanwaltsvergü-
tung durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz von
2004. Sie war viele Jahre nicht angehoben worden und
garantierte schon viel zu lang kein ausreichendes Ange-
bot an qualifizierter anwaltlicher Vertretung vor Gericht.
Dieses Gesetz hatte der Bundesrat übrigens einstimmig
mitgetragen. Die schon damals vorhersehbaren und ge-
wollten Folgen, die mit der notwendigen Anhebung der
Anwaltsvergütung verbunden waren, jetzt auf sozial
Schwache abwälzen zu wollen, ist sozialpolitischer
Kahlschlag und – offen gesagt – schlicht unverfroren.
Ich will nun auf die einzelnen Vorschläge des Bundes-
rates eingehen. Die schwerwiegendsten ignorieren die
mit dem Justizgewährungsanspruch gezogenen verfas-
sungsrechtlichen Grenzen und – das möchte ich schon
jetzt vorwegnehmen – werden von uns Grünen konse-
quent abgelehnt:
Die Prozesskostenhilfe beantragende Partei soll nach
der Vorstellung der Länder eine noch stärkere Eigenbe-
teiligung als bisher leisten. Zu diesem Zweck schlägt der
Bundesrat vor, die Einkommensfreibeträge auf das so-
zialhilferechtliche Existenzminimum abzusenken. Im
Fall der Ratenzahlung sollen sogar pauschal Zweidrittel
des Einkommens als Ratenhöhe eingesetzt werden. Und
damit nicht genug: Die gegenwärtige zeitliche Begren-
zung der Ratenzahlung auf maximal 48 Monate soll ge-
strichen werden. Damit werden gerade Menschen in pre-
kären finanziellen Situationen auf unabsehbare Zeit
belastet.
Wir schließen uns der Bundesregierung hier aus-
drücklich an, die in ihrer Stellungnahme gegenüber die-
sem und fast allen anderen Vorschlägen der Länder
„durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken“ gel-
tend macht.
An den Rand des Existenzminimums will der Bun-
desrat die Rechtssuchenden offenbar auch treiben, wenn
er vorschlägt, dass das durch den Prozess Erlangte für
die Rückzahlung der Prozesskostenhilfe vollumfänglich
eingesetzt werden muss, und zwar ohne Begrenzung auf
Existenzminimum oder Schonvermögen. Neben ihrer ins
Auge springenden Verfassungswidrigkeit schaffen sol-
che Vorschläge darüber hinaus den an anderer Stelle oft
so verteufelten Bürokratiezuwachs.
Doch nicht genug: Die Länder wollen daneben auch
noch – im Fall der Ratenzahlung – eine sogenannte Pro-
zesskostenhilfe-Bewilligungsgebühr in Höhe von
50 Euro einführen. Auch dies lehnen wir Grünen ab. Der
Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 GG liegt
auf der Hand, wenn diejenigen keine Gebühr entrichten
müssen, die ohne Bewilligung von Prozesshilfe eine Ra-
tenzahlung erst nach Eingang der Kostenrechnung mit
der Landeskasse vereinbaren. Abgesehen davon ent-
spricht die Gebühr nicht – wie erforderlich – einer kon-
kreten staatlichen Leistung.
Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung: Aus
sämtlichen Regelungsvorschlägen der Länder springt
einen Missgunst an – eine Missgunst gegenüber denje-
nigen, die nur mithilfe des Staates ihr Recht vor Ge-
richt geltend machen können. Als Beispiel sei hier nur
ein Satz aus der Begründung zitiert: „Zu den zentralen
Anliegen des Gesetzentwurfs gehört es daher, den Ge-
richten wirksamere Mittel gegen die missbräuchliche
Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe an die Hand
zu geben.“ Die Vorschläge richten sich aber mitnichten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9971
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gegen Einzelne, sondern gegen alle Menschen, die Pro-
zesskostenhilfe benötigen, um zu ihrem Recht zu kom-
men.
Ich fordere deshalb alle in diesem Hohen Hause auf,
der bisher auf den verschiedensten Podien und öffentli-
chen Veranstaltungen zuweilen zu hörenden Ablehnung
solcher Vorschläge Taten folgen zu lassen: Dieses Ge-
setz verdient nichts anderes als ein einhelliges Nein.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Justiz: Der Gesetzentwurf des Bundes-
rates soll die Ausgaben im Bereich der Prozesskostenhilfe
spürbar reduzieren. Diese Ausgaben sind zuletzt erheblich
gestiegen. Natürlich steht die Bundesregierung den Län-
dern bei der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte zur Seite. Allerdings müssen die Einschnitte für
die Betroffenen zumutbar sein, und sie dürfen nicht gegen
die Verfassung verstoßen.
Die Bundesregierung begrüßt Maßnahmen, die einer
missbräuchlichen Inanspruchnahme von Prozesskosten-
hilfe entgegenwirken. Es ist daher richtig, wenn der Ent-
wurf die Empfänger von Prozesskostenhilfe verpflichtet,
dem Gericht unaufgefordert eine Verbesserung ihrer Ein-
kommenssituation mitzuteilen. Sinnvoll ist es außerdem,
mutwillige Prozesskostenhilfeanträge genauer unter die
Lupe zu nehmen, damit der Staat keine unsinnigen Pro-
zesse finanziert.
Kernstück des vorliegenden Entwurfes ist allerdings
die stärkere Eigenbeteiligung der Partei an den Kosten
des Rechtsstreits. Auch hier gibt es sicherlich Verbes-
serungsmöglichkeiten, an die aber mit Augenmaß heran-
gegangen werden muss. Der Justizgewährungsanspruch
zieht klare verfassungsrechtliche Grenzen, die wir zu
respektieren haben. Daraus folgt, dass niemand dazu ge-
zwungen werden darf, zur Verfolgung seiner Rechte das
verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum einzu-
setzen.
Ich habe Bedenken, ob diese verfassungsrechtlichen
Vorgaben in dem vorliegenden Entwurf überall hinrei-
chend beachtet worden sind. Problematisch erscheint
mir insbesondere der Vorschlag, die Partei zur Heraus-
gabe sämtlicher Vermögenswerte zu verpflichten, die sie
mithilfe der Prozesskostenhilfe erstritten hat. Mit diesem
Vorschlag sollen auch solche Beträge abgeschöpft wer-
den, die das Existenzminimum sichern oder sogenanntes
Schonvermögen darstellen. Das können insbesondere
Unterhaltsansprüche oder Arbeitslohn sein. Es ist aber
widersprüchlich, ineffizient und bürokratisch, der be-
dürftigen Partei im Prozesskostenhilfeverfahren das zu
nehmen, was ihr der Staat bei der Sozialhilfe sogleich
wieder zukommen lassen müsste.
Im Übrigen könnte sich die bedürftige Partei gegen
eine Vollstreckung von Verfahrenskosten durch den Staat
auf einen Pfändungsschutz berufen, wenn zum Beispiel
unpfändbarer Unterhalt oder Arbeitsentgelt abgeschöpft
werden sollen. Die hier vorgeschlagene Gesetzesänderung
zielt also letztlich darauf ab, dem Justizfiskus mit dem ei-
nen Gesetz einen Anspruch zu verschaffen, den er wegen
eines anderen Gesetzes gar nicht durchsetzen darf. Beson-
ders bedenklich erscheint dies vor dem Hintergrund von
Plänen in Baden-Württemberg, die Einziehung von For-
derungen gerade auch für den Bereich der Prozesskosten-
hilfe auf private Inkassounternehmen zu übertragen.
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen außer-
dem die Freibeträge an die sozialhilferechtlichen Regel-
sätze angeglichen und auf das reine Existenzminimum re-
duziert werden. Der Entwurf sieht neben dieser
betragsmäßigen Absenkung auch eine Streichung der bis-
her geltenden bundesweiten Pauschalierung der Freibe-
träge vor und plädiert für eine Differenzierung nach einzel-
nen Ländern und Lebensaltersstufen bei Freibeträgen für
Unterhaltsberechtigte. Zwar mag dieser Vorschlag den ver-
fassungsrechtlichen Vorgaben noch genügen, ich glaube
aber, dass dadurch das Bewilligungsverfahren verkompli-
ziert und bürokratischer wird. Es ist mehr als fraglich, ob
sich so die erhofften Einsparpotenziale realisieren lassen.
Ich bin alles in allem gleichwohl zuversichtlich, dass
am Ende der nun anstehenden Beratungen in diesem
Hause ein gutes Ergebnis stehen wird, das die sinnvollen
und richtigen Vorschläge aus dem Bundesratsentwurf für
ein Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz fortentwickelt
und umsetzt.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhe-
bung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
der Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG) (Ta-
gesordnungspunkt 20)
Norbert Geis (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
will mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weitere Ur-
teile, die in der nationalsozialistischen Zeit ergangen
sind, ohne Einzelfallprüfung pauschal aufheben und für
ungültig erklären. Mit dem Gesetz über die Aufhebung
nationalsozialistischer Urteile vom 25. August 1998 hat
der Gesetzgeber Gesetze aufgelistet, die den elementa-
ren Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprochen ha-
ben. Die aufgrund dieser Gesetze ergangenen Urteile
wurden durch Gesetz pauschal aufgehoben. Den Katalog
dieser Gesetze hat die rot-grüne Koalition mit Gesetz
vom 23. Juli 2002 ergänzt. Nun will die Fraktion Die
Linke diesen Katalog um die Tatbestände des Militär-
strafgesetzbuches, die vom Kriegsverrat handeln (§ 57,
59 und 60 NStGB) erweitern und damit auch alle Ur-
teile, die auf Grundlage dieses Gesetzes ergangen sind,
pauschal aufheben.
Man fragt sich natürlich, warum mehr als 60 Jahre
nach Ende der Nazizeit immer noch die Forderung
kommt, Urteile aus dieser Zeit pauschal aufzuheben.
Pauschal heißt, ohne Prüfung des Einzelfalles, ohne sich
die Frage zu stellen, ob einzelne Urteile damals, bei allen
Abstrichen, die man machen muss, nach den damaligen
Umständen nicht doch rechtens gewesen sein könnten.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil
vom 19. Februar 1957 bei der pauschalen Aufhebung
9972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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(B) (D)
von Gesetzen nationalsozialistischer Herkunft sehr abge-
wogene Maßstäbe gesetzt. Es hat festgestellt, dass unter
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Gesetze
entstanden sind, denen die Unmenschlichkeit und Unge-
rechtigkeit gewissermaßen auf der Stirn geschrieben
stand, und dass ihnen deshalb jede Gültigkeit als Recht
abgesprochen werden muss. Selbstverständlich sind
dann auch die Urteile, die auf solchen Gesetzesgrundla-
gen ergangen sind, von Anfang an nichtig.
Das Verfassungsgericht hat aber auch ausgeführt, dass
nicht alle Gesetze, nur weil sie in der Nazizeit erlassen
wurden, ohne Prüfung ihres Inhaltes pauschal als rechts-
unwirksam aufgehoben werden dürfen: „Eine solche An-
nahme würde übersehen, dass auch eine ungerechte und
von geläuterter Auffassung aus abzulehnende Gesetzge-
bung durch das auch ihr innewohnende Ordnungsele-
ment Geltung gewinnen kann.“ Das Verfassungsgericht
weist darauf hin, dass durch solche Gesetze wenigstens
Rechtssicherheit geschaffen werden konnte und, wenn
die äußersten Grenzen der Gerechtigkeit nicht über-
schritten wurden, so dem Rechtschaos entgegengewirkt
werden konnte. In diesem Sinne können auch Urteile
Bestand haben, wenn sie innerhalb des weit gesteckten
Rahmens der Gerechtigkeit für Rechtssicherheit und für
Rechtsordnung gesorgt und dem Rechtschaos entgegen-
gewirkt haben. Deshalb ist also bei der pauschalen Auf-
hebung solcher Urteile größte Sorgfalt anzuwenden. Im-
mer muss gefragt werden, ob diese Urteile, wenn auch
bei aller Unzulänglichkeit, nicht doch der Rechtsidee
entsprochen haben, wie sie zu allen Zeiten Gültigkeit
hat.
Diesen Gedanken des Verfassungsgerichtes hat das
Gesetz vom 25. August 1998 aufgegriffen. Durch § 1
dieses Gesetzes wurden Urteile, die unter Verstoß gegen
elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem
30. Januar 1933 erlassen wurden, pauschal aufgehoben.
In diesen Fällen kann die Staatsanwaltschaft auf Antrag
die Aufhebung des Urteils feststellen. Über die Feststel-
lung der Aufhebung erteilt die Staatsanwaltschaft eine
Bescheinigung. Nicht also die Staatsanwaltschaft hebt
auf, sondern die Staatsanwaltschaft stellt nur fest, dass
dieses Urteil unter die Generalklausel des § 1 und damit
durch das Gesetz vom 25. August 1998 pauschal aufge-
hoben worden ist.
Um nun der Staatsanwaltschaft die Feststellung, dass
ein Urteil aus der NS-Zeit im Sinne dieser genannten
Generalklausel aufgehoben ist, zu erleichtern, hat der
Gesetzgeber in § 2 Regelbeispiele gebildet. Dazu gehört
ein langer Katalog von Nazigesetzen. Bei solchen Geset-
zen ist davon auszugehen, dass Urteile, die darauf beru-
hen, gegen die Generalklausel verstoßen und deshalb
ohne Einzelfallprüfung aufgehoben sind. Beruhen Ur-
teile nicht auf diesen Regelbeispielen, hat die Staatsan-
waltschaft im Einzelfall dennoch die Möglichkeit, fest-
zustellen, dass ein Urteil im Sinne der Generalklausel
des § 1 des Gesetzes vom 25. August 1998 aufgehoben
ist, weil die Voraussetzung des § 1 gegeben ist. Der da-
mals mit Gesetz von 1998 erstellte Katalog von Geset-
zen wurde über die Parteigrenzen hinweg einvernehm-
lich beschlossen.
Mit dem Gesetz vom 23. Juli 2002 hat die damalige
rot-grüne Regierungskoalition diesen Katalog gegen das
Votum von CDU/CSU nochmals erweitert und darin die
§ 175, 174 a RStGB sowie einzelne Vorschriften des
Militärstrafgesetzbuches (unter anderem Desertion,
Feigheit vor dem Feind, unerlaubte Entfernung) aufge-
nommen. Für die CDU/CSU-Fraktion war bei der Ab-
stimmung klar, dass die Urteile von Militärgerichten ge-
gen Homosexuelle pauschal aufzuheben waren, weil sie
dem elementaren Gedanken der Gerechtigkeit wider-
sprachen. Dies hatte der Bundestag bereits in einer frü-
heren Entschließung auch so zum Ausdruck gebracht.
Die CDU/CSU-Fraktion war jedoch nicht damit einver-
standen, dass auch die Urteile wegen Desertion pauschal
aufzuheben waren, weil bekannt war, dass in manchen
Fällen durch Desertion Unrecht geschehen ist. Dieses
Unrecht wollte die CDU/CSU damals im Nachhinein
nicht für Recht erklären. Im Übrigen wollten wir auch
nicht die Richter, wie Dr. Sack, der mit Bonhoeffer hin-
gerichtet worden ist, nachträglich pauschal ins Unrecht
setzen, weil sie solche Urteile erlassen haben. Deshalb
hat die CDU/CSU diesem Gesetz nicht zugestimmt.
Immerhin aber hat der Gesetzgeber bei dieser Ände-
rung des NS-Aufhebungsgesetzes im Jahre 2002 be-
wusst davon abgesehen, Verurteilungen wegen Kriegs-
verrat per se als nationalsozialistisches Unrecht zu
qualifizieren. Dies heißt nicht, dass nicht nach Prüfung
des Einzelfalles die Staatsanwaltschaft feststellen kann,
dass es sich um ein Unrechtsurteil handelt, das aufgeho-
ben ist, weil es gegen die Generalklausel des § 1 des Ge-
setzes vom 25. August 1998 verstößt. Die rot-grüne Ko-
alition sah aber in einer generellen Aufhebung von
Urteilen, die sich auf den Tatbestand des Kriegsverrates
bezogen, neues Unrecht. Wer Kriegsverrat beging, hat
oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kame-
raden geschadet, ja sie oft in Lebensgefahr gebracht, in
der sie dann auch umgekommen sind, dies zum Beispiel
dann, wenn der Verräter zu den feindlichen Linien über-
wechselte und, um sich dort lieb Kind zu machen, die
Stellungen der eigenen Kameraden verriet, von der er
geflüchtet war. Der Feind konnte sich darauf einrichten
und den Standort der Truppe unter Beschuss nehmen,
wobei viele ihr Leben verloren haben.
Dies gilt auch für die Fälle, dass Überläufer Pläne von
Truppenbewegungen an den Feind verraten haben. Dies
führte dazu, dass die eigenen Kameraden nicht selten in
eine tödliche Falle gerieten. Der Verräter hat in diesen
Fällen auch nach unseren heutigen Maßstäben verwerf-
lich gehandelt. Aus diesem Grund hat die rot-grüne Ko-
alition bei der seinerzeitigen Ergänzung des Gesetzes zur
Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege vom 23. Juli 2002 ausdrücklich davon
abgesehen, die Urteile wegen Kriegsverrates pauschal
aufzuheben. Die damalige Mehrheit scheute davor zu-
rück, ein Verhalten, durch welches das Leben der eige-
nen Kameraden schwer in Gefahr geraten ist, nachträg-
lich zu sanktionieren. Wer desertiert ist, um die eigene
Haut zu retten und um beim Feind überhaupt aufgenom-
men zu werden, auch die Stellungen seiner Kameraden
verriet, hat sich nach allen Maßstäben der zivilisierten
Welt in höchstem Maße verwerflich verhalten. Durch die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9973
(A) (C)
(B) (D)
generelle Aufhebung dieser damaligen Urteile wegen
Kriegsverrates aber würde ein solch verwerfliches Ver-
halten nachträglich sanktioniert werden. Dies kann nicht
rechtens sein.
Die Fraktion Die Linke will sich aber über diese
Grundsätze hinwegsetzen. Ihren Gesetzentwurf begrün-
det sie damit, der Kriegsverrat sei immer politisch und
moralisch motiviert gewesen und sei mit kriminellen Ta-
ten nicht vereinbar. Dass dies im Einzelfall gerade nicht
richtig ist, habe ich dargetan.
Im Gesetzentwurf wird als weiterer Grund genannt,
durch solche verräterische Taten sei die Militärmacht
Hitlers geschwächt worden und der Krieg sei auf diese
Weise zu einem schnelleren Ende gekommen.
Ganz abgesehen davon, dass ganz andere Gründe den
Zusammenbruch des Nazi-Regimes verursacht haben, ist
diese Argumentation in hohem Maße machiavellistisch.
Man kann nicht den Teufel mit dem Beelzebub austrei-
ben, kann nicht Unrecht durch Unrecht ersetzen. So ent-
steht immer neues Unrecht. Außerdem missachtet dieses
Argument den wichtigen Unterschied, den das Völker-
recht zu allen Zeiten gemacht hat: das ius in bello und
das ius ad bellum. Hitler hatte zweifellos kein Recht zum
Angriffskrieg. Das ius ad bellum stand ihm nicht zur
Seite. Er ist deshalb einer der größten Kriegsverbrecher
aller Zeiten. Aber auch in einem ungerechten Krieg müs-
sen Rechtsregeln gelten, kann nicht das Verbrechen des
Verrates generell als gerechtfertigte Tat abgesegnet wer-
den.
Das heißt nicht, dass eine solche Tat im Einzelfall
nicht als eine Widerstandstat anzusehen ist. Dazu aber
bedarf es einer Einzelfallprüfung. Sonst würde man pau-
schal Widerstandskämpfer mit simplen verbrecherischen
Verrätern auf eine Stufe stellen. Deshalb lehnen wir die
pauschale Aufhebung von Urteilen, die auf Kriegsverrat
gestützt sind, ab.
Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Zu Beginn mei-
ner Rede möchte ich eine grundsätzliche Feststellung
treffen: Ein Diskurs um Rechtsprechung im Dritten
Reich ist erst vor wenigen Wochen wieder aufgeflammt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass uns dieser Ab-
schnitt unserer Rechtsgeschichte eines ganz besonders
lehrt: Aus Wissen allein entstehen weder persönliche
Moral noch ethische Überzeugungen. Gesetzestexte und
Kommentare aus der Zeit des Nationalsozialismus ma-
chen dies ebenso deutlich wie die Tatsache, dass auch
viele Richter und andere Praktiker davon überzeugt wa-
ren, dass der Nationalsozialismus auf der Höhe der Zeit
sei. Darauf basierende Entscheidungen waren in Wahr-
heit Akte der Menschenverachtung und der Vernichtung
in der Form des Urteils.
Wir beraten heute in erster Lesung den PDS-Entwurf
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege. Diese Thematik ist – wir alle wissen
dies – nicht zum ersten Mal Gegenstand der parlamenta-
rischen Beratungen in unserem Hause. Angesichts des
Ausmaßes des Unrechts, das uns der Nationalsozialis-
mus hinterlassen hat, ist dies auch nicht weiter verwun-
derlich.
Lassen Sie mich zunächst auf die bisherige Rechts-
entwicklung eingehen. Durch das Gesetz zur Aufhebung
nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechts-
pflege vom 25. August 1998 wurden verurteilende straf-
gerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen
elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem
30. Januar 1933 zur Durchsetzung des nationalsozialisti-
schen Terrors ergangen sind, aufgehoben. Berücksichtigt
wurden hier strafgerichtliche Entscheidungen, die aus
politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder
weltanschaulichen Gründen ergangen sind. Dieses Ge-
setz hat sich zwar grundsätzlich bewährt, jedoch wurde
die in einigen Fällen vorgesehene Einzelfallprüfung der
Aufgabenstellung teilweise nicht gerecht. Aus diesem
Grund wurde das Gesetz am 23. Juli 2002 entsprechend
geändert. Einige Verurteilungen – zum Beispiel wegen
Kriegsverrats – blieben von der generellen Aufhebung
weiterhin ganz bewusst ausgeschlossen – und dies aus
guten Gründen, wie die Gesetzesänderung deutlich ge-
macht hat. Hier wurde ja versucht, sämtliche Tatbe-
stände des Militärstrafgesetzbuches zu erfassen, die eine
pauschale Aufhebung rechtfertigten. Dies hatte zur
Folge, dass insgesamt 44 Straftatbestände zusätzlich in
das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Un-
rechtsurteile aufgenommen wurden. Ausdrücklich nicht
aufgenommen wurden Straftatbestände, bei denen die
Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach wie
vor nicht verantwortbar erschien. Von zentraler Bedeu-
tung ist dabei der Kriegsverrat – §§ 57, 59, 60 MStGB –,
da in Fällen des Kriegsverrats möglicherweise doch ein
Unrechtsgehalt gegeben ist. Ich möchte hierbei vor al-
lem die nicht ausschließbare Lebensgefährdung für eine
Vielzahl von Soldaten hervorheben, die auch durch den
Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen
Angriffskrieges begangen wurde, keinen Anlass zur pau-
schalen Rehabilitierung geben konnte.
An dieser Einschätzung wird festgehalten, wie die
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
der PDS vom 19. Juni 2006 belegt. Auf die Fragestel-
lung „Ist aus Sicht der Bundesregierung der Verrat des
nationalsozialistischen Vernichtungskriegs verurteilens-
wert, und, wenn ja, warum?“ stellt die Bundesregierung
fest:
Die Frage lässt sich nur im konkreten Einzelfall be-
antworten. Dabei kommt es darauf an, ob infolge
des Verrats zusätzliche Opfer unter der Zivilbevöl-
kerung und/oder deutsche Soldaten zu beklagen
waren oder ob infolge des Verrats derartige Opfer
gerade vermieden wurden. Der Gesetzgeber hat
sich deshalb nach Auffassung der Bundesregierung
zu Recht dafür entschieden, bei der Änderung des
Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Un-
rechtsurteile in der Strafrechtspflege für diese Fälle
eine pauschale Aufhebung abzulehnen und es bei
der Einzelfallprüfung zu belassen …
Da es bei den Verurteilungen wegen Kriegsverrats ge-
rade auf die Motive ankommt, ist eine Einzelfallprüfung
dringend geboten.
9974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dieser Sachverhalt macht deutlich, dass es für die hier
im Fokus stehende Problematik keine pauschale Lösung
geben kann, sondern dass es der Einzelbetrachtung eines
jeden Falles bedarf. Insofern ist die in dem Gesetzent-
wurf der PDS vorgesehene Lösung, die Anlage zu § 2
Nr. 3 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer
Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August
1998 in Nr. 26 a durch die §§ 51, 59, 60 des in der Zeit
der nationalsozialistischen Herrschaft geltenden Militär-
strafbuches zu ergänzen, abzulehnen.
Wenn wir uns an die Zeit des Nationalsozialismus er-
innern, dann gedenken wir vor allem anderen der Millio-
nen Opfer, die dieses verbrecherische Regime verschul-
det hat. Das geschehene Unrecht kann niemals
ungeschehen gemacht werden. Kein Gesetz und keine
Entschädigungsleistung könnten dieses Ziel Wirklich-
keit werden lassen, könnten dieses millionenfache Leid
auch nur ansatzweise aus der Welt schaffen. Ich bin mir
aber sicher, dass wir mit den Regelungen, die das Gesetz
bisher vorsieht, das Maximum der pauschalen Aufhe-
bung von Unrechtsurteilen erreicht haben. Alles, was
darüber hinausreichen soll, muss im Einzelfall geprüft
werden.
Jörg van Essen (FDP): Ich finde es fast schon ge-
spenstisch, dass wir uns heute mit diesem Antrag be-
schäftigen. Es hat den Eindruck, man hätte es hier mit
Untoten zu tun. Wie oft – das müssen sich die Antrag-
steller von der Linksfraktion fragen lassen – wollen wir
uns denn noch mit den Schandurteilen aus der NS-Zeit
beschäftigen? Man kann doch juristisch ein Urteil nur
einmal aufheben! Weder das Dritte Reich überdauerte
1 000 Jahre, noch leben aufgehobene NS-Urteile immer
wieder auf!
Nein, mit diesem Antrag machen Sie sich schon hand-
werklich nicht um unseren Rechtsstaat verdient. Das
wundert auch nicht weiter, da Sie in dieser Legislaturpe-
riode nicht sonderlich mit rechtspolitischen Anträgen
aufgefallen sind.
Leider ist das Thema zu ernst, als dass man Ihren
Antrag einfach unkommentiert stehen lassen könnte.
Deswegen erlauben Sie mir bitte die nachfolgenden Aus-
führungen: Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti-
scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege von 1998
ist unmissverständlich. Nach § 1 werden verurteilende
strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß ge-
gen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem
30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhal-
tung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus
politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder
weltanschaulichen Gründen ergangen sind, aufgehoben.
Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Verfahren
werden eingestellt.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke für ein
zweites Gesetz zur Änderung dieses Gesetzes, wie wir
ihn heute in erster Lesung beraten, stellt Erreichtes in
Frage, mehr noch: Er verunsichert Opfer der NS-Un-
rechtsjustiz mehr, anstatt ihnen zu helfen.
Zunächst eine grundsätzliche Anmerkung: Der An-
trag verkennt die Systematik von § 2, der Regelbeispiele
für Unrechtsentscheidungen bildet, und dabei in der Tat
in Nr. 3 auf Entscheidungen Bezug nimmt, die auf den in
einer Anlage genannten gesetzlichen Vorschriften beru-
hen. Der Katalog dieser gesetzlichen Vorschriften erhob
schon nach der Gesetzesbegründung keinen Anspruch
auf Vollständigkeit und sollte auch keine Ausschluss-
funktion haben.
Dadurch, dass wir – nach dem ersten Änderungsge-
setz – nun schon zum zweiten Mal Änderungen dieses
Kataloges diskutieren, erhöhen wir ihn in seiner Bedeu-
tung und entwerten gleichzeitig die Klarheit und Unmiss-
verständlichkeit der Generalklausel in § 1. Ich würde mir
wünschen – übrigens nicht nur hier –, wenn wir als Ge-
setzgeber mehr Vertrauen in unsere Gerichte und die Be-
deutung von Generalklauseln hätten.
Erlauben Sie mir, dass ich Herrn Korte als einen der
Verfasser des Antrages direkt anspreche. Ehrlich gesagt,
finde ich insbesondere die Tonalität Ihres Antrages und
die Begleitmusik sehr befremdlich und der Sache nicht
dienlich. Der Antrag versucht Zwietracht dort zu säen,
wo große Einigkeit in diesem Haus – auch mit Blick auf
den Eindruck im Ausland – angebracht wäre und in mei-
nen Augen bei der Bewertung von NS-Unrecht auch im-
mer gegeben war.
In den vergangenen Jahren haben wir uns wiederholt
mit der Frage der Aufhebung der NS-Unrechtsurteile be-
fasst. Dieses Haus hat bewiesen, dass der Bundestag sehr
wohl in der Lage ist, seiner besonderen Verantwortung
für die Opfer des Naziregimes gerecht zu werden. Wir
müssen alles tun, um dem Eindruck der Fortgeltung na-
tionalsozialistischen Unrechts zu begegnen.
Der Antrag Ihrer Fraktion lag dem Deutschen Bun-
destag schon einmal in der 14. Legislaturperiode zur Be-
ratung vor. Damals hat dieses Haus mit großer Mehrheit
dagegenvotiert. Die Rednerin der PDS, Frau Dr. Evelyn
Kenzler, sagte dennoch damals – ich darf aus dem Proto-
koll vom 17. Mai 2002 zitieren –:
Der Gesetzentwurf wird weitgehend dem gerecht,
was meine Fraktion mit ihrem Antrag vom März
2001 erreichen wollte.
Die jetzt gewählte Tonalität passt dazu nicht. Ich habe
mit Befremden verfolgt, wie Sie diese Gesetzesinitiative
vorbereitet haben.
Sie zitieren in einer Kleinen Anfrage mit dem Titel
„Aufhebung der NS-Militärgerichtsurteile wegen
Kriegsverrates“ im Sommer letzten Jahres die Bundes-
justizministerin mit dem Satz, dass der „in Fällen des
Kriegsverrates möglicherweise gegebene Unrechtsgehalt
(nicht ausschliessbare Lebensgefährdung für eine Viel-
zahl von Soldaten)“ äußerst hoch erschiene, „so dass
auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechts-
widrigen Angriffskrieges begangen worden sind, keinen
Anlass zur pauschalen Rehabilitierung begründen
konnte.“ Sie kritisieren sodann diese Äußerungen und
führen unter anderem aus, dass es als äußerst fragwürdig
erscheine, warum hier eine „nicht ausschliessbare Le-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9975
(A) (C)
(B) (D)
bensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten“ als „Un-
recht“ bezeichnet werde.
Leben ist ein kostbares Gut. Das gilt auch für das Le-
ben von Soldaten, unabhängig davon – auch wenn diese
Aussage manchmal schwerfällt –, in wessen Dienst sie
stehen. Achtung vor dem Leben ist eine der Kernaussa-
gen unseres Grundgesetzes. Ich bitte Sie, auch in dieser
Debatte diesen Respekt zu wahren. Unterlassen Sie Po-
lemik!
Erinnern wir uns: Bei den Beratungen über das NS-
Aufhebungsgesetz haben wir uns bereits vor Jahren auch
mit den Urteilen der NS-Militärjustiz gegen Deserteure
der Wehrmacht intensiv beschäftigt. Der Bundestag hat
dabei festgestellt, dass die Gerichte der Militärjustiz im
NS-Staat keine Gerichte im rechtsstaatlichen Sinne wa-
ren.
Wir haben in diesen Fragen so viel Konsens – ich be-
fürchte, dass Sie diesen mit der Tonalität und Wortwahl
im Kontext mit diesem Antrag gefährden. Das wäre
brandgefährlich. Es wäre insbesondere nicht im Sinne
der Opfer.
Ich habe schon 2002 in der Debatte um das erste Än-
derungsgesetz klargestellt, dass es für die FDP selbstver-
ständlich ist, dass die NS-Unrechtsurteile bereits 1998
aufgehoben worden sind. Hier nun wieder Einzelfälle
herauszugreifen, ist – so meine Befürchtung – eine er-
neute Demütigung der Opfer. Erneut wird der Eindruck
erweckt, dass diese Menschen weitere Jahre lang nicht
rehabilitiert gewesen seien. Das ist etwas, was ich uner-
träglich finde.
Ich habe den Antrag sorgfältig gelesen. Und es ist
auch bekannt, dass ich Kritik von Herrn Ludwig
Baumann, dem Vorsitzenden der Bundsvereinigung der
Opfer der NS-Militärjustiz sehr ernst nehme. Ich bin mir
aber nicht sicher, ob hier wirklich Regelungsbedarf be-
steht. In meiner Erinnerung haben wir uns 1998 sehr
gründlich und sachlich mit all den vielen verschiedenen
Situationen der NS-Justiz befasst und sind ihr, so meine
ich, gerecht geworden. Unsere Beratungen damals waren
sorgfältig und von großem Respekt vor den Opfern ge-
prägt. Ich bitte die Kollegen von der Linken, diesen Res-
pekt vor den Opfern nicht für kurze Effekte in Frage zu
stellen.
Als FDP-Bundestagsfraktion darf ich Ihnen versi-
chern, dass wir uns bei den Beratungen des Antrages ins-
besondere darum bemühen werden, die Opfer der NS-
Justiz nicht zu verunsichern und Erreichtes von 1998 zu
bewahren.
Jan Korte (DIE LINKE): Ich freue mich, dass der
Bundestag heute erneut zu einem geschichtspolitischen
Thema die Debatte sucht. Wichtig ist es auch deshalb,
weil es bei dem von der Linksfraktion vorgelegten Ge-
setzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung
nationalsozialistischer Unrechtsurteile um die Aufarbei-
tung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte
geht. Leider – das muss an dieser Stelle aber auch gesagt
werden – findet diese Debatte viel zu spät statt: 62 Jahre
nach der Befreiung vom Hitler-Faschismus, 62 Jahre
nach dem Holocaust, 62 Jahre nach dem fürchterlichsten
Krieg, den die Menschheit erlebt hat, 62 Jahre nach dem
Massenmord durch deutsche Kriegsschergen an über
60 Millionen Menschen. Die Bundesrepublik Deutsch-
land und der Deutsche Bundestag haben 58 Jahre ver-
streichen lassen, um Menschen zu rehabilitieren, die aus
politischen und moralischen Gründen gegen das Hitler-
Regime handelten und deshalb bis heute vorbestraft sind
und gesellschaftlich stigmatisiert werden. Die Rede ist
von den sogenannten Kriegsverrätern.
Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti-
scher Unrechtsurteile, NS-AufhG, wurde in der Straf-
rechtspflege 1998 ein wichtiger Schritt in Richtung Auf-
arbeitung deutscher Geschichte eingeschlagen. Im § 1
des NS-AufhG werden verurteilende strafgerichtliche
Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Ge-
danken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur
Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozia-
listischen Unrechtsregimes aus politischen, militäri-
schen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen
Gründen ergangen sind, aufgehoben. Die genannten Ent-
scheidungen betreffen nach § 2 des Gesetzes unter ande-
rem auch solche, die auf den in der Anlage zu § 2 Nr. 3
NS-AufhG genannten gesetzlichen Vorschriften beru-
hen. Ausgenommen sind darin jedoch die §§ 57, 59 und
60 des Militärstrafgesetzbuches von 1934, also der
Kriegsverrat. Betroffene müssen sich seither einer Ein-
zelfallprüfung unterziehen. Dies ist unserer Meinung
nach nicht nur unzumutbar, sondern auch undurchführ-
bar; denn außer bei Verurteilungen in Abwesenheit wur-
den sie grundsätzlich zum Tode verurteilt und hingerich-
tet.
Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde der
Katalog der Straftaten, die im Anhang zu § 2 Nr. 3
NS-AufhG aufgeführt sind, mit Gesetz vom 23. Juli
2002 erweitert. Mit dem Änderungsgesetz wurden die
§§ 175, 175 a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches sowie
eine Vielzahl von Verurteilungen unter anderem wegen
Desertion (§ 69 Militärstrafgesetzbuch), Feigheit (§ 85)
oder unerlaubte Entfernung (§ 64) in die Anlage zu § 2
Nr. 3 NS-AufhG (Nr. 26 a) aufgenommen. Die Begrün-
dung damals: Die Einzelfallprüfung führe zu Unzuträg-
lichkeiten.
Der Gesetzgeber konnte sich trotz der Aufnahme ei-
ner großen Zahl von Straftatbeständen des Militärstraf-
gesetzbuches in die Anlage zu § 2 Nr. 3 nicht dazu ent-
schließen, dieses Gesetz im Ganzen einzufügen. In der
Begründung zum Änderungsgesetz heißt es:
Es finden sich eine ganze Reihe von Straftatbestän-
den, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Ein-
zelfallprüfung nicht verantwortbar erscheint. Bei-
spielhaft seien hier der Kriegsverrat, die
Plünderung, die Fledderei sowie Misshandlungen
von Untergebenen genannt.
Diese Aussage ist gleich in mehrfacher Hinsicht skan-
dalös: zum einen, weil sie zum Ausdruck bringt, dass
Unrechtsurteile von Nazirichtern, die ohne rechtsstaatli-
che Grundsätze und zum Schütze eines menschenver-
achtenden Systems gefällt wurden, nur durch Einzelfall-
prüfung revidiert werden können, zum anderen aber
9976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
(A) (C)
(B) (D)
stellt diese Begründung den Kriegsverrat in eine Reihe
mit Plünderungen und Fleddereien. Das ist nicht hin-
nehmbar.
Die unter dem Straftatbestand des Kriegsverrates sub-
sumierten Handlungen sind mit den anderen genannten
Straftatbeständen des Militärstrafgesetzbuches nicht ver-
gleichbar; denn sie waren fast durchweg politisch oder
moralisch motiviert, wie auch neuere Forschungen von
zum Beispiel Professor Dr. Wolfram Wette belegen. Ein
vergleichbarer krimineller Unrechtsgehalt wie bei Delik-
ten der Plünderung ist nicht erkennbar.
Um es deutlich zu sagen: Beim sogenannten Kriegs-
verrat handelte es sich um den Verrat des deutschen An-
griffs- und Vernichtungskrieges, der zu Mord, Vertrei-
bungen und Vergewaltigungen an Millionen geführt hat.
Neuere Untersuchungen zeigen zudem, dass das Verhal-
ten der Menschen, die wegen Kriegsverrats verfolgt und
verurteilt wurden, fast durchweg, wie bereits angespro-
chen, moralisch-ethisch oder politisch motiviert war.
Diese Menschen riskierten ihr Leben, um das barbari-
sche Morden, um den Angriffs- und Vernichtungskrieg
zu beenden. Diese Menschen verdienen Anerkennung
und höchsten Respekt. Deshalb müssen unserer Mei-
nung nach die §§ 57, 59 und 60 Militärstrafgesetzbuch in
die Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG aufgenommen wer-
den.
In seinem Urteil vom 11. September 1991 stellt das
Bundessozialgericht hinsichtlich der Todesurteile der
Militärstrafjustiz während des Zweiten Weltkrieges fest,
dass angesichts der Gesamtumstände die Rechtswidrig-
keit der Urteile zu vermuten sei. Angesichts der durch
die NS-Militärjustiz gefällten 30 000 Todesurteile und
Zehntausenden Zuchthausurteilen kann man wohl kaum
mehr nur von einer Vermutung sprechen, sondern muss
von einer belegbaren Tatsache in diesem Zusammen-
hang ausgehen.
Ihnen allen wird der Name Ludwig Baumann sicher-
lich bekannt sein. Ludwig Baumann streitet seit Jahren
gemeinsam mit seiner „Bundesvereinigung Opfer der
NS-Militärjustiz e. V.“ für die Rehabilitierung von
Wehrmachtsdeserteuren und Kriegsverrätern. Sein be-
wegtes Leben bietet ein plastisches Beispiel für die Ver-
hältnisse in Wehrmacht und NS-Regime und für die
Aufarbeitung der deutschen Geschichte durch die Bun-
desrepublik. Im Zuge der Gesetzesänderung unter Rot-
Grün im Jahr 2002 hat er sich intensiv in die politische
und parlamentarische Debatte eingebracht, hat gute
Kontakte zur damaligen PDS-Fraktion, aber auch zu den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
hergestellt. Nachdem der Straftatbestand des Kriegsver-
rats von der Gesetzesänderung 2002 ausdrücklich ausge-
nommen wurde, unternahm er 2006 einen erneuten Ver-
such und machte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries
auf das Thema aufmerksam.
In ihrem Antwortschreiben vom 25. April 2006 an
Ludwig Baumann nimmt Frau Zypries zum Sachverhalt
wie folgt Stellung:
Bei der Erarbeitung des NS-AufhG, der als Entwurf
der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht
worden ist (BT-Drs. 14/8276), wurde versucht,
sämtliche Tatbestände des Militärstrafgesetzbuches
zu erfassen, bei denen eine pauschale Aufhebung
gerechtfertigt werden konnte. Als Ergebnis wurden
insgesamt 44 Straftatbestände zusätzlich in das NS-
AufhG aufgenommen. Ausdrücklich nicht aufge-
nommen wurden Straftatbestände, bei denen die
Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach
wie vor nicht vertretbar erschien. […] Der in Fällen
des Kriegsverrats möglicherweise gegebene Un-
rechtsgehalt (nicht ausschließbare Lebensgefähr-
dung für eine Vielzahl von Soldaten) erschien äu-
ßerst hoch, so dass der Umstand, dass sie während
eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges began-
gen worden sind, keinen Anlass zur pauschalen Re-
habilitierung begründen könnte.
Für mich übersetzt heißt dies, dass der Widerstand ge-
gen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht an-
erkannt wird, auch wenn es sich dabei um einen Vernich-
tungsfeldzug im Namen des Hitler-Faschismus handelte.
In Bezug auf die Äußerungen der Ministerin zur Gefähr-
dung einer Vielzahl von Soldaten durch den Kriegsverrat
ergeben sich für mich Fragen. Bedeutet dies übersetzt,
dass das Leben von Soldaten, die einen Angriffskrieg
führen, höher bewertet wird, als das Leben von Millio-
nen von Zivilisten, die durch den Verrat von Kriegsvor-
bereitungen oder -handlungen hätten gerettet werden
können? Es wäre hilfreich, wenn Frau Zypries im Rah-
men dieser Gesetzesdebatte ihre Position noch einmal
deutlich machen würde, um Missverständnisse auszu-
schließen.
Die Antwort der Frau Ministerin ist umso besorgnis-
erregender, als der Bundestag in seiner Entschließung
vom 15. Mai 1997 auf Drucksache 13/7669 bereits fest-
stellte:
Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Ver-
nichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen
Deutschland verschuldetes Verbrechen.
Der Verrat eines, wie der Bundestag sagt, „Vernich-
tungskrieges“ ist nach Meinung der Bundesjustizminis-
terin offenbar nicht rehabilitierungswürdig, zumindest
nicht ohne Einzelfallprüfung. Diese juristische Position
zeugt von wenig politischer Souveränität; denn wie be-
reits dargestellt, ist eine Einzelfallprüfung kaum mög-
lich, da die meisten Betroffenen den NS-Henkern zum
Opfer gefallen sind. Für die wenigen noch lebenden ist
eine solche Prüfung erniedrigend und beschädigt das Ge-
denken an den Widerstand gegen die NS-Diktatur.
Ich möchte zum Schluss noch einmal daran erinnern,
was die NS-Justiz unter dem Straftatbestand des Kriegs-
verrates verstand: Verraten deutscher Angriffspläne und
-termine an die Niederlande, Frankreich, Belgien, Eng-
land, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien; das Knüpfen
konspirativer Auslandskontakte; der Versuch, Jüdinnen
und Juden das Leben zu retten; die Aufnahme von Kon-
takten zu sowjetischen Kriegsgefangenen; das Überlau-
fen zu den Partisanen und die Unterstützung des einhei-
mischen Widerstandes durch Weitergabe kriegswichtiger
Informationen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9977
(A) (C)
(B) (D)
Wie Sie sehen können, verbirgt sich hinter dem einfa-
chen Wort „Kriegsverrat“ eine ganze Reihe von Tätig-
keiten, die heute, beispielsweise im Zusammenhang mit
dem 20. Juli, durch die Öffentlichkeit und den Bundes-
tag gewürdigt werden.
Ich bitte Sie also, unserem Gesetzesentwurf Ihre Zu-
stimmung zu geben. Es ist an der Zeit. Kurt Tucholsky
schrieb 1921 im Hamburger Echo: „Aber wenn wir nicht
mehr wollen: dann gibt es nie wieder Krieg!“ Und wenn
wir wollen, dann werden wir endlich auch die Kriegsver-
räter rehabilitieren und anerkennen, dass sie Gegner des
Krieges waren und die Anerkennung der Bundesrepublik
verdienen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der Deut-
sche Bundestag immer wieder mit der Rehabilitierung
der Wehrmachtsdeserteure beschäftigt, mit den Män-
nern, die dem verbrecherischen Krieg Hitlers den
Rücken kehrten, die sich dem Morden verweigerten.
Im Bundestag war die Anerkennung und Würdigung
der Opfer der NS-Militärjustiz ein quälend langsamer
Prozess. Ich kann mich an sehr schwierige Diskussionen
im Parlament erinnern, aber auch an Vorträge von Sach-
verständigen bei Anhörungen, die einen wirklich schau-
dern ließen. So hatte 2002 der von der Union benannte
Sachverständige Professor Seidler im Rechtsausschuss
gesagt, dass das Verhängen der Todesstrafe bei Deser-
tion zur Durchsetzung der Manneszucht in der Truppe
notwendig gewesen sei.
Und fünf Jahre später? Die Fehlleistung des Baden-
Württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger
bei der Trauerfeier für Hans Filbinger und sein tagelanges
Ringen um eine angemessene Reaktion auf das Entsetzen
und den Protest zeigen: In unserem Land ist immer noch
vieles nicht wirklich aufgearbeitet.
Das 1998, im letzten Jahr der Regierung Kohl, be-
schlossene Gesetz zur Aufhebung von NS-Unrechtsur-
teilen hatte für Deserteure noch keine befriedigende Lö-
sung gebracht. Während ansonsten NS-Unrechtsurteile
durch dieses Gesetz pauschal aufgehoben wurden, blie-
ben Deserteure auf den demütigenden Weg der Einzel-
fallprüfung verwiesen.
Der wirkliche Durchbruch erfolgte dann 2002. Mit ei-
ner Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes haben wir
für Gerechtigkeit für Deserteure gesorgt. Die Deserteure
der Wehrmacht haben sich dem Angriffskrieg Hitlers
verweigert. Dennoch mussten sie in der Bundesrepublik
den Makel des verurteilten Straftäters tragen. Mit der
Ergänzung von 2002 wurde ihnen die Ehre wiedergege-
ben. Das Gleiche gilt für die Verurteilungen von Homo-
sexuellen nach § 175 in der NS-Zeit.
Die Gesetzesergänzung von 2002 führte hinsichtlich
der Militärjustizurteile eine lange Liste von Tatbestän-
den des Militärstrafgesetzesbuches auf. Urteile, die nach
diesen Vorschriften ergangen waren, wurden pauschal
aufgehoben.
Die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz
hat die Reform damals sehr begrüßt, allerdings seitdem
auch moniert, dass in dieser langen Liste der Strafvor-
schriften die Bestimmungen zum Kriegsverrat noch feh-
len. Es ist ein großes Verdienst dieser Vereinigung und
insbesondere ihres Vorsitzenden Ludwig Baumann, das
Schicksal der Wehrmachtsdeserteure und den Umgang
mit ihnen nach dem Krieg ins öffentliche Bewusstsein
getragen zu haben. Ich möchte Herrn Baumann und sei-
ner Vereinigung hierfür nachdrücklich danken. Sie ha-
ben sich um die Demokratie in Deutschland sehr ver-
dient gemacht.
Das Anliegen, auch noch die Bestimmungen gegen
Kriegsverrat in das NS-Aufhebungsgesetz mit einzube-
ziehen, ist berechtigt. Wir werden dem Antrag also zu-
stimmen.
Die jüngsten Forschungen des Militärhistorikers
Wolfram Wette haben sehr eindrucksvoll aufgezeigt, um
welche Tatbestände, um welche Personen und welche
Motivlagen es hier ging. Als Kriegsverrat zählte zum
Beispiel die Übermittlung von Informationen über den
Holocaust an die Alliierten, die Aufnahme von Kontak-
ten zu russischen Kriegsgefangenen, die Unterstützung
von Widerstandsgruppen in den besetzten Ländern.
Die Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes von 2002
wollte damals ein Teil des Hauses leider nicht mittragen.
Ich hoffe sehr, dass die Diskussion fünf Jahre später nun
versachlicht werden kann und dass wir zu einer Einigung
im Bundestag kommen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Antrags: Weg vom Öl im
Kunststoffbereich – Chance der Novelle der
Verpackungsverordnung nutzen und mit Bio-
kunststoffen echte Kreisläufe schließen (Tages-
ordnungspunkt 21)
Michael Brand (CDU/CSU): Der Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen wäre ein besserer Antrag, wenn nicht
die im Prinzip konservativen Ansätze zur Schonung von
Ressourcen und natürlichen Lebensgrundlagen am
Beispiel der Förderung von biologisch abbaubaren
Werkstoffen, BAW, mit klassischen ideologischen Vor-
behalten gegen die haushaltsnahe und getrennte Wert-
stofferfassung vermischt würden. Als Abgeordneter aus
dem wunderschönen Wahlkreis Fulda kenne ich die Pro-
duktion und den Einsatz von nachwachsenden und biolo-
gisch abbaubaren Rohstoffen aus eigener Anschauung.
Ich kann aus eigener örtlicher Kenntnis sowohl die
Chancen und Schwierigkeiten bei biologisch abbaubaren
Werkstoffen, BAW, in der Produktion als auch beim Ein-
satz und in der Akzeptanz bei Verbraucherinnen und
Verbrauchern in einiger Tiefe beurteilen.
Wenn in der Begründung dieses Antrages dann die
altbekannte Skepsis mancher Grünen zur aktuellen Ver-
fassung der Verpackungsverordnung dokumentiert wird,
dann erinnert das stark an traditionelle, ideologische
9978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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Bedenken der Grünen gegen die dualen Systeme und den
immer wieder unternommenen Versuch, der Sammlung
in der Gelben Tonne die Basis abzugraben. Dass diese
unter Umweltminister Klaus Töpfer entworfene und von
der Umweltministerin Angela Merkel weiterentwickelte
Verpackungsverordnung der in der Produktverantwor-
tung zugrunde gelegten Einbeziehung der Kosten bereits
in die Produktion von Produkten und damit dem obers-
ten Prinzip der Vermeidung von Abfällen dient, wird all-
gemein anerkannt. Dass nach der Produktion und nach
der Verwendung eine werkstoffliche Verwertung vorge-
geben wird, dient der Entwicklung von Märkten, die ge-
schlossene Kreisläufe schaffen und ausbauen. Von der
Kreislaufwirtschaft wird es in Zukunft in die Stoffstrom-
wirtschaft gehen, und manche Kämpfe heute haben in
der angestrebten Kontrolle von Stoffströmen ihre eigent-
liche Ursache.
Dass der alte, schon in Nordrhein-Westfalen unter
Frau Höhn gescheiterte Versuch, die erfolgreiche und
breit akzeptierte getrennte Sammlung von Verpackungs-
müll zu ersetzen durch eine großtechnische Sammlung
gemeinsam mit Restmüll, bei dem hier vorgelegten An-
trag ausgespart wurde, ist bezeichnend. Dass diese in
NRW gescheiterte grüne Ideologie von Frau Kollegin
Höhn nach der Abwahl in NRW nun in den Bundestag
transportiert wurde, macht das Unterfangen nicht Erfolg
versprechender.
Ausgerechnet die Novellen von Umweltminister
Trittin als Erfolg abzufeiern, zeugt dabei schon von sehr
eingeengtem Blickwinkel und Nostalgie. Wer erinnert
sich nicht mehr an das „Dosenpfand-Chaos“ und die un-
glückliche Rolle des grünen Umweltministers? Und dass
wir heute beim Thema Mehrweg teils drastische Einbrü-
che zu verzeichnen haben, ist klarer Beleg dafür, dass
grüne Ideologie und kurzfristige Ansätze nur zu mise-
rablen Ergebnissen und weiteren Reparaturnotwendig-
keiten führen.
Für die CDU/CSU und auch für die gesamte Koali-
tion kann und will ich ein glasklares Bekenntnis zur
Sammlung von Verpackungen über duale Systeme abge-
ben. Dass wir immer wieder an der einen oder anderen
Stellschraube nachjustieren müssen, ist dabei auch klar.
Aber wir werden als CDU/CSU weder aus Ideologie
noch aus einseitigen Interessen heraus das Kind mit dem
Bade ausschütten. Und wir wissen uns mit dieser Posi-
tion auch einig mit der ganz übergroßen Mehrheit bei
Kommunen, Recyclingwirtschaft und – das müsste Ih-
nen doch zu denken geben – mit Umwelt- und Verbrau-
cherverbänden.
Getrennte Erfassung und werkstoffliche Kreisläufe
stellen eine entscheidende Voraussetzung für marktfä-
hige Recycling-Produkte aus LVP dar. Dass Bündnis 90/
Die Grünen diese teils sehr innovativen mittelständi-
schen Unternehmen hier pauschal des „Downcyling“ be-
schuldigt, ist ideologisch und in einer Reihe von Studien
und Praxisbeispielen mehr als widerlegt. Wer Ressour-
censchonung propagiert, der muss dies nachhaltig und
glaubwürdig tun. Um es klar zu sagen: die Propagierung
von biologisch abbaubaren Werkstoffen, BAW, und die
Öffnung der Verpackungsverordnung in diesem Punkt
wäre glaubwürdiger, wenn die offenen oder indirekten
Attacken auf die getrennte Sammlung und die werkstoff-
liche Verwertung unterblieben.
Dass wir bei der aktuellen Novelle der Verpackungs-
verordnung noch andere Baustellen als die BAW zu re-
geln haben, ist weithin bekannt. Dass dabei auch weiter-
gehende Innovationen von Teilen der Bundesregierung
ins Gespräch gebracht werden, ist auch kein Geheimnis.
Wir müssen allerdings bei dieser jetzigen fünften No-
velle vor allem das Hauptziel der Sicherung der haus-
haltsnahen Sammlung erreichen und diejenigen Inver-
kehrbringer erfassen, die sich bislang gegen die
rechtlichen Vorgaben weder an der haushaltsnahen noch
an einer anderen Sammlung von Verpackungsabfällen
beteiligen. Dass wir nach der aktuellen dann bei der si-
cher anstehenden sechsten Novelle auch grundsätzli-
chere Fragen angehen müssen, ist in der Koalition sowie
zwischen Bund und Ländern schon heute Diskussionsge-
genstand. Dabei werden wir uns allerdings davor hüten
uns von Bündnis 90 einen „grünen Trojaner“ in ein er-
folgreiches System schleusen zu lassen.
Aus der anfangs erwähnten eigenen Anschauung von
Produktion über Einsatz beim Kunden bis hin zur Ent-
sorgung weiß ich auch um die vielen kleinen roten Teu-
fel, die im Detail stecken.
Ich streite ja hier und da schon bei der jetzigen No-
velle mit Teilen der Bürokratie um eine klare Datenbasis
und um ein realistisches Abbild beim Thema Verpa-
ckung. Nur auf solider Basis können wir Prognosen ab-
geben und unsere politischen Entscheidungen verant-
wortlich treffen.
Was den Ansatz zu biologisch abbaubaren Werkstof-
fen und den erwähnten „grünen Trojaner“ angeht, so
werden wir in den Ausschüssen erheblich ernster und er-
gebnisoffener diskutieren, wenn Bündnis 90/Die Grünen
die Ideologie, auch gegen die dualen Systeme, abrüstet
und sich um ein ganzheitliches Konzept mitbemüht, das
den BAW die großen Chancen wirklich eröffnet.
Wir von der CDU/CSU hoffen auf diese ideologisch
unbelastete Erörterung in den Ausschüssen zu dieser Zu-
kunftsfrage. Wir sind bereit, ernsthaft über ernst ge-
meinte Konzepte zu sprechen. Der vorliegende Antrag
wird dabei dann nicht der schlussendliche Antrag sein
können. Wir sehen das ganze Bild, und dazu gehört die
ganze Kette, um biologisch abbaubare Werkstoffe zu
dem Erfolg zu verhelfen, den wir zum Schutz unserer
natürlichen Lebensgrundlagen und zum Schutz des Kli-
mas anstreben.
Gerd Bollmann (SPD): Grundsätzlich haben Verpa-
ckungen aus Biokunststoffen viele Vorteile und sind
ökologisch besser als andere Kunststoffverpackungen.
Sie werden nicht auf Erdölbasis, sondern auf Pflanzen-
basis hergestellt. Aus diesem Grund sind sie nicht nur
kompostierbar und ressourcenschonend. Sie können
auch klimaneutral energetisch verwertet werden.
Inzwischen werden zahlreiche Produkte aus Bio-
kunststoffen hergestellt. Neben Einkaufs- und Abfalltü-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9979
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ten und Folien sind dies auch Trinkbecher oder Plastik-
teile von Automobilen.
Aus eigener Anschauung weiß ich, dass sich die ver-
schiedenartigen Produkte auf den ersten Blick nicht
mehr von normalem Plastik unterscheiden. Sie sind qua-
litativ gleichwertig und in manchen Fällen sogar besser.
Trotzdem haben Produkte aus Biokunststoff nur einen
geringen Marktanteil. Sie sind nämlich trotz hoher Öl-
preise immer noch teurer als normaler Kunststoff.
Ich halte Biokunststoffe insgesamt für eine sinnvolle
Alternative und eine zukunftsweisende Technologie.
Aus diesem Grund hat sich die SPD bei der 3. Novelle
der Verpackungsverordnung für eine Förderung von bio-
logisch abbaubaren Werkstoffen eingesetzt. Kunststoffver-
packungen aus diesem Material sind bis zum 31. Dezem-
ber 2012 von der Teilnahme an Rücknahmesystemen
befreit.
Die SPD befürwortet grundsätzlich den Einsatz von
Biokunststoffen. Für erdölbasierte Produkte sind Verpa-
ckungen und andere Produkte aus nachwachsenden Roh-
stoffen eine sinnvolle Alternative. Eine weitergehende
Förderung, wie sie in dem vorgelegten Antrag gefordert
wird, muss jedoch genau geprüft werden.
Zahlreiche Fragen sind bisher ungeklärt. Eine Ökobi-
lanz, die internationalen Standards genügt und belegt,
dass Biokunststoffe umweltfreundlicher sind, liegt bis-
her noch nicht vor.
Aus diesem Grund steht das Umweltbundesamt der
Sache skeptisch gegenüber. So ein Vertreter des Um-
weltbundesamtes in der Zeitung „Die Zeit“ vom 23. No-
vember letzten Jahres.
Ein weiteres Problem entsteht bei der Kompostierung
von Biokunststoffen. Nach der jetzigen Gesetzeslage er-
laubt die Bioabfall- und Düngemittelverordnung den
Einsatz als Düngemittel nur, wenn sie zu 100 Prozent
aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wurden. Die
meisten Produkte aus Biokunststoffen enthalten aber
noch einen Anteil von Kunststoff auf Erdölbasis. Dem-
entsprechend dürfen sie nicht als Düngemittel eingesetzt
werden.
Zusätzlich gibt es Absatzprobleme für Kompost aus
Bioabfall. Wie sich jeder vorstellen kann, ist gesammel-
ter Bioabfall selten rein. Insbesondere im Abfall aus
Biotonnen finden sich häufig Verschmutzungen.
Allein die Möglichkeit der Verunreinigung führt dazu,
dass Kompost aus Abfall kaum Abnehmer findet. An-
ders ausgedrückt: Derzeit gibt es kaum Verwendung für
Kompost aus Bioabfall.
Diese Problematik ist inzwischen bekannt. In dem
Antrag wird die Förderung von Biokunststoffen daher
durch deren klimaneutrale Nutzung bei der energeti-
schen Verwertung begründet.
Wir müssen die Nutzung fossiler Rohstoffe bei der
Energieerzeugung senken. Zukünftig muss Energie aus
erneuerbaren, klimaneutralen Energien produziert wer-
den. Hierbei muss die Biomasse ihren Anteil haben.
Ich setze mich daher insbesondere für die energeti-
sche Nutzung von Bioabfall ein. Dabei sollte die Nut-
zung in der Regel in Form von Kraft-Wärme-Kopplung
erfolgen. Die Koalition plant deshalb auch, die thermi-
sche Verwertung von Bioabfall zum Beispiel in Biogas-
anlagen zu fördern.
Ein vermehrter Einsatz von Biokunststoffabfall ist bei
der Energieerzeugung meiner Meinung nach begrüßens-
wert.
Wie ich dargelegt habe, stehe ich einem vermehrten
Einsatz, einer Förderung von Biokunststoffen grundsätz-
lich positiv gegenüber. Bevor wir jedoch konkrete ge-
setzliche Schritte unternehmen, müssen wir grundle-
gende Fragen klären.
Der Antrag entwirft ein Szenarium, in dem Kunst-
stoffe aus Erdöl durch Biokunststoffe ersetzt werden.
Andere „Visionäre“ fordern den Ersatz von Benzin
und Diesel durch Biosprit. Energiepflanzen wie Weizen
sollen zur Energieerzeugung eingesetzt werden. Beim
ökologischen Bauen sollen pflanzliche Rohstoffe ver-
stärkt Verwendung finden. Ebenso sollen nachwach-
sende Rohstoffe vermehrt fossile Rohstoffe ersetzen.
Biosprit, Energiepflanzen, neue Verwendung als Ersatz
fossiler Rohstoffe, traditioneller Einsatz in Möbel- und
Textilindustrie. Die Einsatzmöglichkeiten von Bio-
masse, oder einfacher ausgedrückt von Pflanzen, sind
riesig und laufend kommen neue hinzu.
Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: die Nah-
rungsmittelproduktion.
Die Erzeugung von Biosprit, Biokunststoff und Ener-
giepflanzen steht in Konkurrenz zur Nahrungsmittelpro-
duktion. Wollen wir die Anbauflächen von Nahrungs-
mitteln verringern? Wollen wir den Einsatz gentechnisch
veränderter Pflanzen?
Meiner Meinung nach müssen wir die grundsätzli-
chen Fragen der Nutzung von Biomasse erst einmal klä-
ren, bevor wir immer neue Verwendungsformen fördern.
Die Anbauflächen in Deutschland und Europa sind
begrenzt. Aus diesem Grund stehen die verschiedenen
Nutzungsformen der Pflanzen in Konkurrenz. Wir kön-
nen nicht einfach so tun, als ließen sich die Pflanzenwelt
und ihre Produkte unendlich nutzen.
Wir müssen uns grundsätzlich überlegen, welche Nut-
zung der Pflanzenwelt bzw. Biomasse in welchem Um-
fang und welcher Form wir wollen. Wir müssen auch die
wirtschaftlichen Konsequenzen genau feststellen. All
diese Fragen und viele Einzelaspekte sind zu klären.
Ich verweise zum Beispiel auf den Arten- und Natur-
schutz. Natürlich können wir die Produktion von Ener-
giepflanzen und Biokunststoffen durch großflächigen
Monoanbau steigern. Nach derzeitigem Stand ist der
großflächige Anbau in Monokulturen notwendig.
Ein solcher Anbau schädigt aber die pflanzliche und
tierische Artenvielfalt. Wollen wir also einen verminder-
ten Arten- und Naturschutz, weil der verstärkte Einsatz
nachwachsender Rohstoffe dem Klimaschutz dient?
9980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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Kurz erwähnen möchte ich in diesem Zusammen-
hang, dass wir uns für eine nachhaltige biologische
Landwirtschaft in der Nahrungsmittelproduktion einset-
zen. Also das Gegenteil dessen, was beim Anbau indus-
triell genutzter Pflanzen ökonomisch sinnvoll ist.
Ungeklärt ist auch der Einsatz der Gentechnik in die-
sem Bereich. Manche Vertreter aus der Wirtschaft befür-
worten den Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen.
Sie argumentieren damit, dass Energiepflanzen und
nachwachsende Rohstoffe nicht in den Nahrungskreis-
lauf gelangen. Auf den ersten Blick stimmt dies. Auf den
ersten Blick erscheint der Einsatz grüner Gentechnik
auch wirtschaftlich sinnvoll.
Schnelleres Wachstum im Allgemeinen, höheres
Energiepotenzial bei Energiepflanzen, mehr Stärke für
die Produktion von Biokunststoffen, gentechnisch ist das
machbar.
Aber stimmt es wirklich, dass es keine Auswirkungen
auf den Nahrungsmittelkreislauf gibt? Ich bin skeptisch.
Vor allem aber bin ich der Meinung, dass hier genauer
untersucht werden muss.
Meiner Meinung nach entspricht die derzeitige Förde-
rung von Biokunststoffen in der 3. Novelle der Verpa-
ckungsverordnung den Notwendigkeiten.
Bevor wir jedoch konkrete Schritte für eine zusätzli-
che Förderung einleiten, müssen wir die grundsätzlichen
Fragen klären.
Im Rahmen der jetzigen 5. Novelle der Verpackungs-
verordnung lehne ich aus zeitlichen Gründen und den er-
wähnten grundsätzlichen Fragen eine weitere Förderung
von Biokunststoffen ab.
Ich plädiere dafür, zeitnah die aufgeworfenen Fragen
zu klären und erst dann weitere Fördermaßnahmen für
Biokunststoffe aufzulegen.
Horst Meierhofer (FDP): Wieder einmal steht uns
eine Novelle der Verpackungsverordnung bevor – die
fünfte mittlerweile. Für die Grünen ist dies der Anlass zu
fordern: „Weg vom Öl im Kunststoffbereich – Chancen
der Verpackungsverordnung nutzen und mit Biokunst-
stoffen echte Kreisläufe schließen“.
Wenn ich mir den Feststellungsteil des Antrags an-
schaue, kann ich in vielen Punkten nur zustimmen:
Auch die FDP ist der Meinung, dass nach mittlerweile
gut 15 Jahren Verpackungsverordnung eine kritische
Überprüfung mehr als überfällig ist. Keine Frage, die
Einführung der gelben Säcke Anfang der 1990er-Jahre
war gut und richtig, um den damaligen Verpackungsber-
gen Herr zu werden. Wir sagen aber auch: Die Zeiten ha-
ben sich geändert. Moderne Techniken sind teilweise in
der Lage, Hausmüll und Wertstoffe maschinell zu tren-
nen. Wenn man bedenkt, dass vor allem in Ballungsräu-
men der Inhalt von Restmülltonne und gelbem Sack na-
hezu identisch ist, muss man sich meiner Meinung nach
schon fragen, ob die Trennung von Hand wirklich noch
überall sinnvoll ist.
Darüber erreicht das Grüne-Punkt-System für einen
Milliardenaufwand gerade einmal 0,3 Prozent der Ge-
samtabfallmasse in Deutschland. Während wir unsere
Joghurtbecher im Idealfall brav in den gelben Sack wer-
fen, wandern stoffgleiche Nichtverpackungen nach wie
vor in den Restmüll.
Kurzum: Auch die FDP ist der Meinung, dass die Ver-
packungsverordnung anstelle von weiteren „Reförm-
chen“ grundlegend überarbeitet werden muss. Nur die
haushaltsnahe Entsorgung der Verkaufsverpackungen si-
cherzustellen reicht nicht aus. Und alle wie wir hier sit-
zen wissen eigentlich schon jetzt, dass die 5. Novelle
nicht die letzte sein wird. Anstatt der geplanten Novelle
ist es deshalb Zeit für den großen Wurf. Die Abfallwirt-
schaft in Deutschland muss vom Kopf auf die Füße ge-
stellt werden.
Aber – spätestens hier ist es vorbei mit der trauten
Zweisamkeit, Frau Kotting-Uhl – auch Ihr Antrag ist
nicht mehr als ein – wenn auch begrüßenswertes – „Re-
förmchen“. Mehr Anreize für den Einsatz sogenannter
Biokunststoffe zu schaffen, löst die derzeitigen Pro-
bleme rund um die Verpackungsverordnung nicht grund-
legend. Natürlich ist der Einsatz von Biokunststoffen,
soweit möglich, gut: Biokunststoffe sind bei ihrer ener-
getischen Verwertung klimaneutral, darüber hinaus bio-
logisch abbaubar und sie führen uns weg von der sehr
endlichen Ressource Öl. Ein höherer Marktanteil wäre
deshalb sicherlich wünschenswert.
Trotz alledem: Der Einsatz von Biokunststoffen bietet
nur geringe Möglichkeiten, sich von der endlichen Res-
source Öl unabhängiger zu machen und Treibhausgase
einzusparen. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass rund
10 Prozent des gesamten Erdölimportes in den Bereich
der Chemie und Kunststoffproduktion gehen. Lässt man
die Chemie weg, so sind es gerade einmal 4 Prozent des
Erdöls, die Ausgangsmaterial für Kunststoffe sind. Ein
Tropfen auf den heißen Stein, vor allem wenn man be-
denkt, dass nicht alle Kunststoffe durch Biokunststoffe
ersetzt werden können.
Hinzu kommt, dass es bislang keine einheitliche Linie
gibt, was die Förderung bzw. Nichtförderung nachwach-
sender Rohstoffe angeht: bei den erneuerbaren Energien
haben wir das EEG, bei erneuerbarer Wärme gibt es
nichts. Bei den Biokraftstoffen haben wir wiederum die
Beimischungspflicht. Und jetzt auch noch die Biokunst-
stoffe, die übrigens auch jetzt schon bis Ende 2012 privi-
legiert sind, wenn Sie einmal in die Übergangsvorschrif-
ten der Verpackungsverordnung schauen! Alles nicht
gerade systematisch!
Im Übrigen sind wir der Meinung, dass die energeti-
sche Verwertung generell und nicht nur bei den Bio-
kunststoffen ökologisch und ökonomisch sinnvoll sein
kann. Schließlich ersetzt sie fossile Energieträger wie
Kohle, Gas und Öl. Und schließlich sind es nicht die
stofflichen Verwertungsquoten, sondern erst die Verrin-
gerung von Emissionen, die zu einer Entlastung der Um-
welt führen. Die Rolle des Staates sollte sich deshalb
darauf beschränken, die Höhe der Emissionen festzule-
gen. Wie diese Restriktionen kosteneffizient erfüllt wer-
den können, muss dem Markt überlassen bleiben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9981
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Fazit: Das System insgesamt muss sich öffnen. An
einzelnen Stellen herumzudoktern, bringt auf lange Sicht
nichts. Was wir – über den Einsatz von Biokunststoffen
hinaus – brauchen, ist ein flexibles System, in dem duale
Systeme, maschinelle Sortierung und thermische Ver-
wertung miteinander konkurrieren können.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich kann vo-
rausschicken, dass wir den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen unterstützen. Verpackungen aus bio-
logisch abbaubaren Werkstoffen machen in mehrerer
Hinsicht Sinn.
Erstens. Sie können auf der Basis nachwachsender
Rohstoffe wie Stärke, Zucker, Zellulose, Pflanzenöle
oder Proteine hergestellt werden. Der Vorteil liegt auf
der Hand: Wir sparen wertvolle fossile Rohstoffe und
vermindern den Ausstoß von Kohlendioxid.
Zweitens. Sie fördern den Gedanken der Kreislauf-
wirtschaft. Hier wird am Produkt angesetzt und nicht
nachher aufwendig getrennt und recycelt. Dadurch wird
übrigens wiederum Energie eingespart.
Drittens. Sie verringern weitere Abfallprobleme wie
das Vermüllen, und zwar dadurch, dass weggeworfene
Verpackungen schnell in der Umwelt schadlos zersetzt
werden.
Und viertens schaffen sie Einkommensalternativen
für die deutsche Landwirtschaft.
Unserer Ansicht nach sollten nicht nur Verpackungs-
materialien aus biologisch abbaubaren Werkstoffen her-
gestellt werden, sondern auch Einweggeschirr oder
Folien für den Garten und den Landschaftsbau. Anwen-
dungsbereiche sind auch Produkte wie Bindegarne oder
Pflanztöpfe.
Um die Anwendung im Landschaftsbau oder in der
Landwirtschaft voranzubringen sollte schnellstmöglich
eine DIN-Norm entwickelt werden, die die Abbaubar-
keit im Freilandbereich regelt. Denn wie wir von der
Forschungsgemeinschaft Biologisch Abbaubare Werk-
stoffe, FBAW, in Hannover wissen, bestehen einige Pro-
dukte aus diesem Bereich aus einem Verbund von nach-
wachsenden und nicht nachwachsenden Rohstoffen. Es
muss aber gewährleistet sein, dass das Produkt in jedem
Fall vollständig biologisch abbaubar ist. Das kann eine
DIN-Norm leisten.
Eine solche DIN-Zertifizierung wurde bereits auf Ini-
tiative von European Bioplastics und FBAW für den Be-
reich Biokompostierung entwickelt. Allerdings fehlt es
hier noch an einer entsprechenden Regelung in der Bio-
abfall-Verordnung. Nach der muss nämlich momentan
Bioabfall zu 100 Prozent aus nachwachsenden Rohstof-
fen bestehen. Es ist jedoch nicht einsichtig, dass Verpa-
ckungen, die lediglich zu einem geringen Teil aus nicht
nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wurden, aber
entsprechend der DIN EN 13432 nachweislich vollstän-
dig kompostierbar sind, der Weg in die Biotonne verbaut
wird.
In den Niederlanden, Großbritannien, Italien und der
Schweiz gibt es diese Einschränkung nicht. Die Anwen-
dung solcher Verpackungen hat davon profitiert.
Biologisch abbaubare Verpackungen müssen also aus
unserer Sicht nicht in jedem Fall vollständig aus nach-
wachsenden Rohstoffen gemacht sein, obwohl das viel-
leicht ökologisch der konsequenteste Weg wäre. Aber
man muss ja die Sache technisch-ökonomisch nicht
schwieriger gestalten, als sie ohnehin ist. Davon hat
dann die Umwelt auch nichts.
Die Linke unterstützt das Anliegen der Grünen, recht-
lich den Weg für die Verbrennung von Bioverpackungen
freizugeben. Die energetische Nutzung wäre hier weitge-
hend CO2-neutral und es würde für bestimmte mögliche
Anwendungen den letzten Kick für eine positive Bilanz
geben. Damit kann die Anwendung solch innovativer
Materialien nach vorn gebracht werden.
Die rot-grüne Bundesregierung hat von April 2001
bis März 2002 einen Demonstrationsversuch in Kassel
zur verstärkten Verwendung kompostierbarer Verpa-
ckungen in der kommunalen Bioabfallsammlung gestar-
tet. Es gab bereits hoffnungsvolle Ergebnisse. Auch in
anderen Forschungsprojekten wurden öffentliche Mittel
investiert.
Nun käme es darauf an, die Entwicklung dieser Werk-
stoffe von der Bundesregierung weiterhin nach vorn zu
bringen. Neben den rechtlichen Schritten wären das
Maßnahmen im Bereich der Materialentwicklung und
Produktanwendung sowie der Forschungsförderung.
Nicht zuletzt muss die Produktkennzeichnung verbes-
sert und die Bevölkerung besser aufgeklärt werden.
Denn es wäre schade, wenn die Bioverpackungen am
Ende in der falschen Tonne landen.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die ökologische, ökonomische und friedenspolitische
Notwendigkeit zur Abkehr vom Erdöl als Rohstoff und
Energieträger ist unbestritten. Es ist die zentrale Zu-
kunftsherausforderung unserer Gesellschaft, unser Wirt-
schaftssystem auf eine Basis erneuerbarer Ressourcen
umzustellen. Im Bereich der Bioenergien haben wir be-
reits einiges erreicht, bei der Produktion von Waren und
Gütern stehen wir dagegen noch ganz am Anfang der
notwendigen Umstellung auf eine erneuerbare Ressour-
cenbasis. Vor allem in der Chemie- und Kunststoffindus-
trie sind wir noch immer zu über 90 Prozent vom impor-
tierten Rohstoff Erdöl abhängig, was neben den
ökologischen Problemen vor allem immense wirtschaft-
lichen Risken birgt.
Obwohl derzeit nur etwa 10 Prozent des gesamten
Erdölimportes in den Bereich der Chemie- und Kunst-
stoffproduktion gehen, sind die in diesem Bereich un-
mittelbar angesiedelten Beschäftigungsverhältnisse von
großer Bedeutung. Nach Angaben des Statistischen Bun-
desamtes von 2005 sind im Bereich der Chemie- und
Kunststoffindustrie über 800 000 Menschen unmittelbar
beschäftigt. Gehen fossile Rohstoffe wie Erdöl und Erd-
gas zur Neige, gibt es in der Chemie- und Kunststoffin-
dustrie keine andere Alternative als die Nutzung von Bio-
9982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
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masse. Es kommt deshalb darauf an, jetzt die
notwendigen Weichenstellungen vorzunehmen. Produk-
te auf regenerativer Rohstoffbasis müssen gefördert und
vor allem aber bestehende Hemmnisse wie die im Ab-
fallrecht abgebaut werden.
Die Umstellung der Rohstoffbasis in der Chemie ist
jedoch nicht nur eine wirtschaftspolitische Notwendig-
keit, sondern vor allem auch eine ökologische. Kunst-
stoffe sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken,
sie haben unbestritten viele Vorteile in der Nutzung; hin-
sichtlich ihrer Recyclingeigenschaften sind sie jedoch
problematisch. Echte Kreislaufprodukte sind es nicht.
Statt dessen steht am Ende des Recyclingprozesses meist
ein minderwertigeres Produkt, das früher oder später
doch in der Verbrennungsanlage landet.
es klar und unmissverständlich heißt, „dass eine ökologi-
sche Industriepolitik mehrere Dinge gleichzeitig leisten
muss, unter anderem die stoffliche Basis der Industrie in
wichtigen Bereichen zunehmend auf nachwachsende
Rohstoffe umzustellen.“
Ihre tatsächliche Politik, Herr Minister, ist aber wie so
oft eine andere. Sie lassen Ihren Ankündigungen keine
Taten folgen. Sie machen sogar das Gegenteil, indem sie
im vorliegenden Referentenentwurf zur fünften Novelle
die bisher geltende Freistellung von der Verpflichtung
zur Teilnahme an einem Dualen System für alle Bio-
kunststoffe bis 2012 wieder einschränken und die pfand-
freien Getränke aus der Befreiung ausnehmen wollen.
Sie tun dies, obwohl Biokunststoffe am Verpackungs-
markt gerade erst am Start stehen.
Ein Ausstieg aus dem Downcycling von Kunststoffen
gelingt jedoch mit Biokunststoffen. Durch den Einsatz
lang- und kurzlebiger Biokunststoffe auf der Basis nach-
wachsender Rohstoffe eröffnet sich für Kreislaufwirt-
schaft- und Abfallpolitik eine neue Perspektive. Wäh-
rend die bisherige Abfallgesetzgebung – insbesondere
die Verpackungsverordnung – aus Gründen des Ressour-
censchutzes ein möglichst hochwertiges werkstoffliches
Recycling zum Ziel hat, können Produkte auf regenerati-
ver Basis entweder recycelt werden oder durch eine
energetische Verwertung in einen echten Kreislauf ge-
führt werden. Durch den Anteil an biogenem Kohlen-
stoff kann zum Beispiel klimaneutral Strom und Wärme
erzeugt werden. Es gibt keinen Treibhausgaseffekt, denn
nachwachsende Rohstoffe werden durch Sonnenlicht aus
Wasser und CO2 ständig neu gebildet, und nur diese
Komponenten werden bei der Verwertung wieder freige-
setzt. Biokunststoffe sind auch keine Konkurrenz zu den
Bioenergien, sondern ganz im Gegenteil eine sinnvolle
Ergänzung. So wird Biomasse zuerst stofflich genutzt
und erst anschließend energetisch. Solche Nutzungskas-
kaden erhöhen die Unabhängigkeit vom Erdöl, ohne den
Bedarf an Anbaufläche zu vergrößern.
Diese Chancen durch Biokunststoffe werden aber
noch immer viel zu wenig erkannt und genutzt, die Bun-
desregierung ist in dieser Hinsicht untätig. Herr Minister
Gabriel, ich möchte Sie an dieser Stelle gerne an das von
Ihnen in Oktober 2006 vorgelegte Memorandum für ei-
nen „New Deal“ von Wirtschaft, Umwelt und Beschäfti-
gung zur ökologischen Industriepolitik erinnern, in dem
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
Sie verstehen unter Produktverantwortung lediglich
die Existenzsicherung der Dualen Systeme, aber nicht
die Chance ökologischer Innovationen, die sie selber
doch immer so vehement an anderer Stelle einfordern.
Die Verpackungsverordnung bietet tatsächlich die
Chance, den Umstieg wichtiger Wirtschaftsbereiche auf
nachwachsende Rohstoffe zu forcieren. Der Verpa-
ckungsmarkt ist derzeit einer der wenigen, in denen
Kunststoffe auf der Basis nachwachsender Rohstoffe
überhaupt eine Rolle spielen und marktreife Produkte
angeboten und vertrieben werden.
Wenn es gelingt, Biokunststoffe im Verpackungs-
markt zu etablieren, bringt das die notwendige Dynamik,
um auch in den anderen Wirtschaftsbereichen den not-
wendigen Wechsel hin zu erneuerbaren Ressourcen zu
vollziehen. Kunststoffe auf der Basis nachwachsender
Rohstoffe sind eine Chance für Umwelt und Wirtschaft.
Herr Minister, lassen Sie ihren Ankündigungen end-
lich mal Taten folgen und sorgen Sie dafür, dass anstelle
eines weiteren Reförmchens des bestehenden Systems,
die Verpackungsverordnung grundlegend mit dem Ziel
überarbeitet wird, Anreize für die Umstellung von erdöl-
basierten Kunststoffen auf Biokunststoffe aus nach-
wachsenden Rohstoffen zu setzen. Sorgen Sie dafür,
dass die Verpackungsverordnung konsequent in Rich-
tung Ressourcenschutz weiterentwickelt wird und die
Verwendung der nachwachsenden Rohstoffbasis zusam-
men mit der biologischen Abbaubarkeit als Produktver-
antwortung anerkannt wird.
nd 91, 1
2, 0, T
22
97. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11