Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9275
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genannte irreversible tödliche Krankheiten? Was nütztMargareta DIE GRÜNEN
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
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Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
von Bismarck,
Carl-Eduard
CDU/CSU 29.03.2007
Bulmahn, Edelgard SPD 29.03.2007
Burchardt, Ulla SPD 29.03.2007
Dreibus, Werner DIE LINKE 29.03.2007
Ernstberger, Petra SPD 29.03.2007
Friedhoff, Paul K. FDP 29.03.2007
Gabriel, Sigmar SPD 29.03.2007
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 29.03.2007
Griefahn, Monika SPD 29.03.2007
Hilsberg, Stephan SPD 29.03.2007
Kolbe, Manfred CDU/CSU 29.03.2007
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 29.03.2007
Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 29.03.2007
Lopez, Helga SPD 29.03.2007
Merten, Ulrike SPD 29.03.2007
Raidel, Hans CDU/CSU 29.03.2007
Roth (Esslingen), Karin SPD 29.03.2007
Runde, Ortwin SPD 29.03.2007
Schily, Otto SPD 29.03.2007
Seehofer, Horst CDU/CSU 29.03.2007
Thiele, Carl-Ludwig FDP 29.03.2007
Thönnes, Franz SPD 29.03.2007
Weisskirchen
(Wiesloch), Gert
SPD 29.03.2007
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 29.03.2007
Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 29.03.2007
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Anlagen zum Stenografischen Bericht
nlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung: Patientenverfügungen (Tages-
ordnungspunkt 3)
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des
enschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ Die
rage des Psalmisten, was den Menschen – und damit
uch seinen Willen – denn ausmacht, ist Ausgangspunkt
einer Überlegungen und meiner Zweifel an der Sinn-
aftigkeit einer neuen gesetzlichen Regelung für die
irksamkeit und Reichweite einer Patientenverfügung.
ie Frage ist: Sind wir immer derselbe Mensch? Oder ist
icht vielmehr richtig, dass die Welt sich ändert und wir
ns in ihr?
Meine Erfahrung aus über sechs Jahren Tätigkeit in
er Altenpflege ist, dass Menschen aus Angst vor
rankheit und Behinderung den Wunsch äußern, für den
all einer bestimmten Einschränkung ihrer Gesundheit
terben zu wollen. Als manche dieser Menschen tatsäch-
ich in die Situation kamen, dass ihre Gesundheit so ein-
eschränkt war, äußerten sie auf einmal einen aktuellen
illen zum Leben. Sie konnten ihrem Leben mit all sei-
en Einschränkungen genügend abgewinnen, was sie
ich noch als Gesunde nicht vorstellen konnten.
Vor diesem Hintergrund bin ich von der Notwendig-
eit eines neuen Gesetzes noch nicht überzeugt. Jede
nordnung oder Unterlassung einer medizinischen Be-
andlung muss sich am aktuellen Willen des Patienten
rientieren. Alles andere ist mindestens eine Körperver-
etzung.
Auf jeden Fall darf eine Regelung nicht einen vergan-
enen Willen eins zu eins für den aktuellen Willen hal-
en. Man würde sich sonst über einen zentralen Gesichts-
unkt des Menschseins hinwegsetzen.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Bei der De-
atte um Patientenverfügungen sollten wir uns von zwei
anz grundlegenden Werten leiten lassen: von der
elbstbestimmung und von der Würde des Menschen.
eder Mensch sollte die Möglichkeit haben, in jeder Si-
uation möglichst selbstbestimmt zu handeln. Das zum
inen. Zum anderen sollte jeder Mensch in jeder Situa-
ion, also auch bei Krankheit – egal, wie lebensbedroh-
ich diese ist –, seine Würde bewahren dürfen. Diesen
aßstab setzt allein schon das Grundgesetz in seinem
rt. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
iese beiden Aspekte gehören für mich untrennbar zu-
ammen.
Was hat es für einen Sinn, in einer Patientenverfü-
ung selbstbestimmt und rechtlich klar festzulegen, dass
an beispielsweise bei unheilbarer Krankheit in Würde
terben will, wenn diese Verfügung keine bindende Wir-
ung entfaltet? Oder wenn sie eingeschränkt ist auf so-
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eine Verfügung, wenn der Arzt den klaren Willen des Pa-
tienten mehr als eine Kann-Bestimmung betrachtet?
Oder wenn die Verwandtschaft über ein Vormund-
schaftsgericht den Willen des Patienten leicht aushebeln
kann?
Bei der Frage, wie verbindlich eine Patientenverfü-
gung sein soll, gibt es meiner Ansicht nach einen Rege-
lungsbedarf. Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Es geht
nicht darum, dass sich Politiker „in jede Sterbesituation“
einmischen wollen, wie mancher Verbandsvertreter wet-
tert – nein, es geht darum, einen rechtlichen Rahmen zu
setzen, der einen selbstbestimmten und würdevollen
Umgang der Betroffenen mit ihrem eigenen Schicksal
ermöglicht. Das schafft nicht nur für die Patienten Klar-
heit, sondern auch für Ärztinnen und Ärzte. Auch diese
brauchen Rechtssicherheit.
Man sollte hier allerdings nicht zu viel vom Gesetzge-
ber erwarten. Krankheit und Sterben sind sehr individu-
elle Vorgänge. Auch gesetzlich geregelte Patientenverfü-
gungen werden nicht alle Wechselfälle des Lebens
voraussehen und erfassen können. Gerade auf diesem so
sensiblen Feld menschlichen Lebens brauchen wir einen
humanen Umgang mit Kranken und Sterbenden. Dazu
gehört, deren Wille zu respektieren. Und wenn ich mir
hier eine persönliche Bemerkung erlauben darf: Ich zum
Beispiel will nicht bis an mein Lebensende an Apparaten
dahinvegetieren.
Natürlich kann es passieren – und es passiert sicher
jeden Tag –, dass Kranke sich schon aufgegeben haben
und das Weiterleben für sinnlos halten. Dabei bestünde
ärztlicherseits durchaus noch die Chance zu einer Ver-
besserung ihrer Lage. In diesem Punkt halte ich – bevor
eine Patientenverfügung verfasst wird – die ausführliche
Beratung durch den behandelnden Arzt oder den Arzt
des Vertrauens für wichtig. Damit diese Beratung nicht
an finanziellen Problemen scheitert, ist es unter Umstän-
den überlegenswert, diese über die Krankenkassen abre-
chenbar zu gestalten.
Ergänzend zur Patientenverfügung sollte weiterhin
die Möglichkeit zu einer Vorsorgevollmacht bestehen.
Diese sollte aber nicht so gestaltet sein, dass der in der
Patientenverfügung niedergelegte Wille des Patienten
letztlich ausgehebelt werden kann.
Zu achten ist meiner Ansicht nach auch auf gewisse
zeitliche Nähe. Heutzutage werden schon in jungen Jah-
ren Patientenverfügungen verfasst, die festlegen, was
möglicherweise erst ab jenseits des 50. Lebensjahres
eintritt. Eine Notwendigkeit, vorsorgliche Patientenver-
fügungen beispielsweise alle zehn Jahre zu erneuern,
schützt Menschen, die ihre Meinung im Laufe des Le-
bens ändern, vor unbeabsichtigten Folgen.
Die Einschränkung der Patientenverfügung auf irre-
versible Leiden, die mit an Sicherheit grenzender Wahr-
scheinlichkeit zum Tode führen, ist unlogisch und unak-
zeptabel. Die Maßstäbe dessen, was irreversibel ist,
können sich schon morgen ändern, dann ist auch die Pa-
tientenverfügung hinfällig. Die Einschränkung über-
sieht darüber hinaus, dass Menschen auch aus anderen
Gründen als unheilbar tödlichen Krankheiten ihrer Fä-
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igkeit beraubt werden können, ihren Willen gegenüber
en Ärzten klar zu äußern. Das betrifft beispielsweise
achkomapatienten oder psychisch Erkrankte.
Der Umgang mit Patientenverfügungen ist ein sensib-
es Thema. Wir sollten gemeinsam sorgsam damit umge-
en.
Otto Fricke (FDP): Alles hat seine Zeit. Reden hat
eine Zeit, Schweigen hat seine Zeit. Debattieren hat
eine Zeit, Beschließen hat seine Zeit. Lieben hat seine
eit, Geliebt werden hat seine Zeit. Verantwortung über-
ehmen hat seine Zeit, Loslassen hat seine Zeit. Gebo-
enwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit.
Die Lebenserwartung von uns Menschen ist in den
etzten Jahrzehnten drastisch gestiegen – dennoch ist sie
ndlich, und auch das Sterben hat stets seine Zeit. Doch
ie erkennen wir für uns, für unsere Angehörigen, für
nsere Patienten, wann es an der Zeit ist, zu sterben, den
od zu erwarten und ihm nichts mehr entgegenzusetzen?
er vorsorglich dokumentierte Wille des Betroffenen, in
orm einer Patientenverfügung, ist dabei sehr hilfreich.
eswegen ist mir dieses Thema wichtig, und ich mache
ich seit langem für eine möglichst klare und möglichst
erlässliche, gesetzliche Regelung stark. Doch sollte die-
er hinterlegte Wille, der in einer Situation erklärt
urde, die der Betroffene mit all seinen Umständen
och gar nicht kannte, die einzige und alleinige Ent-
cheidungsgrundlage sein?
Es ist nicht an mir, mich heute zu offenbaren. Ich
abe mich längst positioniert: Welcher Position ich zu-
eige, können Sie aus dem Rubrum eines Antrages erse-
en, der ihnen vorliegt. Das mindert die Überraschung
nd räumt mir doch gleichsam ein Privileg ein: Ich habe
hnen heute nicht zu erklären, was ich denke, sondern,
arum ich es denke. Das will ich tun.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich werbe in dieser
ebatte für die Selbstbestimmung des Menschen und
ede nicht gegen sie. Ich werbe für sie als Abgeordneter,
ls Familienvater, als Liberaler und – ich sage das be-
usst – als Christ. Doch ich werbe auch dafür, dass wir
elbstbestimmung nicht reduzieren auf das, was ein
ensch in einem Moment will, und nicht schon darin se-
en, was ein Mensch in einem Moment einmal schrift-
ich niedergelegt hat.
Die Frage, um die es heute geht, ist zu schwierig, als
ass sie einfache Rechnungen erlaubte. Die einfachste
echnung ist diese: Je weiter Patientenverfügungen zu-
elassen werden und je unbedingter sie Beachtung fin-
en, umso mehr ist dem Selbstbestimmungsrecht Ge-
üge getan. In diesem Freiheitsverständnis liegt ein
ehlschluss.
Meine Überzeugung ist: Es ist gerade das Selbstbe-
timmungsrecht, das dazu mahnt, sorgsam mit Verfügun-
en umzugehen, ihre Reichweite bedacht zu begrenzen
nd ihre Verbindlichkeit verständig zu deuten. Das mag
aradox erscheinen: Da redet einer für eine Begrenzung
er äußeren Selbstbestimmung im Namen der inneren
elbstbestimmung. Da spricht einer für Grenzen im Na-
en der Freiheit. Da wirbt einer für eine Haltung, die
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von Verantwortung gefüttert ist. Ich will darstellen, was
mich dahin leitet und warum die vermeintlichen Para-
doxa nur scheinbare sind.
Ich bin selbst Familienvater. Mit meiner Frau habe ich
drei Kinder. Wie wir es mit der Familie und den Kindern
halten, ist für mich eine Gretchenfrage, an der sich eine
ethische Entscheidung wesentlich zu messen hat.
Wie aber könnte ein Fall aussehen: Da hat ein Vater
keine rechte Lust mehr auf das Leben und trifft eine Pa-
tientenverfügung, im Falle eines Unfalls keine Bluttrans-
fusionen zuzulassen. Da geschieht dieser Unfall; verliert
er Blut, ist er auf Transfusionen sofort angewiesen. Soll
dann tatsächlich diese Verfügung maßgeblich sein? Soll
dem Vater die mögliche und zumutbare Transfusion
nicht angehen dürfen, weil er das so will und obwohl er
so viele hinterlässt? Reicht es, zu sagen: „Er will das
doch so“, um das Unglück der Frau und Kinder zu recht-
fertigen?
„Er will das doch so“ – das könnte reichen, wenn man
Selbstbestimmung bloß als die prinzipiell unbegrenzbare
Möglichkeit der Entscheidung eines Subjektes über all
seine eigenen Angelegenheiten versteht. „Er will das
doch so“ – ist das aber nicht vielleicht zu wenig? Ist das
Individuum, das sonst so in Beziehungen so sehr einge-
bunden ist, in diesen Einschränkungen plötzlich wieder
so unbegrenzt? Das Individuum als Autokrat über sich
selbst – kann das die Selbstbestimmung sein, die wir
meinen und wollen?
Die Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen. Kein
Mensch steht für sich allein. Der Mensch schmiedet
nicht an seinem Glück allein, sondern an dem vieler an-
derer – mehr oder minder – mit. Selbstbestimmung fin-
det im Egoismus nicht ihren Grund, sondern ihre
Grenze.
Uns allen gebührt Freiheit. Wie aber unsere Freiheit
beschaffen ist, bestimmen wir selbst. Das ist das Wun-
derbare an der Freiheit: dass sie nicht rasch verwelkt und
gleich vergeht, sondern dass sie Früchte trägt, die von
Dauer sind. Die reichste Frucht der Freiheit sind die Bin-
dungen, die wir frei eingehen, und die Verantwortung,
die wir frei übernehmen – die festen Räume der Entfal-
tung, die wir uns frei schaffen, und der befreiende Aus-
bruch aus der Enge der isolierten eigenen Existenz. Frei-
heit verwirklicht sich in der Verantwortung, die wir
herstellen können. Aber Verantwortung prägt auch Frei-
heit. Sie erhebt die Verwirklichung der Freiheit vom
Ausdruck in einem bestimmten Moment zur Entfaltung
in der Zeit.
Die selbst bestimmte Verantwortung ist daher nicht
von jetzt auf gleich ohne Belang, nur weil wir das nicht
mehr wollen, was wir frei gewählt haben. Für Juristen ist
das selbstverständlich: Pflichten, die man übernimmt,
beschränken die spätere Deutungshoheit über die eigene
Autonomie. Nicht jedes juristische Ergebnis ist gleich
ethisch richtig.
Ich komme zurück zu dem Familienvater: Wer eine
Familie gründet und Kinder in die Welt setzt, dessen
Freiheit ist durch Verantwortung geprägt. Begibt er sich
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einer Pflichten, im Leben oder durch den erwählten
od, übt er zwar einen Akt der Selbstbestimmung über
as eigene, aber noch mehr einen der Fremdbestimmung
ber anderer Leben, das seiner Familie, aus. Die selbst
estimmte Entscheidung jetzt hat gegenüber der selbst
estimmten Bindung früher ein geringeres Gewicht. Es
st deshalb kein Akt der Fremdbestimmung, sondern die
erwirklichung fortwirkender Selbstbestimmung, dem
amilienvater oder der Mutter – den eigenen Tode nicht
u gewähren.
Freiheit in Verantwortung setzt dem eigenen Willen
renzen. Auch für die Patientenverfügung gelten diese
renzen. Es ist daher richtig, Patientenverfügungen in
er Reichweite zu begrenzen: Nicht jeder Anlass genügt.
rst der unumkehrbar tödlich verlaufende Krankheits-
rozess vermag die Grenzen der eigenen Selbstbestim-
ung aufzuheben. Erst er erlaubt die Verfügung; denn
ann ist es die Frage, wann die Zeit zum Sterben kom-
en soll, nicht, ob.
Eine zweite Frage ist zu stellen: Ist eigentlich eine Pa-
ientenverfügung Ausdruck der Selbstbestimmung, und
ann kann sie es sein? Wie verlässlich spiegelt der nie-
ergelegte den tatsächlichen Willen wider? Wie sehr
ermag sie den eigentlichen Willen des Verfügenden zu
reffen, der die Worte seiner Verfügung umsetzt? Ich will
or zu viel Optimismus warnen.
Der Moment der Entscheidung über das eigene Leben
st kaum einmal in idealer Weise frei: Verfügen wir früh,
ann liegt der „Schleier des Nichtwissens“ über uns.
enn wir verfügen über eine Situation, die wir vielleicht
icht einmal ahnen, für einen Menschen, der wir noch
icht sind. Wer weiß heute, wie er morgen denkt? Wer
oll heute wissen, wie er morgen fühlt und was er mor-
en will? Der Wille von gestern wird nicht heute wahr,
ur deshalb, weil er schriftlich niedergelegt ist. Verfügen
ir erst spät, wenn die Situation schon da ist und der
rund unserer Verfügung bereits besteht, dann mag es
urcht sein und Sorge, Schmerz und Verzweiflung, die
ns die Hand leiten. Dann betrifft der Schleier vielleicht
icht mehr unser Wissen, aber unser Wollen doch.
Der Respekt vor der Entscheidung des Nächsten ge-
ietet auch die Akzeptanz der Umstände, unter denen er
ie trifft, und der Möglichkeiten, die er hat. Ich warne
avor, diese schriftliche Verfügungen als Dogma zu se-
en, das schon deshalb gültig ist, weil es geschrieben
urde. Selbst beim Testament, bei dem es „nur“ um den
achlass und nicht mehr um das Leben geht, ziehen wir
ns nicht auf den bloßen Wortlaut zurück, sondern heben
en mutmaßlichen Willen des Erblassers aus Sorge, sei-
en tatsächlichen Willen zu verfehlen, als Auslegungs-
rundlage über den bloßen Text.
Wo wie hier die Entscheidung für oder gegen das Le-
en zu fallen hat, sorge ich mich umso mehr darum, dass
ir allein dem frühen Wort vertrauen und nicht dem spä-
eren Ausdruck des Augenblicks: der Mimik und der
estik. Ich werbe dafür, dass wir auf den ganzen Men-
chen hören, wenn er uns Zeichen sendet, dass er leben
ill. Was auf Papier steht, ist nicht bereits in Stein ge-
eißelt.
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Patientenverfügungen sind notwendig – ein Zweifel
daran besteht nicht. Doch sind sie zugleich in hohem
Maße unsicher und zweifelbehaftet, weil aktueller und
antizipierter Wille nicht gleich, teilweise nicht einmal
ähnlich sind. Das spricht dafür, sie auf die notwendigen
Fälle zu reduzieren – den unumkehrbar tödlichen Krank-
heitsverlauf und das Wachkoma.
Ein dritter Grund leitet mich: die Sorge um die Huma-
nität der Pflege. Es mag Sie verwundern, dies von einem
Liberalen zu hören, und deshalb sage ich es bewusst,
aber mit großem Bedacht: Ich habe Sorge vor einem
Markt, in dem das Leben handelbar wird. Ich habe Sorge
davor, dass auf dem Markt der Pflege und der Betreu-
ung, wo die Ressourcen immer knapper, die Bedürfnisse
jedoch immer größer werden, die Patientenverfügungen
zu einem knappen, marktgängigen Gut werden. Die Vor-
stellung, dass ein Seniorenheim die Aufnahme von Pfle-
genden implizit oder explizit von einer „großzügigen Pa-
tientenverfügung“ abhängig machen könnte – ich habe
oft versucht, sie als unvernünftige, als unwahrscheinli-
che, als abwegige Vorstellung abzutun. Es gelingt mir
nicht. Ich bin daher davon überzeugt: Wenn Patienten-
verfügungen Humanität vermehren sollen und nicht ver-
mindern, dann muss ihre Ausgestaltung von Vorsicht
und Bedacht getragen sein. Die am meisten humanisti-
sche ist nicht stets die humanste Lösung.
Die Beratung heute im Plenum ist nicht der Schluss-
punkt der Debatte, sondern – zumindest formal – ihr An-
fang. Ich hoffe, dass am Ende der Beratung ein Ergebnis
stehen wird, das möglichst viele Kolleginnen und Kolle-
gen mit ihrem Gewissen, mit ihren ethischen Prinzipien
und eventuell ihren religiösen Überzeugungen vereinba-
ren können werden. Die Fragen, die wir hier behandeln,
sind letzte Fragen. Aber eine letzte Antwort auf sie gibt
es nicht. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, am Ende
eine Antwort zu versuchen, die man eine möglichst ge-
meinsame nennen können wird und die einen ethischen
Grundkonsens des Parlaments zu einem Rechtstext ver-
fasst.
Entscheidend für das Ziel, das man erreicht, ist aber
der Weg, den man geht, und damit der Punkt, von dem
aus man ihn beginnt. Beide Ausgangspunkte, die uns ge-
genwärtig zur Wahl stehen, sind nicht vollends die mei-
nen. Der von mir unterstützte Gesetzentwurf aber
kommt der Regelung, die ich mir vorstelle, weit näher.
Die ethischen Linien, die ihn leiten, teile ich, auch wenn
ich ihnen nicht in die Verästelung jedes Einzelergebnis-
ses – etwa die Maßgeblichkeit „guter Sitten“ für die
Wirksamkeit einer Verfügung – folge. Ich habe mich
deshalb entschieden, den Gesetzentwurf mitzustellen.
Ich sage nicht: Was hier vorliegt, ist mein Endergebnis.
Doch es ist mein Ausgangspunkt, ein guter Ausgangs-
punkt.
Ich habe eben von der Verantwortung gesprochen, die
mit Freiheit einhergeht. Sie trifft auch uns. Mit der Frei-
heit des Abgeordneten, die bei einer Gewissensentschei-
dung wie dieser – jedenfalls in meiner Fraktion – zu ih-
rem vollen Recht findet, verbindet sich unsere
Verantwortung für die Entscheidung, die wir in voller
Freiheit treffen können. Sie wird vielleicht uns selbst be-
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reffen, die, die wir lieben, die, die uns nahe stehen, die,
ür die wir hoffen und oft auch beten. Wenn das Be-
usstsein dieser Verantwortung unsere Beratungen trägt,
ird manche Debatte kontrovers und pointiert, aber das
rgebnis ein differenziertes sein.
Und wenn allein schon unsere ernsthafte Debatte
azu führt, dass mehr Menschen auf das Instrument der
erfügung aufmerksam werden, sich informieren und
on ihm Gebrauch machen, dann hat sie mehr bewirkt
ls viele Gesetze an Folgen erbringen.
Ein Letztes: Ich habe den Eindruck, dass unsere Ge-
ellschaft immer mehr nach Sinn, Zweck und Ziel unse-
es Lebens sucht und deshalb die Auseinandersetzung
it dem Ende des Lebens verdrängt, wo immer sie kann.
ie Auseinandersetzung mit dem Tod macht uns unsere
ndlichkeit bewusst, sie zeigt aber zugleich deutlich,
ie sehr wir uns mit dem Jetzt und dem Hier auseinan-
ersetzen müssen. So paradox es auch klingen mag: Das
ewusstsein vom Tode schärft die Bewusstheit des Le-
ens. Nur wer weiß, dass alle Entwicklung ein Ende hat,
ann seine eigene Entwicklung gestalten. Nur wer nicht
bersieht, wie knapp die Zeit auf Erden ist, wird jene
eit, die ihm gegeben ist, nutzen.
Unsere Konfrontation mit dem Ende des Lebens, die
anches Mal nahezu ein Tabu in unserer Gesellschaft
st, finden wir in den Bereichen Organspende, Testament
nd eben der Patientenverfügung am deutlichsten. Eine
oderne Gesellschaft muss aber die Auseinandersetzung
it dem Thema suchen. Alleine deshalb ist die parla-
entarische Debatte über die beste Lösung schon ein
eil derselben. Denn Glück ist kein Ziel des Lebens,
ondern ein wesentlicher Teil desselben.
Norbert Geis (CDU/CSU): Die Patientenverfügung
tellt eine Möglichkeit dar, die Selbstbestimmung fort-
elten zu lassen, wenn die aktuelle Entscheidungsfähig-
eit verloren gegangen ist.
Die Zahl der im Umlauf befindlichen Formulare für
ine Patientenverfügung beträgt weit über hundert. Die
ründe für das Interesse sind unterschiedlich. Eine
roße Rolle spielt die Angst vieler alleinlebender alter
enschen. Sie spüren von Tag zu Tag mehr, wie die Le-
enskräfte schwinden und sie mehr und mehr auf andere
enschen angewiesen sind. Sie wollen nicht, dass sie
ann, wenn sie sich selbst nicht mehr bestimmen kön-
en, von den Entscheidungen fremder Menschen abhän-
ig und ihnen hilflos ausgeliefert sind.
Hinzu kommen die Forschritte in der Medizin, die
weifel aufkommen lassen, ob alles, was die Medizin
achen kann, auch wirklich dem Wohlergehen und den
ünschen der Menschen entspricht.
Zweifellos spielt auch ein überzogenes Verständnis
er eigenen Fähigkeit zur Autonomie eine Rolle. Mit der
tärker werdenden Individualisierung tritt seit den 60er-
ahren die Selbstbestimmung der Menschen in den Vor-
ergrund. Damit setzt auch ein Wandel vom Verständnis
er Würde des Menschen ein. Es herrscht die Vorstel-
ung, dass nicht das Leben, nicht die Tatsache, dass der
ensch als Mensch geboren wird, ihm Würde verleiht.
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Vielmehr, so die vorherrschende Einstellung, ist die
Würde des Menschen allein abhängig von seiner Fähig-
keit, über sich selbst zu bestimmen und Fremdbestim-
mung abzuwehren. Dieses selbstbestimmte Leben soll
bis zum Tod möglich sein. Dann, wenn der Mensch die
eigene Entscheidungsfähigkeit durch Krankheit verliert,
soll die Patientenverfügung helfen, den eigenen Willen
gegen die eigenen Verwandten, gegen das Pflegeperso-
nal, gegen die Ärzte durchzusetzen.
Das ärztliche und pflegerische Ethos der Fürsorge
wird dabei pauschal als Fremdbestimmung angesehen.
Deshalb ist für die Medizin mehr und mehr nicht mehr
das Wohlergehen des Patienten oberster Grundsatz ärzt-
licher und pflegerischer Behandlung. Der Wille des Pa-
tienten steht im Vordergrund und ist auch dann zu befol-
gen, wenn der Mensch sich dadurch vermeidbaren
Schaden zufügt.
Die Rechtsprechung ist dieser Entwicklung gefolgt
und hat den Patientenwillen in den Vordergrund gestellt.
Dabei trat immer mehr in den Hintergrund, dass Ärzte
und Pflegepersonal aus eigener Verantwortung handeln
und nicht nur Erfüllungsgehilfen des Patienten sind.
Wohl gilt für beide Entwürfe, die inzwischen vorge-
legt wurden, der Grundsatz, dass die völlig freie Reich-
weite der Patientenverfügung dann keine Geltung haben
kann, wenn der Patient von den behandelnden Ärzten
und dem Pflegepersonal die aktive Sterbehilfe verlangt.
Tötung auf Verlangen wird auch im Stünker-Entwurf ab-
gelehnt. Doch stellt sich schon jetzt die Frage, wie lange
noch. Beide Entwürfe stimmen darin überein, dass in
den Fällen, in denen das Grundleiden einen irreversiblen
Verlauf genommen hat und der Tod in kurzer Zeit eintre-
ten wird, der Wille des Patienten volle Geltung haben
soll.
Insoweit folgen beide Entwürfe dem Gebot, dass der
Patient ein Recht darauf hat, dass sein Tod nicht hinaus-
gezögert, der Sterbevorgang nicht künstlich verlängert
wird, sondern dass er in Würde dem Tod entgegengehen
kann. Dann, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, darf
also die ärztliche Behandlung abgebrochen werden, darf
auch die künstliche Beatmung beendet werden, dürfen
auch Schmerzmittel verabreicht werden, auch wenn da-
durch das Leben verkürzt wird, weil diese Behandlung
der Linderung der Schmerzen dient, nicht aber der Tö-
tung des Patienten. In all diesen Handlungen und Unter-
lassungen liegt keine aktive Sterbehilfe, sondern allen-
falls eine passive, nicht strafbare, sondern im konkreten
Fall sogar gebotene Sterbehilfe vor.
Die Entwürfe gehen aber in den Fällen auseinander,
in denen eine schwere Krankheit vorliegt, die aber nicht
unmittelbar zum Tod führt. Es handelt sich um Fälle des
Wachkomas oder der schwersten Demenz. In diesen Fäl-
len will der Entwurf des Abgeordneten Stünker die
Patientenverfügung bedingungslos gelten lassen. Der
Bosbach-Entwurf sieht eine Beschränkung der Reich-
weite der Patientenverfügung vor.
Die unbedingte Geltung der Patientenverfügung ent-
spricht nicht dem realen Leben. Ein in einer Patientenver-
fügung festgelegter Wille kann nicht mit dem aktuellen
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illen vor dem Eintritt der Entscheidungsunfähigkeit
leichgesetzt werden. Eine Patientenverfügung kann un-
öglich den konkreten Einzelfall genau erfassen, „Denn
ine Patientenverfügung ist immer eine Willensäußerung
u einem vorangegangenen Zeitpunkt in Unkenntnis der
onkreten Umständen eines späteren Krankheitsfalles. Wir
önnen im Vorhinein zwar vermuten, aber nicht unumstöß-
ch wissen, was wir in einem solchen Krankheitsfall wirk-
ch wollen“, schreibt Bosbach in seinem Entwurf –
egründung E, Seite 11.
Deshalb sieht der Bosbach-Entwurf vor, dass zumin-
est die Basisversorgung, was als Nahrungszufuhr und
ls sonstige pflegerische Maßnahmen zu verstehen ist,
uch gegen den in der Patientenverfügung ausgesproche-
en Willen dem entscheidungsunfähigen Patienten zu-
ommen muss. Diese Basisversorgung richtet sich auf
ie Erhaltung des Lebens und ist nicht lediglich, wie
eim sterbenden Patienten, Linderung der Schmerzen.
Diese Beschränkung der Reichweite durch die so de-
inierte Basisversorgung ist zweifellos eine richtige Ent-
cheidung. Es kann von den behandelnden Ärzten und
on dem Pflegepersonal nicht verlangt werden, dass sie
urch Unterlassung eine Tötung des Patienten herbeifüh-
en. Anders verhält es sich beim aktuellen Willen. Dieser
st zu beachten. Niemand kann gegen seinen Willen be-
andelt werden. Der Wille, der in der Patientenverfü-
ung niedergelegt ist, kann dem aktuellen Willen nicht
leichgesetzt werden. Die Patientenverfügung kann bei
hrer Abfassung gar nicht vorausbestimmen, wie sich der
etroffene im konkreten Fall bei voller Entscheidungs-
ähigkeit entscheiden würde. Sie stellt daher nur eine
ermutung dar. Daher sind die Ärzte und ist das Pflege-
ersonal nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Im Wi-
erspruch dazu aber soll der in der Verfügung zum Aus-
ruck gekommene Wille des Patienten dennoch dann
eltung haben, wenn es um die Verabreichung von Me-
ikamenten geht. Hunger und Durst dürfen entgegen der
atientenverfügung gestillt werden. Die Basisversor-
ung darf vorgenommen werden, nicht aber die Medika-
entierung. Dies ist ein Widerspruch.
Deshalb darf nach meiner Auffassung für solche Fälle
icht die unmittelbare rechtliche Bindungswirkung der
atientenverfügung gesetzlich festgelegt werden. Für die
älle, in welchen der Patient trotz schwerer Krankheit
ute Aussicht hat, sein Leben fortzusetzen, darf die Ver-
ügung nicht so behandelt werden, wie der aktuell geäu-
erte Wille. Es ist nicht erkennbar, ob der Patient, der im
oma liegt, tatsächlich noch an seinem Willen, den er in
er Patientenverfügung geäußert hat, festhalten will. Wir
issen nichts über die inneren Vorgänge, die sich im
oma abspielen. Hier bleibt nur die Vermutung. Deshalb
st es nicht zu rechtfertigen, in diesen Fällen durch Un-
erlassen den Tod eines Menschen herbeizuführen.
Heinz-Peter Haustein (FDP): Wir reden hier heute
ber die Patientenverfügung, ein Thema, das uns alle an-
eht, es betrifft jeden Menschen. Auch ist es kein neues
roblem. Die hier in Rede stehenden Fragen sind so alt
ie die Menschheit. Und doch gab es bislang weder die
ichtige Aufklärung darüber, noch herrscht – auch nur
9280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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ansatzweise – Klarheit über diese zum Teil komplexen
rechtlichen Fragen. Die 200 existierenden Ratgeber und
Leitfäden sind für dieses Durcheinander ebenso ein Be-
leg, wie die teilweise kuriosen Antworten, die man er-
hält, wenn man Menschen einmal nach der Thematik Pa-
tientenverfügung befragt. Die Tatsache, dass lediglich
8 bis 14 Prozent der Menschen überhaupt eine Patienten-
verfügung verfasst haben, zeigt die Notwendigkeit, auf
diesem Feld aktiv zu werden.
Für einen überzeugten Liberalen gibt es kaum eine
zentralere Frage als die nach der eigenverantwortlichen
und selbstbestimmten Lebensführung. Nichts liegt ei-
nem Liberalen mehr am Herzen als das Selbstbestim-
mungsrecht als Kern der Würde des Menschen – und
diese ist, wie es im Grundgesetz steht, unantastbar.
Von daher kann nach meiner tiefen Überzeugung am
Ende dieser Diskussion nur ein Ergebnis feststehen: die
Gültigkeit der Verfügung eines Menschen, die er im
Vollbesitz seiner geistigen Kräfte einmal für das Eintre-
ten bestimmter Umstände getroffen hat. Jedes Pferd,
wenn es todkrank oder tödlich verletzt ist, bekommt den
Gnadenschuss. Einem Mensch, kann man das Recht,
sich selbst in bestimmten Lebensphasen und Lebenssi-
tuationen gegen lebensverlängernde Maßnahmen zu ent-
scheiden, nicht verwehren. Es muss nur endlich klar ge-
regelt werden.
Auch Bundespräsident Köhler hat sich 2005 dafür
ausgesprochen, dass jeder Mensch in jeder Lebensphase
selbst entscheiden kann, ob und welchen lebensverlän-
gernden Maßnahmen er sich unterziehen möchte.
Ebenso hat der Nationale Ethikrat 2005 in überwiegen-
der Zahl seiner Mitglieder festgestellt, dass sowohl die
Reichweite als auch die Verbindlichkeit der Verfügung
nicht auf bestimmte Lebensphasen beschränkt werden
sollen. Natürlich muss all das auf Freiwilligkeit beruhen.
Niemand darf zur Verfassung einer Patientenverfügung
gedrängt werden.
Die Diskussion um die schwierige Frage, ob der vor-
mals geäußerte Wille des Betroffenen auch noch dem
tatsächlichen Willen in der aktuellen Situation entspre-
che, was insbesondere bei Demenz zum Problem wird,
ist ernst zu nehmen. Sie ist jedoch dadurch weitestge-
hend auszuschließen, dass man die Praxis der Verfügung
entsprechend gestaltet und regelt. Je konkreter, präziser,
umfassender und aktueller die Patientenverfügung ver-
fasst ist, umso weniger Raum bleibt für Interpretationen
über den erklärten und den tatsächlichen Willen des Be-
troffenen. Daher muss es hier eigentlich die dringlichste
Aufgabe sein, das Verfassen der Patientenverfügung zu
regeln. Anstatt über die Interpretation von Willensbe-
kundungen zu reden, muss das Ziel sein, einen einheitli-
chen Ratgeber und entsprechende Formulare und Vor-
drucke zu entwickeln, die möglichst wenig Spielraum
zulassen. Das Beachten der Ziele der größtmöglichen
Konkretisierung, Detailliertheit und besonders der Aktua-
lität kann viel dazu beitragen, Interpretationsspielräume
zu minimieren. Dazu bedarf es stärkerer Aufklärung der
Menschen zu den Möglichkeiten der Patientenverfü-
gung, den rechtlichen Konsequenzen, die daraus folgen,
sowie den neusten medizinischen Entwicklungen, bei-
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pielsweise der Palliativmedizin oder der technischen
öglichkeiten der Lebensverlängerung.
Wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, ei-
enverantwortlich über ihr Lebensende zu entscheiden.
enn die Menschen umfassend informiert sind, sind sie
uch imstande, von ihrem Recht auf Selbstbestimmung
ebrauch zu machen. Und sie werden dieses Recht auch
utzen.
Ich bitte, den Antrag der FDP zu unterstützen. Lassen
ie uns die Patientenverfügung regeln, damit die Men-
chen in die Lage versetzt werden können, selbstbe-
timmt zu leben.
Fritz Rudolf Körper (SPD): In der Koalitionsverein-
arung haben die Koalitionsparteien beschlossen, „in der
euen Legislaturperiode die Diskussion über eine ge-
etzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzufüh-
en und abzuschließen“. Diese Vereinbarung geht zu
echt davon aus, dass wir eine umfassende Diskussion
enötigen. Die Patientenverfügung und ihre gesetzliche
bsicherung betrifft die existenziellen Belange der Men-
chen. Sie betrifft ihre Ängste vor einer Zwangsbehand-
ung, aber auch vor einem vorzeitigen Ende, sie betrifft
thische und verfassungsrechtliche Fragen. Ich begrüße
s daher sehr, dass wir uns die Zeit für eine Diskussion
ehmen, bevor die im Raum stehenden Gruppenanträge
ingebracht werden.
Die Vereinbarung, die Diskussion über die Patienten-
erfügung „abzuschließen“, bedeutet, dass wir zu einem
rgebnis kommen wollen, das dem Bedürfnis großer
eile der Bevölkerung nach Rechtssicherheit Rechnung
rägt. Ich möchte zur Veranschaulichung dieses Bedürf-
isses aus zwei der überaus zahlreichen Briefen zu die-
em Thema zitieren, die an das Bundesministerium der
ustiz gerichtet wurden:
„Ich bin 82 Jahre alt und auf eine wirksame Patienten-
erfügung angewiesen. Völlig verunsichert durch eine
nformation eines Rechtsanwalts wende ich mich an Sie
it der Bitte um Hilfe. Der Anwalt sagt, eine Patienten-
erfügung sei nur wirksam, wenn sie komplett von Hand
eschrieben und notariell beglaubigt sei. Außerdem
üsse sie durch Zeugen bestätigt werden. Ist meine Ver-
ügung jetzt unwirksam?“
Eine 85-Jährige: „Ich habe eine Patientenverfügung
emacht, die ich ständig bei mir trage. Mein 90-jähriger
ekannter kam in das Krankenhaus. Die Kinder haben
lle Papiere mitgebracht. Sie haben ihn jahrelang ge-
flegt und wollten, dass er nun ohne Schmerzen den Tod
rdulden kann. Aber alle Vorsorge war umsonst. Der
ann wurde trotz Koma mit Operationen aller Art ge-
uält. Kann man nicht endlich der Patientenverfügung
ine gesetzliche Grundlage geben?“
Nach Schätzung der deutschen Hospizstiftung gibt es
ereits jetzt über 7 Millionen Patientenverfügungen.
iese Menschen – von denen ich gerade zwei zitiert
abe – befürchten, schwersten ärztlichen Eingriffen in
hre körperliche Integrität nur deswegen ausgeliefert zu
ein, weil sie eines Tages nicht mehr zur Äußerung ihres
illens in der Lage sind. Sie verlangen das Recht, auch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9281
(A) )
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für diesen Fall im Wege der Patientenverfügung selbst
eine Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung be-
trifft im Kern die Frage, ob und unter welchen Umstän-
den der Lauf der Dinge als Schicksal hingenommen wer-
den soll oder ob dieser Lauf durch ärztliche Eingriffe
unter allen Umständen aufgehalten werden soll, auch ge-
gen den zuvor erklärten Willen des Betroffenen.
Nicht nur die Betroffenen, auch die Angehörigen, die
Ärzte, die Pfleger und die rechtlichen Vertreter des Ster-
benden haben einen Anspruch auf einen klaren rechtli-
chen Rahmen, der die Verbindlichkeit der Patientenver-
fügung für alle Beteiligten klarstellt.
Der BGH hat zwar mit Beschluss vom 17. März 2003
die Bindungswirkung der Patientenverfügung grundsätz-
lich anerkannt, gleichzeitig aber eine gesetzliche Rege-
lung angemahnt. In der Tat besteht ein dringender Klä-
rungsbedarf im Hinblick auf die Reichweite einer
Patientenverfügung, im Hinblick auf die formellen Vo-
raussetzungen einer wirksamen Patientenverfügung und
im Hinblick auf die Einschaltung des Vormundschafts-
gerichts.
Die Patientenverfügung ist ein Instrument der Vor-
sorge. Mit ihrer Hilfe können die Bürgerinnen und Bürger
vorsorgend darüber entscheiden, ob im Fall ihrer späteren
Entscheidungsunfähigkeit unter bestimmten Umständen
ärztliche Eingriffe vorgenommen werden dürfen oder
aber nicht. Letzteres läuft im Grenzfall auf die Anwei-
sung des Betroffenen hinaus, das Sterben geschehen zu
lassen und auf ärztliche Gegenmaßnahmen zu verzichten.
Vor einer Auseinandersetzung mit den Einzelheiten
der vorliegenden Gesetzesvorschläge sollten wir uns mit
einer Grundsatzfrage auseinandersetzen. Sie betrifft un-
ser eigenes Selbstverständnis als Gesetzgeber und unser
Verständnis von der Kompetenz der Bürgerinnen und
Bürger, selbstverantwortlich ihre eigene Entscheidung
zu treffen: Wollen wir dem Wunsch der Bürgerinnen und
Bürger nach mehr Eigenverantwortlichkeit entsprechen,
oder wollen wir die Entscheidungsfreiheit der Bürgerin-
nen und Bürger aufgrund der Schwierigkeiten, die unbe-
stritten mit einer zeitlich vorgelagerten Entscheidung
verbunden sind, per Gesetz einschränken?
Das Thema „Patientenverfügung“ weckt die verschie-
densten Ängste, auch bei uns Abgeordneten. Es geht um
eine Problematik, die mit dem Lebensende, mit einem
Leben mit Behinderungen, mit schwersten Eingriffen
und letztlich mit dem Tod verbunden ist. Wer eine Pa-
tientenverfügung verfasst hat, kennt das Zögern vor ei-
ner Festlegung. Aber wir müssen hier ganz klar zweier-
lei auseinanderhalten: Die Schwierigkeiten und Ängste,
die mit einer Festlegung für jeden von uns verbunden
sind, mögen ein guter Grund dafür sein, selbst von einer
Patientenverfügung abzusehen. Aber sind sie kein Grund
dafür, anderen Menschen die Option einer selbstverant-
wortlichen Selbstbestimmung zu nehmen! Damit wür-
den wir als Gesetzgeber unsere persönliche Entschei-
dung als Abgeordnete an die Stelle der Entscheidung
durch die Betroffenen setzen.
Damit bin ich bei dem Hauptstreitpunkt angelangt,
der sogenannten Reichweitenbegrenzung, wie sie in dem
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ntwurf eines Gruppenantrags der Kollegen Bosbach,
öspel, Winkler und Fricke vorgesehen ist. Reichwei-
enbegrenzung bedeutet: eine Patientenverfügung ist
rundsätzlich unbeachtlich, wenn sie die Nichtvornahme
der den Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maß-
ahmen anordnet. Eine Ausnahme gilt – abgesehen vom
all des Wachkoma – nur dann, wenn das Grundleiden
ach ärztlicher Überzeugung unumkehrbar einen tödli-
hen Verlauf angenommen hat. In dem unscheinbaren
örtchen „unumkehrbar“ ist versteckt, dass sämtliche
rztliche Maßnahmen auch gegen den Willen des Betrof-
enen erlaubt sein sollen, die den tödlichen Verlauf mög-
icherweise „umkehren“ können, was immer das heißen
oll. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Jörg-
ietrich Hoppe, sagt hierzu im „Spiegel“ dieser Woche:
Die Reichweitenbeschränkung führt praktisch zu einer
ebensverlängerung um jeden Preis. Das lehnt die Ärz-
eschaft klar ab.“
Dem kann ich nur zustimmen. Im gleichen „Spiegel“-
espräch wird eine der Folgen einer Reichweitenbe-
chränkung beschrieben: Ein 98-jähriger Greis müsste
entgegen seinem eindeutigen Willen – nach einem
erzstillstand auch dann reanimiert werden, wenn er da-
ach mit schwersten Hirnschäden künstlich ernährt wer-
en müsste. Und warum? Nur deshalb, weil dies eben
echnisch machbar ist. Genau dies wollen all die Millio-
en Bürgerinnen und Bürger verhindern, die eine Patien-
enverfügung abgefasst haben.
Selbstverständlich kann nur ein Arzt aufgrund seiner
achlichen Kenntnisse die Prognose stellen, ob eine me-
izinische Maßnahme – möglicherweise – das Leben ret-
en oder auch nur verlängern kann. Das steht außer
rage. Die Befürworter einer Reichweitenbeschränkung
achen von dieser, Prognose allerdings eine entschei-
ende rechtliche Folge abhängig: Nur wenn der Arzt die
hance einer Rettung oder Lebensverlängerung aus-
chließt, soll der Patientenwille in den fraglichen Fällen
echtlich verbindlich sein. Dies bedeutet, dass nicht nur
in sicherer sondern auch ein unsicherer, sogar ein äu-
erst unsicherer, ein nur theoretisch möglicher Heilungs-
rfolg dazu zwingt, ärztliche Maßnahmen durchzufüh-
en. Mit einem derartigen Gesetz würden wir, die
bgeordneten, über den Willen unserer Mitbürgerinnen
nd -bürger hinweggehen. Wir, nicht die Ärzte, würden
hren Willen für unbeachtlich erklären.
Eine Prognose ist gerade bei den hier infrage stehen-
en schweren Gesundheitsschäden naturgemäß immer
nsicher. So ist beispielsweise der Erfolg einer Chemo-
herapie nur begrenzt vorhersehbar. Also müsste eine
hemotherapie aufgrund der gesetzlichen Vorgaben
uch gegen den erklärten Willen des Patienten durchge-
ührt werden, falls dieser sich nicht mehr aktuell gegen
iesen Eingriff wehren kann.
Wir, die Befürworter einer unbegrenzt verbindlichen
atientenverfügung, sehen uns hingegen moralisch und
erfassungsrechtlich dazu verpflichtet, die Entscheidung
ber einen personalen Kernbereich, dem Eingriff in die
örperliche Unversehrtheit, demjenigen zu ermöglichen,
er die Folgen dieser Entscheidung zu tragen hat. Wir
ind der Ansicht, dass den Betroffenen auch dann ein
9282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Recht auf Entscheidung über ärztliche Eingriffe zu-
kommt, wenn diese Entscheidung zwangsläufig nur im
Vorfeld der kritischen Situation getroffen werden kann.
Die Patientenverfügung ist eine Option. Das heißt, es
steht den Bürgerinnen und Bürgern frei, ob sie überhaupt
eine derartige Entscheidung treffen wollen, ob und unter
welchen Bedingungen sie mit einer Patientenverfügung
ärztliche Maßnahmen einschränken, oder ob sie im Ge-
genteil eine möglichst umfassende ärztliche Versorgung
verfügen wollen.
Die Befürworter einer Einschränkung der Verfügungs-
macht des Patienten argumentieren mit einem angebli-
chen Spannungsverhältnis zwischen der freien Entschei-
dung des Bürgers und seinem – angeblich – objektiv
bestimmbaren Wohl. Oder sie berufen sich auf eine
Pflicht des Staates zum Lebensschutz. Ich möchte hier
nicht diskutieren, ob der Staat im Wege des Gesetzes ge-
gen den freien Willen des Betroffenen körperliche Ein-
griffe mit dem Ziel des Lebensschutzes ermöglichen
darf. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zu einer
derartigen Vorgabe besteht mit Sicherheit nicht.
Also müssen wir das Ergebnis dieser Meinung poli-
tisch bewerten: Diejenigen, die sich selbst zum Schützer
fremden Lebens ernannt haben, kommen im Ergebnis
dazu, die Freiheit der Bürger aus Fürsorgegründen in ei-
nem zentralen Kernbereich der Selbstbestimmung einzu-
schränken. Sie begründen dies mit dem angeblich „ob-
jektiv“ bestimmbaren Wohl der Betroffenen. Ich weiß
nicht, woher sie den Maßstab dieses „objektiven“ Wohls
hernehmen wollen. Das menschliche „Wohl“ ist aus mei-
ner Sicht im Gegenteil eine sehr subjektive Angelegen-
heit. Die angebliche „Objektivität“ des Wohls wird da-
durch erzeugt, dass der Maßstab des Betroffenen durch
den eigenen Maßstab ersetzt wird. Ich halte dies für
nicht verantwortbar. Wir Abgeordneten des Deutschen
Bundestages sollten uns im Gegenteil damit bescheiden,
den Bürgerinnen und Bürgern den Rahmen für eine
– mögliche – Entscheidung zur Verfügung zu stellen. Wir
können und sollten nicht anstelle der Bürger entscheiden
wollen. Denn hinter dem Arzt können wir uns nicht ver-
stecken: Es ist nicht der Arzt, der über die Durchführung
einer Maßnahme entscheidet. Der Arzt gibt lediglich
eine Prognose über den Erfolg möglicher medizinischer
Maßnahmen ab. Es wäre der Gesetzgeber, der im Wege
einer Reichweitenbegrenzung an die ärztliche Prognose
die gesetzliche Folge knüpft, dass die mögliche ärztliche
Maßnahme auch gegen den Willen des Betroffenen
durchzuführen ist. Diese Entscheidung hätte allein der
Gesetzgeber zu verantworten. Der Arzt wäre nur das
Werkzeug, und der Patient das Objekt einer gesetzlichen
Entscheidung. Ich halte eine derartige Anmaßung des
Gesetzgebers für unverantwortlich.
Die Argumente derjenigen, die eine derartige Rege-
lung befürworten, überzeugen nicht. Selbstverständlich
ist die Patientenverfügung eine Anweisung für eine
künftige Entscheidungssituation. Die Patientenverfü-
gung wird zu einem Zeitpunkt verfasst, in der die fragli-
che Situation nur vorgestellt, möglicherweise bei ande-
ren Menschen oder mithilfe der Medien miterlebt, aber
eben nicht unmittelbar am eigenen Leib erfahren werden
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ann. Das bestreitet niemand. Es bestreitet auch nie-
and, dass das Leben mit amputierten Beinen oder quer-
chnittsgelähmt oder in einem sogenannten vegetativen
tatus für einen gesunden Menschen nur schwer vor-
tellbar ist. Doch was folgt daraus? Dass andere darüber
ntscheiden sollen?
Zunächst einmal ist dies nicht grundsätzlich ein Pro-
lem nur der Patientenverfügung. Auch ein Patient, der
ber eine unmittelbar anstehende Amputation selbst be-
usst entscheiden kann, kann sich die Folgen der Opera-
ion nur vorstellen. Die Folgen sind immer zukünftig
nd werden erst später erlebt und durchlitten. Ist dies
twa ein Argument gegen die Selbstbestimmung auch
es aktuell einwilligungsfähigen Patienten?
Dann müssen wir klar sehen, dass der Ausgangspunkt
nserer Überlegungen zur Patientenverfügung darin
iegt, dass eine Entscheidung des Patienten zum Zeit-
unkt des Eingriffs nicht möglich ist. Nicht die Patien-
enverfügung, sondern die Wege des Schicksals schaffen
ieses Problem. Die Patientenverfügung ist der einzige
eg, um dieses Problem im Wege der Selbstbestim-
ung dennoch zu entscheiden. Eine vorgezogene Ent-
cheidung ist der einzige Weg, wenn aktuell nicht ent-
chieden werden kann. Wer dies als nur „vermeintliche
elbstbestimmung“ kritisiert, stellt die Selbstbestim-
ung insgesamt infrage. Die Alternative heißt schlicht
remdbestimmung; Fremdbestimmung, in der das „ob-
ektive Wohl“ des Patienten gegen seinen Willen und da-
it gegen ihn selbst ausgespielt wird.
Die Problematik einer vorsorgenden Entscheidung
ann daher aus meiner Sicht nur folgende Konsequenzen
aben: Jeder, der eine Patientenverfügung verfassen
ill, sollte sich im eigenen Interesse so umfassend und
it dem gleichen Ernst informieren, als ob die Entschei-
ung unmittelbar anstünde. Der Gesetzgeber sollte den
enschen empfehlen, sich vor Abfassung einer Patien-
enverfügung von einem Arzt, einem Rechtsanwalt, von
en Beratungsstellen der Kirchen oder anderer Verbände
usführlich beraten zu lassen.
Die Patientenverfügung ist eine Option, mehr nicht.
ie soll dazu dienen, den Menschen aus der Logik des
edizinisch Machbaren zu befreien, da diese Logik die
xistenzielle Dimension des Schicksals nicht kennt. Die
atientenverfügung soll dazu dienen, den Respekt vor
er Würde des Menschen mit dem Respekt vor seinen
ntscheidungen zu verbinden, da die Nichtbeachtung
eines Willens die Nichtbeachtung seiner Würde nach
ich zieht.
Niemand wird gezwungen, sich durch eine Patienten-
erfügung festzulegen. Der Entwurf des Kollegen
oachim Stünker gibt nur die Freiheit, dies jederzeit und
ederzeit widerrufbar zu tun. Eine nur eingeschränkt ver-
indliche Patientenverfügung unterwirft hingegen den
atienten dem Regime des medizinisch Machbaren.
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Vor meinem Stu-
ium habe ich ein Jahr in einer kirchlichen Einrichtung
ür geistig und mehrfach Behinderte gearbeitet. Diese
rfahrung hat mich sehr geprägt, sie ist für mich ein
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9283
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wichtiger Grund, bei der anstehenden gesetzlichen Re-
gelung der Patientenverfügungen nur einer solchen Fas-
sung zuzustimmen, die das Recht auf Selbstbestimmung
in keiner Weise einschränkt.
Neben den gesetzlichen Grundlagen, die nun von uns
auf den Weg gebracht werden müssen, fragen wir aber
meiner Meinung nach viel zu wenig nach den gesell-
schaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Men-
schen in unserem Land Alter und Krankheit, Pflegebe-
dürftigkeit und schließlich den Prozess des Sterbens
durchmachen. Die Verantwortung der Politik für diese
Bedingungen ist aber genauso groß, wenn nicht noch
größer als die dafür, einzelne Fragen gesetzlich zu re-
geln.
Ärzte und Patienten begegnen sich nicht in einem idea-
len Raum, sondern unter konkreten gesellschaftlichen
Bedingungen. Von unserem Gesundheitswesen wurde in
den letzten Jahren vor allem eines verlangt: Kostensen-
kung, Wenn in einem System nicht genug Geld vorhan-
den ist, geht dies immer zulasten seines schwächsten
Gliedes, und das ist eindeutig der Patient. Das von der
Bundesärztekammer beschworene Vertrauensverhältnis
zwischen Ärzten und Patienten basiert auf der Vorausset-
zung, dass der Arzt alles in seinen Möglichkeiten Ste-
hende tun wird, die Leiden des Patienten zu lindern.
Wenn den Medizinern allerdings immer engere ökono-
mische Grenzen gesetzt werden, beeinflussen diese, be-
wusst und unbewusst, ihre ärztlichen Entscheidungen.
Das wissen wir nicht erst seit der Einführung der Arznei-
mittelbudgetierung.
Freunde, die hier in Berlin seit Jahren eine ambulante
Hauskrankenpflege betreiben, berichteten mir über fol-
gende Erfahrungen: Häufiger als früher treffen heute
hoch betagte, multimorbide Patienten, die aufgrund aku-
ter Beschwerden ins Krankenhaus eingeliefert werden,
auf Ärzte, deren Entscheidung lautet: „Da machen wir
nichts mehr.“ Gegebenenfalls könnte das Leben dieser
Patienten durch therapeutische Maßnahmen – ich rede
hier bewusst noch nicht einmal von intensivmedizini-
scher Behandlung – verlängert werden. Doch nicht im-
mer werden Patienten und Angehörige überhaupt über
diese Möglichkeiten aufgeklärt. Ebenso ist zu erleben,
dass Entscheidungen zum Beginn kostenintensiver The-
rapien bei chronischen Erkrankungen, etwa von Dialyse-
behandlungen, zu Ungunsten der Patienten zeitlich so
weit wie möglich nach hinten verschoben werden. Es
gibt offenbar bereits jetzt eine Art Aufwand-Nutzen-Ab-
wägung, die nicht zuerst nach dem Wohl und auch nicht
nach dem Willen des Patienten fragt. Dagegen dürften
auch Patientenverfügung machtlos sein. Oder sollte man
für solche Fälle das bisher Selbstverständliche verfügen:
Ich wünsche ausdrücklich, dass bei mir alle vorhandenen
medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung
angewandt werden? Die medizinische Forschung bringt
immer neue, aber auch immer teurere Therapien hervor.
Für wen werden sie infrage kommen? Und bei wem wird
die Entscheidung darüber liegen? Beim Arzt, bei der
Krankenkasse oder bei der Hausbank?
Wenn Menschen aus Angst davor, hilflos, abhängig
und ihrer Würde beraubt zu werden, Patientenverfügun-
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en erstellen, in denen sie alle möglichen Behandlungen
blehnen, um lieber zu sterben, als dies zu erleiden, ist
ie Sicherung ihres formalen Rechtes auf Selbstbestim-
ung nur die eine Seite der Medaille. Die andere aber
üsste darin bestehen, dass die Gesellschaft ihre Res-
ourcen zielgerichtet einsetzt, um diesen durchaus nicht
nberechtigten Ängsten den Boden zu entziehen. Ich bin
esorgt darüber, dass dieses Problem in der bisherigen
ebatte kaum thematisiert wurde, denn es rührt an ver-
assungsmäßig verbriefte Grundrechte, die zu schützen
ir alle aufgerufen sind.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
er Deutsche Bundestag hat heute eine Debatte über die
ögliche gesetzliche Regelung für Patientenverfügun-
en begonnen. Diese Debatte sehr intensiv, offen und
achlich zu führen, ist angesichts der ethischen und fak-
ischen Bedeutung des Themas und möglicher Folgen ei-
er gesetzlichen Regelung besonders wichtig und rich-
ig. In kaum einer anderen Debatte gibt es eine so große
otwendigkeit der freien Gewissensentscheidung der
bgeordneten sowie des tiefen gegenseitigen Respekts
or dem Abstimmungsverhalten der Kolleginnen und
ollegen, unabhängig von deren Ausrichtung.
Neben den aktuell in Erarbeitung befindlichen Ge-
etzentwürfen wird in der öffentlichen Debatte zum
hema von vielen Seiten zu bedenken geben, dass die
ktuelle Rechtslage ausreicht und weitergehende gesetz-
iche Regelungen neue Probleme und Konflikte bringen
önnen. Bei detaillierter Betrachtung der derzeit vorlie-
enden Entwürfe teile ich diese Bedenken.
Bereits heute gibt es Möglichkeiten einer weit rei-
henden und verbindlichen Patientenverfügung. Über
eren Möglichkeiten sollte besser aufgeklärt werden.
och die Debatte gilt es aus meiner Sicht breiter zu füh-
en: Wir brauchen eine neue, palliative Kultur im Zu-
ammenhang mit schwerer Krankheit und Sterben.
Leben verläuft in sich wandelnden Phasen. Es ist aus
einer Sicht nur schwer möglich, in einer Phase zu wis-
en, wie man in der nächsten Phase Veränderungen und
uch Krankheit bewertet, und zu wissen, wie man dann
eben will. Der Wille des Menschen kann sich ändern, in
ragen des Lebens allemal. Es gibt zahlreiche Beispiele
on vermeintlich unheilbar Kranken oder Komapatien-
en, die entgegen der ärztlichen Prognosen eine qualita-
iv positive Entwicklung in ihrem Krankheitsverlauf er-
ahren konnten. Eine verbindliche gesetzliche Regelung
u Patientenverfügungen begrenzt eine individuelle,
achlich fundierte und trotzdem ethisch orientierte Bera-
ung und Begleitung von Schwerkranken. Sie kann so zu
euen Problemen und Gewissenskonflikten für Ärzte,
etreuungspersonal und Angehörige führen.
Die Diskussion um die Rechtsverbindlichkeit von Pa-
ientenverfügungen ist auch eine Debatte um gesell-
chaftliche Werte. Das grundsätzliche Recht auf Leben
ür jeden Menschen darf nicht zur Disposition stehen. Es
st Aufgabe des Gesetzgebers, das irreversible Lebens-
echt unbedingt zu schützen. Es gilt daher eine Entwick-
ung zu verhindern, bei der bestimmte Krankheitsbilder
it Vorstellungen eines lebensunwerten Lebens verbun-
9284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
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den werden. Es darf außerdem keinesfalls geschehen,
dass in unserer Gesellschaft Druck auf ältere und chro-
nisch kranke Menschen entsteht, durch Vorsorge und
entsprechende Verfügungen dafür zu sorgen, dass sie der
Gesellschaft im Krankheitsfall nicht „zur Last“ fallen.
Die Begleitung und Pflege kranker und sterbender Men-
schen ist eine moralische Verpflichtung und ein besonde-
rer gesellschaftlicher Wert. Es muss stets klar sein, dass
sich unsere Gesellschaft dieser Verantwortung bewusst
ist und kranke, behinderte und auch sterbende Menschen
solidarisch trägt und unterstützt.
Michael Roth (Heringen) (SPD): Die Würde des
Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen
ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dies gilt im
Leben wie im Sterben. Menschen sollen in Würde ster-
ben. Nicht wenige zweifeln, ob das gelingt. Wir leben in
einer Zeit, die uns immer wieder suggeriert, alles sei
möglich, beherrsch- und gestaltbar. Oftmals setzen wir
das im Hinblick auf unsere persönliche Lebensführung
mit vermeintlicher Autonomie gleich. Aber haben wir
uns nicht doch eher den Verwertungsprinzipien des
Marktes allzu sehr unterworfen? Wir sehen nicht allein
in Dingen, sondern auch im eigenen Leben oft nicht
mehr den Wert, sondern nur noch den Preis. Der Wert
des Lebens, seine Unveräußerlichkeit, seine Einzigartig-
keit geraten öfter in den Hintergrund. Individuelle
Schwächen sind auszumerzen, der Mensch soll stets und
überall funktionieren.
Dass auch das Sterben seine Zeit hat, ist uns fremd
geworden. Wir schweigen uns dazu aus. Aus dem
Schweigen erwächst Angst, Angst vor Krankheit, vor
Schmerz, dem Alleinsein. Während noch vor wenigen
Jahrzehnten die Angst vor mangelnder medizinischer
Versorgung im Vordergrund stand, wird unser Denken
heute bestimmt von der Angst vor medizinischer „Über-
versorgung“. Niemand will der sogenannten Apparate-
medizin hilflos ausgeliefert sein. Wir behaupten, keine
Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben zu haben. So
wie wir unser gesamtes Leben in Beziehung zu Anderen
setzen, zu Familie und Freunden, so gilt dies auch für
das Sterben. Unser ganzes Leben ist davon geprägt, Ver-
antwortung für sich und andere zu übernehmen. Dies
schließt Abhängigkeit voneinander ein und fordert ge-
genseitige Hilfeleistung. Warum sollten diese Beziehun-
gen in Phasen schwerster Erkrankung, des Sterbens nicht
mehr belastbar sein? Darf man seinen Angehörigen in
der letzten Lebensphase nicht mehr zur Last fallen? Ist
es gerechtfertigt, das Warten auf den Tod zwanghaft zu
verkürzen, um Schmerzen und Hinfälligkeit zu entge-
hen?
All dies verstört uns und kulminiert in einer emotio-
nal geführten Debatte um Patientenverfügungen. Nicht
wenige meinen ernsthaft, sich selbst und ihren Angehö-
rigen durch schriftliche Verfügungen solche Zumutun-
gen ersparen zu können. Selbstverständlich haben die
Patientenverfügungen ihren Wert, sind Hilfe für Familie,
Pflegende und Ärzteschaft, geben Orientierung in Pha-
sen der Unsicherheit und des Zweifels. Aber sie sind
kein taugliches Instrument zur Erleichterung des Ster-
bens, dürfen es auch nicht sein.
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Wer den Schwerstkranken, den Sterbenden ihre
ürde bewahren will, muss Beistand und Hilfe leisten.
erade dies ist Ausdruck menschlicher Freiheit. Wer am
nde seines Lebensweges angekommen ist, hat An-
pruch auf Fürsorge und Betreuung. Sterbende sollen
eitestgehend schmerzfrei dem Tod entgegengehen. Für
ie Angehörigen ist dies oftmals mit einer ungeheuren
elastung und Zumutung verbunden, physisch wie psy-
hisch. Jeder von uns, der sich in einer solchen Situation
efunden hat, wird dies sicher bestätigen können.
Aber in „Zumutung“ steckt „Mut“: Es erfordert Mut,
ich auf einen Sterbenskranken einzulassen. Aus der
armherzigkeit, die man selbst aufzubringen bereit und
n der Lage ist, erwächst auch Hoffnung, dass einem
elbst Barmherzigkeit zuteil werden kann. Angehörige
rauchen dabei alle Unterstützung: organisatorisch, zeit-
ich, finanziell. Und immer dann, wenn Sterbebegleitung
urch Freunde und Familie nicht zu gewährleisten ist,
ind Hospize sinnvolle Alternativen.
Es gilt, denen zu danken, die sich dieser Aufgabe mit
ut, Ausdauer und Kraft widmen. Das ist gelebte Soli-
arität, ja Liebe zum Nächsten.
Im Rahmen der Reform der Pflegeversicherung ist
em angemessen Rechnung zu tragen. Das kostet viel
eld. Aber es wird dringend gebraucht – der Menschen-
ürde wegen. Ebenso sind die Förderung und der ver-
tärkte Einsatz der Palliativmedizin nachdrücklich vo-
anzutreiben. Wir brauchen ein flächendeckendes,
ntegriertes Angebot von Schmerztherapiebehandlun-
en, Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen sowie Hospi-
en. Hier sehe ich maßgeblich die Politik, insbesondere
ns als Gesetzgeber, in der Pflicht.
Im Mittelpunkt unseres Handelns hat die Fürsorge für
en Patienten zu stehen. Wenn es medizinisch möglich
st, muss dem Patienten eine neue Lebensperspektive er-
ffnet werden. Die medizinische Entwicklung schreitet
eiter rasant voran mit vielen neuen Chancen, trotz
chwerster Krankheit menschenwürdig weiterleben zu
önnen.
Dem muss auch die Patientenverfügung Rechnung
ragen. Sie ist daher zwangsläufig zu begrenzen. Dies
ann mit dem garantierten Recht auf Selbstbestimmung
ollidieren. Aber es ist schon abstrus, wie die Befürwor-
er einer schrankenlosen Geltung der Patientenverfügung
it extremen Einzelfällen die Debatte in ihrem Sinne zu
eeinflussen trachten. Die rechtliche und moralische Un-
icherheit, selbst bei detailliert formulierten Verfügun-
en, bleibt doch bestehen. Machen sich Ärzte und Ange-
örige allein dadurch schuldig, dass sie den
ermeintlichen oder tatsächlichen Willen des Patienten
icht konsequent umsetzen? Oder macht sich nicht auch
erjenige zumindest moralisch schuldig, der Lebens-
hancen, mögen sie auch gering sein, bewusst ignoriert?
Unabhängig von der Abfassung von Patientenverfü-
ungen besteht stets Interpretationsbedarf. Endgültige
larheit vermag kein noch so detailgenaues Gesetz zu
chaffen. Es kann nur im Sinne des Schwerstkranken
ein, wenn Angehörige, Pflegende und Ärzte möglichst
ng und vertrauensvoll zusammenwirken, um eine dem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9285
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(B) )
Kranken gerecht werdende und verantwortbare Ent-
scheidung zu treffen.
Patientenverfügungen können ein Mittel sein, die Be-
dingungen des Sterbens humaner zu gestalten. Der maß-
geblich vom Kollegen Rene Röspel erarbeitete Gesetz-
entwurf trägt meinen persönlichen Erwartungen und
Anforderungen am ehesten Rechnung. Es ist für mich
akzeptabel, dass bei unwiederbringlichem Bewusstseins-
verlust lebenserhaltende Maßnahmen auf ausdrücklichen
Wunsch des Patienten beendet werden. Es handelt sich
hierbei zumeist um Schwerstkranke, nicht Sterbende. Ich
begrüße daher den Vorschlag, dass hier das Vormund-
schaftsgericht die letzte Entscheidung zu treffen hat.
Dass wir darüber streiten, ist mehr als selbstverständ-
lich. Aus meiner Arbeit in der Kammer für öffentliche
Verantwortung der EKD weiß ich, dass Für und Wider
über
Verbindlichkeit und Reichweite, über Voraussetzun-
gen und Gültigkeit von Patientenverfügungen mitunter
hart aufeinanderstoßen, ein Konsens auch innerhalb ei-
ner Gruppe evangelischer Christinnen und Christen nur
schwer herstellbar ist. Umso schwieriger dürfte uns dies
hier im Deutschen Bundestag fallen.
Entscheidungen entlang parteipolitischer Überzeu-
gungen sind für mich undenkbar. Jeder von uns ist auf-
gerufen, im Hinblick auf die zu treffende Entscheidung
sein Gewissen sorgsam zu prüfen. Gegenseitiger Res-
pekt und fairer Umgang sind dabei eine Grundvorausset-
zung. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen
– im Leben und Sterben – ist zu achten und zu schützen.
Um nicht weniger geht es.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Absatzfondsgesetzes und des
Holzabsatzfondsgesetzes (Tagesordnungspunkt 14)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Die Stellungnahmen
in der Ausschussanhörung waren eindeutig: Keiner der
Sachverständigen stellte das Absatzfondsgesetz infrage.
In Detailfragen wird zwar Bedarf für Anpassungen gese-
hen; diese sind aber nicht Gegenstand der Gesetzesno-
velle.
Vor allem aus Sicht der Molkereiwirtschaft hat sich
das System der zentralen Absatzförderung in vollem
Umfang bewährt. Sie ist die größte Gruppe von Bei-
tragszahlern.
Zweck des Absatzfondsgesetzes ist die Sicherung der
Marktstellung und damit der Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Land- und Ernährungswirtschaft. Diese Auf-
gabenstellung ist trotz des gemeinsamen Binnenmarktes
nicht überholt, sondern durch die Folgen der Reform der
gemeinsamen Agrarpolitik notwendiger denn je.
Die Wirtschaft sieht die Aufgabe der CMA im We-
sentlichen darin, durch gezielte Marketingmaßnahmen
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ie Voraussetzungen für den Absatz von Produkten aller
nternehmen der deutschen Land- und Ernährungswirt-
chaft zu schaffen.
Auf diesen Absatzförderungsmaßnahmen können die
nternehmen individuell aufbauen und sie gegebenen-
alls ergänzen.
Das Absatzfondsgesetz ist mit dem Verfassungs- und
uroparecht vereinbar; ebenso wird die Finanzierungsart
ls Sonderabgabe als weiterhin erforderlich angesehen.
Zwar wird die künftige Rahmenregelung der EU die
renzen für erlaubte Werbebeihilfen etwas enger ziehen;
inweise auf die Herkunft von Erzeugnissen werden
ber im Rahmen nationaler oder regionaler Gütezeichen
ulässig sein. Damit wird auch die künftige Regelung
enügend Spielraum für Maßnahmen bieten, die den
inn und Zweck des Absatzfondsgesetzes erfüllen.
Die kontinuierliche Herausstellung des Nutzens einer
achhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft mit ihren
ochwertigen Produkten bewirkt, dass die Werthaltigkeit
on Nahrungsmitteln stärker ins Bewusstsein der Ver-
raucher dringt und ihre Kaufentscheidung beeinflusst.
ieses ist vor allem angesichts der Ausgaben der Ver-
raucher für das immer breiter werdende Angebot an
aren und Dienstleistungen erforderlich, mit denen die
usgaben für Nahrungsmittel konkurrieren müssen. Es
eht letztlich darum, dem Thema „Essen und Trinken“
urch eine positive Darstellung heimischer Agrarpro-
ukte insgesamt einen deutlich höheren Stellenwert zu
eben.
Leider ist der Kontakt zum Landwirt für die Mehrheit
er Bevölkerung nicht mehr selbstverständlich. So pro-
uzieren deutsche Bäuerinnen und Bauern heute in ei-
em gesellschaftlichen Umfeld, das sich immer weiter
on der Landwirtschaft entfernt.
Gerade die aktuellen Widersprüche gegen die Abgabe
reffen genau hier ins Mark. Die Folgen durch die er-
wungenen Mittelkürzungen sind bereits jetzt gravie-
end. Die tiefen Einschnitte, zum Beispiel beim zentral-
egionalen Marketing im Inland, werden die Kluft zwi-
chen Stadt und Land noch vertiefen.
Letztendlich geht es bei der Arbeit der zentralen Ab-
atzförderung auch darum, die Wertigkeit und Wert-
chätzung heimischer Nahrungsmittel stärker in den Fo-
us der Verbraucherinnen und Verbraucher zu rücken.
Ich bin mir bewusst, dass das Absatzfondsgesetz in
rundrechte der Abgabenbelasteten eingreift und daher
erfassungsrechtlich beurteilt werden muss. Angezwei-
elt werden verschiedentlich die verfassungsrechtlichen
oraussetzungen der Homogenität sowie der Gruppen-
ützigkeit. Hierzu gibt es die eindeutigen Ausführungen
on Dr. Cornils. Sie verdeutlichen, dass am Vorliegen
er Voraussetzungen zur Homogenität der durch die Ab-
abe betroffenen Gruppe im Ergebnis kein Zweifel be-
teht und die verfassungsrechtliche Voraussetzung der
ruppennützigen Verwendung des Abgabenaufkommens
eiterhin gegeben ist.
Ich bin überzeugt, dass die Unternehmen der deut-
chen Land- und Ernährungswirtschaft, die den Absatz-
9286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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fonds finanzieren, deswegen eine homogene Gruppe bil-
den, weil sie weiterhin durch eine gemeinsame
Interessenlage verbunden sind. Ihr gemeinsames Inte-
resse ist, ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem inländi-
schen, dem europäischen und dem Weltmarkt zu bündeln
und zu stärken.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1990 das
Absatzfondsgesetz verfassungsrechtlich überprüft und
die Verfassungmäßigkeit bestätigt. Auch 17 Jahre später
hat sich daran nichts geändert, weil die Anforderungen
an Homogenität und Gruppennützigkeit auch weiterhin
erfüllt sind.
Die Verfassungskonformität belegt auch ein aktueller
Beschluss des Verwaltungsgerichts München. In diesem
Beschluss kommt das VG München zu dem Ergebnis,
dass keine schwerwiegenden Zweifel an der Vereinbar-
keit des Absatzfondsgesetzes mit dem Grundgesetz be-
stehen.
Zur gruppennützigen Verwendung des Abgabenauf-
kommens sei gesagt, dass es nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts nur darauf ankommt,
dass die Verwendung im überwiegenden Interesse der
Gesamtgruppe erfolgt. Urproduzenten, Verwerter und
Vermarkter bilden dabei die Gesamtgruppe.
Dies gilt auch für die homogene Gruppe der Forst-
und Holzwirtschaft. Aufgrund der kleinteiligen Struktur
mit viel Privatwaldbesitz in Deutschland wird die ge-
meinschaftliche Holzwerbung von der Branche sehr po-
sitiv gesehen. Zwar ist aufgrund der europäischen Rah-
menregelung für staatliche Beihilfen nur eine
Holzwerbung ohne Herkunftsangabe gestattet, dennoch
wird der Holzabsatzfonds begrüßt. Anders als beim Ab-
satzfonds gibt es keine nennenswerten Einsprüche gegen
die Abgabe.
Die vorgesehenen Änderungen werden positiv als Bü-
rokratieabbau aufgenommen. Ohne den Holzabsatzfonds
müssten sich die vielen Besitzer bzw. Betriebe zusam-
menschließen, um eine gemeinsame holzabsatzför-
dernde Werbung finanzieren zu können. Auch deshalb
ist der Holzabsatzfonds in der Branche unumstritten. Die
klaren Aussagen der Experten bestätigen die Haltung der
Union und sorgen für geordnete Verhältnisse.
In Bezug auf die europarechtliche Vereinbarkeit des
Absatzfondsgesetzes möchte ich hervorheben, dass sich
der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil aus dem
Jahr 2002 lediglich zur Öffnung des CMA-Gütezeichens
geäußert hat. Er hat sich nicht zum Absatzfondsgesetz
geäußert und somit die zentrale Absatzförderung nicht
infrage gestellt. Erst 2004 hat die EU-Kommission das
Absatzfondsgesetz beihilferechtlich erneut genehmigt.
Im aktuellen Gemeinschaftsrahmen ist nunmehr wie-
der Werbung für Gütezeichen mit sekundärer Ursprungs-
bezeichnung möglich. Auch ist Werbung für Produkte
mit geschützter Ursprungsbezeichnung möglich. Diese
wird sogar mit EU-Mitteln kofinanziert.
Zu einer zentralen Absatzförderung gibt es keine Al-
ternative. Diese Maßnahmen sind immens wichtig für
die Sicherung und Erschließung neuer Exportmärkte.
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Deutschland zählt nach wie vor zu den größten Agrar-
xporteuren der Welt. Im letzten Jahr wurden Agrargüter
m Wert von rund 40,8 Milliarden Euro exportiert. 1970
aren es erst 1,3 Milliarden Euro. Diese Spitzenposition
öchten, wollen und müssen wir behalten!
Zusammen mit den Auslandsbüros der CMA erschlie-
en deutsche Unternehmen Exportmärkte. Hierzu wären
ahlreiche Unternehmen, allein kaum in der Lage. Auch
ndere Länder außerhalb und innerhalb der EU haben
en Stellenwert von Inlands- und Auslandswerbemaß-
ahmen zwischenzeitlich erkannt. Viele haben ver-
leichbare Organisationen aufgebaut, um den Absatz ih-
er Produkte im Binnen- und Weltmarkt zu fördern.
eihilferechtliche Genehmigungen von Maßnahmen der
sterreichischen AMA und der britischen staatlichen In-
titutionen „Food from Britain“ und „English Beef and
amb Executive“ durch die EU-Kommission belegen
ies. Beide Organisationen vergeben ebenfalls Qualitäts-
iegel für landwirtschaftliche Produkte, deren Herkunft
nd Qualität sie überprüft haben. Auch in Frankreich
nd in den Niederlanden sind die Aufwendungen pro-
entual wesentlich höher als in Deutschland.
Die CMA hat hier für die deutsche Agrarwirtschaft in
en vergangenen Jahren wertvolle Arbeit geleistet und
st ebenso unverzichtbar wie die ZMP, die mit ihrer
reisberichterstattung und ihren Marktanalysen zur
ransparenz der Märkte beiträgt.
Stichwort Transparenz: Von Gegnern des Absatzfonds
ird Transparenz bei der Mittelvergabe immer wieder
ingefordert; zuletzt in der Ausschussanhörung Anfang
ärz. Allerdings nimmt man es selber nicht so genau.
inen der fordernden Experten bat ich um die Zahlen,
ie viel Projektmittel sie von der CMA in den letzten
ahren erhalten haben. Bis heute habe ich keine Antwort.
Als deutsche Agrarpolitikerin stehen die Interessen
nserer heimischen Land- und Forstwirtschaft für mich
m Vordergrund. Sie stehen für heimische Wirtschafts-
raft und Arbeitsplätze, die nicht exportiert werden kön-
en. Dies sind wichtige gesamtwirtschaftliche Aspekte.
ir sind stolz auf die Produkte und Leistungen der hei-
ischen Erzeuger.
Wir beschließen Änderungen, um ein zukunftsfähiges
bsatzfondsgesetz zu schaffen. Mit diesem Änderungs-
esetz möchten wir erstens die aufgabenbezogene Ver-
eilung der Ausgabenlast neu regeln, zweitens die im
bsatzfondsgesetz verankerte gegenseitige personelle
erzahnung aufheben und drittens die Zahl der Mitglie-
er des Verwaltungsrates des Absatzfonds erhöhen und
eine Zusammensetzung zugunsten der Landwirtschaft
ndern.
Die Politik hat die Wichtigkeit des Absatzfonds er-
annt und schnell gehandelt. Es bleibt aber auch noch
ine ganze Menge zu tun. Die Ausgestaltung der Maß-
ahmen ist allerdings nicht Sache des Parlamentes. Es ist
ufgabe der Wirtschaft, die Unterstützung und Akzep-
anz in ihren jeweiligen Bereichen herzustellen. Ich bin
berzeugt, dass die Wirtschaft ihren Teil zum Gelingen
es Gesetzes beitragen wird und muss.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9287
(A) )
(B) )
Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute abschlie-
ßend die Änderung des Absatzfondsgesetzes und des
Holzabsatzfondsgesetzes und setzen damit längst über-
fällige Forderungen, unter anderem vom Rechnungshof,
um.
Das Absatzfondsgesetz – genauer gesagt: das Gesetz
über die Errichtung eines zentralen Fonds zur Absatzför-
derung der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft –
ist seit dem 26. Juni 1969 in Kraft, ins Leben gerufen
von einer Großen Koalition. Das Gesetz wurde verschie-
dene Male geändert, zuletzt von der rot-grünen Mehrheit
im Jahr 2002. Damals haben wir insbesondere die Be-
lange des Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutzes mit
aufgenommen und die personelle Besetzung des Verwal-
tungsrates entsprechend der neuen Zielsetzungen ange-
passt. Diese Änderungen wurden von der EU-Kommis-
sion umfangreich geprüft und notifiziert. Eine weitere,
bereits 2004 intensiv beratene und mit der heute debat-
tierten in vielen Punkten übereinstimmenden Gesetzes-
änderung ist zu meinem Bedauern im Vermittlungsaus-
schuss der letzten, verkürzten Legislatur gestrandet.
Ich möchte in dieser Debatte für meine Fraktion Fol-
gendes deutlich machen. Die deutsche Land- und Ernäh-
rungswirtschaft ist leistungs- und wettbewerbsfähig. Da-
mit sie erfolgreich bleibt, sind ihre Märkte im Inland,
innerhalb der Gemeinschaft und in der ganzen Welt zu
pflegen und weiter zu erschließen. Hierzu ist der ein-
zelne Erzeuger nicht umfassend in der Lage und dafür
gibt es den Absatzfonds und seine Ausführungsgesell-
schaften. Sie sind die Werkzeuge, die wir brauchen und
für die es sich zu werben und zu streiten lohnt.
Dabei stehen sie nicht außerhalb von Kritik, nein –
aber wer das zentrale Agrarmarketing erhalten möchte,
muss bereit sein zu Reformen. Wir wollen diese Verän-
derungen! Wir wollen das zentrale Agrarmarketing er-
halten, die daran geübte Kritik aufgreifen, breit diskutie-
ren und strukturelle Änderungen durchsetzen. Ob dafür,
jenseits dieser kleinen Novelle, gesetzliche Maßnahmen
notwendig sind oder die Arbeit alleine über die Verwal-
tungs- und Aufsichtsgremien geleistet werden kann,
wird die Diskussion in den nächsten Monaten zeigen.
Und wir wollen diese Diskussionen! Wir wollen auch
damit deutlich machen, dass dieses Gesetz der Verfas-
sung entspricht und EU-konform ist.
Die vorliegende Gesetzesnovelle ist in der Experten-
anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz von allen Sachverständi-
gen befürwortet worden. Ich werbe auch deshalb um
Ihre Zustimmung. Eine weitergehende Kritik an der Ab-
satzförderung ist für mich keine vernünftige Begrün-
dung, sich der Stimme zu enthalten oder dagegen zu
stimmen. Wer die zentrale Absatzförderung reformieren
will, muss sie zunächst erhalten.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Die FDP wird der
kleinen Novelle zum Absatzfondsgesetz zustimmen. Die
kleine Novelle kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass
sie am Kernproblem vorbeigeht. Ein Blick in die Be-
gründung offenbart uns, worum es bei dieser Novelle
wirklich geht: dem Bundesverfassungsgericht eine
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echtfertigung zu liefern, das Absatzfondsgesetz im
rundsatz als verfassungsgemäß einzustufen. Ob dieser
eg erfolgversprechend ist, bleibt abzuwarten. Die An-
örung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
erbraucherschutz hat aber deutlich zutage gefördert,
ass wir dringend eine Grundsatzdebatte über die Zu-
unft des Absatzfondsgesetzes benötigen.
Seit 1969 wird von den Produzenten des grünen Be-
eichs eine Zwangsabgabe erhoben, um mit zentralen
arketingstrategien den Absatz und Export landwirt-
chaftlicher Produkte zu fördern. Doch Werbung, die
peziell auf die deutsche Herkunft landwirtschaftlicher
rodukte abstellt, ist seit einem Urteil des EuGH verbo-
en. Die Unzufriedenheit unter den Bauern über die Effi-
ienz der CMA ist hoch. Viele fühlen sich durch die
erbung schlicht nicht vertreten, müssen aber trotzdem
ie Abgabe zahlen und andere bezweifeln, dass die Wer-
ung der CMA für sie irgendwelche Vorteile bietet. Die
rage, welchen Nutzen ganz allgemeine Werbung für
ilch oder Blumen oder Ähnliches für die Landwirte
at, wurde nicht nur nicht zufriedenstellend beantwortet,
ondern die Stellungnahme von Herrn Professor Becker
at ja sehr eindrucksvoll aufgezeigt, wie sinnlos solche
erbung ist.
Zwangssysteme unterliegen in einer rechtsstaatlichen
emokratie immer einem besonderen Rechtfertigungs-
ruck. Der Nutzen für die zwanghaft Beglückten muss of-
ensichtlich sein. Als Liberaler bevorzuge ich grundsätz-
ch freiwillige Systeme. Doch wenn es ein Zwangssystem
ibt, muss die Gruppennützlichkeit Voraussetzung für die
erfassungsmäßigkeit des jeweiligen Zwangssystems
ein. Auch wenn einige Experten in der Anhörung diese
ruppennützligkeit als gegeben ansahen, meine Zweifel
ind geblieben. Ich denke wir kommen an einer grundle-
enden Reform des Absatzfonds und der CMA nicht vor-
ei. Immer wieder wird insbesondere auf den Nutzen der
xportförderung abgestellt. Doch die Landwirte profitie-
en doch nur höchstens indirekt hiervon, weil vor allem
ie Ernährungswirtschaft Träger des Exports ist. Die Aus-
ndsmessenbetreuung wird vor allem von der Ernäh-
ungswirtschaft genutzt, also zum Beispiel von Lidl und
ldi. Welcher landwirtschaftliche Produzent setzt denn
eine Produkte tatsächlich über Auslandsmessen direkt im
usland ab? Der Hähnchenmäster beliefert Wiesenhof,
er Fleischproduzent Tönnies, der Obst- und Gemüse-
auer Krefeld und so weiter. Wie profitieren diese Land-
irte denn von der Exportförderung oder der Absatz-
örderung allgemein? Ich finde es seltsam, dass die
andwirte ihre Exportförderung selber bezahlen, wäh-
end das Bundeswirtschaftsministerium 180 Millionen
uro Steuermittel für die gesamte Außenwirtschaftsför-
erung des nicht grünen Bereichs einsetzt und allein
6 Millionen Euro für die Auslandsmessenbetreuung.
arum müssen Bauern dies aus eigener Tasche bezahlen
nd für den nicht grünen Bereich bezahlt dies der Steuer-
ahler? Diese Fragen wurden auch in den Ausschussbe-
atungen nicht zufriedenstellend geklärt.
Insbesondere die sogenannten Flaschenhalsbetriebe
enden sich immer wieder gegen den Absatzfonds und
estreiten den Sinn und Zweck des zentralen Absatzmar-
etings. Angesichts dessen, dass die meisten landwirt-
9288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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schaftlichen Betriebe doch nur noch beim regionalen
Marketing einen direkten Kontakt zum Endverbraucher
haben, stellt sich auch mir die Frage, worin der Sinn
liegt, in allgemeiner Werbung zum Beispiel Milch anzu-
preisen?
Der Bauernverband spricht davon, dass die CMA-
Werbung ganz allgemein dem Verbraucher die Werthal-
tigkeit landwirtschaftlicher Produkte vermitteln soll.
Aber glaubt denn wirklich jemand, dass die CMA Ein-
fluss auf die Verbraucherentscheidung nehmen könnte,
lieber ein Buch, einen CD-Player, Designkleidung oder
ein Stück Qualitätsfleisch zu kaufen? Der Rechtferti-
gungsdruck unter dem der Absatzonds steht, hat durch
das aktuelle Gesetzgebungsverfahren nicht nachgelas-
sen.
Liebe Kollegen von der Großen Koalition, mit eurer
kleinen Novelle habt ihr es euch zu leicht gemacht. Das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird nicht vor
2009 erwartet. Wir hätten die Zeit für eine umfassende
Reform nutzen sollen. Auf hoher See und vor Gericht ist
man in Gottes Hand, deshalb ist es sehr fraglich, darauf
zu vertrauen, dass das BVerfG schon nicht das Absatz-
fondsgesetz für verfassungswidrig erklären wird. Selbst
von denen, die grundsätzlich für den Erhalt des Absatz-
fonds eintreten, gibt es eine Reihe von grundlegenden
Reformforderungen, um die Effizienz der CMA zu erhö-
hen. Diese Diskussion bis nach einem Urteil zu verschie-
ben halte ich für falsch.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.): Über den
nun zur Abstimmung vorgelegten Gesetzentwurf der
Koalition zum Absatzfondsgesetz wurde sehr intensiv
diskutiert. Und das, obwohl die vorgeschlagenen Ände-
rungen und die auch im Gesetz geregelte Zentrale
Markt- und Preisberichtsstelle, ZMP, kaum strittig sind.
Aber es wird eben auch der dringende Regelungsbedarf
bei der CMA nicht aufgegriffen, und das, obwohl er in
der Gesetzesbegründung dargelegt wird. Der Gesetzent-
wurf trägt damit nicht zur Lösung der eigentlichen Pro-
bleme des Absatzfonds bei.
Es bleibt bei der Intransparenz, es bleibt bei der gerin-
gen Wirksamkeit, es bleibt bei dem zu geringen Nutzen
für die Beitragszahlerinnen und -zahler, es bleibt bei den
rechtlichen und inhaltlichen Bedenken. Aus diesem
Grund lehnen wir diese Mini-Novelle ab.
Dass eine Absatzförderung sinnvoll ist, bestreitet ja
niemand. Die Frage ist aber: Wie wird gefördert, und
wer bezahlt das?
Lassen Sie mich nun zu einigen konkreten Kritik-
punkten kommen:
Erstens: Finanzierungssystematik. Der Absatzfond fi-
nanziert sich über Zwangsabgaben. Das halten wir für
antiquiert, möglicherweise ist es nach aktueller Rechts-
lage auf EU- und Bundesebene sogar rechtswidrig.
Hinzu kommt, dass eine wachsende Zahl der unfreiwilli-
gen Beitragszahlerinnen und -zahler keinen Nutzen se-
hen. Genau hier setzen die Klagen betroffener Milchbau-
ern an. Sie finanzieren mit knapp 38 Prozent der
Beiträge einen Löwenanteil des Absatzfonds. Aber ob-
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ohl der schon eine halbe Ewigkeit existiert, hat sich ge-
ade für diese Erzeugergruppe die Lage eher verschlech-
ert. Selbst im Jahr 2002, als die Milchpreise aufgrund
er BSE-Krise kurzfristig einen Spitzenwert von 32 Cent
rreichten, entsprach das Preisniveau gerade einmal dem
on 1987. Seither sind die Preise wieder um mehr als
0 Prozent auf durchschnittlich 28 Cent gesunken. Das
iegt unter dem Erzeugerkostenniveau. Viele Betriebe
erden das auf Dauer nicht überstehen. In ihrer verzwei-
elten Lage werden sogar Lieferboykotts angedroht. Was
at also der Absatzfond den Milcherzeugern gebracht?
ind Milchverbrauch und Absatz von Molkereiproduk-
en gestiegen? Haben sich die Verbraucherpreise durch
rfolgreiches Marketing stabilisiert? Nichts davon ist
ingetreten und die Frage danach muss erlaubt sein:
elche Leistung gibt es für den Zwangsbeitrag? Das im
usschuss ausgerechnet die CDU beim Absatzfond das
olidarprinzip einfordert, ist nach der Gesundheits„re-
orm“ zynisch. Ich stelle dagegen die Frage: Wer profi-
iert denn eigentlich wirklich vom Absatzfonds?
Zweitens: Mangel an Transparenz, Ineffizienz und
ontrolle. Diese Frage führt zwangsläufig zum zweiten
entralen Kritikpunkt: Viele der derzeitigen Maßnahmen
es Absatzfonds sind nicht transparent, ineffizient und
ntziehen sich jeglicher Kontrolle. Diese Kritik war auch
n der Ausschussanhörung deutlich vernehmbar. So ist
um Beispiel unbekannt, wie viel Aufwand für den Ab-
atz und das Marketing in Drittländern außerhalb der EU
etätigt wird. Seitens der EU-Absatzförderung werden
olche Maßnahmen unterstützt. Laut Kommissionsbe-
icht vom Anfang dieses Jahres ist es nicht gelungen, die
on der Kommission eingestellten Mittel auszunutzen.
ie mangelnde Transparenz der Absatzfondsausgaben
ässt eine genauere Bewertung der Aktivitäten leider of-
ensichtlich nicht zu. Natürlich betreiben andere Länder,
nsbesondere die USA und Kanada, aufwendige Absatz-
örderung. Aber zumeist in einer völlig anderen Struktur
nd mit dem Anspruch einer ordentlichen Evaluierung
er Maßnahmen. Ich halte das für so selbstverständlich,
ass ich sehr erstaunt bin. Schon der in der Ausschussan-
örung von Professor Becker geäußerte Verdacht auf
inen solchen Mangel beim Absatzfonds hätte zum Han-
eln zwingen müssen. Das kann doch nicht geduldet
erden.
Drittens: Rechtliche Zulässigkeit und Produkt-
annibalismus. Die EU-Zulässigkeit des Absatzfonds
ird sehr unterschiedlich bewertet. Die EU-Richtlinien
ur Absatzförderung schreiben eine produktbezogene
örderung vor. Warum aber soll ein Brandenburger
andwirt die Werbung für französischen Käse finanzie-
en? Ich kann nachvollziehen, dass sich ihm das kaum
rschließt. Durch die allgemeine Marktsättigung im Le-
ensmittelbereich kommt es zudem zum Produktkaniba-
ismus, das heißt, Werbeerfolge für die eine Produktgat-
ung verdrängt Verbrauchs- und Marktanteile anderer
attungen. Die innereuropäische Verflechtung der
ärkte führt dazu, dass eine Absatzförderung für eine
roduktgattung zwangsläufig auch die ausländische
onkurrenz fördert. Hier zahlen die deutschen Erzeuge-
innen und Erzeuger über eine gesetzlich geregelte
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9289
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Zwangsabgabe die Absatzförderung der innereuropäi-
schen Mitbewerber mit – übrigens ohne Gegenleistung.
Viele Landwirtinnen und Landwirte zahlen deshalb – zu-
sätzlich zu den Zwangsabgaben des Absatzfonds – völlig
freiwillig für das Marketing eigener Produkte mit beson-
derer Qualität oder Regionalität. Die Integration solcher
erfolgreicher Marketingaktivitäten in die Absatzförde-
rung würde Akzeptanz und Effizienz deutlich verbessern.
Viertens: Verfassungsmäßigkeit der Zwangsbeiträge.
In der Anhörung am 7. März wurden zur Verfassungs-
mäßigkeit sehr unterschiedliche Positionen durch die
Experten vertreten. Die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts wird Ende des nächsten Jahres erwartet.
Aber die Argumentation des Verwaltungsgerichts Köln
liegt vor. Es hat die Zwangsabgabe aus nachvollziehba-
ren Gründen abgelehnt.
Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, hindert uns als
Gesetzgeber eigentlich daran, unabhängig von noch aus-
stehenden gerichtlichen Entscheidungen ein zukunfts-
fähigeres und breiter akzeptiertes System der Absatzför-
derung zu gestalten? Selbst die Vertreter der Koalition
haben im Ausschuss betont, dass eine umfassende Re-
form des Absatzfondsgesetzes erforderlich ist. Warum
tun sie es dann nicht?
Vielleicht liegt das Hauptproblem darin, alte Zöpfe
abzuschneiden, um sich dann unvoreingenommen nach
neuen Systemen der Absatzförderung umzusehen, übri-
gens ausdrücklich auch im Interesse der Beschäftigten
der CMA und ZMP.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Bes-
tenfalls unwirksam“ – so betitelte die Zeitschrift „Wer-
ben und Verkaufen“ in ihrer Ausgabe vom 15. März die-
ses Jahres ihren Artikel über unsere Anhörung im
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zur Novelle des Absatzfondsgesetzes. Ein
hartes Urteil über die CMA bei einem Jahresetat von
100 Millionen Euro, gespeist aus den Zwangsbeiträgen
der landwirtschaftlichen Erzeuger!
Dieses Pauschalurteil ist sicherlich überzogen und so
nicht zutreffend. Allerdings besteht die Kritik am Ab-
satzfonds zu Recht, und das zur Debatte stehende Ab-
satzfondsgesetz gehört auch nach der heutigen Abstim-
mung grundsätzlich auf den Prüfstand. Das wurde durch
die Anhörung am 7. März eindeutig bestätigt. Professor
Tilman Becker von der Universität Hohenheim bei-
spielsweise schätzt die Effizienz der generischen Wer-
bung als sehr gering ein. Er verweist in seiner Stellung-
nahme auf eine Reihe weiterer Wissenschaftler, die zu
ähnlichen Einschätzungen kommen. Die Werbemaßnah-
men der CMA seien überwiegend auf das Ziel ausgerich-
tet, den Namen der CMA positiv aufzuladen. Damit
würde die ganze Angelegenheit zum Selbstzweck.
Deutlich wurde aber auch, dass sich die Kritik an der
Arbeit der CMA entzündet und die Sinnhaftigkeit und
Qualität der Arbeit der Zentralen Markt- und Preisbe-
richtsstelle – ZMP – allgemein anerkannt wird.
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Die Legitimationskrise des Absatzfonds hat sich
urch die sich aus EU-Recht ergebenden Einschränkun-
en der herkunftsbezogenen Werbung und die vom Ver-
altungsgericht Köln geäußerten Zweifel an der Verfas-
ungskonformität dramatisch verschärft. Der Kölner
eschluss ist dabei der Auslöser der Klage- und Wider-
pruchswelle, aber die Ursache ist mangelnde Rücken-
eckung und Akzeptanz. Die ablehnende Haltung ist si-
her durch die nicht vorhandene Bereitschaft bei den
erantwortlichen verstärkt worden, auf die seit Jahren
orgebrachte Kritik angemessen zu reagieren.
Allerdings wäre ein ersatzloser Wegfall eines Ge-
einschaftsmarketings und der unabhängigen Markt-
nd Preisberichtserstattung für die Land- und Ernäh-
ungswirtschaft in Deutschland durchaus ein Verlust und
in Wettbewerbsnachteil gegenüber der Land- und Er-
ährungswirtschaft innerhalb der Europäischen Gemein-
chaft, da es in anderen Mitgliedstaaten vergleichbare
nstrumente gibt. Das Marketing im Lebensmittelbereich
änzlich der Lebensmittelindustrie zu überlassen, wäre
em Ziel der Förderung eines gesundheitsbewussten Er-
ährungsverhaltens nicht dienlich und nicht im Sinne
es Verbraucherschutzes. Um dem Gemeinschaftsmar-
eting eine Zukunft zu geben und die Kritik aufzuneh-
en, brauchen wir mehr als diese formale Novelle.
Die Abgaben zum Absatzfonds haben quasi fiskali-
chen Charakter. Eine Geheimhaltung widerspricht de-
okratischen Prinzipien. Eine Berichtspflicht zur Offen-
egung der Einnahmen und Ausgaben sollte im
bsatzfondsgesetz verankert werden.
Ebenso müssen die landwirtschaftlichen Erzeuger in
hrer Bandbreite angemessen in den Gremien vertreten
ein. Das wird weder durch das bestehende Gesetz noch
urch die vorgesehene Änderung gewährleistet. Dem
entralausschuss der Deutschen Landwirtschaft werden
ie Vorschlagsrechte für sämtliche landwirtschaftlichen
ertreter im Verwaltungsrat des Absatzfonds einge-
äumt. Der Zentralausschuss ist aber lediglich ein Zu-
ammenschluss von vier Verbänden der deutschen
grarwirtschaft. Er stellt keine offizielle Interessenver-
retung der deutschen Landwirtschaft dar. Er verfügt
ber keine Organe und keine demokratisch legitimierten
trukturen. Daher ist es nicht nachvollziehbar, warum
iese Einrichtung zusätzlich zu den sieben bisherigen
ertretern auch noch das Vorschlagsrecht für die fünf
eu zu vergebenden Sitze erhält. Insbesondere die Land-
irtschaft aus den neuen Bundesländern, die Nebener-
erbslandwirte und die in der Arbeitsgemeinschaft bäu-
rliche Landwirtschaft organisierten Betriebe werden
urch den Zentralausschuss nur unzureichend vertreten.
Die generische Werbung wird ganz überwiegend von
en Experten als wirkungslos oder doch weitgehend wir-
ungslos eingeschätzt. Für Ärger sorgten in der Vergan-
enheit auch einige der gewählten Werbemaßnahmen,
ie von einigen als sexistisch wahrgenommen wurden.
ndere Vorwürfe von Verbraucherseite lauten, es sei un-
ulässige Werbung mit nicht wissenschaftlich abgesi-
herten gesundheitsbezogenen Aussagen betrieben wor-
en, und es seien Produkte aus tierquälerischen
altungsformen beworben worden.
9290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Um der Kritik gerecht zu werden und Klarheit hin-
sichtlich der Aufgaben und Schwerpunktsetzung zu
schaffen, muss dieses im Gesetz verankert werden. Pro-
duktdifferenzierung, Förderung von Wertschöpfungsket-
ten, Regionalität, Qualität und Lebensmittelsicherheit,
Produkt- und Technologieinnovation, Wertschätzung ge-
sunder Lebensmittel sind die Bereiche, die dabei ge-
stärkt werden müssen. Das zentral-regionale Marketing
wird übrigens meist positiv beurteilt; auch das ist durch
die Anhörung sehr deutlich geworden. Leider sind trotz
öffentlicher Bekundungen seitens des Vorsitzenden des
Verwaltungsrates und Präsident des Deutschen Bauern-
verbandes, Gerd Sonnleitner, beim Absatzfonds keiner-
lei Ansätze für eine Neuorientierung erkennbar. Bei den
Sparmaßnahmen im Haushalt 2007 wurden alle Kürzun-
gen nach der Rasenmähermethode vorgenommen.
Die CMA führt statt nachprüfbarer Erfolgskontrollen
umfangreiche Untersuchungen zur Überprüfung ihres ei-
genen Bekanntheitsgrades durch. Es muss daher eine un-
abhängige Evaluierung der Maßnahmen gewährleistet
werden. Auch das sollte im Gesetz verankert werden.
Die Monopolstellung der CMA ist nicht zeitgemäß
und trägt wesentlich zur Ineffizienz der Maßnahmen bei.
Daher muss das Gesetz die Aufgabenbereiche klar defi-
nieren. Durch Ausschreibungs- und Vergabeverfahren
muss – wie in anderen Bereichen auch – mehr Wettbe-
werb und Dynamik in das System hinein.
Diese kleine Novelle des Absatzfondsgesetzes trägt
insgesamt nicht zur Lösung der anstehenden Probleme
bei. Den Einwendungen des Verwaltungsgerichts Köln
wird sie ebenfalls nicht gerecht. Sie ist nicht geeignet,
die Akzeptanz der Absatzförderung bei Beitragszahlern
oder in der Öffentlichkeit zu verbessern. Wir werden da-
her dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Indigene Völker – Ra-
tifizierung des Übereinkommens der Internatio-
nalen Arbeitsorganisation (IAO) Nr. 169 über
Indigene und in Stämmen lebende Völker in un-
abhängigen Staaten (Tagesordnungspunkt 15)
Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Wir stehen heute vor
dem Problem, über einen Antrag zu beraten, dem wir ei-
gentlich in weiten Teilen zustimmen können und wollen,
ihn aber doch aus bestimmten Gründen ablehnen müs-
sen. Der Teil des Antrags, dem wir zustimmen können,
befasst sich mit der Situation indigener Völker in Ent-
wicklungsländern und wie wir deren Situation verbes-
sern können. Aber der Antrag beinhaltet auch die Forde-
rung, das IAO-Übereinkommen über Indigene Völker in
Deutschland zu ratifizieren und damit hier bei uns zu
geltendem Recht zu machen.
Und daher stellt sich zunächst die Frage, wie sich die
Situation der in Deutschland lebenden indigenen Völker
darstellt und ob eine Ratifizierung des Übereinkommens
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hre Situation verbessern würde? Die Antwort kann nur
ein, dass eine Anwendung auf die in Deutschland le-
enden nationalen Minderheiten wie Friesen, Dänen und
orben nicht zielführend ist, da diese Volksgruppen weit
eichende Rechte genießen und auch in Anspruch neh-
en. Dies wird auch von allen Seiten anerkannt und ge-
ördert.
Viel entscheidender für die Beantwortung der Frage
ind für mich entsprechende Aussagen aus den Bundes-
inisterien für Wirtschaft und Inneres, aus denen her-
orgeht, dass es in diesen Häusern wohl die Befürchtung
ibt, dass eine Ratifizierung des Übereinkommens nicht
m Einklang mit nationalem Recht steht. Die Ministerien
erweisen auf mögliche Verzögerung von Projekten der
ußenwirtschaftsförderung und neue rechtliche Rah-
enbedingungen für bestimmte Indigene Volksgruppen
n Deutschland, die daraus möglicherweise bestimmte
onderrechte für sich ableiten könnten. Solange diese
echtlichen Fragen für Deutschland nicht abschließend
eklärt sind, können wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-
ion dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht zu-
timmen.
Trotz dieser „nationalen“ Einwände möchte ich hier
ber klarstellen, dass sich viele richtige und wichtige
ussagen im vorgelegten Antrag finden, die wir als
DU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich unterstüt-
en. Dabei möchte ich vor allem die Analyse der Situa-
ion von indigenen Völkern besonders in Lateinamerika
owie daraus resultierende Folgerungen für die deutsche
ntwicklungszusammenarbeit herausstellen.
Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, dass allein in
olivien 62 Prozent der Bevölkerung indigenen Völkern
ngehören und dem gegenüberstellt, dass vom indigenen
eil der Bevölkerung 52 Prozent in extremer Armut le-
en, vom übrigen Teil der Bevölkerung aber nur 27 Pro-
ent – dann stimmen sie mir sicherlich zu, dass wir uns
emühen müssen, die Lebenssituation für Angehörige
er Indigenen Völker dort zu verbessern. Dabei ist Boli-
ien kein Einzelfall – ähnliche Zahlen gibt es auch bei-
pielsweise zu Ecuador, Peru oder Guatemala. Dies hat
iele Ursachen, die ich hier nicht alle nennen kann – es
iegt oftmals an der Diskriminierung beim Zugang zu Fi-
anzdienstleistungen oder Ausbildung, an Rechtsun-
icherheit oder an Konflikten im Bereich der Raumord-
ung oder des Landrechts.
Doch diese prekäre Situation ist der Bundesregierung
ekannt und sie hat entsprechende Schritte eingeleitet,
m sie zu bessern. So hat sie eigens zu diesem Themen-
omplex ein Konzept mit dem Titel „Entwicklungszu-
ammenarbeit mit indigenen Völkern in Lateinamerika
nd der Karibik“ erarbeitet. Hiermit soll der besonderen
edeutung der Indigenen Völker für die Entwicklung
er Länder, in denen sie leben, Rechnung getragen wer-
en. In diesem Konzept werden Maßnahmen genannt,
ie im vorgelegten Antrag gefordert werden – insofern
asse ich viele Passagen des Antrags auch als Unterstüt-
ung für die bisherige Politik der Bundesregierung auf.
Die Entwicklung Lateinamerikas und anderer Länder
st nur dann nachhaltig, wenn auch die indigenen Völker
ingebunden und gefördert werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9291
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Dabei müssen wir uns zum Ziel setzen, nicht nur die
Lebensbedingungen der Indigenen Völker im engeren
Sinne zu verbessern, sondern auch ihre politische Orga-
nisations- und Partizipationsfähigkeit zu fördern. Ich
möchte an dieser Stelle folgendes Zitat wiedergeben: „In
der Geschichte Guatemalas haben wir Mayas immer nur
unser Recht ausgeübt, zu wählen, nicht aber gewählt zu
werden.“ Dies sagte jüngst Rigoberta Menchú bei ihrer
Ankündigung, für das Präsidentenamt in Guatemala zu
kandidieren. Sie gehört wie 40 Prozent ihrer Landsleute
zur Volksgruppe der Maya und hat für ihr bisheriges Ein-
treten für die Rechte der Indios 1992 den Friedensnobel-
preis erhalten.
Wir dürfen aber auch die Rolle der Indigenen Völker
in anderen Entwicklungsfeldern nicht vergessen: Indi-
gene Völker leisten dort, wo sie noch in unmittelbarer
Nähe zu natürlichen Ressourcen und biologischer Viel-
falt leben und wirtschaften, einen unschätzbaren Beitrag
zur Erhaltung der Biodiversität. Hinzu kommt ihre Rolle
als Teil des Weltkulturerbes. Erwähnenswert ist auch ihr
Potenzial zur Entwicklung ihrer Staaten und Gesell-
schaften.
Diese Analyse wird auch von der internationalen
Staatengemeinschaft geteilt und entsprechend umge-
setzt. So gibt es im Rahmen des UN-Systems zahlreiche
Gremien und Resolutionen, die sich mit der Verbesse-
rung der Situation von Indigenen Völkern befassen. Dies
geschieht auf vielfältigste Art und Weise – beispiels-
weise durch die Unterstützung regionaler Dachverbände
Indigener Völker und ihrer Vertreter bei der Wahrneh-
mung ihrer Interessen gegenüber den Regierungen und
auf internationaler Ebene.
Gerade dieses Instrumentarium hat sich bewährt und
ist auch ein Element der deutschen Entwicklungszusam-
menarbeit. So kooperiert das BMZ mit der COICA (Co-
ordinadora de las Organizaciones Indigenas de la
Cuenca Amazónica), die die Interessen der indigenen
Amazonasvölker vertritt, oder dem Zentralamerikani-
schen Rat Indigener Völker, kurz CICA. Ebenfalls wer-
den Vertreter indigener Völker bei der Planung und
Durchführung der deutschen Entwicklungszusammenar-
beit einbezogen und bringen so ihre Erfahrungen und
Ideen in die Projekte ein.
Denn nur gemeinsam mit dem Wissen und Erfah-
rungsschatz der Indigenen Völker können Projekte Aus-
sicht auf Erfolg haben und eine nachhaltige Wirkung er-
zielen.
Nun wird das alles auch im entwicklungspolitischen
Teil des vorliegenden Antrags gefordert und ich betone
ausdrücklich, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
dies unterstützt. Auch wird gelegentlich eine Solidarrati-
fikation gefordert. Meines Erachtens nach greift dieses
Argument zumindest für Lateinamerika nicht, denn ab-
gesehen von ganz wenigen Ausnahmen haben alle
lateinamerikanischen Länder das Übereinkommen ratifi-
ziert. Die meisten Verfassungen lateinamerikanischer
Länder erkennen die nationale Gesellschaft mittlerweile
als multiethnisch oder multikulturell an und sprechen
den indigenen Bevölkerungsgruppen entsprechende
Rechte zu.
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Dies sind alles ermutigende und viel versprechende
ignale, auch wenn sie insgesamt noch nicht ausreichen.
ir müssen die indigenen Völker und die Länder, in de-
en sie leben, weiter in ihren Bemühungen unterstützen.
nd – ich betone nochmals – der Antrag enthält in sei-
em entwicklungspolitischem Teil richtige und wichtige
orschläge dazu. Insgesamt müssen wir den Antrag aber
us den genannten Gründen ablehnen, auch wenn ich
leichwohl hoffe, dass wir Mittel und Wege finden, die
ngesprochenen Probleme zu überwinden, um das Über-
inkommen Nr. 169 über indigene Völker auch in
eutschland ratifizieren zu können.
Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Stellen Sie
ich vor, wir hier in Deutschland wären Angehörige ei-
es indigenen Volkes und andere Gesellschaften oder
roße Wirtschaftsunternehmen kämen hierher und wür-
en unseren Lebensraum zerstören, unsere natürlichen
essourcen ausbeuten, uns demokratische Beteiligung
orenthalten und uns elementare politische Rechte ver-
eigern. Wir würden diskriminiert und ausgegrenzt, wir
ätten keine Rechtssicherheit, keinen Zugang zu Schul-
ildung, zu medizinischer Grundversorgung und zu Fi-
anzdienstleistungen. Kurz: Wir wären in Europa weit-
ehend vom politischen, wirtschaftlichen, sozialen und
ulturellen Leben ausgeschlossen. Jetzt frage ich Sie:
ürden Sie sich für oder gegen die Ratifizierung der
LO-Konvention 169 entscheiden?
Die ILO-Konvention 169 ist seit 1989 das bisher ein-
ige internationale Vertragswerk mit völkerrechtlichem
tatus, das die Rechte indigener oder in Stammesgesell-
chaften lebender Bevölkerungsgruppen schützt. Von
en insgesamt 177 Mitgliedstaaten der Vereinten Natio-
en haben nur 18 Länder dieses Vertragswerk ratifiziert.
as ist eine enttäuschende Bilanz. In Europa sind Nor-
egen, die Niederlande, Dänemark und zuletzt Spanien
it gutem Beispiel vorangegangen. Die Vereinten Natio-
en schätzen, dass weltweit zwischen 300 und
00 Millionen Menschen Angehörige indigener Bevöl-
erungsgruppen sind. Sie leben in mehr als
000 Gemeinschaften und in mehr als 70 Ländern die-
er Erde. Zusammen bilden sie fast 5 Prozent der Welt-
evölkerung.
Die ILO-Konvention 169 erkennt indigene Gemein-
chaften als „Völker“ an, wenngleich auch ohne staatli-
he Souveränität, aber als kollektive Besitzer eines Ter-
itoriums und als Gemeinschaften mit eigenen
raditionellen Selbstverwaltungsorganen. Die Konven-
ion hat zum Ziel, Schutz und Anspruch auf eine Viel-
ahl von Grundrechten für die Angehörigen indigener
ruppen rechtsverbindlich zu regeln. Dies betrifft unter
nderem das Recht auf ihre eigene Lebensweise, Spra-
he und Kultur, das Recht auf traditionelles Land oder
erritorium sowie die Nutzung der dort vorhandenen
essourcen, das Recht auf Selbstverwaltung und das
echt auf spezielle Konsultations- und Partizipations-
erfahren bei allen Vorhaben, die Einfluss auf das Terri-
orium oder die Lebensweise von indigenen Gruppen ha-
en.
9292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag die Bun-
desregierung aufgefordert, die ILO-Konvention 169 zu
ratifizieren. Dieser Aufforderung ist die Bundesregie-
rung bis heute nicht nachgekommen. Nicht nur die Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen, sondern auch die
Menschenrechts- und die Entwicklungspolitiker und -po-
litikerinnen der SPD-Bundestagsfraktion halten die For-
derung nach einer Ratifikation für notwendig und wich-
tig. Wir müssen uns aber eingestehen, dass es uns auch
unter Rot-Grün nicht gelungen ist, unsere Fraktionskol-
leginnen und -kollegen – vor allem aus der Innenpolitik,
der Verteidigungs- und der auswärtigen Politik, aber
auch die Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern –
zu dieser wichtigen Entscheidung zu bewegen.
In den Debatten der vergangenen Jahre wurde viel-
fach das Argument zitiert, Deutschland müsse die ILO-
Konvention 169 nicht zeichnen, da sie für den Geltungs-
bereich des Grundgesetzes rechtlich ohne Konsequenzen
wäre. Diese Auffassung wird der Rolle Deutschlands in
der Welt nicht gerecht. Das Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung plädiert
schon seit 1996 unter unterschiedlichen Ministerinnen
und Ministern dafür, die ILO-Konvention 169 nicht nur
in der Entwicklungspolitik, sondern auch in der Außen-
und Wirtschaftspolitik zu einem übergreifenden Bezugs-
rahmen für bilaterale Beziehungen zu anderen Ländern
zu machen.
Erst Ende 2006 hat Bundesministerin Heidi
Wieczorek-Zeul ein neues Konzept vorgelegt. Die
Grundlage für dieses neue Konzept sind die Evaluierung
des ersten BMZ-Konzeptes von 1996 und die Ergebnisse
von Konsultationsprozessen mit Vertreterinnen und Ver-
tretern indigener und internationaler Organisationen.
Ich nenne ein paar der wichtigsten Empfehlungen:
erstens bessere Verankerung der Belange indigener Völ-
ker in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, vor
allem, wenn es um Vorhaben der guten Regierungsfüh-
rung geht, zweitens Einbeziehung indigener Völker und
Organisationen als zentrale Akteure in jegliche Planung
und Umsetzung, drittens Verbindung der Demokratieför-
derung mit interkulturellem Dialog und viertens Berück-
sichtigung und Unterstützung des Themas in Krisenprä-
vention und Konfliktbearbeitung. Eine wichtige
Forderung der indigenen Vertreterinnen und Vertreter ist
für mich die Forderung nach mehr Beteiligung bei bila-
teralen und regionalen Vorhaben mit staatlichen Institu-
tionen und insgesamt ein größeres Maß an direkter Zu-
sammenarbeit.
1995 proklamierten die Vereinten Nationen die inter-
nationale Dekade der „Indigenen Bevölkerungen“, von
1994 bis 2004. Das Motto hieß „Indigene Völker – Part-
nerschaft in Aktion“. In den Bereichen Menschenrechte,
Umwelt, Gesundheit und Bildung sollte die internatio-
nale Zusammenarbeit ausgebaut werden. Erfolge dieser
Dekade waren die Berufung eines VN-Sonderberichter-
statters und die Gründung des ständigen Forums für indi-
gene Fragen im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialra-
tes Ecosoc. Trotzdem ist das Fazit deprimierend: Die
Dekade trug nicht dazu bei, die allgemeine Lebenssitua-
tion der Indigenen zu verbessern. Deshalb rief die VN-
Generalversammlung im Dezember 2004 zu einer
„
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Zweiten Internationalen Dekade der indigenen Völker
er Welt“ auf.
Indigene Völker sind unverhältnismäßig stark von
rmut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, unzureichender Bil-
ung und Kindersterblichkeit betroffen. Die Millenni-
msziele greifen insgesamt diese Themen auf. Es ist
ber notwendig, die spezielle Situation indigener Völker
ei der Verwirklichung der Millenniumsentwicklungs-
iele zu berücksichtigen.
Multilaterale und bilaterale Geber haben spezielle
trategien und Leitlinien für die Zusammenarbeit mit in-
igenen Völkern entwickelt: Die Weltbank hat einen
mfangreichen Konsultationsprozess geführt, und die in-
eramerikanische Entwicklungsbank verabschiedete
berarbeitete Leitlinien. Beide haben sich für die ver-
indliche Vorgabe entschieden, dass indigene Völker an
rojekten, die sie direkt oder indirekt betreffen, zu betei-
igen sind. Auch der Rat der europäischen Union hat sich
998 für die grundsätzliche Berücksichtigung der Rechte
nd Anliegen der indigenen Völker als Querschnittsauf-
abe ausgesprochen. Er hat Kriterien definiert, die in der
ilateralen EZ der EU-Mitgliedsländer zum Ausdruck
ommen sollen.
Das Europaparlament hat alle Mitgliedstaaten aufge-
ufen, die ILO-Konvention 169 über „Indigene und in
tämmen lebende Völker“ zu ratifizieren. Ich habe die
offnung noch nicht aufgegeben, dass die deutsche
undesregierung den Wünschen der Ministerin für wirt-
chaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Tei-
en des Parlaments folgen wird.
Dr. Karl Addicks (FDP): Die Achtung und der
chutz indigener Völker sind in den letzten Jahren mehr
nd mehr beachtet worden. Dies befürworten wir Libe-
ale ausdrücklich! Die in Stämmen lebenden Völker leis-
en einen besonderen Beitrag zur kulturellen Vielfalt.
abei gilt es besonders, sowohl den Erfahrungsschatz
ls auch das naturspezifische Wissen dieser Völker als
undus für den Schutz der Biodiversität zu erhalten und
u nutzen. In der Entwicklungszusammenarbeit, aber
uch in der Umweltpolitik gilt es, dieses Wissen zu nut-
en und zu berücksichtigen. Ich denke, in diesen Punk-
en sind wir uns alle einig.
Viele nationale und internationale Initiativen und Or-
anisationen haben dies erkannt und sich den Schutz der
ndigenen Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben.
ies ist zu begrüßen. Zu nennen sind zum Beispiel die
rbeitsgruppe über indigene Bevölkerungen, das Stän-
ige Forum über indigene Angelegenheiten sowie der
onderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte und
rundlegenden Freiheiten indigener Völker. Dies sind
ur einige Beispiele, die aber verdeutlichen, dass dieses
hema erkannt und diskutiert wird. Die FDP sieht zu-
em keinen Bedarf an einer zusätzlichen Initiative. Sie
elbst, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
agen dies auch in Ihrem Antrag. Der Schutz indigener
ölker sei bereits in zahlreichen internationalen Abkom-
en aufgegriffen worden. Sowohl auf europäischer
bene als auch bei den Vereinten Nationen sind bereits
ahlreiche Bestrebungen zum Schutz indigener Völker
rfolgreich zum Abschluss gekommen. Warum also ein
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9293
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weiteres Abkommen, das meines Erachtens keinen zu-
sätzlichen Nutzen enthält?
Und noch eines finde ich sehr merkwürdig. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie selbst
haben es in Ihrer rot-grünen Regierungskoalition in der
Hand gehabt, die IAO Nr. 169 zu ratifizieren. Warum ha-
ben Sie das nicht getan? Wo sie doch Regierungsverant-
wortung und die nötige Mehrheit im Plenum hatten. Es
wäre also – wenn sie es gewollt hätten – ein Leichtes ge-
wesen, diese Ratifikation vorzunehmen. Da kann ich Ih-
ren jetzigen Vorstoß nicht ganz ernst nehmen.
Doch nicht nur die Frage nach dem zusätzlichen Nut-
zen stellt sich für uns Liberale. Auch sehen wir in der
IAO Nr. 169 das Problem der Unterscheidung zwischen
indigener und nichtindigener Bevölkerung. Wir Liberale
glauben an die Universalität der Menschenrechte. Eine
Unterscheidung zwischen indigenen und nichtindigenen
Individuen sollte es für uns nicht geben. Diese Art der
Positivauslesen lehnen wir ebenso ab wie auch jede an-
dere Form der Diskriminierung. Das ist auch der Haupt-
grund, warum wir diesem Antrag nicht zustimmen kön-
nen.
Eine weitere Forderung in Ihrem Antrag besteht in ei-
ner stärkeren Berücksichtigung indigener Völker in der
Entwicklungszusammenarbeit sowie auch als Dialog-
partner. Dies ist in vielen Fällen bereits vorhanden, und
da stellt sich für mich ebenso die Frage: Warum muss
hier eine Unterscheidung erfolgen? Diese Art von Dis-
kriminierung können wir Liberale nicht unterstützen.
Für uns haben alle Menschen die gleichen Rechte. Unser
Ziel muss es vielmehr sein, dass die Menschenrechte
weltweit geschützt, geachtet und eingefordert werden.
Das muss unser aller Ziel sein.
Wir Liberale lehnen aus diesen Gründen den Antrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Ratifika-
tion der IAO Nr. 169 ab.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Zu den indi-
genen Völkern zählen weltweit rund 300 Millionen
Menschen. Sie gehören in vielen Ländern zu denjenigen,
die am meisten unter Unterdrückung und Ausgrenzung
zu leiden haben. Im Zentrum der Konflikte mit Regie-
rungen und internationalen Unternehmen steht das Recht
der Indigenen auf ihr eigenes Land.
In Sibirien werden Rentierhirten von Ölfirmen aus ih-
rem Land vertrieben. In Botswana sollte das Buschvolk
der San aus der Zentralkalahari verschwinden, damit für
die Tourismusindustrie ein Naturreservat ohne Men-
schen entstehen kann.
Der zuständige UN-Sonderberichterstatter Stavenha-
gen merkte dazu heute in einer Pressekonferenz bitter
an, dass „in manchen Ländern Wildtiere mehr Rechte
genießen als die dort lebenden indigenen Völker.“
Das 1989 beschlossene Übereinkommen 169 der IAO
über die Rechte der Indigenen legt deshalb in Art. 15
fest, dass die betreffenden Völker an der Nutzung, Be-
wirtschaftung und Erhaltung der natürlichen Ressourcen
zu beteiligen sind. In Art. 16 heißt es, dass „die betref-
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enden Völker aus dem von ihnen besiedelten Land nicht
usgesiedelt werden dürfen.“
Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass die
egierungsparteien einer Ratifizierung dieses Überein-
ommens zustimmen. Doch trotz der intensiven Bemü-
ungen meines Kollegen Hoppe, der nun schon seit 2002
ine Vielzahl von Gesprächen mit Vertretern der zustän-
igen Ministerien geführt hat, stemmen sich SPD und
nion mit aller Macht dagegen. Federführend ist hier
as Wirtschaftsministerium. Offenkundig will Herr
los, dass deutsche Firmen auch in Zukunft überall auf
er Welt ungeachtet der Menschenrechte indigener Völ-
er ihre Geschäftsinteressen wahren können.
Ich nenne an dieser Stelle nur die 2003 fertig gestellte
lpipeline in Ecuador, die von der West LB finanziert
urde. Für dieses Projekt wurden die in der Region hei-
ischen Indianer mit Waffengewalt vertrieben.
Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass das IAO-Über-
inkommen 169 allein keine Gewähr für die Durchset-
ung der Rechte der Indigenen bietet. Denn Ecuador hat
as Übereinkommen ratifiziert. Doch die Ratifizierung
urch die Bundesrepublik würde unweigerlich die Frage
ufwerfen, ob die Rechte der Indigenen nicht auch in den
ergaberichtlinien etwa bei der Erteilung von Hermes-
ürgschaften eine Rolle spielen sollten oder bei der Kre-
itvergabe einer landeseigenen Bank wie der West LB.
Wir, Die Linke, unterstützen deshalb den Antrag der
rünen ohne Wenn und Aber. Dies ist auch ein Signal
er Solidarität gegenüber den Aktivisten der indigenen
ölker, die aktuell in Guatemala ihren dritten amerikani-
chen Kontinentalgipfel abhalten.
Dass ihr Widerstand Erfolg haben kann, bewiesen die
an im afrikanischen Botswana. Deren jahrelanger
ampf hat dazu geführt, dass ein Gericht nun ihre Ver-
reibung aus der Kalahari für illegal erklärt hat!
Lassen Sie mich noch eines anfügen. Das Verhalten
er großen Kolonialmächte gegenüber den indigenen
ölkern war schon immer besonders schändlich. Um nur
in Beispiel zu nennen, das noch immer aktuell ist: Nach
em Erwerb der Insel Diego Garcia im Indischen Ozean
n den 60-Jahren hat Großbritannien das dort lebende
olk zwangsdeportiert, nicht im Interesse von Öl-Multis,
ondern um die Insel dem US-amerikanischen Militär zu
erpachten. So konnten von dort aus 1991 und 2003 die
omber starten, um Hunderttausende im Irak zu morden.
Die einstigen Inselbewohner sind heute Bürger der
U. Doch ihr Zwangsexil dauert an. Es stünde der deut-
chen Ratspräsidentschaft gut zu Gesicht, ihr Schicksal
ndlich zu einem Thema in der EU zu erklären.
nlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede
Zur Beratung:
– Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Verbesse-
rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif-
ten für Opfer der politischen Verfolgung in
der ehemaligen DDR
9294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
– Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Verbesse-
rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif-
ten für politisch Verfolgte im Beitrittsgebiet
und zur Einführung einer Opferrente (Op-
ferrentengesetz)
(Tagesordnungspunkt 16a und b)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Auch wenn die letzte Debatte zum Thema erst wenige
Wochen zurückliegt, scheint es mir erforderlich, dass wir
uns hierüber heute noch einmal austauschen. Denn der
Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, nimmt leider
nichts von dem auf, was in der letzten Debatte, aber auch
außerparlamentarisch, an Kritik geäußert worden ist. Die
FDP ist davon überzeugt, dass es nach der massiven Kri-
tik, die bei weitem nicht nur parteipolitisch motiviert
war, geboten ist, die rechtspolitischen und vor allem fis-
kalischen Spielräume neu auszuloten. Sie hingegen ver-
fahren nach dem Prinzip „Augen zu und durch“. Das
wird der Bedeutung des Gesetzgebungsvorhabens nicht
gerecht.
Das, wie Sie es nennen, Dritte Gesetz zur Verbesse-
rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften wird eine
Art Schlussgesetz sein. Machen wir uns doch nichts vor,
ein Viertes oder gar Fünftes Gesetz wird es nicht mehr
geben. Das wäre den Betroffenen auch nicht zumutbar.
Viele stehen in ihrem achten oder neunten Lebensjahr-
zehnt. Deshalb müssen wir uns bei diesem Gesetz sicher
sein können, dass keine Opfer, die billigerweise einen
Anspruch haben sollten, vergessen werden. Nach dem,
was bisher vorliegt, bin ich mir da aber nicht so sicher.
Sie selbst gehen von rund 80 000 ehemaligen politischen
Häftlingen mit einer Haftdauer von mindestens sechs
Monaten aus. Davon sollen knapp 16 000 in den Genuss
einer monatlichen Zahlung von 250 Euro kommen. Wird
dies wirklich dem Anspruch gerecht, allen Bürgerinnen
und Bürgern, deren fundamentale Menschenrechte von
Staat und Partei schwerwiegend verletzt wurden, Ge-
rechtigkeit und Anerkennung widerfahren zu lassen?
Was ist mit Schülern, die aus politischen Gründen die
Schule beenden mussten? Was ist mit Opfern von Zer-
setzungsmaßnahmen der Stasi, eindrucksvoll nachzule-
sen in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom
23. März? Der Gesetzentwurf gibt darauf keine Antwort.
Sie sagen nur, sie kämen um die Bedürftigkeitsprüfung
nicht umhin. Alles andere liefe auf eine Besserstellung
der Opfer des SED-Regimes gegenüber anderen Opfern,
insbesondere solchen des NS-Terrors, hinaus. Der Ge-
setzentwurf enthält hierzu eine Reihe von Behauptun-
gen. Eine vertiefte Auseinandersetzung hingegen fehlt.
Ich behalte mir daher ausdrücklich vor, hierzu eine
Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des
Deutschen Bundestages einzuholen. Solange diese Frage
nicht abschließend geklärt ist, muss ich mit vielen Be-
troffenen und ihren Verbänden unverändert davon ausge-
hen, dass der eng gezogene Kreis der Anspruchsberech-
tigten und die geringe Höhe der Opferpension allein
fiskalpolitisch motiviert sind, muss ich davon ausgehen,
dass Ihnen der Finanzminister bei diesem Gesetzentwurf
die Feder geführt hat.
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Die FDP-Bundestagsfraktion hat heute davon abgese-
en, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen, obwohl es
ns ein Leichtes gewesen wäre, den Entwurf aus der
etzten Wahlperiode erneut einzubringen. Wir erneuern
n dieser Stelle vielmehr unser Angebot, an der Lösung
er Fragen, die uns heute beschäftigen, konstruktiv mit-
uwirken. Am Ende dieses Prozesses sollte eine würdige
nd dem Einsatz der Betroffenen für Freiheit, Demokra-
ie und Rechtsstaatlichkeit angemessene Lösung stehen.
hne substanzielle Änderungen an dem Gesetzentwurf
ird es hierzu nicht kommen. Sollte der Gesetzentwurf
ingegen Ihr letztes Wort sein, werden Sie auf unsere
nterstützung nicht bauen können. Einer Lösung auf fis-
alisch niedrigstem Niveau können und werden wir un-
ere Hand nicht reichen.
nlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Antrags: Umlageverfahren
U1 zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
auf freiwillige Basis stellen (Tagesordnungs-
punkt 17)
Max Straubinger (CDU/CSU): Wir diskutieren
eute einen Antrag der FDP-Fraktion, in dem diese das
mlageverfahren U1 zur Entgeltfortzahlung im Krank-
eitsfall auf freiwillige Basis zu stellen und somit die
bschaffung der gegenwärtigen Regelung fordert.
Lassen Sie uns die Begründung der FDP-Fraktion
inmal betrachten: Grundsätzlich trägt der Arbeitgeber
as Risiko der Lohnfortzahlung. Somit stellt sich die
rage, wie der einzelne Betrieb dieses Risikos schultern
ill, ob er das Krankheitsrisiko seiner Mitarbeiter indi-
iduell oder kollektiv tragen möchte. Aus guten Grün-
en hat man sich für die Kollektivierung entschieden,
as meines Erachtens auch von der Mehrzahl der klei-
en und mittleren Betriebe nicht nur akzeptiert, sondern
uch gewünscht wird.
Mit der Neugestaltung des Lohnfortzahlungsgesetzes
st die Bundesregierung, dem Urteil des Bundesverfas-
ungsgerichts vom 18. November 2003 nachgekommen.
as Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der
rbeitgeberzuschuss zum Mutterschaftsgeld nach § 14
utterschutzgesetz jedenfalls dann nicht mehr verfas-
ungsmäßig ist, wenn im Rahmen des Umlageverfahren
ach dem Lohnfortzahlungsgesetz diese Kosten nur
leinbetrieben von bis zu 20 Arbeitnehmern erstattet
erden. Da mittlere und größere Unternehmen mit bis zu
0 Beschäftigten nicht an diesem Verfahren teilnahmen,
estand nach den Feststellungen des Bundesverfassungs-
erichts die Möglichkeit, dass die Frauen bei der Einstel-
ung benachteiligt werden. Hierin lag ein Verstoß gegen
as Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 des
rundgesetzes.
Mit dem Gesetz wurde die festgestellte Verfassungs-
idrigkeit beseitigt. Das Umlageverfahren, was sie hier
ritisieren, wurde den aktuellen Strukturen in der Sozial-
ersicherung angeglichen und weiterentwickelt, sodass
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9295
(A) )
(B) )
insgesamt eine gerechtere Verteilung der Belastung er-
reicht wurde. Im Antrag wird auch dem Umlageverfah-
ren U1 zu große Bürokratie unterstellt.
In das Umlageverfahren U1 wurden nun erstmalig
auch Angestellte miteinbezogen, denn bis dahin war die
Erstattung nur für Arbeiter und Auszubildende vorgese-
hen. Damit wurde die Unterscheidung zwischen Arbei-
tern und Angestellten aufgehoben. Mit dem Wegfall der
Unterscheidung wurde das Urnlageverfahren vereinfacht
und trägt zum Abbau der Bürokratie bei. Zudem leistet
auch die Erweiterung des Umlageverfahrens auf die Er-
satz- und Betriebskassen einen zusätzlichen Beitrag zum
Bürokratieabbau.
Des Weiteren kann die Durchführung des Umlagever-
fahrens auch auf eine andere Kasse oder einen Landes-
oder Bundesverband übertragen werden. Bislang sahen
die Regelungen des Lohnfortzahlungsgesetzes vor, dass
jede Krankenkasse das Umlageverfahren eigenverant-
wortlich durchführt.
Auch den Vorwurf, dass das Umlageverfahren U1 zu
zeitaufwendig ist und hohe Verwaltungskosten mit sich
bringt, kann ich nicht nachvollziehen. Deshalb ist der
Vorwurf des Bürokratieaufwandes nicht gerechtfertigt.
Die Arbeitgeber haben weiterhin die Möglichkeit,
kostengünstige Angebote der Krankenkassen auszusu-
chen. Auch die Wählbarkeit des Erstattungssatzes im
Lohnfortzahlungsfall zwischen 40 und 80 Prozent nimmt
auf betriebsindividuelle Bedürfnisse und finanzielle Be-
lastungen Rücksicht.
Gegenwärtig wählen nach Aussage meiner örtlichen
AOK die allermeisten Betriebe den höheren Erstattungs-
satz von 80 Prozent. Damit wird deutlich, dass die Be-
triebe an einem höheren Erstattungsbetrag interessiert
sind. Mit dieser Entscheidung dokumentieren die Be-
triebe selbst die Akzeptanz einer kollektiven Lösung
über das Umlageverfahren U1. Damit auch weiterhin
stabile Beitragssätze, wie sie derzeit festzustellen sind,
gewährleistet werden können, ist es notwendig, am kol-
lektiven System festzuhalten.
Eine freiwillige Wahlmöglichkeit, ob man am Umla-
geverfahren teilnimmt oder nicht, würde nur eine Entmi-
schung der Risiken bedeuten. Büroberufe mit vermeint-
lich niedrigem Krankheits- und Unfallrisiko würden sich
dann möglicherweise aus dem kollektiven System verab-
schieden. Damit müssten Berufe mit höherem Risiko hö-
here Beitragssätze schultern.
Auch kann ich ihre Vermutung, dass Arbeitgeber auf-
grund des Umlagesystems U1 keine gesundheitsfördern-
den Arbeitsbedingungen schaffen wollen, die zu einem
niedrigen Krankheitsstand führen, nicht nachvollziehen.
Jeder Arbeitgeber hat ein Interesse, dass jeder seiner Ar-
beitnehmer pünktlich und gesund zur Arbeit erscheint,
damit die anfallenden Aufträge und Arbeiten zeitgerecht
und für die Kunden zufriedenstellend erledigt werden
können.
Es kann festgestellt werden, dass die Betriebe eine
hohe Akzeptanz dem Umlageverfahren U l entgegen-
bringen und deshalb ist es geboten, am bewährten Sys-
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em festzuhalten. Deswegen wird die CDU/CSU-Frak-
ion ihren Antrag ablehnen.
Jella Teuchner (SPD): Im November 2005 hat der
undestag das zurzeit gültige Umlageverfahren bei der
ohnfortzahlung im Krankheitsfall beschlossen. Zuge-
timmt haben fast alle Fraktionen. Nur die Kolleginnen
nd Kollegen von der FDP haben sich damals enthalten.
it dem Gesetz über den Ausgleich von Arbeitgeberauf-
endungen haben wir damals genau das beschlossen,
as die FDP heute wieder abschaffen will: Mit der Um-
age wurden unkalkulierbare Risiken für Unternehmen
it bis zu 30 Mitarbeitern kalkulierbar gemacht.
Mit dem Antrag der FDP soll das Umlageverfahren
1 zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf freiwil-
ige Basis gestellt werden. Das bedeutet im Klartext: Sie
ordert die Abschaffung des Umlageverfahrens U1, also
ie Abschaffung des Ausgleichsverfahrens der Kleinun-
ernehmen bei Entgeltfortzahlung eines Arbeitnehmers
m Krankheitsfall.
Die FDP hat recht: Die Lohnfortzahlung im Krank-
eitsfall ist ein unternehmerisches Risiko. Sie möchte es
m liebsten durch eine Absenkung der Lohnfortzahlung
erringern. Die FDP weiß, dass sie damit aber nicht
urchkommen wird.
Die Begründung des Antrages ist dann auch nur die
iederholung des ewigen Mantras: zu bürokratisch, mit
u vielen Kosten verbunden, zu ineffizient und mit der
efahr des Trittbrettfahrertums behaftet. Das ist alles
ichts Neues. Neu ist auch nicht, dass die Begründung
urch nichts belegt ist. Hauptsache, die Ideologie passt!
Die FDP macht mit diesem Antrag wieder einmal
eutlich, was sie eigentlich haben will: Sie will kollek-
ive Risiken privatisieren, die solidarische Krankenversi-
herung aushöhlen, die solidarische Pflegeversicherung
ushöhlen und auch das Umlageverfahren zur Lohnfort-
ahlung aushöhlen.
Die Umlage der Arbeitgeber bei der Lohnfortzahlung
urde geschaffen, um wirtschaftliche Härten für Klein-
etriebe durch krankheitsbedingten Ausfall von Mitar-
eitern zu vermeiden. Durch eine Freiwilligkeit, wie im
ntrag gefordert, würden die wirtschaftlichen Härten für
iese Kleinbetriebe eben nicht vermieden. Die Umset-
ung würde ein Problem für die kleineren Betriebe
chaffen, das bisher gut gelöst ist. Sicher kann der Aus-
all eines Mitarbeiters oft kompensiert werden. Das ist ja
uch nicht der Härtefall. Was aber, wenn durch eine
rippewelle in einem Betrieb nicht nur eine oder zwei
ersonen, sondern vielleicht zehn fehlen? Dann kann die
nfallende Arbeit nicht mehr durch andere Mitarbeiter
ieses Betriebes mit erledigt werden.
Die FDP erkennt in ihren Antrag doch selbst an, dass
iese Umlage sinnvoll ist. Sie will nur eine andere Lö-
ung. Sie sagt, es sollte jedem Arbeitgeber freigestellt
ein, ob er das Krankheitsrisiko seiner Mitarbeiter indi-
iduell tragen will oder ob er hierfür eine Versicherung
bschließen möchte. Das heißt: Die FDP will letztend-
ich die Umlage in die private Versicherungswirtschaft
uslagern und ihr so ein neues Geschäftsfeld erschlie-
9296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
ßen. Das hat sicherlich mit dem System, das wir im Mo-
ment haben und das es zu erhalten gilt, überhaupt nichts
zu tun.
Privatisierte Krankenversicherung, möglichst eine
privatisierte Rentenversicherung, individuelle Versiche-
rungen statt der Umlagen: Das hat System. Die ständige
Begründung: Das ist effizienter, das ist kostengünstiger,
das ist viel besser. Den Glauben der FDP möchte ich
haben!
Vielleicht sollte die FDP ihre Politik nicht an dem
ausrichten, was sie glaubt, sondern an dem, was wir alle
wissen.
Im Antrag heißt es, die Umlage würde den Anreiz
vermindern, gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen
zu schaffen. Die FDP weiß doch ganz genau, dass das
nicht stimmt: Die Arbeitgeber können Erstattungssätze
wählen, die ihren unterschiedlich gelagerten Interessen
entsprechen. Es stimmt also nicht, wenn sie schreibt,
dass solche Anreize bisher vermindert werden. Bei-
spielsweise kann ein Arbeitgeber, der selbst Anstrengun-
gen zur Schaffung eines gesunden Betriebsklimas unter-
nommen hat, Kosten sparen, indem er sich für eine
geringe Erstattungshöhe und so für einen niedrigeren
Umlagesatz entscheidet. Das erlaubt die derzeit gültige
Ausgestaltung der U1; das will die FDP anscheinend
nicht wahrhaben. Es hilft nichts: Sie kann die Realität
nicht an ihre Konzepte anpassen; auch ihre Konzepte
müssen zur Realität passen.
Wir führen diese Auseinandersetzung ja nicht zum
ersten Mal. Das Prinzip, das wir in der solidarischen
Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversi-
cherung haben, das Prinzip der Solidarität, wird und
muss auch in Zukunft tragen. Wie soll das anders funk-
tionieren und finanziert werden in Zukunft, wenn nicht
die finanziell Stärkeren für die finanziell Schwächeren
einstehen? Wir sind der Meinung: Das muss so bleiben!
Wir haben im November auch die U2 – Aufwendungen
für den Mutterschutz – geändert. Auch das ist ein unter-
nehmerisches Risiko. Das Bundesverfassungsgericht hat
zu Recht festgestellt, dass Frauen durch das Lohnfort-
zahlungsgesetz bei der Einstellung benachteiligt werden
können. Diese Benachteiligung kann durch eine Umlage
ausgeglichen werden.
Die FDP geht in ihrem Antrag nicht auf die Umlage
zum Mutterschutz ein. Sie weiß, dass sie das in noch
größere Erklärungsnöte bringen würde. Dennoch will
ich daran noch mal erinnern: Es geht bei diesen Umlagen
nicht nur um Geldumverteilung, es geht auch darum,
dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht be-
nachteiligt werden. Das taucht bei der FDP nicht auf, das
scheint sie nicht zu interessieren.
Mit ihrem Antrag macht sie sich zum Mündel der pri-
vaten Versicherungswirtschaft; der will sie ein neues Ge-
schäftsfeld erschließen. Da machen wir nicht mit. Es wird
auch weiterhin das gelten, was wir im November 2005
beschlossen haben: Mit der Ausweitung des U1-Umlage-
verfahrens auf die Betriebe bis 30 Beschäftigte ist die
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für 90 Prozent aller
Unternehmen umlagefinanziert; diese Unternehmen blei-
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en in einem solidarischen System. Dies ist sinnvoll und
as wollen wir nicht ändern.
Heinz Lanfermann (FDP): Weil damals die Zeit we-
en früherer Versäumnisse drängte, hat die Große Koali-
ion im Dezember 2005 in einer Art Eilverfahren eine
ntscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mut-
erschaftsgeld umgesetzt und die Gelegenheit genutzt,
m selben Atemzug die Voraussetzungen für die soge-
annte U1-Umlage zu ändern, ohne dass hierfür eine
echtliche oder tatsächliche Notwendigkeit bestanden
ätte.
Mit der U1-Umlage sind Arbeitgeber mit bis zu
0 Beschäftigten zu einer Zwangsabgabe verpflichtet. Sie
üssen an die jeweilige gesetzliche Krankenkasse ihrer
rbeiter und Angestellten einen Umlagebetrag dafür zah-
n, dass sie im Krankheitsfall der Beschäftigten einen
eil der Aufwendungen, die aufgrund der Entgeltfortzah-
ng entstehen, erstattet bekommen; in der Regel
0 Prozent. Das klingt zunächst gut gemeint, ist aber das
egenteil von richtig. In Wirklichkeit kommt hier das
sbesondere von der SPD favorisierte „Vorsorge-Gieß-
annenprinzip“ zum Tragen: Eine einzige Pflanze könnte
al in Zukunft Wasser benötigen, wir gießen jetzt vor-
ichtshalber alle, notfalls bis zum Ertrinken. – Der „vor-
orgende Sozialstaat“ treibt schon Blüten.
Tatsächlich gehört die Krankheit eines Beschäftigten
um originären Risiko eines Unternehmens und muss
icht zwangsweise abgesichert werden. Vor allem aber
st das U1-Verfahren bürokratisch, zeitaufwendig und
it hohen Verwaltungskosten sowohl aufseiten der Be-
riebe als auch aufseiten der Krankenkassen verbunden.
m Extremfall muss die Umlage für jeden Mitarbeiter an
ine andere Krankenkasse mit anderen Umlagesätzen
bgeführt und mit anderen Erstattungssätzen abgerech-
et werden. Viele mittelständische Betriebe wären dank-
ar, mit dieser für die allermeisten von ihnen überflüssi-
en Risikodämpfung nicht mehr belastet zu werden.
Mit der U1-Umlage verringert sich außerdem der An-
eiz, für seine Mitarbeiter eigenverantwortlich zu sorgen.
abei kann der Arbeitgeber in hohem Maße durch die
estaltung der Arbeitsbedingungen Einfluss auf den
rankenstand im Unternehmen nehmen. Mit den Um-
erteilungsmechanismen werden zudem Fehlanreize ge-
etzt, die Kosten auf andere Unternehmen abzuwälzen.
m schlimmsten Falle werden Mitarbeiter bei einer ge-
ingen Auslastung des Betriebs dazu angeregt, in den
rankenstand zu gehen, sodass die Umverteilungsme-
hanismen greifen. Leider handelt es sich um ein Bei-
piel aus dem wahren Leben. Mit dem U1-Verfahren
erden Betriebe mit niedrigem Krankenstand und gutem
etriebsklima benachteiligt.
Kleine und mittelständische Unternehmen brauchen
as U1-Verfahren nicht – und sie wollen es auch nicht.
ine kollektive Risikoabsicherung ist nicht erforderlich;
Rund-um-sorglos-Pakete“ des Staates sind nicht ge-
ragt. Denn es ist für jedes Unternehmen, das dies
ünscht, ohne Weiteres möglich, sich freiwillig gegen
as Krankheitsrisiko seiner Mitarbeiter zu versichern.
eshalb gilt hier erst recht der Grundsatz, dass der Staat
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9297
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sich nicht in Bereiche einmischen soll, die der originären
Verantwortung des Unternehmens obliegen. Anstelle mit
immer neuen Regelungen zu Umverteilungsverfahren
konfrontiert zu werden, brauchen gerade klein- und mit-
telständische Unternehmen dringend eine Senkung der
Lohnnebenkosten und eine stabile Ordnungspolitik, auf
die Verlass ist. Stattdessen werden sie mit Mehrwertsteu-
ererhöhung, steigenden Krankenkassenbeiträgen und
immer neuen bürokratischen Erfordernissen weiter be-
lastet. Die Große Koalition vergisst zu gern, dass der
Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist
und dass eine verlässliche Mittelstandspolitik nicht zu-
letzt eine gute Arbeitsmarktpolitik ist. Anstelle den Mit-
telstand mit immer neuen Belastungen zu belegen, muss
er gestärkt werden. Drei Viertel aller sozialversiche-
rungspflichtigen Arbeitsplätze und über 80 Prozent der
Ausbildungsplätze stellt der Mittelstand.
Die FDP fordert daher, die U1-Umlage im Arbeitge-
berausgleichsgesetz abzuschaffen, das Umlageverfahren
auf freiwillige Basis zu stellen und damit einen sinnvol-
len Beitrag zum Bürokratieabbau zu leisten. Wie über-
flüssig und absurd die U1-Umlage ist, zeigt ein Beispiel
aus dem eigenen Hause. Auch Bundestagsabgeordnete
als private Arbeitgeber im Sinne des Arbeitgeberaus-
gleichsgesetzes müssen am Umlageverfahren teilneh-
men. Zwar besteht für den einzelnen Abgeordneten in
keiner Weise ein wirtschaftliches Risiko, weil er ja nur
als formaler Arbeitgeber fungiert und die Gehaltskosten
für die Mitarbeiter direkt aus dem Bundeshaushalt be-
zahlt werden. Gleichwohl fällt er per Definition auf-
grund der geringen Anzahl seiner Beschäftigten und sei-
ner rechtlichen Eigenschaft als privater Arbeitgeber in
die Zwangsversicherung. Ohne dass der Sinn dieser Um-
lageregelung überhaupt erreicht werden kann, werden
hier Mehrkosten für das Jahr 2007 von 1 462 000 Euro
erzeugt. Es zeigt sich wieder einmal, dass Umverteilung
kein Wert an sich ist, sondern vielfach nur zu Mehrkos-
ten ohne Mehrwert führt.
Frank Spieth (DIE LINKE): Der Antrag der FDP ist
unnötig und überflüssig wie ein Kropf. Die FDP gibt
vor, Bürokratie abbauen zu wollen, um so angeblich un-
sinnige Verwaltungskosten einzusparen. Dies ist ein vor-
geschobenes Argument; tatsächlich sollen Arbeitgeber
von Beitragszahlungen befreit werden. Aber stimmt das
und ist das wirklich von Vorteil für die Arbeitgeber?
In den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung
muss der Arbeitgeber dem Beschäftigten seinen Lohn
weiterzahlen. Erst ab der siebten Woche setzt das Kran-
kengeld ein, das von der Krankenkasse getragen wird.
Ein großer Arbeitgeber kann die Kosten der Lohnfort-
zahlung kalkulieren und Ausfälle kompensieren. Arbeit-
geber mit wenigen Beschäftigten und Umsatz trifft die
Erkrankung ihrer Mitarbeiter jedoch heftiger, da sie die
plötzlich fehlende Arbeitskraft schlechter ersetzen kön-
nen. Für einen Betrieb mit vier Mitarbeitern ist es eine
große Belastung, wenn zwei Mitarbeiter gleichzeitig
fehlen und durch eine neu eingestellte Kraft ersetzt wer-
den müssen.
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Das Umlageverfahren U1, um das es heute geht, ist
ine Versicherung, die kleine Arbeitgeber mit weniger
ls 30 Beschäftigten abschließen müssen. Diese Arbeit-
eber zahlen einen Beitrag und sind im Krankheitsfall
hrer Mitarbeiter versichert: im Regelfall zahlt die Umla-
ekasse 80 Prozent der Lohnfortzahlung; 20 Prozent
uss also der Arbeitgeber dann noch selbst leisten. Es
ibt aber auch Unternehmer, die diese Versicherung
icht wollen und sich gegenüber anderen Betrieben mit
öherem Krankenstand nicht solidarisch erweisen wol-
en. Diese hatten bis ins Jahr 2006 hinein bei einigen
rankenkassen die Möglichkeit, Billigtarife mit nur
0 Prozent Umlage zu wählen; 90 Prozent waren im
rankheitsfall aus eigener Tasche zu zahlen. Für diese
arife waren entsprechend niedrige Beiträge zu entrich-
en. Dies kam de facto einer Aushebelung des U1-Ver-
ahrens gleich; die Arbeitgeber konnten sich je nach
rankenstand aussuchen, ob sie die Versicherung wollen
der nicht.
Das Bundessozialgericht hatte entschieden, dass diese
raxis so nicht in Ordnung ist. Mindestens zu 50 Prozent
uss ein Arbeitgeber sich absichern, so urteilte das Ge-
icht.
Die Koalition ist hinter dieses Urteil zurückgegangen
nd hat den Mindestumlagesatz im Zuge des „Gesund-
eitsreform“ genannten GKV-Wettbewerbsstärkungsge-
etzes erst kürzlich von 50 Prozent auf 40 Prozent ge-
enkt. Aber immerhin: Die Koalition hat sich dazu
ntschließen können, eine Mindestgrenze gesetzlich
estzuschreiben.
Ich will mich auch nicht um 10 Prozent streiten; was
ber auffallend ist: Im Juli 2006 gibt es besagtes Urteil,
elches die bestehende Gesetzeslücke schließt und so
ie Arbeitgeber zu Solidarität untereinander verpflichtet;
erade einmal zwei Monate und einen Tag später bringt
ie FDP den heute zu beratenden Antrag als Drucksache
ns Parlament ein, der zum Ziel hat, dies rückgängig zu
achen. Dies ist keine am Allgemeinwohl orientierte
olitik, sondern Klientelpolitik in Reinkultur.
Der FDP-Antrag ist widersinnig: Wenn man den Ar-
eitgebern freistellt, sich an der Solidarität zu beteiligen
der auch nicht, werden sich diejenigen Unternehmen
us der Solidarität verabschieden, die einen niedrigen
rankenstand haben, die etwas größer sind und die Ar-
eitskräfte leichter umdisponieren können. Nach der
DP-Methode steigen die Arbeitgeber mit geringerem
isiko aus, und es bleiben die Arbeitgeber mit hohem
isiko. Dies hat zur Folge, dass die verbleibenden Ar-
eitgeber, die weiterhin an der U1-Umlage teilnehmen,
inen immer höheren Beitrag aufbringen müssen. Au-
erdem würden bei dann sinkenden Fallzahlen auch die
erwaltungskosten pro Fall steigen, die sich derzeit auf
inem moderaten Niveau befinden.
Die FDP gaukelt hier Freiwilligkeit vor und weiß ge-
au, dass die Einführung von Freiwilligkeit in solidari-
chen Systemen diese Systeme selbst zerstört. Grenzen-
ose Freiheit hat mit Sozialstaatlichkeit nichts zu tun.
Es muss eine Mindestgrenze geben, wie auch vom
undessozialgericht festgestellt wurde. Die Fraktion Die
9298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Linke würde sich wünschen, dieser Mindestsatz läge hö-
her als die von der Koalition beschlossenen 40 Prozent;
die 0 Prozent der FDP sind aber definitiv nicht akzepta-
bel und würden das Verfahren ad absurdum führen und
an die Wand fahren.
Die Praxis, dass die Arbeitgeber sich bei einer Kasse
zwischen mehreren Tarifen entscheiden können, wurde
vom Bundessozialgericht verboten, von der Koalition in
der Gesundheitsdeform zum 1. April wieder legalisiert.
Wir lehnen eine solche Rosinenpickerei, die es einigen
Arbeitgebern ermöglicht, zulasten anderer Arbeitgeber
den eigenen Umlagesatz zu reduzieren, ab und fordern
einen einzigen Umlagesatz für alle Betriebe.
Die FDP führt als ein weiteres Argument gegen das
U1-Verfahren an, dass sich im Einzelfall Arbeitnehmer
und Arbeitgeber in Zeiten mit schlechtem Auftragsstand
zusammentun könnten und sich der Arbeitnehmer auf
Kosten der anderen Arbeitgeber krankschreiben lässt.
Dies ist nicht falsch; ein solcher Missbrauch findet ver-
einzelt sicherlich statt. Es gibt aber noch eine weitere
Methode, wie Arbeitgeber sich um die Löhne Ihrer Mit-
arbeiter drücken können, die, falls der FDP-Antrag er-
folgreich wäre, sicherlich stärker genutzt würde: Ein Ar-
beitgeber kann bei wirtschaftlichen Problemen seine
Arbeitnehmer auch entlassen, mit dem Versprechen, sie
in besseren Zeiten wieder einzustellen. Dann würden
aber – nicht wie im U1-Verfahren nur die Arbeitgeber,
sondern auch die Arbeitnehmer die Kosten tragen, und
zwar die Hälfte, über die Arbeitslosenversicherung.
Dieser Antrag ist keine Initiative gegen unnötige
Bürokratie und unnötige Kosten, wie es die FDP vorgau-
kelt, sondern ein Antrag, der die Interessen der größeren
Arbeitgeber gegen die Interessen der kleinen und mittel-
ständischen Betriebe und gegen die Interessen der dort
beschäftigten Arbeitnehmer durchzusetzen versucht. Die
Fraktion Die Linke, lehnt das Ansinnen der FDP deshalb
ab.
Birgit Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
bin verwundert, dass die FDP mit der Einbringung die-
ses Antrags neun Monate nach der Verabschiedung des
Aufwendungsausgleichsgesetzes die faktische Abschaf-
fung des Umlageverfahrens zur Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfalle für Unternehmen mit bis zu 30 Beschäf-
tigten fordert. Sowohl in den Ausschussberatungen als
auch im Plenum war Ende 2005 von der FDP keinerlei
Kritik an diesem Verfahren geäußert worden.
Sie begründen die Abschaffung mit dem bürokrati-
schen und zeitaufwendigen Verfahren. Dabei wurde das
Verfahren deutlich vereinfacht und damit bisherige Bü-
rokratie abgebaut: Die Ungleichbehandlung von Arbei-
tern und Arbeiterinnen und von Angestellten wurde ab-
geschafft. Es gelten einheitliche – und nicht jeweils
krankenkassenspezifische – Regelungen im Bereich Er-
stattungssätze. Ebenso ist die Frage, welche Unterneh-
men sich an dieser Umlage beteiligen, nun einheitlich
geregelt. Unternehmen mit 20 bis 30 Beschäftigten müs-
sen nicht überprüfen, ob bzw. für welchen Arbeitnehmer
bzw. welche Arbeitnehmerin überhaupt eine Umlage zu
zahlen ist.
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Diese Vereinheitlichungen sind eine notwendige Vo-
aussetzung dafür, dass Krankenkassen diese Aufgabe
ukünftig an eine kassenübergreifende Stelle übertragen
önnen. Diese Chance sollte von den gesetzlichen Kran-
enkassen genutzt werden. Dies würde zu weiteren Ver-
infachungen für die Betriebe führen.
Nun zu dem Argument, dass durch diese Regelung
irtschaftlichkeitsanreize fehlten und Trittbrettfahrer-
erhalten auftreten könne. Ein echtes Trittbrettfahrerver-
alten setzt voraus, dass der Output, den die Mitarbeite-
in bzw. der Mitarbeiter erzielt, geringer wäre als ihr
ehalt plus der Umlage – ein Geschäftsverhalten, das
uf Dauer nicht durchzuhalten wäre und ein schnelles
nde des Unternehmens zur Konsequenz hätte. Es ist
chon fast absurd anzunehmen, dass Arbeitgeber ihre
rbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lieber krank als
n ihrem Arbeitsplatz sehen würden.
Demgegenüber stehen die positiven Effekte und die
rundidee des Umlageverfahrens. Kleine Unternehmen
erden davor geschützt, alleine durch die Krankheit von
inem oder mehreren Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern
ns wirtschaftliche Aus katapultiert zu werden. Dies ist
örderung des Klein- und Mittelstandes im besten Sinn.
enn gerade Kleinstunternehmen, die in derartige Situa-
ionen kommen können, stricken ihre Budgets oft sehr
ng. Kurzfristig würden sie auf notwendige Rücklagen
ür solche Fälle verzichten – das hätte im Fall der Fälle
ann extreme Auswirkungen auf sie und ihre Beschäftig-
en. Dem gilt es vorzubeugen und die gesetzlich vorge-
chriebene Umlage beizubehalten.
Beobachten sollten wir in jedem Fall, ob kassenüber-
reifende Stellen entstehen. Diskussionswürdig ist, ob
ieser Prozess durch die Einführung der Wahlmöglich-
eit von Betrieben, alle Beschäftigten bei einer Kranken-
ersicherung zu versichern, beschleunigt werden kann
zw. soll. Denn dies hätte für die Verwaltung der Umlage
nd die Betriebe Synergieeffekte. Damit würden aber
uch die sehr unterschiedlichen Beitragssätze – Beiträge
wischen 0,1 Prozent und drei Prozent des rentenversi-
herungspflichtigen Einkommens sind mir bekannt – auf-
rund der differierenden Versichertenstruktur nivelliert.
ber Vereinfachungen im Sinne einer zentralen Stelle
önnen wir diskutieren. Ebenso fordere ich die Kranken-
assen auf, wie vom BDA vorgeschlagen, für einheitliche
ntrags- und Erstattungsformulare sowie deren elektro-
ische Übermittlung Sorge zu tragen.
nlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Antrags: Gesetz zum Aus-
gleich behinderungsbedingter Nachteile vorle-
gen (Nachteilsausgleichsgesetz – NAG) (Tages-
ordnungspunkt 18)
Hubert Hüppe (CDU/CSU): Der zur Debatte ste-
ende Antrag der Fraktion Die Linke fordert die Bundes-
egierung dazu auf, ein Nachteilsausgleichgesetz für
enschen mit Behinderung vorzulegen. Auf den ersten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9299
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Blick enthält dieser Antrag all das, was sich behinderten-
politische Sprecher so wünschen: einen bedarfsdecken-
den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile, eine
Stärkung der selbstbestimmten Teilhabe von Menschen
mit Behinderung, eine Vereinheitlichung des Behinder-
tenrechts.
Jeder Politiker, der sich mit dieser Thematik beschäf-
tigt, weiß, wie schwer es ist, nur eines der genannten
Ziele zu erreichen. Das Wissen um diese Schwierigkei-
ten ist wohl auch ein Grund dafür, warum die Fraktion
Die Linke keinen Gesetzentwurf vorlegt, sondern die
Bundesregierung lediglich aufgefordert werden soll, ein
solches Gesetz vorzulegen. Ein weiterer Grund, warum
Die Linke keinen Gesetzentwurf vorlegt, könnte wohl
die Bezifferung der Kosten sein, die bei Vorlage benannt
werden müssen. Hierzu schweigt sich der Antrag aus.
Soll der Bund nun grundsätzlich die Eingliederungs-
hilfe übernehmen oder nur die Mehrkosten, die der Vor-
schlag mit sich bringt? Welcher Anteil soll auf die Pfle-
geversicherung entfallen, für die im Übrigen der Grad
der Behinderung von mindestens 50 zunächst einmal
keine Rolle spielt? Wie errechnen sich die einzelnen An-
sprüche aus den verschiedenen anderen Sozialversiche-
rungen sowie aus Eingliederungshilfe oder Jugendhilfe?
Alles Fragen, auf die im Antrag keine Antworten zu fin-
den sind.
Bei aller Kritik nennt der Antrag einige Probleme, die
in Angriff genommen werden müssten: Der Behörden-
dschungel, den jeder Antragsteller zu überwinden hat,
muss gelichtet werden. Die Zuständigkeitsklärung stellt
sich oft als schwierig dar und endet für manche Men-
schen in einem Behördenmarathon. Die von der Fraktion
Die Linke geforderte Stelle, die vieles klären soll und
den schon erwähnten Behördenmarathon eindämmen
könnte, gibt es bereits. Dies ist die Aufgabe der soge-
nannten Gemeinsamen Servicestellen. Sie sollen Men-
schen mit Behinderungen im Regel- und Antragsgewirr
Hilfe leisten und unterstützen. Allerdings kennt kaum je-
mand die Gemeinsamen Servicestellen, und manchmal
habe ich das Gefühl, das ist manchen Stellen auch ganz
recht. Hier muss dringend etwas geschehen. Den Vor-
schlag, die persönliche Assistenz in den Berufsstand zu
heben, halte ich für gut und richtig. Mir ist zum Beispiel
ein Fall bekannt, in dem eine Frau mit Lernschwierigkei-
ten die Assistenz für einen körperlich Behinderten über-
nommen hat. Somit hat diese Frau – die ansonsten kaum
Möglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt hätte – eine
sinnvolle und bezahlte Tätigkeit.
Die genannten Probleme müssen gelöst werden. Der
vorliegende Antrag ist zur Problemlösung allerdings un-
geeignet. Ihm liegt ein Widerspruch zugrunde, den ich
nicht verschweigen möchte, nämlich: Dort, wo Die
Linke mit in der Regierungsverantwortung steht, wird
gerne mal an Leistungen gespart und gekürzt. So ist in
Berlin unter einer rot-roten Koalition nicht nur das
Blindengeld gekürzt worden, sondern es wurden darüber
hinaus Einsparungen im Bereich der Behindertenfahr-
dienste, Mobilitätshilfen und Wohlfahrtsverbände vor-
genommen. Mecklenburg-Vorpommern – bis 2006 re-
giert durch eine rot-rote Koalition – hat als vorletztes
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undesland das Behindertengleichstellungsgesetz einge-
ührt. Auch die Beteiligung des Landes am Persönlichen
udget fiel dürftig aus. Ich finde es nicht in Ordnung,
enn Die Linke auf Bundesebene alles Erdenkliche for-
ert und dort, wo sie selbst regiert, bei den Menschen
it Behinderung spart.
Die Große Koalition hingegen hat in den vergangenen
onaten bereits eine Menge auf den Weg gebracht.
urch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dürfen
rivate Versicherungsträger niemanden mehr zurückwei-
en, weil er behindert ist. Zudem ist es Hotels und Gast-
tätten nunmehr untersagt, Menschen mit Behinderung
en Zutritt zu verwehren. Im Zuge der Gesundheits-
eform wurde der Anspruch auf Rehabilitation einge-
ührt. Des Weiteren kann ein Anspruch auf häusliche
rankenpflege in Wohneinrichtungen geltend gemacht
erden. Schwerbehinderte Arbeitslose, die besonders
chwer vermittelbar sind, haben in Zukunft mehr Chan-
en auf dem Arbeitsmarkt. Unternehmer, die diese
chwerbehinderten Menschen einstellen, werden bei
er Rückzahlung von Eingliederungszuschüssen entlas-
et. Einstellungsanreize werden künftig steigen.
Richtig ist, dass Menschen mit Behinderung häufig
icht zu ihrem Recht kommen. Sie werden von der einen
telle zur nächsten geschickt. Einige geben dann früh-
eitig auf oder erhalten die beantragte Hilfe erst sehr
pät.
Vieles von den Forderungen im Antrag ist im SGB IX
eregelt. Werden beispielsweise Leistungen zur Teilhabe
eantragt, müssen die Rehaträger innerhalb von zwei
ochen feststellen, ob sie zuständig sind. Wenn dies
icht so ist, dann müssen sie den Antrag unverzüglich an
ie – nach ihrer Meinung zuständige Stelle – weiterlei-
en. Ebenso gibt es Fristen für die Bearbeitung von An-
rägen. Innerhalb von drei Wochen nach Eingang des
ntrags muss über den Antrag entschieden werden.
ber leider ist auch hier die Praxis nicht selten eine an-
ere. Hier muss nicht das Gesetz geändert werden, hier
uss einfach das Gesetz eingehalten werden.
Zum Schluss noch einige Anmerkungen zum Persön-
ichen Budget. Dem Persönlichen Budget kommt in der
at eine bedeutende Rolle für eine moderne Behinder-
enpolitik zu. Die Selbstbestimmung der Betroffenen
ird hierdurch gestärkt. Obwohl es auch beim Persön-
ichen Budget noch viele Ängste, Ungereimtheiten und
ieder einmal Zuständigkeitsrangeleien gibt, müssen
ir hier über Parteigrenzen hinweg für dieses Instrument
erben. Notfalls muss gesetzgeberisch eingegriffen wer-
en, um die Probleme zu lösen.
Wir alle wissen: Es gibt viel Handlungsbedarf im Be-
eich der Politik für Menschen mit Behinderung. Große
eformen wie bei der Pflegeversicherung und die
ingliederungshilfe stehen uns bevor. Zur Lösung der
robleme der Betroffenen hilft der vorliegende Antrag
eider nicht weiter.
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der Antrag der
inksfraktion, ein „Nachteilsausgleichgesetz“ vorzule-
en, benennt viele Probleme und Aspekte, die mir als
9300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Behindertenbeauftragte meiner Fraktion bestens bekannt
sind. Wir wollen, dass alle Menschen die einen individu-
ellen Bedarf haben, diesen auch erhalten. Wir wollen Fa-
milien unterstützen und ambulante Leistungen stärken.
Mit der Reform der Pflegeversicherung werden wir das
weiterführen. Die Vorschläge von Karin Evers-Meyer
und der Verbände zu einer teilhabeorientierten Pflege
sind hier Leitlinie.
Im Jahr 2001 haben wir das SGB IX eingeführt. Das
SGB IX hat wesentliche Teile des Rechts für Menschen
mit Behinderung zusammengeführt. Zuerst einmal ha-
ben wir mit den Betroffenen ein gutes Gesetz gemacht,
das weit über einfache Änderungen an den Leistungen
der Rehabilitation und der Teilhabe hinausgeht. Das ha-
ben auch die Experten auf der gestrigen Tagung der
Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaf-
ten bestätigt. Das SGB IX wurde mit Instrumenten ver-
sehen, die behinderungsbedingten Bedarfen zur medizi-
nischen Rehabilitation, zur Selbstbestimmung und zur
Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und am Arbeits-
leben Rechnung tragen.
Wir haben uns ganz bewusst daran orientiert, welche
besonderen Bedürfnisse zur gleichberechtigten und
selbstbestimmten Teilhabe für Menschen mit Behinde-
rungen bestehen und wie diese so schnell und bedarfs-
gerecht wie möglich zum Antragsteller gelangen. Die
selbstbestimmte Teilhabe wird im SGB IX durch das
Wunsch- und Wahlrecht des § 9 ausgedrückt. Dies stellt
sicher, dass die zu erbringenden Leistungen nicht nur am
objektiv zu ermittelnden Bedarf, sondern auch an den
subjektiven Bedürfnissen des Alters, der Familie, des
Geschlechts sowie der persönlichen Lebenssituation der
Menschen mit Behinderung auszurichten sind.
Hierfür ist das Persönliche Budget zentral. 2008 ist
der Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget zu erfül-
len. Die Modellphase ist dann beendet. Nach dem Be-
richt der Bundesregierung zur Situation des Persönlichen
Budgets bin ich insgesamt zuversichtlich, dass wir die
bestehenden Herausforderungen der Leistungserbrin-
gung und auch der Zuständigkeiten lösen können. Be-
sonders Kostenträger wie die Renten- und Unfallversi-
cherung sind stärker an der Finanzierung zu beteiligen.
Das Persönliche Budget ist eine neue Leistungsform, die
es ermöglicht, den individuellen Bedarf im Rahmen zu
ermitteln und in einer Koordinierung der Rehabilitati-
onsträger als Komplexleistung zu erbringen.
Daher ist hier eine Novellierung im Sinne ihres An-
trags auch nicht erforderlich. Die Ausweitung des Per-
sönlichen Budgets, wie sie es vorschlagen, ist nicht ziel-
führend. Bereits jetzt werden bedarfsgerechte, am
Wunsch- und Wahlrecht orientierte Leistungen aus den
Leistungsgesetzen über das Persönliche Budget erbracht.
Behinderte Menschen können mit dem Persönlichen
Budget nach § 17 SGB IX als Auftraggeber und Exper-
ten in eigener Sache selbst bestimmen, welche Leistun-
gen zur Teilhabe sie nach Maßgabe der Bedarfsermitt-
lung benötigen und vor allem, wer sie erbringen soll.
Die Werbung für das Persönliche Budget wird fortge-
setzt und in diesem Jahr noch einmal verstärkt. Es gilt,
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ie Probleme klar zu benennen, zu lösen und durch posi-
ive Beispiele einen Schub für die Akzeptanz zu schaf-
en. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich gemeinsam
it dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und
er Beauftragten der Bundesregierung für die Belange
on Menschen mit Behinderung, Karin Evers-Meyer, für
as Persönliche Budget einsetzen.
Der Antrag fordert zahlreiche Veränderungen, die auf
ie „personale Assistenz“ ausgerichtet sind. Schon heute
ann auch jeder schwerbehinderte Mensch mittels einer
ervicestelle in seiner Nähe, Leistungen aus einer Hand
rhalten. Diese soll ihm dabei – so sagt der § 22 SGB IX –,
eratung und Unterstützung hinsichtlich des Rehabilita-
ionsbedarfs und der Antragstellung geben. Nun wissen
ir, dass nicht überall im Bundesgebiet der Idealzustand
es § 22 vorzufinden ist. Es gibt Probleme in der Umset-
ung der geforderten Beratung und Unterstützung. Wir
ollen das verbessern, anstatt neue Stellen zu schaffen.
ie geforderte Verlagerung auf die Versorgungsämter ist
icht sinnvoll.
Der gesetzliche Anspruch ist klar. Wir arbeiten nun
aran, diesen Anspruch mit Leben zu füllen. Hier bedarf
s des verstärkten Engagements der Verbände und Be-
roffenen. Es gibt Verbände und Menschen, die sich sehr
ffektiv und energisch für ihre Rechte einsetzen.
Frau Elke Bartz vom Forum selbstbestimmte Assis-
enz, ForseA, hat zum Beispiel für einen Betroffenen ei-
en persönlichen Anspruch auf Assistenz- und Rehabili-
ationsleistungen eingefordert und diese im Rahmen
ines persönlichen Budgets von 10 000 Euro auch
urchgesetzt. Ich kenne Rehaträger, Unfallkassen, aber
uch einige Sozialhilfeträger, die sich auf die Anforde-
ungen des SGB IX umstellen. Es gibt einen hohen Auf-
lärungs- und Schulungsbedarf auf dieser Seite. Hier
erden wir ansetzen, um das zu verbessern, was wir ge-
einsam mit den Betroffenen auf den Weg gebracht
aben.
Deswegen ist es außerordentlich wichtig, die gemein-
amen Servicestellen weiter bekannt machen, sie zu un-
erstützen, aber auch stetig auf die Verwirklichung der
esetzlichen Ansprüche hinzuwirken. Im Übrigen: Ob
ie Versorgungsämter den Anspruch der Betroffenen so
rfüllen würden, wie sie sich das vorstellen, bleibt frag-
ich.
Menschen mit Behinderungen haben bereits einen
ersönlichen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz ge-
äß § 102 SGB IX und § 270 a SGB III. Damit besteht
ereits die Möglichkeit einer regelmäßigen Unterstüt-
ung am Arbeitsplatz – unabhängig von Art und
chwere der Behinderung und finanziert aus der Aus-
leichsabgabe. Arbeitsassistenz ist ein entscheidender
austein der beruflichen Rehabilitation und Integration
chwerbehinderter und von großer Bedeutung beim
bergang behinderter Menschen in den allgemeinen Ar-
eitsmarkt. Auch die Assistenzleistungen der Eingliede-
ungshilfe stehen den Menschen mit Behinderungen
ach Maßgabe des individuellen Bedarfs zur Verfügung.
ch sehe hier ein Umsetzungsproblem und keinen gesetz-
eberischen Handlungsbedarf.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9301
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Weiterhin gibt es viele offene Fragen in dem Antrag.
Offen gesagt, mehr Fragen als Antworten: Sie verlieren
zum Beispiel leider wenig Worte darüber, wie diese
Leistungsausweitung – und darauf läuft es hinaus – ef-
fektiv finanziert werden soll. Wo nehmen Sie zum Bei-
spiel die erwähnten Steuermittel her? Ich bitte, auch zu
bedenken, dass wir steigende Kosten in der Eingliede-
rungshilfe haben, unter denen schon jetzt Länder und
Kommunen stöhnen.
Ihr Vorschlag führt zu einer massiven und unabsehba-
ren Leistungsausweitung für circa 6,7 Millionen schwer-
behinderte Menschen in Deutschland. Es ist ganz klar:
der Gedanke, Hilfe aus einer Hand für die Betroffenen
zu organisieren, ist ein lohnenswertes Ziel. Das wollen
wir gemeinsam erreichen. Aber ich bin anderer Auffas-
sung, wie das gehen kann. Fordern allein genügt nicht.
Die Realität heißt auch hier: „Föderalismus“! Ich könnte
mir die Finanzierung aller Rehaleistungen ähnlich einer
wie im Gesundheitsfonds durchaus vorstellen.
Es ist aber meines Erachtens mit geltendem Recht
nicht vereinbar, Gelder der unterschiedlichsten gesetzli-
chen Versorgungssysteme sowie der privaten Versiche-
rungen zur Finanzierung von Teilhabeleistungen zu ver-
wenden. Es ist auch fraglich, ob eine solche Regelung
Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht hätte. Die
gesetzliche Unfallversicherung orientiert sich nämlich
am Kausalitätsprinzip sowie an der Naturalrestitution
des BGB. Das heißt: der eingetretene Schaden soll mög-
lichst vollständig ausgeglichen werden. Er wird aber nur
dann ausgeglichen, wenn und soweit ein Schadensfall
eintritt, und nicht pauschal als finanzieller Ausgleich
jeglicher Behinderung.
Hier gibt es also eine Diskrepanz zwischen dem
Zweck der Leistungen, die gebündelt werden sollen, und
der vorgesehenen Verwendung. Es handelt sich hier um
zweckbestimmte Mittel. Diese können nicht so einfach
als Leistungen zur Teilhabe für alle zweckentfremdet
werden. Mit einem Federstrich soll eine Struktur unter-
schiedlicher Träger für Teilhabeleistungen geändert wer-
den, die sich in Jahrzehnten entwickelt hat. Das ist alles
sehr realitätsfern.
Die geforderte Einkommens- und vermögensunab-
hängige Leistungserbringung ist nicht nur nicht realisier-
bar, sondern auch mit den beschriebenen Mitteln nicht
zu finanzieren. Leistungen zur Assistenz zu bündeln, ist
ein guter Gedanke. Ich bin dafür, dass der Betroffene
seine Leistungen aus einer Hand bekommt. Genau das
ist Ziel des SGB IX. Seit 2001 haben wir die Servicestel-
len; hier kommt die Dienstleistung zu den Menschen.
Aber: Assistenzleistungen können nur in dem Rahmen
gewährt werden, in dem die Leistungen gesetzlich fest-
gelegt sind. Die Hilfe zur Pflege als eine Möglichkeit,
Assistenzleistungen zu finanzieren, ist beispielsweise
einkommens- und vermögensabhängig ausgestaltet. Die
Pflegeversicherungsleistungen sind gedeckelt. Aus dem
Antrag geht nicht hervor, wie sie das unter einen Hut be-
kommen wollen. Deswegen: Lassen Sie uns das SGB IX
umsetzen. Lassen Sie uns die sehr guten Ansätze weiter
verfolgen und nicht einen ziellosen Systemwechsel pro-
pagieren.
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Hier möchte ich auf den Vorschlag der Bündelung
on Leistungen bei den Versorgungsämtern eingehen:
iese sind je nach Bundesland völlig unterschiedlich
trukturiert. Nach der Föderalismusreform hat der Bund
uch keinen Einfluss mehr auf die Behördenorganisa-
ion. Zudem wären die eher kleinen Ämter mit den
asten dieser Leistungsverwaltung völlig überlastet.
ersorgungsämter haben ganz andere Aufgaben, als
eilhabeleistungen auf der Grundlage des SGB IX zu
erwalten. Ein langer Prozess mit vielen Übergangspro-
lemen würde herbeigeführt, und das zulasten der Men-
chen. Lassen Sie uns doch die Servicestellen vor Ort
eiterentwickeln und auf dem aufbauen, was schon er-
eicht worden ist.
Es gibt im SGB III und auch im SGB XII bereits den
nspruch auf bedarfsgerechte Assistenzleistungen. Im
ahmen eines Persönlichen Budgets können diese ab
008 bundesweit rechtsverbindlich eingefordert wer-
en. Insofern erledigt sich die Forderung nach, wie es im
ntrag heißt, „personaler Assistenz“. Auch die Forde-
ung nach Mehrbedarfen für Reisekosten ist unsinnig.
er von mir erwähnte schwerbehinderte Mensch hat in
einem Budget einen Anteil für Reisekosten bewilligt
ekommen. So verhält es sich auch bei anderen Leistun-
en.
Wir haben mit dem SGB IX ein Gesetz gemacht, das
ehinderte Menschen aktiv beteiligt, ihre Teilhabe und
elbstbestimmung fördert und die Leistungsgewährung
oordiniert. Die Vereinfachung der Leistungsgewäh-
ung ist bereits auf den Weg gebracht. Arbeiten Sie daran
it, dass das Persönliche Budget zum Erfolg wird und
rkennen Sie, dass das SGB IX Realität ist und keine ge-
etzlichen Ergänzungen dieser Art braucht.
Was es wirklich braucht, ist unser aller Engagement
ür die Umsetzung! Die Lebenssituation der Betroffenen
ird eher verbessert, wenn wir uns diesem Ziel konzen-
riert widmen, als ständig neue Anlaufstellen und Ge-
etze zu erfinden. Ich denke daher, dass wir hier durch-
us ausreichende Regelungen getroffen haben. Es
ommt – wie gesagt – auf die Umsetzung der eingeführ-
n Instrumente an. Dabei sind aber nicht nur die Rehabi-
tationsträger sondern auch die Menschen selbst gefragt.
Der Antrag ist abzulehnen, weil er Regelungen for-
ert, die es effektiv schon gibt und weil er in der Konse-
uenz Leistungen ausweitet – ohne eine Finanzierung si-
herzustellen; von der Frage der Verfassungsmäßigkeit
inmal ganz zu schweigen.
Jörg Rohde (FDP): Ich begrüße es ausdrücklich,
ass die Fraktion der Linken mit dem vorgelegten An-
rag die Diskussion um die Organisation und Finanzie-
ung von Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinde-
ung anstößt. Die Oppositionsfraktionen sind hier
efordert, denn die Bundesregierung praktiziert seit lan-
em das Prinzip der drei Affen: Nichts sehen, nichts hö-
en, nichts sagen.
Der demografische Wandel hat unsere Gesellschaft
est im Griff: Immer mehr Menschen werden immer äl-
er. Dies gilt in besonderem Maße auch für Menschen
9302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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mit Behinderung. Hier verschärfen sich die Probleme
der Pflege und Betreuung überproportional, weil ältere
Menschen mit Behinderung oftmals keine Angehörigen
mehr haben, die für sie da sind und große Teile der
Pflege und Betreuung leisten könnten.
Nicht nur deshalb ist in der Sozialpolitik die Einglie-
derungshilfe für die Kommunen das größte Sorgenkind.
Die Kosten der Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderung sind in den letzten 15 Jahren kontinuierlich
angestiegen. Nach Informationen des Deutschen Städte-
und Gemeindebundes stiegen die Leistungen für behin-
derte Menschen zwischen 1991 und 2005 jährlich um
8,5 Prozent von vier Milliarden Euro auf 11,8 Milliarden
Euro an. Bald 50 Prozent aller kommunalen Sozialhilfe-
leistungen werden heute für behinderte Menschen aufge-
wendet.
Es steht zu befürchten, dass angesichts der schwieri-
gen Haushaltslage der Kommunen in Deutschland das
Hilfesystem für Menschen mit Behinderung in der der-
zeitigen Form nicht mehr lange zu finanzieren ist. Je
stärker aber die Kommunen gezwungenermaßen auf die
Kostenbremse treten müssen, desto mehr wird die Be-
hindertenpolitik zum finanziellen Verschiebebahnhof.
Der im vergangenen Jahr gerade noch abgewendete Vor-
stoß, das Bruttoprinzip in der Eingliederungshilfe abzu-
schaffen, zeigt, in welche Richtung falsche Reformvor-
schläge gehen können.
Die Bundesregierung sieht die Probleme der Einglie-
derungshilfe durchaus, sieht sich aber nicht in der Ver-
antwortung, hier aktiv zu werden. Der Bund sieht allein
die Länder in der Verantwortung. Dies hat die Bundesre-
gierung auf Anfrage der FDP mehrfach bekräftigt.
Vertreter der Bundesregierung haben in diesem Jahr
bereits mehrfach außerhalb des Parlamentes angekün-
digt, dass noch in diesem Jahr die Bundesregierung die
Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in Angriff
nehmen will. Das begrüße ich. Ich bin allerdings ge-
spannt, wohin diese Weiterentwicklung führen soll,
wenn der Bund bereits im Vorfeld ausschließt, selbst
mehr Verantwortung zu übernehmen.
Erst gestern hat mir Staatssekretär Thönnes auf meine
Frage zur Stagnation in der Frühförderung mitgeteilt, die
Bundesregierung sehe keine Veranlassung zu gesetzge-
berischen Korrekturen am SGB IX. Apropos SGB IX:
2001 wurde mit diesem Gesetzeswerk ein Meilenstein
für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Men-
schen gesetzt. Bewusst wurden vom Gesetzgeber viele
Regelungen offen formuliert, um den Sozialhilfeträgern
Spielräume bei der Umsetzung und der Anpassung an
funktionierende Strukturen zu gewähren.
Schon bald erkannte man jedoch, dass sich die Um-
setzung des SGB IX nicht so leicht und zügig entwi-
ckelte wie zunächst erhofft. Also wurde 2003 von der
Bundesregierung eine Homepage mit dem programmati-
schen Namen www.sgb-IX-umsetzen.de online gestellt.
Der damalige Behindertenbeauftragte Karl Hermann
Haack erklärte den Zweck der Homepage so:
Dadurch wird eine einzigartige, lebendige Informa-
tionsplattform für die Anwender und die Leistungs-
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berechtigten des SGB IX …, die in dieser Form bis-
lang für kein Sozialgesetz besteht. Diese
Internetseite ist somit Teil eines Prozesses der „ler-
nenden Gesetzgebung“.
Was für ein schöner Traum. Die Realität sieht leider
nders aus: Der letzte Bericht über die Situation behin-
erter Menschen auf www.sgb-IX-umsetzen.de datiert
us dem Jahr 2004. Anhörungen und Werkstattgespräche
urden ebenfalls nur bis 2004 dokumentiert, gleiches
ilt für Stellungnahmen. Die letzten Reden und Presse-
itteilungen sind aus dem Jahr 2005. Und auch die Rub-
ik „Politische Diskussion“ endet 2005.
Leider endete 2005 nicht nur das Projekt „SGB-IX-
msetzen“, sondern auch die Politik der Bundesregie-
ung für Menschen mit Behinderung. Die Bundesregie-
ung verschließt die Augen vor den Umsetzungsproble-
en des SGB IX genauso wie vor dem stetig
achsenden Kostendruck auf die Sozialhilfeträger. Bei-
es erfolgt zulasten behinderter Menschen: Verunsiche-
ungen und Zukunftsängste sind die Folge.
Man kann darüber streiten, ob der von der Linksfrak-
ion vorgelegte Vorschlag für ein Nachteilsausgleichsge-
etz die richtige Lösung ist. Manchen Aspekten kann ich
ur widersprechen, so zum Beispiel der unverrückbaren
estlegung, dass unterschiedliche regionale Preisniveaus
eine Auswirkung auf die Bedarfsfestsetzung haben sol-
en. Hier wünsche ich mir mehr Flexibilität und Gerech-
igkeit. Der Antrag kann aber der Einstieg in eine
iskussion über die zukünftige Finanzierung von Teilha-
eleistungen sein. Allerdings ist es dazu notwendig, dass
ie Regierungsfraktionen dieses Diskussionsangebot an-
ehmen. Eine Anhörung im Bundestagsausschuss für
rbeit und Soziales sollte der erste Schritt in dieser Dis-
ussion sein.
Die FDP hat sich seit jeher dafür eingesetzt, den Ge-
etzes- und Vorschriftendschungel zu lichten. Dies gilt in
esonderem Maß für die ausufernde Gesetzeslage in der
ehindertenpolitik. Es hilft niemandem, erst recht nicht
en Hilfesuchenden, wenn nur schwer nachvollziehbar
nd nicht eindeutig ist, von wem welche Hilfestellungen
u erwarten sind. Das Ziel eines eigenen Leistungsgeset-
es für behinderte Menschen muss deshalb sein, die bis-
er bestehenden Regelungen zusammenzufassen, zu ver-
infachen und somit transparenter und effektiver zu
achen.
Auch eine im Umfang begrenzte Beteiligung des
undes an den Leistungen zur Rehabilitation und Teil-
abe von Menschen mit Behinderung muss diskutiert
erden. Die Kommunen dürfen mit den Kosten der Ein-
liederungsleistungen nicht alleingelassen werden, so-
ange sie nicht im Rahmen des föderalen Finanzaus-
leichs bessergestellt werden.
Die FDP spricht sich für die Einführung eines Bürger-
eldes aus. Das Bürgergeld bündelt eine Fülle von steu-
rfinanzierten Sozialleistungen, die von den verschie-
ensten Stellen ausbezahlt werden. Ziel ist es, sowohl
iese Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II, Sozial-
ilfe – ohne Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen –,
rundsicherung, Wohngeld und BAföG, als auch das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9303
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Kindergeld und die mit dem liberalen Reformkonzept
für die Kranken- und Pflegeversicherung verbundene
steuerfinanzierte Unterstützungsleistung für Kinder und
für Personen mit unzureichendem Einkommen im Bür-
gergeld zusammenzufassen. Das Bürgergeld wird so zu
einem Universaltransfer, der mit der Einkommensbe-
steuerung zu einem Steuertransfersystem aus einem
Guss verbunden wird.
Für Menschen mit Behinderungen bzw. deren Ange-
hörige schlagen wir im Rahmen des Bürgergeldkonzepts
einen zusätzlichen Bürgergeldanspruch vor. Für die Be-
messung des zusätzlichen Leistungsanspruchs sind Art
und Schwere der Behinderung und der individuelle Pfle-
gebedarf maßgebend. Zusätzlich müssen der Förderbe-
darf und gegebenenfalls der Beaufsichtigungsbedarf be-
rücksichtigt werden. Ein Mindestbetrag wird bei
Vorliegen einer Behinderung grundsätzlich gewährt.
Dieser Bürgergeldanspruch soll auch die Familien
entlasten, die den größten Teil an Förderung und Pflege
übernehmen. Die FDP möchte dies ausdrücklich aner-
kennen. Außerdem werden die bisher gewährten Nach-
teilsausgleiche durch das unbürokratische Bürgergeld er-
setzt. Schwerbehinderte Menschen erhalten mit dem
Bürgergeld eine Art Budget, über das sie selbst entschei-
den können. Dies soll die Position der behinderten Men-
schen zum Beispiel gegenüber den Einrichtungen der
Behindertenhilfe stärken. Aber auch die Entscheidungs-
spielräume, wo und wie sie leben, werden vergrößert.
Auch der Deutsche Verein hat schon vor längerem ei-
nen Vorschlag für ein Bundesteilhabegeld vorgelegt, der
bislang von der Bundesregierung ohne jede Diskussion
abgelehnt wird. Mehrere Landschaftsverbände, die Bun-
desarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträ-
ger und viele Sozialverbände sprechen sich gleichfalls
für ein Bundesteilhabegesetz aus. Wenn der Bund sich
einer solchen Lösung verweigert, muss er dies begrün-
den und erklären, wovon die Kommunen mittel- und
langfristig die steigenden Kosten durch Eingliederungs-
leistungen bestreiten sollen.
Ich freue mich auf eine ausführliche Diskussion des
Antrages der Linksfraktion im Ausschuss und hoffe,
dass wir gemeinsam eine Anhörung beschließen.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Wir befinden uns im
„Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle“. Wir
schauen in wenigen Wochen auf fünf Jahre Gesetz zur
Gleichstellung behinderter Menschen, BGG. Morgen,
am 30. März 2007, beginnt am Sitz der UNO in New
York die Unterzeichnung der im Dezember 2006 be-
schlossenen „Konvention zur Förderung und zum Schutz
der Rechte und Würde behinderter Menschen“. Ich freue
mich, dass Deutschland durch die Behindertenbeauf-
tragte, unsere Kollegin Karin Evers-Meyer, dieses
Dokument als eines der ersten Länder offiziell unter-
zeichnet. Die, auch von den Betroffenen selbst, hart er-
kämpfte Konvention konkretisiert die Menschenrechte
von weltweit rund 650 Millionen behinderten Menschen.
Die Konvention verpflichtet die 192 UN-Mitgliedstaaten
unter anderem, Menschen mit Behinderungen durch
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chaffung von Barrierefreiheit, gemeinsame Schulbil-
ung und Schutz vor Diskriminierung umfassende Teil-
abe zu ermöglichen.
Was aber nützen politische Willenserklärungen und
chöne Worte auf Wahlkampfveranstaltungen oder zu
enefiz-Gala-Dinners, wenn sie nicht durch praktisches
andeln untersetzt werden?
Nach wie vor unterliegen die realen Teilhabemöglich-
eiten von Menschen mit Behinderungen und/oder chro-
ischen und seelischen Erkrankungen größeren Er-
chwernissen als bei anderen Menschen. Das betrifft
owohl die Alltagsbewältigung und Arbeitsplatzsuche
ls auch die Nutzung von Kultur- und Freizeitaktivitä-
en. Barrieren in baulicher wie kommunikativer Hinsicht
ind trotz BGG und Verordnungen zur Barrierefreiheit
och vielerorts anzutreffen. Dadurch ist auch die Persön-
ichkeitsentfaltung der Betroffenen beeinträchtigt. Wer
em Sinn von Art. 3 Satz l Grundgesetz „Alle Menschen
ind vor dem Gesetz gleich“ wirklich Rechnung tragen
ill, muss, den real existierenden ungleichen Vorausset-
ungen folgend, ungleiche Maßnahmen treffen. Konkret
esagt: behinderungsbedingte Nachteile müssen ausge-
lichen werden.
Nur so können Chancengleichheit und Chancengerech-
igkeit hergestellt werden. Die bestehenden gesetzlichen
egelungen sind dafür unzureichend. Sie setzen in vielen
ereichen auf das ehrenamtliche Engagement der behin-
erten Menschen sowie ihrer Freunde und Angehörigen.
ermanente Überforderung wird dabei billigend in Kauf
enommen. Die dadurch entstehenden finanziellen, kör-
erlichen und seelischen Zusatzbelastungen dieser Perso-
en werden von der Gesellschaft bisher weitgehend igno-
iert.
Um einer besseren Teilhabeermöglichung behinderter
enschen näher zu kommen und Chancengerechtigkeit
erzustellen, legt Die Linke den Antrag für ein „Gesetz
um Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile“, NAG,
or.
Sein grundlegendes Prinzip soll sein: Gleiche Leis-
ung bei vergleichbarer Beeinträchtigung. Bisher werden
nterschiedliche Leistungen nach verschiedenen Geset-
en und Kriterien erbracht, je nachdem, ob die Behinde-
ung von Geburt an besteht oder durch einen Unfall oder
rankheit und „Verschleiß“ erworben wurde.
Schwerpunkt der Nachteilsausgleichsleistungen soll
ersonale Assistenz in vielfältigen Erscheinungsformen
ein. Dabei richtet sich der Umfang personaler Assistenz
m individuellen Bedarf des behinderten Menschen aus.
as neue Persönliche Budget soll durch einmalige und/
der regelmäßige Leistungen erweitert werden können,
enn der behinderte Mensch im Einzelfall plausible
ehrbedarfe hat; insbesondere bei Kindererziehung und
lternassistenz, Kleiderkosten, Reisekosten, auch für
ssistentinnen und Assistenten, Reinigungskosten, Kos-
en für Wohnraum, Wärme, Heil- und Hilfsmittel, behin-
erungsadäquater Größe und Ausstattung von Personen-
ahrzeugen etc.
9304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Wir wollen das Finalitätsprinzip konsequent umset-
zen. Demnach richten sich Leistungsansprüche nicht
mehr nach der Ursache der Beeinträchtigung, Kausali-
tätsprinzip. Deshalb fordern wir die Bundesregierung
auf, noch im Jahre 2007 ein Gesetz zum Ausgleich be-
hinderungsbedingter Nachteile vorzulegen, dass dem
Ziel der Stärkung der selbstbestimmten Teilhabe behin-
derter Menschen am Gemeinschaftsleben gerecht wird,
dass dem Ziel eines bedarfsdeckenden Ausgleichs behin-
derungsbedingter Nachteile gerecht wird und dass dem
Ziel der Vereinheitlichung des Behindertenrechts und
der gesetzlichen Gleichstellung aller behinderten Men-
schen untereinander und mit nichtbehinderten Menschen
gerecht wird.
Gleiche, vergleichbare und oder ähnliche Leistungen,
die zurzeit nach verschiedenen Gesetzen und Verordnun-
gen sowie Anspruchsvoraussetzungen erbracht werden,
werden zusammengezogen und, wo erforderlich, den ge-
genwärtigen Bedürfnissen und neuen technischen Mög-
lichkeiten angepasst.
Teilhabe und Persönlichkeitsentfaltung umfassen alle
Lebensbereiche: von der Intimsphäre über Wohnen, Ler-
nen, Arbeiten, Alltagsbewältigung, Kultur, Sport, Ur-
laub, Freizeitgestaltung bis zu bürgerschaftlichem Enga-
gement, religiöser und politischer Betätigung usw.
Die Linksfraktion legt mit diesem Antrag ein Konzept
vor, dass über die bereits genannten Punkte hinaus fol-
gende wesentliche Inhalte in einem Gesetz festschreiben
will:
Erstens sollen mit dem NAG behinderungsbedingte
Nachteile in allen gesellschaftlichen Bereichen für jede
Behinderungsart ab einem Grad der Behinderung von
50 Prozent unter Zugrundelegung einheitlicher Maß-
stäbe ausgeglichen werden.
Zweitens können Leistungen nur zweckgebunden
verwendet werden. Bei der Inanspruchnahme von Leis-
tungen im Rahmen des neuen Persönlichen Budgets sind
diese an die Person der bzw. des Anspruchsberechtigten
gebunden. Sie stehen ihr bzw. ihm unabhängig von ihrer
bzw. seiner Wohnform, dem Familienstand und der Ar-
beitsweise bzw. Ausbildungsform zu. Sollten Verände-
rungen den Budgetbedarf – Assistenzbedarf in Stunden –
verändern, ist die Leistung zum Zeitpunkt des Beginns
dieser Veränderung anzupassen. Das Verhältnis zwi-
schen den Anspruchsberechtigten und deren Assistenten
bzw. Trägereinrichtungen bleibt vertraglichen Regelun-
gen vorbehalten. Assistenten können auch Ehe- oder Le-
benspartner sein.
Drittens sind NAG-Leistungen als einkommens- und
vermögensunabhängige Ansprüche auszugestalten.
NAG-Leistungen sind im Sinne des Steuerrechts kein
Einkommen der Anspruchsberechtigten.
Viertens soll die Höhe der konkret zu gewährenden
Leistungen grundsätzlich nach bundeseinheitlich festge-
legten Maßstäben bestimmt werden. Die Ausführung des
NAG wird den Versorgungsämtern übertragen. Ihnen
wird auch die mit dem Gesetz in Zusammenhang ste-
hende Mittelverwaltung anvertraut. Sie sind der alleinige
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nsprechpartner für die Berechtigten, die dadurch wirk-
ich alle Leistungen aus einer Hand bekommen.
Fünftens werden die Leistungen aus Zahlungsver-
flichtungen – von Versicherungen, Berufsgenossen-
chaften, Schadensverursachern usw. – sowie aus Steu-
reinnahmen des Bundes finanziert. Dazu werden die
ereits jetzt über die verschiedenen Leistungsgesetze
nd vertraglichen Regelungen vorhandenen Mittel bei
en Versorgungsämtern gebündelt.
Das Konzept ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Dis-
ussionen innerhalb der emanzipatorischen Behinderten-
ewegung. Wie Sie wissen, empfinde ich mich als festen
eil dieser Bewegung. Es freut mich also, nunmehr An-
egungen aus der Debatte der Betroffenen in die unmit-
elbare parlamentarische Beratung überführen helfen zu
önnen. Ich freue mich auf engagierte Beratungen in den
usschüssen und gehe davon aus, dass in einer großen
nhörung sachkundige Betroffene von allen Fraktionen
ingeladen werden, um dieses Konzept mit ihren Anre-
ungen und Erfahrungen anzureichern.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Men-
chen mit Behinderungen bewegen sich in einem schwer
berschaubaren Dschungel unterschiedlicher Leistungs-
ysteme und Institutionen. Es gibt Systeme, die das Prin-
ip des Schadensausgleichs verfolgen – etwa die Unfall-
ersicherung. Daneben stehen Systeme der sozialen
orsorge, die dem Versicherungsprinzip und dem Äqui-
alenzprinzip folgen – so zum Beispiel die Pflegeversi-
herung oder die Arbeitslosenversicherung. Und es gibt
as System der sozialen Hilfen, das dem Prinzip der
ubsidiarität folgt – zuvörderst die Sozialhilfe. Es gibt,
arauf aufbauend, unterschiedliche Leistungsträger, von-
inander abweichende Leistungsvoraussetzungen sowie
onkurrierende Zuständigkeiten. Alles in allem führt
iese Zersplitterung des Hilfesystems in der Praxis häu-
ig zu fehlender Bedarfsorientierung und falscher Be-
arfssteuerung. In der Tat wäre eine Vereinheitlichung
es Leistungsrechts für Menschen mit Behinderungen
innvoll. Der Antrag des Kollegen Ilja Seifert beschreibt
nsofern ein anzustrebendes Ziel.
In den vergangenen Jahren hat sich allerdings bereits
er Versuch, mehr Konvergenz in der Leistungserbrin-
ung und mehr Kooperation zwischen den Leistungsträ-
ern herbeizuführen, als außerordentlich schwierig er-
iesen. Umso unrealistischer erscheint der Versuch, in
inem Zug die verschiedenen staatlichen Ebenen und die
erschiedenen Zweige der Sozialversicherung zusam-
enzuführen. Sinnvoller wäre es, in einem ersten kon-
reten Schritt abgestuft im Rahmen der bestehenden
ysteme die Voraussetzungen für eine einheitliche Leis-
ungserbringung zu schaffen. Das dürfte bereits schwie-
ig genug sein.
Denn über eins sind wir uns wohl alle im Klaren: Wir
aben es mit enormen Beharrungstendenzen der Kosten-
nd Leistungsträger zu tun. Insbesondere im System der
ingliederungshilfe ist es bislang nur unzureichend ge-
ungen, den Bedürfnissen nach mehr Selbstständigkeit
nd Selbstbestimmung nachzukommen. Das System der
ilfen in seiner jetzigen Form wird den Lebenswirklich-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9305
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keiten längst nicht mehr gerecht und schöpft die zur Ver-
fügung stehenden Möglichkeiten zur Verwirklichung ei-
nes eigenständigen Lebens nicht aus. Daher setzt die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ihren Schwerpunkt auf
die Reform dieses Bereichs, ohne das Gesamtbild aus
dem Blick zu verlieren.
Wie stellt sich die Lage im Bereich der Eingliede-
rungshilfe dar? Die institutionelle Struktur im System
der Eingliederungshilfe ist in weiten Teilen ineffizient
und nicht in der Lage, bedarfsgerechte Leistungserbrin-
gung zu organisieren. Ein viel zu großer Teil der Sozial-
hilfeträger ist ausschließlich kurzfristigen Kosten-
Nutzen-Kalkülen zugewandt und zugleich innovations-
feindlich. Bis zum heutigen Tage versäumt es die Mehr-
heit der Sozialhilfeträger, den Bedürfnissen und Wün-
schen nach ambulanten Leistungen im notwendigen
Umfang nachzukommen.
In einigen Bundesländern gibt es immer noch die ge-
trennte Zuständigkeit örtlicher und überörtlicher Sozial-
hilfeträger, die sich für die Steuerung der Eingliede-
rungshilfe als äußerst ineffizient erwiesen hat. Andere
Bundesländer wie Baden-Württemberg haben die über-
örtlichen Sozialhilfeträger abgeschafft und allein den
Städten und Kreisen die Eingliederungshilfe übertragen.
Ein einheitliches System der Leistungserbringung mit
gemeinsamen Qualitätsstandards und gemeinsamen Kri-
terien ist dadurch zusätzlich erschwert worden. Willkür-
liches Handeln der Sozialhilfeträger wurde hingegen er-
leichtert.
Angesichts dieser strukturellen Defizite aufseiten der
Kommunen bedarf es notwendig einer fachlichen Wei-
terentwicklung, bevor es hinreichend zu einer Kostenbe-
teiligung des Bundes kommt. Solange es keine Verände-
rung der Mehrheit der Sozialhilfeträger im Sinne der
eingangs aufgeführten Grundsätze der Leistungserbrin-
gung in der Sozialhilfe kommt, wäre eine finanzielle Be-
teiligung des Bundes an einem ohnehin unzulänglichen
System sogar schädlich.
Vor diesem Hintergrund sind meine Fraktion und ich
gerade dabei, passgenaue und zielführende Lösungsvor-
schläge im Rahmen der Reform zur Eingliederungshilfe
zu erarbeiten. Wir schlagen vor, den Schritt von Men-
schen mit Behinderungen in die eigene Häuslichkeit
deutlich stärker als bisher zu fördern und zu unterstüt-
zen. Es müssen leistungsrechtlich verursachte Blocka-
den abgeschafft und positive Anreize gesetzt werden,
um den selbstbestimmten Wechsel von stationärer zu
ambulanter Wohnform zu ermöglichen. Nur die konse-
quente Verfolgung dieses Zieles führt zu einer Stärkung
der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
Hierfür halte ich es für notwendig, die ambulanten
Leistungen der Eingliederungshilfe – SGB XII/Sozial-
hilfe – als bedarfsgerechte, einkommens- und vermögens-
unabhängige, budgetfähige Leistungen zur Verfügung zu
stellen. Ein flächendeckender Aufbau von Koordinie-
rungshilfen und Beratungsangeboten könnte insbeson-
dere Menschen mit sogenannten geistigen Behinderun-
gen auf ein selbstständiges Leben vorbereiten und im
Bedarfsfall eine Unterstützung anbieten.
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Zudem scheint es angebracht, die bisher geleisteten
inanziellen Nachteilsausgleiche zusammenzufassen und
inheitlich als Leistung des Bundes zu zahlen. Dabei ist
u überlegen, einige spezifische Nachteilsausgleiche wie
ie unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr, Freibe-
räge bei Wohngeld und Wohnungsbauförderung von der
usammenführung auszunehmen. Die zusammengefass-
en Leistungen stünden den Menschen mit Behinderun-
en, die selbstständig leben, direkt ohne Anrechnung
on Vermögen und Einkommen zur Verfügung, auch
ann, wenn sie eine Werkstatt für behinderte Menschen
esuchen.
Außerdem muss das Potenzial des von Ihnen ange-
prochenen und von der rot-grünen Vorgängerregierung
ingeführten Persönlichen Budgets als Alternative zur
tationären Unterbringung weiter gestärkt werden. Die
isherigen Erfahrungen aus den Modellregionen zeigen,
ass die „erforderliche Beratung und Unterstützung“, die
ogenannte Budgetassistenz, gewährleistet und finan-
iert werden muss. Zur verbesserten Inanspruchnahme
st künftig auf eine „Deckelung“ zu verzichten. Der ge-
ährte Budgetbeitrag muss die Kosten der bisher ge-
ährten Sachleistungen für ambulante oder stationäre
ilfen überschreiten dürfen. Wir gehen davon aus, dass
ies ohnehin nur in wenigen Fällen tatsächlich eintreten
ird.
Ich denke, die von mir umrissenen Themen bieten
ine gute Grundlage, die Schwachpunkte des bisherigen
ystems der Eingliederungshilfe zielgenau und innova-
iv anzugehen. Eine Reform muss aber auch die gegebe-
en Umstände und Konstellationen berücksichtigen.
ine umfassende und bedingungslose Zusammenfassung
ller Leistungen scheitert zum jetzigen Zeitpunkt an der
ealität und wird schnell in der Bedeutungslosigkeit ver-
chwinden.
Am morgigen Freitag wird die Bundesregierung die
N-Konvention zur Förderung und zum Schutz der
echte und Würde behinderter Menschen in New York
ffiziell unterzeichnen. Das Jahr 2007 ist das Europäi-
che Jahr der Chancengleichheit für alle. Lassen Sie uns
nter diesen günstigen Vorzeichen gemeinsam nach kon-
reten Vorschlägen suchen, die volle Teilhabe und das
elbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderun-
en zu verwirklichen.
nlage 8
Zu Protokoll gegeben Reden
zur Beratung des Antrags: Die EU-Zentral-
asienstrategie mit Leben füllen (Tagesordnungs-
punkt 19)
Manfred Grund (CDU/CSU): Der Zeitpunkt für die
entralasiendebatte ist gut gewählt – der deutsche Au-
enminister Dr. Frank-Walter Steinmeier ist am Dienstag
n der Spitze einer EU-Delegation in Zentralasien einge-
roffen. In der kasachischen Hauptstadt Astana wird er
it seinen Amtskollegen aus allen fünf Staaten zusam-
enkommen.
9306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Damit ist der deutsche Außenminister nach seiner
Reise von Ende Oktober/Anfang November des letzten
Jahres innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Male in dieser
Region. Allein dies ist eine begrüßenswerte Akzentuie-
rung der deutschen Außenpolitik.
Zentralasien – das klingt für viele noch nach Seiden-
straße, orientalischer Prachtentfaltung und gleichzeitig
nach Rückständigkeit. Bei Zentralasien, bestehend aus
Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan
und Usbekistan, handelt es sich um ein Gebiet so groß
wie Europa, in dem aber lediglich 60 Millionen Men-
schen leben.
Das deutsche und das europäische Engagement in
Zentralasien mögen für die Mehrheit der Deutschen
nicht sofort einleuchtend sein. Denn Zentralasien liegt
nicht im Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit
und produziert kaum aufregende Schlagzeilen. Dabei ha-
ben die Staaten Zentralasiens ab 2001 ihren Luftraum für
die Einheiten der Antiterrorkoalition geöffnet, und Usbe-
kistan und Kirgisistan ermöglichen die Nutzung ihres
Luftwaffenraums im Kampf gegen den Talibanterror in
Afghanistan.
Aber schon die Meldungen über den Umsturz in Kir-
gisistan im März 2005, über die Revolte in Andischan in
Usbekistan im Mai 2005 oder der überraschende Tod des
turkmenischen Diktators Saparmurat Nijasow am
21. Dezember letzten Jahres fanden kaum öffentliche
Aufmerksamkeit.
Und doch hat die Europäische Union Deutschland be-
auftragt, eine Strategie für Zentralasien auszuarbeiten.
Angela Merkel sagte nach dem EU-Gipfel vom Dezem-
ber 2006, es liege im Interesse der Union, sich um diese
Weltgegend zu kümmern und sie nicht Russland oder
China zu überlassen.
Es gibt mindestens drei gute Gründe dafür:
Erstens: Zentralasien befindet sich nördlich des aus
Pakistan, Afghanistan und dem Iran bestehenden Krisen-
gebietes, unternimmt aber Anstrengungen, nicht in die
Konflikte und Krisen hineingezogen zu werden.
Zweitens: Die Region muss sich vor Fundamentalis-
ten schützen.
Dritens: Die Region ist wichtig, weil reich an Roh-
stoffen, vor allem reich an Energiequellen.
Es geht also um eine geopolitische und um eine ener-
giepolitische Bedeutung Zentralasiens. Sicherheit und
Stabilität in Zentralasien sind sowohl für jedes der fünf
Länder wichtig als auch für uns Europäer. Denn die Re-
gion grenzt an die Kaukasusregion und damit ans
Schwarze Meer. Mit Rumänien, Bulgarien und Grie-
chenland ist die EU über das Schwarze Meer und die
Kaukasusregion quasi Nachbar Zentralasiens. Die Län-
der Zentralasiens werden leider als Transitstrecke für
Drogen, organisierte Kriminalität und internationalen
Terrorismus aus Afghanistan auf dem Weg nach Mittel-
europa genutzt. Ohne Stabilität in Zentralasien wird eine
Befriedung Afghanistans, dessen nördlicher Teil Zen-
tralasien zuzurechen ist, nicht gelingen.
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Die Länder Zentralasiens gewinnen auch für die
nergiesicherheit Deutschlands und der EU immer mehr
n Bedeutung. Im kaspischen Raum und in Zentralasien
ind etwa 4 Prozent aller Weltenergiereserven nachge-
iesen. Im Sinne einer notwendigen Diversifizierung
nserer Energieversorgung erhalten diese Vorkommen
ine wachsende strategische Bedeutung. Die EU will
eue Energiequellen für sich erschließen, während die
entralasiatischen Staaten nach neuen Exportwegen au-
erhalb Russlands suchen.
Um die Gas- und Ölvorkommen in Kasachstan, Turk-
enistan und Usbekistan ist aber auch ein regelrechter
ettlauf von Russland, China, den USA und Großbri-
annien zu beobachten. Da kommt Deutschland spät,
enn nicht zu spät. Das mag daran liegen, dass wir in
eutschland kein namhaftes, weltweit operierendes
nergieunternehmen haben, aber auch daran, dass diese
egion jahrelang im Wahrnehmungsschatten einer stark
ussland- und chinaorientierten deutschen Außenpolitik
ag.
Wie dem auch sei – Russland benötigt seinerseits zen-
ralasiatisches Gas für seine Lieferverpflichtungen und
en immensen Eigenverbrauch; China hat die ersten
angfristigen Abkommen und Zukäufe getätigt. Und:
ussland und China stehen außerdem jederzeit für eine
ertiefung der nachbarschaftlichen Beziehungen bereit,
hne dazu aus Sicht der jeweiligen Staatsführungen läs-
ige Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte
nd mehr Demokratie zu stellen.
Was muss eine EU-Zentralasienstrategie neben dem
spekt der Energieversorgung beinhalten?
Übergeordnetes Ziel ist die Förderung von Sicherheit
nd Stabilität in der Region. Dies kann nur schrittweise
ber Rechtsstaatlichkeit, Förderung demokratischer und
luraler Strukturen sowie die Gewährleistung der Men-
chenrechte erreicht werden. Weiterhin werden europäi-
ches Wissen und Investitionen für die wirtschaftliche
ntwicklung und die Armutsbekämpfung benötigt sowie
ür Jugend und Bildung, Energie und Umwelt. Bei Aus-
ildung und Studium wäre es wünschenswert, könnten
uropäische Hochschulen und Universitäten stärker für
tudenten aus Zentralasien geöffnet werden. Mit Sorge
st zu beobachten, dass islamische Länder Studenten aus
entralasien auch mittels Stipendien einladen und dann
ine fundamentalistische Ausbildung offerieren.
Es ist sehr zu begrüßen, dass die EU bis 2013 etwa
50 Millionen Euro an Projektmitteln zur Verfügung
tellen will. Schwerpunkte der neuen Konzepte sind Ar-
utsbekämpfung, Straßenbau – auch Ansätze einer
euen Seidenstraße –, neue Öl- und Gasleitungen, die
usbildung von Sicherheitskräften sowie die Eindäm-
ung des Drogentransits nach Europa. Wichtig sind
uch die Verbesserung der Umweltsituation und die Be-
ämpfung der Wasserknappheit.
Der heute zur Debatte stehende Antrag von
ündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die EU-Zen-
ralasienstrategie mit Leben füllen“ nimmt sehr ausführ-
ich auf die Problemlage Bezug und erwartet, dass die
U in den vorgenannten Politikfeldern tätig wird. Dies
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9307
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ist zu begrüßen. Auch zu begrüßen ist die im Antrag ge-
forderte Vertiefung der Zusammenarbeit der zentralasia-
tischen Länder untereinander und die Heraushebung der
Bedeutung der OSZE in der zentralasiatischen Region.
Die länderübergreifende Zusammenarbeit ist tatsäch-
lich beklagenswert. Die Länder Zentralasiens, insbeson-
dere Kasachstan und Usbekistan, sehen sich eher in
regionaler Konkurrenz zueinander. Grenz- und Zusam-
menarbeitshindernisse werden eher auf- als abgebaut.
Kasachstan bewirbt sich für 2009 um den OSZE-Vor-
sitz. Die Bundesregierung hat klargestellt, diese Bewer-
bung zu unterstützen. Das ist ein begrüßungswerter An-
satz, weil damit stärker auf die Umsetzung der OSZE-
Prinzipien eingewirkt werden kann. Andere OSZE-Län-
der wie Großbritannien und die USA haben dazu noch
eine andere Auffassung.
Zur Situation der Menschenrechte, die in der Tat in al-
len Ländern Zentralasiens beklagenswert ist, hat sich der
Deutsche Bundestag mehrfach geäußert. Wir sind der
Meinung, dass der Kampf gegen nationalen und interna-
tionalen Terrorismus kein Freifahrtschein für die Ein-
schränkung von Menschrechten sein darf, wobei auch
eine zu schnelle Festlegung und quasi eine Vorverurtei-
lung wie nach den Ereignissen in Andischan dem Men-
schenrechtsdialog eher schädlich denn förderlich ist.
Auch hier können mehr Ausgewogenheit und der Dialog
mit den Staatsregierungen zielführender sein.
Zielführend ist auch die Zusammenarbeit mit der
Shanghai Cooperation Organisation. Diese vereint die
asiatischen Akteure wie China, Russland und die zen-
tralasiatischen Staaten. Die SCO durchläuft eine Ent-
wicklung von einem Sicherheitsforum zu einer Plattform
umfassender sicherheitspolitischer und wirtschaftspoliti-
scher Kooperationen. Länder wie Kasachstan haben da-
bei durchaus Gewicht.
Kasachstan sollte aus mehreren Gründen stärker ins
Blickfeld deutscher und europäischer Außenpolitik ge-
nommen werden. Das Land ist Brücke und Mittler zwi-
schen Europa und Asien. Es hat eine bemerkenswerte
wirtschaftliche Entwicklung genommen, bei vergleichs-
weise guter innerer und äußerer Stabilität. Bei Gesprä-
chen in Astana findet man in den Ministerien und ande-
ren Schaltstellen gut ausgebildete junge Leute, die
aufgeschlossen und kooperativ sind.
Einen solchen Generationenwechsel und Eliteaufbau
mit zu befördern, wäre neben wirtschafts- und sicher-
heitspolitischer Zusammenarbeit ein lohnendes Ziel der
zukünftigen EU-Zentralasienstrategie.
Johannes Pflug (SPD): „Die EU-Zentralasienstrate-
gie mit Leben füllen“ – das ist Titel des Antrags des
Bündnisses 90/Die Grünen, und ich frage mich: Mit wie
viel Leben darf man eine Strategie entwickeln, ohne sie
zu überfrachten?
Vom 30. Oktober bis 4. November vergangenen Jah-
res hatte ich Gelegenheit mit einigen Kolleginnen und
Kollegen als Begleitung von Bundesaußenminister
Frank-Walter Steinmeier die fünf Staaten Zentralasiens
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u besuchen. Fünf Staaten in fünf Tagen – an Leben hat
s dieser Reise sicher nicht gemangelt. Ich habe mir in
iesen Tagen aber vor allem ein Bild von der Region
elbst machen können. Deshalb stimme ich mit dem ana-
ytischen Teil dieses Antrags weitgehend überein und
eile dessen Grundtenor: Die strategische Bedeutung von
entralasien wächst.
Zentralasien ist die Schnittstelle zwischen russischem,
hinesischem und amerikanischem Einfluss und steht da-
it im Brennglas globaler Sicherheitspolitik. Die direkte
achbarschaft der Region wirkt zunehmend als Kata-
ysator für den Bedeutungszuwachs, Zentralasien wird
mmer mehr zur Transitregion für Opium aus Afghanis-
an und andere Drogen. Die Durchfuhr von Schmuggel-
aren, Menschenhandel und organisierte Kriminalität
ind an der Tagesordnung. Aber die zentralasiatischen
taaten sind eben auch Importländer für islamistische
deen aus Saudi-Arabien, Pakistan und anderen Ländern.
iese Probleme sind heute schon deutlich sichtbar. Das
acht Zentralasien zum Spielfeld im Kampf gegen den
error, den internationalen Drogentransit und Menschen-
andel.
Ein entscheidender Faktor ist bislang noch unsichtbar
nter der Erde: Die Region hat die größten Energiereser-
en weltweit. Dieser Aspekt verdeutlicht den Bedeu-
ungszuwachs vielleicht am besten: Während wir uns in
uropa und Deutschland um unsere Energieversorgung
orgen, schlummern unter der Erde von Zentralasien
icht nur Öl und Gas, sondern auch viele andere wich-
ige Bodenschätze, insbesondere in Kasachstan.
Doch wir werden dieser wachsenden geopolitischen
nd wirtschaftlichen Bedeutung nicht dadurch gerecht,
ass wir den Ländern dieser Region unsere Wertvorstel-
ungen und Demokratiewünsche präsentieren und dafür
trategische und wirtschaftliche Zusammenarbeit anbie-
en. Leider tut Bündnis 90/Die Grünen das mit seinem
ntrag zu sehr.
Die EU hat eine sehr lebendige Zentralasienstrategie,
ie einen Teil der von Bündnis 90/Die Grünen aufge-
tellten Forderungen bereits aufgreift. Diese Strategie
at sowohl einen integrativen wie einen bilateralen Teil.
Beim integrativen Ansatz setzt die EU zwei Schwer-
unkte. Zum einen wollen wir eine Sicherheitspartner-
chaft, die alle fünf zentralasiatischen Staaten ein-
chließt. Mit dieser Partnerschaft sollen Terrorgefahr,
rganisierte Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel
ingedämmt werden. Zum anderen fokussiert dieser An-
atz auf die Infrastruktur der Region zur Versorgung der
enschen mit Energie, Wasser und Gesundheit. Hierbei
ilt es zu beachten, dass so gut wie keine Kooperation
wischen den einzelnen Staaten besteht. Die Konflikte
wischen den Öl- und Gasstaaten einerseits und den
asserbesitzenden andererseits nehmen zu. Ein stabiles
entralasien hätte einen großen Effekt auf ganz Asien.
ier kann die EU eine wichtige Moderatoren- und Part-
errolle übernehmen.
Der bilaterale Teil basiert auf einer zentralen Erkennt-
is der EU selbst: So wie Europa aus Ländern mit unter-
chiedlichem kulturellen und historischen Hintergrund
9308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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besteht, müssen wir auch in Zentralasien die jeweiligen
Eigenarten der fünf Teilrepubliken erkennen. Um nur ei-
nen Gegensatz an zwei Beispielen zu verdeutlichen:
Während sich Turkmenistan nach dem Tod von Staats-
präsident Nijasow gerade neu ordnet, strebt Kasachstan
den OSZE-Vorsitz 2009 an. Diese Tendenz halte ich für
richtig. Kasachstan kann aber nur auf unsere Unterstüt-
zung hoffen, wenn es gleichzeitig den Acquis der OSZE
uneingeschränkt übernimmt.
Der vorliegende Antrag trägt diesen Punkten Rech-
nung und ich stimme mit Bündnis 90/Die Grünen über-
ein – so wie ich diesem Antrag in vielen Punkten meine
Zustimmung geben würde. Es gibt nur leider einen zen-
tralen Unterschied zwischen dem, was man fordern will,
und dem, was man fordern kann. Wer diesen Unter-
schied ignoriert, handelt kontraproduktiv. Nehmen wir
nur die Menschenrechtspolitik als Beispiel: In der Tat
fehlt es den zentralasiatischen Ländern immer noch an
grundsätzlicher Stabilität, an demokratischen Grundwer-
ten und an dem, was wir Zivilgesellschaft nennen. Des-
halb verweist Bündnis 90/Die Grünen auch zu Recht in
fünf seiner 24 Forderungen auf die Menschenrechte.
Doch bei unserer Reise habe ich natürlich auch erkannt,
dass die Mächtigen der zentralasiatischen Länder nur wi-
derwillig bereit zu Gesprächen über das Thema Men-
schenrechte sind.
Unsere Forderungen müssen im richtigen Verhältnis
zu unseren Angeboten stehen. Um es ganz deutlich zu
sagen: Die EU bleibt mit ihrer finanziellen Unterstüt-
zung weit hinter dem zurück, was die USA, China, Japan
und andere zahlen. Deshalb bitte ich eines zu bedenken:
Wir können nicht auf offene Ohren hoffen, wenn wir mit
fast leeren Händen kommen. Ich teile die Mehrheit der
Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen. Nicht von un-
gefähr sind viele dieser Forderungen bereits in der EU-
Strategie enthalten – die wesentlichen Inhalte in kompri-
mierter Form. Natürlich sollten wir den Menschen-
rechtsschutz auch in fünf verschiedenen Forderungen an
die Region Zentralasien herantragen und damit seine Re-
levanz betonen. Die Frage ist aber: Wollen wir nur For-
derungen erheben, oder wollen wir diese auch durchset-
zen? Wer hier zu viel fordert, dem wird die Haustür
zugeschlagen, bevor er das Wohnzimmer überhaupt se-
hen kann.
Wir als EU können als Partner für die Region und
Moderator zwischen den Staaten agieren. Und wir kön-
nen versuchen, unser europäisches Modell in all seinen
Farben und Formen zu präsentieren und als Vorbild an-
zubieten. Wir müssen allerdings versuchen, zwischen
Werten und Interessen zu balancieren. Nur dann werden
wir ernst genommen werden.
Die Grünen wollen mit ihrem Antrag „die EU-Zen-
tralasienstrategie mit Leben füllen“. Ich möchte das
auch. Deshalb sollten wir diesen Antrag in den Aus-
schüssen beraten, aber wir sollten einen zentralen Fehler
nicht machen: Sie überfrachten den Antrag so weit mit
Forderungen, dass er zu platzen droht. Dann wäre nie-
mandem mit einer EU-Strategie geholfen: Europa nicht
und den Menschen in Zentralasien schon gar nicht.
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Harald Leibrecht (FDP): Wir Liberale begrüßen
rundsätzlich, dass Zentralasien oben auf die Agenda
er deutschen EU-Ratspräsidentschaft gesetzt wurde.
Ich denke, wir sind uns einig, dass die Sichtbarkeit
er EU in der Region momentan unzureichend ist. Die
roblemfelder, die es anzugehen gilt, sind dagegen be-
annt und zahlreich: die eklatante Menschenrechtslage,
ie fehlende Rechtsstaatlichkeit, Drogen- und Men-
chenhandel, Kriminalität, Armut, mangelnde regionale
ooperation, Probleme des Grenzmanagements, Um-
eltprobleme – um nur einige zu nennen.
Es ist in unserem eigenen Interesse, die fünf zentral-
siatischen Staaten bei der Bewältigung dieser Probleme
u unterstützen. Denn nur in einer stabilen zentralasiati-
chen Region wird es uns möglich sein, gute, belastbare
olitische und wirtschaftliche Beziehungen zu dieser für
ns immer wichtiger werdenden Region aufzubauen.
uch muss unser Engagement in Afghanistan in diesem
usammenhang gesehen werden. Ein Überschwappen
eligiösen Fundamentalismus und Terrorismus hätte ver-
eerende Auswirkungen.
Gleichzeitig stehen wir in Zentralasien vor einer pro-
lematischen Lage: Auf der einen Seite haben wir in die-
er Region ganz konkrete sicherheitspolitische und ener-
iepolitische Interessen. Auf der anderen Seite haben
ir es mit zum Teil totalitären politischen Systemen und
iner desaströsen Menschenrechtslage zu tun.
Der Grünen-Antrag gibt auf diese Problematik leider
eine Antwort, sondern bleibt unkonkret. Er enthält ge-
iss viele wichtige Aspekte – jedoch auch nichts Neues.
r unterscheidet sich in diesem Sinne kaum von den
orstellungen der Bundesregierung.
Die fünf zentralasiatische Staaten – Kasachstan, Turk-
enistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan –
eilen zwar das postsowjetische Erbe, unterscheiden
ich, aber ansonsten erheblich. Unterschiedliche Länder
erlangen natürlich auch nach unterschiedlichen Ansät-
en. Daher darf es auch nicht ausschließlich bei dem re-
ionalen Ansatz bleiben, den die EU in der Vergangen-
eit verfolgt hat.
Kasachstan und Turkmenistan verzeichnen erhebliche
innahmen aufgrund ihres Reichtums an Energieroh-
toffen. Kasachstan ist gerade dabei, sich der Baku-Tbi-
isi-Ceyhan-Pipeline anzuschließen, durch die Öl aus
em kaspischen Raum über den Kaukasus an das türki-
che Mittelmeer transportiert wird. Das Land erhofft
ich, die Gesamtproduktion bis 2015 auf 150 Millionen
onnen zu erhöhen und damit zu den weltweit führenden
lproduzenten aufzusteigen. Die Signifikanz Kasach-
tans und auch Turkmenistans mit seinen enormen Gas-
orkommen ist so für die künftige europäische Energie-
olitik und -sicherheit nicht zu unterschätzen.
Nichtsdestotrotz darf der regionale Ansatz nicht gänz-
ich aufgegeben werden. Viele der Probleme in der Re-
ion können nur in Zusammenarbeit mit allen Staaten
elöst werden.
Leider war in den letzten Jahren die Bereitschaft der
entralasiatischen Staaten zu regionaler Kooperation
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9309
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sehr eingeschränkt. Es gibt derzeit keine auf die fünf
zentralasiatischen Staaten beschränkte Regionalorgani-
sation mehr. Es ist zu hoffen, dass die Isolationspolitik
Turkmenistans nach dem Tod des Turkmenbaschi ein
Ende hat. Usbekistans Zollbarrieren und Verminung der
Grenzabschnitte zu seinen Nachbarn sind auch nicht das,
was man als vertrauensbildende Maßnahmen bezeichnen
würde. Hinzu kommen insgesamt stark personalisierte
Machtstrukturen, die ein Hemmschuh für regionale Inte-
gration sind.
Einige der EU-Projekte sind in der Vergangenheit in
der Region durchaus positiv aufgenommen worden, wie
zum Beispiel die kürzlich zusammengelegten Pro-
gramme für Grenzmanagement und Bekämpfung von
Drogentransit durch Zentralasien.
Deutschland und Europa müssen diese regionalen
Projekte weiter fördern und auch Kooperationen wie die
Shanghai Organisation für Zusammenarbeit, SCO, neu
bewerten. Nicht zu Unrecht hatte der Westen die SCO in
der Vergangenheit als inhaltslose Integrationsblase be-
trachtet. Europa darf die Entwicklungen der letzten Jahre
aber nicht verschlafen und Zentralasien nicht Russland
und China überlassen, die jetzt schon in den Bereichen
Energie und Sicherheit enger zusammenarbeiten.
Einen letzten Aspekt möchte ich nennen, der mir so-
wohl bei den Grünen als auch bei der Bundesregierung
fehlt: die wichtige Rolle, die die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik bei der europäischen Zentralasienstrate-
gie spielen kann. Gerade auf zivilgesellschaftlicher
Ebene, gerade im Umgang mit Ländern, wo sich die Be-
ziehungen auf staatlicher Ebene nicht gerade problemlos
und durch offene Kommunikation auszeichnen, ist das
Instrument der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
von unschätzbarem Wert.
Auf meiner Reise durch Zentralasien vergangenen
November habe ich in den Gesprächen, gerade in Turk-
menistan, erlebt, wie groß das Misstrauen und wie klein
die Bereitschaft des Entgegenkommens ist. Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik kann hier ein guter Zugang
sein und muss in der Tat als eine der tragenden Säulen
der deutschen Außenpolitik gesehen werden.
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Wie die Antragstel-
ler begrüße ich die Initiativen der EU unter der deut-
schen Ratspräsidentschaft, die Beziehungen zu den fünf
Staaten der zentralasiatischen Region zu intensivieren.
Dies ist eine Chance, zur Förderung von Frieden und
Stabilität beizutragen.
Wir werden immer wieder daran erinnert, wie bedeut-
sam heute die Sicherung unserer Energieversorgung in
Europa geworden ist. Die zentralasiatische Region spielt
hierbei eine hervorragende Rolle. Allein dieser Sachver-
halt macht uns zu Partnern, und diese Partnerschaft soll-
ten wir pflegen. Ich möchte betonen, dass unsere Bezie-
hungen sich keinesfalls auf wirtschaftliche Interessen
reduzieren lassen dürfen und dass sie sich auf einem ab-
solut partnerschaftlichen Niveau abzuspielen haben!
Frieden und Wohlstand, Sicherheit und Freiheit sollen
nicht lediglich in Europa gelten, sondern überall in der
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elt und auch in unseren Nachbarschaftsregionen. Dies
ar und ist der Grund für die Attraktivität der Europäi-
chen Union und den enormen Fortschritt, der sich mit
hr verknüpft.
Die ökonomischen Beziehungen, welche die zentral-
siatischen Staaten und die EU verbinden, sollten ebenso
ertieft werden wie die politischen und kulturellen.
Es wird sich jedoch im Rahmen eines solchen, gut
reundschaftlich geführten Dialogs nicht vermeiden las-
en, auf gewisse Probleme zu sprechen zu kommen. Die
uropäische Union und die Bundesrepublik Deutschland
reten nach innen wie nach außen strikt für die Einhal-
ung der Menschenrechte ein. Vor diesem Hintergrund
önnen und dürfen wir nicht die Augen verschließen vor
er Lage der Menschenrechte in Zentralasien. Persönli-
he Freiheiten und die Pressefreiheit sind in diesen Län-
ern nach wie vor nicht ausreichend gesichert. Die Lage
twa in den usbekischen Gefängnissen ist inakzeptabel,
nd eine Aufklärung der Ereignisse in Andischan ist er-
orderlich.
Staatliche Folter und Repression dürfen in keinem
taat der Welt Normalität sein. Diese ist unsere feste
berzeugung. Deshalb ist die Lage der Menschenrechte
n Usbekistan eine, die wir als die Linke und als Demo-
raten so nicht hinnehmen können und nicht hinnehmen
ollen. Ich durfte mir im Oktober des vergangenen Jah-
es im Rahmen einer Reise des Menschenrechtsaus-
chusses nach Usbekistan selbst ein Bild von der dorti-
en Situation machen. Und in der Tat: Die Verhältnisse
cheinen von unserer Warte der erlebten 50 Jahre in Frie-
en und Demokratie sehr bedenklich. Wenn wir mit den
ändern der Region einen Dialog auf gleicher Augen-
öhe führen wollen, müssen wir jedoch zwei sehr ent-
cheidende Aspekte beachten.
Egal ob Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Turkme-
istan oder Tadschikistan: Es handelt sich um sehr junge
taaten, die allesamt in einer schwierigen ökonomischen
nd weltpolitischen Zeit, zu Beginn der 1990er-Jahre,
hre Souveränität erlangten. Auch wenn uns viele Zu-
tände besorgen: Das Erlernen demokratischen Mitei-
anders braucht Zeit, und diese Zeit sollte man den Län-
ern Zentralasiens – bei aller Kritik – auch zugestehen.
Ein zweiter Punkt, den man von dieser deutschen und
uropäischen Warte nicht sehen will oder kann, ist die
ngst der dortigen laizistischen Gesellschaften vor dem
olitischen Islam. Die Gefahr, die vom Islamismus aus-
eht, hat in dieser Nachbarregion zu Afghanistan und
akistan eine wesentlich andere Qualität. Der Islamis-
us ist in der Region eine reale Gefahr und keine bloß
irtuelle, wie die Antragsteller unterstellen. Auch wenn
ir mit den Maßnahmen, die gegen die Islamisten ergrif-
en werden, natürlich nicht immer einverstanden sein
önnen, sollten wir bedenken, dass es gerade diese säku-
aren Staaten mit muslimischer Bevölkerung sind, die
ür uns als Partner immer wichtiger werden!
Bei allem Respekt voreinander und bei allen Bemü-
ungen, keinem Staat und keinem Volk unsere Lebens-
eise aufzuzwingen, bin ich der festen Überzeugung,
ass auch Usbekistan und die anderen Länder Zentral-
9310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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asiens von den Erfahrungen profitieren können, die wir
in Europa in den letzten fünf Jahrzehnten gemacht ha-
ben. Diese Erfahrung lautet, dass Wohlstand und Freiheit
immer nur gemeinsam zu haben sind. Unfreiheit und
Unterdrückung sind nicht lediglich gesellschaftliche
Missstände, sondern sie führen immer auch zu wirt-
schaftlicher Stagnation. Korruption und Armut sind ihre
Folgen. Der Appell an die dortigen Regierungen, diesen
Zusammenhang zu erkennen, ist, davon bin ich fest
überzeugt, mindestens so wichtig wie die schnell in Be-
vormundung resultierenden Kontroll- und Sanktionsme-
chanismen, die Sie in Ihrem Antrag vorschlagen.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Bündnis 90/Die Grünen begrüßt die Aufmerk-
samkeit, die der Region Zentralasiens in der letzen Zeit
und insbesondere unter der EU-Ratspräsidentschaft zu-
teil wird. Bündnis 90/Die Grünen begrüßt auch und ins-
besondere die Pläne der Bundesregierung unter der EU-
Ratspräsidentschaft eine eigenständige Strategie für die
Region zu entwickeln. Meine Fraktion hat sich seit län-
gerem und sehr intensiv mit der aufstrebenden Region in
Asien befasst. Heute liegt Ihnen unsere Strategie dazu
vor.
Fünf Staaten Zentralasiens, Kasachstan, Kirgisistan,
Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, sind in
letzten Jahren stärker in den Fokus der Weltöffentlich-
keit gerückt. Mit einem Wirtschaftswachstum von 10 Pro-
zent jährlich entwickelt sich die Region dynamisch. Die
Europäische Union, insbesondere Deutschland, ist ein
wichtiger Handelspartner der Länder Zentralasiens. Die
Bedeutung Zentralasiens als Beschaffungsmarkt für
Energieträger und mineralische Rohstoffe wird für die
Versorgungssicherheit Deutschlands und der EU weiter
wachsen.
Dazu kommt ein Verbrauchermarkt mit circa
56 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, der ins-
besondere an deutschen Produkten ein ausgeprägtes In-
teresse hat. Kasachstan stellt derzeit für die EU den
wichtigsten Handelspartner unter den fünf zentralasia-
tischen Staaten dar.
Neben einer Ausrichtung auf die EU pflegen alle fünf
Staaten enge bilaterale Handelsbeziehungen zu Russ-
land. Zudem wächst die Bedeutung anderer Partner wie
China, USA, Japan und Iran. In der Region nimmt die Er-
kenntnis zu, dass regionale Kooperation von Bedeutung
ist. Von besonderem Gewicht sind hier die Eurasische
Wirtschaftsgemeinschaft und die Shanghai Cooperation
Organisation, SCO, in der neben den zentralasiatischen
Staaten auch Russland und China vertreten sind. Die EU
darf hier nicht im Abseits stehen, sondern sollte Wege
ausloten, um sich aktiv in die Kooperationen einzubrin-
gen und auch direkten Kontakt zu Russland und China
über Fragen von europäischen Interessen in Zentralasien
zu suchen.
Die wesentlichsten Entwicklungshemmnisse für die
Wirtschaft und für ausländische Investitionen sind je-
doch die politische Instabilität, die mangelnde Rechts-
staatlichkeit und die insgesamt besorgniserregende Men-
schenrechtslage in der Region. Die gravierend schlechte
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enschenrechtslage betrifft insbesondere den Schutz vor
isshandlungen und Folter, das Justizwesen, die Mei-
ungs- und Pressefreiheit und das Versammlungs- und
ereinigungsrecht. Die Todesstrafe ist noch nicht in allen
ändern vollständig abgeschafft. Nichtregierungsorgani-
ationen sowie Menschenrechtsverteidigerinnen und -ver-
idiger sind harschen Restriktionen und Verfolgung aus-
esetzt. Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog sind
omit ein wesentlicher Bestandteil einer auf wirtschaftli-
he Entwicklung und Stabilität angelegten Strategie.
Nach wie vor existiert keine umfassende Zusammen-
rbeit zwischen den fünf Staaten. Jedes Land verfolgt in
rster Linie seine eigenen Interessen. Die Vertiefung der
egionalen Zusammenarbeit kann nach Erkenntnissen
es Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen ei-
en großen Beitrag zur politischen und wirtschaftlichen
ntwicklung der Region leisten. Daher sollte regionale
ooperation vonseiten der EU gefördert werden; denn
ie zentralen Herausforderungen in den Bereichen Was-
erverteilung, Drogenbekämpfung, Umweltschutz, Ge-
undheitswesen und Transport lassen sich nur regional
ösen. Daneben sollte die EU jedoch auch gezielte Pro-
ekte, bezogen auf die einzelnen Länder, entwickeln, die
hren jeweiligen Besonderheiten und politischen Struk-
uren gerecht werden.
Nichtsdestotrotz muss sich die EU auch darüber be-
usst sein, wie instabil die einzelnen Länder und wie au-
oritär die Regime geführt sind. Das Verhältnis zwischen
er EU und den einzelnen Staaten kann so immer wieder
undamental belastet werden. Im Falle Usbekistans be-
am das unlängst Außenminister Frank-Walter Steinmeier
ei seiner Reise zu spüren.
Dazu möchte ich nur sagen, dass auch Usbekistan an
ie Charta der Vereinten Nationen gebunden ist und Ver-
töße gegen die Menschenrechte von der internationalen
emeinschaft nicht toleriert werden. Usbekistan ist Ver-
ragspartei des Internationalen Paktes für bürgerliche
nd politische Rechte. Im Einklang damit stand auch das
erhalten der Menschenrechtsverteidigerin Umida
iazowa, Mutter eines zweijährigen Sohnes, die nun in
ntersuchungshaft sitzt.
Die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwi-
chen der EU und allen fünf zentralasiatischen Staaten
die Ratifizierungen Tadschikistans und Turkmenistans
tehen noch aus – beinhalten die Möglichkeit, zu den
ooperationsräten Unterausschüsse für Menschenrechte
u bilden. Dies sollte für alle fünf zentralasiatischen
taaten geprüft und im Rahmen der Zentralasienstrategie
mgesetzt werden.
Im Bereich der Rechtsstaatsförderung sollte die EU
ie Zusammenarbeit mit den VN, dem Europarat und der
SZE vertiefen. Gerade die OSZE, der alle Staaten Zen-
ralasiens angehören, hat eine wichtige Verbindungs-
unktion zwischen der EU und Zentralasien. Dieses Po-
enzial wird aber nicht ausgeschöpft. Das OSZE-
entrum in Aschgabat ist seit Jahren kaum mehr arbeits-
ähig. Das OSZE-Zentrum in Taschkent wurde auf
ruck der usbekischen Regierung reduziert auf einen
rojektkoordinator. Das Mandat des OSZE-Zentrums in
asachstan wurde von der Regierung in Almaty zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9311
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nächst nur bis Mitte 2007 verlängert. Kirgisistan hat be-
reits angekündigt, die Frage der Verlängerung eines um-
fassenden Mandats des Zentrums erneut prüfen zu
wollen. Im „Astana-Appell von GUS-Staaten an OSZE-
Partner“ haben Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan
und Usbekistan sich unter anderem gegen den Fortbe-
stand unabhängiger OSZE-Wahlbeobachtung gestellt.
Die EU sollte sich in ihrer Politik gegenüber den zen-
tralasiatischen Staaten deutlich für unabhängige Wahlbe-
obachtung und unabhängige institutionelle Beobachtung
von Menschenrechtsverletzungen in der Region einset-
zen. Kasachstan bewirbt sich um den OSZE-Vorsitz für
das Jahr 2009. Der OSZE-Vorsitz ist eine Führungsrolle
im Rahmen der Organisation mit Verantwortung und
Autorität. Das Land, das den Vorsitz innehat, sollte die
Werte und Verpflichtungen der OSZE repräsentieren.
Kasachstan muss jetzt zeigen, dass es zur Übernahme
solcher Verantwortung bereit und in der Lage ist. Neben
sichtbaren nationalen Fortschritten in der Umsetzung der
OSZE-Standards müsste Kasachstan auch zeigen, dass
es bereit und in der Lage ist, in der OSZE eine aktive
Rolle zur Beförderung des wertvollen OSZE-Acquis zu
spielen.
Ein weiterer Bestandteil der EU-Zentralasienstrate-
gie muss eine klare sicherheitspolitische Zielsetzung
sein. Diktatorische Regime sind sicherheitspolitische Ri-
sikofallen. Ein Stabilitätsaufbau in Afghanistan kann
nicht ohne Stabilität in Zentralasien gelingen.
Ein großes Problem, das in der Zentralasienstrategie
aufgegriffen werden muss, ist der Drogen- und Menschen-
handel und eine wachsende organisierte Kriminalität. Da-
rüber hinaus sollte sich die Politik der EU gegenüber Zen-
tralasien mit der Bildung islamistischer Gruppierungen,
insbesondere mit der politischen Instrumentalisierung
dieses Feindbildes in der Region auseinandersetzen. Ein
gravierendes Sicherheitsproblem zum Beispiel im usbe-
kischen Ferghanatal, Andijan, ist, dass wirtschaftlich-so-
ziale Not in der Bevölkerung als Ursache für gesellschaft-
liche Unruhe nicht angegangen wird. Statt grundlegende
Reformen anzugehen, werden islamistische Feindbilder
aufgebaut und Reformkräfte in der Zivilgesellschaft poli-
tisch verfolgt. Dies schafft einen Nährboden für radikale
Kräfte.
Ziel der EU-Zentralasienstrategie sollte deshalb auch
sein, die Einbindung moderater islamischer Akteure zu
fördern, die großes Ansehen genießen, und eine wichtige
Mittlerfunktion wahrzunehmen. Neben Wirtschafts- und
Sozialreformen kommt es auch darauf an, ein Angebot
öffentlicher Grundbildung für die breite Bevölkerung zu
sichern. Zentralasien ist zu Recht in den europäischen
Fokus gerückt. Jetzt kommt es darauf an, die Potenziale
der Region zu nutzen. Menschenrechtspolitik sollte da-
bei endlich als europäische Interessenpolitik gesehen
werden.
Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:
Die EU hat gestern beim Treffen der EU-Außenminister-
Troika mit den fünf zentralasiatischen Staaten in Astana
einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Kooperation
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it Zentralasien und damit zur Ausarbeitung einer EU-
entralasien-Strategie getan.
Wie Sie wissen, hat der Europäische Rat im Dezem-
er 2006 die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beauf-
ragt, bis zum Juni dieses Jahres Leitlinien für eine Zu-
ammenarbeit der EU mit Zentralasien vorzulegen. Bei
er gestrigen Aussprache in der kasachischen Hauptstadt
urde erneut deutlich, dass dies auch auf großes Inte-
esse und Unterstützung in Zentralasien selber stößt.
Dieser Aspekt ist der Bundesregierung besonders
ichtig. Die EU-Zentralasien-Strategie soll nicht über
ie Köpfe der Staaten hinweg formuliert werden.
leichwohl muss die EU darauf achten, den Willen der
entralasiatischen Staaten zu bilateraler Kooperation mit
er EU auch in Ansätze zum Ausbau der regionalen Zu-
ammenarbeit umzumünzen. Es geht darum, Zentral-
sien in eine vertiefte Partnerschaft mit der EU einzubin-
en. Unser Ziel ist der Aufbau stabiler, offener und
erechter Gesellschaften auf der Basis anerkannter inter-
ationaler Werte und Normen.
Deshalb wird die EU den Bereichen gute Regierungs-
ührung, Rechtsstaat, Menschenrechte und Demokrati-
ierung wie auch dem Bildungs- und Ausbildungsbe-
eich besondere Bedeutung beimessen. Sie ist bereit, ihre
rfahrungen und Kenntnisse in diesem Bereich in Zen-
ralasien einzubringen.
Dazu gehört auch verstärkte Zusammenarbeit bei glo-
alisierten Herausforderungen wie dem Kampf gegen
as organisierte Verbrechen und den internationalen Ter-
orismus sowie Drogen-, Menschen- und Waffenhandel.
ier wird die Etablierung moderner, offener und gleich-
eitig sicherer Grenzen in Zentralasien ein zentrales An-
iegen der EU mit großer wirtschaftlicher Bedeutung
ein.
Auf dieser Grundlage haben wir im Gespräch mit den
entralasiatischen Staaten folgende Bereiche identifi-
iert, in denen wir besonders großes Potenzial für eine
ntensivere Zusammenarbeit sehen: erstens gute Regie-
ungsführung, Rechtsstaat und Menschenrechte, zwei-
ens wirtschaftliche Entwicklung, Freihandel und Inves-
itionen, drittens Bildung und Ausbildung, viertens
renzmanagement, Kampf gegen die organisierte Kri-
inalität, internationalen Terrorismus, Drogen-, Waffen-
nd Menschenhandel und fünftens Energie. Auf beson-
eres Interesse der zentralasiatischen Staaten würde eine
ildungs- und Ausbildungsinitiative der EU für Zen-
ralasien stoßen. Sie würde der jungen Generation neue
erspektiven bieten.
Im Bereich Menschenrechte zeichnet sich ebenfalls
ine vertiefte Zusammenarbeit ab. Die EU beabsichtigt,
it jedem der zentralasiatischen Staaten einen regel-
äßigen, strukturierten und ergebnisorientierten Men-
chenrechtsdialog einzurichten. Anderen Bereichen wie
er Unterstützung wirtschaftlicher und sozialer Entwick-
ung in Zentralasien, Fragen des Grenzmanagements und
er Energie- und Umweltkooperation wird die EU auf
er Grundlage bestehender EU-Programme künftig mehr
ufmerksamkeit widmen.
9312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Neben mehr Geberkoordinierung wollen wir die Zu-
sammenarbeit mit der OSZE und anderen multilateralen
Organisationen und Foren wie den IFIs intensivieren.
Dazu gehört unter anderem auch die Shanghai Organisa-
tion. Durch die Stärkung dieser Strukturen wollen wir re-
gionale Kooperation in Zentralasien fördern.
Dies alles geschieht in dem Verständnis, dass wir nur
mit einem ausgewogenen, partnerschaftlichen Ansatz Si-
cherheit, Stabilität und Prosperität in Zentralasien in un-
serem und im dortigen Interesse fördern können. Dieser
Ansatz muss die spezifischen Anliegen der zentralasiati-
schen Staaten ernst nehmen. Und er muss die regionalen
Herausforderungen in den Blick nehmen. Ausgewogen-
heit heißt schließlich auch, die Beziehungen zu den zen-
tralasiatischen Staaten in ihrer gesamten Breite voranzu-
bringen. Das schließt nach unserem Verständnis auch
substanzielle Fortschritte in den Bereichen Rechtsstaat-
lichkeit und Menschenrechtsschutz ein. Dies alles muss
transparent gestaltet werden, um Vertrauen in Zentral-
asien, aber auch bei anderen internationalen Akteuren in
der Region zu schaffen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Öffentlichen Ver-
kehr in den neuen Bundesländern nicht gefähr-
den – Verkehrsflächenbereinigungsgesetz ver-
längern
(Tagesordnungspunkt 20)
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Dem vorliegenden
Antrag der Fraktion Die Linke, die Übergangsregelung
des Verkehrsflächenbereinigungsgesetzes über den Frist-
ablauf zum 30. Juni 2007 hinaus zu verlängern, wird die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmen.
Zur Erläuterung möchte ich zunächst den historischen
Hintergrund der betreffenden Regelung aufzeigen. Eine
Vielzahl von Grundstücken privater Eigentümer wurde
zu Zeiten der ehemaligen DDR für öffentliche Zwecke
in Anspruch genommen, ohne dass ihre förmliche Über-
führung in sogenanntes Volkseigentum oder eine recht-
lich verbindliche Regelung der Nutzungsverhältnisse er-
folgt ist. Trotz dieses durchaus zweifelhaften
Besitzanspruches der öffentlichen Hand wurde durch
den bundesdeutschen Gesetzgeber eine befristete Über-
gangslösung zugunsten der weiteren Nutzung bzw. des
Erwerbs solcher Grundstücke durch die öffentliche Hand
im Verkehrsflächenbereinigungsgesetz geschaffen. Die-
ses Gesetz löste die am 30. September 2001 ausgelau-
fene Regelung in Art. 233 § 2 a IX EGBGB ab. Das Ge-
setz gilt für die von Art. 3 des Einigungsvertrages
erfassten Grundstücke privater Eigentümer, sofern sie
frühestens seit dem 9. Mai 1945 und vor dem 3. Oktober
1990 für die Erfüllung einer Verwaltungsaufgabe in An-
spruch genommen wurden.
Das Gesetz sieht vor, dass die öffentlichen Nutzer für
weiterhin zu öffentlichen Zwecken benötigte Flächen ein
bis zum 30. Juni 2007 befristetes Ankaufsrecht zu be-
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onders günstigen Konditionen, die erheblich unterhalb
es Verkehrswerts liegen, haben. Bei Verkehrsflächen
eträgt der Kaufpreis 20 Prozent des Bodenpreises eines
n gleicher Lage gelegenen unbebauten Grundstücks. Bis
ur Bereinigung der Rechtsverhältnisse entweder durch
utzungsaufgabe der öffentlichen Hand oder Ankauf bei
eiternutzung für öffentliche Zwecke steht dem priva-
en Eigentümer lediglich die Zahlung eines Nutzungs-
ntgeltes zu, das ebenfalls erheblich unter marktüblichen
onditionen liegt, da zur Berechnung der nach dem Ge-
etz sich ergebende niedrige potenzielle Kaufpreis zu-
runde gelegt wird.
Mit dieser Übergangslösung bis zur endgültigen Be-
einigung der Rechtsverhältnisse sollte vermieden wer-
en, dass die Kommunen in den neuen Ländern mit An-
aufsforderungen durch private Grundstückseigentümer
berfordert werden. Durch die langfristige Übergangsre-
elung wurde den Kommunen bis zum 30. Juni 2007 die
öglichkeit eingeräumt, zunächst zu überprüfen, welche
rundstücke im Privateigentum dauerhaft weiter für öf-
entliche Zwecke benötigt werden, und in der Folge ent-
prechend die zum verbilligten Erwerb dieser Liegen-
chaften notwendigen Haushaltsmittel über mehrere
ahre in die jeweiligen Planungen einzustellen.
Entscheidender Punkt ist nun, dass, falls der öffentli-
he Nutzer sein Ankaufsrecht bis zum 30. Juni 2007
icht ausgeübt hat, der privater Eigentümer ab diesem
eitpunkt den Ankauf seines Grundstücks zum Ver-
ehrswert verlangen oder ein marktgerechtes Nutzungs-
ntgelt für die Eintragung einer Dienstbarkeit fordern
ann. Mit Ablauf der Übergangsfrist wird demnach in
er Folgezeit die endgültige Klärung der Rechtsverhält-
isse an den Grundstücken herbeigeführt, die zu diesem
eitpunkt trotz fortdauernder öffentlicher Nutzung noch
mmer im Privateigentum sind.
Anders als nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz
nterliegt der private Eigentümer nach dem Verkehrsflä-
henbereinigungsgesetz nämlich einem Kontrahierungs-
wang. Die von der PDS nun geforderte Fristverlänge-
ung würde bedeuten, dass private Eigentümer weiterhin
tillhalten und sich mit dem geringen Nutzungsentgelt
der dem abgesenkten Kaufpreis, wenn es der Kommu-
en recht ist, begnügen müssten. Dies ist mit unserem
erständnis des Eigentumsschutzes im Jahre 17 der
eutschen Einheit unvereinbar.
Das unbefriedigende Rechtsverhältnis für den privaten
igentümer würde weiterhin aufrechterhalten, obgleich
erade die Übergangsfrist im Verkehrsflächenbereini-
ungsgesetz das Ergebnis eines ausführlich diskutierten
ompromisses von Beratungen einer Bund-Länder-
ruppe war, der den Interessen beider Seiten ausreichend
echnung getragen hat. Uns ist kein Grund ersichtlich,
arum sich diese Ausgangslage grundlegend verändert
aben soll, warum die Verlängerung der Übergangslö-
ung zulasten der privaten Eigentümer gerechtfertigt
äre.
Mit einer Fristverlängerung würde das Vertrauen der
etroffenen nachhaltig enttäuscht, die möglicherweise
uch schon Dispositionen hinsichtlich ihrer Grundstücke
ür die Zeit nach dem 30. Juni 2007 getroffen haben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9313
(A) )
(B) )
Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Eine ständige sach-
grundlose Verlängerung von mit Sachgrund versehenen
Übergangsfristen darf nicht der Regelfall werden.
Es ist nur sehr schwer nachvollziehbar, warum über
Einzelfälle hinaus nach weit mehr als zehn Jahren immer
noch keine Klärung auf diesem Gebiet seitens der Kom-
munen erfolgen konnte. Dabei ist insbesondere zu be-
rücksichtigen, dass das Gesetz während der Übergangs-
frist ja einen Erwerb der weiterhin für öffentliche
Zwecke beanspruchten Grundstücke zu einem erheblich
unter dem Verkehrswert liegenden Preis zugunsten der
Kommunen ermöglicht hat.
Der Antrag der Fraktion Die Linke stützt seine Be-
gründung darauf, dass sich gezeigt hat, dass eine Viel-
zahl von betroffenen Kommunen ihr notarielles Kauf-
vertragsangebot nicht bis zum vorgesehenen Stichtag
abgeben könne. Große Erbengemeinschaften oder die
späte Erkenntnis, dass man während schon begonnener
Baumaßnahmen in privates Eigentum eingreife, werden
als Gründe angeführt. Nach Auffassung der Fraktion Die
Linke solle mit einer Fristverlängerung dem drohenden
baldigen Erlöschen des im Gesetz geregelten Ankaufs-
rechts und der danach vermeintlich entstehenden Rechts-
unsicherheit abgeholfen werden.
Hierzu ist zu sagen, dass es einer Verlängerung nicht
bedarf, da selbstverständlich auch nach Ablauf der Frist
am 30. Juni 2007 eine Rechtsbereinigung möglich sein
wird. Nur mit dem Unterschied, dass dann endlich „nor-
male“ Rechtspositionen gelten werden. Der Unterschied
wird nämlich der sein, dass nun nach langen Jahren der
Rechtsunsicherheit endlich dem Eigentümer das Recht
zugestanden wird, selbst eine Klärung der Rechtsposi-
tion an seinem Grundstück herbeizuführen. Er kann nun
endgültig einseitig bestimmen, wie er die Eigentumslage
seines Grundstücks behandelt wissen möchte. Das be-
deutet, er kann ab diesem Zeitpunkt die Kommune ver-
pflichten, sein von ihr für öffentliche Zwecke genutztes
Eigentum zum Verkehrswert anzukaufen oder eine ent-
geltliche Dienstbarkeit daran bestellen lassen, die eine
marktüblichen Nutzungsvergütung vorsieht, und er ist
nicht länger zum Ausharren verpflichtet.
Die weiter angeführte Problematik vermeintlich zu
spät erkannter privater Eigentumsrechte während laufen-
der Bauarbeiten kann wohl kaum eine ernstgemeinte Un-
termauerung der Forderung der Fristverlängerung sein.
Die verspätete Erkenntnis, dass beim Bau zum Beispiel
einer öffentlichen Straße Privateigentum überbaut wird
– schlimm genug, wenn dies so stattfindet – kann wohl
kaum dem privaten Eigentümer zur Last gelegt werden.
Unabhängig hiervon ist auch nach dem Ablauf der
Frist die Rechtsbereinigung zugunsten der öffentlichen
Hand möglich. Bei Vorliegen der entsprechenden spe-
zialgesetzlichen Voraussetzungen ist eine Enteignung für
öffentliche Zwecke nicht ausgeschlossen. Allerdings
wäre dann entsprechend der grundgesetzlichen Eigen-
tumsgarantie der volle Verkehrswert als Ausgleich zu
zahlen. Und gerade dieser Punkt ist entscheidend für die
Erkenntnis, worum es hier tatsächlich geht. Wir stehen
unverrückbar zur Eigentumsgarantie als zentralem Punkt
des Grundgesetzes. Daher ist es nach Ablauf der langen
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bergangsfrist nunmehr höchste Zeit, dass die allgemei-
en Regelungen in ganz Deutschland Anwendung fin-
en. Es darf nicht länger Grundeigentum erster und
weiter Klasse geben.
Etwas anderes könnte nur gelten, wenn substantiiert
orgetragen würde, dass die Kommunen in den neuen
ändern systematisch an einer vernünftigen Rechtsberei-
igung nach den Übergangsbedingungen des Verkehrs-
lächenbereinigungsgesetzes gehindert gewesen wären.
tichhaltige Gründe hierfür kann ich dem Antrag der
DS nicht entnehmen. Hätte aus Sicht der Bundesländer
andlungsbedarf bestanden, wären die kommunalen In-
eressen in Verhandlungen mit der Bundesregierung oder
m Wege einer Bundesratsinitiative eingebracht worden.
as ist alles nicht der Fall.
Ich bin selbst Stadtrat meiner Heimatstadt Hohen-
tein-Ernstthal und kommunalpolitisch engagiert. Auch
us meiner diesbezüglichen Praxis kann ich Ihnen nur
agen, dass Sie Scheindebatten vom Zaun brechen wol-
en. Wir werden diese nicht führen.
Dr. Peter Danckert (SPD): Den Kollegen von der
raktion Die Linke verdanken wir heute den Umstand,
ass wir noch zu so später Stunde hier an dieser Stelle
ine Thematik behandeln, für die es aus meiner Sicht
und der des federführenden Bundesministeriums der
ustiz – keinen Handlungsbedarf gibt. Die Linke fordert
n ihrem Antrag die Bundesregierung auf, das „Gesetz
ur Bereinigung der Rechtsverhältnisse an Verkehrs-
lächen und anderen öffentlich genutzten privaten
rundstücken“, kurz Verkehrsflächenbereinigungsge-
etz (VerkFlBerG), über die gegenwärtig geltende Frist
is 30. Juni 2007 hinaus um drei weitere Jahre zu verlän-
ern.
Das Verkehrsflächenbereinigungsgesetz vom 26. Ok-
ober 2001 regelt die Rechtsverhältnisse an Grund-
tücken in den neuen Bundesländern, die im Privateigen-
um stehen, aber zu öffentlichen Zwecken genutzt
erden. Die gesetzliche Neuregelung erfolgte seinerzeit
ufgrund einer Initiative der neuen Länder. Vor dem
intergrund von Art. 14 GG war eine nicht einfache Ab-
ägung zwischen dem Eigentum und dem Wohle der
llgemeinheit vorzunehmen (Art. 14 Abs. 3 GG).
ieses Gesetz räumt dem öffentlichen Nutzer unter be-
timmten Voraussetzungen ein Erwerbsrecht an Ver-
ehrsflächen gegenüber dem Grundstückseigentümer
in. Dies betrifft in erster Linie Verkehrsflächen, aber
uch zum Beispiel für Verwaltungszwecke genutzte Flä-
hen und Gebäude.
Handlungsbedarf ergab sich aus dem Umstand, dass
n der DDR oftmals private Grundstücke für öffentliche
wecke in Anspruch genommen worden sind, ohne dass
ine förmliche Überführung des Grundstücks in Volks-
igentum stattgefunden hätte oder die Nutzung des
rundstücks gegenüber dem Eigentümer sonst auf eine
echtliche Grundlage gestellt worden wäre. Diese
rundstücke blieben in Privateigentum und sind es auch
eute noch. Das Gesetz ermöglichte den Kommunen,
om Eigentümer bis zum 30. Juni 2007 den Verkauf des
rundstücks zu stark abgesenkten Preisen (§§ 5 und 6)
9314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
zu verlangen. Der Gesetzgeber hat seinerzeit ganz be-
wusst in § 8 eine Abschlussfrist normiert, um, wie es in
der Begründung hieß, „den baldigen Ankauf der für öf-
fentliche Zwecke genutzten Grundstücke zu bewirken“
und damit auch eine „zügige Bereinigung“ zu realisie-
ren. Diese Regelung entspricht dem sich aus Art. 14 GG
ergebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das
heißt konkret eine Abwägung zwischen dem grundge-
setzlichen Schutz des Eigentums und dem Wohl der All-
gemeinheit. Nach Ablauf der Abschlussfrist verbleiben
einige „unbereinigte Fälle“, in denen der Grundstücksei-
gentümer die Wahl hat, ob er von der Gemeinde den An-
kauf verlangt oder aber ein Nutzungsentgelt fordert, das
so lange zu zahlen wäre, wie die öffentliche Nutzung
fortbesteht.
Die Linke ist der Ansicht, dass eine Vielzahl der be-
troffenen Kommunen nicht in der Lage sein wird, den
Grundstückseigentümern bis zu diesem Stichtag ihr no-
tarielles Kaufvertragsangebot zu übermitteln, und strebt
deshalb eine Fristverlängerung an. Gestatten Sie mir
hierzu folgende Anmerkungen: Das Gesetz mit der kon-
kreten Abschlussfrist ist das Ergebnis von Beratungen
einer auf Initiative der Ost-Justizministerkonferenz 1999
gebildeten Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Diese Ab-
schlussfrist nach § 8, die man auch als eine Ausschluss-
frist werten kann, war ein Kompromiss zwischen den
widerstreitenden Interessen der Beteiligten. Zu beden-
ken war, dass die Grundstückseigentümer bei Ablauf der
Frist über einen Zeitraum von fast 17 Jahren nach der
Wiedervereinigung keinen Zugriff auf das Grundeigen-
tum hatten. Zugleich war den öffentlichen Nutzern
bereits bei der Erarbeitung des Gesetzes das Problem der
noch ausstehenden sachenrechtlichen Bereinigung seit
langem bekannt. Zur Durchführung der notwendigen
vorbereitenden Maßnahmen (Vermessungsarbeiten,
Feststellung der Eigentumsverhältnisse) zur rechtlichen
Bereinigung stand ausreichend Zeit – nämlich sechs
Jahre – zur Verfügung. Darüber hinaus impliziert der
Ablauf der Frist nicht die Notwendigkeit, alle Verträge
bis zum Stichtag fertig abzuwickeln. Auch nach Frist-
ablauf ist die Rechtsbereinigung möglich, wenn auch der
Grundstückseigentümer damit einverstanden ist. Nach
Ablauf der Abschlussfrist kann allerdings der Grund-
stückseigentümer alleine darüber entscheiden, ob er die
Fläche an den öffentlichen Nutzer verkauft oder die Zah-
lung eines Nutzungsentgeltes fordert oder schlicht nichts
unternimmt. Wenn der öffentliche Nutzer an der Erlan-
gung des Eigentums am Grundstück gegen den Willen
des Grundstückseigentümers interessiert ist, kommt ge-
gebenenfalls eine Enteignung nach den jeweiligen Spe-
zialvorschriften (unter anderem den Straßengesetzen der
Länder) – allerdings gegen Entschädigung in Höhe des
Verkehrswertes – in Betracht.
Einer Fristverlängerung stehen – und dies ist nicht
ganz unerheblich – verfassungsrechtliche Bedenken ent-
gegen: Die trotz der öffentlich-rechtlichen Nutzung der
Grundstücke bestehenden (eingeschränkten) Eigentums-
rechte der Grundstückseigentümer fallen unter den
Schutz von Art. 14 Abs. l Satz l GG. Jede Änderung der
Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse muss sich daher
insbesondere an den Grundsätzen des Vertrauensschutzes
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nd der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Die erheb-
iche Belastung der Grundstückseigentümer, die über
inen langen Zeitraum zur Passivität gezwungen sind,
nd die Tatsache, dass den öffentlichen Nutzern der Ab-
auf der Abschlussfrist frühzeitig bekannt war, begründen
rnsthafte verfassungsrechtliche Bedenken gegen die
erlängerung der Frist. Letztlich bleibt es den neuen
undesländern unbenommen, ihre Interessen im Wege
iner Bundesratsinitiative wahrzunehmen. Vor dem Hin-
ergrund erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken
ann ich den Ländern allerdings nicht zu diesem Schritt
aten.
Wir sehen der Ausschussberatung entgegen, und ich
enke, ich kann heute schon ankündigen, dass wir den
orliegenden Antrag ablehnen werden.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
ach dem Willen des Gesetzgebers sollte das Verkehrs-
lächenbereinigungsgesetz von 2001 die Rechtsverhält-
isse an seit DDR-Zeiten öffentlich genutzten Privat-
rundstücken endgültig regeln – so nachzulesen in der
eschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsaus-
chusses vom 25. September 2001. Schenkt man dem
ntrag der Fraktion Die Linke Glauben, ist dieses Ziel
icht erreicht worden, denn anderenfalls gäbe es keine
otwendigkeit, die vorgesehenen Fristen um weitere
rei Jahre bis zum 30. Juni 2010 zu verlängern.
Die Frage, die sich stellt, ist: Woran liegt das? Laut
ntrag gibt es Schwierigkeiten bei den Recherchen zu
en betroffenen Grundstücken. Dies sei dem Umstand
eschuldet, dass es sich bei den Grundstückseigentü-
ern oft um große Erbengemeinschaften handele bzw.
ass sich erst im Rahmen von Baumaßnahmen heraus-
telle, dass zum Beispiel öffentliche Straßen zum Teil
ber private Grundstücke verlaufen. Die Richtigkeit die-
es Tatsachenvortrags unterstellt, fragt sich, wer diese
chwierigkeiten zu vertreten hat, der private Grund-
tückseigentümer oder die öffentliche Hand.
Schon im Gesetzgebungsverfahren hat die Fraktion
er FDP kritisiert, dass vonseiten der Länder und Kom-
unen nicht aufgezeigt worden sei, welche Grundstücke
n welchem Umfang und zu welchen Werten betroffen
eien. Die Fraktion der PDS äußerte sich ähnlich. Sie
ritisierte, dass keine Angaben über die Zahl der betrof-
enen Grundstücke vorlägen.
Seit dieser Kritik sind weitere fünfeinhalb Jahre ins
and gegangen. Warum diese Zeit nicht ausgereicht ha-
en soll, die Grundstücks- und Eigentumsverhältnisse
ndgültig zu klären, leuchtet mir nicht ein. Jedenfalls rei-
hen mir die hierzu vorgetragenen Tatsachen nicht aus.
ier wäre eine Einschätzung der Bundesregierung hilf-
eich. Denn eins steht fest: Eine Fristverlängerung „auf
uruf“ kann und darf es nicht geben. Diese ginge einsei-
ig zulasten der Grundstückseigentümer, obwohl vieles
afür spricht, dass diese die behaupteten Schwierigkei-
en nicht zu vertreten haben. Dann wäre es aber nicht ak-
eptabel, dass Eigentümer für weitere drei Jahre der Ge-
ahr ausgesetzt werden, ihr Grundstück zwangsweise
erkaufen zu müssen, und dies möglicherweise zu einem
reis, bei dem sie noch draufzahlen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9315
(A) )
(B) )
Wie Sie wissen, begegnete die Kaufpreisregelung be-
reits im Gesetzgebungsverfahren verfassungsrechtli-
chen Bedenken. Insbesondere für Eigentümer, deren
Grundstücke mit alten, in der Höhe über den gesetzli-
chen Kaufpreisanspruch hinausgehenden Grundpfand-
rechten belastet waren, wurde die Gefahr einer „zweiten
Enteignung“ gesehen.
Für die FDP darf das Auseinanderfallen von Grund-
stückseigentum und Grundstücksnutzung abseits von
Miet- und Pachtverhältnissen nicht zu einem Dauerzu-
stand werden. Sollte man zu dem Ergebnis kommen,
dass eine Fristverlängerung unumgänglich ist, wären
deshalb flankierende Maßnahmen vorzusehen, um die
Beendigung dieses Zustandes, der im deutschen Recht
ein Fremdkörper ist, zu beschleunigen.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Die Erfüllung öffent-
licher Aufgaben erfolgt in den neuen Bundesländern in
einer Vielzahl von Fällen auf privaten Grundstücken.
Die erforderliche Rechtsgrundlage dafür schafft das Sa-
chenrechtsbereinigungsgesetz und in Ergänzung seit
2001 das Verkehrsflächenbereinigungsgesetz. Das Ge-
setz ermöglicht den Kommunen in den neuen Bundes-
ländern den Erwerb von Privatgrundstücken zu einem
ermäßigten Preis, wenn die betreffenden Grundstücke
zwischen dem 9. Mai 1945 und dem 3. Oktober 1990 für
die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben oder als Ver-
kehrsflächen tatsächlich in Anspruch genommen wurden
und auch zukünftig für diese Zwecke benötigt werden.
Dazu zählen insbesondere Verkehrsflächen im engeren
Sinne, das heißt öffentliche Straßen auf privaten Flä-
chen, Park- und Grünanlagen.
Daneben existiert auch die Möglichkeit des Zukaufs
von privaten Grundstücken, die zur Erfüllung einer sons-
tigen Verwaltungsaufgabe mit einem Gebäude, zum Bei-
spiel Kindergärten, Schulen, Rathäuser oder sonstiger
baulicher Anlagen wie zum Beispiel Spielplätzen und
Sportanlagen bebaut worden waren und weiterhin benö-
tigt werden. Ausnahmsweise kann die Bestellung des
milderen Mittels einer persönlich beschränkten Dienst-
barkeit ausreichen, wenn der Eigentumserwerb zur Si-
cherung der öffentlichen Nutzung den Eigentümer durch
den Eigentumsverlust unverhältnismäßig belasten
würde. Dies kann etwa bei einer Untertunnelung des
Grundstücks oder bei einem Brückenpfeiler auf einem
ansonsten landwirtschaftlich genutzten Grundstück der
Fall sein.
Der Nutzer hat das Recht auf Durchführung einer Be-
reinigung der Rechtsverhältnisse an für öffentliche Zwe-
cke genutzten Flächen. § 8 Abs. 1 sieht vor, dass der öf-
fentliche Nutzer bis zum Ablauf des 30. Juni 2007 das
Erwerbsrecht nach § 3 Abs. 1 Satz 1 durch Abgabe eines
notariell beurkundeten Angebots zum Abschluss eines
Kaufvertrages ausgeübt haben muss. Nach Ablauf dieser
Frist soll der öffentliche Nutzer nun keine Möglichkeit
mehr haben, seinerseits die Rechtsbereinigung einzulei-
ten. Sein Recht, den Vertragsabschluss zu verlangen, er-
lischt. Dieses Recht geht dann auf den oder die Grund-
stückseigentümer über.
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Die vorgesehene Ausschlussfrist sollte dem zügigen
nkauf und damit dem Ziel einer zügigen Bereinigung
ienen. Aufgrund der Vielzahl der bisher bekannt ge-
ordenen Fälle sowie der Schwierigkeiten bei den Re-
herchen zu den betroffenen Grundstücken hat sich ge-
eigt, dass eine Vielzahl der betroffenen Kommunen ihr
otarielles Kaufvertragsangebot nicht bis zu dem vorge-
ehenen Stichtag an die Grundstückseigentümer über-
itteln kann. Dies ist unter anderem dem Umstand ge-
chuldet, dass es sich bei den Grundstückseigentümern
ft um große Erbengemeinschaften handelt, noch nicht
ollständig aktualisierte Grundstückskataster in den Ge-
einden vorliegen oder noch strittige Rückübertra-
ungsansprüche vorliegen bzw. sich erst im Rahmen von
aumaßnahmen herausstellt, dass zum Beispiel öffentli-
he Straßen zum Teil über private Grundstücke verlau-
en. Außerdem kann der Übergang des Rechts auf Ver-
angen zur Flächenbereinigung auf den oder die
rundstückseigentümer durchaus als Investitionshemm-
is und entgegen dem öffentlichen Interesse wirken, da
ie Kommune ihr Initiativrecht verliert.
Die begrüßenswerten Ziele des Gesetzes, nämlich
echtssicherheit für Nutzer und Eigentümer zu schaffen,
igentümer angemessen zu entschädigen sowie Grund-
tücksnutzung und Grundstückseigentum für die öffent-
iche Hand zusammenzuführen, ist unter den gegebenen
edingungen und der gesetzten Frist nicht erreichbar.
urchschnittlich fehlen noch 30 bis 40 Prozent der not-
endigen Vertragsabwicklungen. Dies ist regional unter-
chiedlich.
Sollte eine Fristverlängerung nicht erreicht werden,
leibt den Gemeinden nur die Möglichkeit des ordentli-
hen Ankaufs der Grundstücke zum Verkehrswert, was
ie öffentlichen Haushalte weiter belasten würde, und
as Risiko birgt, dass der private Grundstückseigentü-
er sich einem Verkauf auch verweigern kann. Damit ist
ie Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben auf den
etroffenen Grundstücken zukünftig in Gefahr. Aus den
enannten Gründen ist eine Fristverlängerung des Geset-
es dringend geboten.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe
ollegin Heidrun Bluhm, bei allem Respekt, aber der
ntrag Ihrer Fraktion ist ebenso wie die heutige Debatte
berflüssig. Ich frage mich, ob wir wirklich nichts Bes-
eres zu tun haben, als uns heute und auf diese Weise mit
em Verkehrsflächenbereinigungsgesetz zu beschäfti-
en. Und ich sage Ihnen an dieser Stelle auch deutlich:
s ärgert mich, dass es im legitimen Wettbewerb der
raktionen offensichtlich nur noch um Quantität und
icht mehr um Qualität bei den Anträgen geht. Aber
azu später mehr.
Erinnern Sie sich noch, wie wir kürzlich gemeinsam
ber die Große Koalition und ihren kurzfristig aufgesetz-
en Antrag zum Bericht zur Situation der Wohnungs-
nd Immobilienwirtschaft gelästert haben? Jetzt kom-
en Sie selber mit einem Antrag aus der Tiefe des Rau-
es. Dankenswerterweise wurde der Text uns vorab von
hrem Büro zu Verfügung gestellt, sodass wir wenigstens
estern wussten, über was wir heute diskutieren sollen.
9316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
Heute habe ich sogar noch die Drucksachennummer er-
fahren, als ich Ihren Antrag in der Hauspost vorfand.
Der Ausgangspunkt scheint ja offensichtlich ein
Rundschreiben des Gemeinde- und Städtebundes Thü-
ringen vom 9. Februar 2007 an alle thüringischen Bun-
destagsabgeordneten gewesen zu sein. Auf den ersten
Blick scheint wie immer dringender Handlungsbedarf
gegeben zu sein. Aber anstatt den Sachverhalt erst ein-
mal zu überprüfen, haben Sie einfach den Brieftext wort-
wörtlich in Ihren Antrag übernommen. Was sollte das ei-
gentlich? Wollen Sie damit dem Gemeinde- und
Städtebund Thüringen signalisieren, dass Sie die Einzi-
gen sind, die sich des Themas annehmen?
Ich habe gestern den Kollegen Ernst Kranz von der
SPD gefragt, wie er denn mit diesem Brief umgegangen
sei, und er teilte mir mit, dass er zunächst einmal die
Kommunen in seinem Wahlkreis um Stellungnahme ge-
beten hätte. Der Rücklauf hätte keine Erkenntnis gebracht,
dass in Thüringen noch Handlungsbedarf bestünde. Der
Kollege Uwe Barth von der FDP hat den Weg der Frage-
stunde am gestrigen Tage beschritten. Das ist aus meiner
Sicht die zunächst gebotene und seriöse Vorgehensweise
bei so einem Sachverhalt. Sie wissen genauso gut wie die
Kolleginnen und Kollegen, dass Ihnen auch noch andere
Instrumente wie zum Beispiel eine schriftliche Frage oder
eine Kleine Anfrage zur Verfügung gestanden hätten.
Die Antwort der Bundesregierung durch den Parla-
mentarischen Staatssekretär Hartenbach spricht Bände,
und ich empfehle Ihnen das gründliche Studium; denn
eigentlich hat sich mit dieser Antwort Ihr Antrag erle-
digt:
Erstens. Es war den öffentlichen Nutzern seit dem Er-
lass des Gesetzes bekannt, dass sie das Problem der sa-
chenrechtlichen Bereinigung anzugehen hatten und dies
keine unbillige Härte für sie darstellen würde. Daher
wurde ja das Gesetz auch ausdrücklich befristet.
Zweitens. Die Rechtsverhältnisse können auch nach
dem Fristablauf immer noch rechtsbereinigt werden. Das
bedeutet, dass dann eine einvernehmliche Regelung mit
dem Grundstückseigentümer über die Nutzung des
Grundstücks und einen eventuellen Kauf oder ein Nut-
zungsentgelt herbeigeführt werden muss.
Drittens. Die verfassungsrechtlichen Bedenken sind
erheblich. Im Art. 14 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes
heißt es: „Das Eigentum und das Erbrecht werden ge-
währleistet.“ Eine Fristverlängerung verstößt sowohl ge-
gen den Vertrauensschutz als auch gegen die Verhältnis-
mäßigkeit. Ich kann nicht erkennen, welche triftigen
Gründe dafür sprechen, dass es hier über 17 Jahre nach
der Vereinigung immer noch ein Sonderrecht Ost geben
muss?
Viertens. Last, but not least weist Herr Hartenbach
darauf hin, dass es den Bundesländern unbenommen
bleibt, eine eigene Bundesratsinitiative zu starten. Dem
muss ich nichts hinzufügen.
Diese Antworten und die Rechercheergebnisse mei-
ner Kollegen aus Thüringen lassen deutlich erkennen,
dass Ihr Antrag schon überholt war, bevor Sie ihn einge-
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racht haben. Jetzt ist es an Ihnen, das Gegenteil zu bele-
en. Darauf bin ich sehr gespannt.
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Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– SWIFT-Fall aufklären – Datenschutz im in-
ternationalen Zahlungsverkehr wieder her-
stellen
– Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen –
Zugriff US-amerikanischer Stellen auf
SWIFT-Daten unverzüglich stoppen und
Vorgang umfassend aufklären
(Tagesordnungspunkt 21 a und b)
Georg Fahrenschon (CDU/CSU): In der grundsätz-
ichen Einschätzung der Sachlage sind wir uns sicherlich
inig: Die Bedingungen, unter denen SWIFT in der Ver-
angenheit gearbeitet hat, müssen gründlich aufgeklärt
erden. Dabei kommt auf die Bundesregierung eine
esondere Verantwortung zu; denn Ziel der EU und der
eutschen Ratspräsidentschaft muss es sein, eine Lösung
u erreichen, die einerseits dem Erfordernis einer effekti-
en Bekämpfung des Terrorismus und andererseits den
orgaben europäischen Datenschutzrechtes sowie einem
eibungslosen Zahlungsverkehr gerecht wird.
Schon 1973 war es das Ziel, ein sicheres internationales
achrichtenübermittlungssystem für Finanztransaktionen
u schaffen. Damals wurde die SWIFT, Society für
orldwide Interbank Financial Telecommunication, als
enossenschaft belgischen Rechts von der internationalen
reditwirtschaft gegründet. SWIFT verfügt über einen
WIFT-Server in Belgien und einen in den USA, auf
em eine Datenspiegelung erfolgt.
Wie nach Presseberichten in den USA im Sommer
006 bekannt wurde, haben US-Behörden nach dem
1. September 2001 vor dem Hintergrund einer behörd-
ichen Beschlagnahmeordnung mehrfach Transaktions-
aten von SWIFT angefordert. Wie wir heute wissen, hat
WIFT diese Daten auf Anfrage herausgegeben und den
S-Behörden zur Auswertung für die Zwecke der Terro-
ismusbekämpfung überlassen. Inzwischen ist weiterhin
uch geklärt, dass es hierbei weder zu einer Vollstreckung
er Beschlagnahmeordnung noch zu einer richterlichen
berprüfung oder einer nachträglichen Information der
WIFT-Nutzer gekommen ist.
Aufgrund der Komplexität des Sachverhalts, seiner
nternationalen Dimension und seiner juristischen
ürdigung sowohl in Deutschland wie auch in anderen
uropäischen Ländern sind die Ermittlungen jedoch
och nicht abgeschlossen.
Ob und inwieweit SWIFT gegen seine vertraglichen
flichten gegenüber seinen Nutzern verstoßen hat bzw.
in Verstoß der Nutzer gegenüber Verschwiegenheits-
flichten gegenüber ihren Kunden vorliegt, wird derzeit
ntensiv geprüft und zwischen den Datenschutzaufsichts-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9317
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behörden, den Datenschutzbeauftragten des Bundes und
der Länder und dem ZKA diskutiert.
Des Weiteren hat die deutsche Ratspräsidentschaft
gemeinsam mit der KOM die Gespräche mit dem US-
Treasury aufgenommen. Ziel dieser Gespräche ist eine
breite Sachverhaltsaufklärung sowie die Auslotung der
Verhandlungsbereitschaft der USA. Denn darüber müssen
wir uns hier einig sein: Wir können nur gemeinsam mit
EU und den USA zu einer Lösung kommen. Dies setzt
jedoch eine enge und vertrauensvolle transatlantische
Zusammenarbeit voraus.
Vor diesem Hintergrund ist für CDU und CSU klar:
Die gemeinsame Nutzung von Daten und Informationen
ist ein wertvolles Instrument zur Bekämpfung des interna-
tionalen Terrorismus und der damit zusammenhängenden
Verbrechen. Sie muss aber auf einer tragfähigen Rechts-
grundlage erfolgen. In diesem Sinne ist zunächst eine
vollständige und gründliche Aufklärung des Sachverhalts
notwendig. Auf Basis der dadurch erlangten Erkenntnisse
kann dann über weitere Schritte nachgedacht werden.
Vorschnelle Schlüsse – wie sie in Ihren beiden Anträgen
formuliert werden – sind hier jedoch wenig förderlich.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wenn wir kul-
turelle Grundüberzeugungen aufgeben oder in Zweifel
ziehen lassen, weil es Terrorismus in der Welt gibt, ha-
ben wir gegen den Terrorismus schon verloren, lange be-
vor wir begonnen haben, ihn zu bekämpfen.
Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus
werden leider immer wieder auch Grundpfeiler unseres
westlichen, freiheitlichen Rechts- und Demokratiever-
ständnisses zur Disposition gestellt. Dazu gehören das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der
Schutz personenbezogener Daten.
Der freiheitliche Rechtsstaat hat sich darauf ver-
pflichtet, diese Rechte zu schützen und zu verteidigen –
auch und gerade vor dem Zugriff der eigenen Behörden
und Dienststellen. Diese Rechtsauffassung gehört zu den
international akzeptierten Standards des Verfassungs-
rechts. Welcher Wert dieser Norm gerade auch in den
Außenbeziehungen demokratisch verfasster Staaten bei-
gemessen und mit welchem Eifer sie verteidigt wird,
zeigt sich besonders dann, wenn sie in Konflikt mit an-
deren politischen Zielsetzungen und Strategien – wie
beispielsweise dem „Kampf gegen den internationalen
Terrorismus“ – gerät und die Exekutive in ihren Zu-
griffsrechten und ihrer Alleinentscheidungskompetenz
beschneidet.
Im konkreten Fall zielt meine Kritik auf die Übermitt-
lung personenbezogener Daten über den internationalen
Zahlungsverkehr durch die Society For Worldwide Inter-
bank Financial Telecommunication, kurz: SWIFT, an
US-amerikanische Geheimdienstbehörden seit 2001
ohne Klärung der Rechtsgrundlage. Die EU-Daten-
schutzbeauftragten teilen diese Rechtsauffassung und
kritisieren das Verhalten von SWIFT und den ange-
schlossenen Banken als Verstoß gegen die europäische
Datenschutzrichtlinie. Mit Blick auf die fundamentalen
kulturellen Unterschiede, die sich schon aufgrund des
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irst Amendment to the United States Constitution als
eil der United States Bill of Rights hinsichtlich des
mgangs mit Gewaltdarstellungen, rechtsradikalen In-
ormationen, pornografischen Darstellungen etc. fest-
tellen lassen, müssen wir solche Vorgänge, die sich zwi-
chen den USA und Europa bzw. Deutschland abspielen,
esonders sensibel wahrnehmen und gegebenenfalls un-
erbinden. Die Auffassungsunterschiede zwischen den
SA und europäischen Staaten, was offen gehandelt
der verboten werden sollte und welche Daten schüt-
enswert sind und welche nicht, sind offensichtlich recht
roß – oder genauer: Die Auffassungsunterschiede der
eweiligen Administrationen sind groß.
Bei SWIFT handelt es sich um die Betreibergesell-
chaft eines Telekommunikationsnetzwerkes zum auto-
atisierten Austausch von standardisierten Zahlungs-
erkehrsnachrichten zwischen Kreditinstituten im
nternationalen Zahlungsverkehr. Die Gesellschaft hat
hren Sitz in Belgien, ihre Aufgabe ist die Schaffung ei-
es modernen und sicheren internationalen Nachrichten-
bermittlungssystems für internationale Finanztransak-
ionen. Daneben wird SWIFT in Deutschland bereits
eute in begrenztem Umfang auch im Zusammenhang
it nationalen Zahlungsverkehrsaufträgen genutzt, vor
llem bei Bank-zu-Bank-Großbetragszahlungen und Eil-
ahlungen. Die praktische Bedeutung von SWIFT für
en nationalen Zahlungsverkehr dürfte mit der Einfüh-
ung von SEPA zunehmen. Andere Anbieter, die diesen
ervice weltweit anbieten, gibt es derzeit nicht. Umso
ichtiger ist die grenzüberschreitende Kontrolle dieser
onopolartigen Strukturen durch den demokratischen
echtsstaat.
Die Ermittlungen zur Aufklärung des grenzüber-
chreitenden Sachverhaltes der Übermittlung personen-
ezogener Daten durch SWIFT an US-Behörden gestal-
en sich aufgrund der rechtlichen Komplexität, der
iderstreitenden juristischen Bewertung der Legitima-
ion der Datenanforderung und der zögerlichen Informa-
ionspolitik der US-amerikanischen Regierungsstellen
ußerst schwierig und langwierig. Die Bundesregierung
at sich allerdings dankenswerterweise schon seit Be-
anntwerden der Vorwürfe der Datenweitergabe von
WIFT an US-Behörden intensiv für eine Lösung und
ufklärung dieses Sachverhaltes eingesetzt.
Nach Auskunft des US-Finanzministeriums erfolgte
ie Anforderung von Transaktionsdaten an SWIFT zum
weck der Terrorismusbekämpfung auf Grundlage von
administrative subpoenas“. Die administrativen Be-
chlagnahmeanordnungen wurden unter Bezugnahme
uf den International Economic Powers Act aus dem
ahr 1977 gerechtfertigt.
SWIFT, die über einen Server in den USA verfügt,
at die angeforderten Datensätze den US-Behörden
berlassen, ohne dass die Beschlagnahmeanordnungen
ollstreckt, die Datenübergabe richterlich überprüft oder
ie betroffenen SWIFT-Nutzer informiert wurden. Der
orstand von SWIFT vertritt die Rechtsauffassung, die
atenweitergabe sei rechtmäßig und erforderlich gewe-
en, um nicht gegen amerikanisches Recht zu verstoßen
nd somit Sanktionen zu vermeiden. Es existiert eine
9318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Rahmenvereinbarung zwischen SWIFT und den ameri-
kanischen Behörden, die sicherstellen soll, dass die Da-
tenmenge möglichst gering gehalten wird; auch nach Be-
kanntwerden des Sachverhaltes im Jahre 2006 werden
allerdings weiterhin Daten mit personenbezogenen In-
formationen übertragen.
Die Mitteilung der US-Behörden, wonach das Pro-
gramm zur Aufdeckung von Finanzströmen immer nur
dann eingesetzt worden sei, wenn konkrete Anhalts-
punkte auf terroristische Aktivitäten von Personen oder
Organisationen vorgelegen hätten, und es sich daher um
eine zielgenaue, anlassbezogene Suche nach abgrenzba-
ren Datenmengen gehandelt habe, kann nach unserer
geltenden Rechtsauffassung nicht befriedigen. Zentrale
Informationen, die für eine rechtsstaatliche Kontrolle der
Vorgänge unabdingbar sind, stehen weder der Bundesre-
gierung noch dem Bundestag zur Verfügung. Dazu gehö-
ren Auskünfte über: die verwendeten Methoden der
Datenauswertung, den Umfang der von SWIFT übermit-
telten Daten, die Kenntnis und Beteiligung deutscher
Banken an der Datenübergabe – grundsätzlich ist Ban-
ken die Übermittlung personenbezogener Daten an
SWIFT innerhalb der Europäischen Union und in einem
Drittstaat erlaubt, wenn diese im Rahmen der Ausfüh-
rung eines Zahlungsauftrages des Kunden erfolgt; kri-
tisch zu bewerten ist meines Erachtens allerdings die
Rechtmäßigkeit der Übermittlung von personenbezoge-
nen Daten an Dritte, die als Verstoß gegen die Ver-
schwiegenheitspflicht gegenüber dem Auftrag gebenden
Kunden und damit als Verletzung der bankvertraglichen
Nebenpflicht zu bewerten ist –, die Betroffenheit deut-
scher Bankkunden, die Weiterverwendung der Daten. Im
Raum steht der Vorwurf, durch die Einsichtnahme US-
amerikanischer Behörden in zum Teil betriebswirtschaft-
lich sensible Informationen entstünden ausländischen
Unternehmen Wettbewerbsnachteile. Das Europäische
Parlament hat dazu am 6. Juli 2006 den Entschließungs-
antrag B6 – 0391/06 an SWIFT, Banken, die Europäi-
sche Zentralbank, die Kommission und die Ratspräsi-
dentschaft verabschiedet, in dem die Datenherausgabe
und -auswertung verurteilt und die Anschuldigung der
Wirtschafts- und Industriespionage erhoben werden. Er-
mittlungen des belgischen Justizministeriums und der
belgischen Financial Intelligence Unit, die aufgrund der
Organisation der SWIFT nach belgischem Genossen-
schaftsrecht die Zuständigkeit für sich in Anspruch neh-
men, sind noch nicht abgeschlossen.
Das Ziel muss bei der Datenübermittlung an ausländi-
sche Behörden zur Terrorbekämpfung daher lauten, die
Grundsätze des Datenschutzes nach den entsprechenden
Vorschriften der Europäischen Union, das Bankgeheim-
nis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
privater und gewerblicher Bankkunden im Zusammen-
wirken mit der Bundesregierung und unseren Partnern in
der Europäischen Union zu wahren.
Im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft hat die Bun-
desregierung mit Unterstützung der Kommission am
27. Februar 2007 Sondierungsgespräche mit der US-
Treasury geführt. Für die weitere Diskussion ist die Ver-
handlungsbereitschaft der USA von zentraler Bedeu-
tung. Weiteren Gesprächen mit den USA kommt daher
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ine besondere Rolle zu. Hierbei werden auch Fragen
er Aufbewahrzeit der Daten, des Datenzugangs und
ufsichtsfragen zu klären sein. Die Bundesregierung hat
ngekündigt – mit Blick auf die vorstehenden Anträge –,
en Deutschen Bundestag über den Fortgang und die auf
uropäischer Ebene zu erzielende Lösung zu unterrich-
en.
Gemeinsames Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft
nd der Europäischen Kommission ist es, eine Lösung
u erreichen, die einerseits dem Erfordernis einer effek-
iven Bekämpfung des Terrorismus, einschließlich der
errorismusfinanzierung, und gleichzeitig den Vorgaben
es europäischen Datenschutzrechtes, insbesondere der
G-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG, sowie einem rei-
ungslosen Zahlungsverkehr Rechnung trägt.
Ich fasse zusammen: Sicher sind wir uns fraktions-
bergreifend einig, dass der Datenschutz auch im inter-
ationalen Zahlungsverkehr wieder herzustellen ist und
ass der Datenschutz sowohl die nationalstaatlichen
renzen überwinden muss, als auch nicht vor den Türen
nserer Verbündeten Halt machen darf. Ich bin froh, dass
ich unserer Regierung unmittelbar nach Bekanntwerden
er Weitergabe von SWIFT-Daten an US-Behörden ers-
ens um Aufklärung kümmert, zweitens aber auch an Lö-
ungen für diesen komplexen Sachverhalt arbeitet. An
ieser Stelle habe ich den Applaus des ganzes Hauses
ingeplant.
Gisela Piltz (FDP): Die Frage, die wir uns immer
ieder stellen müssen, ist: Wie viele Einschränkungen
m der Sicherheit willen vertragen die Bürgerrechte, ver-
rägt die Freiheit, die unsere Gesellschaft, unseren Staat,
nser Grundgesetz ausmacht? Die Annahme, von der die
S-amerikanische Administration seit dem 11. Septem-
er 2001 ausgeht, ist aber umgekehrt: Freiheit gefährdet
ie Sicherheit. Von genau diesem Gedanken sind Aktio-
en wie der Zugriff auf die SWIFT-Daten durch die CIA
etragen.
Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir den
errorismus mit aller Kraft bekämpfen müssen. Aber wir
ürfen doch dabei nie aus den Augen verlieren, dass der
ampf gegen den Terrorismus zugleich auch ein Kampf
ür die Freiheit ist. Denn es gilt doch gerade, die Frei-
eit, die Bürgerrechte zu bewahren, die uns die Terroris-
en wegbomben wollen. Deshalb muss jede Maßnahme,
ie geeignet erscheint, gegen Terroristen vorzugehen,
enau abgewogen werden gegen die Freiheiten, die da-
ür eingeschränkt oder infrage gestellt werden.
Natürlich ist die Kenntnis der Finanzierung des Terro-
ismus sehr wichtig, um den Bin Ladens und anderen die
rundlage ihres verbrecherischen Handelns zu entziehen.
ber die großangelegte Überwachung des internationalen
ahlungsverkehrs durch Zugriff auf die SWIFT-Daten
ördert vor allem eines zutage: Millionen von personen-
ezogenen Daten von unbescholtenen Bürgern, Millionen
on unternehmensbezogenen Daten, die unter den Schutz
on Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen fallen.
Es ist ja nicht so, dass Otto Normalbürger heutzutage
icht am internationalen Zahlungsverkehr teilnimmt. Da
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9319
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kauft Lieschen Müller Sammlertassen bei ebay in den
USA und Hänschen Meier bestellt in Australien ein coo-
les Surfboard. Die Durchführung von internationalen Fi-
nanztransaktionen ist kein Grund, jemanden per se für
verdächtig zu halten. Dementsprechend gibt es über-
haupt keine Begründung, alle SWIFT-Daten im Zugriff
zu haben. Denn damit erhält man zwangsläufig ver-
dachtsunabhängig Zugriff auf unendlich viele Daten un-
endlich vieler Bürgerinnen und Bürger sowie Unterneh-
men.
Das steht eklatant im Widerspruch zu den Grundsät-
zen des deutschen und europäischen Datenschutzrechts.
Über die Einhaltung dieser Grundsätze zu wachen, wäre
Aufgabe der Bundesregierung gewesen – spätestens mit
der Information des Innenministeriums und des Finanz-
ministeriums durch die US-Botschaft am Vorabend der
Berichterstattung in der „New York Times“ im Juni ver-
gangenen Jahres hätte die Bundesregierung das Problem
angehen müssen. Es ist ein Unding, dass die Bundesre-
gierung es nicht für nötig erachtete, unverzüglich das
Parlament in Kenntnis zu setzen, um den Vorgang aufzu-
klären und den Missstand zu beheben. Die Bundesregie-
rung hat es sträflich vernachlässigt, die personenbezoge-
nen Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger insbesondere
im besonders sensiblen Feld der Finanztransfers zu
schützen. Der Schutz der Bankdaten ist Conditio sine
qua non für das Vertrauen der Menschen in den Finanz-
verkehr. Wenn wir die Lissabonstrategie ernst nehmen
und Europa zum dynamischsten Wirtschaftsraum der
Welt machen wollen, dann werden internationale Trans-
aktionen zunehmen, weil sich Bürgerinnen und Bürger
ebenso wie Unternehmen verstärkt über nationale Gren-
zen hinweg wirtschaftlich betätigen. Wenn aber zugleich
die Menschen und Unternehmen befürchten müssen,
dass ihr internationales Engagement zu Bespitzelung
führt, noch dazu in einer Weise, bei der die Betroffenen
keine Auskunftsansprüche und keine Löschungs- oder
Berichtigungsansprüche haben, dann kommt die Dyna-
mik zum Erliegen.
Es geht dabei einmal um den Schutz der personenbe-
zogenen Daten, zum anderen aber auch um den Schutz
von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Eine Über-
wachung des internationalen Finanzverkehrs öffnet der
Industrie- und Wirtschaftsspionage Tür und Tor. US-
amerikanische Behörden erhalten Zugriff auf die Identi-
tät des Überweisenden, des Empfängers, des Verwen-
dungszwecks sowie der Summe der Überweisung. Da-
raus lassen sich ganz erhebliche Rückschlüsse auf
Wirtschaftsunternehmen und deren Geschäftspartner zie-
hen. Machen wir uns doch nichts vor: Nicht erst, seit der
Generaldirektor für Justiz und Inneres der EU-Kommis-
sion, Jonathan Faull, erklärte, dass es den USA nicht nur
um Terrorismusbekämpfung geht, ahnen wir, dass hier
auch ganz handfeste wirtschaftliche Interessen eine
Rolle spielen.
Auch, wenn Jonathan Faull ebenfalls erklärte, es gehe
auch der EU nicht nur um den Datenschutz, so ist das
doch der Aspekt, der ganz zentral ist. Der Zugriff auf die
SWIFT-Daten gleicht einer Schleppnetzfahndung: Alles,
was zufällig des Weges kommt, landet erst einmal im
Netz. Und beim Aussortieren kann man ja vielleicht
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uch noch das ein oder andere Wertvolle finden, was ei-
entlich gar nicht vom eigentlichen Ziel gedeckt war.
enn das Ziel ist laut Auskunft der Amerikaner, Terro-
isten zu finden und ihnen den Geldhahn zuzudrehen, in-
em internationale Finanzströme überwacht werden.
ber den Erfolg der ganzen Aktion ist im Übrigen nichts
ekannt geworden – wie überhaupt die SWIFT-Überwa-
hung insgesamt von verdächtiger Geheimniskrämerei
egleitet wurde. Die Aussagen des US-amerikanischen
räsidenten, George W. Bush, es handele sich um Lan-
esverrat, über die Angelegenheit öffentlich zu berich-
en, sind in diesem Zusammenhang bezeichnend. Umso
chlimmer ist es, dass sich die Bundesregierung an die-
er Vertuschung beteiligt und nicht schon beim Bekannt-
erden erster Hinweise interveniert hat. Zumindest er-
taunlich ist auch, dass die Bundesbank bereits seit 2002
ber den Zugriff auf die SWIFT-Daten informiert war,
ie die Staatssekretärin Barbara Hendricks auf meine
arlamentarischen Fragen ausführt, aber die Bundes-
egierung angeblich davon vor dem 22. Juni 2006 nichts
usste. Das sollte nach meiner Auffassung auch die
undesregierung bedenklich stimmen, dass Daten deut-
cher Bürgerinnen und Bürger in großem Stil an ihr vor-
ei und ohne Einhaltung rechtsstaatlicher Regularien
on einem ausländischen Staat gesammelt und in wel-
her Art und Weise auch immer verwertet wurden und
erden. An dem gesamten Fall wird vor diesem Hinter-
rund eine Geringschätzung und Missachtung der Bür-
errechte überdeutlich, die die Politik der Bundesregie-
ung leider ohnehin prägt, insbesondere wenn es um eine
ermeintliche oder tatsächliche Steigerung der inneren
icherheit geht.
Die Bundesregierung ist in der Pflicht, insbesondere
a Deutschland derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne-
at, gegenüber den Vereinigten Staaten keinen Zweifel
aran zu lassen, dass die Überwachung der SWIFT-Da-
en nicht gebilligt wird, und sich zügig und nachdrück-
ich dafür einzusetzen, dass der Zugriff durch amerikani-
che Sicherheitsbehörden umgehend beendet wird und
ass bereits vorhandene Daten gelöscht werden.
Um derartige Vorfälle für die Zukunft zu unterbinden,
üssen Lösungen auf internationaler Ebene gefunden
erden, um den Schutz der Bürgerrechte, zu denen auch
ie informationelle Selbstbestimmung gehört, zu gewähr-
isten. Nach den Flugpassagierdaten und der Auswertung
er Telekommunikationsverbindungsdaten durch US-
merikanische Behörden zeigt auch der Fall der SWIFT-
aten, dass dringender Handlungsbedarf besteht, damit
icht durch die internationale Zusammenarbeit zur Be-
ämpfung des Terrorismus die Bürgerrechte in Europa
ach und nach ausgehöhlt werden. Dass dabei der We-
entlichkeitsgrundsatz, wonach über schwerwiegende
rundrechtseingriffe jedenfalls immer das Parlament zu
ntscheiden hat, auch von der Bundesregierung missach-
et wird, da nicht einmal eine Information von sich aus
rfolgte, ist dabei besonders zu kritisieren.
Die Bundesregierung muss weiterhin die EU-Ratsprä-
identschaft nutzen, um im Bereich der innergemein-
chaftlichen Strafverfolgung klare Regeln für den Daten-
chutz aufzustellen.
9320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Datenschutz und Ban-
ken, für Die Linke ist das ein Bereich, den wir sehr differen-
ziert betrachten. Sie wissen: Wir sehen einerseits das so-
genannte „Bankgeheimnis“ sehr kritisch. Ich spreche
hier vom „sogenannten Bankgeheimnis“, weil wir alle wis-
sen: Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht gibt es kein
allgemeines gesetzliches Bankgeheimnis. Es ist – sieht
man von § 30 a Abgabenordnung ab, dessen Reichweite
sehr umstritten ist – nicht viel mehr, aber auch nicht viel
weniger als die Zusage der Bank an den Kunden: Ja-
wohl, ich gehe mit deinen Daten vertraulich um.
Während wir uns da grundsätzlich durchaus vorstellen
könnten, einiges zu ändern, sagen wir im konkreten Fall:
Hier muss bestehenden Datenschutzregeln eindeutig zur
Durchsetzung verholfen werden. Was wir hier beobachtet
haben, hat nichts zu tun mit unserer wohlbegründeten
Position, dass in anderen Bereichen das „Bankgeheimnis“
durchaus zu relativieren ist. Hier wurden ohne Wissen
der Bankkundinnen und -kunden in umfangreichem
Ausmaß sensible Daten weitergegeben. Hier wurde gegen
Datenschutzrecht verstoßen. Das kann nicht toleriert
werden. Hier haben Aufsichtsbehörden beide Augen zu-
gedrückt – auch das kritisiert Die Linke.
Das alles hat nichts mit einer – steuerpolitisch fundier-
ten und datenschutzrechtlich abgesicherten – Relativierung
des sogenannten „Bankgeheimnisses“ zu tun, wie wir sie
gleichzeitig fordern. Daher sagen wir klar: Auch wir sehen
hier Handlungsbedarf. Besonders bedenklich ist für uns
dabei, dass die zuständigen Aufsichtsbehörden in der
Bundesrepublik wie auch auf EU-Ebene für dieses
Thema nicht hinreichend sensibilisiert zu sein scheinen.
Genau in diesem Punkt sehen wir auch bei den Anträgen
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
FDP Diskussionsbedarf: Die Bankenaufsicht wird in der
EWU schwerpunktmäßig von den nationalen Finanzauf-
sichtsbehörden durchgeführt, nicht von den Zentralbanken.
Die Finanzaufsichtsbehörden haben – das wissen wir
alle – den entscheidenden Vorteil, dass sie im Gegensatz
zu den Zentralbanken vom Einfluss demokratischer
Kontrolle eben nicht systematisch abgeschottet sind. Er-
lauben Sie mir den Gedanken: Vielleicht ist es gerade
diese Ausrichtung der Zentralbanken – Unabhängigkeit
und Fixierung auf das Ziel der Geldwertstabilität –, die
sie, zum Beispiel für Datenschutzfragen, so unsensibel
haben werden lassen.
Natürlich, es sind die Zentralbanken, denen die EU-
Datenschutzbeauftragten eine präziser definierte Rolle
bei der Datenschutzkontrolle zugewiesen haben. Und na-
türlich, die europäischen Zentralbanken sind bereits heute
mit einem Sitz im SWIFT-Aufsichtsgremium vertreten.
Vor dem Hintergrund meiner Bedenken rege ich an: Wir
sollten in den kommenden Diskussionen noch einmal
darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller sein könnte,
auf die nationalen Bankaufseher – also hier die BaFin –
zu setzen, anstelle die Diskussion von vorneherein aus-
schließlich auf die Zentralbanken zu begrenzen.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Kampf gegen die weltweiten Netzwerke des Terro-
rismus ist nur dann effektiv, wenn er international ge-
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ührt wird. Dazu müssen wir eng mit unseren Verbünde-
en zusammenarbeiten. Vor allem die transatlantische
usammenarbeit mit unseren US-amerikanischen Freun-
en spielt hier eine zentrale Rolle. Die Kooperation mit
en Vereinigten Staaten von Amerika ist unverzichtbar.
Doch ist der Kampf gegen den Terror nur dann glaub-
ürdig, wenn die europäischen Staaten ebenso wie unser
artner, die USA, hierbei rechtsstaatliche Prinzipien
chten. Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Bürger-
nd Freiheitsrechte sind der Maßstab unseres Handelns –
nd sie müssen es bleiben. Wenn wir die Bürger- und
ersönlichkeitsrechte der Menschen einschränken, dann
pielen wir den Feinden der freien Welt in die Hände.
Um die Persönlichkeitsrechte zu sichern, ist ein effek-
iver Datenschutz unerlässlich. Der Datenschutz darf
lso im Zuge der Terrorismusbekämpfung nicht miss-
chtet oder sogar außer Kraft gesetzt wird. Leider hat es
n letzter Zeit Fälle gegeben, in denen die Datenschutz-
tandards der Bürger und Bürgerinnen der EU ausge-
öhlt wurden. Einer dieser Fälle ist die sogenannte
WIFT-Affäre, auf die sich die vorliegenden Anträge
eziehen.
Die Society for Worldwide Interbank Financial Tele-
ommunication, SWIFT, ist ein privates Unternehmen in
ankenbesitz. Ende Juni 2006 wurde bekannt, dass US-
merikanische Behörden, darunter auch die Geheim-
ienste, seit Jahren Transaktionsdaten der SWIFT be-
chlagnahmen. Es heißt, diese hochsensiblen Daten die-
en zur Recherche nach geheimen Finanzquellen von
erroristen. Dadurch geraten die Gesetzgebung unserer
merikanischen Partner und ihre Mittel zur Terrorismus-
ekämpfung in Konflikt mit unseren europäischen
echtsstandards.
SWIFT mit Sitz im belgischen La Hulpe unterliegt
elgischen und damit – in Umsetzung der EU-Daten-
chutzrichtlinie – europäischen Rechtsstandards. Das ist
akt. Offensichtlich sind im Vorfeld der Datentransfers
otwendige rechtliche Prüfungen nicht unternommen
orden. Dies führte dazu, dass im Fall SWIFT eine
issachtung europäischer Datenschutzvorschriften
öglich wurde. Auch deutsche Nutzerbanken sind hier
nvolviert. Die Deutsche Bank und die Hypo-Vereins-
ank sind im SWIFT-Vorstand vertreten. Sie hätten dafür
orge tragen müssen, dass deutsche und die europäische
atenschutzstandards gegenüber den USA eingehalten
erden. Das haben sie aber nicht getan.
Anscheinend fehlt es sowohl bei SWIFT als auch bei
en Nutzer- und den Zentralbanken an der notwendigen
ensibilität, wenn es um den Schutz der Daten ihrer
unden geht. Es besteht ein enormes Aufsichtsproblem
nnerhalb von SWIFT, welches dazu führte, dass die Da-
en der Kunden ungeschützt weitergegeben wurden. Bis
eute ist unklar, welche und wie viele Daten übermittelt
urden. Ebenso ist unklar, wie die US-Behörden die ge-
ammelten Daten eingesetzt haben. So verspielt man
ertrauen, das für den Finanzstandort Deutschland bzw.
uropa unerlässlich ist.
Die Bundesregierung muss daher dringend handeln.
m Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft muss sie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9321
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gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedstaaten dafür
sorgen, dass die bisherige Praxis des Datentransfers von
SWIFT an die Vereinigten Staaten schnellstmöglich ein-
gestellt wird.
Von der US-Regierung erwarten wir eine umfassende
Aufklärung der SWIFT-Affäre. Aufklärung erwarten wir
konkret zur ausgewerteten Datenmenge, zu den Verar-
beitungsmethoden, zur Speicherdauer und zur Löschung
von Daten. Der genaue Inhalt der Übereinkunft zum
Datenschutz, die zwischen dem US-Finanzministerium
und SWIFT getroffen wurde, muss endlich offengelegt
werden.
Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, die
Zuständigkeiten und Aufsichtspflichten auf europäischer
und nationaler Ebene bei SWIFT und den beteiligten
Banken konsequent zu klären. Welcher Aufsichtsrat,
welcher Vorstand würde denn so billig davonkommen,
wenn er illegale Aktivitäten seiner Gesellschaft nicht an-
prangert?
Schließlich muss dringend untersucht werden, ob bei
den Transfers auch gezielt Daten zum Zweck der Wirt-
schaftsspionage ausgewertet wurden. Auch dieser Punkt
ist von größter Bedeutung für den Schutz europäischer
Unternehmen vor illegalen Konkurrenzaktivitäten. Die-
ser Schutz ist ein integraler Bestandteil der Rechtssicher-
heit, die wir unserer Wirtschaft schuldig sind.
Die EU-Datenschutzbeauftragten schlagen im Zusam-
menhang mit der SWIFT-Affäre vor, die Aufsichtspflicht
der Zentralbanken – also der Bundesbank und der Euro-
päischen Zentralbank – auch bei den datenschutzrecht-
lichen Belangen klar zu definieren und sie explizit zu
verpflichten, die Datenschutzbehörden rechtzeitig zu in-
formieren. Wir unterstützen diese Vorschläge ausdrück-
lich. Wenn diese Vorschläge umgesetzt werden, können
wir eine Transparenz erreichen, die einen Fall wie die
SWIFT-Affäre künftig verhindern würde.
SWIFT ist leider nur ein Beispiel dafür, dass in der
Kooperation zwischen der EU und den USA noch viel
Klärungs- und Regelungsbedarf besteht. Ein anderes
Beispiel ist die Weitergabe von Fluggastdaten. Hier wird
nach der Intervention des Europäischen Gerichtshofes
derzeit ein neues Abkommen zwischen der EU und den
USA verhandelt. Auch hier muss dem Datenschutz Ge-
nüge getan werden.
Es ist dringend notwendig, dass wir in der Koopera-
tion mit Drittstaaten europäische Datenschutzstandards
sichern. Die EU und die USA müssen schnellstmöglich
einen Weg finden, effektiv zu kooperieren, ohne dabei
rechtsstaatliche Prinzipien auszuhöhlen. Nur so können
wir den Terror rechtsstaatlich und glaubwürdig bekämp-
fen. Die umgehende Aufklärung der SWIFT-Affäre ist
ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Auch im Inte-
resse der Bürgerinnen und Bürger muss der Datenschutz
im internationalen Zahlungsverkehr wiederhergestellt
werden.
Vertrauen zu schaffen, das ist zwingend erforderlich
für den Erhalt einer guten internationalen Zusammenar-
beit und für den Erhalt eines attraktiven Finanzstandorts
Europa.
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nlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– Antrag: Bioethische Grundsätze auch bei
Arzneimitteln für neuartige Therapien si-
cherstellen
– Beschlussempfehlung und Bericht zu der
Unterrichtung: Vorschlag für eine Verord-
nung des Europäischen Parlaments und des
Rates über Arzneimittel für neuartige The-
rapien und zur Änderung der Richtlinie
2001/83/EG und der Verordnung (EG)
Nr. 726/2004 (inkl. 15023/05) ADD 1
(Tagesordnungspunkt 22 a und b)
Hubert Hüppe (CDU/CSU): Wir verzeichnen wis-
enschaftliche Fortschritte bei neuartigen Therapieme-
hoden, vor allem bei Gewebezüchtungen, dem soge-
annten Tissue-Engineering, und Zelltherapien. Aber
uch die Gentherapie könnte nach den Rückschlägen der
ergangenheit wieder mehr Bedeutung erlangen. Bei-
pielsweise lässt sich aus adulten Stammzellen der Haar-
urzel eines Patienten Haut züchten, die erfolgreich
unden verschließt. Es können Verbrennungen durch
ogenannte allogene Zelltherapie mit aufbereiteten Haut-
ellen eines Zellspenders behandelt werden. Es gibt viel-
ersprechende klinische Studien zur Behandlung von
erzinfarkten mit adulten Stammzellen aus dem Kno-
henmark des Patienten.
Es ist gut, dass es solche Fortschritte gibt. Allerdings
ehlt bisher für diese neuartigen Therapien ein geeigne-
er gesetzlicher Rahmen in der Europäischen Union. We-
er Arzneimittel- noch Medizinprodukterecht bieten
ine zufriedenstellende Regelung. Der Verordnungsvor-
chlag der Europäischen Kommission wird intensiv in
en Ausschüssen des Europäischen Parlaments beraten,
r ist auch Grundlage der vorliegenden Beschlussemp-
ehlung des Gesundheitsausschusses.
Die Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschus-
es und der vorliegende Antrag der Grünen spiegeln eine
iskussion im Gesundheitsausschuss wider, in der wir
einen unüberwindlichen Dissens haben. Im Gegenteil:
ereits im Ausschuss haben wir Einigkeit festgestellt
insichtlich der Intention unserer Forderung, dass die in
eutschland bestehenden ethisch begründeten Regelun-
en durch die Verordnung nicht relativiert oder gar un-
erlaufen werden. Diese Formulierung wurde letztlich
uch von den Grünen unterstützt.
Wir haben damit gemeinsam eine Position umschrie-
en, die der Antrag der Grünen heute in einigen, das
äume ich gerne ein, bedeutenden Punkten noch einmal
usbuchstabiert.
Wir stimmen darin überein, dass embryonale Stamm-
ellen aus dem Geltungsbereich der Verordnung ausge-
chlossen werden sollten. Denn hier gilt es, den unter-
chiedlichen Sichtweisen der Mitgliedstaaten in diesem
ereich Rechung zu tragen und die Rechte der nationa-
9322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
len Gesetzgeber zu wahren. Lassen Sie mich anfügen:
Therapeutika auf Basis embryonaler Stammzellen sind
nicht einmal am Horizont zu erkennen, und nach allem,
was derzeit absehbar ist, sind sie sehr unwahrscheinlich,
auch angesichts des stetig wachsenden therapeutischen
Einsatzes adulter Stammzellen. Es ist aber dennoch rich-
tig, dass wir unsere auch ethisch begründete Position
zum Ausdruck bringen.
Wir wollen weiterhin, dass Produkte, die auf Eingrif-
fen in die menschliche Keimbahn beruhen, nicht zuge-
lassen werden. Denn eine solche Zulassung würde dem
europaweiten Konsens gegen Eingriffe in die menschli-
che Keimbahn widersprechen. Gleichermaßen müssen
Produkte, die auf Zellen und Geweben von Mensch-
Tier-Hybriden oder Chimären beruhen, von der Zulas-
sung ausgeschlossen werden.
Das Prinzip der Nichtkommerzialisierung des
menschlichen Körpers ist nicht nur ein ethischer Grund-
satz, sondern dient insbesondere auch dem Schutz poten-
zieller Spender. Wir wollen daher, dass es auch in der
derzeit diskutierten EU-Verordnung umfassend gewähr-
leistet ist und lediglich eine Kostenerstattung bei der
Zell- und Gewebespende zugelassen wird.
Unsere Haltung findet eine wichtige Stütze in dem
Beschluss des Rechtsausschusses des Europäischen Par-
laments vom Juli vergangenen Jahres, den auch die Kol-
leginnen und Kollegen der EVP/ED-Fraktion und viele
andere im Europäischen Parlament fraktionsübergrei-
fend unterstützt haben.
Es ist bedauerlich, dass heute die Verhandlungen in
Brüssel vorläufig gescheitert sind, weil der Minsterrat
sich geweigert hat, über die Position des Rechtsaus-
schusses des Europäischen Parlaments zu sprechen.
Wir wissen und begrüßen, dass die Bundesregierung
im EU-Gesundheitsministerrat zielstrebig auf die Verab-
schiedung des Verordnungsvorschlages hinarbeitet und
unter deutscher Präsidentschaft eine Einigung anstrebt.
Die Bundesregierung hat dabei auch die Probleme des
Mittelstandes im Auge, und auch im Interesse kleiner
und mittlerer Unternehmen unterstützen wir die Bemü-
hungen der Bundesregierung zugunsten der Option einer
nationalen Zulassung, insbesondere für autologe Präpa-
rate.
Die Bundesregierung kann sich darüber hinaus auch
im Umgang mit den ethisch sensiblen Fragen und bei der
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips unseres Rückhalts
sicher sein. Der Antrag der Grünen dokumentiert, dass
dieser Rückhalt nicht an Fraktionsgrenzen gebunden ist.
Dr. Marlies Volkmer (SPD): Auch wenn Arzneimit-
tel für neuartige Therapien bisher in der Öffentlichkeit
noch weitgehend unbekannt sind, so wecken sie dennoch
große Hoffnungen – aber auch erhebliche ethische Be-
denken. Einerseits erhoffen wir uns, mithilfe der Bio-
technologie neue Antworten auf viele bisher unheilbare
Krankheiten wie Parkinson zu finden, andererseits
schrecken wir zum Beispiel davor zurück, Eingriffe in
den genetischen Code vorzunehmen, die nicht wieder
rückgängig gemacht werden können und deren Folgen
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iemand abschätzen kann. Unter neuartigen Therapien
erden zumeist verstanden: die Zelltherapie, bei der
ellen außerhalb des menschlichen Körpers präpariert
nd in erkrankte Organe eines Patienten zurückver-
flanzt werden; die Gentherapie, also das Einfügen von
enen in die Zellen eines Patienten zur Behandlung von
rbkrankheiten sowie das Tissue Engineering. Beim
etztgenannten werden Gewebe kultiviert, um sie dann
inem Patienten zu implantieren.
Bisher gibt es allerdings noch kein marktfähiges Arz-
eimittel für eine solche neuartige Therapie. Das wird
ich aber ändern! Es gibt bereits zahlreiche Forschungs-
rojekte und klinische Studien zu neuartigen Therapien,
nd es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Zu-
assungsstellen mit konkreten Anträgen auseinanderset-
en müssen. Bis dahin müssen wir eine vernünftige
echtsgrundlage geschaffen haben, und zwar auf euro-
äischer Ebene. Denn bisher herrscht in Europa wahrlich
in heilloses Durcheinander: In einigen Mitgliedstaaten
nterliegen neuartige Therapien dem Arzneimittelrecht,
n anderen dem Medizinprodukterecht oder dem Trans-
lantationsrecht. Nur eines ist den unterschiedlichen
echtsgrundlagen gemein: Sie sind nicht in der Lage,
ie Arzneimittel für neuartige Therapien adäquat zu er-
assen.
Diese Situation ist nicht nur für die Hersteller von
achteil, die mit einem schier unüberwindbaren Büro-
ratieaufwand konfrontiert sind, sondern auch für die
atientinnen und Patienten, denen auf diesem Weg die
öglichkeiten modernster Heilmethoden vorenthalten
erden. Aus diesem Grund brauchen wir eine einheitli-
he europäische Regelung. Zulassungen für neuartige
edikamente sollen in Zukunft überall in der EU nach
inheitlichen Standards ablaufen. Deswegen brauchen
ir eine europäische Verordnung zu diesem Thema, und
ch hoffe inständig, dass die Kollegen im Europäischen
arlament sich auf einen tragbaren Kompromiss einigen
erden und der Rat genauso wie die Kommission kon-
truktiv an einer Lösung mitarbeitet. Ich bin mir sicher,
ass die deutsche Ratspräsidentschaft ihren Teil zu einer
invernehmlichen Regelung beitragen wird.
Aus Sicht der SPD muss im Mittelpunkt allen gesetz-
eberischen Handelns immer die Sicherheit und Qualität
er Arzneimittel für neuartige Therapien stehen. Genauso
ie bei herkömmlichen Arzneimitteln muss der Nutzen
ür die Patientinnen und Patienten eindeutig nachgewie-
en, und müssen die Nebenwirkungen bekannt sein. Ge-
ade beim bereits erwähnten Tissue Engineering ist im
inne der Patientensicherheit eminent wichtig, dass das
ewebe bis zum ursprünglichen Spender nahtlos zurück-
erfolgt werden kann. Andernfalls kann weder Sicherheit
och Qualität konsequent gewährleistet werden. Zudem
ürde das Fehlen von Transparenz dem kommerziellen
issbrauch Tür und Tor öffnen.
Neben der Gewährleistung von Qualität und Sicher-
eit spielen die ethischen Grenzen aus unserer Sicht eine
ntscheidende Rolle. Es gibt gerade in der Biotechnolo-
ie Grenzen, die wir niemals überschreiten dürfen.
lücklicherweise herrscht zumindest in Europa weitest-
ehend Konsens darüber, was nicht erlaubt sein sollte.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9323
(A) )
(B) )
Dazu zählen insbesondere Eingriffe in die menschliche
Keimbahn, das Verbot sogenannter Chimären oder Hy-
bride – also Mischlebewesen zwischen Mensch und Tier –
sowie die Kommerzialisierung des menschlichen Kör-
pers und seiner Bestandteile. Ich würde es begrüßen,
wenn diese Verbote nicht den Mitgliedstaaten überlassen
werden, sondern EU-weit ausgesprochen werden. Denn
schließlich ist die Europäische Union ja eine Gemein-
schaft mit gemeinsamen Werten.
Die Grünen plädieren in ihrem Antrag zu den Arznei-
mitteln für neuartige Therapien dafür, dass embryonale
Stammzellen aus dem Geltungsbereich der Verordnung
ausgeschlossen werden. Das deutsche Embryonen-
schutzgesetz verbietet die Herstellung und die Zerstö-
rung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwe-
cken. In anderen europäischen Ländern wird die
Forschung mit embryonalen Stammzellen hingegen libe-
raler gehandhabt.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen, was würden Sie denn mit einem
Ausschluss aus dem Geltungsbereich der Verordnung er-
reichen? Ist es nicht besser, wenn die europaweit hohen
Sicherheits- und Qualitätsstandards dieser Verordnung
auch für Forschung an embryonalen Stammzellen gel-
ten? Auch wenn die Mehrheit dieses Hauses die For-
schung aus ethischen Gründen ablehnt, so kann doch
nicht verhindert werden, dass einige EU-Staaten eine an-
dere Position vertreten. Wenn dies so ist, dann sollten
wir uns doch zumindest im Sinne des Patientenschutzes
für hohe Standards in diesen Ländern einsetzen. Unter
anderem aus diesem Grund werden wir Ihren Antrag ab-
lehnen.
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich einen
weiteren Aspekt der EU-Verordnung ansprechen, der ge-
rade für mich als Parlamentarierin aus den neuen Bun-
desländern von besonderer Bedeutung ist. Es wurde in
den letzten Jahren viel Geld in die Förderung kleiner, in-
novativer Unternehmen investiert. Nicht nur in den
neuen Bundesländern, die sich nach wie vor in einer sehr
schwierigen Situation befinden, setzen solche Start-ups
und kleine und mittelständische Unternehmen wichtige
Impulse für die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische
Entwicklung einer Region. Viele dieser kleinen innovati-
ven Firmen arbeiten im Bereich der Biotechnologie, mit
Spezialisierung auf den Bereich Gewebe. Wenn diese
Unternehmen in Zukunft nur noch europäische Zulas-
sungen bekommen können, stellt das für sie einen erheb-
lichen Mehraufwand dar. Denn meist erstreckt sich das
Arbeitsgebiet der Firmen nur auf die Region, in der sie
ansässig sind. Zulassungen nur für Deutschland, wie es
bisher gehandhabt wird, reichen diesen Unternehmen
vollkommen aus. Es ist wirtschafts- und standortpoli-
tisch völlig inakzeptabel, wenn den Firmen das Leben
unnötig schwer gemacht wird. Ich plädiere deshalb da-
für, das Gebot der Subsidiarität zu berücksichtigen und
die Möglichkeit der nationalen Zulassung aufrechtzuer-
halten.
Michael Kauch (FDP): Es ist gut, dass der Deutsche
Bundestag sich aktiv am Prozess zur Verabschiedung ei-
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er EU-Verordnung über Arzneimittel für neuartige The-
apien beteiligt. Nach dem Vorschlag der Europäischen
ommission handelt es sich dabei um die Gentherapie,
ie Zelltherapie und das sogenannte Tissue-Engineering,
lso die Herstellung von Produkten zur Gewebeersatz-
herapie. Diese neuartigen Therapien sind zurzeit weder
urch das Arzneimittelrecht noch durch das Medizinpro-
ukterecht zufriedenstellend geregelt und gefördert.
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass künftig die
ulassung von Arzneimitteln für neuartige Therapien
owie die Kriterien für die Sicherheit solcher Produkte
uropaweit einheitlich geregelt werden sollen. Dies ist
ür einen funktionierenden Binnenmarkt mit sicheren
rzneimitteln sehr wichtig.
Gleichzeitig müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit
leiner und mittlerer Unternehmen im Blick haben, die
erade in Deutschland in diesem Bereich tätig sind. Des-
alb setzen wir uns auch für die Möglichkeit einer natio-
alen Zulassung für neuartige Therapien ein; denn ge-
ade für kleine und mittelständische Unternehmen ist zu
rwarten, dass ein zentrales Zulassungsverfahren zu auf-
endig und zu teuer ist. Wir wollen aber die Marktchan-
en dieser Unternehmen sichern. Denn sie sind ein be-
onderer Innovationsmotor – auch dafür, dass Patienten
ine optimale Therapie bekommen können. Hier sind
ir also auf der Seite der Bundesregierung.
Wir sind auch auf Ihrer Seite, wenn es darum geht,
ass für Krankenhäuser und Unternehmen Erleichterun-
en bei der Herstellung von Medikamenten für individu-
lle Patienten gelten sollen, also im Bereich autologer
der gerichteter Gewebespenden.
Aber genug des Lobes; denn leider gibt es auch
chattenseiten. So wollen Sie Arzneimittel in Deutsch-
and nicht zulassen, weil sie nicht der hiesigen Ethik ent-
prechen, will heißen: der Ethik der Mehrheit dieses Par-
aments. Wieder einmal geht es wohl insbesondere um
mbryonale Stammzellen. Wir streiten nunmehr seit Jah-
en darum, in welchem Umfang in Deutschland die For-
chung an embryonalen Stammzellen ermöglicht werden
oll. Wie Sie wissen, sehen wir Liberale langfristig in
er Stammzellenforschung eine erhebliche Chance der
edizinischen Forschung, heute unheilbare Krankhei-
en wie Diabetes, Parkinson oder Mukoviszidose in
hren Ursachen zu erforschen und neue Therapien zu
ntwickeln. Aber auch für die Gewinnung von Organ-
ewebe und Organen kann die Stammzellenforschung
ine große Hilfe sein.
Auf Dauer werden wir auch in Deutschland um ein
lares Ja oder Nein zur Stammzelltechnologie nicht he-
umkommen. Es ist wenig glaubwürdig, uns moralisch
edenklich erscheinende Forschungsarbeiten im Aus-
and durchführen zu lassen. Jetzt wollen Sie auch noch
ür die Anwendungsergebnisse moderner Medizinfor-
chung eine Mauer an der deutschen Grenze aufbauen.
ur so kann man die Beschlussempfehlung in Ihrem
etzten Punkt verstehen.
Ich frage Sie: Wollen Sie deutschen Patientinnen und
atienten tatsächlich zumuten, für eine aussichtsreiche
herapie, die das deutsche Zulassungsverfahren wegen
9324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
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Ihrer Ethik nicht bestanden hat, ins Ausland zu reisen?
Wollen Sie wirklich schwerkranken Menschen eine in
anderen EU-Ländern zugelassene Therapie verwehren,
die die einzige Aussicht auf Linderung oder gar Heilung
ihrer Leiden ist? Ich frage das insbesondere Sie, werte
Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen;
denn die Forderungen in Ihrem Antrag bedeuten genau
das – nur auf einem anderen Weg –, da Sie Stammzell-
produkte gleich ganz aus dem europäischen Verfahren
ausschließen wollen.
Ein deutscher Sonderweg ist keine Lösung. Wenn uns
daran gelegen ist, EU-weit ausgewogene ethische Krite-
rien durchzusetzen, dann wäre es ein Irrweg, sich aus der
Diskussion zu verabschieden und sich darauf zurückzu-
ziehen, dass wir unsere ethischen Vorstellungen in einem
nationalen Reservat pflegen und vor der „bösen“ weiten
Welt da draußen unsere Augen schließen. Solch ein
Rückfall in die Kleinstaaterei ist nicht im Interesse der
Patienten, dient nicht dazu, einen vernünftigen ethischen
Kompromiss zu finden. Er vereitelt wichtige medizini-
sche Innovationen für die Patienten und sorgt höchstens
dafür, dass der Technologiestandort Deutschland voll-
ends ins Hintertreffen gerät.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf einen ideo-
logischen Reflex des Grünen-Antrags eingehen: auf das
Thema „Anonymität der Gewebespende“. Diese ist
ethisch ja nur relevant bei der Lebendspende, und hier
muss man stärker differenzieren, als es die Grünen in ih-
rem Antrag tun. Vor allem kann man die Grundsatzfrage
von Geweberichtlinie und Gewebegesetz nicht en pas-
sant durch diese Richtlinie, in der es nur um einen Teil-
bereich des Gewebes geht, regeln. Die Anhörung zum
Gewebegesetz hat gezeigt, dass Anonymität bei der
Knochenmarkspende kontraproduktiv ist und in der Re-
produktionsmedizin gegen die Rechte der aus der
Spende hervorgehenden Kinder verstieße. All das ist
noch ein Grund, den Antrag vom Bündnis 90/Die Grü-
nen abzulehnen.
Frank Spieth (DIE LINKE): Es ist sehr bedauerlich,
dass die Beschlussempfehlung zum Thema: „Verord-
nung des Europäischen Parlaments und des Rates über
Arzneimittel für neuartige Therapien“ nur am Rande be-
handelt und abgestimmt wird. Dies ist deshalb bedauer-
lich, weil Brüssel in Zukunft die Verantwortung für bio-
ethisch höchst brisante Sachverhalte übertragen bekom-
men soll. Die nationalstaatliche Politik hat dann bei der
Zulassung dieser Mittel nichts mehr zu regeln. Damit be-
steht die Gefahr, dass die in den einzelnen Staaten sehr
unterschiedlichen ethischen Grundhaltungen obsolet
werden.
Darum müssen wir als Abgeordnete, als Bundestag,
der Bundesregierung eines in aller Deutlichkeit mit auf
den Weg nach Brüssel geben, nämlich alles zu unterneh-
men, um zu verhindern, dass die bei uns geltenden ethi-
schen Werte durch Europa nicht verändert beziehungs-
weise umgekrempelt werden können.
Ich bin sicher nicht der Einzige, der mit dem Titel
„Arzneimittel für neuartige Therapien“ nicht sofort et-
was anfangen kann. Deshalb muss man darauf aufmerk-
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am machen, dass besonders innovative Arzneimittel,
um Beispiel Gentherapeutika, somatische Zelltherapeu-
ika und Produkte aus Gewebezüchtungen, damit ge-
eint werden. Und spätestens dann wird man hellhörig.
enn dazu zählen biotechnologische Anwendungen auf
enschliches Gewebe unterschiedlichster Art.
Die Forschung erzielt in diesem Bereich revolutionie-
ende Fortschritte, für viele Erkrankungen und Leiden
ann dies eine ungeahnte gesundheitliche Verbesserung
edeuten. Darum sollten wir gerade die in Deutschland
ehr aktiven und innovationsfreudigen kleinen und mitt-
eren Unternehmen fördern und sie nicht durch bürokra-
ische Auflagen in EU-Verordnungen behindern.
Andererseits darf man aber nicht aus den Augen ver-
ieren, dass diese biotechnologische Forschung mit
enschlichem Gewebe auch Ausmaße annehmen kann,
ie ethisch höchst bedenklich sind.
Wir tragen als Parlamentarier Verantwortung dafür,
egelungen für die Züchtung menschlichen Gewebes
orwegnehmend einzuführen, ohne konkret zu wissen,
elche Entwicklungen da auf uns zu kommen. Denn die
iotechnologie könnte durchaus nicht nur mit Haut,
norpel oder Knochen hantieren, sondern in nicht ferner
ukunft auch künstliche menschliche Organe, Mensch-
ier-Hybride oder andere Mischwesen erzeugen. Durch
en biotechnologischen Fortschritt kann in Zukunft auch
rankenstein machbar werden, und das dürfen wir nicht
ulassen.
Die Fraktion Die Linke begrüßt es, dass die Koali-
ionsfraktionen in der geplanten EU-Verordnung nicht
ur Segen für Patientinnen und Patienten vermuten, son-
ern die bio-ethischen Probleme mitbedenken. Die
orgelegte Entschließung und die darin enthaltenen Auf-
orderungen an die Bundesregierung gehen im Kern
urchaus in die richtige Richtung. Wir erwarten aber in
inigen Punkten eine deutlichere und verbindlichere
ositionierung. Damit Forschung und Herstellung dieser
peziellen Arzneimittel für neuartige Therapien nicht in
ie falsche Richtung gelenkt und technologische Heils-
ersprechen vorwärts getrieben werden, muss die Bun-
esregierung vom deutschen Parlament beauftragt wer-
en, sich in Brüssel für Folgendes stark zu machen: In
en Ländern, in denen es aus ethischen Gründen engere
esetzliche Regelungen gibt, müssen diese auch zukünf-
ig weiter gelten dürfen! Produkte, die durch Eingriffe in
ie menschliche Keimbahn erzeugt werden, dürfen nicht
m Markt zugelassen werden! Züchtungen, die halb aus
ensch und halb aus Tier bestehen, dürfen nicht in Ver-
ehr gebracht werden! Dies sollte die Bundesregierung
n Brüssel durchsetzen oder es zumindest intensiv versu-
hen.
Vor allem sollte sich die Bundesregierung dafür ein-
etzen, dass über diese Verordnung für ganz Europa ver-
indlich geregelt wird, dass die Spende von Gewebe und
ellen nur absolut freiwillig und unbezahlt erfolgen
arf! Der Handel mit Geweben und Zellen unter Ausnut-
ung von Armut und mit dem einzigen Ziel der Profiter-
ielung muss verhindert werden! Doch wenn man den
ntwurf für ein Gewebegesetz, den die Bundesregierung
erade vorgelegt hat, anschaut, dann kann man nur be-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9325
(A) )
(B) )
dingt optimistisch sein. Die Koalition hat zwar die wei-
tere Beratung dieses Gesetzentwurfs ausgesetzt, nach-
dem von allen Seiten massive Kritik geäußert wurde; die
geänderte Fassung werden wir entsprechend kritisch be-
gleiten.
Wir müssen aufmerksam verfolgen, ob und wie sich
die Bundesregierung in Brüssel für den Erhalt der ethi-
schen Grundsätze einsetzen wird. Obwohl wir diesen
Entschließungsantrag grundsätzlich unterstützen, hat die
Fraktion Die Linke gerade vor dem Hintergrund der
Debatte um das Gewebegesetzes, aber auch einiger in
der Entschließung fehlender wesentlicher Punkte vor,
sich zu enthalten.
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
Europaparlament wird im April 2007 über eine Verord-
nung entschieden, mit der die Zulassung von neuartigen
Gen-, Zell- und Gewebetherapeutika europaweit einheit-
lich geregelt werden soll. Die Verordnung wird – wenn
sie eines Tages in Kraft tritt – auch in Deutschland direkt
und unmittelbar gelten.
Ein hoher Sicherheitsstandard gerade bei neuartigen
Therapien, bei denen bislang zwangsläufig noch nicht so
viele Erfahrungen gesammelt werden konnten wie bei
„klassischen“ Arzneimitteln, ist durchaus zu begrüßen.
Der Verordnungsentwurf hat allerdings ein Problem: Er
unterscheidet nicht nach Art der Therapie. Er erfasst da-
mit auch solche aus embryonalen Stammzellen, aus
Mensch-Tier-Hybriden und solche, die auf Eingriffen in
die menschliche Keimbahn beruhen. Wir halten diese
Therapeutika für ethisch nicht zu rechtfertigen und leh-
nen es ab, dass sie via Verordnung in Deutschland zuge-
lassen sind und gehandelt oder angewendet werden dür-
fen.
Die Bundesregierung hat hier anscheinend weniger
Bedenken. In ihrem Bericht vom 27. Februar dieses Jah-
res erklärt sie:
Alle Arzneimittel für neuartige Therapien sollen zu-
nächst einmal den hohen Sicherheitsstandards, die mit
der Verordnung festgelegt werden, entsprechen und das
aufwendige zentrale Zulassungsverfahren durchlaufen.
Die Mitgliedstaaten selbst sollten dann auf der Basis
eines nationalen ethischen Konsenses in der Lage sein zu
entscheiden, welche Produkte in ihrem nationalen Be-
reich angewendet werden.
So schön wie das klingt – das wird nur leider rechtlich
nicht möglich sein, solange die Verordnung in der beste-
henden Fassung verabschiedet wird.
Verordnungen sollen die rechtlichen Regelungen im
Binnenmarkt vereinheitlichen und lassen es aus diesem
Grund nur sehr begrenzt zu, dass Mitgliedstaaten kon-
kurrierende eigene nationale Gesetze beibehalten. Vor
diesem Hintergrund ist bekanntermaßen äußerst umstrit-
ten, ob Art. 28 des Verordnungsentwurfs, der die Mög-
lichkeit einer nationalen gesetzlichen Ausnahmerege-
lung eröffnen soll, überhaupt rechtlich zulässig ist. Sollte
dieser umstrittene Artikel nach Inkrafttreten der Verord-
nung vom Europäischen Gerichtshof für unzulässig er-
klärt werden, wären damit auch die genannten ethisch
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mstrittenen, hinsichtlich der Stammzellen sogar gesetz-
ich verbotenen Therapien in Deutschland zugelassen.
Die Bundesregierung hat diese Gefahr bisher unver-
tändlicherweise verharmlost und lediglich gebetsmüh-
enartig auf die Ausnahmeregelung im Entwurf verwie-
en. Das ist verantwortungslos. Man kann von der
undesregierung erwarten, dass sie sich dafür einsetzt,
ass die ethischen Maßstäbe insbesondere des Stamm-
ellgesetzes nicht unterlaufen werden. Man kann von ihr
uch erwarten, dass sie die Beachtung von ethischen
rundsätzen nicht – wie dies auch beim Entwurf zum
ewebegesetz zu beobachten war – mit einem pauscha-
en Verweis auf Sicherheitsstandards aushebelt.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Nehmen Sie die
mpfehlungen des Rechtsausschusses des Europaparla-
ents ernst! Setzen Sie sich bei den anstehenden Ver-
andlungen im Rat dafür ein, dass embryonale Stamm-
ellen aus dem Geltungsbereich der Verordnung
erausgenommen werden! Setzen Sie sich dafür ein,
ass Produkte, die auf Mensch-Tier-Hybriden oder auf
ingriffen in die menschliche Keimbahn beruhen, von
er Zulassung ausgeschlossen werden! Setzen Sie sich
erner dafür ein, dass die freiwillige und unbezahlte
pende von Geweben und Zellen verbindlich festge-
chrieben wird und ihre Beschaffung nicht gewinnorien-
iert erfolgt!
nlage 12
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Für eine Schließung
des Forschungsendlagers Asse II unter Atom-
recht und eine schnelle Rückholung der Abfälle
(Tagesordnungspunkt 23)
Angelika Brunkhorst (FDP): Dem Erkundungsberg-
erk Asse ist es zu verdanken, dass wir heute fundierte
enntnisse über die Möglichkeiten einer sicheren Endlage-
ung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen in
alzstöcken haben.
Nach der Einstellung des Gewinnbergbaus in der
sse im Jahr 1964 waren Hohlräume von insgesamt
irca 5 Millionen Kubikmeter aufgefahren, von denen
eute noch circa 500 000 Kubikmeter unverfüllt sind. Im
ahre 1965 wurde die Schachtanlage durch das GSF-
orschungszentrum für Umwelt und Gesundheit im
uftrag des Bundes erworben, um Forschungs- und
ntwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der Tiefenlagerung
adioaktiver Abfälle durchzuführen. Im Rahmen dieser
rbeiten wurden zur Erprobung von Einlagerungstechni-
en in der Zeit von 1967 bis 1978 circa 125 000 Gebinde
it schwachradioaktiven Abfällen und circa 1 300 Gebinde
it mittelradioaktiven Abfällen eingelagert. Nach 1979
urden nur noch Forschungs- und Entwicklungsarbeiten
hne radioaktive Abfälle durchgeführt. Ab 1993 wurde
ie Projektmittelförderung des Bundes für die seit langer
eit im Forschungsbergwerk Asse laufenden Großversu-
he eingestellt, sodass für das Bergwerk keine Verwen-
ung bestand. Seit dieser Zeit sind die Arbeiten zur
9326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
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Schließung der Schachtanlage aufgenommen und bis heute
fortgeführt worden.
Die Arbeiten in der Schachtanlage unterliegen dem Bun-
desberggesetz und werden von der niedersächsischen Berg-
behörde genehmigt und überwacht. Durch die Bergaufsicht
des Landesamtes für Bergbau, Energie und Geologie
(LBEG) war und ist die niedersächsische Landesregierung
in der Vergangenheit bis heute über alle Ereignisse,
Vorgänge und Arbeiten in der Schachtanlage Asse bestens
informiert und an den Entscheidungsfindungen beteiligt. So
ist das LBEG als Aufsichtsbehörde auch über die Laugen-
zutritte seit 1988 voll informiert.
Das Problem des Laugenzutritts ist auf die damalige
Durchführung des Gewinnungsbergbaus zurückzuführen,
da der Salzabbau zu nahe am Salzsattelrand erfolgte. Die
leergeförderten Hohlräume aus dem Salzabbau blieben
unverfüllt stehen, was zu einer Auflockerung des anstehen-
den Salzgesteins im Salzsattelrandbereich führte.
Den Lösungszutritten in der Asse II hat man seit 1988
entgegengewirkt, indem man mit Bergwerksresten aus dem
Kalibergwerk Ronnenberg die Südwestflanke verfüllt
hat. Die täglich anfallende Lauge – Natriumchlorid –
von circa 12 Kubikmeter hat man bis zum Jahr 2003
dem Haldenmaterial aus Ronnenberg zugesetzt, um den
Staub zu binden.
Im Gesteinsversatz, dem Übergang von Salzgestein
ins angrenzende Carnallitgestein, rechnet man mit circa
40 Prozent Porosität. Um hier Nachlösungsprozesse im
Bergwerk zu vermeiden, wird in den Poren des Versatzes
Magnesiumchlorid versetzt. Magnesiumchlorid bewirkt
nach Bewertung von Experten ein Gleichgewicht im
Gestein. Es greift nicht an, wie Sie, werte Kollegen von
den Grünen, unterstellen.
Im Rahmen der laufenden Stilllegungsarbeiten bzw.
der bergmännischen Verwahrung der Schachtanlage Asse
ist vorgesehen, alle verbleibenden aufgefahrenen Hohl-
räume zu verfüllen und Strömungsbarrieren einzubauen,
um eine Migration der NaCl-Laugenzuflüsse zu verhindern.
Letztendlich, wenn alle geplanten bergbaulichen Maß-
nahmen beendet sind, wird die Asse II mit Magnesium-
chlorid – in einer Verdünnung – geflutet.
Liebe Kollegen von den Grünen, Ihre Forderung nach
einer Auslagerung der Abfälle würde nach einer aktuell
angefertigten ingenieurtechnischen Untersuchung einen
Zeitraum von 25 Jahren in Anspruch nehmen. Diese
25 Jahre wären mit einer anhaltenden geotechnischen
Auflockerung des Salzstockes verbunden. Daraus entsteht
das Risiko eines möglichen Verbruchs im Bergwerk oder
einer drastischen Erhöhung des Salzlösungszutritts. Und
all das während der laufenden Untersuchungen. Wollen
Sie dieses Risiko wirklich eingehen?
Auch dem Versuch, aus den Erkenntnissen aus dem
Forschungsbergwerk Asse II auf Gorleben zu schließen,
trete ich entschieden entgegen. Bei der Einrichtung eines
Endlagers werden in einem jungfräulichen Salzstock wie
Gorleben nur Bruchteile des Asse’schen Hohlraums auf-
gefahren.
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Ein grundlegendes Prinzip des Endlagerbergbaus sind
roße Sicherheitsabstände der Grubenbaue zum Nachbar-
ebirge am Salzstockrand, während im Gewinnungs-
ergbau die kostengünstige Förderung von Salzen unter
nkaufnahme von Risiken im Vordergrund steht.
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der auch
ersucht, aus der Problematik der Laugenzutritte in der
chachtanlage Asse politisches Kapital zu schlagen, verliert
edwede Glaubwürdigkeit vor dem Hintergrund, dass
iese Problematik der niedersächsischen Landesregierung
urch Information der niedersächsischen Bergbehörde
eit 1988 im Detail bekannt war. In der Zeit der von der
PD geführten Landesregierung von Juni 1990 bis Fe-
ruar 2003 hätten also genügend Gelegenheiten für
aßnahmen zur Gefahrenabwehr bestanden, sofern
enn die Situation auf der Asse von der niedersächsischen
ergbehörde als ernsthafte Gefährdung angesehen wor-
en wäre.
Sowohl gegen den schon skrupellos zu nennenden
eichtfertigen Umgang mit den Ängsten der Bevölkerung
ls auch gegen den fachlich völlig falschen Bezug zum
tandort Gorleben durch den Umweltminister ist einzu-
irken, damit dieser zu einer seriösen und fachlich fun-
ierten Politik zurückkehrt.
Die GSF – das Forschungszentrum für Umwelt und
esundheit – hat am 29. Januar 2007 ihren Abschluss-
etriebsplan, bestehend aus 34 Unterlagen, mit einer
urzfassung des Sicherheitsberichts vorgelegt. Diese
urzfassung ist eine Populärfassung und wurde voreilig
ls der eigentliche Sicherheitsbericht angesehen – dies
st aber nicht so.
Es ist seit 1997 nach IAEA und OECD ein ganzheit-
cher Sicherheitsnachweis zu führen, das heißt aber auch
u erörtern, was in der Phase nach der Verfüllung des
orschungsbergwerks passiert. Der umfassende Sicher-
eitsbericht wird noch von einem Expertengremium
eprüft. Danach tritt ein komplexes Verfahren ein. Im
rsten Quartal 2008 tritt man in die öffentliche Erörterung
in. Die Unterlagen werden ausgelegt und betroffene
ommunen und Bürger können ihre Einwände vorbringen.
amit ist die Gleichwertigkeit in der Informationsweise
ergrecht/Atomrecht gegeben.
nlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Antrags: Politische Lösungen
sind Voraussetzungen für Frieden in Somalia
(Tagesordnungspunkt 24)
Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Die aktuellen
eschehnisse in Somalia seit letztem Jahr, die Macht-
bernahme durch die Islamischen Gerichte, UIC – Union
f Islamic Courts – und ihre Vertreibung auch durch äthio-
ische Truppen, der Anstieg von Gewalt trotz der ange-
aufenen Mission der Afrikanischen Union – AMISOM,
frican Union Mission to Somalia – sind erschreckend.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9327
(A) )
(B) )
Dass die internationale Gemeinschaft darauf reagiert
hat und auch weiter versucht, im Sinne einer friedlichen
Lösung Einfluss zu nehmen, ist richtig und notwendig.
Ich begrüße die Resolution der Vereinten Nationen 1744
und die Bereitschaft der Afrikanischen Union, sich hier
zu engagieren. Dabei verkenne ich nicht die problemati-
sche Lage, in der die Mission der AU aktuell ist. Von
einer Sollstärke von 8 000 Mann kann nur geträumt
werden.
Die Beteiligung afrikanischer Länder beschränkt sich
im Wesentlichen auf Uganda, und auch hier sind erst
1 300 Mann im Einsatz. Man muss keine Kassandra
sein, um hier an einem schnellen Erfolg zu zweifeln.
Umso mehr ist es wichtig, in aller Konsequenz und ge-
botenen Eile Schritte hin zu einer politischen Lösung zu
suchen und zu gehen.
Der vorliegende Antrag unterstreicht zu Recht die be-
sondere Verantwortung Deutschlands. In diesen Mona-
ten unserer EU-Ratspräsidentschaft können wir wichtige
Weichen stellen, und das geschieht auch.
Die EU hat jüngst wieder ihre Bereitschaft bekräftigt,
sich für einen Prozess der Aussöhnung als Vorausset-
zung für einen Wiederaufbau staatlicher Strukturen im
Lande einzusetzen. Dabei nimmt der „Dialog zur Ver-
söhnung“ eine Schlüsselrolle ein. Es ist unverzichtbar
und richtig, dass die EU in Aussicht gestellte Gelder
wesentlich an die Durchführung dieses Prozesses der
Aussöhnung bindet. Am Gelingen dieses notwendigen
ersten Schritts ist die EU – sind wir aus Deutschland –
aktiv beteiligt.
Die EU und Deutschland im Besonderen gehören zu
jenen – und ich möchte betonen: zu den wenigen – inter-
nationalen Gesprächspartnern, die von den Beteiligten
nicht einseitig einer Partei zugeordnet werden und damit
ihre Fähigkeit zu moderieren und zu unterstützen verlo-
ren hätten. Um die politischen Voraussetzungen für das
Gelingen eines Aussöhnungsprozesses zu finden, muss
auch nach internationalen Akteuren gesucht werden, die
bei den Beteiligten akzeptiert werden. Auch Mitgliedern
der Islamischen Liga, zu der auch Somalia gehört,
könnte und sollte hier eine wichtige Rolle zukommen.
Aber auch Deutschland ist ein wohl akzeptierter Ge-
sprächspartner, und ich bin froh, dass unsere Bundes-
regierung dementsprechend schon tätig ist. Wir nutzen
dieses gute Ansehen Deutschlands aktuell auch, um die
Bereitschaft für diesen Versöhnungsprozess nachzufra-
gen und aufzubauen. Daher ist die Bundesregierung seit
Wochen in Gesprächen in der Region und in den Nach-
barländern wie zum Beispiel mit der Regierung des
Jemen.
Das sind aber auch Gespräche mit Vertretern der isla-
mischen Gerichte. Von den ungefähr elf islamischen Ge-
richtshöfen werden von Experten zwei als explizit extre-
mistisch eingestuft. Die große Mehrheit ist moderat.
Traditionell gehören die Somalis einem gemäßigten sun-
nitischen Islam an.
Auf dem Nationalen Forum der Muslimischen Führer
in Kenia am 26. November 2006 wurde ausdrücklich un-
terstrichen: Es wird eine dauerhafte Lösung der Krise in
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omalia niemals ohne oder gegen die islamischen Ge-
ichte geben können. – Deutlicher kann auch die Rats-
räsidentschaft dies nicht ausdrücken, wenn sie zusagt,
en Prozess politisch und finanziell zu unterstützen,
enn alle wichtigen Beteiligten in vollem Umfang ein-
ebunden werden, darunter die Clan-Ältesten, islami-
che Führer, Vertreter der Wirtschaft, der Zivilgesell-
chaft und Frauen.
Diesen letzten Punkt, die „Beteiligung der Frauen“,
er in der Erklärung der Präsidentschaft der EU zur Lage
n Somalia extra mit aufgeführt ist, begrüße ich aus-
rücklich. Die nicht gleichberechtigte Lage der Frauen
n vielen Gebieten in Afrika ist schon oft in anderen
ebatten genannt worden. Auch bei der Lösung dieses
onfliktes ist dies ein wichtiges Element, nicht nur um
n den neu aufzubauenden Strukturen in Somalia Men-
chenrechtsverletzungen und Frauendiskriminierung von
eginn an zu bekämpfen. Es geht auch darum, dass es
inen Dialog zwischen beteiligten Religionsführern in
ieser Richtung gibt. Das ist auch ein wichtiges Zeichen
ür uns im Westen, um zu begreifen, dass das Wort von
er „Sharia“ und ihren Vertretern auch in einem kon-
truktiven Aussöhnungsprozess seinen Platz haben kann.
Der notwendige Dialog der Versöhnung braucht nicht
ur die Beteiligung aller, er braucht auch die Bereit-
chaft der internationalen Partner, den Islam und seine
ertreter differenziert wahrzunehmen. Eines der Argu-
ente islamistischer Demagogen ist, dem Westen eine
ggressive, undifferenzierte Islamphobie vorzuwerfen.
uch hier in Somalia, wo der Kontakt zwischen west-
icher Welt und dem Islam ein besonderes Potenzial hat,
aben wir die Chance, zu zeigen, dass dies nicht stimmt.
uf der Grundlage der Menschenrechte – und die Rechte
er Frauen gehören dazu – gibt es keine Religion, die
nsere Politik bevorzugt oder benachteiligt.
Die islamischen Gerichte haben im Augenblick
cheinbar auch die beste Chance, mäßigend auf extre-
istische Tendenzen im Land einzuwirken – ein Grund
ehr, die moderaten Mitglieder der UIC in den Prozess
inzubinden. Die Bereitschaft der Übergangsregierung
u einem solchen Dialog wäre auch ein wichtiges Ele-
ent, ihr in der Bevölkerung mehr Rückhalt zu ver-
chaffen. Das Einwirken der EU und der Bundesregie-
ung auf Präsident Yussuf ist hier unverzichtbar. Dass
ie Versöhnungskonferenz auf Ende April verschoben
erden musste, darf nicht den Eindruck erwecken, sie
ei verzichtbar. Dabei knüpfen Vertreter der UIC ihre
eilnahme auch bei einer Konferenz in Somalia an eine
icherheitsgarantie. Diese Garantie kann im Augenblick
on der Übergangsregierung realistisch nicht erwartet
erden. Das macht noch einmal deutlich, dass in dieser
bergangsphase, an deren Ende eine durch demokrati-
che Wahlen legitimierte Regierung für ganz Somalia
tehen muss, im Augenblick nur die internationale Ge-
einschaft, die AU, soweit überhaupt möglich, Garant
ür Sicherheit sein kann.
Ich halte es auch für richtig, dass die Bundesregierung
n ihren Bemühungen den Ansatz der Parallelität weiter
erfolgt, das heißt: sowohl die Unterstützung des Ver-
9328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
söhnungsprozesses weiter unterstützt als auch auf die
Schaffung von Sicherheit durch AMISOM setzt.
Einen weiteren wichtigen Punkt sehe ich darin, dass
eine Lösung nur auf regionaler Ebene zu erreichen ist.
Die Situation der Somalis ist nicht zuletzt deshalb so
komplex, weil wir auch hier wieder vor einem Scherben-
haufen der Geschichte stehen: angefangen bei der will-
kürlichen Grenzziehung in der Kolonialzeit bis hin zu
Entscheidungen im 20. Jahrhundert, die für die Somalis,
aber nicht mit ihnen getroffen wurden. Wir müssen als
internationale Akteure begreifen, bei Konflikten dieser
Art den Partner zu sehen und nicht ganze Länder oder
Völker zu instrumentalisieren.
Das Rad der Geschichte aber lässt sich nicht zurück-
drehen. Die UN-Resolution weist darauf hin, dass es um
den Aufbau staatlicher Strukturen in den Grenzen des
heute bestehenden Somalia geht. Diese Sicherheit muss
garantiert bleiben – auch für jene Nachbarn, in deren
Staatsgebiet große somalische Minderheiten leben. Den-
noch ist es richtig, dass es keine dauerhafte und friedli-
che Lösung geben kann, wenn Interessen oder Konflikte
aus Nachbarstaaten in Somalia ausgetragen werden.
Um den deutschen Beitrag zu einer friedlichen und
dauerhaften Lösung in Somalia zu unterstützen, würde
ich mir wünschen, dass wir mit allen Fraktionen guten
willens hier im Hause zu einem gemeinsamen Antrag
finden können.
Brunhilde Irber (SPD): Das Scheitern der
UNOSOM-II-Mission Mitte der 1990er-Jahre ist uns al-
len noch in schmerzlicher Erinnerung. Eine furchtbare
Hungersnot kostete circa 300 000 Menschen das Leben.
Dennoch kamen die Bürgerkriegsparteien nicht zur Be-
sinnung und verwickelten die UN-Soldaten in die Ausei-
nandersetzungen der rivalisierenden Clans.
Seitdem hat es drei Versöhnungskonferenzen gege-
ben, die Arta-Konferenz im August 2000, die von Kenia
ausgerichtete Versöhnungskonferenz im Oktober 2002
und die Friedens- und Versöhnungskonferenz für Soma-
lia im Jahr 2004, die ebenfalls in Kenia stattfand.
Der Übergangsregierung ist es aber nicht gelungen,
für Stabilität im Land zu sorgen. Seit Dezember 2006 hat
sich die Situation erheblich verschärft. Trotz der Resolu-
tion 1725 des VN-Sicherheitsrates ist es nicht gelungen,
ein Waffenembargo wirksam umzusetzen. Was bisher
bleibt, ist der auf Papier geschriebene Appell an alle
Konfliktparteien, sich an bereits getroffene Absprachen
zu halten. Das ist zu wenig, um eine Zukunftsstrategie zu
entwickeln, wie die in diesen Tagen wieder aufgeflamm-
ten Gefechte in Mogadischu zeigen.
Mit dem Beschluss des Friedens- und Sicherheitsrates
der Afrikanischen Union vom 19. Januar 2007 für eine
AU-Friedensmission sind Hoffnungen verbunden, den
innersomalischen Friedensdialog wieder in Gang zu
bringen. Am 16. April soll eine zweimonatige Versöh-
nungskonferenz beginnen, an der die politischen Führer,
die Clanführer und die Vertreter der Zivilgesellschaft be-
teiligt werden sollen.
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Da die Probleme letztlich nur durch den innersomali-
chen Dialog nachhaltig gelöst werden können, muss al-
es unternommen werden, die Versöhnungskonferenz zu
inem Erfolg zu führen. So ist es auch in der Sicherheits-
atsresolution 1744 vom 20. Februar 2007 festgehalten.
arin heißt es:
„… ersucht den Generalsekretär. Den Übergangs-
Bundesinstitutionen bei der Durchführung des Kon-
gresses der nationalen Aussöhnung sowie darüber
hinaus in Zusammenarbeit mit der Afrikanischen
Union, der Liga der arabischen Staaten und der
Zwischenstaatlichen Behörde für Entwicklung bei
der Förderung eines fortdauernden, alle Seiten ein-
schließenden politischen Prozesses behilflich zu
sein.
Derzeit sieht es allerdings nicht danach aus. Denn
uch heute wird in Mogadischu geschossen. Mindestens
5 Menschen kamen bei Hubschrauberangriffen der
thiopischen Armee auf islamische Milizionäre ums Le-
en. 130 Menschen sollen verletzt worden sein.
Die Bundesregierung bemüht sich, den Versöhnungs-
rozess zu unterstützen. Derzeit sind unter deutscher Fe-
erführung diplomatische Aktivitäten der Europäischen
nion im Gange. Sie zielen darauf ab, die Einbindung
ller relevanten politischen Kräfte in den Dialog zu er-
eichen.
Dies gilt selbstverständlich auch für den Dialog mit
en moderaten Führern der islamischen Gerichtshöfe.
m vorliegenden Antrag ist davon die Rede, dass die EU
rotz entsprechender Bemühungen dieser Gruppierung
uf Gesprächswünsche nicht reagiert hätte. Ich habe mir
estätigen lassen, dass das Gegenteil der Fall ist. Anfang
ärz 2007 hat es solche Gespräche gegeben. Bei der
ülle von Akteuren ist es natürlich möglich, dass nicht
mmer alle und sofort erreicht werden können. Tatsache
st jedoch, dass sich die Bundesregierung in diesem
inne konstruktiv einbringt. Dies gilt im Übrigen auch
ür die Unterstützung des Verfassungsprozesses. Hier
ibt es bereits konkrete Überlegungen.
Zentral ist in der Tat die Effektivität der durch die AU
eschlossenen Friedensmission AMISOM. Dazu gehört
as Erreichen der Sollstärke ebenso wie eine entspre-
hende finanzielle Ausstattung. Wie problematisch sich
ine Unterfinanzierung auswirken kann, haben wir in
arfur gesehen. Für die Unterstützung von AMISOM
ibt es Bewegung, zum Beispiel was die Auszahlung
on Geldern für die Afrikanische Friedensfazilität anbe-
angt.
Schließlich muss es uns – wie heute schon während
er Simbabwedebatte erwähnt – um die flankierende
nterstützung beim Wiederaufbau des Landes gehen.
afür werden unter anderem die EU-Mittel aus dem Eu-
opäischen Entwicklungsfonds aufgestockt.
Krieg ist bekanntlich die schlimmste und unsinnigste
ersion der Kapitalvernichtung. Denn in Bürgerkriegen
erstören die Kämpfer sozusagen ihre eigenen künftigen
ebensgrundlagen.
Alle afrikanischen Konfliktherde bergen das Risiko,
ich zu Flächenbränden auszuweiten. Dies gilt in beson-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9329
(A) )
(B) )
derer Weise für das Horn von Afrika. Für die in den letz-
ten Jahren deutlich erkennbaren Fortschritte einer pan-
afrikanischen Entwicklung käme dies einer Katastrophe
gleich. Die Afrikanische Union braucht jede Unterstüt-
zung, um den afrikanischen Stabilitätsprozess weiter vo-
ranzutreiben.
Die Europäische Union und die G-8-Staaten haben
sich mit ihrer Afrikastrategie und dem Afrika-Aktions-
plan die Unterstützung der AU auf die Fahnen geschrie-
ben. Dass dies nicht nur in Verbalnoten, sondern auch in
praktischer Weise geschieht, zeigt sich gerade in Soma-
lia. Der Versöhnungsprozess selbst muss aber von der
somalischen Bevölkerung getragen werden. Deshalb ap-
pelliere ich an die Akteure vor Ort, sich an die Vereinba-
rungen für einen Versöhnungsprozess zu halten und die
Kampfhandlungen einzustellen.
Marina Schuster (FDP): Die Uhrzeit unserer Debatte
entspricht leider in keiner Weise der Aktualität und
Bedeutung des Themas. Ich verbinde meine Rede hier
mit der Hoffnung und dem ausdrücklichen Wunsch, über
die Situation in Somalia in Zukunft zu einer deutlich
früheren Tageszeit zu debattieren. Denn die Lage vor
Ort in Somalia ist nach wie vor äußerst angespannt.
Nachdem das große Medieninteresse mit Beendigung
der Kriegshandlungen Anfang des Jahres kontinuierlich
nachließ, ist das Land keineswegs zur Ruhe gekommen.
Denken wir nur an den tragischen Vorfall vom vergangenen
Samstag: Beim Abschuss eines Flugzeugs der afrikanischen
Friedensmission in Somalia sind elf Menschen an Bord
ums Leben gekommen. Die Opfer, Besatzung und Inge-
nieure, sollten nach Angaben eines Sprechers der somali-
schen Übergangsregierung ein anderes Flugzeug der
AU-Mission reparieren. Nach Augenzeugenberichten
wurde die Maschine kurz nach dem Start von einer Ra-
kete getroffen. Sie ging in Flammen auf und schlug in
einem Außenbezirk Mogadischus auf. Dies bedeutet ei-
nen herben Rückschlag für die Friedensbemühungen der
AU.
Am Wochenende scheiterten zudem die Friedensver-
handlungen zwischen Vertretern des Hawiye-Clans und
den äthiopischen Truppen, die weitere Militäraktionen
gegen die Aufständischen angekündigt hatten, hinter denen
sie Anhänger der islamischen Milizen vermutet. Hunderte
Somalier flohen in Bussen und mit Eselskarren aus der
Hauptstadt Mogadischu. Wegen der anhaltenden Unsicher-
heit blieben alle Schulen in Mogadischu geschlossen. Bei
den mehrtägigen Kämpfen in der vergangenen Woche
wurden mindestens 300 Verletzte in Krankenhäusern
behandelt. Über die genaue Zahl der Toten kann nur
spekuliert werden. Das sind äußerst beunruhigende Ent-
wicklungen.
Hier sind wir auch schon beim Kern des Problems:
Solange die in der Bevölkerung vor Ort als Besatzer
wahrgenommenen äthiopischen Truppen im Land sind
und die AU-Mission AMISOM ihr Mandat noch nicht in
vollem Umfang ausüben kann, wird sich die Sicherheits-
lage nicht deutlich entspannen. Es ist nach wie vor unklar,
welche Staaten Truppenkontingente stellen – Uganda
möchte ich hier als positives Beispiel ausnehmen – und
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ie diese von der Bevölkerung in Somalia akzeptiert
erden. Externe Akteure wie Äthiopien, die USA und
ie Arabische Liga gelten vor Ort als diskreditiert.
Dennoch kann es für Somalia nur eine politische Lösung
uf dem Weg zum Frieden geben. Militärische Maßnah-
en sind dabei lediglich das Mittel, nicht der Zweck.
aher begrüße ich den Tenor des Antrages der Kollegin
schi Eid ausdrücklich. Dieser innenpolitische Friedens-
rozess aus dem Land heraus ist aber leider nicht in
icht.
Die höchste Glaubwürdigkeit genießt offenbar zurzeit
ie Somaliakontaktgruppe. Daher ruhen verständlicher-
eise auch viele Hoffnungen auf der Ratspräsidentschaft
er EU. Für den 16. April hat der somalische Übergangs-
räsident Yusuf eine zweimonatige Versöhnungskonferenz
inberufen. Ich appelliere an die Bundesregierung, ihren
influss im Rahmen der gegenwärtigen Doppelpräsi-
entschaft geltend zu machen, diese Konferenz und die
eitere innersomalische Entwicklung konstruktiv zu
nterstützen.
Denn es gibt noch zahlreiche offene Fragen: Wie können
eispielsweise alle Clans in der politischen Entwicklung
omalias angemessen berücksichtigt werden? Welche
ölkerrechtliche Perspektive kann es für die Region
omaliland geben, und wie wirkt sich dies wiederum auf
ie politische Einheit des Landes aus? Wie können
ünftig moderate Mitglieder der islamischen Gerichts-
öfe politisch eingebunden werden?
Gerade zur letzten Frage müssen wir Folgendes kon-
tatieren: Die Union der Islamischen Gerichtshöfe hat
n der somalischen Bevölkerung durchaus Sympathien
enossen, und zwar zum einen als Gegengewicht zu den
orrupten Warlords und Clanführern und zum anderen,
eil sie eine vergleichbar hohe Stabilität in den von ihnen
erwalteten Gebieten gewährleistet haben. Es wäre daher
in großer Fehler, die UIC en bloc als islamistische oder
ar terroristische Vereinigung zu verurteilen. Essenziell
t, dass im Land selbst das Gespräch der TGF (Übergangs-
egierung) mit moderaten Kräften der UIC gesucht werden
uss. Wenn es tatsächlich zutrifft, dass Gesprächswünsche
emäßigter UIC-Angehöriger von der EU grundsätzlich
usgeschlagen wurden, müssen wir uns fragen, ob hier
icht ein wichtiges Fenster für die weitere Entwicklung
omalias fahrlässig geschlossen wurde. Hierzu erwarte
ch von der Bundesregierung Aufklärung.
Weiterhin habe ich den Eindruck, dass nach wie vor
u wenig über den erforderlichen regionalen Ansatz disku-
ert wird. Mit einem rein einzelstaatlichen Ansatz wird
ein dauerhafter Frieden einkehren. Denn die Lage in
omalia können wir letztendlich nur beurteilen, wenn
ir die Interessen von Staaten wie Äthiopien, Eritrea
nd Kenia, aber auch weiterer Staaten wie beispiels-
eise Syrien und Saudi-Arabien kennen. Gerade der
renzkonflikt zwischen Eritrea und Äthiopien ist doch
ine der Ursachen für die Instabilität am Horn von Afrika.
olange dieser Konflikt nicht gelöst ist, werden sich die
eziehungen zwischen Eritrea und Äthiopien nie norma-
isieren. Es ist daher wichtig, diese Staaten in künftige
ösungsansätze einzubeziehen, sie gleichzeitig aber
9330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
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auch in die Pflicht zu nehmen. Dazu gehört auch die
Frage der strittigen Grenzziehung.
Wir müssen uns von deutscher, europäischer und inter-
nationaler Seite massiv für einen Interessenausgleich
zwischen den innersomalischen Parteien und den Regional-
mächten einsetzen, damit die AMISOM-Mission auf der
Grundlage einer allgemeinen Akzeptanz endlich ihre Ar-
beit aufnehmen kann und damit der politische Friedens-
prozess in Gang kommt.
Ich wiederhole meine Forderung aus vorhergehenden
Afrikadebatten: Eine bessere Zusammenarbeit und Un-
terstützung der AU – sei es personell, zum Beispiel bei
der Schulung, finanziell und organisatorisch beim Aufbau
der Strukturen – ist unerlässlich. Wenn wir es mit der
„african ownership“ ernst meinen, dürfen wir die AU
nicht im Regen stehen lassen.
Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Seit dem Sturz
des Diktators Siad Barre 1991 ist Somalia faktisch ohne
Regierung und zerrissen von Kämpfen rivalisierender
Gruppen. Es ist das immer wieder zitierte Beispiel eines
Failed State, eines gescheiterten Staates. Das vollstän-
dige Fehlen öffentlicher Infrastruktur und die desolate
Sicherheitssituation machen Somalia vor allem anfällig
für die Einmischung durch benachbarte Staaten.
So tragen Äthiopien und Eritrea ihre Grenzkonflikte
über die Unterstützung der rivalisierenden Kräfte in So-
malia aus. Äthiopien wollte mit seinem Einmarsch in
Somalia vor allem die Union der Islamischen Gerichte
– UIC – verjagen, der es immerhin gelungen war, nach
knapp fünfzehn Jahren Chaos eine gewisse Sicherheit im
Lande wiederherzustellen.
Wir sollten allerdings nicht übersehen, dass auch an-
dere Staaten und vor allem die USA in dem Konflikt ihre
Interessen verfolgen. Derzeit verdächtigen die USA die
UIC, mit al-Qaida zu kooperieren und begründen ihre
Luftangriffe mit ihrem „weltweiten Krieg gegen den
Terror“. Das Horn von Afrika ist aber nicht nur wegen
seiner beträchtlichen Öl- und Gasvorräte, sondern auch
wegen seiner strategischen Position gegenüber der arabi-
schen Halbinsel, der ölreichsten Region der Erde, von
erheblicher strategischer Bedeutung. So wenig hiervon
zurzeit in den Medien die Rede ist: Diese Vorräte sind
nicht verschwunden und werden mit der Sicherung und
Stabilisierung Somalias wieder in den Vordergrund der
Interessen treten.
Die USA haben auch Äthiopien beim Einmarsch in
Somalia unterstützt. Seitdem hat sich die Situation wie-
der drastisch verschlechtert. Die Übergangsregierung ist
zwar formal wieder an der Macht, hat aber bei der Be-
völkerung kaum Zustimmung. Denn sie hat die alten
Warlords, die Korruption und die alte Unsicherheit wie-
der mitgebracht.
In dieser Situation beschloss der Friedens- und Si-
cherheitsrat der AU am 19. Januar 2007 die Entsendung
einer Friedensmission nach Somalia, der sogenannten
AMISOM. Dass diese Mission scheitern wird, ist allzu
offensichtlich: Sie ist auf sechs Monate begrenzt und
wird sich in dieser Zeit nicht einmal installiert, ge-
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chweige denn, ihre Arbeit aufgenommen haben. Die
ission wird auf breiten Widerstand in der Bevölkerung
nd bei der UIC stoßen, da sie eine Regierung stärken
oll, die in der Bevölkerung weitgehend abgelehnt wird.
ies wird sich mit der geplanten Überführung in eine
N-Mission nicht ändern. Weder die AMISOM noch
ine UN-Mission werden die Probleme lösen. Denn eine
ilitärische Präsenz in Somalia, unter welcher Führung
uch immer, wird allen Dialogbemühungen entgegen-
irken. Dies lehren uns die beiden anderen Fronten des
ntiterrorkampfes, Afghanistan und Irak.
Letztendlich wird nur eine demokratisch gewählte
egierung eine nachhaltige Stabilisierung des Landes
ewirken können. Hierzu muss es dringend zu Verhand-
ungsgesprächen zwischen der Übergangsregierung und
er UIC kommen. Darin stimmen wir dem Antrag von
ündnis 90/Die Grünen zu. An einem solchen Dialog
ollten auch die Länder des afrikanischen und arabischen
aums unbedingt teilnehmen, die nicht in den Konflikt
nvolviert sind.
Wir fordern die Bundesregierung auf, mit ihren Ver-
ittlungsdiensten diesen Prozess zu unterstützen. Um
edoch einen solchen Dialog überhaupt zu ermöglichen,
uss sich die äthiopische Armee vollständig aus Soma-
ia zurückziehen und das Waffenembargo durchgesetzt
erden, müssen die USA ihre Luftangriffe einstellen
nd die Nachbarstaaten dazu gebracht werden, ihre Un-
erstützung der Konfliktparteien aufzugeben.
Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aktu-
ll spitz sich der Somaliakonflikt deutlich zu. Die
ämpfe und Anschläge in Mogadischu intensivieren und
äufen sich und veranlassen Zehntausende zur Flucht.
ie humanitäre Lage spitzt sich zu.
Die Bundesregierung steht derzeit als Ratspräsidentin
er EU in besonderer Verantwortung dafür, Frieden und
ie Wiederherstellung staatlicher Strukturen in Somalia
u fördern. Dies kann nur gelingen, wenn die internatio-
ale Gemeinschaft gleichzeitig der inneren und der
egionalen Komplexität des Konflikts gerecht wird. Sie
uss rational mit den politischen islamischen Bewegun-
en umgehen und den Konflikt nicht vorwiegend als Teil
es Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus be-
reifen.
Nur zu gerne würde ich den Optimismus internationa-
er Erklärungen teilen, die davon ausgehen, dass sich
ach dem äthiopischen Einmarsch vom Jahresende 2006
ine neue Friedenschance aufgetan hat. Doch die aktu-
lle Eskalation belegt, dass in Somalia eine neue Kräfte-
onstellation entstanden ist, die konfliktträchtiger ist als
uvor. Mit der Union der Islamischen Gerichtshöfe hat
thiopien – ermutigt durch die USA – einen handlungs-
ähigen Akteur zerschlagen, der sich trotz einiger Men-
chenrechtsverletzungen die Anerkennung weiter Teile
er Bevölkerung erworben hat. Erstmals seit langen Jah-
en verbesserten die Gerichtshöfe im letzten Jahr nicht
ur die öffentliche Sicherheit deutlich, sondern auch die
öglichkeiten, Handel zu treiben. Der Einmarsch
tärkte dagegen die nicht repräsentative somalische
bergangsregierung, die eine Mehrheit der Somalis als
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9331
(A) )
(B) )
völlig illegitim betrachtet – auch weil sie von dem als
Gegner empfundenen Nachbarstaat Äthiopien gestützt
wird. Selbst Diplomaten beschreiben sie mehr oder min-
der offen als inkompetent und intransigent.
Aufgabe der Friedenstruppe der Afrikanischen Union,
der AMISOM, ist es nun unter anderem, diese Über-
gangsregierung zu unterstützen. Dazu hat der UN-Si-
cherheitsrat ihr im Februar das Mandat erteilt. Doch
AMISOM kann Frieden nicht militärisch herbeizwingen.
Erfolgreich sein wird sie nur, wenn sie eine politische
Einigung zwischen den Somalis absichert und die Bevöl-
kerung AMISOM nicht als Konfliktpartei betrachtet.
Am Anfang und im Mittelpunkt aller Friedensbemühun-
gen müssen auch bei der Bundesregierung ernsthafte,
aktive und international abgestimmte Initiativen für eine
innersomalische Einigung stehen. Daher muss die Über-
gangsregierung dazu bewegt werden, alle relevanten Ak-
teure in einen politischen Dialog und in die Mitte April
beginnende nationale Versöhnungskonferenz einzube-
ziehen. Dies betrifft alle Clans, besonders die Hawiye,
aber auch all jene islamistischen Kräfte, die ihre Ver-
pflichtung erneuern und einhalten, den Terrorismus zu
verurteilen und die territoriale Integrität der Nachbar-
staaten zu respektieren. Ziel der politischen Gespräche
muss es auch sein, die somalische Regierung so umzu-
bilden, dass sie deutlich repräsentativer wird.
Ist eine politische Übereinkunft der Somalis erreicht,
fordere ich die Bundesregierung dazu auf, dazu beizutra-
gen, dass AMISOM vollständig entsandt, adäquat finan-
ziert und ausgerüstet wird und so zusammengesetzt ist,
dass sie als unparteiisch wahrgenommen wird. Sie soll
die Initiative dafür ergreifen, dass ein konfliktsensibler
internationaler Wiederaufbauplan aufgelegt wird, der
aber keine Strukturen schafft, die anfällig sind für Kor-
ruption und Machtabsicherung. Darin sollen die Bele-
bung der Wirtschaft, aber auch die freiwillige Entwaff-
nung und die Demobilisierung und Reintegration von
Soldaten im Vordergrund stehen.
Aktuell ist besonders darauf zu achten, dass die Stabi-
lität des demokratischen Somalilands nicht gefährdet
wird, das sich 1991 für unabhängig erklärt hat. Zugleich
sollte die Bundesregierung sorgfältig prüfen, ob derzeit
Initiativen friedenspolitisch sinnvoll sind, die den lau-
fenden Klärungsprozess fördern, ob die Unabhängigkeit
Somalilands international anerkannt wird.
Es kann aber gar nicht genug betont werden, dass ein
Frieden in Somalia – und schon gar keiner, der über
Jahre hinweg trägt – nicht erreicht werden kann, ohne
dass die regionalen Verflechtungen aktiv angegangen
werden, die für den Konflikt in Somalia überaus ent-
scheidend sind. Denn die Konflikte am Horn von Afrika
und die oft widerstreitenden Interessen zahlreicher Staa-
ten der Region erschweren politische Lösungen ent-
scheidend und fachen die Auseinandersetzungen inner-
halb Somalias teils wesentlich an.
Von herausragender Bedeutung ist dabei der Grenz-
konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea. Äthiopien wei-
gert sich noch immer, die Grenzziehung anzuerkennen –
entgegen seiner Zusage und Pflicht aus dem Friedensab-
kommen von 2000, einen internationalen Schiedsspruch
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nzuerkennen. Was hat das mit Somalia zu tun? Nicht
ur in Somalia tragen beide Länder ihren bilateralen
onflikt stellvertretend an anderen Orten aus nach dem
otto: Der Freund meines Feindes ist mein Feind. Ob-
ohl Eritrea ein säkularer Staat ist, unterstützt es aus der
egnerschaft zu Äthiopien heraus die Islamischen Ge-
ichtshöfe. Aus deren Reihen wurden immer wieder An-
prüche auf den von Somalis bewohnten äthiopischen
gaden erhoben und zum „Dschihad“ gegen Äthiopien
ufgerufen. Äthiopien hingegen stützt die somalische
bergangsregierung. Es waren nicht zuletzt die Drohun-
en der Gerichtshöfe und die amerikanischen Interessen
m Antiterrorkampf, die Äthiopien zum Einmarsch in
omalia bewogen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, sich aktiv an in-
rnationalen Initiativen, vor allem der Norwegens, zu be-
iligen, den Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea ei-
er dauerhaften friedlichen Lösung zuzuführen. Zweitens
ollte sie sich um einen umfassenden regionalen Dialog
wischen Nachbarstaaten und Regionalmächten bemühen,
dem ein fairer Ausgleich der Sicherheitsinteressen aller
taaten gelingen kann. Drittens muss die regionale EU-
artnerschaft mit dem Horn von Afrika aktiv unterstützt
erden. Schließlich soll die Bundesregierung Initiativen
afür ergreifen, dass das UN-Waffenembargo nicht mehr
on verschiedenen Seiten unterlaufen werden kann.
Die Bundesregierung ist als EU-Ratspräsidentin auf-
erufen, aktiv und initiativ an einer internationalen Frie-
ensstrategie mitzuwirken, die alle relevanten Aspekte
es Konflikts anspricht. An ihr sollen sowohl die EU als
uch die Afrikanische Union und die arabisch-islami-
chen Staaten beteiligt sein.
nlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que-
rung – Fährkonzepte verbessern
– Statt fester Fehmarnbelt-Querung für ein
ökologisch und finanziell nachhaltiges Ver-
kehrskonzept
(Tagesordnungspunkt 25)
Gero Storjohann (CDU/CSU): Am vergangenen
ochenende haben wir hier in Berlin den 50. Jahrestag
er Unterzeichnung der Römischen Verträge gefeiert.
iese Verträge, zu deren Unterzeichnern im Jahre 1957
ie Bundesrepublik Deutschland gehörte, waren die
rundlage für das Zusammenwachsen Europas. Sie wa-
en Grundlage für die Gründung der Europäischen Ge-
einschaft und der jetzigen Europäischen Union.
Das Königreich Dänemark ist der EG im Jahre 1973
eigetreten. Es hat nicht nur dadurch, sondern auch
urch eine wichtige europäische Infrastrukturmaßnahme
inen erheblichen Beitrag zum Zusammenwachsen
uropas geleistet: Ich spreche vom Bau der Öresund-
9332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
brücke zwischen Kopenhagen in Dänemark und Malmö
in Schweden. Diese Brücke hat zur guten Nachbarschaft
und zur Stärkung der Wirtschaft im Großraum Kopen-
hagen/Malmö einen wichtigen Beitrag geleistet. Heute
kommt es nicht mehr darauf an, ob man in Schweden
lebt und in Kopenhagen arbeitet oder umgekehrt – die
Öresundbrücke verbindet Menschen, sie verbindet zwei
EU-Staaten im nördlichen Europa. Lassen Sie mich an
dieser Stelle dem Königreich Dänemark Dank sagen für
das unbeirrte Eintreten und für den Bau dieser Brücke:
Mange tak, Danmark!
Die Erfolgsgeschichte der Öresundbrücke sollte uns
allen Ansporn sein, kraftvoll für ein weiteres wichtiges
Verkehrsprojekt in Europa einzutreten: den Bau der fes-
ten Fehmarnbelt-Querung zwischen Deutschland und
Dänemark. Was jedoch machen die Fraktionen von
Bündnis 90/Die Grünen und von den Linken? Anstatt
sich vom Wagemut unserer dänischen Nachbarn beim
Brückenbau anstecken zu lassen, legen uns die Kollegin-
nen und Kollegen Anträge vor, die dem Zusammen-
wachsen Europas alles andere als dienlich sind. Auch
deshalb werden wir sie ablehnen.
Wir brauchen diese Brücke, weil die feste Querung
des Fehmarnbelts das letzte Glied in einer wirtschaftli-
chen Kette zwischen Nord- und Mitteleuropa ist. Dieses
„missing link“ in Europa fehlt noch, diese Verbindung
muss endlich hergestellt werden. Das gilt gerade und be-
sonders für den Schienenverkehr. Durch den Ausbau der
Schienenwege über die feste Fehmarnbelt-Querung kann
der Containerverkehr zwischen Deutschland und Skan-
dinavien effektiv und schnell abgewickelt werden. Wir
brauchen mehr Verkehr auf der Schiene, und das geht
nur über eine feste Verbindung. Die Verkehrsprognosen
sprechen hier für sich: Aktuell überqueren sieben Perso-
nenzüge und kein einziger Güterzug mit den dortigen
Fähren den Fehmarnbelt. Im Jahre 2015, zur erwarteten
Fertigstellung der Brücke, werden es 40 Personenzüge
und 43 bis 61 Güterzüge pro Tag sein, die dann die feste
Fehmarnbelt-Querung nutzen werden. 40 Personenzüge,
das entspricht 4 000 Bahnreisenden pro Tag. Ohne feste
Fehmarnbelt-Querung müsste die bestehende Schienen-
verbindung über Flensburg–Neumünster verkehrstech-
nisch überholt werden. Dafür stehen auf absehbare Zeit
keine Finanzmittel zur Verfügung, denn das kann nicht
über eine Maut gegenfinanziert werden, wie es bei der
festen Fehmarnbelt-Querung vorgesehen ist. Als Alter-
native würde dann verstärkt das Flugzeug zur Verkür-
zung der Reisezeit genutzt werden.
Wie Sie sicherlich wissen, verkehren die Fähren über
den Fehmarnbelt zwischen Puttgarden und Rødby mehr-
wertsteuerfrei. Das bedeutet, dass die Reederei Scand-
lines ihre Gewinne auf dieser Route mehrwertsteuerfrei
erwirtschaftet. Die Erhebung einer Maut für die Benut-
zung von Brücken ist jedoch mehrwertsteuerpflichtig.
Dies ist ein Aspekt, den man bei der Beurteilung der
Kosten für den Bau der festen Fehmarnbelt-Querung be-
rücksichtigen muss. Der Verkehr auf der Öresundbrücke
zwischen Kopenhagen und Malmö ist inzwischen so
stark angewachsen, dass Vielfahrern auf dieser Brücke
inzwischen Rabatte gewährt werden. Auch die andere
Brücke in Dänemark, diejenige über den Großen Belt, ist
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erart erfolgreich, dass der Mautpreis seit Inbetrieb-
ahme dieses Bauwerks schon zweimal abgesenkt
erden konnte. Das für das Jahr 2015 prognostizierte
erkehrsaufkommen für den Fehmarnbelt von bis zu
000 Personenkraftwagen und bis zu 1 300 Last-
raftwagen täglich lässt hier einen ähnlichen Erfolg er-
arten – nicht zu vergessen die Mauteinahmen durch
en bereits erwähnten Bahnverkehr, die über den Fahr-
reis abgerechnet werden.
Zahlreiche Gespräche, die ich in den vergangenen
ochen mit Vertretern von dänischer Politik und Wirt-
chaft geführt habe, haben eines ganz deutlich gezeigt:
ie Beziehungen zwischen Deutschland und Dänemark
ind hervorragend. Immer wieder wird betont, dass die
raktizierte Bereitschaft der Bundesregierung, im Rah-
en der europäischen Zusammenarbeit kleine und große
achbarstaaten gleichermaßen ernst zu nehmen, bei-
pielhaft ist. Berlin nimmt eine zunehmend zentrale
olle im Konzert der 27 Nationen ein, loben die Dänen –
nd dies unabhängig von unserer augenblicklichen EU-
atspräsidentschaft. Großes Unverständnis wird in
änemark daher über die rückwärtsgewandten Anträge
er Oppositionsfraktionen der Linken und des Bündnis-
es 90/Die Grünen zur festen Fehmarnbelt-Querung ge-
ußert. Ihre Einstellung zum Projekt „Feste Fehmarn-
elt-Querung“ ruft in Kopenhagen nur Kopfschütteln
ervor. Dabei zeigen uns doch gerade die Dänen, wie er-
olgreich Brückenbauprojekte sein können!
Größter Handelspartner Dänemarks in Deutschland
st Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Schleswig-Hol-
tein, Niedersachsen, Bayern und Hamburg. Das sind die
akten. Wir sollten dem Königreich Dänemark daher
inen regen und reibungslosen Warenaustausch mit die-
en Bundesländern über die feste Fehmarnbelt-Querung
ewährleisten. Das kommt nicht nur Dänemark zugute,
ondern auch uns in Deutschland. Die feste Fehmarn-
elt-Querung ist daher nicht irgendeine Brücke. Die
este Fehmarnbelt-Querung wird erheblich zu wirt-
chaftlichem Wohlstand beitragen. Nicht nur im Groß-
aum Hamburg–Kopenhagen, sondern eben auch an
hein, Donau und Isar.
Lassen Sie uns daher Zukunft machen! Lassen Sie
ns den Brückenschlag über den Fehmarnbelt realisie-
en, um Skandinavien und Deutschland in Europa wirt-
chaftlich noch enger miteinander zu verflechten! Die
DU/CSU-Fraktion wird der Beschlussempfehlung des
usschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des
eutschen Bundestages daher zustimmen und die An-
räge der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
rünen damit ablehnen.
Hans-Joachim Hacker (SPD): Der sachliche Gegen-
tand der beiden Anträge war in erster Lesung bereits am
4. Dezember 2006 auf der Tagesordnung des Deutschen
undestages. Wer sich das Protokoll der Beratung ansieht,
ird feststellen, dass die Reden zu Protokoll gegeben
urden. Unabhängig davon ist den schriftlichen Diskus-
ionsbeiträgen zu entnehmen, dass sich die Berichterstatter
usführlich mit dem Themenkomplex, der die Fragen einer
öglichen festen Fehmarnbelt-Querung beinhalten, befasst
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9333
(A) )
(B) )
haben. Ich könnte insofern auf die damalige Argumentation
verweisen. Das würde dem Thema jedoch nicht gerecht
werden, denn in die heutige Debatte sollte eine Wertung
der Beratung im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung einfließen. Zugleich ist über den Stand der
weiteren Gespräche auf Regierungsebene eine Bewertung
vorzunehmen.
Beide vorliegenden Anträge beinhalten die Ablehnung
des Baus einer festen Fehmarnbelt-Querung. Sie sind
jedoch nicht deckungsgleich. Der PDS-Antrag enthält eine
Entschließung gegen den Bau einer festen Fehmarnbelt-
Querung und fordert stattdessen eine Verbesserung
des Fährkonzeptes. Für den von der PDS geforderten
Planungsstopp gibt es keine sachliche Grundlage; denn
Planungen finden derzeit nicht statt, und eine Einordnung
in nationale Verkehrsplanungsdokumente hat bislang
nicht stattgefunden. Richtig ist, und das weiß jeder, der sich
mit der Thematik beschäftigt hat, dass in der Koalitions-
vereinbarung vom 11. November 2005 die Prüfung der
Fehmarnbelt-Querung als internationales PPP-Referenz-
vorhaben festgeschrieben wurde. Wir befinden uns derzeit
in einer Phase, in der die Realisierungsmöglichkeiten
untersucht werden. Der PDS-Antrag überspringt diese
Phase und nimmt das Ergebnis der Prüfung vorweg. Einer
solchen Betrachtungsweise kann man sich nicht an-
schließen, denn sie ist nicht sachgerecht.
Die Forderung im PDS-Antrag an die Bundesregierung,
darauf hinzuwirken, dass die bestehende Fährverbindung
optimiert wird, ist nicht umsetzbar. Völlig verkannt
wird, dass das Fährkonzept von der Betreiberreederei,
der Scandlines AG, aufgestellt wird, auf die die Bundes-
regierung in betriebswirtschaftlichen Fragen keinen
Einfluss ausüben kann. Wir haben diese Frage in der
Beratung im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung ausführlich diskutiert, aber scheinbar haben
die Fakten, dass der Vorstand eines Unternehmens die
betriebswirtschaftlichen Entscheidungen in eigener
Verantwortung trägt, bei der PDS keine Überzeugungs-
kraft entwickelt.
Im PDS-Antrag leuchtet wieder die alte Idee der
Staatswirtschaft durch. Das kommt auch in einem weiteren
Punkt zum Ausdruck, der die Aufforderung an die
Bundesregierung enthält, mit der dänischen Regierung
und der Landesregierung Schleswig-Holstein das Ziel zu
verfolgen, gemeinsam mit dem Kreis Ostholstein und
dem dänischen Amt Storstroms Konzepte zur Stärkung
der wirtschaftlichen Situation dieser Regionen zu erarbeiten
und diese finanziell zu unterstützen. Um es klar zu sagen:
Hierfür ist die Bundesregierung nicht zuständig. Die
regionale Wirtschaftsentwicklung ist nicht Bundesauf-
gabe, insofern geht diese Forderung völlig ins Leere.
Der Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen, der auf ein ökologisch und finanziell nachhaltiges
Verkehrskonzept abstellt, enthält wie der PDS-Antrag
die Forderung nach Aufgabe der Pläne zum Bau einer
festen Fehmarnbelt-Querung und der Pläne zur Finan-
zierung durch öffentliche Gelder wie auch die Forderung
nach Optimierung des Fährkonzepts der Reederei Scand-
lines. Was diesen Forderungskatalog angeht, verweise
ich auf meine Bewertung der gleichlautenden Forderungen
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m Antrag der PDS-Fraktion. Dem ist weiter nichts hin-
uzufügen.
Auf zwei weitere Punkte im Antrag der Fraktion des
ündnisses 90/Die Grünen will ich an dieser Stelle jedoch
äher eingehen: Der Antrag auf Drucksache 16/3798
nthält unter den Ziffern 4 und 5 Forderungen nach Ausbau
es Nordostseekanals und nach Elektrifizierung der Bahn-
trecke Hamburg–Lübeck. Ich halte diese Forderungen
ach prioritärer Behandlung dieser Infrastrukturmaßnah-
en in der Sache für richtig. Es bedarf aber keines An-
ages, um der Umsetzung dieser Forderungen Gewicht
u verleihen. Wie ist der Stand der Dinge bei diesen Bau-
aßnahmen?
Erstens. Der Ausbau des Nordostseekanals ist im
undeshaushalt mit insgesamt 130 Millionen Euro
eranschlagt. Für das laufende Jahr ist die Ausreichung
iner ersten Ratenzahlung vorgesehen. Das Bundes-
inisterium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
rüft derzeit, ob ein Antrag auf Planfeststellung für den
usbau der Oststrecke des Nordostseekanals auf das
ahr 2008 vorgezogen werden kann. Der Bund wird in
runsbüttel eine neue Schleusenkammer finanzieren.
ie dies betreffenden Teilplanungen sind in Auftrag
egeben worden. Von der Baumaßnahme werden der
eubau einer dritten Schleusenkammer und die anschlie-
ende Instandsetzung der beiden alten großen Kammern
rfasst.
Zweitens. Die Elektrifizierung der Eisenbahnstrecke
amburg–Lübeck und der zweigleisige Ausbau des Teil-
bschnitts Schwartau–Waldhalle–Lübeck–Kücknitz sind
ereits Bestandteil des „Zwei-Milliarden-Euro-Verkehrs-
rogramms-Teilschiene“. Die Finanzierungsvereinbarung
urde am 15. September 2005 unterzeichnet. Die Gesamt-
osten der Maßnahme betragen 149,1 Millionen Euro,
ovon der Bund finanzielle Mittel in Höhe von 135 Mil-
ionen Euro bereitstellt. Das Gesamtvorhaben soll nach
en derzeitigen Planungen der DB-Netz AG im Laufe
es Jahres 2009 fertig werden.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-
is 90/Die Grünen, die Bundesregierung und die Koalition
ind bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen in der Region
wischen Hamburg und der Ostsee am Ball. Die Idee eines
etroexpress von Kiel nach Hamburg ist jedoch aus
irtschaftlichkeitsgründen nicht zu vertreten. Die Landes-
egierung Schleswig-Holstein sieht hierfür keine reale
hance.
Ich komme zurück zum Kernthema der beiden Op-
ositionsanträge, den Bau einer festen Fehmarnbelt-
uerung, und stelle die Frage: Können wir heute eine
ntscheidung für oder gegen den Bau treffen? Die Antwort
autet eindeutig Nein. Es gibt heute keinen Entschei-
ungsbedarf, weil die Grundlagen für eine derartige
ntscheidung nicht bestehen. Und im Übrigen an die
dresse der PDS-Abgeordneten im Verkehrsausschuss:
ntgegen Ihrer öffentlichen Darstellung hat der Verkehrs-
usschuss des Deutschen Bundestages mit der Ablehnung
er beiden Anträge kein Votum für den Bau der festen
ehmarnbelt-Querung abgegeben. Die Koalition hat
rüf- und Beratungsbedarf für das Gesamtkonzept und
lle damit in Verbindung stehenden Fragen. Die beiden
9334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
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vorliegenden Anträge wollen jedoch eine Entscheidung
vorwegnehmen, ohne eine Abwägung der Argumente
Pro und Contra vorgenommen zu haben.
Gerade einer solchen Verfahrensweise kann sich die
SPD-Bundestagsfraktion nicht anschließen. Für uns
steht fest – das hatte ich in meiner Rede am
14. Dezember 2006 bereits ausgeführt – dass wir uns
nicht auf ein finanzielles Risiko zulasten der öffentlichen
Hand einlassen werden. Ich finde, der Bundesverkehrs-
minister Wolfgang Tiefensee hat in den letzten Monaten
das Thema sehr verantwortungsbewusst behandelt. In
Gesprächen mit der dänischen Regierung und der Landes-
regierung Schleswig-Holstein sind die Rahmenbedin-
gungen für ein PPP-Projekt Feste Fehmarnbelt-Querung
untersucht worden. Hierbei sind natürlich auch die Fragen
eines tragfähigen Finanzierungskonzeptes und möglicher
Staatsgarantiezusagen erörtert worden. Dieser Fragen-
komplex befindet sich nach wie vor in der Verhand-
lungsphase. Kein ernsthafter Verhandlungspartner kann
Einzelheiten der Gespräche auf den Markt tragen. Ich
bin sicher, dass der Bundesverkehrsminister in den
nächsten Wochen das Ergebnis seiner intensiven Bemü-
hungen dem Bundestagsausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung vorstellen wird.
Für mich ist auch klar, dass bei einer ernsthaften Er-
wägung des Baus einer festen Fehmarnbelt-Querung
eine Reihe von umweltrelevanten und verkehrstechnischen
Fragestellungen einer ausführlichen Prüfung zu unterziehen
sind. Im Oktober 2006 sind die Ergebnisse eines infor-
mellen Konsultationsverfahrens vorgestellt worden, an
dem die Öffentlichkeit, Verbände und Behörden beteiligt
waren. Klar ist, dass dieses Umweltkonsultationsverfahren
nicht die notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfungen
und die gesetzlich vorgeschriebenen Öffentlichkeits-
beteiligungen ersetzen kann. Erst, wenn alle damit in
Verbindung stehenden Fragen bewertet und beantwortet
worden sind, ist die Grundlage für die Entscheidung
über den Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung ge-
schaffen worden.
Wenn die SPD-Bundestagsfraktion zusammen mit
dem Koalitionspartner und vermutlich der FDP die beiden
Anträge ablehnen wird, geschieht dies auch aus dem
Grund, dass wir uns die Option für einen sachlich not-
wendigen Abwägungsprozess offen halten wollen. Eine
Entscheidung zum Bau der festen Fehmarnbelt-Querung
ist weder in der Verkehrsausschussberatung am
28. Februar 2007 getroffen worden, noch erfolgt diese
mit der Ablehnung der beiden Anträge. Wir haben gute
Gründe, die beiden Anträge abzulehnen, weil die Koalition
eine Entscheidung erst dann treffen wird, wenn alle Fakten
auf dem Tisch liegen. Dies ist heute nicht der Fall, daher
ist die Ablehnung der beiden Anträge logisch.
Patrick Döring (FDP): Wir reden heute Abend zu
später Stunde über zwei Anträge, die zwar vermutlich
mit der großen Mehrheit des Hauses – auch von uns –
abgelehnt werden. Die Entwicklung der letzten Wochen
lässt aber vermuten, dass Linke und Grüne leider trotz-
dem bekommen, was sie wollen: ein schnelles Ende des
Projektes Fehmarnbelt-Querung. Das ist freilich kein
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erdienst der linken und linkeren Oppositionsfraktionen
n diesem Haus – dieser fragwürdige Lorbeer gebührt
ielmehr der SPD-Fraktion, die in dieser Sache sogar
en eigenen Minister düpiert. Die sozialdemokratischen
bgeordneten der fünf Küstenländer haben jedenfalls
urch lautstarke Äußerungen über die Medien deutlich
emacht, dass das Geld für die Querung und die notwen-
igen Hinterlandanbindungen erst in zehn oder 15 Jah-
en verfügbar ist. Ehrlicher wäre es gewesen, gleich die
instellung des Projektes zu fordern; denn das wäre die
onsequenz. Für den Fall hätte sich der Herr Minister
uch die Konferenzen mit dem dänischen Kollegen spa-
en können.
Natürlich ist es richtig, die Frage zu stellen, ob das
rojekt richtig kalkuliert ist und sich rechnen wird. Aber
as ist eben eine Frage; eine abschließende Antwort ken-
en wir noch nicht. Die FDP hat sich deshalb immer da-
ür ausgesprochen, das Vorhaben unaufgeregt, unvorein-
enommen und ergebnisoffen zu prüfen. Wenn ein
nvestor mit Land, Bund und Dänemark einig wird, muss
er Bundestag seinen Anteil festlegen. Bis dahin gilt,
ass die feste Querung des Fehmarnbelt ein wünschens-
erter Beitrag für die Entwicklung des transeuro-
äischen Verkehrsnetzes wäre. Die Sozialdemokraten
aben sich hingegen nun auch in das Lager derjenigen
eschlagen, die offenbar durch einen Blick in die Kris-
allkugel schon jetzt die Antworten auf alle Fragen ken-
en.
Dieses Verfahren wird unsere dänischen Freunde sehr
erwundern, die deutlich gemacht haben, dass sie auch
ine stärkere finanzielle Beteiligung in Betracht zögen.
or allem aber wird damit die ohnehin schon schwache
osition von Minister Tiefensee durch das unverantwort-
iche Verhalten seiner eigenen Fraktion weiter untermi-
iert. Es ist in der Tat ein trauriges Schauspiel, das wir
ieser Tage erleben: die endgültige Entzauberung eines
underkindes. In Leipzig war Wolfgang Tiefensee noch
in kleiner König. In Berlin ist er nur noch Überbringer
etter Grußworte. Die Liste seiner Fehler und Niederla-
en ist lang. Bei der Bahnreform lässt Minister Tiefensee
ich von Mehdorn vorführen. Von einem tragfähigen Ge-
etzentwurf sind wir weiter entfernt denn je. Besonders
einlich beim Thema Bahn: Des Ministers vollkommene
hnungslosigkeit über den desaströsen Zustand des
chienennetzes.
Beim Rat der EU-Verkehrsminister wurde dann auch
och die Verkehrsagenda der deutschen Ratspräsident-
chaft vor die Wand gefahren. Das europäische Prestige-
rogramm Galileo und das Luftverkehrsabkommen mit
en USA stehen auf der Kippe.
Jetzt, nachdem die Union dem Minister bei der Bahn-
eform schon nicht mehr folgt, fängt auch noch die SPD-
undestagsfraktion an, seine Autorität in der Fehmarn-
elt-Frage zu untergraben. Das ist keine Erosion mehr,
as ist bald ein ausgemachter machtpolitischer Erd-
utsch. Ich frage mich ernsthaft, wie ein Minister, der
icht einmal in dieser Frage auf die Unterstützung seiner
artei zählen kann, sich zum Beispiel in der noch viel
chwierigeren Bahnfrage oder bei den komplizierten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9335
(A) )
(B) )
Verhandlungen mit dem Galileo-Konsortium behaupten
will.
Da können Sie, mit Verlaub Frau Dr. Wetzel, in den
Medien noch so oft erklären, dass Sie und Ihre Mitstreiter
dem Minister den Rücken stärken. Tatsächlich läuft es
doch darauf hinaus, dass Sie ihn in dieser Frage im Regen
stehen lassen. Denn anders als Sie es zum Beispiel im
„Hamburger Abendblatt“ darstellen, hat die Frage der Fi-
nanzierung von Hinterlandanbindungen nun rein gar
nichts mit dem finanziellen Anteil der Dänen an diesem
Projekt zu tun, ganz zu schweigen davon, dass ich auch
nicht gehört habe, dass Sie Ihre Position geändert hätten,
nachdem die Dänen sich in dieser Frage kompromissbe-
reit gezeigt haben. Natürlich müssen – wenn die Ent-
scheidungen für die Fehmarnbelt-Querung gefällt wird –
auch entsprechende Hinterlandanbindungen vorhanden
sein. Das ist eine conditio sine qua non, um überhaupt die
Tragfähigkeit des Projektes zu gewährleisten. Aber wenn
– ich betone: wenn – wir feststellen, dass die Fehmarn-
belt-Querung ein lohnendes Projekt ist und gebaut wer-
den soll, dann erhalten die dafür notwendigen Neu- und
Ausbauten zur Hinterlandanbindung natürlich eine ganz
andere Priorität. Denn in diesem Fall würde sich natür-
lich die Auslastung dieser Verkehrswege ganz anders ge-
stalten, als bei den ursprünglichen Prognosen des Bun-
desverkehrswegeplans angenommen wurde. Ihrer Logik
folgend, sollen wir zunächst die Hinterlandanbindung
bauen, bevor die Querung entschieden würde; das kann
es doch wohl nicht sein.
Wenn Sie die Fehmarnbelt-Querung partout nicht
wollen, Frau Wetzel, dann sagen Sie das auch. Dann
stimmen sie heute für die vorliegenden Anträge der Grü-
nen und der Linksfraktion. Das wäre wenigstens ehrlich,
und dann wüssten auch Minister Tiefensee und die Lan-
desregierung in Schleswig-Holstein – an der sie ja betei-
ligt sind – endlich, woran sie wären. Aber ich weiß na-
türlich, dass das nicht passieren wird.
Wir können leider nicht anders, als diesen Vorgang mit
Besorgnis zur Kenntnis zu nehmen. Ein schwacher Minis-
ter mag dem Oppositionspolitiker eine Freude sein – sel-
ten war Kritik an einem Verkehrsminister so einfach und
so berechtigt. Doch zugleich muss ein solcher Zustand
jedem verantwortungsbewussten Volksvertreter, ob in
der Opposition oder in der Regierung, zuwider sein.
Denn den Schaden hat das Land. Ich kann sie, verehrte
Damen und Herren von der SPD, daher nur dazu auffor-
dern, sich heute klar zu einer ergebnisoffenen Prüfung
der Fehmarnbelt-Querung zu bekennen und jeder vorei-
ligen Entscheidung entschieden entgegenzutreten. Mit
ihrer Haltung schaden sie dem Ansehen Deutschlands
und der Regierung – nicht nur bei der Fehmarnbelt-
Frage.
Lutz Heilmann (DIE LINKE): Wir befinden uns in
der letzten Sitzungswoche vor Ostern. Nicht Weihnach-
ten. Die feste Fehmarnbelt-Querung erinnert aber an
kindliche Weihnachtswünsche. Mit realistischer Politik
hat sie nichts zu tun. So wie vielen sogenannten Ver-
kehrsexperten ein Blick auf die Straßenkarte genügt, um
festzustellen, dass sich darauf ein großes Loch befindet
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nd folglich eine neue Autobahn gebraucht wird, so
chwelgen einige Politiker aus dem Norden und Nord-
esten in Brückenphantasien. Aber während die kindli-
hen Weihnachtswunschlisten meist finanziell im Rah-
en bleiben, soll ihr Traum, für mich ist es ein
lbtraum, 5,5 Milliarden Euro kosten.
Die bestehende Fährverbindung ist gut und effektiv.
ie kann bei Bedarf weiter verbessert werden – zu einem
ruchteil der Kosten der Brücke. Außerdem sichert al-
ein diese Fährverbindung über tausend Arbeitsplätze –
ei der Brücke wird es nur ein Bruchteil davon sein.
uch durch die Brücke selber werden kaum neue Ar-
eitsplätze entstehen. Schließlich werden hier nicht zwei
tädte, sondern nur Rapsfelder miteinander verbunden.
ch war persönlich bei der Vorstellung des Gutachtens zu
en regionalen wirtschaftlichen Effekten der Brücke –
nd war sehr enttäuscht. Denn dieses Gutachten zeigt
eine konkreten Perspektiven auf, sondern stützt sich
ur auf vage Vermutungen.
Die Ansicht, dass die Brücke wirtschaftlich unnötig
st, vertritt übrigens auch das Kieler Institut für Weltwirt-
chaft, dem wohl niemand unterstellen wird, es sei ein
ort von linker oder ökologisch motivierter Politik.
Während also die erhofften positiven wirtschaftlichen
ffekte mehr als fragwürdig sind, liegen die negativen
olgen klar auf der Hand:
Erstens der Verlust von Arbeitsplätzen bei den Fähren
nd Häfen, nicht nur auf Fehmarn, sondern auch in
ecklenburg-Vorpommern. Zweitens eine massive Be-
inträchtigung der Meeresökologie und eine erhebliche
efährdung der Zugvögel. Und drittens der Verlust der
ouristischen Attraktivität von Fehmarn, wenn diese zur
ransitstrecke ausgebaut wird und die Brücke die Land-
chaft verschandelt.
Deshalb fordere ich Sie dazu auf: Lassen Sie uns jetzt
ier und heute endlich einen Schlussstrich unter diese
nsinnige Planung setzen. Und Kollege Hacker, Ihnen
öchte ich noch sagen: Wir können eben nicht weitere
rüfungsergebnisse abwarten. Denn wenn die Bundesre-
ierung erst einmal eine Vereinbarung mit Dänemark ge-
roffen hat, dann sind Sie bestimmt der letzte, der den
ut hat, dies im Bundestag wieder zu revidieren.
Auch das Bundesverkehrsministerium sieht die Feh-
arnbelt-Querung erfreulicherweise nicht als vordring-
ich an. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das nur
ine taktische Aussage war, damit die Dänen die volle fi-
anzielle Last und das gesamte Risiko übernehmen.
enn es aber der Versuch war, dass Projekt zu beerdi-
en, ohne dafür die politische Verantwortung überneh-
en zu müssen, so war die Strategie bislang sogar teil-
eise erfolgreich. Jedenfalls mehrt sich auch in
änemark die Einsicht, dass die von Deutschland vorge-
chlagene Lastenverteilung nicht gerade gerecht ist.
Als Bundespolitiker könnte man sich natürlich zu-
ücklehnen, wenn Deutschland praktisch nichts für die
rücke bezahlt, weil Dänemark fast alles übernehmen
uss. Ich bin aber Abgeordneter aus Schleswig-Holstein
nd als solcher liegen mir die von der Landesregierung
ugesagten 60 Millionen Euro schwer im Magen. Ange-
9336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
(A) )
(B) )
sichts der Gesamtkosten klingt das natürlich wenig. An-
gesichts der Mittelkürzungen in der letzten Zeit ist das
aber sehr viel. So hat Schleswig-Holstein bei den Schü-
lerverkehren, dem Urlaubs- und Weihnachtsgeld für Be-
amte und dem Kommunalen Finanzausgleich erheblich
gekürzt. Und einer mit dem Bundespreis für Effizienz
ausgezeichneten Alphabetisierungskampagne der Volks-
hochschulen wurde das Budget gestrichen: Einsparung
ganze 100 000 Euro. 60 Millionen Euro sind also eine
ganze Menge Geld für ein armes Bundesland wie
Schleswig-Holstein, die für wesentlich wichtigere Auf-
gaben als eine überflüssige Brücke gebraucht werden!
Auf wie wackligen Beinen das ganze Projekt steht
zeigt auch, dass großzügig 1,5 Milliarden Euro Zuschuss
aus TEN-Mitteln eingeplant werden. Das ist nicht nur
unrealistisch, sondern auch unredlich. Die EU wurde ge-
rade auf 27 Mitglieder erweitert. Meinen Sie nicht, dass
Europa keine dringlicheren Aufgaben hat als zwei alten,
reichen Mitgliedstaaten eine Brücke zu spendieren?
Aus den gut 8 Milliarden Euro TEN-Mitteln, die bis
2013 zur Verfügung stehen, sollen 30 Projekte mit ge-
schätzten Kosten von insgesamt 600 Milliarden Euro fi-
nanziert werden. Glauben Sie im Ernst, die EU bewilligt
– wenn Sie überhaupt etwas bewilligt – den Höchstsatz
von 30 Prozent? Und beanspruchen Sie damit nicht
Geld, das viel dringender für den Ausbau der Verkehrs-
wege in die ost- und mitteleuropäischen Staaten ge-
braucht wird? Angela Merkels Rede zu 50 Jahren EU be-
jubeln, um bei der nächsten Gelegenheit den nationalen
Egoismus bis zum Exzess auszuleben, das passt nicht
zusammen, meine Damen und Herren von der Großen
Koalition.
Schon seit 45 Jahren wird der Bau einer festen Que-
rung über den Fehmarnbelt zwischen Deutschland und
Dänemark diskutiert. Lassen Sie uns diesen Albtraum
jetzt beenden, damit wir in einigen Jahren nicht das 50-
jährige Jubiläum der gescheiterten Brückenträume feiern
müssen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Noch ist es nicht offiziell, doch die Spatzen pfei-
fen es von Dächern: Die Pläne für den Bau einer festen
Fehmarnbelt-Querung sind so gut wie vom Tisch.
Für die Europäische Union hat das Projekt keine Prio-
rität. Wie neuerdings auch aus dem Bundesverkehrsmi-
nisterium zu hören ist, misst die EU der festen Brücke
vom deutschen Puttgarden zum dänischen Rodby keine
europäische Bedeutung bei. Das ist richtig so. Das Pro-
jekt ist ein regionales Infrastrukturprojekt. Ohne die Fi-
nanzspritze der EU ist das Projekt nicht zu realisieren.
Allein für den Bau der Brücke werden rund vier Milliar-
den Euro veranschlagt. Dazu kommen rund eineinhalb
Milliarden Euro, um die Brücke an die bestehenden Ver-
kehrsnetze anzubinden.
Private Investoren sind abgesprungen, nachdem be-
kannt wurde, dass voraussichtlich nicht annähernd so
viele Autofahrer die feste Beltquerung nutzen würden,
wie von der schleswig-holsteinischen Landesregierung
behauptet. So werden wohl auch die Mauteinnahmen
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eit geringer ausfallen als ursprünglich angenommen.
ie privaten Geldgeber bestehen darauf, dass die Bun-
esregierung die Refinanzierung über Mautgebühren mit
taatsgarantien absichert. Decken die Einnahmen aus
en Mautgebühren die Kredite nicht, müssen die Steuer-
elder die Lücken füllen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Verkehrsminister
olfgang Tiefensee haben jedoch schon vor Wochen
eutlich gemacht, dass sich die Bundesregierung nicht im
rhofften Umfang an den Kosten für den Bau der Brücke
eteiligen wird. Die Kosten für die Hinterlandanbindung
ind nicht im Bundesverkehrswegeplan eingestellt. Es ist
nzwischen mehr als unwahrscheinlich, dass sie im zwei-
en Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 bereitgestellt
erden.
Die schleswig-holsteinische Landesregierung hält an
hrer Traumtänzerei fest. Ministerpräsident Peter Harry
arstensen und Verkehrsminister Dietrich Austermann
rklären wiederholend, die Zuschüsse der EU seien in
rockenen Tüchern. Diese Hoffnungen haben sich als
uftschlösser erwiesen.
Dieses Ergebnis ist ein Erfolg. Bekanntlich hat die
raktion des Bündnisses 90/Die Grünen dieses ökolo-
isch und ökonomisch unsinnige Projekt von Anfang an
bgelehnt. Das Projekt ist ein ökologisches Abenteuer,
inanziell unvertretbar, kostet Arbeitsplätze und gefähr-
et die bestehende Fährlinie.
Wir freuen uns, wenn diese unsinnigen Pläne endlich
egraben werden. Weniger erfreulich ist, dass die Bezie-
ungen zur dänischen Seite Schaden genommen haben.
ie dänische Regierung fühlt sich von der Regierung
chleswig-Holsteins hingehalten, mit Recht. Die schles-
ig-holsteinische Landesregierung hat Versprechungen
emacht, denen offensichtlich jede Grundlage fehlte.
Der neueste Vorstoß der schleswig-holsteinischen
andesregierung musste das Fass zum Überlaufen brin-
en: Die Dänen sollten die Finanzlücke schließen und
tatt der Hälfte bis zu 80 Prozent zuschießen und damit
ahezu das komplette finanzielle Risiko alleine schul-
ern. Das Hin und Her der Deutschen hat auf dänischer
eite für Ärger gesorgt und das Interesse schwinden las-
en. In der aktuellen Debatte bezweifeln dänische Wis-
enschaftler und Verkehrspolitiker den Nutzen des Pro-
ekts. Sie fordern stattdessen eine innerdänische
erbindung zwischen Jütland und Seeland.
Nun ist Schadensbegrenzung im deutsch-dänischen
erhältnis gefragt. Die Bundesregierung wäre gut bera-
en, Einfluss auf die Kieler Landesregierung zu nehmen
nd intellektuelle Überzeugungsarbeit zu leisten. Dabei
ollte die Berliner Große Koalition der Großen Koalition
n Kiel klare inhaltliche Vorgaben machen. Der erste
chritt wären offene Worte der schleswig-holsteinischen
andesregierung. Sie sollte ehrlich sein und sich ein für
lle Mal von ihrem Prestigeprojekt verabschieden. Der
weite Schritt wäre, zukunftsfähige Infrastrukturmaß-
ahmen nicht länger zu blockieren und in nachhaltigen
ourismus und den Ausbau der Fährverbindung nach
änemark zu investieren.
91. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14