Berichtigungen
78. Sitzung, Seite IV Anlage 6 und Seite 7782 (D),
Die Frage 17 wurde von der Parlamentarischen Staats-
sekretärin Marion Caspers-Merk beantwortet.
78. Sitzung, Seite 7782 (D) vierter Absatz, der erste
Satz ist wie folgt zu lesen: „In der privaten Krankenver-
sicherung waren im Jahr 2005 laut Angaben des PKV-
Verbandes 1,55 Millionen Kinder voll versichert.“
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7927
(A) (C)
(B) (D)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung: Sammelübersicht 167
zu Petitionen (Drucksache 16/4072)
Ich erkläre im Namen der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, dass unser Votum „Nein“ lautet.
Anlage 3
Neuabdruck der Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Fragen
der Abgeordneten Petra Pau (DIE LINKE) (78. Sit-
zung, Drucksache 16/4133, Fragen 6 und 7):
Wie vielen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland,
die im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder ei-
ner Aufenthaltsberechtigung waren, ist seit 1998 diese Auf-
enthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 des Ausländergeset-
zes nach unfreiwilliger Abwesenheit von sechs Monaten
entzogen worden?
Wie oft wurde in derlei Fällen von Bundes- oder Landes-
behörden derjenige Staat und dessen Behörden, in dem sich
der Ausländer unfreiwillig aufhielt, gebeten, ihm seinen Rei-
sepass abzunehmen und einer deutschen konsularischen Ver-
tretung zu überlassen, damit diese den darin befindlichen Auf-
enthaltstitel für Deutschland als ungültig abstempeln konnte?
Derzeit (Stand 31. Dezember 2006) sind im Auslän-
derzentralregister (AZR) rund 2,9 Millionen aufhältige
Drittstaatsangehörige mit einer unbefristeten Aufent-
haltserlaubnis, Aufenthaltsberechtigung oder Niederlas-
sungserlaubnis bzw. vom Erfordernis einer Aufenthalts-
erlaubnis befreite Personen erfasst. Daneben wird
gegebenenfalls der Sachverhalt „Aufenthaltstitel wider-
rufen/erloschen“ gespeichert, nicht aber die Gründe für
einen Widerruf oder ein Erlöschen des Aufenthaltstitels.
Angaben zu den Fragen 1 und 2 können daher nicht ge-
macht werden.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform des Versicherungsvertragsrecht (Tages-
ordnungspunkt 7)
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Wir sprechen heute
über den Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Versi-
cherungsvertragsrechts. Dies ist schon deshalb erfreu-
lich, weil das bisher bestehende auf seinen 100. Geburts-
tag zusteuert und sich schon längst nicht mehr auf der
Höhe der Zeit befindet.
Noch erfreulicher ist, dass die Reformbestrebungen
– anders als in vielen anderen Bereichen der Justizpoli-
tik – in die richtige Richtung gehen. Hat es die Große
Koalition bisher nahezu ausnahmslos geschafft, das
Wort „Reform“ als Synonym für Rechtsverkürzungen zu
gebrauchen, erfährt der Verbraucherschutz hier tatsäch-
lich einige grundlegende Verbesserungen. Zu nennen ist
beispielsweise die überfällige Aufgabe des Alles-oder-
Nichts-Prinzips.
Die Neufassung des Versicherungsvertragsgesetzes
war durch europarechtliche Vorgaben und ein Urteil der
Ihnen gut bekannten Damen und Herren aus Karlsruhe
entscheidend bedingt. Hinsichtlich des Knackpunktes
der Reform, der Beteiligung der Kunden an den ange-
häuften stillen Reserven der Versicherungen, war sie so-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Barthle, Norbert CDU/CSU 01.02.2007
Bülow, Marco SPD 01.02.2007
Burchardt, Ulla SPD 01.02.2007
Eichel, Hans SPD 01.02.2007
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 01.02.2007
Heil, Hubertus SPD 01.02.2007
Hempelmann, Rolf SPD 01.02.2007
Hilsberg, Stephan SPD 01.02.2007
Kasparick, Ulrich SPD 01.02.2007
Dr. Krogmann, Martina CDU/CSU 01.02.2007
Lopez, Helga SPD 01.02.2007
Merten, Ulrike SPD 01.02.2007
Müller (Düsseldorf),
Michael
SPD 01.02.2007
Nahles, Andrea SPD 01.02.2007
Pflug, Johannes SPD 01.02.2007
Ramelow, Bodo DIE LINKE 01.02.2007
Schäfer (Bochum),
Axel
SPD 01.02.2007
Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 01.02.2007
Schummer, Uwe CDU/CSU 01.02.2007
Dr. Tabillion, Rainer SPD 01.02.2007
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 01.02.2007
Westrich, Lydia SPD 01.02.2007
7928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
gar erzwungen. Die Hüter unserer Verfassung prangerten
nämlich an, dass die an den Inhaber einer Lebensver-
sicherung ausgezahlte Gewinnbeteiligung zu gering sei,
da eine Berücksichtigung der stillen Reserven der Versi-
cherungen nicht erfolge. Dies verstoße gegen die Grund-
rechte der Versicherten aus Art. 2 Abs. und Art. 14
Abs. l GG. Eine angemessene Beteiligung der Verbrau-
cher sei durch den Gesetzgeber bis zum Ende des Jahres
2007 zu gewährleisten, so das Bundesverfassungsgericht
weiter.
Nur am Rande sei bemerkt: Im Umkehrschluss ergibt
sich daraus, dass bislang eine verfassungswidrige und
damit ungerechtfertigte Bereicherung der Versicherungs-
unternehmen auf Kosten der Verbraucher erfolgte. Dafür
trägt der Gesetzgeber die Verantwortung. Es ist seine
originäre Aufgabe, eine Wirtschafts- und Rechtsordnung
zu schaffen, die den Grundrechten der Bürgerinnen und
Bürger gerecht wird. Davon sind wir weit entfernt. Aber
wenigstens hier, wo der Bürger als Verbraucher auftritt,
erscheint er der Bundesregierung schützenswert. Zumin-
dest für ihn wird jetzt der Versuch unternommen, ein
Mehr an Verteilungsgerechtigkeit herzustellen.
Nach dem Gesetzentwurf sollen die Inhaber von Le-
bensversicherungen nunmehr immerhin zur Hälfte an
den stillen Reserven, die mit ihrem Vermögen und dem
Vermögen anderer Versicherter erwirtschaftet wurden,
beteiligt werden. Dies begrüßen wir ausdrücklich. Wir
halten auch die gesetzliche Vorgabe einer festen Auszah-
lungsquote für richtig. Diese schafft Rechtssicherheit,
wohingegen die ursprünglich im Referentenentwurf vor-
gesehene „angemessene“ Beteiligung die Definitionsho-
heit über die Angemessenheit bei den Versicherungsun-
ternehmen beließ. Der Verbraucher sollte in den
vorprogrammierten Zweifelsfällen auf den langen und
mühsamen Rechtsweg verwiesen werden.
Die Frage der Überschussbeteiligung ist untrennbar
mit einem anderen zentralen Punkt der Reform verbun-
den. Denn nur wer weiß, wie groß der ganze Kuchen ist,
kann erkennen, ob sein Stück angemessen ist oder ob er
mit Krümeln abgespeist wird. Von entscheidender Be-
deutung für die Überschussbeteiligung, aber auch für das
gesamte Versicherungsvertragsrecht ist also Transparenz
in allen Bereichen. Nur durch sie ist sichergestellt, dass
der Verbraucher nicht das Opfer einer Mogelpackung
wird. Nur sie befähigt ihn, das Versicherungswesen vom
Versicherungsunwesen zu unterscheiden.
Der Begriff Transparenz hat im Moment Hochkon-
junktur. Doch nicht überall, wo „Transparenz“ drauf-
steht, ist auch Transparenz drin. Gerade diejenigen, die
wirkliche Transparenz scheuen wie der Teufel das Weih-
wasser, reden von ihr allenthalben und verfahren dabei
leider allzu oft nach dem Motto: Traue keiner Statistik,
die du nicht selbst gefälscht hast. Unter wirklicher
Transparenz im Versicherungsvertragsrecht verstehen
wir, dass die derzeit vermengten Vorgänge Versicherung,
Sparen und Dienstleistungen und die dafür aufgebrach-
ten und aufzubringenden Gelder der Versicherten vom
Angebot des Versicherungsvertrags bis in die Bilanzen
getrennt und identifizierbar gemacht werden. Nur so
kann verhindert werden, dass – wie bisher – Gewinne
aus Überschüssen der Versicherungs- und Sparvorgänge
den Unternehmen statt den Versicherten zugutekommen.
Im vorliegenden Entwurf sind in diesem Bereich ent-
scheidende Fortschritte erzielt worden. Zu erwähnen
sind die verbesserte Beratung und Information der Versi-
cherungsnehmer im Vorfeld des Vertragsabschlusses und
der Abschied vom Policenmodell. Allerdings besteht
hier unter anderem an einem entscheidenden Punkt
Nachbesserungsbedarf: Nach dem Entwurf sollen Minis-
terien durch Verordnung festlegen, welche Informatio-
nen der Versicherer vor dem Abschluss einer Lebensver-
sicherung über zu erwartende Leistungen und Kosten
mitteilen muss. Es ist sogar in das Belieben der Verwal-
tung gestellt, ob sie Transparenz bei anderen Versiche-
rungsverträgen, die entscheidende Elemente der Lebens-
versicherung enthalten, überhaupt vorschreibt oder
nicht.
Diese Regelung lehnen wir aus zwei Gründen ab:
Zum einen sind die Informationspflichten für Lebensver-
sicherungen zwingend auch auf Unfall- und Berufsunfä-
higkeitsversicherungen mit Beitragsrückgewähr und an-
dere kapitalbildende Versicherungen auszuweiten. Zum
anderen betrifft die Entscheidung über Informations-
pflichten die Hauptleistungspflichten des Vertrages. Mit
ihr steht und fällt ein guter Teil des intendierten Verbrau-
cherschutzes. Sie hat der Gesetzgeber daher selbst zu
treffen. Um zu diesem Schluss zu gelangen, muss man
gar nicht die vielfältigen Medienberichte über den guten
Kontakt zwischen Lobbyisten und Ministerien bemühen,
denn schon das Prinzip der Gewaltenteilung legt nahe:
Der Bundestag darf sich in dieser wesentlichen Frage
nicht aus der Verantwortung stehlen. Er schuldet dem
Verbraucher wie dem Bürger Transparenz. Keinem von
beiden darf die Katze im Sack verkauft werden.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Achten Geset-
zes zur Änderung des Versicherungsaufsichts-
gesetzes sowie zur Änderung des Finanzdienst-
leistungsaufsichtsgesetzes und anderer Vor-
schriften (Tagesordnungspunkt 11)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Wir debattie-
ren heute über die Umsetzung einer europäischen Richt-
linie. Es geht wieder einmal um das Thema der Schaf-
fung eines Binnenmarktes in Europa. Konkret geht es
unter anderem um die Aufsicht von Rückversicherungs-
unternehmen. Das sind Versicherungsunternehmen, die
sich wegen der Höhe des Risikos selbst bei anderen
Versicherungsunternehmen versichern, also rückversi-
chern. Hierzulande ansässige Rückversicherungsunter-
nehmen unterliegen jetzt nach dem Sitzlandprinzip als
Inländer in Deutschland der Aufsicht. Denn nicht nur für
den Verbraucher ist es wichtig, dass sein Vertragspartner,
das Versicherungsunternehmen, jederzeit den Versiche-
rungsschutz gewährleistet. Das gilt auch für die Versi-
cherungsunternehmen, die zusätzlichen Versicherungs-
schutz bei einem Rückversicherungsunternehmen einge-
kauft haben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7929
(A) (C)
(B) (D)
Dieses Thema hat für uns eine große Bedeutung, weil
deutsche Rückversicherungsunternehmen weltweit füh-
rend sind. Wenn wir also die Aufsicht über Rückversi-
cherungsunternehmen in Europa harmonisieren, dann
wollen wir gleiche Bedingungen für alle Versicherungs-
unternehmen in Europa. Gleichzeitig müssen wir aber
beachten, dass die Rückversicherungsunternehmen nicht
nur in Europa, sondern weltweit tätig sind. Wir dürfen
unseren Unternehmen keine Fußangeln anlegen, sondern
wir müssen die internationale Wettbewerbsfähigkeit im
Auge behalten. Das ist uns mit Umsetzung der Richtlinie
in deutsches Recht gelungen. Und ich danke den Oppo-
sitionsparteien, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, dass
wir mit großer Mehrheit das Gesetz verabschieden kön-
nen.
Eine gute Versicherungsaufsicht ist auch im interna-
tionalen Geschäft ein Qualitätsmerkmal. Die Regeln der
Aufsicht dürfen allerdings nicht strangulierend sein, ge-
rade wenn es um weltweiten Wettbewerb geht. Wir müs-
sen stets beachten, was weltweit Standard ist. Das heißt
wenn wir Mindestbestimmungen definieren, müssen
diese international kompatibel sein, denn Rückversiche-
rungsunternehmen kooperieren wegen der großen Risi-
ken in aller Regel mit anderen international tätigen
Rückversicherern. Nationale Alleingänge machen kei-
nen Sinn. Ich freue mich, dass auch die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht – das ist die deutsche
Versicherungsaufsicht – dies so sieht.
Wir haben bei unseren Beratungen sehr intensiv die
Aufsicht bei Konzernen diskutiert, insbesondere wenn
eine Bündelung über Holdinggesellschaften erfolgt. Die
7. Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes hat dies
im Wesentlichen bereits geregelt, denn die Aufsicht kann
heute in die Holdinggesellschaften eingreifen, wenn sie
es für notwendig hält. Wir wollen die Aufsicht nur dort,
wo Schutzgründe eine Versicherungsaufsicht verlangen.
Wir wollen keine neue Bürokratie für die Unternehmen
mit kostenträchtigen und zeitintensiven Berichtspflich-
ten der Holdingsgesellschaften aufbauen, beispielsweise
wenn aus betriebswirtschaftlichen Gründen ohne unmit-
telbaren Kontakt zum Versicherungsnehmer oder wegen
der Spartentrennung Zwischenholdings eingerichtet wer-
den. Die Aufsicht muß überall dort Zugriff haben, wo
Leitungsfunktionen für den Konzern und damit auch für
Erstversicherungsunternehmen ausgeübt werden. Wir
stimmen mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht darin überein, dass die Aufsicht nicht
greift, wo nachweislich keine Leitungsfunktion ausgeübt
wird.
Die öffentliche Anhörung von Experten sowie die
Beratungen im Ausschuss haben zu zahlreichen Verän-
derungen des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung
geführt, beispielsweise Veränderungen von Begriffsdefi-
nitionen. So haben wir international tätige deutsche
Unternehmen dadurch stärken können, dass die Versiche-
rungsvermittlung als verbundenes Geschäft von Rück-
versicherungsunternehmen angesehen wird. Die speziel-
len Vorschriften über die Versicherungsvermittlung
gelten damit nicht beim Betreiben von Rückversicherun-
gen. Dies wäre im Auslandsgeschäft für deutsche Rück-
versicherer von Nachteil gewesen. In einem anderen Zu-
sammenhang haben wir die Definition der Pensionskasse
geändert. Nach der bisherigen Definition sollten Leistun-
gen aus der Pensionskasse erst dann möglich sein, wenn
das Erwerbseinkommen weggefallen war. Wir bringen
mit der Neudefinition das Aufsichtsrecht mit den arbeits-
und steuerlichen Regeln in Einklang, wonach Zahlungen
aus der BAV bereits ab dem 60. Lebensjahr möglich sind,
also auch Teilrenten möglich sind, soweit das normale
Erwerbseinkommen zum Beispiel wegen Teilzeitarbeit
reduziert ist.
Die weitere Entwicklung der BAV wird uns auch bei
den Aufsichtsthemen begleiten. So wollen wir bei einer
weiteren Novellierung des Versicherungsaufsichtsgeset-
zes auch das Thema der kapitalmäßigen Unterdeckung
bei Pensionsfonds angehen.
Diese Durchführungsform der BAV wird nach der
Umsetzung der Pensionsfonds-Richtlinie deutlich zu-
nehmen. Wir haben insbesondere größeren Unternehmen
hier eine Möglichkeit eröffnet, eine langfristig angelegte
und finanzierte BAV für Mitarbeiter einzurichten. Wenn
Pensionsfonds in Deutschland aufgelegt werden sollen,
müssen kurzzeitige, für Pensionsfonds typische Unter-
deckungen möglich sein, zumal eine Sicherung durch
den PSV – Pensions-Sicherungs-Verein – und durch die
Nachschusspflicht des Arbeitgebers gewährleistet ist.
Ich fasse zusammen: Dieses Gesetz sichert eine quali-
fizierte Aufsicht, unterstützt die in Deutschland ansässi-
gen Unternehmen und macht den deutschen Finanzmarkt
für neue und ausländische Anbieter von Finanzdienst-
leistungen attraktiv.
Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Der zur Abstim-
mung stehende Entwurf eines Achten Gesetzes zur Än-
derung des Versicherungsaufsichtsgesetzes setzt im We-
sentlichen die europäische Richtlinie 2005/68/EG über
die Rückversicherung in nationales Recht um.
In den vergangenen Jahren wurde von globalen Fi-
nanzmarktinstitutionen wie zum Beispiel dem Internatio-
nalen Währungsfonds (IWF) immer wieder das Fehlen
harmonisierter Regeln für die Rückversicherungsaufsicht
auf Gemeinschaftsebene kritisiert. Diese Lücke im
Aufsichtsrahmen für Finanzdienstleistungen wurde
schließlich im Herbst 2005 durch die Rückversiche-
rungsrichtlinie gefüllt. Sie harmonisiert die derzeit noch
unterschiedlichen Aufsichtssysteme über Rückversiche-
rungsunternehmen innerhalb der EU und bedeutet einen
weiteren Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines EU-
Versicherungsbinnenmarktes.
Deutschland hat mit der VAG-Novelle 2004 bereits
Teile der damals noch in der Diskussion befindlichen
Rückversicherungsrichtlinie vorweggenommen: Seit
Ende 2004 werden die Rückversicherungsunternehmen
in Deutschland wie Erstversicherungsunternehmen be-
aufsichtigt. Das schließt Zulassung, gegebenenfalls Wi-
derruf der Zulassung, eine laufende Rechts- und Finanz-
aufsicht, die Überwachung der Kapitalanlagen und die
Aufsicht über die vorhandenen Eigenmittel ein.
Mit dem vorliegenden Umsetzungsgesetz wird das
deutsche Versicherungsaufsichtssystem vervollständigt
7930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
und steht darüber hinaus in Einklang mit internationalen
Standards und Entwicklungen.
Die Richtlinienbestimmungen werden eins zu eins
umgesetzt. Von den nun erstmals für Rückversicherungs-
unternehmen geltenden Regelungen möchte ich beson-
ders hervorheben: die Einführung des Prinzips der Sitz-
landaufsicht, die Europäische Aktiengesellschaft als
zulässige Unternehmensrechtsform, die zusätzliche Be-
aufsichtigung über Rückversicherer im Rahmen einer
Versicherungsgruppe, die Einführung von Vorschriften
über die Finanzrückversicherung, die Beaufsichtigung
von Versicherungs-Zweckgesellschaften und die Einfüh-
rung der Beaufsichtigung der Niederlassungen von
Rückversicherungsunternehmen aus Drittstaaten.
Die Finanzrückversicherung ist in letzter Zeit in der
internationalen Öffentlichkeit sehr kritisch diskutiert
worden. Finanzrückversicherung enthält oft keinen oder
nur einen unbedeutenden Risikotransfer und versucht
unter anderem Zahlungsströme zu glätten. Allerdings
kann es so auch zur Bilanzkosmetik kommen; die Gren-
zen sind insoweit fließend. So gibt es etwa verschleierte
Darlehen: Das Versicherungsunternehmen erhält vom
Rückversicherer eine Provision, die mit den Prämien
getilgt wird. Daher trifft der Gesetzentwurf auch Rege-
lungen zur Finanzrückversicherung, die nach der Richt-
linie möglich, aber nicht zwingend sind. In Deutschland
– also in einem der weltweit führenden Rückversiche-
rungsmärkte – wird so der internationalen Entwicklung
Rechnung getragen und für Rechtssicherheit und Trans-
parenz in diesem bisher mehr oder weniger ungeregelten
Bereich gesorgt.
Die Rückversicherungsrichtlinie enthält eine weitere
Option zur Einführung spezieller Versicherungszweck-
gesellschaften, die Versicherungsrisiken übernehmen,
ohne selbst Versicherungs- oder Rückversicherungsun-
ternehmen zu sein, und diese Risiken vollständig über
die Emission von Schuldtiteln oder über einen anderen
Finanzierungsmechanismus absichern. Der Gesetzent-
wurf erklärt essenzielle Bestimmungen des Aufsichts-
rechts für auf solche Gesellschaften anwendbar und er-
möglicht damit ihre Ansiedlung auch in Deutschland,
was den Finanzplatz weiter fördert.
Die öffentliche Anhörung am 29. November vergan-
genen Jahres hat eine gute Gelegenheit gegeben, die kri-
tischen Punkte des Gesetzentwurfs noch einmal zu über-
prüfen. Der Finanzausschuss und die mitberatenden
Ausschüsse für Wirtschaft und für Recht haben folgende
Änderungen des Regierungsentwurfes beschlossen:
Erstens: Holdingaufsicht. Es werden nur solche Zwi-
schenholdings, die nachweislich Leitungsfunktionen
ausüben, der Aufsicht der BaFin unterstellt. Damit wird
eine unnötige Belastung der Versicherungskonzerne ver-
mieden.
Zweitens: Versicherungsvermittlung. Es wird klarge-
stellt, dass es sich nicht um eine Vermittlungstätigkeit im
Sinne der EU-Vermittler-Richtlinie handelt, wenn Erst-
und Rückversicherungen füreinander Kunden akquirie-
ren.
Drittens: Eigenmittelanforderungen an die neuen Ver-
sicherungszweckgesellschaften. Da diese Gesellschaf-
ten Risiken verbriefen und an den Markt weitergeben,
benötigen sie keine den Versicherungsunternehmen ent-
sprechende Kapitalausstattung.
Viertens: Definition der Pensionskassen. Es wird aus-
drücklich klargestellt, dass auch vor Eintritt des Ruhe-
standes, während der Altersteilzeit bereits entsprechende
teilweise Rentenauszahlungen möglich sind. Dieses ist
bereits jetzt so Praxis. Pensionskassen sind Einrichtun-
gen der betrieblichen Altersvorsorge, nicht der Vermö-
gensbildung, das heißt, sie sollen nicht Leistungen wäh-
rend des vollen Erwerbslebens gewähren.
Fünftens: Antidiskriminierungsrichtlinie. Dies ist für
viele ein Reizwort, aber die Richtlinie hinterlässt ihre
Spuren auch im Versicherungswesen. Soweit Versiche-
rungsunternehmen unterschiedliche Prämien für Männer
und Frauen verlangen, haben sie die Daten, auf deren
Grundlage kalkuliert wurde, zu veröffentlichen. Das
heißt nicht, dass wettbewerbssensible, unternehmensin-
terne Daten zu veröffentlichen sind; es reicht der Hin-
weis auf Veröffentlichungen anderer Stellen. Hinsicht-
lich der Aktualisierung der Daten reicht es aus, dies
richtlinienkonform „regelmäßig“ vorzuschreiben, aller-
dings besteht aufgrund der EU-Richtlinie alle fünf Jahre
Berichtspflicht der BaFin gegenüber der Kommission.
Die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs
ist sowohl für die Versicherten als auch für die Versiche-
rer gut. Wir schaffen es, das Vertrauen in die Versiche-
rungslandschaft weiter zu schützen und auszubauen und
den Verbraucherschutz zu stärken.
Frank Schäffler (FDP): Die FDP-Fraktion wird dem
vorliegenden Gesetzentwurf zur Novellierung des Versi-
cherungsaufsichtsgesetzes zustimmen. Unser Ziel ist es,
den Standort Deutschland für Rückversicherungsunter-
nehmen zu stärken. Wir denken, dass uns dies durch die
Einführung internationaler Standards zum Zweck der eu-
ropäischen Harmonisierung gelingt. Zustimmungsfähig
ist der Gesetzentwurf aber nicht von Anfang an gewe-
sen, sondern er ist dies erst im Rahmen der Ausschuss-
beratungen geworden. Insbesondere im Bereich der Hol-
dingaufsicht hatte der vom Bundesfinanzministerium
erarbeitete Gesetzentwurf zusätzliche Bürokratie vorge-
sehen, indem die Aufsicht auch mittelbare Beteiligungen
umfassen sollte. Dies wurde auch auf unser Drängen hin
nachgebessert, sodass insbesondere Familienunterneh-
men nun nicht unnötiger Bürokratie unterliegen.
Als Wermutstropfen bleiben die zusätzlichen Ein-
griffsrechte – beispielsweise Durchsuchungsrechte – der
BaFin. Wir denken, dass die Versicherungsbranche kei-
nen Anlass gegeben hat, die Kompetenzen der Aufsicht
in diesem Maße auszuweiten, dies haben wir frühzeitig
deutlich gemacht.
Bei unserer Diskussion ist jedoch insgesamt nicht so
sehr kontrovers, was im Gesetzentwurf steht, sondern
was nicht darin steht. Union und SPD sind mit der
8. Novelle des VAG die notwendigen Veränderungen in
der betrieblichen Altersvorsorge nicht angegangen, son-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7931
(A) (C)
(B) (D)
dern haben die notwendigen Verbesserungen insbeson-
dere beim Durchführungsweg der Pensionsfonds auf die
9. Novellierung des VAG verschoben. Zwar kommt
diese bereits in diesem Jahr, dennoch wird mit dem Auf-
schieben unnötige Zeit verloren. Dabei wäre gerade die
Förderung von Pensionsfonds ein wichtiger Beitrag, um
das von Union und SPD propagierte Vorhaben zu unter-
stützen, die Beteiligung von Arbeitnehmern an Unter-
nehmen zu verbessern.
Pensionsfonds können bis zu 100 Prozent in Aktien-
werte investieren und sind über den Pensionssicherungs-
verein gegen den Verlust der Beiträge geschützt. Die Ko-
alition will einen neuen Durchführungsweg schaffen, der
eine direkte Beteiligung am Unternehmen vorsieht. Sie
erhöht damit das Risiko eines Totalverlustes der Alters-
vorsorge von vielen Arbeitnehmern, wenn sie dies tat-
sächlich durchsetzt. Besser wäre es, wenn das Risiko der
Aktienanlage breit gestreut würde, wie dies beispiels-
weise bei Pensionsfonds der Fall ist.
Eines zusätzlichen Durchführungswegs bedarf es
nicht. Der Deutsche Aktienindex hatte im vergangenen
Jahr eine Schwankungsbreite von 25 Prozent, am Ende
ist der DAX um 22 Prozent in 2006 gestiegen. Das heißt:
Schwankungen sind bei Aktienanlagen normal. Ent-
scheidend für die Altersvorsorge ist, dass es langfristig
zu einem Wertzuwachs kommt.
Daher müssen wir im VAG auch die Möglichkeiten
der Unterdeckung von Pensionsfonds verbessern. Eine
höhere Bandbreite, über die bisherige 5-Prozent-Grenze
hinaus, ist notwendig, um den Durchführungsweg attrak-
tiv zu machen. Nur so können wir den Standort verbes-
sern und die Auslagerung von Deckungsstöcken, insbe-
sondere großer Unternehmen ins Ausland, zu
verhindern. Wir sollten hier zügig nachlegen.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Vor zwei Wochen,
um genau diese Uhrzeit, waren wir alle auf dem Nach-
hauseweg, unfreiwillig. Wir haben die Plenarsitzung
vorzeitig beendet, um vor dem Sturm „Kyrill“ sicher
nach Hause zu kommen. Was hat das nun mit dem Versi-
cherungsaufsichtsgesetz zu tun? Nicht nur wir mussten
unsere Beratungen unterbrechen. In ganz Europa wurden
Schäden angerichtet, die in die Milliarden gehen. Dass
das keine größeren volkswirtschaftlichen Verwerfungen
ausgelöst hat, zeigt einmal mehr, wie wichtig ein welt-
weit stabiles Rückversicherungssystem ist.
Aber wir wissen auch: Trotz des enorm gestiegenen
Schadenaufwands, den die Rückversicherer schultern
müssen, geht es der Branche insgesamt sehr gut: Fast
alle Rückversicherer weisen Gewinne aus, bei nicht we-
nigen finden wir außerordentliche Gewinne. Insgesamt
fließen allein den deutschen Rückversicherern rund
50 Milliarden Euro an Beiträgen pro Jahr zu – eine
Summe von erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeu-
tung. Vor diesem Hintergrund sage ich ganz deutlich:
Auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive brauchen
wir eine Versicherungsaufsicht und eine Versicherungs-
regulierung, die sicherstellt, dass im Fall des Falles Ver-
sicherer die eingetretenen Risiken schultern können.
Aus dieser Perspektive beinhaltet der Gesetzentwurf
einige Regelungen, die in die richtige Richtung gehen.
Andererseits finden sich aber auch Deregulierungen, die
wir nicht unterstützen:
Die Ausdehnung des Beobachtungshorizonts der
BaFin, die in einigen Bereichen vorgesehen ist, begrü-
ßen wir. Dies ist eine sinnvolle Verbesserung und kann
dazu beitragen, dass riskante Operationen von (Rück-)
Versicherern ausbleiben oder frühzeitiger aufgedeckt
werden. Das Gesamtgefüge der Versicherungswirtschaft
wird so gestärkt.
Die Linke hat in der Anhörung die Änderung der Be-
richtspflicht über die angesetzten Verkehrs- bzw. Bilanz-
werte problematisiert. Diese Maßnahme lehnen wir ab:
Gerade die Versicherungswirtschaft selbst betont, dass
das Immobilienvermögen für sie von herausragender
und zunehmender Bedeutung ist. Deshalb sollte es der
Aufsichtsbehörde in diesem Bereich möglich sein, einen
umfassenden Überblick über die Branche zu behalten.
Einzelprüfungen allein werden dies nicht leisten können.
Auch bei den nachgereichten Änderungen der Regie-
rungsparteien ergibt sich für die Linke ein gemischtes
Bild: So begrüßen wir etwa die Klarstellung, dass auch
die Versicherungsvermittlung dem Geschäftsbetrieb ei-
nes Versicherungsunternehmens zuzuordnen ist; damit
fällt sie unter die Versicherungsaufsicht. Auch die An-
passung der Kapitalausstattungsvorschriften an die Preis-
entwicklung ist vernünftig, genauso wie Maßnahmen,
die zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der BaFin bei-
tragen. Da gehen wir ganz mit Ihnen.
Aber eins verstehe ich nicht, das müssen Sie mir ein-
mal erklären: Dass Männer und Frauen von der Versi-
cherungswirtschaft unterschiedlich behandelt werden
dürfen, ist für uns schlicht und einfach ein Skandal und
verstößt unserer Auffassung nach gegen das Grundge-
setz. Hier kann man den Markt nicht einfach laufen las-
sen und zusehen, wie Diskriminierung stattfindet. Hier
müssen wir eingreifen und dafür sorgen, dass Männer
und Frauen zu gleichen Konditionen eine Versicherung
abschließen dürfen. Dies geht auch an die Adresse der
Grünen: Auch Ihr Änderungsantrag flickschustert an der
Festschreibung dieser Ungleichbehandlung herum, an-
statt sie rundweg abzulehnen, wie man es bei Ihrer Partei
vielleicht hätte erwarten dürfen.
Vor diesem Hintergrund sagt die Fraktion Die Linke:
Der Gesetzentwurf enthält Verbesserungen, kein Zwei-
fel. Aber solange unsere Bedenken an vielen Punkten
nicht ausgeräumt werden, können wir dem Gesetzent-
wurf nicht zustimmen, sondern werden uns enthalten.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit der 8. Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz
wird die Umsetzung der EU-Rückversicherungsrichtli-
nie vervollständigt abgeschlossen. Damit vollzieht
Deutschland einen weiteren Schritt im Sinne des 1999
beschlossenen Aktionsplans für Finanzdienstleistungen
der Europäischen Union, FSAP: Es entstehen im Sektor
der Rückversicherung die Voraussetzungen für einen
europäischen Binnenmarkt.
7932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Was den Inhalt des Umsetzungsgesetzes anbelangt,
befürworten wir die zentralen Punkte.
So werden insbesondere die Einführung der Sitzland-
aufsicht, die Beschränkung des Unternehmenszwecks
auf die Rückversicherungstätigkeit und damit verbun-
dene Geschäfte, die Europäische Aktiengesellschaft als
zulässige Unternehmensrechtsform, die Einführung des
Instituts der Bestandsübertragung und die zusätzliche
Beaufsichtigung über Rückversicherer im Rahmen einer
Versicherungsgruppe sowie die Einführung der Beauf-
sichtigung der Niederlassungen von Rückversicherungs-
unternehmen aus Drittstaaten zu erhöhter Rechtssicher-
heit und Transparenz beitragen. Des Weiteren ist die
Einführung der Finanzrückversicherung zu begrüßen,
um Deutschland als einen der führenden Rückversiche-
rungsmärkte mit Regelungen auf diesem Gebiet auszu-
statten und der internationalen Entwicklung dieses bis-
her kaum geregelten Bereichs Rechnung zu tragen. Auch
die im Zuge der öffentlichen Anhörung gefundenen
Ergebnisse zu den aufsichtsrechtlichen Fragen von Ver-
sicherungs-Holdinggesellschaften und Versicherungs-
Zweckgesellschaften finden unsere Zustimmung.
Hingegen sind wir keineswegs mit dem Änderungs-
antrag der Koalitionsfraktionen und der FDP zur Anti-
diskriminierung im Versicherungsrecht einverstanden.
Demnach wird lediglich eine Veröffentlichungspflicht
für die Berechnungsgrundlagen von unterschiedlichen
Tarifen für Männer und Frauen festgelegt. Das geht uns
nicht weit genug. Es ist nicht gelungen, das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz, AGG, für das Versicherungs-
wesen weiterzuentwickeln und weitergehende Transpa-
renz der Tarifermittlung der Versicherungsunternehmen
wirksam zu verankern. Stattdessen wurde nur den Mini-
malanforderungen der EU-Richtlinie zur Gleichbehand-
lung von Männern und Frauen beim Zugang zu Dienst-
leistungen Genüge getan. Die Bundesregierung scheint
einer sturen Eins-zu-eins-Umsetzung von Richtlinien
mehr Bedeutung beizumessen, als die Chance einer
wirksamen Verhinderung von Diskriminierung zum
Wohle der Bürgerinnen und Bürger wahrzunehmen. Ein
effektiver Minderheitenschutz sieht anders aus.
In unserem Änderungsantrag treten wir deshalb dafür
ein, dass nicht nur bei unterschiedlichen Prämien oder
Leistungen für Frauen und Männer, sondern auch bei
unterschiedlicher Behandlung wegen Religion, Behinde-
rung, Alter oder sexueller Identität diejenigen versiche-
rungsmathematischen und statistischen Daten in ver-
ständlicher Form zu veröffentlichen sind, aus denen die
Berücksichtigung dieser Merkmale als Faktor der Risi-
kobewertung abgeleitet werden. Auf Verlangen müssten
diese Informationen zudem schriftlich übermittelt wer-
den. Auf diesem Wege würde die Berechnungsweise der
Versicherungsunternehmen transparent gemacht und ei-
ner politischen Bewertung zugeführt. Ferner sind die
Vorgaben des AGG auch für bereits bestehende Kran-
kenversicherungsverträge verpflichtend zu machen und
Altverträge umzustellen, sofern das Versicherungsunter-
nehmen grundsätzlich weiter geschlechtsabhängig kal-
kuliert und nur die Kosten im Zusammenhang mit Mut-
terschaft und Schwangerschaft auf alle Verträge verteilt.
Wir befürworten in diesem Zusammenhang eine Prämi-
enanpassungspflicht. Die von den Koalitionsfraktionen
lediglich fakultativ vorgesehene Anpassungsberechti-
gung ist nicht ausreichend. Es kann nicht im Ermessen
der Unternehmen stehen, ob durch die Tarifgestaltung
der bewährte Grundsatz des § 12 Abs. 4 Satz 2 VAG ge-
wahrt bleibt. Wir formulieren nach wie vor das Ziel, die
Regelungen des AGG für das Versicherungswesen dahin
gehend weiterzuentwickeln, dass geschlechtsspezifische
Unterschiede bei Prämien und Leistungen vollständig
abgebaut werden – Unisex-Tarife – und nicht risikoad-
äquate Kriterien ausscheiden.
Unsere Vorschläge in diese Richtung wurden aber im
parlamentarischen Verfahren mit Formalargumenten zur
Seite gewischt, vor einer inhaltlichen Auseinanderset-
zung hat sich die Koalition bis zuletzt gescheut.
So stimmen wir zwar dem vorliegenden Gesetzent-
wurf zu. Enttäuschend aber bleibt, dass die Bundesregie-
rung im Bereich der Antidiskriminierung über eine euro-
parechtlich vorgegebene Minimallösung nicht hinaus
gekommen ist.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Vereinfachung des Insolvenzverfahrens (Tages-
ordnungspunkt 13)
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Mit dem Ersetzen
der alten Konkursordnung durch die neue Insolvenzord-
nung Anfang 1999 wurde nicht nur ein lateinischer
Begriff durch einen anderen ersetzt, sondern damit war
eine neue Weichenstellung verbunden, die einen Para-
digmenwechsel für das deutsche Recht darstellte. Die
Konkursordnung hatte ihrem Namen mehr als alle Ehre
gemacht. Im Vordergrund stand die Befriedigung der
Gläubiger und nicht eine mögliche Sanierung des Unter-
nehmens. Was zunächst positiv für den Gläubiger er-
scheint, muss aber gesamtwirtschaftlich gesehen nicht
aufgehen.
Je weniger Insolvenzen in ein geordnetes Verfahren
überfuhrt werden können, desto weniger Rechtssicher-
heit herrscht auch für den Gläubiger. Daher profitiert
auch der Gläubiger davon, wenn es zur Eröffnung des
Insolvenzverfahrens kommt. Seit der Einführung der In-
solvenzordnung haben sich die Eröffnungsquoten deut-
lich erhöht. Das zeigt, dass die richtige Richtung einge-
schlagen wurde.
Nichtsdestotrotz gibt es Änderungs- und Optimie-
rungsbedarf in dieser Insolvenzordnung. Wir müssen
weiterhin nach Wegen suchen, wie möglichst viele Be-
triebe gerettet werden können – gerettet werden nicht
vor dem, sondern im Insolvenzverfahren. Der Wechsel
von der Konkurs- zur Insolvenzordnung muss endlich
auch in den Köpfen nachvollzogen werden. Nicht die
Abwicklung und das Scheitern einer Unternehmung
sollte zuerst gesehen werden, sondern der mögliche
Neuanfang.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7933
(A) (C)
(B) (D)
Nach der fundamentalen Umstellung zur Insolvenz-
ordnung war davon auszugehen, dass sich im Zuge der
Anwendung der neuen gesetzlichen Regelungen an der
einen oder anderen Stelle Änderungsbedarf ergeben
würde. Demnach geht es im vorliegenden Gesetzentwurf
auch nicht um grundlegende Änderungen in der Insol-
venzordnung, sondern wir nehmen mit den vorgeschla-
genen Änderungen eine weitere Feinjustierung vor, die
dem Ziel der Insolvenzordnung dient, möglichst viele
Betriebe, die in Schwierigkeiten geraten sind, wieder auf
eine gerade Bahn zu bringen. Dies wurde anscheinend
auch so von der Öffentlichkeit wahrgenommen, da die-
ses Gesetzesvorhaben der Bundesregierung selbst in der
Fachöffentlichkeit kein größeres Echo auslöste. Trotz-
dem gab es auch kritische Anmerkungen. Insbesondere
wurde vonseiten potenzieller Gläubiger Einwände erho-
ben.
Große Befürchtungen hat bei den Gläubigern die Ein-
fügung des § 21 Abs. 2 Satz l Nr. 5 in die Insolvenzord-
nung ausgelöst. Nach dieser Vorschrift soll der Insolvenz-
verwalter in die Lage versetzt werden, Gegenstände, die
sich in seinem Besitz befinden, an denen der Gläubiger
aber ein Absonderungsrecht oder ein Aussonderungs-
recht hat, dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen. Da-
bei darf der Insolvenzverwalter keineswegs willkürlich
vorgehen, sondern er kann die Herausgabe an den Gläu-
bigern nur dann vereiteln, wenn dieser Gegenstand zur
Fortführung des Unternehmens von erheblicher Bedeu-
tung ist. Der Insolvenzverwalter muss also ein außeror-
dentliches Interesse an dem Verbleib des Gegenstandes
im insolventen Betrieb haben. Demnach sieht der Ge-
setzentwurf durchaus Hürden vor, die eine unangemes-
sene Inanspruchnahme des Gläubigers ausschließen.
Die Bedenken von Warenlieferanten und Leasing-
geber gegen diese Regelung sind zwar verständlich,
schießen aber über das Ziel hinaus. Insbesondere kann
hier nicht von einer Enteignung die Rede sein, wie dies
in einigen Stellungnahmen vorgebracht wurde. Der für
den Betrieb wichtige, geleaste Gegenstand wird vom
Insolvenzverwalter für die Dauer des Eröffnungsverfah-
rens weiter genutzt. Der Gegenstand als solcher bleibt
aber erhalten.
Ein problematischer Eingriff in die Eigentümerposi-
tion würde nur dann stattfinden, wenn die Nutzung
durch den Insolvenzverwalter entschädigungslos erfol-
gen würde. Das ist aber nicht der Fall. Ein durch die
Nutzung eingetretener Wertverlust ist auszugleichen.
Außerdem findet auf diese Fälle auch Zinszahlungs-
pflicht aus § 169 Insolvenzordnung Anwendung. Damit
erhält der Leasinggeber auch einen Ausgleich dafür, dass
ein eventuell schnellere Verwertung sich durch das Ein-
ziehungsverbot nicht realisieren lässt. Schwierig ist al-
lerdings, aus der heutigen Warte, die faktische Werthal-
tigkeit dieser Forderung zu beurteilen, ich bin gerne
bereit, mich dieser Problematik im Rahmen des heran-
nahenden nächsten Entwurfs zur Änderung der Insolvenz-
ordnung noch einmal zu stellen.
Auch die Einwände der Warenlieferanten sind zwar
verständlich, aber auch hier sollte man zunächst nüch-
tern die Rechtslage betrachten. Denn der Insolvenzver-
walter kann sich durch die Regelung in § 21 Insolvenz-
ordnung keineswegs als Herr über das Warenlager
aufschwingen und es nach seinem Belieben der Verwer-
tung zuführen. Der Gegenstand als solcher muss auf
jeden Fall weiterhin im Betrieb verbleiben. Von der er-
laubten Nutzungshandlung ist demnach die Verwertung
eines Gegenstandes nicht umfasst. Will der Insolvenz-
verwalter daher Waren verkaufen, die dem insolventen
Unternehmen unter Eigentumsvorbehalt geliefert wur-
den, kann er dies nur mit Zustimmung des Lieferanten
tun.
Allerdings will ich auch nicht drum herumreden. Die
Regelung stellt natürlich eine Verschlechterung der
Rechtsposition des Gläubigers von Mobiliarsicherheiten
dar. Aber es ist nun einmal unsere Aufgabe als Parla-
mentarier, zwischen verschiedenen Interessen abzuwä-
gen. Und dies tun wir an dieser Stelle. Dem Eingriff in
die Rechte der Gläubiger steht die Möglichkeit gegen-
über, mehr Betriebe als bisher zur Verfahrenseröffnung
zu bringen und so die Chancen einer Sanierung zu erhö-
hen. Mehr weitergeführte Betriebe bedeuten auch mehr
weitergeführte Verträge. Ich hoffe, daß dies auch bei den
Zahlen berücksichtigt wurde, die nun als Verlustzahlen
in der Öffentlichkeit genannt wurden.
Auf Kritik ist auch die Regelung gestoßen, dem Insol-
venzverwalter bei einem Mietvertrag des Schuldners ein
Sonderkündigungsrecht einzuräumen. Unabhängig von
dem Bestehen einer längeren Kündigungsfrist soll der
Insolvenzverwalter in Zukunft die Gelegenheit haben,
das Miet- oder Pachtverhältnis innerhalb von drei Mona-
ten zu beenden. Ein gleichgelagertes Recht wird dem
Vermieter bzw. Verpächter jedoch nicht eingeräumt. Und
dies hat durchaus seine Gründe. Es geht hier darum, den
Gläubiger vor Kurzschlusshandlungen zu bewahren, die
sich auch für ihn wirtschaftlich negativ auswirken kön-
nen. Denn jede Kündigung eines Miet- oder Pachtvertra-
ges innerhalb von drei Monaten durch den Eigentümer
schneidet jedem Insolvenzverwalter die Möglichkeit ab,
den Betrieb weiterzuführen und wieder auf ein wirt-
schaftlich solides Fundament zu stellen. Dem Ziel der
Insolvenzordnung würde daher eine derartige Regelung
sogar entgegenstehen.
Ähnlich der Debatte, die wir im Rahmen des Gesetzes
über elektronische Handelsregister und Genossen-
schaftsregister sowie das Unternehmensregister in die-
sem Hause geführt haben, stellt sich auch bei den Insol-
venzbekanntmachungen die Frage, wie wir mit der
Veröffentlichungspflicht umgehen. Die endgültige Um-
stellung auf elektronische Register ist nur noch eine
Frage der Zeit. Der Staat kann nicht immer nur moderne
Technologien propagieren, aber dann einen Rückzieher
machen, wenn es um den praktischen Einsatz derartiger
Mittel geht. Die Veröffentlichung von Insolvenzbekannt-
machungen im Internet bietet eine schnelle, umfassende
und kostengünstige Form der Information für die Gläu-
biger. Gleichwohl war es richtig und wichtig, Übergänge
zu schaffen, um die Personen, deren Informationsquelle
noch primär das gedruckte Wort ist, an die Umstellung
zu gewöhnen. Dabei sollten wir aber aufpassen, dass wir
an dieser Stelle nicht einen Schritt vor und zwei zurück
machen.
7934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Einen wichtigen Punkt möchte ich gerne noch anspre-
chen, der leider keine Aufnahme in diesen Gesetzent-
wurf mehr gefunden hat, der aber mittelfristig von uns
aufgegriffen werden sollte: Es geht dabei um die Insol-
venzfestigkeit von Lizenzverträgen über geistiges Eigen-
tum. Dem Insolvenzverwalter steht es im Moment frei,
über die Weiterführung von Lizenzverträgen zu ent-
scheiden, da das Gesetz ihm hierzu ein Wahlrecht an die
Hand gibt. Das kann aber zu fatalen wirtschaftlichen
Folgen führen. Nehmen wir zum Beispiel ein Pharmaun-
ternehmen, welches ein Wirkstoffpatent von einer Bio-
technologiefirma lizenziert. Das Unternehmen kann
nach dem Abschluss des Lizenzvertrages noch nicht
sofort mit der Produktion beginnen. Vielmehr sind zu-
nächst umfangreiche Forschungs- und Entwicklungsleis-
tungen vorzunehmen, die nicht nur hohe Investitionen
erfordern, sondern sich auch über einen langen Zeitraum
erstrecken. Im Durchschnitt kostet die Entwicklung von
Medikamenten über 600 Millionen Euro. Diese Investi-
tionen verteilen sich über einen Zeitraum von zwölf
Jahren. Macht der Insolvenzverwalter von seinem
Wahlrecht in der Weise Gebrauch, dass er die Vertrags-
bindung auflöst, bedeutet dies für den Lizenznehmer
nicht nur das Ende der Forschungsarbeit, sondern even-
tuell sogar das Ende der Produktion. Was hier für die
forschende Industrie auf dem Spiel steht, geht weit über
ein Sonderopfer hinaus und stellt eine Schwächung des
Wirtschaftsstandortes Deutschland dar. Die Problematik
ist in Juristenkreisen zwar schon länger bekannt, tauchte
für uns Parlamentarier aber erst recht kurzfristig auf,
sodass sie in diesem Gesetzentwurf noch keinen Nie-
derschlag finden kann, zumal die Regelung mit dem
internationalen Rechtsverkehr kompatibel sein muss.
Nichtsdestotrotz sehe ich an dieser Stelle einen dringen-
den Regelungsbedarf, den wir so schnell wie möglich in
Angriff nehmen sollten.
Da dieser Gesetzentwurf nicht der letzte zum Insol-
venzrecht sein wird, bin ich auch zuversichtlich, dass wir
in absehbarer Zeit zu einer Regelung kommen werden,
die auch der wirtschaftlichen Bedeutung geistigen Eigen-
tums gerecht wird.
Dirk Manzewski (SPD): Am heutigen Abend debat-
tieren wir hier abschließend über den Gesetzesentwurf
der Bundesregierung zur Vereinfachung des Insolvenz-
verfahrens.
Mit dem Gesetzesentwurf werden erforderliche An-
passungen an die Anfang 1999 in Kraft getretene Insol-
venzordnung vorgenommen. Das Gesetz greift dabei ins-
besondere in der Vergangenheit festgestellte Defizite im
Unternehmensinsolvenzverfahren auf.
Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Än-
derungen halte ich insbesondere unter Berücksichtigung
der Änderungsanträge für insgesamt sehr gelungen.
Richtig ist, dass bei der Auswahl des Insolvenzver-
walters nunmehr die Verwendung sogenannter geschlos-
sener Listen unzulässig ist. Die Gerichte müssen künftig
die Insolvenzverwalter aus dem Kreis aller Personen
auswählen, die sich zur Übernahme von Insolvenzver-
waltungen bereiterklärt haben.
Der Gesetzesentwurf sorgt damit nicht nur für mehr
Transparenz bei der Auswahl des Insolvenzverwalters
durch das Gericht; er berücksichtigt damit auch die Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr
2004, das insoweit die Beachtung des Gleichbehand-
lungsgrundsatzes anmahnte.
Ich habe mich übrigens im Laufe des Verfahrens da-
von überzeugen lassen, das die im Gesetz vorgesehene
Möglichkeit, die Bereitschaft zur Übernahme auf be-
stimmte Insolvenzverwaltungen zu beschränken, richtig
ist. Fehlt es jemand noch an praktischer Erfahrung, hilft
es niemandem weiter, ihn mit einer schwierigen Unter-
nehmensinsolvenz zu konfrontieren. Auch eine Speziali-
sierung in diesem Bereich muss nicht unbedingt falsch
sein.
Soweit in Insolvenzsachen von Printveröffentlichun-
gen Abstand genommen und als Regelfall nur noch eine
elektronische Bekanntmachung im Internet stattfinden
sollte, finde ich es richtig, dass nunmehr in einer Über-
gangszeit noch „altes“ und „neues“ System nebeneinan-
derlaufen können.
Die Bekanntmachungen sollen in erster Linie den
Gläubigern dienen. Ob diese von heute auf morgen im-
mer wieder einmal pro forma diese Internetplattform
aufsuchen werden, um sich über etwaige Insolvenzen
von Schuldnern zu informieren, erscheint zweifelhaft.
So durchgesetzt hat sich die Arbeit mit dem Internet ins-
besondere bei den kleineren KMUs noch nicht. Insoweit
macht es durchaus Sinn, sie sich zunächst hieran gewöh-
nen zu lassen. Ich hoffe, dass die Länder dies aufgreifen
werden.
Insbesondere die IHKs und regionalen Handwerks-
kammern sehe ich übrigens in der Verpflichtung inner-
halb der Übergangszeit ihre Mitglieder auf die bundes-
einheitliche Internetplattform vorzubereiten.
Soweit eine Regelung geschaffen werden soll, nach
der der Insolvenzverwalter die Möglichkeit hat, das Ver-
mögen aus einer selbstständigen Tätigkeit des Schuld-
ners nicht zur Insolvenzmasse zu zählen, um den
Schuldner so zu der selbstständigen Tätigkeit zu moti-
vieren, habe ich nach den vorgenommenen Änderungen
keine Bedenken mehr.
Es schien mir in diesem Zusammenhang nicht unpro-
blematisch zu sein, bei reiner Duldung der Fortführung
der gewerblichen Tätigkeit durch den Insolvenzschuld-
ner, die durch den sogenannten Neuerwerb begründeten
Verbindlichkeiten automatisch zu Masseverbindlichkei-
ten werden zu lassen.
Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens können an
sich Masseverbindlichkeiten nur noch durch den Insol-
venzverwalter oder aus der Insolvenzmasse heraus be-
gründet werden, über die der Schuldner aber ja nicht
mehr verfügen darf. Durch die nunmehr vorgenommene
Klarstellung sehe ich diese Problematik als beseitigt an.
Uns liegt damit nunmehr ein für mich gelungener
Entwurf vor, um dessen Annahme ich Sie bitten möchte.
Erlauben Sie mir, nochmals meiner Freude darüber
Ausdruck zu verleihen, dass von der Bundesregierung in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7935
(A) (C)
(B) (D)
der Begründung zu diesem Gesetzesentwurf zutreffend
darauf hingewiesen wird, dass die „neue“ Insolvenzord-
nung sich bewährt und im Gegensatz zur „alten“ Kon-
kursordnung zu einer viel größeren Eröffnungsquote ge-
führt hat. Diese Erkenntnis hätte uns beim sogenannten
Gesetz zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfech-
tung viele Diskussionen erspart.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Es
ist schon denkwürdig: Nun stehen wir beinahe sitzungs-
wöchentlich hier und debattieren über das Insolvenz-
recht. Zugegeben, hierbei handelt es sich um ein wichti-
ges Rechtsgebiet. Doch das allein erklärt die
Sitzungshäufigkeit nicht. Der Grund liegt vielmehr da-
rin, dass das, was eigentlich zusammengehört, auseinan-
dergerissen wird. Die Folge sind immer kleinteiligere
und immer mehr am Einzelfall orientierte Gesetzent-
würfe. Was fehlt, ist die große Linie, was fehlt, ist der
Wille, zu kodifizieren und nicht nur den Einzelfall zu
regeln. Darauf haben Sie, sehr geehrter Herr Kollege
Dr. Krings, im Rechtsausschuss zu Recht hingewiesen.
Es wäre schön, wenn die Bundesregierung zukünftig
nach dieser Einsicht handelte und sich um mehr Kohä-
renz in der Gesetzgebung bemühte.
Wozu schlecht synchronisierte Gesetzgebungsverfah-
ren führen, durften wir bei der Frage, wie der Ko-
pierschutz auszugestalten sei, beobachten. Der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung sah vor, die
Kopierschutzregelung mit der Begründung zu streichen,
diese laufe ins Leere. Tatsächlich lief hier jedoch nichts
leer, sondern etwas schief, denn die Regelung, die gestri-
chen werde sollte, gab es schon gar nicht mehr, sie war
bereits durch das zum 1. Januar 2007 in Kraft getretene
EHUG in Wegfall geraten. Fehler passieren. Aber Fehler
lassen sich auch vermeiden, beispielsweise durch Ver-
zicht auf eine Gesetzgebung, die sich selbst überholt.
Aber auch inhaltlich haben mich die Ausführungen
der Bundesregierung zum Datenschutz ehrlich gesagt
nicht überzeugt. Die Verbreitung von Daten im Internet
hat schon eine andere Qualität als das Kopieren von Zei-
tungsveröffentlichungen per Hand. Hier geht es nicht um
ein paar Handzettel, die in Briefkästen landen. Hier geht
es um die Potenzierung von Daten durch Kopiervor-
gänge im weltweiten Netz. Dass hier ein zuverlässiger
Kopierschutz technisch nicht möglich sei, trifft so nicht
zu, denn es gibt technischen Kopierschutz. Die Absichts-
erklärung der großen Koalition, die Frage im Zusam-
menhang mit der Novellierung des Bundesdatenschutz-
gesetzes regeln zu wollen, ist da nicht sehr befriedigend.
Von einer solchen Novellierung ist seit vielen, vielen
Jahren die Rede, ohne dass sich bis heute etwas getan
hätte. Es wäre daher richtig gewesen, die Kopierschutz-
regelung wieder ins Gesetz zu schreiben, wie von der
FDP beantragt. Das wäre mehr gewesen als gar nichts,
und man hätte die Zeit nutzen können, über technische
und rechtliche Alternativen nachzudenken.
Dass die FDP dem Gesetzentwurf heute gleichwohl
zustimmen wird, hängt damit zusammen, dass wir das
Ziel, das Insolvenzverfahren zu vereinfachen, uneinge-
schränkt begrüßen und die hierzu vorgeschlagenen Maß-
nahmen im Wesentlichen unterstützen. Hierzu gehört
grundsätzlich auch die Umstellung auf den elektroni-
schen Betrieb. Allerdings haben wir Wert darauf gelegt,
dass zumindest für eine Übergangsfrist zusätzlich zu der
öffentlichen Bekanntmachung im Internet eine Bekannt-
machung in Printmedien erfolgen kann. Wir hätten uns
gewünscht, Sie hätten sich dabei noch enger an die deut-
lich großzügigere Übergangsregelung für die Publika-
tion von Eintragungen in das Handelsregister angelehnt.
Doch immerhin: Die jetzt vorgesehene Übergangsrege-
lung ist mehr als gar nichts. Ich danke Ihnen ausdrück-
lich, dass Sie sich hier vernünftigen Erwägungen nicht
verschlossen haben.
Diese Beratungskultur sollten wir beibehalten, wenn
es nun darum gehen wird, das Verbraucherinsolvenzver-
fahren zu überarbeiten und wenn es weiterhin darum ge-
hen wird, Anliegen, die in diesem Gesetzgebungsverfah-
ren nicht mehr berücksichtigt werden konnten,
angemessen zu prüfen. Hierzu zählt für die FDP bei-
spielsweise die Auseinandersetzung mit der Frage der
Insolvenzfestigkeit von Lizenzverträgen über geistiges
Eigentum.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Wenn eines Ta-
ges aus dem Justizministerium eine Vorlage herein-
kommt, in der durch fehlerhafte Gesetzesverweisung
Hunde und Katzen für prozessführungsbefugt erklärt
werden, dann können Sie eigentlich nur hoffen, dass eine
der drei Oppositionsfraktionen Ihnen einen Änderungs-
antrag schenkt, der diesen Unfug rechtzeitig verhindert –
weil Sie ihn sonst ungerührt beschließen! Im Unter-
schied zu Ihnen lesen wir die Vorlagen der Regierung
tatsächlich, auch wenn das natürlich Schweiß kostet und
Ärger verursacht.
Der heute zu behandelnde Gesetzentwurf zur Verein-
fachung des Insolvenzverfahrens hatte – bis vorgestern –
noch die Aufhebung des § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Insol-
venzordnung vorgesehen, eine Norm, die Sie zum Leid-
wesen des Datenschutzes bereits am Ende des letzten
Jahres aufgehoben hatten. Dieser Unfug fiel zuerst mei-
ner Fraktion auf, sprach sich dann unter den Opposi-
tionsfraktionen herum, gelangte auch zur Auskunft an
den Bundesdatenschutzbeauftragten und sorgte bald al-
lerorts für Kopfschütteln.
Nur Ihnen ist natürlich überhaupt nichts aufgefallen.
Sie haben es heute der FDP-Fraktion zu verdanken, die
sich mit einem Antrag für die Wiedereinführung der ge-
strichenen Norm einsetzte, dass Sie am Ende doch noch
Bescheid bekamen. Dass den Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern im Justizministerium auch einmal dumme Feh-
ler passieren, ist menschlich und verständlich. Ich frage
mich aber, wie erklärt werden kann, dass Sie als Abge-
ordnete trotz der umfangreichen inhaltlichen Schützen-
hilfe eines Justizministeriums nicht dazu kommen, selbst
zu lesen und zu prüfen, was Sie in der Verantwortung Ih-
res Mandates als Gesetz verabschieden. Stimmen Sie
doch zur Abwechslung auch mal für ein paar Vorlagen
meiner Fraktion. Die müssen Sie ja vorher auch nicht
unbedingt lesen, und dann ginge vielleicht auch einmal
etwas Gutes aus dieser Praxis hervor.
7936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Ich will Ihnen aber sicherheitshalber sagen, was Sie
heute aus der dritten Lesung in die nahe Rechtswirklich-
keit schicken. § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 der Insolvenzord-
nung regelte bis zum Ablauf des 31. Dezember 2006
eine datenschutzrechtlich höchst bedeutsame Frage: Bei
Veröffentlichungen des Insolvenzgerichtes in digitaler
Form war sicherzustellen, dass die veröffentlichten Da-
ten nicht kopiert werden können.
Man muss durchaus kein IT-Fachmann sein, um den
dahinterstehenden Zweck zu begreifen: Eine Löschungs-
frist macht überhaupt nur dann Sinn, wenn nach ihrem
Ablauf von einer grundsätzlichen Unzugänglichkeit der
gelöschten Inhalte ausgegangen werden kann. Und da-
von kann gerade nicht ausgegangen werden, wenn die an
einer Stelle gelöschten Daten an Millionen anderen Stel-
len weiterhin in kopierter Form vorhanden sind. Such-
maschinen wie Google oder Altavista legen automatisch
Spiegelungen aller Webinhalte und Datensätze an, auf
die mit den möglichen Suchergebnissen verwiesen wird.
Und auch private Nutzer sind in der Lage, mit genau drei
Mausklicks jeden ungesicherten Webinhalt auf die hei-
mische Festplatte zu ziehen. Eine Löschungsfrist wird
damit zum allergrößten Unfug, weil sie regeln will, wor-
auf gar kein Einfluss besteht. Ebenso könnten Sie sich
mühen, per Gesetz das Wetter des nächsten Jahres fest-
zulegen.
Sie hatten zwei verfassungsgemäße Möglichkeiten
zur Lösung des Problems, die Sie beide nicht genutzt ha-
ben. Erstens hätten Sie von einer Veröffentlichung der
Insolvenz im Internet Abstand nehmen können, weil Sie
davon ausgehen, dass eine Kopie der Daten in keinem
Fall verhindert werden kann. Das hätte das Problem ge-
löst. Oder aber Sie hätten § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 der In-
solvenzordnung wieder einführen und zugleich dafür
Sorge tragen müssen, dass veröffentlichte Daten gerade
nicht kopiert werden können. Das wäre etwa möglich
gewesen durch einen Kopierschutz oder durch einen da-
teiinternen Prozess, der den Gebrauch der Daten nach
dem Ablauf der Frist verhindert. Ihre Kinder werden Ih-
nen vielleicht erklären können, dass es bereits heute ko-
piergeschützte Musikdateien und auch Anwendungspro-
gramme gibt, die nach dem Ablauf einer Lizenz absolut
unbrauchbar werden.
Sie aber wählten die dritte, nicht verfassungsgemäße
Regelungsmöglichkeit, die Internetveröffentlichungen
ohne Kopierschutz vorsieht. Sie muten dem Land heute
ein Gesetz zu, in dem das Grundrecht auf informatio-
nelle Selbstbestimmung nur deshalb verletzt wird, weil
Sie keine Lust hatten, darüber nachzudenken, wie es zu
schützen sei.
Indem Sie zunächst beabsichtigten, § 9 Abs. 2 Satz 3
Nr. 3 zu streichen und nun nach Aufklärung über die
Rechtslage eine Wiedereinführung ablehnen, bringen Sie
zum Ausdruck, dass Ihnen ein Grundrecht nur so viel
wert ist, wie der Stand der Technik hergibt. Das ist inak-
zeptabel. Der Stand der Technik vermag Sie nicht von
Ihren verfassungsmäßigen Pflichten zu entbinden.
Es ist Ihre Pflicht als Gesetzgeber, Gesetze zu verab-
schieden, die die Grundrechte wahren, und es ist Ihre
Pflicht, ein Gesetz bleiben zu lassen, wenn Sie davon
ausgehen, dass eine Grundrechtswahrung nicht garan-
tiert werden kann. Und es ist jammerschade, dass man
Ihnen diese Pflichten überhaupt erklären muss.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am
1. Januar 1999 ist das Konkursrecht durch ein neues In-
solvenzrecht ersetzt worden. Nach über 120 Jahren – die
alte Konkursordnung stammte aus dem Jahre 1871 –
ging der Gesetzgeber zum Teil völlig neue Wege. Nicht
mehr der Grundgedanke des wirtschaftlichen Endes von
überschuldeten und zahlungsunfähigen Rechtspersonen,
sondern die Idee einer zweiten Chance wurde dem neuen
Insolvenzrecht zugrunde gelegt. Ein besonderer Beleg
dafür ist die eingeführte Verbraucherinsolvenz. Im Jahre
2001 wurde dieser Grundgedanke mit der Ausdehnung
der Regelinsolvenz auf Selbstständige und Freiberufler
weitergeführt.
Der Grundgedanke einer zweiten Chance ist Aus-
druck eines menschenrechtlich und sozial geprägten
Vorgehens. Dabei wird Menschen, die in unüberwind-
bare wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind, ein
– wenn auch schwieriger – Weg eröffnet, in Zukunft
wieder am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben
selbstbestimmt teilnehmen zu können. Dies geschieht
nicht einseitig zulasten der Gläubiger, verschiebt aber
die Gewichte zugunsten der insolventen Schuldner.
Diese Folge der Reform des Konkursrechts zum Insol-
venzrecht war gewollt und hat sich bis heute im Grund-
satz als der richtige Weg erwiesen.
Es kann nicht ausbleiben, dass bei einem so grund-
sätzlichen gesetzlichen Neuanfang nach einiger Zeit der
praktischen Überprüfung Schwachstellen zum Vorschein
kommen und Ungereimtheiten sichtbar werden. Deshalb
war es richtig, dass die Konferenz der Justizministerin-
nen und Justizminister schon 1999 und dann in einem
zweiten Schritt 2000 Überprüfungen des neuen Insol-
venzrechts beschlossen hat. Der letzte Abschlussbericht
datiert aus dem Juni 2002. Leider hat es über sechs Jahre
gedauert, bis die Bundesregierung die Schlussfolgerun-
gen dieses Berichts und weitere Anregungen aus der Pra-
xis im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zur Vereinfa-
chung des Insolvenzverfahrens umgesetzt hat. Das
Gesetz kommt spät – das ist zu kritisieren –, aber es ist
im Wesentlichen notwendig, gut und richtig; und dies
wird von uns Grünen ausdrücklich gelobt.
Im Einzelnen ist es gut und richtig – das wird auch
vom Bundesverfassungsgericht gefordert –, dass an den
Amtsgerichten keine geschlossenen Listen von poten-
ziellen Insolvenzverwaltern mehr geführt werden. Ein
Insolvenzverwalter ist aus dem Kreis aller zur Über-
nahme bereiten Personen zu wählen.
Die Behebung von Defiziten des Unternehmensinsol-
venzverfahrens wird von uns unterstützt. Das Gleiche
gilt für die neuen Vorschriften, mit denen noch besser als
bisher Sanierungen durchgeführt und Selbstständigen
die weitere Tätigkeit ermöglicht werden soll.
Ich komme nun zu einem kritischen Punkt, den wir
hier im Bundestag bereits anlässlich der Einrichtung des
elektronischen Handelsregisters diskutiert haben. Die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7937
(A) (C)
(B) (D)
notwendige Verlagerung der öffentlichen Bekanntma-
chungen auf das Internet schafft nicht nur Erleichterun-
gen und spart nicht nur Kosten. Es bringt auch Probleme,
besonders für die Zeitungsverlage, die seit vielen Jahr-
zehnten eine Plattform dieser Veröffentlichungen waren
und sich auf die neue Rechtslage einstellen müssen. Die
im Rechtsausschuss eingefügte Frist bis zum Jahr 2008
hilft wenig, aber sie hilft etwas. Im Internet ist ein ver-
stärkter Datenschutz gefragt. Deshalb bleibt es auch
nach der Debatte im Rechtsausschuss gestern ungeklärt,
weshalb die Koalition die Vorschrift des § 9 Insolvenz-
ordnung partout ändern und auf den „nach dem Stand
der Technik“ möglichen Kopierschutz verzichtet. Ob
hierdurch gravierender Datenmissbrauch ermöglicht
wird, werden die Datenschutzbeauftragten und werden
wir alle zu beobachten haben. Sollte es insoweit zu einer
Reform der Reform kommen müssen, bleibt zu hoffen,
dass nicht Jahre ins Land gehen, bis die Bundesregie-
rung reagiert.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf beheben wir Defizite im Regelinsolvenzver-
fahren, die uns von der Praxis aufgezeigt worden sind.
Es geht daher überwiegend um technische Verbesserun-
gen des Verfahrensablaufs, und unsere Vorschläge sind
gut aufgenommen worden. Bei einigen Punkten wurden
allerdings Zweifel angemeldet. Darauf möchte ich kurz
eingehen.
Zunächst zur Auswahl des Insolvenzverwalters: Hier
wollen wir, dass Insolvenzverwalter ihre Bereitschaft zur
Übernahme von Insolvenzverwaltungen auf bestimmte
Verfahren beschränken können. Ich halte diese Regelung
für richtig. Damit ermöglichen wir es den Richtern, im
jeweiligen Verfahren eine zügige Eignungsprüfung vor-
zunehmen und das Auswahlermessen unter Berücksich-
tigung der Größe und Art des jeweiligen Verfahrens
sachgerecht auszuüben.
Hinzukommt: Es gibt heute Insolvenzverwalter, die
sich auf Unternehmensinsolvenzen spezialisiert haben,
und es gibt Insolvenzverwalter, die ausschließlich Ver-
braucherinsolvenzen bearbeiten und oft nicht bereit sind,
Unternehmensinsolvenzverfahren zu übernehmen. Wenn
man so einen Verbraucherinsolvenzfachmann oder einen
Berufsanfänger zur Übernahme der Verwaltung von gro-
ßen Unternehmensinsolvenzen verpflichtet, nutzt das
niemandem.
Eine weitere wichtige Änderung betrifft die öffentli-
che Bekanntmachung über das Internet. Bisher sah das
Gesetz ein Wahlrecht für die Landesjustizveraltungen
vor. Die Bekanntmachungen konnten entweder in die
Printmedien oder in das Internet eingestellt werden. Mitt-
lerweile haben alle Länder die Veröffentlichung im Inter-
net gewählt. Allerdings steht es ihnen frei, wieder zu den
Printveröffentlichungen zurückzukehren. Die Internet-
veröffentlichung soll nun zur Pflicht werden. Für einen
Übergangszeitraum von zwei Jahren wird den Landesjus-
tizverwaltungen aber ein gewisses Wahlrecht erhalten
bleiben: Die Länder können die Bekanntmachungen ne-
ben dem Internet auch in Printmedien vornehmen. Die
neu eingeführte Kann-Bestimmung erlaubt es den Län-
dern, weiterhin flexibel auf eventuelle Veränderungen
der Bekanntmachungsmöglichkeiten zu reagieren.
Die Veröffentlichung im Internet kommt übrigens
nicht zuletzt den Insolvenzgläubigern zugute, da sich da-
mit die Verfahrenskosten ganz erheblich reduzieren. Das
führt bereits jetzt zu einem statistisch erkennbaren An-
stieg bei den Verfahrenseröffnungen.
Abschließend möchte ich noch auf einen Punkt einge-
hen, den wir in diesem Gesetzgebungsverfahren ändern
wollen und der mehr Rechtssicherheit bringen wird:
Falls der Schuldner eine selbstständige Tätigkeit ausübt,
kann der Insolvenzverwalter zukünftig erklären, dass
Vermögen aus dieser Tätigkeit nicht zur Masse gehört.
Wo der Insolvenzverwalter schweigt und lediglich die
Tätigkeit des Schuldners duldet, könnte über die Masse-
zugehörigkeit des aus selbstständiger Tätigkeit resultie-
renden Vermögens Zweifel entstehen. Deshalb ist vorge-
sehen, dass der Insolvenzverwalter eine Erklärung
darüber abgeben muss. ob dieses Vermögen zur Insol-
venzmasse gehört oder nicht.
Ich bin sicher: Das Gesetz wird zu einer deutlichen
Entlastung der Insolvenzgerichte, zu Kosteneinsparun-
gen bei den Ländern und zu mehr Verfahrenseröffnun-
gen beitragen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Stammzellgesetzes (Tagesord-
nungspunkt 14)
Eberhard Gienger (CDU/CSU): Mit der Biotechno-
logie verbinden sich wie mit fast keinem anderen For-
schungsgebiet große gesellschaftliche Hoffnungen. Die
Hoffnungen werden aber begleitet von Ängsten und Sor-
gen. Vielen Menschen wird „unheimlich“. Sie fragen
sich, ob sich Forscher als „Zauberlehrlinge“ des Lebens
betätigen. Sie fürchten ethische Dammbrüche, die unsere
Gesellschaft verändern könnten. Die Menschen erwarten
von der Politik zu Recht, dass sie Rahmenbedingungen
so setzt, dass diese neue Technik zum Positiven genutzt
werden kann.
Für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellt es
eine enorme Herausforderung dar, Technologie- und
Forschungsfreundlichkeit mit unserer klaren Position
zum Lebensschutz verantwortlich in Einklang zu brin-
gen. Als vor fast fünf Jahren das Stammzellimportgesetz
verabschiedet worden ist, ist den deutschen Forschern
erlaubt worden, mit embryonalen humanen Stammzellen
zu arbeiten, ohne jedoch Anreize für die Tötung von
Embryonen zu geben.
Lassen Sie mich hier kurz den Unterschied zwischen
dem Stammzellgesetz, um das es heute hier geht, und
dem Embryonenschutzgesetz erläutern.
Das Embryonenschutzgesetz schützt den Embryo, das
Stammzellgesetz befasst sich nur mittelbar mit hohen
7938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Rechtsgütern. Stammzellen sind nicht totipotent und ha-
ben kein Potenzial, sich zum Menschen zu entwickeln.
Die Schutzintensität ist deshalb nicht vergleichbar.
Am 1. Juli 2002 ist das Gesetz zur Sicherstellung des
Embryonenschutzes im Zusammenhang mit der Einfuhr
und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzel-
len in Kraft getreten. Mit diesem Stammzellgesetz sollte
eine gesetzliche Regelung für die Einfuhr und Verwen-
dung humaner embryonaler Stammzellen getroffen
werden, die nicht in rechtlichem und ethischem
Wertungswiderspruch zum hohen Schutzniveau des Em-
bryonenschutzgesetzes steht.
Gleichzeitig sollte der Forschungsfreiheit und den In-
teressen kranker Menschen an der Entwicklung neuer
Zelltherapien bzw. Zellgenerationsprodukte angemes-
sen Rechnung getragen werden.
Der Zweck des Stammzellgesetzes ist in § 1 Nr. 1, 2
und 3 verankert: Einfuhr und Verwendung embryonaler
Stammzellen zu verbieten, zu vermeiden, dass von
Deutschland aus eine Gewinnung embryonaler Stamm-
zellen oder eine Erzeugung von Embryonen zur Gewin-
nung embryonaler Stammzellen veranlasst wird und Vo-
raussetzungen zu bestimmen, unter denen die Einfuhr
und die Verwendung embryonaler Stammzellen aus-
nahmsweise zu Forschungszwecken zulässig sind.
Ich möchte nochmals klarstellen, dass es eine ganz
klare Regelung gibt: Die Einfuhr und die Verwendung
humaner embryonaler Stammzellen, hES-Zellen, sind
grundsätzlich verboten und nur mit Genehmigung der
zuständigen Behörde ausschließlich für Forschungszwe-
cke erlaubt. Ohne Genehmigung sind die Einfuhr und
die Verwendung strafbar. Es dürfen embryonale Stamm-
zellen allenfalls importiert und verwendet werden, wenn
nach Überzeugung der Genehmigungsbehörde und der
Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung
feststeht, dass hochrangige Forschungsziele damit ver-
bunden sind und Erkenntnisse nicht ohne embryonale
Stammzellen gewonnen werden können. Daran werden
wir nicht rütteln.
Zudem enthält das Stammzellgesetz eine Stichtagsre-
gelung, die besagt, dass nur mit embryonalen Stammzel-
len geforscht werden darf, die vor dem 1. Januar 2002
gewonnen wurden; dies gilt auch für das Herkunftsland.
Mit dieser Stichtagsregelung will das Gesetz verhindern,
dass im Ausland vorhandene Embryonen für Zwecke
deutscher Forschung getötet werden.
Aus dem Blickwinkel der in Deutschland tätigen For-
scher stellt sich diese feste Stichtagsregelung als proble-
matisch dar. Die Stellungnahme der Deutschen For-
schungsgemeinschaft zur Stammzellforschung vom
November 2006 macht deutlich, dass wir uns mit dem
Stammzellgesetz von 2001 erneut beschäftigen müssen.
Im Berichtzeitraum 2004/2005 hat es weltweit auf
dem Gebiet der Stammzellforschung erhebliche Fort-
schritte gegeben. Es ist gelungen, sowohl hES-Zelllinien
ohne tierische Zusätze und Verunreinigung wie auch zu-
nehmend Stammzelllinien mit spezifischen genetischen
Defekten herzustellen, die der Krankheitsanalyse dienen
können. Eine Aussage des Berichts ist, dass auf For-
schungsarbeiten mit humanen embryonalen Stammzel-
len derzeit nicht verzichtet werden kann. Grundlagen-
kenntnisse für mögliche spätere therapeutische Ansätze
könnten nur in parallelen Arbeiten an adulten wie em-
bryonalen Stammzellen gewonnen werden. Zum anderen
geht es um die Übertragbarkeit von Erkenntnissen aus
der Arbeit mit tierischen Stammzellen auf die Anwen-
dung am Menschen. Vor dem Hintergrund des aktuellen
Forschungstandes ist vor allem die Frage zu klären, in-
wieweit deutsche Forscher durch den Verzicht auf neu-
ere Stammzelllinien von wichtigen Feldern der Grundla-
genforschung abgekoppelt werden.
Darüber hinaus haben Forscher ein weiteres Problem:
das der Rechtsunklarheit bei internationalen Kooperatio-
nen. Deutsche Forscher sind zunehmend verunsichert
und fühlen sich von internationalen Kooperationen mehr
und mehr ausgeschlossen. Denn bisher machen sich
Amtsträger, beamtete Hochschullehrer, auch Wissen-
schaftler an staatsnahen Forschungseinrichtungen straf-
bar, wenn sie im Ausland an nach dem deutschen
Stammzellgesetz nicht erlaubten humanen embryonalen
Stammzellen arbeiten. Strittig ist, ob das Stammzellge-
setz in seiner Wirkung auf das Inland beschränkt ist oder
nicht. Wenn es nicht auf das Inland beschränkt ist, dann
greift § 9 Strafgesetzbuch, und deutsche Wissenschaftler
machen sich schon beim Austausch mit Kollegen im
Ausland, die nicht mit gesetzeskonformen Stammzell-
linien arbeiten, strafbar.
Zwar hat die Stichtagsregelung seinerzeit die Mög-
lichkeit eröffnet, Grundlagenforschung zu betreiben,
aber die deutschen Forscher sind nun der Meinung, dass
angesichts der inzwischen weltweit erzielten Erkenntnis-
fortschritte in der Stammzellforschung und angesichts
des zunehmend deutlicher werdenden Ausschlusses
deutscher Stammzellforscher aus internationalen Ko-
operationen die Stichtagsregelung nicht mehr genüge
und zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer mehr an ein
völliges Verbot der Forschung mit hES-Zellen in
Deutschland heranreiche. Dabei widerspricht eine vom
Gesetz herbeigeführte verbotsgleiche Wirkung dem er-
klärten Ziel des Stammzellgesetzes selbst, nämlich die
Stammzellforschung in Deutschland nicht zu verhindern.
Hier müssen wir gemeinsam Lösungen finden.
Die Dinge sind schwierig. Was wir brauchen, ist eine
echte Werteorientierung. Die Werteorientierung heißt
Lebensschutz. Aber sie beinhaltet auch, dass wir uns in
der Stammzellforschung Wege offenhalten müssen.
Denn ein kategorisches Nein ist keine ethische Haltung.
Ob unser Stammzellgesetz weiterentwickelt werden
muss, gilt es vorurteilsfrei zu prüfen. Deshalb haben wir
im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung einvernehmlich auf Vorschlag der Aus-
schussvorsitzenden Ulla Burchardt beschlossen, eine öf-
fentliche Anhörung zu diesem Thema anzusetzen, um
sowohl die Aspekte der Forschung wie auch ethische
und rechtliche Gesichtspunkte zu diskutieren. Im Mittel-
punkt wird die Frage stehen, ob eine Änderung des be-
stehenden Stammzellgesetzes wirklich nötig ist. Die An-
hörung wird voraussichtlich am 9. Mai stattfinden. Doch
eine gänzliche Abschaffung der Stichtagsregelung, so
wie es die FDP und die DFG in ihren Anträgen fordern,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7939
(A) (C)
(B) (D)
ist mit der Union nicht zu machen. Eventuell wäre eine
Verschiebung des Stichtages, so wie es sogar die EKD
vorschlägt, ein Kompromiss. Wir fordern die Forscher
auf, Alternativen zur jetzigen Regelung aufzuzeigen,
ohne eine grenzenlose Freigabe zu ermöglichen.
Rene Röspel (SPD): Am 30. Januar 2002 fand im
Bundestag die Grundsatzdebatte zum Thema Stammzell-
forschung und Embryonenschutz statt. Eine Vielzahl von
Fragen wurde in einer sehr ernsthaften Debatte ange-
sprochen: Wann beginnt menschliches Leben? Ab wann
kommt menschlichem Leben der grundgesetzlich garan-
tierte Schutz der Menschenwürde zu? Kann es gerecht-
fertigt sein, dass menschliches Leben (auch in seiner frü-
hesten Form) zu Forschungszwecken zerstört wird? Gibt
es Alternativen zur embryonalen Stammzellforschung?
Für diese parlamentarische Debatte und für die öffent-
liche Diskussion gab es eine ganze Reihe guter theoreti-
scher Grundlagen verschiedener Herkunft. Umfassende
Bewertungen der juristischen Hintergründe, des natur-
wissenschaftlichen und medizinischen Sachstands, mög-
licher Entwicklungen und der ethischen Problematik
wurden unter anderem von der Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages, durch Stellungnahmen der Kir-
chen, Forschungsorganisationen und der Wirtschaft ge-
liefert.
Die Antworten und Beiträge von 40 Abgeordneten
fielen unterschiedlich aus und basierten auf den indivi-
duellen Wertehaltungen. Zur Abstimmung standen drei
Anträge: die Ablehnung der Forschung mit embryonalen
Stammzellen, deren begrenzte Zulassung und ein An-
trag, der einen begrenzten Import von Stammzelllinien
zulassen wollte.
Die sehr intensive Diskussion von mehr als zwei Jah-
ren mündete letztlich in einer Entscheidung des Bundes-
tages für das Stammzellgesetz, das es erlaubt, vor dem
Stichtag 1. Januar 2002 hergestellte embryonale Stamm-
zelllinien unter bestimmten Bedingungen aus dem Aus-
land zu importieren. Auch wenn ich gegen die embryo-
nale Stammzellforschung war und bin, habe ich das
Stammzellgesetz wie viele andere mitgetragen, um es zu
einem starken Kompromiss zu machen. Das am 1. Juli
2002 in Kraft getretene Stammzellgesetz gibt deutschen
Forschern die Möglichkeiten, um die sie gebeten hatten.
Es hat die gesellschaftliche und parlamentarische De-
batte in einer ethisch umstrittenen Frage befriedet und in
ruhige Bahnen gelenkt. Wer diesen starken, nicht einmal
fünf Jahre jungen Kompromiss aufkündigen will,
braucht sehr gute Gründe.
Die FDP will mit ihrem vorgelegten Antrag diesen
Kompromiss aufheben. Nachvollziehbare – geschweige
denn gute – Gründe aber liefert sie nicht. Die FDP
spricht in ihrem Antrag davon, dass bei der embryonalen
Stammzellforschung die Entwicklungen zeigten, dass
die Aussichten auf neue Heilungsmethoden für
schwerste Erkrankungen wie zum Beispiel Herzinfarkt
und Multiple Sklerose am größten sind. Ist das wirklich
so?
In den letzten Jahren hat es bereits gigantische Inves-
titionen in die Stammzellforschung gegeben. Aus dem
Bundeshaushalt der USA wurden seit 2001 130 Millio-
nen US-Dollar für die Forschung mit embryonalen
Stammzellen ausgegeben. Der US-Bundesstaat Kalifor-
nien stellt 3 Milliarden US-Dollar für eine Stammzellini-
tiative für die nächsten zehn Jahre zur Verfügung. Davon
sind allein 300 Millionen US-Dollar für humane embryo-
nale Stammzellen vorgesehen – ein Programm für adulte
Stammzellen ist allerdings nur angekündigt. Großbritan-
nien förderte die Stammzellforschung bis 2005 mit jähr-
lich 40 Millionen Euro, ab 2006 sogar mit 75 Millionen
Euro jährlich. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist
nicht untätig geblieben. Über das Bundesministerium für
Bildung und Forschung wurden seit 1999 13 Millionen
Euro und über die Deutsche Forschungsgemeinschaft
über 50 Millionen Euro für Stammzellforschung ausge-
geben. Allerdings: Der Großteil der deutschen Mittel
wird für die ethisch unproblematische adulte Stammzell-
forschung verwendet.
Sieht man sich vor diesem Hintergrund die Ergeb-
nisse an, wie sie der Stellungnahme der DFG, dem
Stammzellbericht oder der Ausarbeitung des wissen-
schaftlichen Dienstes entnommen werden können, wird
deutlich, dass es trotz der immensen vom Ausland einge-
setzten Mittel keinerlei therapeutischen Ansätze mit em-
bryonalen Stammzellen des Menschen gibt. Berichte
über erfolgreiche Versuche stammen maximal von Tier-
modellen. Zu den adulten gewebespezifischen Zellen
schreibt die DFG jedoch auf Seite 21 unten:
… die therapeutische Nutzung gewebespezifischer
Stammzellen ist bisher nur in Ausnahmefällen
möglich.
Es stimmt, dass adulte Stammzellen nur in Ausnah-
mefällen therapeutisch genutzt werden können, aber sie
können benutzt werden. Bei embryonalen Stammzellen
gibt es die Therapie nicht einmal im Ansatz.
Liegen wir also so falsch, wenn wir die begrenzten
Mittel für die schon therapeutisch nutzbaren adulten
Stammzellen verwenden und nicht den ethisch umstritte-
nen Weg gehen? Nein. Wir sollten uns sogar noch stär-
ker auf Stammzellen aus Nabelschnurblut und andere
Alternativen konzentrieren.
Die FDP spricht in ihrem Antrag wieder davon, em-
bryonale Stammzellforschung sei „ein Gebot der Ethik“.
Ich halte das für falsch. Ein Gebot der Ethik ist es, end-
lich bei den vielen betroffenen kranken Menschen nicht
durch falsche Heilsversprechen Hoffnungen zu wecken,
die nicht erfüllbar sind.
Wir wollen keine falschen Hoffnungen wecken, son-
dern verantwortungsvoll mit ethisch schwierigen Fragen
umgehen. Deshalb haben wir für den Mai die Durchfüh-
rung einer Ausschussanhörung beschlossen, in der wir
mit externen Sachverständigen darüber diskutieren wer-
den, ob die Begründungen der Befürworter ausreichen,
um den Stammzellkompromiss aufzukündigen.
Ulrike Flach (FDP): Ziel des FDP-Antrages ist es,
den Glaubensstreit um die Forschung an embryonalen
7940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Stammzellen auf rationale Entscheidungen zurückzufüh-
ren. Wir wollen nicht aufrechnen, ob die Forschung mit
embryonalen Stammzellen oder mit adulten Stammzellen
erfolgversprechender ist; wir brauchen beides und wir
haben bei beidem Erfolge und Rückschläge. Wir wollen
deutlich machen, dass die bisherige Regelung weder
denjenigen dient, die aus moralischen Gründen jede For-
schung an embryonalen Stammzellen ablehnen, noch
jenen, die aus ebenso moralischen Gründen jede Chance
zur Entwicklung von Therapien für schwere Krankheiten
nutzen wollen.
Fakt ist: Wer fundamentalistisch jede Forschung ablehnt,
der kann auch mit einer Verschiebung des Stichtages
nicht zufrieden sein. Das ist der Widerspruch im Vorschlag
von Bischof Huber: Entweder ist die Forschung mora-
lisch nicht zu rechtfertigen; dann ist sie es zu keinem
Zeitpunkt der Entstehung der Embryonen. Oder sie ist
es, und dann ist sie moralisch sogar geboten, um kranken
Menschen zu helfen. Dann bedarf es aber keines Stichtages.
Wir meinen, wir brauchen inzwischen dringend eine
Abschaffung des Stichtages: erstens, weil unsere Wis-
senschaftler keinen Zugang zu Stammzelllinien haben,
die jünger als fünf Jahre sind. Diese älteren Linien sind
zum Teil kontaminiert, sie spielen in internationalen
Forschungsprojekten keine Rolle mehr, und sie sind für
unsere Forscher oft nur mit Auflagen und finanziellen
Aufwendungen nach einem langen Genehmigungsverfah-
ren nutzbar. Die deutsche Stammzellforschung isoliert
sich international, weil Kooperationen immer unter dem
Damoklesschwert der Strafbarkeit von Mitwirkung an
Forschung im Ausland stehen.
Deshalb brauchen wir zweitens eine Entkriminalisierung
mit der Streichung der Auslandstatbestände. Es kann
nicht sein, dass ein deutscher Wissenschaftler, der seinem
englischen Kollegen Literatur schickt oder ihn telefonisch
berät, Angst haben muss, sich strafbar zu machen. Das
ist nicht nur die Meinung der FDP und der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, sondern auch vieler Abgeord-
neter in nahezu allen Fraktionen dieses Hauses.
Deshalb werden wir als Liberale bei allen Abgeordneten
dafür werben, den Forschern in Deutschland die Mög-
lichkeiten zu geben, die Wissenschaftler in Ländern mit
uns verwandten ethischen Normen und Standards haben:
Großbritannien, Belgien, Skandinavien. Das sind Länder,
deren Menschenrechtsverständnis dem unseren nicht
nachsteht und in denen die Kirchen zum Teil eine völlig
andere Linie vertreten.
Heilsversprechen sind fehl am Platze; das wissen wir,
und das hat auch die DFG in ihrem sehr zurückhaltenden
Gutachten deutlich gemacht.
Wir gehen davon aus, dass diese Fragen wie in der
Vergangenheit auch diesmal vom Parlament ohne Druck
aus der Regierung in Form von Gruppenanträgen ent-
schieden werden. Insofern ist es schade, dass die heutige
Debatte nicht zu einer günstigeren Tageszeit stattfindet;
denn wir wollen für dieses Thema eine große Medien-
aufmerksamkeit und eine breite Diskussion in der Öffent-
lichkeit.
Die Umfrage zur Akzeptanz der Stammzellenforschung
gibt nämlich nur einen Teil der öffentlichen Meinung
wieder. Es ist immer eine Frage der Fragestellung: Wenn
Sie fragen: Wollen Sie, dass Embryonen für die Forschung
getötet werden, werden Sie ein überwiegendes Nein
bekommen. Wenn Sie fragen, wollen Sie, dass embryonale
Stammzellen für die Therapie schwerstkranker Menschen
genutzt werden können, werden Sie ein überwiegendes Ja
bekommen. Deshalb sind solche Momentbefragungen
wenig aussagekräftig.
Das Thema muss wieder auf die Tagesordnung: Unser
FDP-Antrag gibt die Initialzündung zur Befassung im
Forschungsausschuss. Ich bin sicher, dass sich nach der
Anhörung im Frühjahr fraktionsübergreifende Gruppen
bilden werden; und das ist auch gut so. Die Entschei-
dungskompetenz liegt beim Parlament und nicht bei der
Bundesregierung. Ich freue mich auf viele Gespräche
mit den Kollegen und werbe für unsere liberale Position.
Monika Knoche (DIE LINKE.): Schon die Problem-
beschreibung, die den FDP-Antrag einleitet, ist nicht
korrekt. Die Begründung entspricht nicht dem Stand
heutiger Erkenntnisse. Es ist nämlich mitnichten richtig,
dass das Stammzellgesetz aus dem Jahr 2002 die deut-
sche Forschung in die internationale Isolation verweist.
Richtig ist, dass es zu erstaunlichen neuen Funden ge-
kommen ist. Der durch das Gesetz bewusst gesetzte
Stichtag hat sich nicht als Forschungshindernis erwie-
sen, sondern die Forschung nach Alternativen angeregt.
Denn neben den bekannten embryonalen Stammzellen
im Nabelschnurblut konnten zum Beispiel neben ande-
ren embryonalen Stammzellfunden jetzt auch embryo-
nale Stammzellen im Fruchtwasser gefunden werden.
Das ist ein großartiger Gewinn für die Grundlagenfor-
schung. Hier kann sich die Forschungslandschaft „frei“
bedienen und Erkenntnisse gewinnen, ohne dass ein
Mensch in einem frühen Stadium der Verzweckung ge-
opfert würde.
Das herausragende Gebot der Menschenwürde, das
einzuhalten dem Gesetzgeber auferlegt ist, hat erwiese-
nermaßen nicht zu einem Ende der embryonalen Stamm-
zellforschung geführt; sie kann auf ethisch unproblema-
tische Felder verlegt werden. Die Forderung der adulten
Stammzellforschung ist richtig und sollte auch weiter
mit öffentlichen Mitteln stärker unterlegt werden. Dane-
ben sollten aber auch neue Wege zur Gewinnung embryo-
naler Stammzellen, ohne Embryonen töten zu müssen,
vorrangig gefördert werden.
Diesen gewichtigen neuen Sachverhalt würdigen Sie
von der FDP leider nicht, obgleich er davon zeugt, dass
es keiner Verwerfung und Vernichtung des menschlichen
Lebens in seinen frühesten Stadien bedarf, um mehr über
das Geheimnis des Werdens des Menschen zu erfahren.
Der Deutsche Bundestag hat in einer verantwortungs-
vollen Art und Weise im Jahr 2002 einen Kompromiss in
der Frage des Imports embryonaler Stammzellen gefun-
den. Wie viele andere Abgeordnete im Hause bin auch
ich bei der Auffassung geblieben, dass die Gültigkeit
des Menschenwürdeprinzips als historisch-humanisti-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7941
(A) (C)
(B) (D)
sche Leistung in unserem Grundgesetz schon durch die-
sen Kompromiss verletzt wird. Jedoch, niemand der
Gegnerinnen und Gegner des Stammzellimports hat sich
gegen die Stammzellforschung ausgesprochen, wohl
aber ist der Forschungsschwerpunkt auf die adulte
Stammzellforschung gelegt worden. Denn schon nach
wenigen Jahren hat sich die Wichtigkeit der adulten Zel-
len für Therapien erwiesen. Die embryonale Stammzell-
forschung kann dies natürlich nicht aufweisen. Dies
müssen Sie in Ihrem Antrag registrieren und dürfen nicht
ein verzerrtes Bild zeigen.
Das im Jahr 2007 entstandene Papier des Wissen-
schaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages kann
der embryonalen Stammzellenforschung, bezogen auf
die von Ihnen behaupteten Potenziale, nur ein schmales
Zeugnis ausstellen. Frühestens in 20 Jahren können
eventuell die Grundlagenforschungen Ergebnisse zeiti-
gen. Was für welche das dann sein werden, wissen wir
nicht.
Was wir aber heute genau wissen, ist, dass adulte
Stammzellen seit vier Jahrzehnten klinisch angewandt
werden können. Dabei werden bei verschiedenen Indika-
tionen gute Effekte erzielt. Insbesondere ist in einigen
Fällen nicht klar, wie die gesundheitsfördernden Wir-
kungen zustande kommen. Hier noch intensiver zu for-
schen und mehr Geld aufzuwenden ist vor dem ethischen
Hintergrund und angesichts des Heilungsauftrages und
Leidlinderungsanspekts das Gebot der Stunde. Und hier
soll sich Deutschland etablieren – als der internationale
Standort für adulte Stammzellforschung. Das halten wir
für besonders anstrebenswert.
Im Januar 2007 gab es in den USA 1 229 klinische
Studien mit adulten Stammzellen, und die Grundlagen-
forschung, das Tagesgeschäft, sind eben klinische Stu-
dien mit embryonalen Stammzellen.
Wenn Sie von der FDP sagen: „Die Ausschöpfung der
Heilungsmöglichkeiten bei Krankheiten wie dem Herz-
infarkt, wie sie zum Beispiel durch die embryonale
Stammzellforschung entwickelt werden können, ist ein
Gebot der Ethik“, dann ist das nahe an Irreführung. Ob
sich mit solchen Botschaften heute noch Börsenhypes
erzielen lassen, sei dahingestellt. Einzig für die Patent-
gebung mag derzeit Nutzen generiert werden. Aber das
ist nicht der Handlungsauftrag des Gesetzgebers.
Bezogen auf die menschenrechtliche und verfas-
sungsdogmatische Einordnung der Frage des Status des
Embryos, den der Bundestag im Jahr 2002 im Stamm-
zellgesetz und im Embryonenschutzgesetz vorgenom-
men hat, muss man schon staunen, mit welcher Chuzpe
die FDP-Fraktion ihren Antrag begründet. Sie sagt: Üb-
rig gebliebene Embryonen, die nicht den Uterus der Frau
erreichen, sollen künftig für die Gewinnung von Stamm-
zellen vernichtet werden können. Dazu sage ich: Leben
ist zweckfrei. Das gilt auch für den Embryo in einem
frühen Stadium, der aus der künstlichen Befruchtung
entstanden ist.
Ihrem hierin geäußerten Utilitarismus, ihrer Nützlich-
keitsethik fehlt jedwede verfassungs- und menschen-
rechtliche Einordnung und Begründung. Dass die FDP
einen so wenig komplex begründeten Antrag vorlegt, er-
staunt mich. Dass sie bezogen auf die Embryonenver-
werfung das Wort von der Doppelmoral einführt, mutet
befremdlich an.
Zwar bin auch ich der Auffassung, dass der beste-
hende Stammzellimportkompromiss eine Doppelmoral
darstellt. Deutsche Embryonen dürfen nicht getötet wer-
den, ausländische embryonale Stammzellen aber impor-
tiert werden. Zwischen Leben und Tod gibt es keinen
Kompromiss. Die Natur kennt nur je einen der Zustände.
Daran kommt auch eine Gesetzesakrobatik nicht vorbei.
Aus dem Stammzellkompromiss aber zu schlussfolgern,
es sollten gleich alle Regeln fallen, im Sinne von
„anything goes“, ist meines Erachtens ein Zeugnis da-
von, dass Sie einer interessengeleiteten Ethik den Vor-
zug geben, einer Ethik, die bar von Barrieren ist. Das ist
nicht der Grundgesetzauftrag, den ich aus der Verfas-
sung ablese.
Der FDP-Antrag ist heute in der ersten Lesung. Es
wird eine öffentliche Anhörung geben. Dabei werden der
Zweite Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die
Durchführung des Stammzellgesetzes und die Ausarbei-
tung des Wissenschaftlichen Dienstes hilfreiche Beach-
tung finden. Und so, hoffe ich, werden korrekte Darstel-
lungen über das Leistungsvermögen von embryonalen
Stammzellen für Therapien dazu beitragen können, dass
Sie Ihre meines Erachtens übereuphorischen Erwartun-
gen an die embryonale Stammzellforschung den Realitä-
ten anpassen. Meine persönliche Erwartung ist auch,
dass der Deutsche Bundestag den gebotenen Respekt ge-
genüber der Gesetzgebung von 2002 aufbringt und seine
Zukunftsfähigkeit anerkennt. Wir haben uns als Abge-
ordnete der 14. Legislatur diesen Aufgabe gestellt und
ein Gesetz geschaffen, dessen ethischer und rechtlicher
Bestand sich nicht einfach relativieren lässt.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ende letzten Jahres ist die Debatte um das deut-
sche Stammzellgesetz wieder neu entflammt, seit die
DFG ihre Stellungnahme zur Änderung des Stammzell-
gesetzes vorgestellt hat. Die Forderungen nach Aufhe-
bung der Stichtagsregelung werden damit begründet,
dass das Gesetz die Forschung in Deutschland behin-
dere. Durch den Gesetzesentwurf der FDP wird die For-
derung der DFG nun ins Parlament getragen und zur Ab-
stimmung gestellt.
Die damalige Festlegung auf eine gesetzliche Rege-
lung für die Stammzellforschung war eine Verständi-
gung, die von Abgeordneten getroffen wurde in Abwä-
gung ethischer Positionen und der Möglichkeit,
Grundlagenforschung zu betreiben. Gibt es nun gravie-
rende Gründe, diesen gesellschaftlichen Frieden aufzu-
kündigen? Die DFG führt dazu drei Hauptargumente an:
erstens wissenschaftliche Gründe, zweitens rechtliche
Gründe und drittens ethische Gründe.
Zu Punkt eins. Als erheblichen Nachteil nennt die
DFG die Verunreinigung der embryonalen Stammzellli-
nien, die vor 2002 gewonnen wurden. Internationale
Forschungsergebnisse mit neueren embryonalen Stamm-
zelllinien in der Grundlagenforschung zeigen allerdings
7942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
keine wesentlichen Erfolge, die Aussicht auf Anwen-
dung in klinischen Studien und therapeutischen Erfolg
geben würden.
Weiterhin betont die DFG selbst, dass derzeit kein se-
riöser Wissenschaftler einen Antrag auf klinische Stu-
dien stelle, da die Forschung mit neueren embryonalen
Stammzellen noch weit entfernt sei von dem Stadium,
damit klinische Forschung zu betreiben. Auch sagen sie,
dass alle embryonalen Stammzellen, also auch die neuen
Stammzelllinien, mit der Zeit durch genetische und epi-
genetische Veränderungen instabil würden und stärker
zu Mutationen neigten.
Eine Verschiebung des Stichtags, wie der Vorsitzende
des Rates der Evangelischen Kirche Deutschland, Bi-
schof Wolfgang Huber, vorschlug, ist demnach wenig
sinnvoll und würde sich zu einem nachlaufenden Stich-
tag entwickeln, da auch die dann neu zugelassenen
Stammzellen irgendwann genetische bzw. epigenetische
Veränderungen aufweisen würden.
Zu Punkt zwei. Das rechtliche Argument der DFG ist,
dass die mögliche Kriminalisierung durch das Stamm-
zellgesetz nach wie vor einen erheblichen Nachteil für
deutsche Forscher darstellen würde, da diese aus Angst
vor Strafbarkeit sich nicht an Forschungsprojekten der
embryonalen Stammzellforschung beteiligen würden.
Zunehmend würden deutsche Forscher über Probleme in
der Zusammenarbeit mit Forschern im Ausland auf die-
sem Gebiet klagen.
Der Inlandsbezug der entsprechenden Regelung im
Stammzellgesetz bei Verstoß gegen die Genehmigung
von Einfuhr und Arbeit an embryonalen Stammzellen in
Deutschland ist nach wie vor unbestritten. Die Frage, ob
es Beihilfe zu einer Straftat sei, wenn ein deutscher For-
scher mit einem ausländischen Forscher ein Telefonat
über ein Projekt mit embryonalen Stammzellen führt, die
nach 2002 gewonnen wurden, verunsichere die Forscher.
Dies führe zu Nichtbeteiligung an internationalen Pro-
jekten auf diesem Gebiet.
Wir sehen dieses angebliche Problem nicht so, nicht
nur, weil es dazu unterschiedliche rechtliche Ausarbei-
tungen gibt, sondern auch, weil unter anderem bisher
keine Anzeige wegen Beihilfe zu einer Straftat bekannt
ist. Trotzdem nehmen wir das Argument, dass Forscher
deswegen verunsichert sein könnten, ernst und werden
uns in einer Anhörung im Forschungsausschuss im Mai
Klarheit verschaffen.
Zu Punkt drei. Neue ethische Gesichtspunkte haben
sich seit der Debatte um das Stammzellgesetz 2002 nicht
ergeben. Der ethische Konflikt um die verschiedenen
Positionen zur Menschenwürde konnte schon damals
nicht ausgeräumt werden. Bedenken gegen den Ver-
brauch menschlicher Embryonen für Forschung und the-
rapeutische Anwendung bestehen immer noch, und es
gibt keine neuen Erkenntnisse, die Waagschale in die
eine oder andere Richtung zu verschieben.
Das hat auch erst kürzlich eine Umfrage von Infratest
ergeben. Frau Flach sagte hierzu in den Medien, dass
Umfragen nicht ihre Politik bestimmen würde. Anschei-
nend gilt das nur für bestimmte Umfragen; denn noch in
einer Rede im Bundestag im September drängten Sie auf
eine Änderung des Stammzellgesetzes, weil „laut Um-
frageergebnissen“ deutsche Stammzellforscher auswan-
dern würden.
Wir halten das bestehende Stammzellgesetz nach wie
vor für richtig und sehen keinen Anlass für Abschaffung
oder Verschiebung des Stichtages. Diese Haltung wird
nicht zuletzt durch die Ergebnisse des 2. Erfahrungsbe-
richtes der Bundesregierung zum Stammzellgesetz und
die jüngste Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Diens-
tes bestätigt.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Unterrichtung: Vorschlag für eine Verord-
nung des Rates zur Errichtung einer Agen-
tur der Europäischen Union für die Grund-
rechte
Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur
Ermächtigung der Agentur der Europäi-
schen Union für die Grundrechte, ihre Tä-
tigkeiten in den Bereichen nach Titel VI des
Vertrags über die Europäische Union auszu-
üben
– Antrag: Die Rechte der Bürgerinnen und
Bürger in der EU stärken – Mandat der
Grundrechteagentur sinnvoll ausgestalten
– Antrag: Eine Grundrechteagentur der EU
wird nicht gebraucht
(Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9)
Holger Haibach (CDU/CSU): Die Einrichtung einer
Agentur für die Grundrechte auf EU-Ebene hat den
Deutschen Bundestag in vielen Ausschusssitzungen und
einigen Plenardebatten beschäftigt. Das ist auch richtig
so. Denn an der Einrichtung dieser Agentur kann man
exemplarisch eine der Grundfragen des internationalen
Grund- und Menschenrechtsschutzes festmachen: Wie
viele neue Institutionen, Vereinbarungen und Überein-
kommen braucht es zum Schutz der Menschenrechte?
Wo soll in Zukunft unser Schwerpunkt liegen? Bei der
Umsetzung und Stärkung der bereits reichlich vorhande-
nen Instrumente und Verträge oder bei der Schaffung
von neuen?
Mein Eindruck, den ich in fünf Jahren Beschäftigung
mit Menschenrechten gewonnen habe, ist, dass es uns nicht
an Institutionen und Papieren fehlt, sondern vielerorts an
dem Willen, die Leitsätze der Grund- und Menschen-
rechte Wirklichkeit werden zu lassen. Insofern, und das
kommt ja auch im Antrag der Koalition zum Ausdruck,
gab und gibt es Gründe, an der Sinnhaftigkeit und dem
Mandat der Grundrechteagentur zu zweifeln. Zweifel
sind auch deshalb erlaubt, weil es bei den vorhandenen
Instrumenten oftmals nicht nur an dem Willen zur Durch-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7943
(A) (C)
(B) (D)
setzung mangelt, sondern auch an den entsprechenden
Ressourcen, vor allem an Personal und Geld.
Die EU verfügt bereits über ein beachtliches Instrumen-
tarium zum Grundrechte- und Menschenrechtsschutz.
Darüber hinaus gibt es mit dem Europäischen Men-
schenrechtsgerichtshof eine ausgesprochen glaubwürdige
und erfolgreiche Institution, an die sich Menschen in den
Mitgliedstaaten des Europarats und damit auch der EU
wenden können, um ihre individuellen Anliegen vorzu-
bringen und durchzusetzen. Dieser Menschenrechts-
gerichtshof hat sich in den letzten Jahren als dermaßen
erfolgreich erwiesen, dass er inzwischen – so paradox es
klingen mag – an diesem Erfolg quasi zu ersticken droht,
weil die Zahl der anhängigen und nicht erledigten Fälle
von Jahr zu Jahr immer größer wird und mittlerweile bei
über 80 000 liegt. Dem ist nur abzuhelfen, wenn der
Gerichtshof reformiert wird – hier sei auf das 14. Zusatz-
protokoll zur EMRK verwiesen. Und gleichzeitig bedarf es
eben auch eines erhöhten Einsatzes von Ressourcen – Geld
und Personal. Wenn also der gesamte Europarat inklusive
des Gerichtshofes mit gerade einmal 15 Millionen Euro
pro Jahr finanziert wird und gleichzeitig für die Grund-
rechteagentur beinahe 30 Millionen Euro im endgültigen
Ausbau bereitgestellt werden sollen, dann muss die
Frage erlaubt sein, ob die Mittel richtig gewichtet und
eingesetzt sind.
Wenn denn nun so viel Geld für diese Agentur zur
Verfügung steht, dann gilt es jetzt, darauf zu achten, dass
die Agentur einen klaren Auftrag bekommt und dass
Doppelungen mit den Aufgaben des Menschenrechts-
gerichtshofs vermieden werden. Dieser Aufgabe tragen
meiner Meinung nach die Bemühungen der Bundes-
regierung Rechnung. Dies zeigt sich unter anderem darin,
dass ein Vertreter des Gerichtshofs ständig an der Arbeit
der Agentur beteiligt ist und somit eine Chance besteht,
dafür zu sorgen, dass Gerichtshof und Agentur sich
ergänzen und sich nicht doppeln; dass die Agentur ihre
Aufgabe, nämlich Hilfe bei Implementierung und Be-
obachtung der Menschrechtslage innerhalb der EU, so
wahrnimmt, dass ihre Arbeit einen tatsächlichen Mehr-
wert bietet.
Deshalb spreche ich auch dafür, die Beschlussemp-
fehlung des Europaausschusses zu unterstützen, weil ich
der Überzeugung bin, dass sie den Bedenken des Bundes-
tags Rechnung trägt und zum anderen aber auch die
Tatsache anerkennt, dass es aller Voraussicht nach eine
solche Agentur geben wird. Es mag verwundern, dass
auch die Menschenrechtspolitiker in diesem Hause sich
schwertun mit der neuen Agentur. Aber gerade uns ist
sehr bewusst, dass ein Mehr von Gremien nicht immer
automatisch auch ein Mehr an Grund- und Menschen-
rechten bedeutet. Zusammenfassend gilt: Wir haben
viele Institutionen, wir produzieren viel Papier. Was wir
jetzt und in Zukunft brauchen, ist der Wille zur Tat.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Fast ein Jahr lang
haben wir uns nun ausführlich und immer wieder mit der
Errichtung einer EU-Grundrechteagentur befasst. Eine
der Schwierigkeiten in dieser Debatte lag darin, dass die
Regierungen der EU-Mitgliedstaaten schon einige Jahre
länger über dieses Vorhaben verhandeln. Dieser Um-
stand wird uns bei EU-Vorlagen weiterhin regelmäßig
begegnen. Die vorbereitenden Arbeiten auf EU-Ebene
sind meist schon weit gediehen, bis wir im Bundestag
förmlich über eine Initiative unterrichtet werden.
Um auf die Beschlussfassung im Rat Einfluss nehmen
zu können, ist es deshalb besonders wichtig, die Ver-
handlungen auf der Arbeitsebene kritisch und vor allem
ständig zu begleiten. Darum haben wir uns mit großem
Einsatz, wenn auch mit nur bescheidenem Erfolg be-
müht. Den beteiligten Kolleginnen und Kollegen aus al-
len Fraktionen danke ich dafür, dass wir uns bei dem
Vorschlag zur Errichtung einer EU-Grundrechteagentur
eine Art „schwebende Zuständigkeit“ erhalten haben,
die nach meinem Dafürhalten unsere generelle Verfah-
rensweise bei EU-Vorlagen werden muss, mit denen wir
uns näher auseinandersetzen wollen. Solche Vorhaben
dürfen nicht mit einer einmaligen Befassung im Aus-
schuss abgewürgt werden, sondern müssen so lange of-
fen gehalten werden, bis die Beschlussfassung in Brüssel
erfolgt ist. Unsere intensiven Beratungen zur EU-Grund-
rechteagentur in gleich fünf Ausschusssitzungen waren
insoweit stilbildend.
In der Sache nehme ich zur Kenntnis, dass die Bun-
desregierung an der bereits im Jahr 2003 getroffenen po-
litischen Grundentscheidung festhält, eine Agentur der
Europäischen Union für die Grundrechte zu errichten.
Die Tatsache, dass diese Zusage offenbar Bestandteil ei-
nes Verhandlungspakets war, zu dem unter anderem die
Errichtung der Europäischen Agentur für Flugsicherheit
in Köln zählte, macht die Haltung der Bundesregierung
zwar nachvollziehbar, aber nicht leichter akzeptabel.
Den erheblichen und von allen Seiten dieses Hauses ge-
äußerten Bedenken kommt es entgegen, dass die Agen-
tur wenigstens nicht auf eigene Initiative im Bereich der
polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Straf-
sachen tätig werden darf und ihre Arbeit grundsätzlich
auf die EU und ihre Mitgliedstaaten begrenzt bleibt.
Da der Verordnungsvorschlag nicht der Zustimmung
des Bundestages bedarf, zu der ich mich – wie ich schon
im Europaausschuss unablässig deutlich gemacht habe –
niemals bereitgefunden hätte, müssen wir uns darauf
konzentrieren, vernünftig zu gestalten, was wir nicht
mehr aufhalten können. Es freut mich sehr, dass wir uns
in breitem Einvernehmen darauf verständigen konnten,
eine deutlich geringere personelle und finanzielle Aus-
stattung der Grundrechteagentur anzustreben, als die
Kommission vorgeschlagen hat. Es wäre nachgerade
grotesk, wenn wir für Beamte, die über die Lage der
Grundrechte im Allgemeinen Daten sammeln und Be-
richte schreiben, mehr Geld übrig hätten, als etwa dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Ver-
fügung steht, bei dem 80 000 Verfahren zu konkreten
Menschenrechtsverletzungen anhängig sind. Es ist daher
nur folgerichtig, dass wir uns gemeinsam für eine bes-
sere Ausstattung des Menschenrechtsgerichtshofes in
Straßburg aussprechen. Der Bundesregierung möchte ich
ausdrücklich für ihre Bereitschaft danken, uns in diesen
Punkten mit allen ihr zu Gebote stehenden Möglichkei-
ten nachhaltig zu unterstützen.
7944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Wir müssen die Errichtung der Grundrechteagentur
zum Anlass nehmen, die stetig wachsende Zahl neuer bü-
rokratischer Einrichtungen der EU sehr kritisch zu hin-
terfragen. Ich hege eine grundlegende Abneigung gegen
das Ansinnen, immer neue Sonderbehörden zu schaffen,
weil es unserem erklärten Ziel, Bürokratie abzubauen, dia-
metral widerspricht. Die EU-Verwaltung verliert gewal-
tig an Effizienz, wenn immer mehr Aufgaben auf neue
Einrichtungen verlagert werden, die meist nicht in die
Kommission eingegliedert sind, sondern ihr Eigenleben
führen.
Dieses Phänomen der „Institutionitis“ muss dringend
therapiert werden. Wir werden uns deshalb in den nächs-
ten Monaten daran machen, die Tätigkeit und Ausstat-
tung aller EU-Agenturen – der bestehenden ebenso wie
der geplanten – systematisch zu überprüfen und Vor-
schläge zur Verwaltungsvereinfachung und zum Büro-
kratieabbau vorzulegen. Die EU-Verwaltung darf nicht
länger als Steinbruch für nationale Begehrlichkeiten
missbraucht werden, sondern muss im Interesse der Bür-
gerinnen und Bürger schlankere und effizientere Struktu-
ren erhalten.
Christoph Strässer (SPD): Im Zuge der fortschrei-
tenden Integration und gerade auch des Erweiterungs-
prozesses spielt die Achtung der Menschenrechte auch
in der EU eine immer größere Rolle. Das ist eine wich-
tige Entwicklung. Insofern ist die Idee einer EU-Grund-
rechteagentur zur Stärkung des präventiven Menschen-
rechtsschutz in der EU vom Grundsatz her richtig und
wichtig.
Die neue Grundrechteagentur soll den relevanten Or-
ganen, Einrichtungen und Agenturen der Gemeinschaft
und deren Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Ge-
meinschaftsrechts in Bezug auf die Grundrechte Unter-
stützung gewähren und ihnen Fachkenntnisse bereitstel-
len, um ihnen die uneingeschränkte Achtung der
Grundrechte zu erleichtern. Die Behörde soll zugleich
erfolgreiche Beispiele für den Schutz der Grundrechte in
den EU-Staaten aufzeigen. Sie beschäftigt sich außer-
dem mit Fragen häuslicher Gewalt, der Einwanderung
und Diskriminierung, den Rechten von Asylbewerbern
sowie Fragen des gesellschaftlichen Mehrwerts durch
die Wahrung der Grundrechte. Dabei wird eine enge Zu-
sammenarbeit mit Sozialpartnern, Hochschulen und
Menschenrechtsorganisationen angestrebt. Die Agentur
soll anders als der Gerichtshof für Menschenrechte keine
Beschwerdeinstanz sein, sondern grundrechtsrelevante
Informationen sammeln und auswerten sowie die Öf-
fentlichkeit für Grundrechtsfragen sensibilisieren.
Diese Zielsetzung ist als prinzipiell sinnvoll zu begrü-
ßen.
Doch gab und gibt es große Bedenken bezüglich der
Ausgestaltung der Grundrechteagentur bis hin zu ihrer
völligen Ablehnung. Diese Bedenken, von denen ich ei-
nige teile, sind vor allem die befürchtete Doppelarbeit
und die überflüssige Konkurrenz von existierenden und
funktionierenden europäischen Menschenrechtsschutz-
institutionen. Auch meiner Ansicht nach darf es auf gar
keinen Fall dazu kommen, dass es eine Doppelung und
Konkurrenz von Institutionen gibt, die zu einer Ein-
schränkung des Menschenrechtsschutzes in Europa führt
und zudem eine Verschwendung von Steuergeldern zur
Folge hätte.
Es ist dennoch – gerade bei dem gegenwärtigen Ver-
handlungsstand – nicht mehr die Frage zu stellen, ob es
eine Grundrechteagentur geben soll, sondern wie sie
ausgestaltet sein muss, um unseren Ansprüchen von
Menschenrechtsschutz, Effektivität, Bürokratieabbau
und Bürgerfreundlichkeit zu entsprechen. Der nun ge-
troffene Kompromiss von 5. Dezember 2006 im Rat für
Justiz und Inneres versucht, nicht zuletzt aufgrund der
Forderungen Deutschlands, diesen vielfach geäußerten
Bedenken Rechnung zu tragen,
Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die
enge Begrenzung des inhaltlichen und räumlichen Tätig-
keitsbereichs der Agentur in diesem Kompromiss. In-
haltlich ist die Agentur begrenzt auf das Gemeinschafts-
recht. Sie beinhaltet den Verzicht auf eine Verpflichtung
der Einbeziehung der polizeilichen und justiziellen Zu-
sammenarbeit in Strafsachen. Um ein Ausufern der
räumlichen Anstrengungen der Grundrechteagentur zu
vermeiden, sind ihre Aktivitäten außerdem auf die EU
und deren Mitgliedstaaten beschränkt. Zudem hat die
Agentur keine Rolle im Bereich des Art. 7 EUV, welcher
ein Vorgehen bei Gefahr einer schwerwiegenden Verlet-
zung grundlegender Prinzipien wie Menschenrechte und
Demokratie durch einen Mitgliedstaat beinhaltet.
Schließlich, und das ist bezüglich der allgemein geäu-
ßerten Bedenken von besonderer Bedeutung, soll für die
Grundrechteagentur ein Kooperationsabkommen zwi-
schen der Gemeinschaft und dem Europarat zugrunde
gelegt werden. Um eine Verselbstständigung der Arbeit
der Agentur zu vermeiden, muss sie zudem ihre Arbeit
mit dem Europarat koordinieren. Um also Doppelarbeit
zu vermeiden und Synergien zu nutzen, ist eine beson-
ders enge Zusammenarbeit mit dem Europarat vorgese-
hen.
Diese Kompromisslinien sind grundsätzlich zu begrü-
ßen. Denn sie sind das Ergebnis der Vermeidung von
Doppelungen und sinnloser verschwenderischer Kon-
kurrenz.
Es bleiben jedoch noch offene Fragen, die mit dem
Kompromiss nicht geregelt werden konnten. So werden
Haushalt und Personal nicht in der Verordnung geregelt.
Sie sind vielmehr Gegenstand des ordentlichen Haus-
haltsverfahrens. Wir müssen uns deshalb weiterhin für
eine kooperativ und ökonomisch sinnvoll ausgerichtete
Grundrechteagentur starkmachen, die ihre Arbeit effek-
tiv verfolgen kann. Deshalb ist es nun in erster Linie
wichtig, die praktische Ausgestaltung der Grundrechte-
agentur achtsam zu begleiten. Grundsätzlich, und das ist
von besonderer Bedeutung, sollte die Installation der
Agentur zudem begleitet sein von dem Beitritt der Euro-
päischen Union zur EMRK. Denn damit würde man den
EU-Bürgern ermöglichen, den EGMR gegen grund-
rechtswidrige Akte der EU-Institutionen anzurufen. Ich
plädiere deshalb zum wiederholten Mal für den Beitritt
der EU zur EMRK und unterstütze damit ausdrücklich
hierauf gerichtete Aktivitäten der Bundesregierung. In
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7945
(A) (C)
(B) (D)
Kombination mit der Agentur würde so der Menschen-
rechtsschutz in Europa erheblich an Qualität gewinnen.
Außerdem muss der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte finanziell und personell deutlich besser
ausgestattet werden, damit die etwa 80 000 anhängigen
Verfahren in angemessener Zeit abgeschlossen werden
können. Denn das Menschenrechtsschutzsystem Euro-
pas wird von den Bürgern erst dann ernst genommen,
wenn ihre Klagen vor dem EGMR auch tatsächlich in ei-
nem angemessenen Zeitrahmen behandelt werden kön-
nen.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Die EU-Grundrech-
teagentur hat eine doppelte Aufgabenstellung – viel-
leicht ist die Debatte ja auch deshalb von doppelter Ver-
wirrung geprägt.
Aufgabe ist es, durch die Beobachtung der Grund-
rechteentwicklung in den Mitgliedstaaten, der Samm-
lung von Daten zum Beispiel über Rechtsextremismus
und Fremdenfeindlichkeit sowie durch fachkundige
Analysen alle Institutionen der EU und ihrer Länder bei
der uneingeschränkten Achtung der Grundrechte zu un-
terstützen.
Zugleich wird mit der Einrichtung einer dezentralen
Behörde in einem der Mitgliedstaaten, hier Österreich,
der föderale Charakter des europäischen Einigungspro-
zesses sichtbar gemacht und somit möglichen Gefähr-
dungen durch einen europäischen Zentralstaat entgegen-
gewirkt.
Die Debatte in Deutschland über die Grundrechte-
agentur hatte sich seit 2003 am Umfang der Aufgaben
und dem folgend an der finanziellen und personellen
Ausstattung entzündet. So weit, so verständlich.
Unverständlich ist, warum zum Beispiel die FDP erst
in der Schlussphase der Umsetzung die Einrichtung ge-
nerell infrage stellt. Das hat zweierlei Konsequenzen:
Zum einen tun die Liberalen so, als ließe sich jetzt
noch an der generellen Zustimmung zweier Bundesre-
gierungen etwas ändern. Wer in Europa bei einstimmi-
gen Beschlüssen wie in diesem Fall glauben machen
will, man könne in der Schlussrunde noch blockieren,
der schadet entweder deutschen Einflussmöglichkeiten
oder hat von den tatsächlichen Entscheidungsprozessen
in der EU keine Ahnung – schlimmstenfalls beides.
Der Deutsche Bundestag hat über drei Jahre hinweg
unsere Regierung positioniert und kontrolliert. Wir ha-
ben als Abgeordnete damit tatsächlich Einfluss auf Brüs-
seler Entscheidungen genommen, kritisch, wie es unsere
Aufgabe ist, zum Beispiel in Fragen Strafsachen, Ver-
meidung von Doppelarbeit und Verhinderung unnötiger
Bürokratie. Auch wenn wir nicht alle unsere Vorstellun-
gen realisieren konnten, so wissen wir doch, dass Ent-
scheidungen in Brüssel letztlich zwischen Rat und Parla-
ment getroffen werden müssen, und das ist auch richtig
so.
Zum anderen ist es völlig unglaubwürdig, wenn man-
che in Deutschland plötzlich eine neue Agentur im
Nachbarland Österreich ablehnen, obwohl wir uns bisher
als großer Profiteur dezentraler europäischer Einrichtun-
gen erwiesen haben. Ich erinnere daran: Das europäische
Währungsinstitut, heute als Europäische Zentralbank
wichtigstes neues EU-Organ, hat seinen Sitz in Frankfurt
am Main. Das europäische Patentamt – wenn auch for-
mal nicht eine EU-Behörde, so doch von herausragender
kontinentaler Bedeutung – arbeitet erfolgreich in Mün-
chen. Die europäische Agentur für Flugsicherheit konnte
auf unser Drängen hin in Köln angesiedelt werden.
Die neue Gleichstellungsagentur wurde von manchen
deutschen Politikern, die die Grundrechteagentur kriti-
siert hatten, jetzt ausdrücklich unterstützt – das mag ver-
stehen, wer will.
Die SPD-Bundestagsfraktion kann dem vorliegenden
Antrag, der natürlich auch ein Koalitionskompromiss ist,
voll zustimmen. Wir befinden uns damit auch im Ein-
klang mit den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten im Europäischen Parlament. Die FDP ist gleich
zweifach gespalten: zwischen der Bejahung des Grund-
rechteschutzes und der Ablehnung der Agentur im Bun-
destag einerseits und der Zustimmung der FDP in der li-
beralen Fraktion des EP zur Grundrechteagentur
andererseits. Mit einer solchen Haltung erreicht man in
der Politik auf Dauer bekanntlich nichts. Erreicht hat die
FDP allerdings, dass im Europäischen Parlament wie in
vielen anderen EU-Staaten Kopfschütteln und Unver-
ständnis über das herrscht, was seit zwei Monaten
öffentlich durch die Debatten im Europaausschuss aus-
getragen wurde. Die so wichtige deutsche Ratspräsident-
schaft darf allerdings nicht durch politische Unkenntnis
und taktische Spielchen beeinträchtigt werden.
Christian Ahrendt (FDP): Wir brauchen in Europa
weder eine Agentur für Gleichstellung noch eine Agentur
für Grundrechte. Diese Auffassung teilen viele Abge-
ordnete dieses Hauses. Die Regierungskoalition – und
so etwas kommt nicht sehr oft vor – hat daher auch ein
entsprechendes Votum in ihre Antragsbegründung aufge-
nommen. Dort ist vermerkt – ich zitiere –: „Von einigen
Abgeordneten wird die Einrichtung einer EU-Grund-
rechteagentur generell abgelehnt.“ Tatsächlich dürfte es
sich hierbei um die Mehrheit handeln. Und es gibt gute
Gründe, die Einrichtung einer Grundrechteagentur abzu-
lehnen:
Erstens. Aufgabe der Agentur ist es, grundrechtsrele-
vante Daten zu sammeln, etwa über die Folgen unions-
rechtlicher Maßnahmen. Weiter stehen im Aufgabenfokus
eine gutachterliche Tätigkeit sowie die Sensibilisierung
der Öffentlichkeit für Grundrechte. Ein wirklicher Bedarf
für ein solches Aufgabenspektrum besteht nicht. Ohne
Not werden für eine neue Bürokratie anfänglich Haus-
haltsmittel von 16 Millionen Euro bereitgestellt, die bis
zum Jahr 2013 auf jährlich 29 Millionen Euro anwachsen.
Mit dieser Agenturitis sind wir aber nicht am Ende. Die
nächste Agentur ist schon beschlossen. Der Agentur für
Grundrechte folgt die Agentur für Gleichstellung. Es
geht tatsächlich nicht um Grundrechte und Grundrech-
teschutz, sondern um Institutionenbildung, getreu dem
Motto: Jedem Mitgliedstaat seine eigene Institution.
7946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Zweitens. Das Geld für die Grundrechteagentur wäre
anderswo besser angelegt. Am Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte sind 89 900 Klagen wegen konkreter
Verletzungen von Grundrechten anhängig. Davon sind
im Jahr 2006 rund 23 400 Verfahren nicht einmal einer
Kammer zur Entscheidung zugewiesen worden. Die
Kläger warten bis zu fünf oder mehr Jahre auf ein Urteil.
Nun mag man meinen, so viele Gerichtsverfahren sprä-
chen förmlich für die Einrichtung einer Grundrechte-
agentur. Dies ist ein Trugschluss. Die Menschen wollen
bei der Verletzung ihrer Grundrechte konkrete Hilfe.
Deswegen wenden sie sich an den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte. Dies erklärt auch die
Zunahme der Klagen. Es gibt kein schärferes Schwert
für die Durchsetzung von Grundrechten als ein Gerichts-
urteil, in dem gegen einen beklagten Staat eine konkrete
Grundrechtsverletzung festgestellt wird. Wer also Grund-
rechte in Europa wirklich schützen und den Menschen
helfen will, plädiert für eine bessere finanzielle Ausstat-
tung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
Um 16 Millionen Euro höhere Zuwendungen an den
Europäischen Gerichtshof für Menschrechte im Jahr
2007 und bis 2013 dann 29 Millionen Euro würde eine
nachhaltige Verfahrensbeschleunigung bedeuten und
effektiven Grundrechteschutz schaffen. Die hohe Zahl
der Eingaben belegt zudem auch, dass die Menschen
längst für ihre Grundrechte sensibilisiert sind. Doch was
nützt jede Sensibilisierung, wenn die Chance einer
effektiven Rechtsdurchsetzung fehlt. Neue Bürokratien
und Datensammelstellen verbessern den Grundrechte-
schutz in Europa jedenfalls nicht.
Drittens. Die Bundesregierung hat mit ihrem Ja zur Ein-
richtung der Grundrechteagentur den Bundestag auf das
Schärfste brüskiert. Dass alle Fraktionen diese Einrichtung
für entbehrlich hielten, war vor der Abstimmung im
Europäischen Rat bekannt. Gleichwohl hat sich die
Regierung hierüber hinweggesetzt. Diese Missachtung des
Parlaments kann künftig nicht ohne Folgen bleiben. Der
Ausschuss für europäische Angelegenheiten muss des-
wegen in der Zukunft der Bundesregierung verbindliche
Vorgaben in der Europapolitik mit auf den Weg geben. Bei
der bloßen Ankündigung anlässlich des Streites um die
Grundrechteagentur kann es jedenfalls nicht bleiben.
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Mit einer Mehrheit
der Stimmen aus Vertretern der Union und der SPD hat
der EU-Ausschuss des Deutschen Bundestages gestern
der Errichtung einer EU-Grundrechteagentur mit Sitz in
Wien zugestimmt. Diese Entscheidung ist bedauerlich.
Wie bekannt ist, hat es hierüber im Ausschuss in den
Monaten vorher wiederholt kontroverse Diskussionen
gegeben. Wie die Vertreter der Linken, haben auch die
Kollegen von der FDP oft ihre Kritik an einer solchen
Agentur deutlich gemacht.
Die Fraktion Die Linke, ist gegen die Errichtung der
vorgesehenen Grundrechteagentur. Gründe hierfür gibt
es viele.
Ziel der Einrichtung sei, dass die Agentur den rele-
vanten Organen, Einrichtungen, Ämtern und Agenturen
der EU und deren Mitgliedstaaten bei der Durchführung
des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf die Grundrechte
unterstützen und Fachkenntnisse bereitstellen soll, um
ihnen die uneingeschränkte Einhaltung der Grundrechte
zu erleichtern. Es ist nach wie vor nicht ersichtlich, wa-
rum für diese Aufgabe eine solche Agentur aufgebaut
werden soll. Nebenbei bemerkt, ist die neoliberale Be-
zeichnung „Agentur“ für eine Einrichtung, die sich mit
dem Schutz von Grundrechten befassen soll, höchst un-
passend. Die bereits seit 1998 in Wien bestehende Euro-
päische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit ist mit den nötigen personellen
wie finanziellen Mitteln ausgestattet, wenn auch diese
Mittel bisher nicht effizient genug für die Bewältigung
der Aufgaben genutzt worden sind.
Zudem könnten andere, bereits vorhandene Institutio-
nen wie der Europarat durch eine personelle und finanzi-
elle Aufstockung die Funktionen, die nun die EU-
Grundrechteagentur“ haben soll, problemlos überneh-
men und diese Arbeiten sogar auf die Nachbarländer der
EU ausweiten. Diese wären nämlich: europaweit ver-
gleichbare Informationen und Daten zu sammeln, For-
schungsarbeiten durchzuführen und Gutachten zu erstel-
len.
Nach Auffassung der Fraktion Die Linke wäre der
Europarat die richtige Institution, in dessen Rahmen eine
solche Einrichtung entstehen sollte.
Für die Finanzierung des Aufbaus der vorgesehenen
Einrichtung und für die späteren Budgets ist eine schritt-
weise Aufstockung von 16 Millionen Euro im Jahr 2007
bis zu 29 Millionen Euro im Jahr 2013 geplant. Nur um
eine Vorstellung zu bekommen: Der Jahreshaushalt der
Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit, die bisher für diese Themen
zuständig war, beträgt 8 Millionen Euro. Würde man
weitaus geringere Summen, als für die Errichtung der
„Agentur“ vorgesehen sind, beispielsweise dem Europa-
rat zukommen lassen, könnte man innerhalb dieser be-
reits bestehenden Institution zu dem gleichen Ergebnis
kommen.
Wir benötigen in Europa einen Abbau der Bürokratie,
nicht den Aufbau weiterer Bürokratien. Zudem sollte
verantwortungsvoller mit den finanziellen Mitteln der
EU umgegangen werden. Die Funktionalität und Effi-
zienz sollten stets das Ziel von Investitionen sein. Mit
der Errichtung einer Grundrechteagentur in Wien wird
man diesem Anspruch nicht gerecht!
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eigentlich hatten wir erwartet, die Abgeordneten der
Koalition würden sich in dieser Woche vor allem darauf
konzentrieren, wenigstens die gröbsten Fehler ihrer völ-
lig vermurksten Gesundheitsreform zu beheben. Doch
wandten sich einige Koalitionsabgeordnete – sei es, um
sich davor zu drücken, oder, weil sie eh alle Hoffnungen
aufgeben haben – einem anderen Thema zu: der EU-
Grundrechteagentur.
Die Diskussion der letzten Monate zu diesem Thema
wird dem Schutz der Grundrechte in der EU leider nicht
gerecht. Wir alle wollen fraktionsübergreifend die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7947
(A) (C)
(B) (D)
Grundrechte in der EU und weltweit sichern. Wir alle
wollen eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik in der
EU. Wir alle wollen, dass Mängel im Bereich des
Grundrechteschutzes aufgehoben werden. Umstritten ist
hier einzig die Frage, ob der Grundrechteschutz in der
EU eine eigene Agentur braucht und wie eine solche
Agentur aussehen sollte. Diese Frage ist aus der Sicht
meiner Fraktion eher formaler Natur. Ganz anders ist
dies im Falle der Grundrechtecharta. Auf deren Inkraft-
treten muss die deutsche Ratspräsidentschaft einen abso-
luten Fokus legen. Mich verwundert daher, mit welcher
Intensität vor allem die FDP die Diskussion um die
Grundrechteagentur führt. Mit ihrem Antrag richten sie
ihren Blick in die Vergangenheit, aber leisten keinen
Beitrag zu der Herausforderung, vor der wir nun stehen.
Fakt ist, dass die Agentur zum 1. März 2007 ihre Ar-
beit aufnehmen wird. Daher geht es nun darum, das
Mandat der Agentur sinnvoll zu gestalten. Hierfür
möchte ich drei der zentralen Kriterien benennen:
Erstens. Es darf keine Doppelungen bei den Zustän-
digkeiten mit den bereits bestehenden Institutionen ge-
ben. Mit dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof
gibt es bereits eine funktionierende Struktur, die Anlauf-
stelle für die Bürgerinnen und Bürger Europas ist; sie ist
aber heillos überlastet. Dies darf bei der EU-Grundrech-
teagentur nicht der Fall sein. Sie ist keine Beschwerdein-
stanz, sondern soll auf Anfrage der EU-Organe grund-
rechterelevante Informationen zu den EU-Politiken und
deren Umsetzung in den Mitgliedstaaten sammeln und
auswerten. Dabei muss sichergestellt werden, dass die
Agentur ihre gesammelte Expertise dem Europäischen
Gerichtshof und dem Europäischen Menschenrechtsge-
richtshof bereitstellt.
Damit bin ich auch schon beim zweiten Kriterium. Es
ist unabdingbar, das Mandat der Agentur so auszugestal-
ten, dass sie wirklich unabhängig arbeitet und vor allem
inhaltlich tätig wird, wo ihr Input am meisten gebraucht
wird. Deshalb muss das Mandat der Agentur uneinge-
schränkt auch auf die Politiken der polizeilichen und jus-
tiziellen Zusammenarbeit ausgeweitet werden. Denn ge-
rade in diesem grundrechtesensiblen Bereich ist eine
zusätzliche Expertise häufig wünschenswert, um eine
bessere Folgenabschätzung der Politik zu unterstützen.
Drittens muss die geografische Reichweite der Agen-
tur neben den Mitgliedstaaten der EU auch die Beitritts-
länder, die Kandidatenstaaten und alle Staaten des west-
lichen Balkans, die seit dem Gipfel von Thessaloniki
über eine prinzipielle EU-Beitrittsperspektive verfügen,
umfassen.
Einige Worte zum Umgang der Bundesregierung mit
der Grundrechteagentur: Die Bundesregierung hat bei
der Aushandlung des Mandats der Agentur – ich zitiere
aus dem Brief der Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela
Merkel vom 24. Januar diesen Jahres an den Vorsitzen-
den des Europaausschusses – „eine restriktive Haltung“
eingenommen. Im Zuge der Verhandlungen ist der Bun-
desregierung irgendwann aufgefallen, dass die Agentur
mit dem Minimandat einen Personalstamm von etwa
100 Mitarbeitern vielleicht gar nicht mehr braucht. Statt
aber nun nochmals zu überdenken, ob die „restriktive
Haltung“ wirklich im Sinne des Grundrechteschutzes ist,
bringen die Koalitionsfraktionen im letzten Augenblick
einen Antrag ein, in dem sie für die Kürzung der Mittel
der Agentur kämpfen.
Dem Beobachter bleiben nur noch zwei Interpreta-
tionsmöglichkeiten: Entweder überblickte die Bundesre-
gierung nicht frühzeitig genug die Folgen ihres Handelns
– das wäre kein Zeugnis von Kompetenz – oder wir
haben es hier mit einer Salamitaktik der besonderen Art
zu tun: Am einen Ende beschneidet die Bundesregierung
die Kompetenzen der Agentur, am anderen Ende kürzen
die Koalitionsfraktionen deren Mittel. Das wiederum
wäre kein Zeugnis von Transparenz. Genau dies braucht
Europa aber, um die Vertrauenskrise der Bürgerinnen
und Bürger zu überwinden. Transparenz schafft Ver-
trauen. Dem tragen wir Grüne mit unserem Antrag
Rechnung. Wir hoffen dabei auf die breite Unterstützung
des Hauses.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Änderung des Bun-
despolizeigesetzes für Auslandseinsätze der
Bundespolizei (Tagesordnungspunkt 16)
Ralf Göbel (CDU/CSU): Wieder einmal versucht die
Linke mit einem Antrag den Eindruck zu erwecken, die
deutschen Sicherheitsbehörden würden sich verselbst-
ständigen und außerhalb des ihnen vorgegebenen rechtli-
chen Rahmens arbeiten. Das wird schon beim Lesen des
ersten Satzes deutlich. Dort wird unterstellt, die Aus-
landseinsätze der Bundespolizei würden sich zu einem
„beliebigen und parlamentarisch unkontrollierbaren vor-
militärischen Instrument der deutschen Außenpolitik in
Krisen- und Konfliktregionen“ entwickeln.
Ich halte diese Unterstellung schlicht für eine Unver-
schämtheit, sie passt aber in die seit Monaten zu be-
obachtende Strategie der Nachfolger der Staatspartei der
ehemaligen DDR. Die deutschen Sicherheitsbehörden
werden systematisch in ein schlechtes Licht gerückt.
Nach den Nachrichtendiensten und der Bundeswehr ist
jetzt die Bundespolizei an der Reihe. Für meine Fraktion
weise ich diese böswilligen Unterstellungen zurück. Zu
Beginn meiner Rede nehme ich die Gelegenheit wahr,
allen Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei, die
im Ausland im Interesse unseres Landes und für unser
Land Dienst verrichten, herzlich zu danken und ihnen
Erfolg für die weitere Arbeit zu wünschen.
Der Antrag der Linken zeigt neben der beschriebenen
ideologischen Ausrichtung auch eine bedenkliche Un-
kenntnis der einzelnen Rechtsvorschriften auf.
Der Einsatz von Polizeibeamten nach § 65 Abs. 2
Bundespolizeigesetz setzt voraus, dass völkerrechtliche
Vereinbarungen dies vorsehen oder das Bundesministe-
rium des Innern im Einvernehmen mit den zuständigen
Stellen des anderen Staates einer Tätigkeit von Beamten
der Bundespolizei im Ausland allgemein oder im Einzel-
fall zustimmt. Auf dieser Grundlage können einzelne
7948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Vollzugsbeamte entsandt werden. Es ist keine Auslands-
verwendung der Organisation „Bundespolizei“, wie dies
in § 8 Bundespolizeigesetz geregelt ist. Darauf werde ich
noch zu sprechen kommen.
Beispiele für diese Verwendung sind: Verbindungsbe-
amte, polizeiliche Aus- und Fortbildungsmaßnahmen,
Polizeiübungen, Dokumentenberater, Verhinderung von
Sabotagehandlungen oder auch jetzt der Einsatz von fünf
Polizeibeamten im Libanon, der die Unterstützung der
libanesischen Polizei bei der Sicherheit des Luftverkehrs
zum Gegenstand hat.
Im letzteren Fall ist, wie die Linke in ihrem Antrag
selber ausführt, eine Information des Parlamentes er-
folgt. Ich sehe keine Notwendigkeit, bei diesen Fällen
eine gesetzliche Regelung einzuführen, die eine ver-
pflichtende Vorabinformation des Parlaments und ein
Rückholrecht vergleichbar § 8 Abs. 1 letzter Satz konsti-
tuiert.
Die Möglichkeit des Einsatzes im Rahmen völker-
rechtlicher Vereinbarungen wird im Übrigen durch das
Parlament selber eröffnet. Ich denke etwa an das Mon-
dorfer Abkommen oder jüngst den Vertrag von Prüm.
Wir haben beide Vereinbarungen hier im Deutschen
Bundestag debattiert und den Rahmen für den Einsatz
von Bundespolizeibeamten durch unsere Zustimmung zu
den jeweiligen Gesetzen selber gesetzt.
Es kann also in keinem Fall die Rede davon sein, dass
Bundespolizeibeamte sich in einer rechtlichen Grauzone
bewegen, wie dies die Linke mit ihrem Antrag suggerie-
ren will.
Ich komme zum zweiten Teil, dem Einsatz der Bun-
despolizei als Organisation nach § 8 Bundespolizeige-
setz. Man stelle sich folgende Situation vor: Eine Bot-
schaft im Ausland wird von einer radikalen Gruppierung
besetzt. Deutsche Botschaftsangehörige werden als Gei-
seln gefangen gehalten, ihre Ermordung wird angedroht.
Der ausländische Staat unternimmt selber nichts, stimmt
aber einer Befreiungsaktion durch deutsche Polizeiange-
hörige zu.
Oder eine weitere Situation: Ein deutsches Flugzeug
wird gekapert und auf einem Flughafen im Ausland zur
Landung gezwungen. Die Insassen sind Geiseln, ihre Er-
schießung wird angedroht. Die nationale Polizei dieses
Landes ist nicht in der Lage, dieser Situation Herr zu
werden. Sie stimmt dem Einsatz deutscher Polizeikräfte
zur Befreiung der Geiseln zu. Sie erinnern sich sicher-
lich alle, dass wir diese Situation kennen, es geschah vor
30 Jahren in Mogadischu.
Diese Fälle sind, was den Einsatz der Bundespolizei in
solchen Lagen betrifft, geregelt in § 8 Abs. 2 Bundespo-
lizeigesetz. Der Einsatz der Bundespolizei betrifft einen
Einsatz zur Rettung von Personen aus einer gegenwärti-
gen Gefahr für Leib und Leben nach einer bilateralen Ab-
sprache mit dem betroffenen Staat.
In diesen beiden beschriebenen Situationen soll nun
nach dem Willen der Linken folgendes passieren: Wäh-
rend die Geiseln um ihr Leben bangen, wird der Deut-
sche Bundestag zu einer Beratung einberufen. Die Abge-
ordneten debattieren in den Arbeitsgruppen, in der
Fraktion, in den Ausschüssen und dann im Plenum über
Einzelheiten des Einsatzes und über die Frage, ob die
Bundespolizei zur Rettung eingesetzt werden darf. Alles
wird von der Presse intensiv begleitet, was natürlich
auch die Geiselnehmer in Zeiten moderner Kommunika-
tionsmittel interessiert verfolgen werden. Die Geiseln
bangen derweil um ihr Leben und warten weiterhin auf
ihre Befreiung, während sich die Geiselnehmer in aller
Ruhe auf den bevorstehenden Einsatz bundesdeutscher
Polizisten vorbereiten.
Dieses Szenario zeigt, wie absurd der Antrag der Lin-
ken ist und welche unverantwortlichen Folgen daraus
entstehen würden. Ich kann die Kolleginnen und Kolle-
gen nur auffordern, diesen Antrag zurückzunehmen und
bitte herzlich, uns mit solchen unsinnigen Anträgen in
Zukunft zu verschonen.
Wolfgang Gunkel (SPD): Die Fraktion der Linken
verlangt mit ihrem Antrag auf Drucksache 16/3421 eine
Änderung des Bundespolizeigesetzes für Auslandsein-
sätze der Bundespolizei. Jeder Einsatz soll einem Parla-
mentsvorbehalt unterliegen, das heißt, der Bundestag
entscheidet, ob Polizeieinsätze im Ausland stattfinden
sollen.
Als ehemaliger Polizeipräsident stehe ich Einsätzen
der Polizei – auch im Ausland – grundsätzlich positiv
gegenüber. Denn die Hilfe, die in Krisenregionen wie
Kosovo, Afghanistan oder Irak derzeit am dringendsten
gebraucht wird, ist die Hilfe beim Aufbau von zivilge-
sellschaftlichen und staatlichen Strukturen. Großer Teile
dieser Hilfe können meiner Meinung nach sehr effektiv
von deutschen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten
geleistet werden. Man sollte auch nicht vergessen, dass
ein besseres Bild bei der Bevölkerung entsteht, wenn sie
nicht ständig mit militärischer Präsenz in Form von pa-
trouillierenden Soldaten konfrontiert wird.
Trotz meiner eben bereits beschriebenen grundsätzli-
chen Akzeptanz von Auslandseinsätzen der Bundespoli-
zei kann ich das Vorgehen der Fraktion Die Linke nicht
unterstützen. Sie beantragt, dass die Einsätze nur noch
unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Parlamentes
stattfinden sollen. Dass dieses Vorhaben nach der derzei-
tigen Rechtslage zum einen verfassungsrechtlich be-
denklich und zum anderen auch nicht zweckmäßig ist,
möchte ich Ihnen an drei Punkten erläutern.
Zum ersten missachten die Antragssteller das Gewal-
tenteilungsprinzip, das bereits im Grundgesetz festge-
schrieben ist. Die auswärtige Gewalt ist dem Kompe-
tenzbereich der Exekutive zugeordnet. Lediglich der
Einsatz bewaffneter Streitkräfte, also der Einsatz der
Bundeswehr, stellt hier eine Ausnahme dar; ich finde: an
dieser Stelle zu Recht. Ich bin froh, dass wir eine „Parla-
mentsarmee“ in Deutschland haben und die Verantwor-
tung für diese Einsätze auf die breiten Schultern des
Bundestags gelegt wird.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
hat festgelegt, dass Einsätze der Bundeswehr unter einen
Parlamentsvorbehalt zu stellen sind. In der Entscheidung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7949
(A) (C)
(B) (D)
des Bundesverfassungsgerichts gibt es nicht den gerings-
ten Anhaltspunkt dafür, dass sich der Parlamentsvorbe-
halt für die Streitkräfte auch auf die Bundespolizei er-
strecken soll. In der Verfassungstradition Deutschlands
war und ist der Einsatz der Polizei stets eine Angelegen-
heit der Verwaltung – der Exekutive.
Gerade der im Antrag kritisierte Fall – die Unterstüt-
zung der Grenzkontrolle im Libanon durch vier Bundes-
polizeibeamtinnen und -beamten, also der Einsatz zu
nichtkriegerischen Zwecken – fällt damit primär in den
Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich der Exekutive.
Dieser Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und
Verantwortlichkeit ist verfassungsrechtlich festgelegt.
Ein Verstoß dagegen würde die grundgesetzlich garan-
tierte Gewaltenteilung ad absurdum führen. Und genau
deshalb ist ein Parlamentsvorbehalt und damit eine Ent-
scheidung der Legislative an dieser Stelle verfassungs-
widrig.
Zweitens ist ein solcher Parlamentsvorbehalt, wenn
man sich einmal die Vielfalt polizeilicher Auslandsein-
sätze vor Augen führt, auch nicht zweckmäßig. Deutsche
Polizeibeamtinnen und -beamte schützen die deutschen
Auslandsvertretungen, unterstützen europäische Grenz-
polizeien im Rahmen der Europäischen Union oder sind
als Kontaktbeamte in aller Welt unterwegs. Wollte man
tatsächlich für jeden einzelnen Punkt dieses breiten
Spektrums eine Entscheidung des Deutschen Bundesta-
ges herbeiführen? Und wie entscheidet sich, ob ein Ein-
satz unter Parlamentsvorbehalt zu stellen ist? Nach der
Gefährlichkeit des Einsatzes? Nach dem Umfang des
Einsatzes? Antworten auf diese Fragen findet der Antrag
der Fraktion Die Linke leider nicht.
Zuletzt stellt sich für mich noch eine weitere Frage:
Warum soll ein nichtkriegerischer Einsatz der Bundes-
polizei einem Parlamentsvorbehalt unterliegen, nicht
aber die ebenfalls nichtkriegerische Intervention mit di-
plomatischen Mitteln oder der ebenfalls nichtkriegeri-
sche Einsatz ziviler Hilfsorganisation, zum Beispiel
durch das Technische Hilfswerk, THW? Dieser Abgren-
zung stellt sich der vorliegende Antrag ebenfalls nicht.
Die Antragsteller fordern, Auslandseinsätze der Bun-
despolizei nicht zu einem beliebigen und parlamenta-
risch unkontrollierbaren vormilitärischen Instrument der
deutschen Außenpolitik in Krisen- und Konfliktregionen
werden zu lassen. An dieser Stelle interessiert mich sehr,
wie die Antragsteller das von ihnen verwendete „vormi-
litärisch“ definieren. Wenn nach der Logik der Links-
fraktion hierfür das Umfeld der Krisen- und Konfliktsi-
tuation entscheidend sein sollte, müsste sie auch andere
humanitäre Interventionen wie durch das Rote Kreuz in
einem ähnlichen Krisenumfeld als „vormilitärisch“ qua-
lifizieren. Wenn jemand dieser Logik folgen möchte,
dann würde er vielleicht auch dem Antrag zustimmen
können.
Ich kann das aus diesem Grund und den anderen von
mir genannten Gründen nicht und lehne deshalb den An-
trag der Linksfraktion im Namen der SPD-Fraktion ab.
Ich möchte es aber nicht versäumen, darauf hinzuwei-
sen, dass die Problematik eines Parlamentsvorbehalts für
Auslandseinsätze der Bundespolizei anders zu bewerten
ist, wenn die von Bundesinnenminister Dr. Schäuble ge-
forderte Dienstpflicht für Auslandseinsätze in das zur
angekündigten Reform der Bundespolizei zu ändernde
Bundespolizeigesetz aufgenommen wird. Hier wird sehr
wohl zu differenzieren sein, wen man und mit welchem
Auftrag man in Auslandseinsätze schickt. Denkbär wäre
es, die bisherige Rückholbefugnis des Bundestages ge-
mäß § 8 Abs. l Satz 5 Bundespolizeigesetz in eine Ent-
sendebefugnis umzuwandeln. Dies wird aber zu gegebe-
ner Zeit zu entscheiden sein.
Gisela Piltz (FDP): Seit 1989 beteiligt sich die
Bundespolizei, vormals Bundesgrenzschutz, an interna-
tionalen Friedensmissionen. Seitdem haben mehr als
1 700 Beamtinnen und Beamte der Bundespolizei an sol-
chen Verwendungen freiwillig teilgenommen. An dieser
Stelle möchte ich mich im Namen meiner Fraktion bei
allen für ihren Einsatz bedanken.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt die Beteili-
gung deutscher Polizisten und Polizistinnen an Aus-
landsmissionen. Die Schaffung sicherer Lebensbedin-
gungen und Zukunftsperspektiven für die Menschen in
den Krisengebieten ist nicht nur ein Aspekt von Außen-
politik, sondern dient auch dem Schutz der inneren Si-
cherheit.
Hierbei darf aber Folgendes nicht vergessen werden:
Der Einsatz darf nur im Rahmen zivilen Krisenmanage-
ments nach Beendigung eventueller bewaffneter Ausei-
nandersetzungen erfolgen. Damit das Trennungsgebot
auch hier beachtet wird, ist das zivile Krisenmanage-
ment dann allein Aufgabe der Polizei.
Die Fraktion Die Linke beanstandet in ihrem Antrag,
dass die Voraussetzungen für Auslandseinsätze der Bun-
despolizei, Informationspflichten der Bundesregierung
und Kontrollmöglichkeiten des Parlaments im Bundes-
polizeigesetz nicht ausreichend geregelt sind. Tatsäch-
lich bietet das Bundespolizeigesetz dem Parlament nur
wenige Beteiligungsrechte bei Auslandseinsätzen der
Bundespolizei: § 8 BPolG sieht für das Parlament das
Recht auf Unterrichtung und ein sogenanntes Rückhol-
recht vor. Stärkere Mitwirkungsrechte – wie zum Bei-
spiel eine Zustimmungspflicht oder Kontrollmöglichkei-
ten über den Einsatz – sind im Rahmen des § 8 BPolG
nicht geregelt.
Die von den Linken erhobene Forderung nach einem
Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze ist durchaus
überdenkenswert. Aufgrund der deutlich erhöhten Aus-
landseinsätze der Bundespolizei in den letzten Jahren
bedarf es auch nach unserer Auffassung einer stärkeren
Beteiligung des Parlaments. Oftmals erhalten die Parla-
mentarier nur durch Nachfragen in den Ausschüssen
oder direkte Anfragen an die Bundesregierung umfas-
sende Informationen über aktuelle Einsätze.
Hierbei ist die konkrete Ausgestaltung eines Parla-
mentsvorbehalts nach Ansicht der FDP-Bundestagsfrak-
tion noch völlig offen und sollte Gegenstand intensiver
parlamentarischer Beratungen werden.
7950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Auch Auslandsverwendungen der Bundespolizei
nach § 64 Bundespolizeigesetz unterliegen bisher keiner
konkreten Vorabinformation des Parlaments. Hier sieht
die FDP-Bundestagsfraktion Nachbesserungsbedarf. Zu-
mindest entsprechende Beratungen in den Ausschüssen
– wenn Sicherheitsinteressen geltend gemacht werden,
natürlich auch vertraulich – sind notwendig, um den Par-
lamentariern angemessener Form die notwendigen Infor-
mationen zu geben.
Die Bundesregierung hat im November letzten Jahres
eine Umstrukturierung der Bundespolizei angekündigt.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregie-
rung auf, diese Ankündigungen auch zum Anlass zu
nehmen, Beteiligungs- und Informationsrechte des Par-
laments bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei zu
überdenken.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Vor wenigen Tagen erst
konnten wir erfahren, wie hochaktuell und notwendig
unser Antrag ist, den Bundestag über Auslandseinsätze
der Polizei abstimmen zu lassen. Die „Süddeutsche
Zeitung“ berichtete am Montag über Pläne des Bundes-
innenministeriums, Bundespolizisten künftig auch gegen
ihren Willen ins Ausland zu schicken, sei es der Balkan
oder Afghanistan. „Die Polizei wird in diesen Ländern
ebenso dringend gebraucht wie das Militär“, wurde der
Kollege Michael Hartmann von der SPD-Fraktion zi-
tiert.
Das zeigt: Die Bundesregierung militarisiert die Poli-
zei, und die Polizei wird zur Militarisierung der Außen-
politik missbraucht. Nicht nur die Fraktion Die Linke
lehnt das ab, sondern auch die Betroffenen selbst.
Konrad Freiberg, der Chef der Gewerkschaft der Polizei,
stellte fest: „Wer zum Grenzschutz gegangen ist, hat
doch niemals damit rechnen müssen, lebensgefährliche
Jobs am Hindukusch zu übernehmen.“ Der Mann hat
völlig Recht.
Seit 1996 waren über 1 800 deutsche Polizisten in
Bosnien-Herzegowina. Seit dem Angriff der NATO auf
Jugoslawien sind außerdem über 2 300 Polizisten in die
besetzte Provinz Kosovo geschickt worden. Deutsche
Polizisten leiten in Afghanistan die Ausbildung der dor-
tigen Polizei, und sie haben sich an der Ausbildung ira-
kischer Polizisten beteiligt. Indem sie dort sogenannte
Antiterrortechniken vermitteln, wird Deutschland zur
aktiven Kriegspartei. Es ist absurd, dass der Bundestag
hier nicht gefragt wird.
Insgesamt waren in den letzten zehn Jahren weit über
4 000 Polizisten im Auslandseinsatz. Polizeimissionen
sind ein herausragendes Instrument der deutschen
Außenpolitik geworden. Die bevorzugten Ziele sind da-
bei nicht zufällig jene Länder, in denen auch die Bundes-
wehr steht. Polizeieinsätze werden zunehmend zum Mit-
tel, um eine militarisierte, auf Krieg gestützte Außenpo-
litik abzusichern. Die Militärdoktrin der Europäi-
schen Union sieht vor, einen aus 6 000 Beamten
bestehenden Polizeipool aufzubauen, der als flan-
kierende Maßnahme für Militäreinsätze gedacht ist.
Die Bundesregierung hat dafür 900 Polizisten zugesagt.
Wenn sie Polizeibeamte auch noch zwangsweise in
alle Welt schicken will, genauso wie Soldaten, dann be-
stätigt sie damit: Die Entsendung von Polizeieinheiten
und die Entsendung von Militäreinheiten sind zwei Sei-
ten der gleichen Medaille. Wir sehen nicht ein, dass der
Bundestag nur über die eine Seite abstimmen soll und
bei der anderen nicht gefragt wird. Deswegen wollen
wir, dass der Bundestag über Auslandseinsätze der Bun-
despolizei vorab informiert wird und über Polizeimissio-
nen der EU oder der UNO abstimmen muss. Der Parla-
mentsvorbehalt für Polizeieinsätze ist überfällig. Er ist
die logische Konsequenz aus dem Parlamentsvorbehalt,
dem auch die Bundeswehr unterliegt.
Lassen Sie mich noch auf Einsätze nach § 65 des
Bundespolizeigesetzes eingehen. Die Bundesregierung
kann aufgrund bilateraler Vereinbarungen mit einem an-
deren Staat Polizeikräfte entsenden, ohne das Parlament
überhaupt zu informieren. Für diese Politik der Geheim-
haltung gibt es natürlich einen Grund. Die Polizisten, die
vorigen Sommer ohne Wissen des Parlaments in den
Libanon geschickt wurden, sollten am Flughafen Beirut
dafür sorgen, dass niemand vor dem Krieg und dem
Elend nach Deutschland fliehen konnte. Dafür hat sich
Deutschland in den Krieg eingeschaltet, völlig am Parla-
ment vorbei.
Die Polizisten, die im Rahmen der Grenzschutzagen-
tur FRONTEX eingesetzt werden, helfen dabei, die Fes-
tung Europa dichtzumachen. Deswegen müssen immer
mehr Menschen im Mittelmeer und im Atlantik weite
und gefahrvolle Wege nehmen, und immer mehr kom-
men dabei ums Leben. Das sind natürlich Aufgaben,
über die man nicht gerne spricht. Wir sind aber der Mei-
nung: Es muss öffentlich darüber diskutiert werden, was
die Polizei im Ausland macht. Deswegen wollen wir
dem Bundestag zu seinem längst überfälligen Recht ver-
helfen.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Die Bundespolizei wie die Polizeien der
Länder sind beteiligt an internationalen und europäi-
schen Polizeimissionen. Was vor einigen Jahren noch
Modellcharakter hatte, ist heute zu einer dauerhaften
Aufgabe der Polizei geworden. Die deutschen Polizeibe-
amten leisten im Ausland eine hoch anerkannte Arbeit.
Für den Einsatz in oft nicht ungefährlichen Polizeimis-
sionen – lassen Sie mich hier insbesondere den Einsatz
in Afghanistan, aber auch im Kosovo ansprechen – will
ich mich an dieser Stelle im Namen der grünen Bundes-
tagsfraktion bedanken.
Durch jüngste Presseäußerungen von Bundesinnen-
minister Schäuble sind die Auslandseinsätze der Bun-
despolizei in die öffentliche Debatte gerückt. Wie schon
bei der Reform der Bundespolizei erfahren die betroffe-
nen Polizeibeamten von der geplanten Veränderung der
Aufgabenwahrnehmung aus der Presse. Gewerkschaft-
liche Beteiligung scheint im BMI und beim Bundes-
innenminister ein Fremdwort zu sein. Wir fordern hier
nachdrücklich eine transparente Auswertung der bisheri-
gen Auslandseinsätze und eine frühzeitige Beteiligung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7951
(A) (C)
(B) (D)
der Beschäftigten und der Gewerkschaften an möglichen
Veränderungen.
Nachdem Schäuble in der Vergangenheit mit seinen
Plänen, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen, ge-
scheitert ist, dreht er jetzt den Spieß um und will sich
eine Ersatzarmee zulegen, die marschiert, wenn er es
will. Wir wollen weder eine Militarisierung der Innen-
politik noch eine Militarisierung der Polizei in Auslands-
einsätzen.
Für uns gelten klare Bedingungen für internationale
und europäische Polizeimissionen: Polizeimissionen im
Ausland brauchen ein Mandat, entweder von der UNO
oder von der EU. Polizeimissionen im Ausland dürfen
nur in militärisch befriedeten Gebieten stattfinden, und
die Teilnahme an solchen Auslandseinsätzen muss frei-
willig sein. Polizei darf nicht in einer Grauzone zwi-
schen polizeilichen und militärischen Aufgaben einge-
setzt werden.
Die von Schäuble offensichtlich geplante Dienst-
pflicht für Auslandseinsätze der Bundespolizei lehnen
wir entschieden ab. Der Auslandseinsatz ist freiwillig,
weil er im Vergleich zur Inlandsverwendung unter einem
erhöhten Risiko erfolgt. Es gab auch nie einen Mangel
an Freiwilligen. Insofern ist überhaupt kein sachlicher
Grund ersichtlich, warum dieser Einsatz zu einer
Zwangsveranstaltung gemacht werden sollte.
Wir wollen zukünftig auch bei Auslandseinsätzen der
Bundespolizei einen Parlamentsvorbehalt, wie er bei
Einsätzen der Bundeswehr gute Parlamentstradition ist.
In der Vergangenheit gab es Einsätze, von denen das
Parlament nicht einmal formell unterrichtet wurde. Die
parlamentarische Unterrichtung zu laufenden Auslands-
einsätzen der Bundespolizei ist völlig unzureichend. Je
nach Art des Einsatzes sollte das Parlament mit einer In-
formationspflicht bzw. einem Parlamentsvorbehalt ein-
gebunden werden.
Die Auslandshundertschaft in Gifhorn, die derzeit
aufgebaut wird, sehen wir sehr kritisch. In den laufenden
Auslandsmissionen werden vielfältige Erfahrungen ge-
braucht. Die hohe Qualität der deutschen Polizeimissio-
nen wird gerade dadurch erreicht, dass je nach Auftrag
und Inhalt des Mandates Polizeibeamte aus dem Einzel-
dienst von Bund und Ländern sich freiwillig und auf Zeit
für den Auslandseinsatz melden. Wir sehen die Gefahr,
dass hier eine Sondereinheit der Bundespolizei aufge-
baut wird, die dann mit militärischer Bewaffnung zur
Unterstützung der Bundeswehr in noch nicht befriedeten
Gebieten eingesetzt wird. Dann haben wir den militäri-
schen Einsatz der Bundeswehr im Ausland, und auch
das, Herr Schäuble, wollen wir nicht.
Gert Winkelmeier (fraktionslos): Auslandseinsätze
der Bundespolizei stehen erst seit wenigen Tagen wieder
im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die Diskussion, die
von Kollegen der SPD erneut angeheizt worden ist, dreht
sich um die Freiwilligkeit.
Unser Thema heute ist die parlamentarische Kon-
trolle. Angeblich ist gewährleistet, dass militärische Ak-
tionen der Bundeswehr und die Aufgaben der Polizei,
beispielsweise in Afghanistan, strikt voneinander ge-
trennt sind. Dennoch befinden sich die Angehörigen der
Bundespolizei in Krisengebieten.
Insofern darf nicht dem Innenministerium alleine
überlassen sein, wohin, wann und wie viele Polizisten
ins Ausland entsandt werden. Künftig muss mehr Trans-
parenz herrschen und mehr parlamentarische Kontrolle
möglich sein!
Es zeugt entweder von schlechtem Stil oder aber von
– zumindest ansatzweise – schlechtem Gewissen, wenn
die Mitglieder dieses Parlamentes erst durch Medienbe-
richte von bereits eingeleiteten oder erfolgten Auslands-
einsätzen der Bundespolizei erfahren. Dieser Eindruck
verstärkt sich, wenn es sich bei der betroffenen Region um
ein Krisen – oder gar Kampfgebiet handelt – wie es im
Libanon im vergangenen August zweifelsohne der Fall
war.
Öffentlichkeit war vonseiten der Regierung nicht ge-
wollt, weil noch keine endgültige internationale Mission
auf Basis einer UN-Resolution ausgehandelt war. Alles
sollte so geheim wie möglich vonstattengehen.
Eine schnelle und unmissverständliche Regelung im
Bundespolizeigesetz für Auslandseinsätze der Bundes-
polizei ist deshalb überfällig. Die Regierung darf den
„außenpolitischen Exportschlager“ Bundespolizei – wie
GdP-Chef Freiberg recht zutreffend formuliert hat –
nicht nach eigenem Gutdünken einsetzen. Deutschland
war schon immer Exportweltmeister, aber das muss doch
nicht auch noch für die Bundespolizei gelten!
Die Gewerkschaft der Polizei warnt davor, dass die
zunehmenden Auslandseinsätze die ohnehin schon über-
lasteten Kollegen im Inland noch empfindlich treffen
werden.
7 000 Polizisten weniger als noch vor fünf Jahren be-
finden sich in der Bundesrepublik Deutschland im
Dienst. Zeitgleich aber wird immer wieder von politi-
scher Seite gefordert, mehr Polizisten zur Aufbauhilfe in
krisengeschüttelte Gebiete zu entsenden.
Ich zitiere hierzu den Vorsitzenden der GdP, Konrad
Freiberg:
Es wird immer verrückter: Einerseits will der
Bundesverteidigungsminister Jung die Bundes-
wehr u. a. in Bosnien abziehen, weil sie überlastet
ist, andererseits soll die Bundeswehr aber die
Polizei im Innern verstärken.
Und die Polizei ist nach Auffassung von Bundes-
innenminister Schäuble personell nicht in der
Lage, die Menschen im Innern vor Terroranschlä-
gen zu schützen (siehe Fußballweltmeister-
schaft), aber andererseits soll die Polizei verstärkt
im Ausland eingesetzt werden. Ich glaube, es
fehlt den politisch Verantwortlichen die Orientie-
rung.
Hier hat Herr Freiberg recht!
Eine Änderung des Polizeigesetzes zur parlamentari-
schen Kontrolle von Auslandseinsätzen der Bundespoli-
zei könnte dazu beitragen, dass die Orientierungslosig-
7952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
keit der Verantwortlichen gemindert wird. Zudem
könnten Sie, meine Damen und Herren in der Regierung,
dann auf die Hilfe der gewählten Parlamentarier zählen!
Auch sollte gesetzlich geregelt werden:
Erstens. Auslandseinsätze von Polizisten müssen
prinzipiell freiwillig erfolgen. Es darf keine Dienstver-
pflichtung geben.
Zweitens. Der Einsatz der Bundespolizei darf auf kei-
nen Fall in Kampfgebieten erfolgen.
Drittens. Die Bundespolizei soll ausbilden: sie darf
sich aber nicht in die Polizeiaufgaben vor Ort einmi-
schen.
Und das alles muss vom Parlament kontrolliert wer-
den können.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Passgesetzes und weiterer Vorschriften
– Antrag: Sicherheitslücken bei biometrischen
Pässen beseitigen
– Antrag: Keine Einführung des elektroni-
schen Personalausweises
– Bericht: Technikfolgenabschätzung hier: TA-
Projekt: Biometrie und Ausweisdokumente –
Leistungsfähigkeit, politische Rahmenbe-
dingungen, rechtliche Ausgestaltung
Zweiter Sachstandsbericht
– Antrag: Datenschutz und Bürgerrecht bei
der Einführung biometrischer Ausweise
wahren
(Tagesordnungspunkt 26 a bis d, Zusatztages-
ordnungspunkt 10)
Frank Hofmann (Volkach) (SPD): In den Abend-/
Nachtstunden innerhalb von 30 Minuten einen Gesetz-
entwurf, drei Anträge und einen Ausschussbericht zu be-
raten, wie es ursprünglich vorgesehen war, ist eine Zu-
mutung und wird dem Thema in keiner Weise gerecht.
Soweit sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf die Umsetzung der Verordnung (EG)2252/2004 be-
zieht, sei daran erinnert, dass sich im Terrorismus-
bekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 noch der natio-
nale Gesetzgeber für zuständig gehalten hat. Kann der
EU-Rat diese Zuständigkeit durch eigene Aktivitäten
einfach außer Kraft setzen?
Die jetzt besonders eilbedürftige Vorlage soll nun bis
Mai 2007 abgeschlossen sein. Weshalb dann aber gleich
auch noch viele andere Gesetzesänderungen angehängt
werden – vom Ausländerzentralregistergesetz bis zum
Wehrpflichtgesetz –, die zwar zum großen Teil einen
Sachzusammenhang, aber keine Eilbedürftigkeit haben,
erschließt sich mir nur bedingt.
Nach den Anschlägen am 11. September 2001 hat
sich die Sicherheitsarchitektur Deutschlands, Europas
und der Welt grundlegend verändert. Keine Rede zur in-
neren Sicherheit unseres Landes kommt mehr ohne den
eindringlichen Hinweis auf diesen schrecklichen Terror-
anschlag aus.
Die fortdauernde Bedrohung durch den internationa-
len Terrorismus macht es erforderlich, auch das Pass-
recht anzupassen, indem biometrische Merkmale – Ge-
sichtsbild und Fingerabdrücke – in unsere Pässe
eingefügt werden. So wird eine stärkere Bindung des
Ausweisdokuments an den Passinhaber ermöglicht und
ein Sicherheitsgewinn geschaffen: Die Fälschungs-
sicherheit des Reisepasses wird erhöht, die Verwendung
von gestohlenen Papieren wird erschwert und die Kon-
trollen in sicherheitssensiblen Bereichen, wie beispiels-
weise an Flughäfen, werden beschleunigt bzw. effizien-
ter durchführbar.
Jedoch dürfen weder sicherheitspolitisch sinnvolle
Maßnahmen noch terroristische Bedrohungsszenarien
den wesentlichen Blick auf den Schutz der bürgerlichen
Freiheiten und Grundrechte verstellen. Das fragile
Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit muss
immer wieder aufs Neue austariert werden. Dieser Pro-
zess kann nur in Gestalt eines kritischen öffentlichen
Diskurses stattfinden. Dazu gehört auch, dass wir uns als
nationaler Gesetzgeber sicherheitspolitische Notwendig-
keiten nicht von europäischen Ratsverordnungen diktie-
ren lassen. Auch wenn diese Vorhaben von der eigenen
Regierung initiiert sind, bleibt die schlussendliche Ver-
antwortung für die konkrete Umsetzung beim Parlament.
In der Zukunft ist es unerlässlich, dass die Parlaments-
fraktionen stärker in die Europapolitik der Regierung
eingebunden werden. So wird die SPD genau darauf
achten, dass beispielsweise bei der Erfassung, Übermitt-
lung und Speicherung der Fingerabdrücke die Interessen
des Datenschutzes gewahrt bleiben. Für uns ist Daten-
schutz kein Lippenbekenntnis, sondern ein wesentliches
Element des Grundrechtsschutzes und damit Grund-
voraussetzung für das Funktionieren unserer demokrati-
schen Gesellschaft. Gleiches gilt auch für den Minder-
heitenschutz, der in der Regelung zum Geschlechtsein-
trag in Pässen bei transsexuellen Personen zum Aus-
druck kommt.
Der vorliegende Änderungsentwurf, insbesondere im
nicht EU-spezifischen Teil, hat jedoch kleinere Schwä-
chen, die es noch genauer unter die Lupe zu nehmen gilt:
Wenn im Zusammenhang mit dem Passgesetz auch Än-
derungen vorgenommen werden sollen, die Straßenver-
kehrsordnungswidrigkeiten betreffen, dann hat dies
nichts mehr mit den Folgen des 11. September zu tun.
Wenn man solche Maßnahmen in Sicherheitsgesetzen
verankert, dann macht man es den Gegnern leicht in
ihrer Argumentation, es ginge vermehrt um die Krimina-
lisierung und Bestrafung unbescholtener Bürger.
Zum kritischen Diskurs in der Öffentlichkeit gehört
auch die Berücksichtigung der Empfindungen der Bür-
gerinnen und Bürger in unserem Land. So müssen wir
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7953
(A) (C)
(B) (D)
uns bewusst machen, dass die erstmalige Erhebung von
Fingerabdrücken zur Identifizierung in Personaldoku-
menten in der Bevölkerung mit der erkennungsdienstli-
chen Behandlung von Kriminellen verknüpft werden
könnte. Allerdings werden heute Fingerabdruckscanner
benutzt und keine Stempelkissen mehr. Diese moderne
Technik hat eine höhere Akzeptanz.
Die Anträge von FDP und Bündnis 90/Die Grünen
Fraktion sind leider nur wenig hilfreich. Die Sicherheits-
bedenken wirken wie in Anträge gekleidete Presseerklä-
rungen, die weniger den rechtlichen und technischen
Realitäten entsprechen als dem Versuch, mit einem dif-
fusen Zerrbild Ängste in der Bevölkerung vor einem
Überwachungsstaat zu erzeugen. Auch wir stellen uns
die Frage nach der Fehleranfälligkeit und Manipulierbar-
keit von biometrischen Systemen. Wir werden uns, ge-
stützt auf technischen Sachverstand, ein realistisches
Bild von der Lage machen und auch etwaige Risiken
dieser Technologie im Verhältnis zu ihrem Nutzen abwä-
gen. Parteipolitisch motivierte Polemik bringt uns an
dieser Stelle aber nicht weiter. Das heißt nicht, dass wir
uns den sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht
stellen müssen. Aber klar ist: Es gibt keine bundesweite
Datenbank der biometrischen Daten. Die Fingerabdrü-
cke sind lediglich im Pass, das Lichtbild ist im Pass und
beim Passamt.
Trotz Datenschutz dürfen wir uns technischen Inno-
vationen nicht verschließen. Durch biometrische Merk-
male im Pass wird es möglich, die Identität von Perso-
nen, vor allem bei Grenzkontrollen, durch Vergleich mit
den Merkmalen der kontrollierten Person festzustellen.
Dies verhindert in großem Maße die missbräuchliche
Nutzung und ermöglicht eine schnellere sowie exaktere
Kontrolle. Mehr Sicherheit und geringere Wartezeiten an
den Grenzen sind die Folge. Die Daten auf dem Chip im
Pass sind gegen unberechtigten Zugriff gesichert und
werden auch nur dort gespeichert. Eine anderweitige,
möglicherweise gar zentrale Speicherung, wird es nicht
geben; darf es nicht geben und ist in diesem Gesetzent-
wurf ausgeschlossen. Durch die Einführung eines durch-
gängig elektronischen Verfahrens zur Passbeantragung
werden die Effizienz und die Sicherheit des Beantra-
gungsvorgangs erhöht. Dies bringt also auch Vorteile für
den Bürger, dem keine zusätzlichen, über die Passgebühr
hinausgehenden Kosten entstehen.
Die SPD wird an ihrer bewährten Maxime der Sicher-
heitspolitik mit Augenmaß, die sie bereits bei der Anti-
terrordatei und beim Terrorismusbekämpfungsergän-
zungsgesetz unter Beweis gestellt hat, festhalten.
Sozialdemokratische Politik führt nicht in den Überwa-
chungsstaat, sondern gestaltet einen sicheren Bürger-
rechtsstaat.
Gisela Piltz (FDP): Biometrie in Pass und Ausweis
ist offenbar ein heißes Eisen. Schon Rot-Grün und nun
auch Schwarz-Rot haben es offenbar am liebsten, wenn
dieses Thema möglichst gar nicht öffentlich zur Sprache
kommt, deshalb auch heute wieder die Beratung zu spä-
ter Stunde.
Otto Schily hat kräftig daran gearbeitet, die Einfüh-
rung biometrischer Merkmale einschließlich der sehr
umstrittenen Fingerabdrücke in Reisedokumente europa-
weit durchzudrücken, ohne dass darüber im Deutschen
Bundestag überhaupt gesprochen wurde.
Heute sitzt der damalige politische Akteur Otto
Schily im Aufsichtsrat eines Biometrieunternehmens.
Von dort mag Otto Schily auf die Vermeidung jeder Dis-
kussion über Sinn und Unsinn von biometrischen Merk-
malen in Reisepässen sehr zufrieden zurückblicken.
Denn mit der Einführung der digitalen Gesichtsbilder hat
Deutschland einen gigantischen Feldversuch für die Bio-
metrietechnik gestartet, und das ohne jeden Probelauf.
Es schadet aber der Demokratie, wenn eine gesellschaft-
liche Auseinandersetzung über die Herrschaft der Men-
schen über ihre biometrischen Daten nicht stattfindet,
wenn diese Daten ohne jede Diskussion Gegenstand der
staatlichen Kontrolle werden.
Es geht bei den biometrischen Daten nicht um irgend-
welche Daten, es geht um die elementarsten Daten, die
es für einen Menschen geben kann. Es geht um unsere
biologische Identität. Diese Daten können Auskunft über
Erbkrankheiten geben und über die Abstammung, die
Verwandtschaft der Menschen. Diese Daten geben Aus-
kunft über den höchstpersönlichsten Lebensbereich, der
sich denken lässt.
Die Frage ist nun: Geht Schwarz-Rot mit diesem
Thema verantwortungsvoller um als Otto Schily? Die
FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im März vergange-
nen Jahres einen Antrag gestellt, die offenbarten Sicher-
heitslücken der Reisepässe zu schließen. Über diesen
Antrag beraten wir nun – fast ein Jahr später. Die Sicher-
heit der Pässe hat sich inzwischen nicht verbessert. Lei-
der hat sich der Umgang mit dem Thema nicht wirklich
verändert. Trotz unseres Drängens wird der Punkt nun
immer noch mehr in der Nacht als am Tag behandelt.
Dieses Thema soll offenbar um keinen Preis zu einer
Zeit behandelt werden, an dem eine Rede ein größeres
Auditorium findet.
Auch sonst versucht die Regierung alles, das Thema
herunterzuspielen. Erst werden vollendete europäische
Tatsachen geschaffen, nun heißt es, die – wohl bemerkt
von Deutschland maßgeblich mit gesetzten – europäi-
schen Vorgaben würden bloß umgesetzt. Dabei gehen
wir über die ohnehin im weltweiten Maßstab sehr weit
gehenden europäischen Vorgaben noch ein deutliches
Stück weit hinaus.
Die Bundesregierung möchte letztlich die biometri-
schen Merkmale auch in jeden Personalausweis integrie-
ren. Die Merkmale werden zwar noch nicht endgültig
mit den hier von der Bundesregierung vorgelegten Än-
derungen in die Personalausweise aufgenommen, aber
die Pläne sind hinlänglich bekannt. Es wird so getan, als
wäre Biometrie in Reisepass und Personalausweis letzt-
lich dasselbe und die Veränderungen Europa geschuldet.
Dies ist schlicht falsch.
Richtig ist: Die EU schlägt lediglich einen Standard
für biometrische Merkmale in Personalausweisen vor.
Nationale ID-Dokumente fallen nach einhelliger Mei-
7954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
nung nicht einmal in den Zuständigkeitsbereich der EU.
Ob wir biometrische Merkmale auch in den Personalaus-
weisen haben wollen, diese Entscheidung liegt allein bei
uns hier im Bundestag. Wir sollten gut abwägen, ob wir
diese Veränderung dann auch wollen.
Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung die
Aufnahme auch der digitalen Fingerabdrücke europa-
weit durchgesetzt, und aus welchen Gründen will die
Bundesregierung biometrische Merkmale auch in die
Personalausweise implementieren? Die Argumente, wel-
che für die Einführung dieser Merkmale herhalten müs-
sen, sind Fälschungssicherheit und die Möglichkeit der
Identitätsüberprüfung. Nur für diese Zwecke sieht die
EU-Verordnung die Verwendung der biometrischen Da-
ten vor.
Fälschungssicherheit, also die Gewissheit, dass die
zuständigen Behörden in Deutschland den Pass bzw.
Ausweis ausgestellt haben, erreicht man nicht durch bio-
metrische Daten des Inhabers. Dafür gibt es zahlreiche
technische Vorrichtungen. Die Identitätsüberprüfung,
also die Gewissheit, dass derjenige, welcher den Pass
oder Ausweis in den Händen hält auch derjenige ist, für
den dieser ausgestellt wurde, ist in der Praxis ein zu ge-
ringes Problem, um diese umfangreiche Aufrüstung zu
rechtfertigen. Die kriminalistisch so interessanten Fin-
gerabdrücke braucht es für diese Zwecke ohnehin nicht,
das Gesichtsbild würde völlig ausreichen.
Was sind also die wirklichen Motive für die Einfüh-
rung der Biometrie in Pässen und Personalausweisen?
Ein Blick in die Details der Veränderungen ist sehr auf-
schlussreich. Da heißt es in dem von der Bundesregie-
rung vorgeschlagenen neuen § 2 c des Gesetzes über
Personalausweise:
Im Falle der Übermittlung von Lichtbildern an die
Polizei- und Ordnungsbehörden im Rahmen der
Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten
kann der Abruf des Lichtbildes im automatisierten
Verfahren erfolgen.
Aha! Das klingt natürlich sehr praktisch. Einen Perso-
nalausweis muss im Gegensatz zum Reisepass jeder ha-
ben – jedenfalls jeder, der nicht schon einen Reisepass
hat. Damit ist sichergestellt, dass letztlich jede durch Bil-
der festgehaltene Ordnungswidrigkeit anhand der dann
später in die Registerdatenbanken eingespeisten biome-
trischen Gesichtsmerkmale des Täters aufgeklärt werden
kann. Das eröffnet in Kombination mit der ebenfalls in-
tensiv betriebenen Ausweitung der Videoüberwachung
natürlich ganz neue Möglichkeiten – nicht nur für Ver-
kehrsordnungswidrigkeiten.
Mehrere biometrische Merkmale ergeben überhaupt
nur Sinn, wenn mit den Daten eine Identitätsfeststellung
ermöglicht werden soll. Das heißt, es soll letztlich völlig
unabhängig von Pass und Ausweis anhand biometrischer
Daten festgestellt werden können, um wen es sich han-
delt. Einen automatischen Abgleich der Fingerabdrücke
mit den Datenbanken des BKA – welcher von den EU-
Vorgaben eben gerade nicht gedeckt ist – sehen die von
der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderungen für
Drittstaatsangehörige bereits vor. Für uns alle kann das
später, wenn die Infrastruktur dafür steht, jederzeit um-
gesetzt werden. Das hat aber mit der Funktion des Passes
und des Personalausweises als Legitimationspapier nicht
mehr das Geringste zu tun. Die Notwendigkeit eines
Ausweispapiers wird offenbar nur benutzt, um an unsere
biometrischen Daten zu kommen.
Die räumliche Reichweite der Identifizierung ist un-
begrenzt. Über die fortschreitende Vernetzung der Da-
tenbanken trägt gerade Deutschland entscheidend zum
Aufbau einer weltweiten Struktur allgegenwärtiger Iden-
tifizierung bei. George Orwell hatte wohl einfach nicht
genug Phantasie, um sich diese schöne neue Ordnungs-
welt so vorzustellen.
Um es klar zu sagen: Wir werden nicht von den USA
getrieben; sie sammeln biometrische Daten ihrer eigenen
Staatsbürger aus datenschutzrechtlichen Gründen bis-
lang noch nicht ein. Wir werden nicht von Europa getrie-
ben; vielmehr treiben wir die anderen Mitgliedstaaten in
Europa. Deutschland ist der Vorreiter einer neuen bio-
metrischen Überwachungswelle; dies darf nicht länger
hinter zugezogenen Vorhängen passieren, über diese po-
litischen Entscheidungen muss endlich auch von Grund
auf diskutiert werden.
Wenn man aber biometrische Merkmale der Men-
schen in so großer Zahl speichert, dann ist es umso wich-
tiger, die größte Sorgfalt auf die Korrektheit und die
Verhinderung der Zweckentfremdung dieser Daten anzu-
wenden. Wer hier konkrete, wirksame Maßnahmen er-
wartet, wird von dem Gesetzentwurf leider bitter ent-
täuscht. Es fehlt nach wie vor die Möglichkeit für den
Passinhaber, sich selbstständig über den gespeicherten
Inhalt seiner Daten Kenntnis zu verschaffen. Hierfür
muss er sich erst mit seiner Passbehörde auseinanderset-
zen. Zu konkreten Maßnahmen zur Datensicherheit
schweigt sich der Gesetzentwurf vollständig aus.
Die Kostenberechnungen im Gesetzentwurf sind
nicht seriös. Dazu heißt es im Gesetzentwurf, die Kosten
werden „im Wesentlichen“ durch die Passgebühren ab-
gedeckt. Dies mag für die bloße Anschaffung der Tech-
nik in den Passbehörden richtig sein. Es wird darüber hi-
naus aber auch mehr Personal benötigt, um die
biometrischen Pässe zu bearbeiten – bei den Passbehör-
den wie bei allen anderen mit den Pässen befassten Be-
hörden. Auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion hat
das Auswärtige Amt bereits eingeräumt, ab 2007 den
Konsularbereich wegen der bevorstehenden Einführung
biometrischer Pässe weltweit personell nachhaltig ver-
stärken zu müssen.
Auch auf die Kommunen kommen zusätzliche Belas-
tungen zu. Während das BMI den Verwaltungskostenan-
teil auf 14,37 Euro herunterrechnet, schätzt der Deutsche
Städtetag die Höhe auf 23,86 Euro pro Exemplar. Allein
in meiner Stadt Düsseldorf wurden im letzten Jahr
350 000 Euro außerplanmäßig für die Kosten der Be-
schaffung der neuen biometrischen Reisepässe einge-
stellt.
Im Ergebnis bedeutet das: Die Bundesdruckerei reicht
ihre Rechnungen inklusive Gewinnanteil einfach weiter
und die Kommunen zahlen die Zeche. Davon ist aber im
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7955
(A) (C)
(B) (D)
Gesetzentwurf leider nicht die Rede, sondern die Bun-
desregierung redet sich mit Unwissenheit heraus.
Wir sollten uns alle miteinander fragen, ob und wofür
wir die biometrischen Merkmale in den Pässen und Per-
sonalausweisen wirklich brauchen. Denn der Eingriff in
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wirkt
bei biometrischen Daten schwer. Wir müssen uns bei je-
dem Einsatz dieser Daten die Frage nach der Verhältnis-
mäßigkeit stellen. Wenn es letztlich darum geht, jedwede
Straftat oder auch Ordnungswidrigkeit anhand einer
möglichst totalen Überwachung und der Möglichkeit der
automatischen Identitätsfeststellung aufzuklären, dann
geht dies über das für die FDP-Bundestagsfraktion er-
trägliche Maß weit hinaus.
Es ist noch nicht zu spät; wir können die umfassende
Preisgabe unserer biometrischen Daten hier im Bundes-
tag aufhalten. Wir brauchen keine automatisierten Fin-
gerabdruckabgleiche der Passdaten mit Datenbanken des
BKA. Haben wir die Biometrie in den Personalauswei-
sen, dann entkommt niemand mehr der staatlichen Kon-
trolle über seine biometrischen Daten.
Jan Korte (DIE LINKE): Im von der Bundesregie-
rung vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Pass-
gesetzes ist ein wenig Licht, aber viel Schatten. Tatsäch-
lich zu begrüßen sind Änderungen für Transsexuelle,
deren Reisesituation deutlich verbessert wird, weil ihnen
künftig erniedrigende Fragen und exzessive Leibesvisi-
tationen an Flughäfen erspart bleiben. Das ist ein guter
Schritt hin zur Wahrung der Würde dieser Menschen.
Mehr ist zum Thema Licht nicht zu sagen. Denn an-
sonsten tut die Bundesregierung, was sie immer tut.
Ohne Not greift sie in die Rechte der Bürgerinnen und
Bürger ein und will nach einschlägiger Meinung rechts-
widrig Daten speichern. Die Debatte um die Gesichts-
erkennung klingt mir noch in den Ohren. Nun geht es um
die Speicherung von Fingerabdrücken, nicht nur in Päs-
sen, sondern auch im Personalausweis und anderen Do-
kumenten. Die Linke lehnt dieses Ansinnen aus vielen
Gründen ab. Ich nenne vier:
Erstens. Die Verschlüsselung der Daten auf den
RFID-Chips ist nicht sicher. Experten ist es ohne große
Mühe gelungen, bei den bisherigen Varianten die Daten
der Chips, die kontaktlos per Funk übertragen werden,
zu entschlüsseln. Die Bundesregierung gibt schon heute
biometrische Daten aus der Gesichtserkennung preis.
Künftig sollen es die Fingerabdruckdaten und langfristig
womöglich auch noch die Iris sein. Unbeschadet aller
anderen Kritik an der Verwendung biometrischer Merk-
male in Ausweisdokumenten sollte es doch einleuchtend
sein, dass die Mindestanforderung, nämlich eine sichere
Verschlüsselung und damit der verlässliche Schutz vor
Missbrauch, gewährleistet sein müssen. Wird weiterhin
auf eine sichere Technik verzichtet, gefährdet die Bun-
desregierung nicht nur die Privatsphäre der Bürgerinnen
und Bürger, sie geht auch das Risiko ein, dass die neuen
Ausweisdokumente zwar teuer, aber mitnichten fäl-
schungssicher sind, wenn sich jeder mit einem billigen
Empfänger der Daten bedienen kann, die von Funkchips
ausgesendet werden.
Zweitens. Die sichere Erfassung und Verwendung
von Fingerabdrücken ist im Massenverfahren nicht mög-
lich. Die optimistische Schätzung des Büros für Tech-
nikfolgenabschätzung besagt, dass die Fehlerquote bei
2 Prozent liegt. Das bedeutet, dass bei weit mehr als
1 Million Bundsbürgern Daten fehlerhaft sein werden,
Tendenz steigend. Die Konsequenz wird auch hier inqui-
sitorisches Kontrollieren auf Flughäfen und bei Grenz-
übergängen sein, die für die Betroffenen nicht nur pein-
lich sind. Durch die hohe Fehlerquote kann es zu
Verwechslungen kommen, die unschuldige Bürger wo-
möglich mit Ermittlungsverfahren konfrontieren, in de-
nen sie selbst technische Fehler nachweisen müssten, da
die Behörden fälschlicherweise davon ausgehen, dass
die Technik keine Fehler macht. Das Gegenteil ist der
Fall. Ich halte es für unverantwortlich, eine derart unaus-
gereifte Technik auf die Menschen loszulassen.
Drittens. Wie alle elektronisch hinterlegten biometri-
schen Daten wirkt auch der gespeicherte Fingerabdruck
ausgrenzend, weil bei einer Vielzahl von Menschen die-
ses Datum nicht korrekt erfassbar ist. Ein weiterer
Grund, von diesem irrsinnigen Vorhaben abzurücken;
denn es grenzt Menschen mit Handicaps weiter aus.
Viertens. Jenseits der technischen Erwägungen stellt
sich bei der Einführung biometrischer Ausweise auch
besonders die Bürgerrechtsfrage. Die Linke hält biome-
trische Ausweisdokumente, so wie es beabsichtigt ist,
für nicht vereinbar mit den Bürgerrechten. Die biometri-
schen Daten, die auf Funkchips in Ausweisdokumenten
gespeichert werden sollen, sind personenbezogene Da-
ten. Das heißt in der Konsequenz, dass sie einer strikten
Zweckbindung unterliegen. Der Bundesinnenminister ist
nicht in der Lage, diesen schlichten Grundsatz zu befol-
gen; denn die Daten der Gesichtserkennung sollen künf-
tig beispielsweise zur Klärung von Bußgeldverfahren
automatisiert herangezogen werden können. Zweck der
Daten auf einem Ausweisdokument ist es aber doch,
dass der Inhaber identifiziert und das Dokument seinem
Inhaber eindeutig zugeordnet werden können. Jede an-
dere Verwendung der Daten wäre eine Erweiterung des
Zwecks und damit eindeutig rechtswidrig.
Innenminister Schäuble pflegt auch mit dem neuen
Passgesetz seine Datensammelobsession. Auch dieses
Mal plant der Innenminister einen weitreichenden
Rechtsverstoß. Denn die Abrufbarkeit der biometrischen
Daten für andere Zwecke kommt einer Speicherung der
Daten auf Vorrat gleich. Das allein ist ein Problem. Weil
aber nicht nur Pässe, sondern auch Personalausweise
von der Änderung betroffen sind – und das ohne Not –
werden die biometrischen Daten fast aller Bundesbürger
auf Vorrat gespeichert und in einer Referenzdatei zusam-
mengeführt. Das ist in der Konsequenz nichts anderes
als die Einführung einer universellen Personenkennziffer
durch die Hintertüre. Genau das ist nach einhelliger Mei-
nung nahezu aller Experten nicht statthaft.
Ich stelle fest, dass die Technik für die Verwendung
biometrischer Daten in Ausweisdokumenten weder si-
cher noch hinreichend leistungsfähig ist. Der Zweckbin-
dungsgrundsatz wird durch die beabsichtigte Regelung
verletzt. Die Maßnahme ist nicht verhältnismäßig, weil
7956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
fatale Nebenwirkungen für die Betroffenen nicht mini-
miert, sondern billigend in Kauf genommen werden.
Deshalb lehnen wir die Einführung des biometrischen
Personalausweises ab, deshalb wollen wir die Fingerab-
drücke nicht gespeichert haben, deshalb fordern wir die
Bundesregierung auf, den Bürgerrechten und dem Da-
tenschutz endlich die nötige Priorität einzuräumen. Neh-
men Sie sich deshalb die vorliegenden Anträge zu Her-
zen, und lassen Sie ab von dieser Änderung des
Passgesetzes.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deutschland hat die Präsidentschaft in der Europäischen
Union für sechs Monate übernommen. Da ist es gut,
wenn man Vorreiter in europäischen Fragen ist. Dabei
sollte man aber nicht vom Pferd fallen, wie sie das hier
mit der beabsichtigten Änderung es Passgesetzes tun. Es
stimmt, dass die EU-Verordnung biometrische Merk-
male in Pässen vorschreibt. Sie sagt aber nicht, welche,
und fordert auch nicht auf, sie jetzt schon einzuführen.
Trotzdem wollen Sie mit Ihrem Gesetzesentwurf schon
heute Fingerabdrücke in den Reisepässen einführen und
morgen wollen Sie das auch im Bundespersonalausweis
tun.
Dafür haben Sie sich ausgerechnet den Fingerabdruck
ausgesucht. Gerade der Fingerabdruck ist nun wirklich
nicht fälschungssicher. Es gibt da eine sehr instruktive
Anleitung von Chaos Computer Club im Internet. Zur
Fälschung des Fingerabdrucks braucht es nur: den De-
ckel einer Plastikflasche, etwas Sekundenkleber, eine
Digitalkamera, etwas Holzleim und einen hautfreund-
lichen Kleber. Sicherheit setzt sich anders zusammen.
Reden Sie sich bitte nicht mit der EU-Verordnung
heraus. Die zwingt sie weder, den Fingerabdruck über-
haupt, geschweige denn ihn so früh einzuführen. Es
heißt in der englischen Originalfassung – ich habe das
extra einmal nachgeschlagen – nur „die Mitgliedstaaten
sollen“ Fingerabdrücke einführen. Verpflichtend ist das
nicht. Sie „sollten“ ja auch alle morgen der Gesundheits-
reform zustimmen. Für die, die dagegen stimmen wol-
len: Es wird Ihnen kein Leid daraus erwachsen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Wir sind nicht strikt
gegen die Einführung biometrischer Merkmale. Aber sie
müssen sicher sein, und der Datenschutz muss gewahrt
werden. Das können Sie und wollen Sie auch nicht ga-
rantieren. Die neuen Pässe sind nicht fälschungssicher.
Gegenüber den jetzigen guten Pässen wird es einen
Rückschritt geben. Das sagen Ihre eigenen Experten bei
der Bundesdruckerei. Gerade biometrische Erkennungs-
systeme haben immer noch eine inakzeptabel hohe Feh-
lerrate. Die neuen Pässe können damit sogar einen Ab-
bau von Sicherheit bedeuten. Dort, wo man sich auf die
scheinbar sichere Technik verlässt, kann man anschei-
nend auf gut ausgebildete Beamte und Beamtinnen ver-
zichten. Dabei weiß jeder: Die Technik ist immer nur so
gut, wie derjenige, der sie bedient. Für die Entwicklung
und Erprobung hätten wir uns noch mehr Zeit ge-
wünscht. Stattdessen legen Sie überhastet ein Gesetz vor,
das wegen der rasanten technischen Entwicklung sicher-
lich bald nachbesserungsfahig sein wird.
Datenschutz sieht anders aus, vor allem, weil durch
die Speicherung der biometrischen Daten eine Referenz-
datei entstehen kann. Die Gefahr gibt es. Ich meine, auch
der Bundesinnenminister sieht darin gar keine Gefahr,
sondern sogar eine Chance, eine Chance für noch mehr
Überwachung und noch mehr Abbau von Freiheit.
Worauf ich anspiele ist Folgendes: Sie planen eine
Reform der Melderegister. Wenn man die Angaben über
den Wohnort und die dort eingegebenen Lichtbilder mit
der Datei verbindet, haben Sie die Referenzdatei, dann
haben sie die Datei, die Ihnen die totale Überwachung
der Bürgerinnen und Bürger ermöglicht. Je mehr Dateien
Sie schaffen, desto stärker werden sie diese Dateien auch
verknüpfen. Wenn sie es nicht durch Bundesgesetz oder
Kooperationen mit den Ländern tun, machen Sie es über
den Umweg EU oder indem Sie sich in eine völkerrecht-
liche Verpflichtung wie bei den Fluggastdaten flüchten.
Vor dem Weg des Passgesetztes warne ich Sie. Man
kann biometrische Daten einführen. Aber das muss si-
cher geschehen und den Datenschutz verbessern, nicht
ihn abbauen. Deshalb fordere ich Sie auf: Verzichten Sie
auf die Einführung biometrischer Daten im Bundesper-
sonalausweis! Machen Sie die Speicherung und Auswer-
tung dieser Daten erst einmal sicher, und erproben sie
die Technik doch erst einmal ausgiebig in der Praxis.
Verzichten Sie auch generell auf die Speicherung von
Fingerabdrücken, denn diese sind nicht sicher. Lassen
Sie lieber die Finger von der Referenzdatei und von al-
lem, was dabei helfen kann, eine Referenzdatei aufzu-
bauen.
Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Zum 1. November 2005 wurde der
elektronische Pass in Deutschland erfolgreich einge-
führt. Er enthält einen Chip, auf dem als erstes biometri-
sches Merkmal das Lichtbild des Passinhabers elektro-
nisch gespeichert ist. Mit dem vorliegenden Gesetz
werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass
Deutschland ab November 2007 in Umsetzung der EG-
Verordnung zu biometrischen Merkmalen in Pässen
elektronische Reisepässe ausstellen kann, in deren Chips
neben dem Lichtbild auch Fingerabdrücke gespeichert
werden. Kern des Entwurfes sind die Schaffung einer
Rechtsgrundlage für die Erhebung der Fingerabdrücke
durch die Passbehörden sowie die Regelung der Befug-
nisse der den Pass und dessen Inhaber kontrollierenden
Stellen.
Deshalb lassen Sie mich nachfolgend die wichtigsten
Fragen in diesem Zusammenhang beantworten.
Warum wollen wir den Einsatz von Biometrie in Per-
sonaldokumenten? – Weil die Technik einen wichtigen
Beitrag für die Innere Sicherheit leisten kann. Dies wird
insbesondere deutlich, wenn wir den Schengenraum als
Ganzes betrachten. Es gibt europäische Länder, deren
Personaldokumente sich mit einem Farbkopierer täu-
schend echt nachahmen lassen, weil Sicherheitsmerk-
male wie Hologramme und dergleichen fehlen. Diese
Schwachstellen haben sich Kriminelle in der Vergangen-
heit systematisch zunutze gemacht. Dank der EG-Ver-
ordnung zu Pässen und Reisedokumenten kann dieses
Sicherheitsgefälle in Europa nun abgebaut werden, denn
einheitliche, verbindliche Standards liegen jetzt vor.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7957
(A) (C)
(B) (D)
Dazu gehört der Chip mit zwei biometrischen Merkma-
len: zunächst mit digitalem Passfoto, im zweiten Schritt
kommen die Fingerabdrücke hinzu. Die Chiptechnologie
ist nicht nur eine erhebliche Hürde für Dokumentenfäl-
scher, sondern sie ermöglicht eine neue Qualität der
Grenzkontrolle: Zukünftig wird maschinell prüfbar sein,
ob diejenige Person, die einen Pass vorlegt, auch tatsäch-
lich der Passinhaber ist. Denn Foto und Fingerabdrücke
im Chip können mit live an der Grenze erhobenen bio-
metrischen Merkmalen verglichen werden. Selbstver-
ständlich muss das auf nationaler Ebene im Detail gere-
gelt werden. Das führt mich zu meiner nächsten Frage.
Was wollen wir im neuen Passgesetz regeln? – Um es
kurz zu sagen: die Erhebung, Speicherung und Kontrolle
der Fingerabdrücke, also den elektronischen Reisepass
der zweiten Generation. Bislang wird ja in den Chips der
seit November 2005 ausgegebenen elektronischen Pässe
nur ein biometrisches Merkmal gespeichert, das Pass-
foto. Über 2,6 Millionen dieser Dokumente haben wir
bislang in Deutschland ausgegeben. Während das Foto
in Papierform schon seit jeher Bestandteil von Pässen
war, stellen die Fingerabdrücke nun eine neue Qualität
persönlicher Daten im Pass dar. Dem trägt der Passge-
setzentwurf durch klare Vorgaben Rechnung: Zum einen
wird eine bundesweite Datenbank mit biometrischen Da-
ten ausdrücklich ausgeschlossen. Abgesehen von der
Speicherung des Lichtbildes im örtlichen Passregister,
werden die biometrischen Daten ausschließlich im
E-Pass-Chip gespeichert. Bürgerinnen und Bürger haben
ihre Daten also buchstäblich in der Hand. Zum anderen
ist der Zugriff auf diese biometrischen Daten im Chip
ausschließlich für klar definierte behördliche Kontroll-
zwecke vorgesehen.
Lassen Sie mich Ihnen weitere Punkte des Passge-
setzentwurfs benennen, aus denen sich unsere sicher-
heitspolitische Strategie in Sachen Biometrie deutlich
ablesen lässt:
Der E-Pass ist kein Selbstzweck, sondern Teil eines
integrierten Konzepts. Dazu gehören auf EU-Ebene auch
die geplante Einführung des Visuminformationssystems
und der biometriegestützten Aufenthaltskarte. Ziel ist es,
alle Menschen im Schengenraum sicher zu identifizie-
ren – egal, ob sie als EU-Bürger, internationaler Tourist
oder Asylsuchender die Grenze passieren. Entscheidend
ist ein gemeinsamer hoher Dokumenten- und Kontroll-
standard im gesamten Schengenraum. Dies spiegelt sich
im Passgesetzentwurf wider. So sollen Rechtsgrundla-
gen geschaffen werden, um biometriegestützte Identi-
tätsüberprüfungen auch bei Unionsbürgern, Drittstaats-
angehörigen und Asylbewerbern durchführen zu
können. Bei Drittstaatsangehörigen soll darüber hinaus
ein – verdachtsunabhängiger – Abgleich der Lichtbilder
und Fingerabdrücke mit den Datenbeständen des BKA
ermöglicht werden. Dies ist insbesondere bei der Ein-
reise dann erforderlich, wenn im Rahmen der Visumer-
teilung eine Identitätsüberprüfung noch nicht stattgefun-
den hat. So viel zum Passgesetzentwurf.
Ich möchte nun im letzten Teil meiner Ausführungen
auf einige Details der FDP-Anträge eingehen, die ich un-
ter folgende Frage subsumiert habe:
Sind der elektronische Reisepass und der elektroni-
sche Personalausweis für unsere Bürgerinnen und Bür-
ger ein Datenschutzrisiko? Meine klare Antwort: Nein.
Lassen Sie mich mit dem E-Pass beginnen. Dazu nenne
ich als Stichworte das zuvor erwähnte Verbot einer bun-
desweiten Datenbank und dass die Fingerabdrücke im
Chip ausschließlich hoheitlichen Kontrollzwecken vor-
behalten bleiben. Es bleibt also nur die Frage nach der
Sicherheit der Daten im Chip selbst, und dafür haben wir
Vorsorge getroffen. Aus dem FDP-Antrag zu biometri-
schen Pässen wird deutlich, dass gegenüber diesen Vor-
kehrungen Misstrauen besteht, aber auch, dass die tech-
nischen Mechanismen im Detail nicht bekannt sind.
Denn die im Antrag formulierten Annahmen entspre-
chen nicht der Faktenlage.
Ein Beispiel: Es wird behauptet, dass die im Chip ge-
speicherten Daten bei aktivem Auslesen in bis zu 10 Me-
ter Entfernung empfangen werden können. Das ist weit
von der Realität entfernt: Nach Untersuchungen des
Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik
ist das aktive Auslesen eines E-Pass-Chips nur in einer
Entfernung von wenigen Zentimetern möglich. Um elek-
tronische Pässe auslösen zu können, muss ein Lesegerät
also bis auf eine geringe Entfernung an den Pass heran-
kommen, Pass und Lesegerät müssen sich einige Sekun-
den in Ruhe befinden, und die Passnummer, das Ge-
burtsdatum des Inhabers und das Ablaufdatum des
Reisepasses müssen bekannt sein bzw. in einem aufwen-
digen Verfahren „geraten“ werden.
Zweite Behauptung: beim passiven Auslesen, also
dem Empfang der Daten eines von einem berechtigten
Lesegerät aktivierten Chips, zum Beispiel bei der Grenz-
kontrolle, sei der Empfang in bis zu 30 Metern Entfer-
nung möglich. Auch das ist nicht richtig: Ein fehlerfreies
passives Mitlesen ist nach Untersuchungen des BSI nur
unter optimalen Bedingungen und in einer Entfernung
von weniger als 3 Metern möglich.
Und noch ein Beispiel aus dem FDP-Antrag: Die Ver-
schlüsselungsstärke von rund 56 Bit sei nicht ausrei-
chend. Auch das ist falsch. Stattdessen handelt es sich
um ein sogenanntes Hybrid-Verfahren, bei dem die
Kommunikation zwischen Chip und Lesegerät mit ei-
nem 112-Bit-Schlüssel verschlüsselt ist. Lediglich der
Schlüsselaustausch erfolgt mit einer Stärke von 56 Bit.
Dies wird als völlig ausreichend angesehen. Der Auf-
wand, einen solchen Schlüssel zu ermitteln, stünde doch
in keinem Verhältnis zum Informationsgewinn. Wo ist
also das Bedrohungspotenzial? Der Schutz der im
E-Pass gespeicherten personenbezogenen Daten ist an-
gemessen und ausreichend. Ich könnte hier noch mehr
technische Details nennen, möchte mich aber kurz fas-
sen. Die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf
in Sachen Chipsicherheit. Bisher konnte in keinem einzi-
gen Fall ein elektronischer Reisepass gefälscht oder ge-
klont werden. Und das wird auch so bleiben.
Auch die Ausführungen der FDP im Antrag zum
elektronischen Personalausweis sind nicht geeignet, die
Bundesregierung von ihrem Vorhaben der Einführung
im Jahr 2008 abzubringen. Der elektronische Personal-
ausweis wird kein Datenschutzrisiko sein. Im Gegenteil:
Der neue Ausweis ist die Antwort auf bestehende Si-
cherheitslücken – und damit Datenschutzdefizite –, die
7958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
heute beispielsweise im Internet bestehen. Sie alle ken-
nen das Problem der Datenspionage beim Onlineban-
king! Der neue Ausweis gibt dem zukünftigen Doku-
menteninhaber die Möglichkeit, unter eigener Kontrolle
seine Daten zuverlässig im Internet zu übermitteln. Nie-
mand braucht mehr Angst zu haben, dass ein Unbefugter
heimlich Konten online abräumt oder im Internet unter
falschem Namen Geschäfte macht. Der Ausweisinhaber
wird sogar auswählen können, ob nur Name, Adresse
oder vielleicht nur die Altersangabe elektronisch über-
mittelt werden soll. Die technischen Möglichkeiten, die
die Chiptechnologie insbesondere für Internetanwendun-
gen bietet, sollten wir unseren Bürgerinnen und Bürgern
nicht vorenthalten. Schließlich ist das Internet längst zu
einem wichtigen Bestandteil unseres Alltags geworden.
Für Behörden und Unternehmen – Stichworte E-Govern-
ment und E-Business – ist eine solche sichere Online-
identifizierung zudem Voraussetzung, um Gewissheit zu
haben, mit wem sie kommunizieren.
Für den elektronischen Personalausweis sehe ich da-
her keine Veranlassung für einen Kurswechsel in unse-
ren Planungen. Dennoch nimmt die Bundesregierung be-
stehende Ängste und Vorbehalte gegen den Einsatz der
Biometrie und Chiptechnologie ernst. Wir sind bestrebt,
Irrtümer und Missverständnisse auszuräumen. Dabei set-
zen wir auch auf Berichte wie den vorliegenden zur
Technikfolgenabschätzung, der insgesamt einen guten
Überblick zur Biometrienutzung für Dokumente und
Grenzkontrollen bietet. Zwar ist der Ansatz des Berichts
insgesamt richtig, jedoch sind eine Reihe der dort enthal-
tenen Informationen mittlerweile überholt. Eine Befas-
sung des fast zweieinhalb Jahre alten Berichts vor dem
Hintergrund des inzwischen eingetretenen Fortschritts
erscheint mir daher nicht mehr geboten.
Lassen Sie mich noch eines zu den neuen Pässen und
Ausweisen und der Biometrie insgesamt sagen: Wir soll-
ten die neuen Technologien nicht pauschal verurteilen,
sondern auf reeller Faktenbasis ihre Chancen prüfen und
nutzen! Dabei muss das Grundrecht unserer Bürgerinnen
und Bürger auf informationelle Selbstbestimmung ge-
nauso geschützt werden wie ihre Sicherheit.
Gert Winkelmeier (fraktionslos): „Denn sie wissen,
was wir tun!“ titelte „Die Zeit“ vor anderthalb Jahren ei-
nen aufschlussreichen Artikel zum Thema Geheim-
dienste, Polizei und Bürgerrechte. Anlass war die bevor-
stehende Einführung des biometrischen Reisepasses.
Sicherheitsexperten, Computerfreaks und Bürgerrechtler
hatten schon im Vorfeld auf erhebliche Risiken hinge-
wiesen. Auch der oberste Datenschützer dieses Landes,
Peter Schaar, warnte in seinem Tätigkeitsbericht im
April 2005 vor einem Schnellschuss: Sorgfalt müsse vor
Schnelligkeit gehen. Dennoch wurden die ersten neuen
Pässe im November 2005 eingeführt. Der ehemalige In-
nenminister Schily sah, wie eines seiner Lieblingskinder
das Licht der Welt erblickte. Nur am Rande möchte ich
nochmals auf die Anekdote hinweisen, dass der Innen-
minister a. D. inzwischen eine Minderheitenbeteiligung
an der Firma besitzt, die diese biometrischen Reisedoku-
mente anbietet.
Derweil haben die Experten ihre Bedenken auch
praktisch belegen können: Den Code des RFID-Chips
hatte eine niederländische Sicherheitsfirma bereits inner-
halb von zwei Stunden nach der Aufzeichnung ent-
schlüsselt. Danach lagen Geburtsdatum, Foto und Fin-
gerabdruck des Passinhabers im Klartext vor.
Anleitungen, wie man sich ein RFID-Chip-Lesegerät
selber bauen kann, lassen sich inzwischen aus dem Inter-
net runterladen. Dem deutschen Sicherheitsexperten
Lukas Grunwald ist es gelungen, den Chip zu klonen.
Auch ist es nach seinen Angaben möglich, einen Pass
mit einem fremden Chip zu ergänzen. Die Lesegeräte
nutzen nur den nächstgelegenen Chip. Grunwald nennt
das Design der E-Pässe einen „totalen Hirnschaden“. Ein
altes deutsches Sprichwort besagt: „Aus Schaden wird
man klug.“ Nur scheint es nicht immer zuzutreffen.
Es wäre wirklich vernünftig, auf die weitere Ausgabe
der biometrischen Pässe zu verzichten, bis ein sicheres
und anpassungsfähiges System für den Chip entwickelt
worden ist. Sollte dies nicht gelingen – und davon ist bei
der Rasanz der technischen Entwicklungen eigentlich
auszugehen –, ließe sich auch problemlos ganz auf die-
ses Dokument verzichten. Denn eigentlich hatte das
Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsur-
teil von 1983 die systematische, maschinell gestützte
Durchleuchtung der Bevölkerung verboten. Nur will
sich daran seit dem 11. September niemand mehr so
recht erinnern.
Am biometrischen Pass haben sich die Sicherheits-
mängel des biometrischen Chips bereits offenbart. Wes-
halb dann auf die Einführung des biometrischen Perso-
nalausweises nicht gänzlich verzichtet wird, ist nur
schwer nachvollziehbar. Zudem wird aufgrund der be-
stehenden Ausweispflicht jeder Bürger verpflichtet,
seine biometrischen Merkmale abzugeben. Das ist ein
unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf informa-
tionelle Selbstbestimmung. Die bürgerlichen Freiheits-
rechte werden ein weiteres Mal geschädigt.
Wir haben es hier also mit einem doppelten Schaden
zu tun: einem technischen am biometrischen Chip und
einem von Sicherheitspolitikern gewollten ideellen an
den Bürgerrechten. Aber aus Schaden wird man anschei-
nend nicht immer klug; vor allen Dingen dann nicht,
wenn man es nicht will! Im Sicherheitswahn nach dem
11. September will man lieber wissen, was wir tun.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Verbot von Telefon-
werbung zum Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher wirksam durchsetzen (Tages-
ordnungspunkt 18)
Julia Klöckner (CDU/CSU): Mit dem Antrag „Ver-
bot von Telefonwerbung zum Schutz der Verbraucherin-
nen und Verbraucher wirksam durchsetzen“, wird ein
Problem angesprochen, womit wir uns schon seit gerau-
mer Zeit beschäftigen. Deshalb stimme ich zunächst
auch einmal zu: Wir brauchen eine bessere Durchset-
zung des Gesetzes gegen unerlaubte Telefonwerbung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7959
(A) (C)
(B) (D)
Das Problem ist bekannt. Bleibt zu klären, wie wir
hier zu einer Lösung kommen. Schauen wir uns doch
einmal die jetzige Rechtslage an: In Deutschland gibt es
seit drei Jahren ein Verbot von belästigender Telefon-
werbung. Trotz dieses Verbotes durch Art. 7 Abs. 2 Nr. 2
des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb haben sich
ungebetene Telefonanrufe bei Verbrauchern immens
ausgeweitet. Die Klagen und Erfahrungen von Bürgerin-
nen und Bürgern sind uns allen bekannt. Das von der rot-
grünen Bundesregierung in der vergangenen Legislatur
eingebrachte Gesetz ist in seiner Anwendung leider
zahnlos. Gerade die Fraktion der Grünen hatte sich
genau für den jetzt geltenden Passus im UWG einge-
setzt. Es sieht etwas nach „schlankem Fuß“ aus, aus der
Oppositionslage heraus neue Lösungsansätze zu fordern,
die man selbst in der damaligen Regierungsverantwor-
tung hätte geben können, aber nicht hat.
Warum wird gegen das geltende Gesetz verstoßen?
Weil sich Anbieter durch diese Anrufe den Vertrieb oft
minderwertiger, überteuerter und riskanter Produkte
oder Verträge erhoffen und auch erzielen, und sich der
Verbraucher nur selten dagegen wehrt. Natürlich dürfen
wir die gesamte Callcenterbranche und das Telefon-
marketing als solche nicht verteufeln. Wichtig ist, dass
wir zwischen schwarzen Schafen und seriösen Unterneh-
men unterscheiden. Die Callcenterbranche entwickelte
sich in den vergangenen Jahren wirtschaftlich gut. Die
Arbeitsplätze müssen hier langfristig gesichert sein und
dürfen nicht unter dem schlechten Ruf krimineller Un-
ternehmen leiden. Viele seriöse Callcenter rufen erst
nach vorheriger und schriftlicher Einwilligung an oder
betreuen auf diese Weise ihre Stammkunden.
Nach der jetzigen Rechtslage handelt es sich aber bei
den sogenannten Cold Calls, wenn also die Privatperso-
nen zuvor nicht eingewilligt haben, um eine unzumut-
bare Belästigung. Das Schema ist immer gleich: Die An-
rufe erfolgen zumeist abends und am Wochenende und
versprechen mit Stimmen vom Band oder Callcentermit-
arbeitern eine Urlaubsreise, einen lukrativen Zweitjob,
hohe Gewinne, günstige Kredite oder die Bitte um Teil-
nahme an Meinungsumfragen. Die Beschwerden in mei-
nem Wahlkreis, aber auch bei den Verbraucherzentralen
haben enorm zugenommen. Besonders ältere Menschen
wissen nicht, wie sie gegen solche Belästigungen vorge-
hen sollen und welche Rechte sie haben. Oftmals geben
sie dubiosen Firmen ihre Kontonummer und werden re-
gelrecht abgezockt. Die Alternative kann hier aber ge-
wiss nicht sein, immer erst den Anrufbeantworte laufen
zu lassen.
Neben den Anrufautomaten, die zumeist unwahre Ge-
winnmitteilungen auf Anrufbeantwortern von Festnetz-
telefonen hinterlassen, ist ein weiterer neuer Trend be-
sonders ärgerlich: sogenannte Pin-Anrufe. Bei diesen
Anrufen wird gezielt ein einmaliges Rufzeichen übertra-
gen und danach die Anwahl beendet. Dies reicht aus, um
über die Clip-Funktion etwa eine hochpreisige Mehr-
wertdienstnummer zu übertragen. Das Erscheinen der
Nummer animiert dann auf dem Telefondisplay zum teue-
ren Rückruf.
Wollen Verbraucher gegen solche illegalen Anrufe
vorgehen, müssen sie eine Vielzahl von Informationen
sammeln. Der Angerufene muss sich beispielsweise no-
tieren, wann der Anruf eingeht und – wenn möglich –
welche Nummer auf dem Display erscheint. Ebenso
muss nach dem Namen der Firma und nach dem Grund
des Anrufes gefragt werden. Mit diesen Notizen können
sich die Betroffenen an die Verbraucherzentrale oder die
Wettbewerbszentrale wenden, damit diese rechtlich mit
Unterlassungsansprüchen gegen die schwarzen Schafe
vorgehen können. Da dies aber die wenigsten Verbrau-
cher wissen und der Weg umständlich und für die beläs-
tigenden Anrufer nicht abschreckend genug ist, bleiben
viele solcher Anrufe ungeahndet.
Der Zuwachs unerlaubter Telefonwerbung lässt sich
in Zahlen belegen: Die aktuelle Umfrage der Gesell-
schaft für Konsumforschung vom Januar 2007 ist ein
weiteres Indiz dafür, dass wir hier etwas tun müssen. Mit
72,5 Millionen Werbeanrufen im dritten Quartal ver-
zeichnete die Branche im Vergleich zum vorherigen
Quartal einen Zuwachs von 31,3 Prozent. Dabei haben
vor allem Lotterien und Gewinnspiele mit 25,3 Prozent
die Nase vorne, gefolgt vom Telekommunikationsbe-
reich. Allein im ersten Quartal erfasste die Gesellschaft
für Konsumforschung 82,6 Millionen ungebetene telefo-
nische Werbekontakte. 66,1 Prozent der befragten Anru-
fer empfanden die Anrufe als störend und 63,7 Prozent
der Befragten brachen das Telefonat sogar frühzeitig ab.
Man sieht, wir haben das Problem erkannt. Eine von
der Fraktion der Grünen geforderte Gewinnabschöpfung
ist wenig hilfreich und konstruktiv: Denn gerade der An-
ruf zu Werbezwecken erfolgt stets vorsätzlich. Dies wird
auch vor keinem Gericht mit Erfolg zu bestreiten sein.
Eine Verschärfung des § 10 des UWG ist vor diesem
Hintergrund und in diesem Zusammenhang deshalb we-
der erforderlich noch zielführend. Anders ausgedrückt:
Wir müssen bei allen Forderungen auf die Rechtssyste-
matik achten; das UWG hat zivilgesetzlichen Charakter.
Um illegaler Telefonwerbung gerecht zu werden, benöti-
gen wir eine Vielzahl von Maßnahmenbündeln, und
selbst dann ist vor allem auch der Verbraucher gefragt.
Denn ohne eine ausreichende Sachverhaltsdarlegung
oder eine Zeugenaussage im Verfahren wird eine effek-
tive Rechtsverfolgung bei illegaler Telefonwerbung
kaum möglich sein. Flächendeckende Aufklärung tut
hier genauso not wie eine bessere Vernetzung der betei-
ligten Gruppen, zum Beispiel der Verbraucherzentrale,
der Netzagentur, der Wettbewerbszentrale, der Callcen-
ter und der Unternehmen. Und eines darf man hierbei
trotz allem nicht vergessen: Selbst wenn wir verschärft
gegen illegale Telefonwerbung vorgehen, die Anrufe aus
dem Ausland zum Beispiel werden wir so nicht verhin-
dern.
Die Kolleginnen und Kollegen können sicher sein,
dass wir der Sache nachgehen werden. Deshalb werden
wir auch eine fraktionsinterne Anhörung zu diesem
Thema durchführen, um so konstruktive und vor allem
zielführende Lösungsansätze zu finden. Die Einstufung
als Ordnungswidrigkeit und das Belegen mit einem Buß-
geld oder die Regelung, dass telefonische Verträge einer
Unterschrift bedürfen oder dass das Widerrufsrecht an-
7960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
ders gestaltet wird, sind zwar Überlegungen. Sinn macht
aber nur das, was auch zum Ziel führt. Die Kolleginnen
und Kollegen von der Fraktion der Grünen wissen es
doch am besten. Sie hätten ja in der vergangenen Legis-
laturperiode handeln können. Nun gilt Gründlichkeit vor
Schnelligkeit – Gesetze müssen auch anwendbar und
wirkungsvoll sein. Mit Aktionismen allein ist dem Ver-
braucher noch nicht geholfen.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Ein deutscher
Schlagersänger beklagte sich vor einigen Jahren: „Kein
Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für
mich, solange ich hier wohn’, ist es fast wie Hohn,
schweigt das Telefon.“ Diese Situation empfand der
Sänger Max Raabe für die heutige Zeit wohl zu Recht
als außergewöhnlich, und er fuhr deshalb fort: „Den Zu-
stand find ich höchst fatal, für heut’ge Zeiten nicht nor-
mal, wo jeder nur darüber klagt, das Telefon an Nerven
nagt.“
Wir wissen nicht, welche Anrufe sich Herr Raabe
wünschte. Allerdings wissen wir, dass allein im Zeit-
raum von Januar bis März 2006 82,6 Millionen Werbe-
anrufe in Deutschland getätigt wurden. Statistisch wurde
damit jeder Deutsche in diesem Quartalsabschnitt min-
destens einmal angerufen. Tendenz steigend. Nach Un-
tersuchungen der Gesellschaft für Konsumforschung
stieg die Zahl der Werbeanrufe in den ersten drei Quarta-
len 2006 gegenüber dem Vorjahr um 31,3 Prozent, und
bei einem Besuch in der Verbraucherzentrale meiner
Heimatstadt Mönchengladbach hatte ich bereits im letz-
ten Jahr Gelegenheit, mich von der Zunahme der Ver-
braucherbeschwerden über unerbetene Werbeanrufe und
unsolide Geschäftspraktiken am Telefon zu überzeugen.
Allerdings – und auch das sollten wir uns vor Augen hal-
ten – ist nicht jeder Werbeanruf auch gleich ein Verstoß
gegen die Vorschriften des UWG.
Daher halte ich grundsätzlich die Regelung in § 7
UWG für richtig und zielführend. Dieser Paragraf regelt,
dass ein Anruf dann eine unzumutbare Belästigung
darstellt, wenn er eine Werbung gegenüber einem Ver-
braucher zum Inhalt hat, die ohne dessen Einwilligung
geschieht Das erkennt offenbar auch der Antrag der
Grünen an, der lediglich Änderungen auf der Rechtsfol-
genseite vorschlägt. Der Gesetzgeber hat demnach einen
Tatbestand geschaffen, der die Grenzen unerlaubter
Telefonwerbung klar umreißt und daher auch in der
Rechtspraxis handhabbar ist. Ob die zur Verfügung ge-
stellten Sanktionsmechanismen allerdings abschreckend
genug sind, um unseriöse Werbeanrufe vom Verbraucher
fernzuhalten, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Die von den Grünen vorgeschlagenen Änderungen
gehen in die gleiche Richtung wie die Forderungen, die
bereits die Verbraucherschutzverbände in die öffentliche
Debatte eingebracht haben. Diese Vorschläge sind zu-
nächst auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Die Ver-
braucherverbände bieten gleich ein ganzes Arsenal von
Sanktionsmöglichkeiten an. Unsere Aufgabe im Deut-
schen Bundestag ist es nun, zu untersuchen, ob und in-
wieweit die einzelnen Optionen die Verbraucher wirk-
lich besser vor unerwünschten Werbeanrufen schützen
können. Nicht alle Vorschläge überzeugen mich jeden-
falls auf Anhieb.
Als ein Beispiel will ich hier die Ausweitung des Ge-
winnabschöpfungsanspruchs nennen. Nach den Vorstel-
lungen der Grünen soll der Anspruch bereits bei einem
grob fahrlässig handelnden Unternehmen eintreten, wäh-
rend die jetzige Rechtslage ein vorsätzliches Verhalten
vorschreibt. Die Gewinnabschöpfung ist ein scharfes
Schwert. Auch wenn lediglich der Gewinn abgeschöpft
wird und damit beispielsweise Herstellungskosten oder
Betriebskosten noch in Abzug zu bringen sind, führt der
Einbezug einer Vielzahl von Verträgen zu durchaus statt-
lichen Summen. Da wo der Gesetzgeber bislang Ge-
winnabschöpfung angeordnet hat, will er gerade diese
drakonische Sanktion; denn schließlich steht bei der Ge-
winnabschöpfung die Abschreckungswirkung im Vor-
dergrund und nicht ein Vermögensausgleich.
Diese abschreckende Wirkung darf sich schon aus
rechtsstaatlichen Gründen aber nur dann entfalten, wenn
dem auch ein entsprechendes Unrechtsverhalten gegen-
übersteht. Schon im Rahmen der Debatte der letzten No-
vellierung des UWG wurde die Frage erörtert, warum
ein fahrlässiges Verhalten nicht ausreicht, um eine Ge-
winnabschöpfung anzuordnen. Fahrlässig handelt grund-
sätzlich nämlich bereits die Person, die in Kenntnis des
Sachverhalts wettbewerbswidrig handelt. Insbesondere
handelt im Wettbewerbsrecht nach BGH-Rechtspre-
chung derjenige fahrlässig, der sich im Grenzbereich
wettbewerbsrechtlicher Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit
bewegt und daher mit einer anderen Beurteilung seines
zumindest bedenklichen Verhaltens rechnen muss.
Ob der jetzige Vorschlag der Grünen nun gänzlich an-
ders zu bewerten ist als entsprechende Vorstöße bei der
Novellierung des UWG in der letzten Wahlperiode, nur
weil er sich nun auf „grobe“ Fahrlässigkeit beschränkt,
ist mir noch nicht ganz ersichtlich. Auch wenn der Ge-
winnabschöpfungsanspruch nur die Fälle betreffen soll,
in denen die erforderliche Sorgfalt in besonderem Maße
nicht beachtet wurde, macht es bei dieser Art der Sank-
tion doch einen gravierenden Unterschied, ob sich eine
Person bewusst für eine Rechtsverletzung entscheidet
oder nicht. Aber auch hier sagen wir eine unvoreinge-
nommene Prüfung zu.
Noch mehr Probleme bereitet aus meiner Sicht aber
der Vorschlag, den abgeschöpften Gewinn verpflichtend
an Einrichtungen des Verbraucherschutzes zu übertra-
gen. Das wäre aus meiner Sicht überhaupt nur dann zu
diskutieren, wenn die Verbraucherschutzverbände die
einzigen Einrichtungen wären, die den Anspruch auf Ge-
winnabschöpfung geltend machen könnten. Der ein-
schlägige § 10 UWG bezieht sich indes nicht nur auf
Verbraucherschutzverbände, sondern beispielsweise
auch auf Kammern. Mit welchen Argumenten hier eine
Ungleichbehandlung unter den verschiedenen Klagebe-
fugten gerechtfertigt werden soll, sehe ich mit großer
Spannung entgegen.
Die Einfuhrung eines Bußgeldtatbestandes halte ich
da schon für interessanter. Auch hier werden wir uns ge-
nau ansehen, ob hierdurch eine echte Verbesserung für
die Verbraucher erreicht werden kann.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7961
(A) (C)
(B) (D)
Die Änderungen der UWG-Novelle sind keine zwei-
einhalb Jahre in Kraft, und eine solide Evaluation über
die Bewährung dieser Vorschriften in der Rechtspraxis
hat noch nicht stattgefunden. Es ist uns daher in dieser
Debatte nicht damit geholfen, Schnellschüsse in typi-
scher Oppositionsmanier abzufeuern, wie dies bei die-
sem Antrag der Grünen offensichtlich geschieht.
Innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben
wir bereits im letzten Jahr eine Arbeitsgruppe zu diesem
Thema gegründet, weil auch wir mit der Einhaltung der
Anrufverbote aus § 7 UWG nicht zufrieden sind. Wir
werden uns in den nächsten Wochen mit der Problematik
und mit möglichen Lösungsansätzen gründlich auseinan-
dersetzen. Ich freue mich also dann auf konstruktive
Gespräche mit den Fraktionen dieses Hauses im Inte-
resse einer praktischen und verbraucherfreundlichen Lö-
sung – schon alleine, damit Menschen wie Max Raabe
sich noch wirklich auf Telefonanrufe freuen können und
das Telefon kein Instrument wird, das nur noch „an Ner-
ven nagt“.
Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren am heuti-
gen Abend über einen Antrag der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen zur wirksamen Durchsetzung des
Telefonwerbungsverbotes.
Das Grundanliegen des Antrages ist durchaus begrü-
ßenswert. Würde man in der Öffentlichkeit eine Um-
frage starten, würde mit Sicherheit die Mehrheit der Be-
völkerung Telefonwerbung ablehnen. Wir sollten uns
jedoch vor populistischen Schnellschüssen hüten, die
uns nicht weiterhelfen.
Auch wenn ich selbst den Eindruck habe, dass es trotz
des Telefonwerbungsverbots nach wie vor zu ungewoll-
ten Werbeanrufen kommt, muss ich zum Beispiel ehrli-
cherweise eingestehen, dass mir gesicherte Erkenntnisse
über das tatsächliche Ausmaß dieser Belästigung nicht
vorliegen. Dies sollte aber zunächst geklärt werden, um
grundsätzlich den Bedarf nach etwaigen neuen Regeln
festzustellen. Die Zahlen hierüber variieren nämlich er-
heblich.
Während der Antrag von circa 82,6 Millionen telefo-
nischen Werbekontakten allein im ersten Quartal 2006
ausgeht, berichtet die Zentrale zur Bekämpfung unlaute-
ren Wettbewerbs nur von einigen hundert Beschwerden
pro Jahr, wobei allerdings eine hohe Dunkelziffer zuge-
standen wird. Ich meine, dass dies zunächst geklärt wer-
den sollte.
Wir müssen uns auch fragen, ob die gemachten Vor-
schläge geeignet sind, Verbraucher wirksamer vor unge-
wollten Werbeanrufen zu schützen. Wir dürfen ja nicht
verkennen, dass unerwünschte Werbeanrufe schon jetzt
verboten sind.
Dies beinhaltet übrigens, dass bereits jetzt Unterlas-
sungs- und Schadensersatz- sowie Gewinnabschöp-
fungsansprüche bestehen. Der Verbraucher ist zudem
– es geht ja hier um Fernabsatzverträge – durch ein um-
fassendes Widerrufs- und Rückgaberecht geschützt.
Soweit konkret ein Bußgeldtatbestand gefordert wird,
bleibt anzumerken, dass die Verfolgung unerwünschter
Telefonwerbung in der Regel daran scheitert, dass die
Identität des Anrufers auf der anderen Seite nicht zu er-
mitteln ist. Hieran wird aber die Einführung eines Buß-
geldtatbestandes nichts ändern.
Zudem dürfen wir nicht verkennen, dass uner-
wünschte Werbeanrufe zwar belästigend und nervend,
aber gleichwohl nicht mit dem Vergleichbar sind, was
wir ansonsten für ordnungswidrig oder strafwürdig er-
achten.
Letzteres wird im Übrigen auch dazu führen, dass es
Probleme bei den Auskunftsersuchen zur Identitätsfest-
stellung geben wird, jedenfalls dann, wenn es das Fern-
meldegeheimnis betrifft.
Soweit vorgeschlagen wird, dass die Gewinnabschöp-
fung bereits bei grob fahrlässigem Verhalten greifen soll,
bleibt anzumerken, dass dies keinen Sinn macht, weil
Werbeanrufe in der Regel ohnehin vorsätzlich gemacht
werden und damit bereits vom geltenden Recht umfasst
werden.
Ich nehme interessiert zur Kenntnis, dass man in die-
sem Zusammenhang plötzlich offenbar den Gewinnab-
schöpfungsanspruch für geeignet ansieht. Soweit der ab-
geschöpfte Gewinn verpflichtend an Einrichtungen des
Verbraucherschutzes abgeführt werden soll, halte ich
dies für nichtzielführend. Ich meine, es sollte um die Sa-
che gehen, und kein finanzieller Anreiz für die klagebe-
fugten Verbände geschaffen werden.
Ich rate daher den Beteiligten dazu, die Diskussion zu
versachlichen. Das BMJ hat gestern mit den Beteiligten
eine Verbändeanhörung durchgeführt. Ich bin gespannt
auf die Auswertung und kündige schon jetzt an, dass wir
uns an der Diskussion über das streitbefangene Thema
rege beteiligen werden.
Hans Michael Goldmann (FDP): Donnerstag,
23.20 Uhr, das Telefon klingelt. Und es ist nicht etwa
mein Parlamentarischer Geschäftsführer, der mir sagen
will, dass TOP 18 der heutigen Tagesordnung aufgerufen
wird, sondern es ist eine nette weibliche Stimme vom
Band, die mir ins Ohr säuselt, ich habe gewonnen und
müsse nur noch diese 0900er-Nummer anrufen, um mei-
nen tollen Gewinn abzurufen.
Solche Anrufe sind nicht nur ärgerlich, sondern auch
gefährlich denn sie verleiten gutgläubige Bürgerinnen
und Bürger dazu, teure 0900er-Nummern anzurufen, um
einen gar nicht existenten Gewinn abzurufen oder – noch
schlimmer – um dann erst in die Fänge unseriöser Fir-
men zu geraten, die ihnen mit diesen oder jenen Verträ-
gen das Geld aus der Tasche ziehen wollen.
Telefonanrufe zu gewerblichen Zwecken sind in
Deutschland nur dann erlaubt, wenn bereits eine ge-
schäftliche Beziehung besteht oder der Angerufene
vorher eingewilligt hat. Doch dieses Verbot des soge-
nannten Cold Callings interessiert eine Reihe von Unter-
nehmen offensichtlich überhaupt nicht, wie die Zahlen
der immer weiter ansteigenden unerlaubten Werbeanrufe
7962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
zeigen. Solche Anrufe stellen einen besonders hinterlis-
tigen Weg dar, um Menschen mit Überrumpelungstaktik
zu unvorteilhaften Geschäftsabschlüssen zu bewegen.
Denn das Telefon in der privaten Wohnung ist ein Teil
der Privatsphäre. Ein Werbeanruf dort erwischt die meis-
ten Menschen unvorbereitet – und genau das soll ausge-
nutzt werden.
Die Zunahme solcher unerlaubten Werbemethoden ist
tatsächlich zu einem großen Problem geworden. Wir
müssen deshalb auch ernsthaft überlegen, wie wir dem
begegnen. Ich halte aber nichts davon, jetzt mit Schnell-
schüssen Gesetze zu schaffen, die bestenfalls in Geset-
zesform gegossener Good Will sind. Davon hat am Ende
kein Verbraucher etwas.
Es muss in diesem Zusammenhang auch klargestellt
werden: Die weit überwiegende Mehrheit der Unterneh-
men in Deutschland hält sich bezüglich Telefonmarke-
ting an das geltende Recht, das zudem in Deutschland
restriktiver ist als in fast allen anderen EU-Staaten. Es
darf daher nicht sein, die gesamte Werbebranche unter
Generalverdacht zu stellen, mit unerlaubten Werbeanru-
fen die Verbraucherinnen und Verbraucher zu belästigen.
Es darf auch nicht unser Ziel sein, gesetzliche Regelun-
gen zu verlangen, die am Ende auch die seriösen Werbe-
treibenden und werbenden Unternehmen knebeln, die
durchaus ein Interesse an einer gesetzeskonformen Di-
rektansprache von Verbrauchern haben können. Das gilt
gerade für kleine und neu gegründete Unternehmen, die
sich andere Formen der Kundenansprache nicht oder
noch nicht leisten können.
Nichtsdestotrotz stellen unerlaubte Werbeanrufe in
Privathaushalten einen gesetzeswidrigen und grundsätz-
lich mit dem Recht auf Privatsphäre unvereinbaren Ein-
griff in Verbraucherrechte dar. Das Verbot des Cold Cal-
lings im UWG muss konsequent durchgesetzt werden.
Allerdings ist das Problem weniger, ob Bußgelder ver-
hängt werden können oder nicht, sondern die Frage der
Ermittlung, wer der Anrufer ist. Auf diese entscheidende
Frage wird in dem Antrag keine Antwort gegeben. Denn
Bußgelder können nur dann durchgesetzt werden, wenn
bekannt ist, wer sich unerlaubter Methoden bedient hat.
Dies ist aber in den allermeisten Fällen technisch fast
unmöglich, wenn Nummern unterdrückt werden oder die
Anrufe aus dem Ausland stammen.
Fragwürdig ist auch die Forderung nach einer Locke-
rung des Verschuldensmaßstabs bei der Abschöpfung
von Unrechtsgewinnen. Es ist richtig, dass der Gewinn-
abschöpfungsanspruch nur selten durchgesetzt werden
kann. Es ist aber ebenso richtig, dass die Norm jedenfalls
eine Ausnahme in unserem Rechtssystem darstellt, mit
der dem Zivilrecht quasi eine strafende Funktion zu-
kommt. Eine solche Ausnahme muss strenge Vorausset-
zungen haben, um nicht durch einen zu weiten Anwen-
dungsbereich die Funktion des Zivilrechts zur Regelung
von Rechtsverhältnissen zwischen Privaten hin zu einem
Instrument des Strafrechts auszudehnen.
Die Abschöpfung von Unrechtsgewinnen im Zivil-
prozess zugunsten des Fiskus kann durchaus eine diszi-
plinierende Funktion erfüllen, da im Zweifel hohe Sum-
men im Raume stehen. Aber auch genau deshalb muss
die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Die geforderte
Ausweitung der tatbestandlichen Voraussetzungen auf
die grobe Fahrlässigkeit bedarf auf jeden Fall einer sehr
genauen Abwägung sowohl hinsichtlich der Systematik
des Zivilrechts als auch hinsichtlich der Verhältnis-
mäßigkeit.
Aus gutem Grunde ist im UWG vorgesehen, dass der
abgeschöpfte Unrechtsgewinn dem Fiskus zufließen
soll, um nicht die klagebefugten Verbände zum Kläger
aus finanziellem Eigeninteresse zu machen, sondern die
Klagen auf die Fälle zu beschränken, in denen ein über-
greifendes Interesse durch die Verbände wahrgenommen
wird. Die Forderung der Grünen, die abgeschöpften Ge-
winne nunmehr durch die Hintertür quasi doch den Ver-
bänden zukommen zu lassen, setzt diese einem Verdacht
aus, der ihre Integrität beschädigen kann.
Allerdings muss sehr wohl darüber nachgedacht wer-
den, ob in Fällen, in denen die Verbände eine derartige
Klage anstrengen wollen und ein größeres gesellschaft-
liches und auch volkswirtschaftliches Interesse an der
Klärung der Frage besteht, der Staat nicht eine Ausfall-
bürgschaft für die Kosten der Rechtsverfolgung über-
nehmen kann. Denn regelmäßig erreichen die Streitwerte
eine Höhe, die bedingt, dass für die klagebefugten Ver-
bände das Prozesskostenrisiko finanziell zu hoch ist. In
solchen Fällen aber kann es auch durchaus im Interesse
des Staates sein, die klagebefugten Verbände darin zu
unterstützen, die Unrechtsgewinne für den Fiskus zu er-
streiten. Bei der Frage des Gewinnanspruchs gilt es, sich
noch einmal sorgfältig mit dem umfangreichen Material,
das noch aus der UWG-Novelle aus der 15. Wahlperiode
vorliegt, auseinanderzusetzen. Was noch vor kurzer Zeit
richtig war, kann heute noch nicht komplett falsch sein.
Wir müssen aufpassen, dass die Gesetzgebung in diesem
Bereich nicht zu kurzatmig wird. Es wird eine Zeit dau-
ern, bis sich das dem deutschen Recht eher fremde In-
strument des Gewinnabschöpfungsanspruchs wirklich
durchsetzen wird.
Notwendig ist – und das kommt in dem Antrag, den
wir hier beraten, leider überhaupt nicht vor – insbeson-
dere Verbraucheraufklärung. Es muss jedem klarge-
macht werden, dass er unerlaubte Werbeanrufe nicht dul-
den muss und was er selbst aktiv dagegen tun kann.
Besonders ist es erforderlich, eine höhere Sensibilität im
Umgang mit den persönlichen Daten bei den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern zu wecken – zur Vermei-
dung von Spam am Telefon oder bei E-Mails trägt be-
sonders bei, wenn Telefonnummern oder E-Mail-
Adressen nicht wahllos gestreut werden. Jeder Verbrau-
cher muss sich hier auch seiner Eigenverantwortung be-
wusst sein, aber auch seine Rechte kennen und wissen,
wie und mit wessen Unterstützung – beispielsweise
nämlich der Verbraucherzentralen – er sie durchsetzen
kann.
Ich würde mir aber auch wünschen, dass der Ansatz
der Werbebranche, sich durch einen Ehrenkodex selbst
Maßnahmen aufzuerlegen, die es schwarzen Schafen
schwerer machen, berücksichtigt wird, wenn wir über
schärfere gesetzliche Maßnahmen beraten. Ich halte es
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7963
(A) (C)
(B) (D)
für einen vielversprechenden Weg, die Selbstheilungs-
kräfte des Marktes durch notwendige gesetzliche Maß-
nahmen zu flankieren. Wir müssen dabei aber aufpassen,
dass wir nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und
die Ansätze, die aus der Wirtschaft selbst kommen, ab-
würgen.
Karin Binder (DIE LINKE): „Guten Tag, unser Zu-
fallsgenerator hat Sie als Gewinnerin eines unserer heu-
tigen Hauptpreise ermittelt …“ Wer von uns hat nicht
schon einmal eine ähnliche Begrüßung am Telefon er-
fahren? Eine freundliche, aber unverbindliche Band-
stimme fordert uns auf, nur noch unsere Adresse anzuge-
ben, damit der Gewinn geliefert werden könne. Bei
solchen Anrufen lege ich sofort auf, weil ich weiß, wozu
sie stattfinden. Aber viele Menschen wissen es nicht, ge-
ben im guten Glauben ihre Adresse an und befinden sich
ab sofort im erlauchten Kreis derer, die jetzt öfter ange-
rufen und telefonisch umworben werden.
Unerwünschte Telefonwerbung ist ein wachsendes
Problem. Die Rechtslage aber ist in der Praxis äußerst
schwammig. Zwar hat jede Bürgerin und jeder Bürger
einen Unterlassungsanspruch gegen unerwünschte und
belästigende Telefonwerbung, aber den Schutz der eige-
nen Privatsphäre durchzusetzen ist schwierig. Die Be-
troffenen müssen die Belästigung selbst zivilrechtlich
zur Ahndung bringen und diese detailliert beweisen. Es
gibt zwar das Verbot, aber keinen durchgreifenden Buß-
geldtatbestand. Das wird der massenhaften Anzahl der
Verstöße nicht gerecht. In der aktuellen Ausgabe der
Stiftung Warentest ist die Situation kurz und klar darge-
legt. Die schwarzen Schafe werden namentlich benannt.
Zwar sind die kalten Werbeanrufe verboten. Aber die
Strafe für den Verstoß steht in keinem Verhältnis zu dem
möglichen Gewinn. Selbst Firmen, die abgemahnt wur-
den, machen munter weiter. Das Verbot im Rahmen des
Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb genügt of-
fensichtlich nicht. Härtere Sanktionen wie höhere Buß-
gelder und wirksamere Gewinnabschöpfungsmöglich-
keiten scheinen erforderlich.
Das nächste Problem stellt sich dann jedoch für die
Bürgerinnen und Bürger bei der Anzeige- und Beweis-
last im Bußgeldverfahren. Es werden praktikablere und
sachgerechtere Lösungen zur Sicherstellung der Ahn-
dung gebraucht. Die Verbraucherschutzorganisationen
haben da bereits einiges geleistet. Die Verbraucherzen-
tralen haben zwar die Möglichkeit, einen Unterlassungs-
anspruch im Wege eines Abmahnverfahrens durchzuset-
zen, notfalls mit einer Verbandsklage. Die
Unterlassungsverpflichtungen der Firmen gelten dann
gegenüber allen Betroffenen; bei Verstößen dagegen
drohen empfindliche Geldstrafen. Aber auch hier ist die
Voraussetzung für den Erfolg solcher Verfahren die
Kenntnis und Beweisbarkeit der relevanten Daten. Sonst
sind die von den zuständigen Ministerien im Oktober
2006 ins Gespräch gebrachten Bußgelder wirkungslos,
ähnlich wie die bereits jetzt strafbelegten Unterlassungs-
ansprüche. Bußgelder wirken nur, wenn auch das Risiko
besteht, für die Rechtsverstöße belangt zu werden.
Der Gesetzgeber muss die Telefonwerber verpflich-
ten, gegenüber dem Angerufenen ihre Daten zu Beginn
des Gesprächs zur Rückverfolgbarkeit offenzulegen. Der
Gestörte darf nicht die alleinige Ermittlungs- und Be-
weislast tragen. Geprüft werden muss der Vorgang mit-
tels Verbindungsnachweis beim Störer. Um wirksame
und effektive Lösungen zu finden, sollten wir die Erfah-
rungen der Verbraucherschutzorganisationen und der
Datenschützer ebenso nutzen wie die Möglichkeiten
neuer Technik in der Telekommunikation.
Es geht dabei nicht allein um den Schutz der Privat-
sphäre. Es geht auch um den Schutz vor Überrumpelung
und unlauteren Angeboten, denen vor allem Menschen
mit kleinem Geldbeutel ausgeliefert sind. Die sehen sich
nach solchen Telefongesprächen plötzlich mit Geldfor-
derungen eines Unternehmens konfrontiert, mit dem sie
angeblich irgendwelche Verträge eingegangen sind.
Viele Menschen tappen so in die sogenannte Schulden-
falle.
Wenn wir nicht immer mehr Schuldnerberatungsstel-
len einrichten wollen, müssen wir dagegen etwas tun. Es
ist Aufgabe der Bundesregierung, jetzt zügig ihrer Ver-
antwortung nachzukommen und wirksame Gesetzesvor-
schläge zu erarbeiten.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Uner-
wünschte Telefonwerbung ist in der Bundesrepublik ein
Massenphänomen. Jeden Tag werden Verbraucherinnen
und Verbraucher tausdendfach durch belästigende Wer-
beanrufe schikaniert und geschädigt. Allein für das erste
Quartal 2006 hat eine Untersuchung der Gesellschaft für
Konsumforschung über 80 Millionen unaufgeforderte
Werbeanrufe festgestellt. Das bedeutet 900 000 Belästi-
gungen pro Tag, 900 000 Störungen der Privatsphäre,
900 000 Versuche von Unternehmen, sich mit unlauteren
Praktiken einen Wettbewerbsvorteil zu erschleichen.
Und viel zu oft geht das Kalkül der schwarzen Schafe
der Werbebranche auf. Wenn die überrumpelten Ver-
braucher nicht immer wieder „Nein“ sagen, haben sie,
ohne es zu ahnen, schon einen Vertragsabschluss einge-
leitet, zu dem sie sich unter normalen Umständen nie-
mals bereitgefunden hätten. Gerade die schwächsten und
am wenigsten geschäftskundigen Marktteilnehmer dro-
hen dabei, unter die Räder zu kommen. Diesem Unwe-
sen muss ein Riegel vorgeschoben werden.
Das von Rot-Grün 2004 im UWG verankerte Verbot
von Telefonwerbung ohne vorheriges Einverständnis der
Verbraucher war ein erster wichtiger Schritt in diese
Richtung. Aber die Praxis zeigt, dass das Verbot die
Werbetreibenden nicht abschreckt, weil wirksame Sank-
tionsmöglichkeiten fehlen. Die schwarzen Schafe der
Branche müssen derzeit weder empfindliche Bußgelder
fürchten noch die Abschöpfung ihrer Unrechtsgewinne.
An diesen beiden Punkten setzt unser grüner Antrag an,
um belästigende Telefonwerbung endgültig unattraktiv
zu machen.
Wir fordern, dass unerbetene Telefonwerbung zu-
künftig als Ordnungswidrigkeit geahndet und mit Bußgel-
dern von bis zu 50 000 Euro sanktioniert wird. Außerdem
7964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
müssen die Voraussetzungen der Gewinnabschöpfung er-
leichtert werden, um bestehende Probleme beim Beweis
vorsätzlichen Handelns zu beseitigen.
Bisher hat die große Koalition im Verbraucherschutz
wenig zustande gebracht. Auf eine Verbesserung der
Fahrgastrechte oder auf ein Girokonto für jedermann
warten Verbraucherinnen und Verbraucher bis heute ver-
geblich, ebenso auf die angekündigte zügige Neuvorlage
des Verbraucherinformationsgesetzes. Auch dem Pro-
blem der belästigenden Telefonwerbung hat sich die
Bundesregierung nur zögerlich genähert. Umso dringen-
der ist es, jetzt zu handeln. Ich habe den ermutigenden
Eindruck, das wird auch in den Koalitionsfraktionen zu-
nehmend so gesehen. Lassen Sie uns in dieser Frage zu-
sammenarbeiten und gemeinsam dafür sorgen, dass die
tägliche Belästigung von Verbraucherinnen und Verbrau-
chern durch unerwünschte Telefonwerbung bald ein
Ende hat.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Rechtsberatungsrechts (Tages-
ordnungspunkt 19)
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wir beraten heute in
erster Lesung das Gesetz zur Neuregelung des Rechtsbe-
ratungsrechts. Kernpunkt dieses Gesetzentwurfs der
Bundesregierung ist das neue Rechtsdienstleistungsge-
setz, mit dem das bisherige – mittlerweile in die Jahre
gekommene – Rechtsberatungsgesetz abgelöst werden
soll.
Die Neuregelung ist erforderlich geworden, weil die
Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht, Bun-
desgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht verschie-
dene Lockerungen des grundsätzlichen Rechtsbera-
tungsverbots im Rechtsberatungsgesetz für Personen,
die nicht Volljuristen sind, bewirkt hat. Die Gerichte ha-
ben dabei dieses Rechtsberatungsverbot im Lichte des
Grundrechts der Berufsfreiheit in Art. 12 des Grundge-
setzes ausgelegt und den Begriff der erlaubnispflichtigen
Rechtsberatung, definiert in diesem Lichte, einschrän-
kend definiert. Sie liegt nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts nur vor, wenn es sich um
eine umfassende und vollwertige Beratung des Recht-
suchenden in zumindest einem Teilgebiet des Rechts
handelt und wenn Kern und Schwerpunkt der Tätigkeit
auf rechtlichem Gebiet liegen. Daraus hat die gerichtli-
che Praxis gefolgert, dass beispielsweise die Testaments-
vollstreckung, die Insolvenzberatung – im Gegensatz zur
Insolvenzverwaltung – oder auch eine unentgeltliche
Rechtsberatung in bestimmten Ausnahmefällen ohne
eine Rechtsberatungserlaubnis zulässig sind. Alles in al-
lem wird das geltende Rechtsberatungsgesetz dieser
Lage nicht mehr optimal gerecht, sodass eine Neukon-
zeption notwendig geworden ist.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden diese
verfassungsgerichtlichen Vorgaben aufgegriffen und in
einem neuen Rechtsdienstleistungsgesetz umgesetzt.
Das Rechtsdienstleistungsgesetz regelt nur die außer-
gerichtliche Erbringung von Rechtsdienstleistungen.
Oberste Maxime der Neuregelung muss der Erhalt der
hohen Qualität der Rechtsberatung für die rechtsuchen-
den Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sein. Das
Rechtsberatungsrecht muss in dieser Hinsicht vor allem
auch Verbraucherschutzinteressen Rechnung tragen. Es
ist Verbraucherschutz. Nur Volljuristen, das heißt in der
Regel Rechtsanwältinnen oder Rechtsanwälte, können
eine solche Beratung leisten. Nur diese Berufsgruppe ist
sowohl von ihrer Ausbildung als auch aufgrund beson-
derer berufsrechtlicher Anforderungen – Unabhängig-
keit, Verschwiegenheitspflicht, Haftungsregeln – her in
der Lage, den Erwartungen der Bürger in diesem Be-
reich gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es
zu begrüßen, dass der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung davon ausgeht, dass auch weiterhin eine umfas-
sende und vollwertige Rechtsberatung nur von Rechts-
anwältinnen und Rechtsanwälten geleistet werden soll.
Deshalb ist es auch richtig, dass das Rechtsdienstleis-
tungsgesetz hinsichtlich der Rechtsberatung bei der bis-
herigen Systematik eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt
bleibt. Das heißt, Rechtsberatung darf grundsätzlich nur
mit einer entsprechenden Erlaubnis angeboten werden.
Im Hinblick auf die im Gesetzentwurf vorgesehenen
Öffnungen des Rechtsberatungsrechts für andere Berufs-
gruppen ist von weiten Teilen der Anwaltschaft Kritik
geäußert worden. Diese Kritik wird vonseiten der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion im Wesentlichen geteilt. Die
aufgrund der Rechtsprechung der Bundesgerichte not-
wendig gewordenen Öffnungen des anwaltlichen Bera-
tungsmonopols werden deshalb im weiteren Verlauf des
Gesetzgebungsverfahrens intensiv daraufhin überprüft
werden, ob die insoweit gefundenen Regelungen insbe-
sondere unter dem Aspekt der Qualitätssicherung ange-
messen und zielführend sind.
Dieser Prüfungsbedarf betrifft etwa die Begriffsdefi-
nition der Rechtsdienstleistung, bei der darauf geachtet
werden muss, dass die relevanten Fälle der Besorgung
fremder Rechtsangelegenheiten hinreichend erfasst wer-
den. Vor diesem Hintergrund erscheint fraglich, ob etwa
die komplette Herausnahme der Mediation aus dem Be-
griff der Rechtsdienstleistung sachgerecht ist.
Ein weiterer Schwerpunkt der Beratungen werden die
im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen der Rechts-
dienstleistung im Zusammenhang mit einer anderen Tätig-
keit, der sogenannten Nebenleistung, sein. Diese Tätig-
keiten sollen nach dem Gesetzentwurf erlaubnisfrei sein.
Hier wird zu beachten sein, dass die Nebenleistung im
Verhältnis zur nichtrechtsdienstleistenden Hauptleistung
immer nur dienende Funktion haben kann bzw. zur Erfül-
lung der vertraglichen Pflichten erforderlich sein muss.
Dabei müssen auch Umgehungsmöglichkeiten dergestalt
vermieden werden, dass umfangreiche Rechtsdienstleis-
tungen zur Vertragspflicht der nicht juristischen Haupt-
tätigkeit gemacht werden können.
Die Regelungen zur Zusammenarbeit von Rechtsan-
wälten mit anderen Berufen bedürfen ebenfalls der kriti-
schen Überprüfung. So soll nach dem Gesetzentwurf je-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7965
(A) (C)
(B) (D)
dermann die Erbringung von Rechtsdienstleistungen
erlaubt sein, wenn er sich hierfür nur eines Anwalts be-
dient. Die Mandatsbeziehung kommt in diesen Fällen le-
diglich durch die Vermittlung von Dritten zustande. Dies
darf nicht dazu führen, dass Anwälte etwa im „Hinter-
zimmer“ von Kfz-Werkstätten agieren und gegenüber
dem Mandanten überhaupt nicht persönlich in Erschei-
nung treten. Der Rechtsuchende hätte dann keinerlei
Möglichkeiten, Qualität und Seriosität des Anwalts ein-
zuschätzen und persönliches Vertrauen zum Anwalt auf-
zubauen. Die Grundbedingung des Aufbaus einer ge-
deihlichen Mandatsbeziehung bliebe unerfüllt und der
Vorgang der Rechtsberatung für den Rechtsuchenden
gänzlich intransparent. Er könnte weder beurteilen noch
überprüfen, ob der juristische Laie sein Rechtsbera-
tungsbedürfnis vollständig und unverfälscht an den An-
walt weiterleitet. Umgekehrt könnte die Weiterleitung
einer korrekten anwaltlichen Rechtsberatung durch den
Laien unvollständig oder verfälschend sein. Letztlich
muss in diesem Zusammenhang auch vermieden wer-
den, dass der Rechtsuchende im Haftungsfalle mögli-
cherweise nur einen Anspruch gegen den nicht haft-
pflichtversicherten Laienanbieter hätte.
Schließlich sollten auch die im Gesetzentwurf vorge-
sehenen Änderungen in Bezug auf Sozietäten von
Rechtsanwälten mit anderen Berufen überarbeitet wer-
den. Bislang ist es Rechtsanwälten lediglich erlaubt, sich
mit Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirt-
schaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zu einer So-
zietät zusammenzuschließen. Dieser Kreis der sozietäts-
fähigen Berufe soll nunmehr dahin gehend erweitert
werden, dass Rechtsanwälten auch die gemeinsame Be-
rufsausübung mit sogenannten vereinbaren Berufen ge-
stattet wird. Hier erscheint aus verschiedenen Gründen
eine Präzisierung notwendig. Einerseits muss der Schutz
des rechtsuchenden Bürgers im Auge behalten werden –
anwaltliches Berufsgeheimnis –, und andererseits darf es
nicht zu einer ufer- und grundlosen Ausweitung von
Zeugnisverweigerungsrechten, die Rechtsanwälten aus
gutem Grunde zustehen, kommen.
Es liegt also noch ein gehöriges Stück Arbeit vor uns.
Ich bin zuversichtlich, dass es im Verlauf der Beratungen
im Rechtsausschuss gelingen wird, in den genannten
Punkten im konstruktiven Dialog mit der Bundesregie-
rung zu entsprechenden Verbesserungen zu gelangen.
Christine Lambrecht (SPD): Seit circa sechs Mona-
ten liegen Anträge der Fraktion der Grünen und der FDP
vor, die sich beide mit Veränderungen der Bedingungen
von Lebenspartnerschaften beschäftigen. Im Rechtsaus-
schuss konnten die Koalitionsfraktionen hierzu nicht ab-
schließend Stellung nehmen, weil in dieser Frage noch
keine Übereinstimmung erzielt werden konnte. Sie – von
den Oppositionsfraktionen – haben daher nach der Ge-
schäftsordnung des Deutschen Bundestages das Recht,
einen Bericht zu fordern.
Sie fordern mit Ihrem Antrag erneut die Vollendung
der eingetragenen Lebenspartnerschaften. Auch ich sehe
hier noch Handlungsbedarf, denn es geht um die Abrun-
dung eines großen Reformprojekts, das bereits in der
vorletzten Legislaturperiode mit dem Lebenspartner-
schaftsgesetz begann.
Aber ein kurzer Blick in die Vergangenheit zeigt: Wir
könnten mit der Vollendung des Reformprojekts längst
schon weiter sein, wenn es nicht in den letzten Jahren er-
hebliche Widerstände gegeben hätte. Ich erinnere daran,
dass im Jahr 2001 ein umfassender Gesetzentwurf vor-
lag, der bis auf die Adoption genau das enthielt, was hier
jetzt gefordert wird. All das, was heute in dem Antrag
der Grünen und auch in dem Antrag der FDP gefordert
wird, könnte schon seit 2001 für all die Betroffenen ei-
nen Fortschritt in ihrer persönlichen Lebenssituation be-
deuten.
Warum ist dies noch keine Realität? Hier im Deut-
schen Bundestag hat Rot-Grün dieses Gesetz mit seiner
Mehrheit beschlossen. Die Stimmen dagegen kamen aus
der CDU/CSU. Es gab aber auch Gegenstimmen aus der
FDP. Sie haben mit der Begründung gegen dieses Gesetz
gestimmt, es sei mit dem in der Verfassung garantierten
Grundrecht auf den besonderen Schutz der Ehe nicht zu
vereinbaren.
Es folgte dann 2002 das bekannte Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts, das uns den Weg für die weitge-
hende Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner-
schaft mit der Ehe freigemacht hat. Dort heißt es
unmissverständlich: „Der besondere Schutz der Ehe in
Art. 6 Abs. 1 GG hindert den Gesetzgeber nicht, für die
gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und
Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder
nahe kommen.“ Es kam zu einer Wandlung. Das Gesetz
war entgegen der Meinung der selbsternannten Verfas-
sungsexperten der FDP sehr wohl mit dem besonderen
Schutz von Ehe und Familie in Zusammenhang zu brin-
gen. Die FDP hat dann erklärt, dass sie das Gesetz ak-
zeptiert. Im Jahr 2005 war sie auch bereit, Änderungen
mit zu tragen.
Diesen richtigen und sinnvollen Weg haben wir in den
vergangenen beiden Legislaturperioden mit dem Le-
benspartnerschaftsgesetz und seiner Überarbeitung ein-
geschlagen. Seit dem 1. August 2001 ist das Lebenspart-
nerschaftsgesetz in Kraft und am 1. Januar 2005 ist auch
unser Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartner-
schaftsrechts in Kraft getreten. Die Beratungen haben
gezeigt und die Erfahrungen haben uns recht gegeben:
Die Lebenspartnerschaft ist ein Rechtsinstitut, dessen
Akzeptanz – ebenso wie die damit verbundenen rechtli-
chen Regelungen – immer weiter zunimmt. Damit ist es
bereits jetzt möglich und in großen Teilen auch realisiert,
Ehen und Lebensgemeinschaften gesetzlich gleichzu-
stellen.
Die offenen Punkte, welche die Lebenspartnerschaf-
ten noch von der Ehe unterscheiden, waren bereits Ge-
genstand des Zustimmungspflichtigen Lebenspartner-
schaftsergänzungsgesetzes, das 2002 im Bundesrat
gescheitert ist. Wir haben uns mit unserem Koalitions-
partner über diese Punkte abzustimmen, und es bedarf
diesbezüglich noch zahlreicher Beratungen. Frau Gra-
nold hat sich in ihrer Rede fast vor einem Jahr offen für
Änderungen gezeigt, was Anlass zur Hoffnung gibt. Sie
hat eingeräumt, dass Anpassungen vorzunehmen sind,
7966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
die das Steuerrecht, das Erbschaftsteuerrecht und auch
das Beamtenrecht betreffen. Sie hat auch angekündigt,
sich in den Ausschüssen eingehend damit befassen zu
wollen, in welchem Umfang Anpassungen vorgenom-
men werden müssen, und die Gleichstellung, auch was
die Privilegien betrifft, BAföG, voranzutreiben. Sie hat
sich gesprächs- und kompromissbereit gezeigt mit Aus-
nahme der Adoption, auch hinsichtlich der Zuständigkeit
für die Begründung der Lebenspartnerschaften. Von da-
her bin ich verhalten optimistisch, dass wir hier zu Ver-
änderungen kommen.
Im Einzelnen wären meiner Meinung nach noch fol-
gende fünf Punkte anzugehen:
Die Einführung der Zuständigkeit des Standesbeam-
ten für die Begründung der Lebenspartnerschaft. Damit
soll endlich klargestellt werden: Lebenspartnerschaften
könnten im gleichen Rahmen geschlossen werden wie
Ehen. Deshalb wollen wir auch vorsehen, dass die Be-
gründung der Lebenspartnerschaft in genauso würdiger
Form erfolgen soll wie die Eheschließung.
Die Lebenspartnerschaft ist ein rechtlich relevantes
Merkmal des Personenstandes eines Menschen, zum
Beispiel auf den Gebieten des Familienrechts und des
Erbrechts. Deshalb sind die Mitwirkung bei der Begrün-
dung der Lebenspartnerschaft, ihre Dokumentation in ei-
nem Personenstandsregister und die weiteren damit ver-
bundenen Tätigkeiten bei dem Standesbeamten
anzusiedeln, dessen Hauptaufgabe in der Beurkundung
des Personenstandes besteht.
Die bis zum Inkrafttreten der Änderung begründeten
Lebenspartnerschaften sollen in dieses neue Verfahren
durch Abgabe der Lebenspartnerschaftsbücher oder ähn-
licher Urkundensammlungen an den zuständigen Stan-
desbeamten überführt werden.
Die vollständige Gleichstellung im Steuerrecht. Es
gibt in unserer Zeit angesichts der Vielzahl kinderloser
Ehen einerseits und der wachsenden Zahl gleichge-
schlechtlicher Partnerschaften, in denen Kinder aufgezo-
gen werden, für eine Ungleichbehandlung keinen über-
zeugenden Grund mehr. Im Einkommensteuergesetz
geht es uns vor allem um Folgendes: Lebenspartner sol-
len unter den gleichen Bedingungen zwischen getrennter
Veranlagung und Zusammenveranlagung wählen können
wie Ehegatten. Damit ergänzen wir das sogenannte Ehe-
gatten-Splitting um ein Lebenspartner-Splitting.
Außerdem sollen die Lebenspartner beim Aufbau ei-
ner ergänzenden Altersvorsorge wie zum Beispiel der
Riester-Rente die gleiche steuerliche Förderung wie
Ehegatten erhalten. Für sie soll also die gleiche Kombi-
nation aus staatlichem Zuschuss in Form der Altersvor-
sorgezulage und steuerlichen Sonderausgabenabzugs-
möglichkeiten zur Verfügung stehen. Zudem wollen wir
es einem Lebenspartner ermöglichen, das vom verstor-
benen Partner aufgebaute steuerlich geförderte Alters-
vorsorgevermögen auf einen eigenen Vorsorgevertrag zu
überführen, ohne dass diese Transaktion besteuert wird.
Im Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz wollen wir
unter anderem regeln: Lebenspartner sollen den gleichen
Freibetrag wie Ehegatten erhalten. Der überlebende Le-
benspartner soll wie ein überlebender Ehegatte einen be-
sonderen Versorgungsfreibetrag erhalten.
Die steuerlichen Folgen für das Ende von Güter- und
Zugewinngemeinschaft durch Tod werden auf Lebens-
partnerschaften erstreckt. Leben die Lebenspartner im
gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft und
wird der Güterstand durch Tod beendet, soll ein entste-
hender Ausgleichsanspruch in demselben Umfang steu-
erfrei bleiben, wie er im Fall der Zugewinngemeinschaft
unter Ehegatten steuerfrei bleibt.
Im Grunderwerbsteuergesetz wollen wir unter ande-
rem die Steuererleichterungen für Ehegatten und weitere
Angehörige auf Lebenspartner und weitere Angehörige
übertragen. Steuerbefreit wäre danach in Zukunft zum
Beispiel die Grundstücksübertragung zwischen Lebens-
partnern.
Angleichungen im Beamten- und Soldatenrecht ein-
schließlich der Hinterbliebenenversorgung. Wir wollen
sicherstellen, dass die enge persönliche Bindung der Le-
benspartner auch im Beamten- und Soldatenrecht gebüh-
rend berücksichtigt wird. Deshalb sollen die Vorschrif-
ten, die sich auf die Ehepartner der Beamten und
Soldaten sowie ihre übrige Familie beziehen, entspre-
chend auf Lebenspartner angewandt werden.
Dafür soll es neben Änderungen im Bundesbeamten-
und Soldatenrecht auch eine entsprechende Änderung
des Beamtenrechtsrahmengesetzes geben, das Vorgaben
für das gesamte Beamtenrecht macht. Damit sind neben
den Bundesbeamten auch die Beamten in den Ländern,
Gemeinden und in anderen Körperschaften des öffentli-
chen Rechts von der Gleichstellung der Lebenspartner-
schaft mit der Ehe erfasst
Der Bund kann diese Gleichstellung für Bundesbe-
amte und Soldaten näher ausgestalten: Es sollen nament-
lich die Bestimmungen über Beamte, ihre Ehegatten und
ihre weitere Familie auf Beamte, die in einer Lebens-
partnerschaft leben, entsprechend Anwendung finden.
Dies gilt zum Beispiel für den Familienzuschlag auf die
Besoldung, der in der ersten Stufe bereits für verheira-
tete Beamte gewährt wird.
Auch die Vorschriften über verwitwete Beamte sollen
für Beamte nach dem Tod des Lebenspartners entspre-
chend gelten. Sie erhalten dann zum Beispiel Zahlungen,
die dem Witwen- bzw. Witwergeld entsprechen.
Anpassen wollen wir auch die Vorschriften über
geschiedene Beamte für Beamte nach Auflösung einer
Lebenspartnerschaft. So soll etwa das Ruhegehalt eines
Beamten auch bei der Aufhebung einer Lebenspartner-
schaft entsprechend den Rentenanwartschaften gekürzt
werden, die sein Partner aus der aufgehobenen Lebens-
partnerschaft vom Familiengericht zugesprochen be-
kommen hat.
Damit der Gleichlauf zwischen dem Recht der Beam-
ten und der Rechtsstellung der Soldaten gewährleistet
bleibt, wollen wir das Soldaten- und das Soldatenversor-
gungsgesetz entsprechend dem Beamtenrecht ändern
und die Lebenspartner und ihre Familie einbeziehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7967
(A) (C)
(B) (D)
Die Lebenspartnerschaft soll auch im Ausbildungs-
und Ausbildungsförderungsrecht berücksichtigt werden.
Bei der Förderung nach dem BAföG und dem Aufstiegs-
fortbildungsförderungsgesetz wird zum Beispiel der
Ehegatte unter anderm bei der Bedarfs- und der Einkom-
mensberechnung berücksichtigt. Dies soll in Zukunft ge-
nauso für Lebenspartner gelten.
Wir von der SPD wollen die Partner einer Lebenspart-
nerschaft schließlich auch in sozialrechtlichen Leis-
tungsgesetzen den Ehegatten vollkommen gleichstellen.
Die bisher von der Gleichstellung noch nicht erfassten
sozialrechtlichen Leistungsgesetze wollen wir jetzt auch
noch einbeziehen. Das betrifft etwa das Unterhaltsvor-
schussgesetz, das HIV-Hilfegesetz und das Wohngeldge-
setz.
Wir werden uns mit dem Thema weiter beschäftigen,
Überzeugungsarbeit leisten. Insofern bitte ich um etwas
Geduld. Wir bleiben am Ball.
Mechthild Dyckmans (FDP): Die Reform des
Rechtsberatungsgesetzes hat einen langen Vorlauf. Be-
reits im Frühjahr 2004 hat das Bundesjustizministerium
einen entsprechenden Gesetzentwurf angekündigt. Da-
mals drohte die Bundesregierung mit dem ganz großen
Wurf. So war ursprünglich vorgesehen, die Rechtsbera-
tung auch für Diplomjuristen zu öffnen. Von dieser
Überlegung hat die Bundesregierung jedoch zum Glück
schnell Abstand genommen. Erst jetzt, drei Jahre später,
ist es der Bundesregierung endlich gelungen, einen Ge-
setzentwurf zur ersten Lesung im Bundestag vorzulegen.
Eine grundlegende Reform des Rechtsberatungs-
gesetzes ist sicherlich grundsätzlich notwendig. Es ist er-
forderlich, das Gesetz den Deregulierungsbestrebungen
der Europäischen Kommission im Bereich des freien
Dienstleistungsverkehrs und an die geänderten gesell-
schaftlichen Bedürfnisse anzupassen. Der Beratungs-
bedarf in Rechtsangelegenheiten ist insgesamt in den
letzten Jahren erheblich gestiegen. Die zunehmende eu-
ropäische und internationale Öffnung des Rechtsbera-
tungsmarktes erhöht diesen Konkurrenzdruck weiter.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einem Be-
schluss aus dem Jahre 2004 darauf hingewiesen, dass
das Rechtsberatungsgesetz einem Alterungsprozess un-
terliege und sich der Norminhalt mit dem Wandel des
Umfelds sozialer Verhältnisse und gesellschaftspoliti-
scher Anschauungen ändern könne. Wichtig und zentral
für die FDP-Bundestagsfraktion ist es, dass der Rechtsu-
chende qualifizierten Rechtsschutz erhält und daher das
hohe Niveau unseres Rechtsgewährungssystems erhalten
bleibt. Daher begrüßen wir, dass der Gesetzentwurf da-
ran festhält, dass die Vertretung von Mandanten vor Ge-
richt auch künftig nur durch Rechtsanwälte erfolgen
darf. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist entscheidend,
dass der Schutz der rechtsuchenden Bürgerinnen und
Bürger sowie ihr Vertrauen in eine qualifizierte Rechts-
beratung auch weiterhin gewährleistet bleiben. Diesen
Grundsätzen fühlen wir uns verpflichtet.
Das Rechtsberatungsgesetz war und ist in erster Linie
ein Verbraucherschutzgesetz. Auch das Bundesverfas-
sungsgericht hat mehrfach klargestellt, dass das Rechts-
beratungsgesetz dem Schutz des Rechtsuchenden sowie
der geordneten Rechtspflege diene. Es ist ein verfehlter
Denkansatz, zu glauben, mit der völligen Freigabe des
Rechtsberatungsmarktes könne der Dienstleistungssek-
tor gestärkt werden. Zwischen Rechtsanwälten und allen
anderen rechtsberatenden Dienstleistern besteht ein er-
heblicher Unterschied. Der Kontakt des Bürgers zum
Recht ist keine handelsübliche Ware. Das dem Rechtsan-
walt entgegengebrachte Vertrauen beruht nicht allein auf
Fachwissen, sondern auf seiner Personen als Ganzes.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt, dass der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung an diesen Maßstäben weit-
gehend festhält. Dennoch möchte ich auf einige Rege-
lungen hinweisen, die aus unserer Sicht bedenklich sind.
Nicht gelungen ist der Begriff der Rechtsdienstleis-
tung in § 2 Abs. l des Gesetzentwurfs. Die Formulie-
rung, wonach Rechtsdienstleistung eine Tätigkeit ist, die
eine „besondere“ rechtliche Prüfung des Einzelfalls er-
fordere, ist sehr unbestimmt und wird in der Praxis zu
Schwierigkeiten führen. Es ist davon auszugehen, dass
sich die Gerichte damit zu beschäftigen haben, wann
eine „allgemeine“ und wann eine „besondere“ rechtliche
Prüfung erforderlich ist.
Problematisch ist auch die Regelung über die Neben-
leistung in § 5. Hiernach sind Nebenleistungen als
Rechtsdienstleistungen auch dann erlaubt, wenn sie zur
Erfüllung der mit der Haupttätigkeit verbundenen ver-
traglichen Pflichten gehören. Diese Formulierung birgt
die Gefahr in sich, dass vertraglich geregelt werden
kann, welchen Umfang die Nebenleistung als Rechts-
dienstleistung haben soll. Damit kann der eigentliche
Zweck des Gesetzes, wonach die Nebenleistung im Hin-
blick auf die Hauptleistung eine untergeordnete Rolle
spielen soll, umgangen werden. Der Schutz der recht-
suchenden Bürger muss auch bei der Rechtsberatung als
Nebenleistung gewahrt werden. Auch die Rechtsbera-
tung als Nebenleistung bedarf bestimmter Anforderun-
gen an Qualität und Kontrolle.
Für verfehlt halten wir die Regelung in § 5 Abs. 3,
wonach Rechtsdienstleistungen unter Hinzuziehung ei-
ner Person erbracht werden dürfen, der die selbststän-
dige entgeltliche Erbringung dieser Rechtsdienstleistun-
gen erlaubt ist. Damit wird der Anwalt zum
Erfüllungsgehilfen degradiert. Es besteht kein vertragli-
ches Verhältnis zwischen dem rechtsuchenden Bürger
und dem Anwalt. Es ist sogar davon auszugehen, dass es
in vielen Fällen zu keinerlei Kontakt zwischen beiden
kommt. Diese Konstruktion ist mit dem Selbstverständ-
nis und dem Berufsbild eines Rechtsanwalts nicht ver-
einbar. Hinzu kommt, dass der Kunde keinerlei Ansprü-
che gegen den Anwalt hat. Er kann sich lediglich an
seinen Vertragspartner wenden, dem die anwaltlichen
Berufspflichten nicht zustehen.
Die Regelung in § 6, wonach unentgeltliche Rechts-
dienstleistungen auch durch Laien erlaubt sind, wenn sie
unter Anleitung einer rechtskundigen Person erfolgen,
ist vor dem Hintergrund des Vertrauens des rechtsuchen-
den Bürgers auf eine qualifizierte Rechtsberatung be-
denklich. Im vergangenen Jahr hat der Bundesgerichts-
hof einen Fall entschieden, in dem einem Mieter zu
7968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Recht das Mietverhältnis gekündigt wurde, weil dieser
sich aufgrund einer unsorgfältigen Beratung durch den
Mieterschutzverein falsch verhalten hatte. Der BGH hat
darauf hingewiesen, dass Mieter auch für schuldhaftes
Verhalten des von ihnen eingeschalteten Mieterschutz-
vereins einzustehen haben. Dies zeigt, welche gravieren-
den Auswirkungen eine unqualifizierte Rechtsberatung
haben kann. Aus Sicht der FDP ist es daher notwendig,
auch die unentgeltliche Rechtsberatung außerhalb fami-
liärer oder ähnlich enger persönlicher Beziehungen auf
Personen zu beschränken, die über eine entsprechende
Qualifikation verfügen.
Insgesamt zeigt sich, dass es noch einen erheblichen
Beratungsbedarf gibt, um ein Einvernehmen über das
Rechtsdienstleistungsgesetz herzustellen. Aus Sicht der
FDP-Bundestagsfraktion ist eine Sachverständigenanhö-
rung im federführenden Rechtsausschuss unumgänglich.
Die FDP erklärt sich bereit, an einer Lösung mitzuwir-
ken, die sowohl die unabhängige und qualifizierte
Rechtsberatung im Interesse der Verbraucher sichert als
auch insgesamt geeignet ist, auf die gesellschaftlichen
Entwicklungen der vergangenen Jahre und den sich wan-
delnden Rechtsberatungsmarkt angemessen zu reagie-
ren. Es ist eine gute Tradition, dass Gesetzentwürfe zur
Reform der Rechtspflege mit großer Mehrheit im Deut-
schen Bundestag verabschiedet werden. In diesem Sinne
hoffe ich auf eine konstruktive und sorgfältige Beratung
des Gesetzentwurfs.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Heute ist ein wichti-
ger Tag für die bundesdeutsche Justiz. Denn das Bundes-
justizministerium hat nach jahrelanger Weigerung einen
längst überfälligen Schritt getan: Es legt einen Gesetz-
entwurf vor, mit dem das aus dem Jahre 1935 stam-
mende Rechtsberatungsgesetz aufgehoben werden soll.
Eine Lobrede ist trotzdem nicht angebracht. Das ist
keine besondere Leistung, sondern vielmehr ein – wie
gesagt – spät und zudem halbherzig gegangener Schritt.
Denn dieser Gesetzentwurf begnügt sich leider nicht
mit der Aufhebung des nationalsozialistischen Rechtsbe-
ratungsgesetzes, welches sich ursprünglich durch die
Beseitigung der Gewerbe- und Betätigungsfreiheit im
Bereich der Rechtsberatung vor allem gegen Juden, aber
auch gegen alle anderen politisch missliebigen, aus ihren
Berufen verjagten Juristen richtete. Vielmehr wird fast
unverändert an der untragbaren Einschränkung der un-
entgeltlichen, altruistischen Rechtsberatung festgehal-
ten und die außergerichtliche Rechtsberatung weiter
über Gebühr reglementiert. Damit wird das Herz des al-
ten Rechtsberatungsgesetzes nicht angetastet und schlägt
im neuen Rechtsdienstleistungsgesetz weiter.
Unentgeltliche Rechtsberatung wurde durch das
Rechtsberatungsgesetz 1935 einem Erlaubnisvorbehalt
unterstellt. Diese Erlaubnis wurde aufgrund einer antise-
mitischen Durchführungsvorschrift Juden generell nicht
erteilt. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Gewerk-
schaften, gemeinnützigen Organisationen und größeren
Gemeinden in Form der öffentlichen Rechtsauskunft auf-
gebaute Netz an Rechtsberatungsstellen eröffnete allen
Bürgerinnen und Bürgern einen unentgeltlichen Zugang
zur Rechtsberatung. Nach der Zerschlagung der Gewerk-
schaften während des Nationalsozialismus wurde die
Rechtsberatung durch die NSDAP und ihre Untergliede-
rungen – alle sozialen Organisationen wurden zu Unter-
organisationen derselben erklärt – übernommen, aber mit
anderer Zwecksetzung: der Abwehr solidarischen Han-
delns und der Durchsetzung nationalsozialistischer In-
doktrination.
Nach dem Ende des NS-Regimes erfolgte dann je-
doch nicht, was jeder vernünftige Mensch erwarten
würde: die Aufhebung des Rechtsberatungsgesetzes.
Vielmehr begnügte man sich mit der Streichung der
Worte „NSDAP“ und anderer gemäß den Alliierten
Kontrollratsgesetzen. Dies führte nun dazu, dass das Un-
recht an den bis 1933 tätigen Rechtsberatungsstellen
nicht wieder gutgemacht wurde, sondern das Verbot ein
quasiabsolutes wurde. Während der Geltung des Geset-
zes diente dieses immer dazu, die Monopolstellung der
Rechtsanwältinnen zu sichern und bürgerschaftliches
Engagement zu verhindern. Selbst Gewerkschaften
wurde anstelle der vor Geltung des Gesetzes möglichen,
alle Lebensbereiche abdeckenden Beratung und Vertre-
tung nach 1945 nur der Bereich des Arbeits- und Sozial-
rechts geöffnet. Die juristischen Attacken gegenüber al-
truistischer Rechtsberatung auf der Grundlage des
Rechtsberatungsgesetzes sind unzählig. Die Fälle sind so
unfassbar, dass ich eine kleine Auswahl darstellen will.
Ordnungswidrigkeitsverfahren wurden unter anderem
von Ausländerbehörden gegen in ihrer Freizeit tätige
Helfer angestrengt, die sich um Flüchtlinge kümmerten.
Nicht einmal vor der Androhung, die traumatisierten
Folteropfer wegen der Rechtsberatung zu vernehmen,
wurde zurückgeschreckt. Ein Konflikt mit dem Rechts-
beratungsgesetz wurde auch angenommen bei der For-
mulierung von Anträgen auf Gewährung des Bleibe-
rechts. Selbst hauptamtlichen und ehrenamtlichen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Kirchengemein-
den wurde verboten, sozialhilfeberechtigten Flüchtlin-
gen mit Rechtsrat zur Seite zu stehen, also beispiels-
weise im Widerspruchsverfahren. In Stuttgart wurde auf
Betreiben der dortigen Rechtsanwaltskammer der Cari-
tasverband verurteilt, die Tätigkeit seiner Flüchtlingsbe-
ratungsstelle einzuschränken. Nicht einmal ein Sozial-
hilfeträger durfte einen Sozialhilfeempfänger gegenüber
der Krankenkasse unterstützen. Auch ein von Jura-
studenten gegründeter, unentgeltliche Rechtsberatung
anbietender Verein „Studentische Selbsthilfe e. V.“
zählte zu den Leidtragenden des Rechtsberatungsgeset-
zes.
Nun mag man gewillt sein, diesen Verboten die Mög-
lichkeiten des Beratungshilfegesetzes entgegenzuhalten.
Doch dieses bot kein ausreichendes Äquivalent zur altru-
istischen Rechtsberatung. Denn die Gebühren waren und
sind viel zu gering, als dass ein wirklicher Anreiz für
anwaltschaftliches Engagement von diesem ausgehen
könnte. Ganz zu schweigen von dem bürokratischen
Aufwand für die Erlangung der Beratungsgebühr! Das
Rätsel, warum selbst der durch altruistische Beratung
entstehende Spareffekt hinsichtlich der Gewährung von
Prozesskosten und Beratungshilfe keinen Anreiz für die
„Kassen leer“-Ideologen in der Bundesrepublik zu bie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7969
(A) (C)
(B) (D)
ten vermochte, bleibt unbeantwortbar. Die Geschichte
der Entstehung und Fortgeltung des Rechtsberatungsge-
setzes bis zum heutigen Tage zeigt, dass einzig die er-
satzlose Streichung dieses Nazimachwerks angemessen
ist. Was erleben wir nun stattdessen?
Das vorgeschlagene Rechtsdienstleistungsgesetz tritt
das traurige Erbe des Rechtsberatungsgesetzes an. Ent-
gegen aller Beteuerungen ist dies kein Glanzwerk des
Verbraucherschutzes, sondern vor allem ein Zugeständ-
nis an die nach Marktöffnung schreienden Dienstleister,
die das Quasimonopol der Anwaltschaft nicht länger ak-
zeptieren wollen. Der Einleitungstext des Gesetzent-
wurfs lässt zwar hoffen: eine „zeitgemäße gesetzliche
Regelung“ solle das Rechtsberatungsgesetz ablösen,
Ziele seien der Schutz der Rechtsuchenden und die
„Stärkung bürgerschaftlichen Engagements“. Die Erwar-
tungshaltung wird noch angereichert durch die Aussage,
dies alles ginge einher mit „Deregulierung und Entbüro-
kratisierung“. Doch Enttäuschung stellt sich ein mit der
Lektüre des so wohlfeil beworbenen Gesetzes. Wir wer-
den im Verlaufe der Beratungen im Rechtsausschuss auf
die vielfältigen Bedenken gegenüber dem neuen Rechts-
dienstleistungsgesetz im Einzelnen eingehen. Einige die-
ser Bedenken möchte ich bereits hier näher ausführen.
Die altruistische Rechtsberatung soll auch in Zukunft
nur ausnahmsweise, nämlich innerhalb familiärer, nach-
barschaftlicher oder ähnlich enger persönlicher Bezie-
hungen möglich sein. Alle anderen juristisch Bewan-
derten sollen nur dann anderen Menschen uneigennützig
– nach dem Gesetzentwurf „unentgeltlich“ – helfen dür-
fen, wenn sie entweder Volljurist oder -juristin sind oder
unter deren Anleitung stehen. Genau an dieser willkür-
lichen Unterscheidung macht sich die Ideologie des
Gesetzentwurfs dingfest: Welchen Unterschied für die
Qualität der Rechtspflege oder den Schutz der Rechtsu-
chenden macht es, ob die Rechtsdienstleistung innerhalb
nachbarschaftlicher Verhältnisse oder von engagierten
Menschen gegenüber losen Bekannten erfolgt? Für das
Bundesjustizministerium scheint festzustehen: Traue
keinem, der Gutes will. Und nimm keine Leistung ohne
Gegenleistung an. Hier nimmt das Verwertungsdenken
schon groteske Züge an. Die Entwurfsverfasser bleiben
den Nachweis schuldig, dass der Rechtsrat des Nachbarn
per se besser sei als der einer ehemaligen Verwaltungs-
angestellten, die ihren Mitmenschen einfach so Rat-
schläge zum Widerspruchsverfahren in einem ihr be-
kannten Rechtsgebiet erteilt. Die Angst vor dem
Fremden nährt diese Ideologie, vielleicht auch die
Furcht vor gut beratenen Bürgerinnen und Bürgern, die
nicht hohe Gebühren scheuen müssten, um Rat in Din-
gen zu erhalten, deren Verständnis ihnen zugleich durch
die Bürokratie zwanghaft unterstellt wird. Man erwartet
von den Bürgerinnen und Bürgern, dass diese sich an
Recht und Gesetz halten, verwehrt ihnen aber die Mög-
lichkeit, sich gegenseitig beim Verständnis des Paragra-
fendschungels zu helfen. Schlichtweg empörend finde
ich folgende Zeilen im Gesetzentwurf:
Das Recht darf als höchstrangiges Gemeinschafts-
gut grundsätzlich nicht in die Hände unqualifizier-
ter Personen gelangen, da es als „gelebtes Recht“
maßgeblich durch die Personen beeinflusst und
fortentwickelt wird, die Recht beruflich anwenden.
Abgesehen davon, dass die Logik dieses Satz sich wohl
nur Eingeweihten erschließt, ist die hier geäußerte Hal-
tung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern als Stö-
renfriede ein Skandal.
Ein weiteres Problem stellt sich für die uneigennützi-
gen Vereinigungen. Ihnen soll die Rechtsberatung zwar
prinzipiell nach dem Gesetz erlaubt sein, sie müssen sich
dabei jedoch zumindest der Anleitung durch Volljuristin-
nen und -juristen bedienen. Damit statuiert die vermeint-
liche Erlaubnis durch die hohen Anforderungen in
Wirklichkeit ein praktisches Verbot. Denn kleine Verei-
nigungen können sich derartige Unterstützung wohl in
den seltensten Fällen leisten. Selbst wenn sie einen Juris-
ten zur unentgeltlichen Mitarbeit gewinnen könnten,
bliebe es bei der Begrenzung auf die Beratung von Ver-
einsmitgliedern.
Zu guter Letzt möchte ich Folgendes nicht verschwei-
gen: Auch wenn der Gesetzentwurf zur Begrenzung der
Prozesskostenhilfe nicht auf dem Mist des Bundesjustiz-
ministeriums gewachsen ist, ist er doch ganz nach Art
des Hauses. Genauso wie der ebenfalls aus dem Bundes-
rat stammende Gesetzentwurf zur Einführung von allge-
meinen Gebühren für die Sozialgerichtsbarkeit dient er
der Verkürzung des Rechtsstaats, nicht dessen Ausbau.
Denkt man alle drei Entwürfe zusammen, ergibt sich in
Wechselwirkung mit den sozialen Kürzungen der letzten
Jahre folgendes Bild: Erst werden die Bürgerinnen und
Bürger ihrer sozialen Rechte beraubt und anschließend
jeder Möglichkeit, sich dagegen mit rechtsstaatlichen
Mitteln zu wehren. Denn zukünftig soll die Gewährung
von Prozesskostenhilfe grundsätzlich unter unzumutba-
ren Voraussetzungen stehen und der Gang zum Sozialge-
richt zusätzliches Geld kosten, was die Menschen nicht
haben. Gegenseitige unentgeltliche Hilfe wird ihnen
schließlich untersagt, weil das Recht ja „als höchstrangi-
ges Gemeinschaftsgut grundsätzlich nicht in die Hände
unqualifizierter Personen gelangen“ darf.
Es wird ein hartes Stück Arbeit, aus dieser Mogel-
packung ein Gesetz zu machen, dass die altruistische
Rechtsberatung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ent-
sprechend regelt. Wir werden uns darüber hinaus – im
Interesse der Bürgerinnen und Bürger – dafür einsetzen,
dass der Schutz der Schwachen auch im Bereich der ent-
geltlichen Rechtsberatung im Vordergrund steht. Das
Vertrauen der Rechtsuchenden in eine gute, kostengüns-
tige Rechtdienstleistung muss in unserer verrechtlichten
Gesellschaft wieder mehr Gewicht erlangen. Meine
Fraktion steht hierfür bereit.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Ver-
trauen ist gut. Anwalt ist besser.“, mit diesem Slogan
wirbt der deutsche Anwaltverein. Und die Bundesrechts-
anwaltkammer erklärt: „Anwälte – mit Recht im Markt“.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur Wer-
bung für einen honorigen Beruf. Die Anwaltschaft er-
füllt mit ihrem Angebot sachkundiger rechtlicher Bera-
tung und Vertretung eine Aufgabe von Verfassungsrang.
Sie garantiert, dass der postulierte Rechtsstaat Bundesre-
7970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
publik Deutschland auch im praktischen Leben der Bür-
gerinnen und Bürger ein Rechtsstaat ist. Deswegen ist
die Neuregelung des Rechtsberatungsrechts weit mehr
als eine Neuregelung der anwaltlichen Berufsausübung.
Wir regeln damit den Zugang zum Recht für alle Bürge-
rinnen und Bürger. Denn jeder kann in eine Situation ge-
raten, in der er auf anwaltlichen Rat und anwaltliche Tat
angewiesen ist. Bürgerinnen und Bürger erwarten zu
Recht, dass sie dann kompetente, diskrete Hilfe und Ver-
tretung ihrer Interessen erhalten. Der Zugang zu dieser
Dienstleistung muss zugleich so schnell, leicht und bar-
rierefrei sein, dass sie den Rat auch tatsächlich in An-
spruch nehmen.
Das Rechtsberatungsgesetz aus dem Jahr 1935, das
nun vom Rechtsdienstleistungsgesetz und weiteren Re-
gelungen abgelöst werden soll, ist trotz einiger Änderun-
gen veraltet und bedarf dringend einer Generalrevision.
Es ist historisch – das sollten wir nicht vergessen – nicht
als ein Gesetz zur Herstellung der Rechtsstaatlichkeit,
sondern zur Eliminierung der jüdischen Anwaltschaft in
Deutschland entstanden. Vorarbeiten einer Reform gab
es schon unter der rot-grünen Regierung. Das Projekt
konnte aber wegen des vorzeitigen Endes der 15. Wahl-
periode nicht abgeschlossen werden. Deswegen begrü-
ßen wir Grüne, dass der Reformansatz weiterverfolgt
wird. Was gilt es zu bewahren und wo müssen wir neues
Recht schaffen? Wir Grüne wollen als Grundsatz hoch-
halten: Die Rechtsberatung und die Vertretung rechtli-
cher Interessen muss im Kern in der Hand einer dafür
qualifizierten, verschwiegenen, unabhängigen, den Inte-
ressen der Mandantschaft verpflichteten Anwaltschaft
bleiben. Denn dieser Schutz der Rechtsuchenden auf
hohem Niveau gehört zu den wichtigen Erfordernissen
eines rechtsstaatlich organisierten Gemeinwesens. Das
Vertrauen in das Recht muss gesichert werden durch die
Rahmenbedingungen für die Beratung über eine immer
kompliziertere Rechtsordnung in einer immer kompli-
zierter werdenden Welt. Die beratende Person hat hier
eine wichtige Mittlerposition. Der Staat kann dem
Rechtsberatungsmarkt deshalb nicht einfach freien Lauf
lassen. Er muss ihn in geordnete Bahnen lenken, damit
alle sicher ans Ziel kommen, die auf rechtliche Beratung
angewiesen sind. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte
sind dafür ausgebildet. Sie bieten wegen ihrer Ver-
schwiegenheit, ihrer einseitigen und eindeutigen Aus-
richtung auf die Interessen ihrer Mandanten und ihrer
strikten Verpflichtung auf das Recht und die Rechtsstaat-
lichkeit, die mit nur ihnen zustehenden Vorrechten ein-
hergehen, die beste Gewähr für eine objektive und quali-
tativ hochwertige Rechtsdienstleistung.
Auf der anderen Seite darf die Rechtsdienstleistung
kein Pfrund einer Anwaltschaft sein, die sich nach Art
der Zünfte gegen unliebsame, aber in Teilbereichen auch
kompetente Konkurrenten abschottet. Gewisse einfache
und ausdrücklich fachspezifische rechtliche Auskünfte
können auch von Nichtanwälten erteilt werden. Eine ge-
wisse Öffnung des Marktes ist daher erforderlich. Das
Bundesverfassungsgericht hat hier bereits Maßstäbe ge-
setzt. Ebenso müssen europarechtliche Vorgaben beach-
tet werden. Wir wollen das Rechtsberatungsrecht so wei-
terentwickeln, dass es seiner Funktion besser gerecht
werden kann. Es soll Chancengleichheit herstellen,
Schutz und Unterstützung für Menschen bieten, die sich
in einer schwächeren Position als andere befinden, und
es soll nicht zuletzt dazu beitragen, dass Rechtsnormen
in Rechtswirklichkeit umgesetzt werden. Uns Grünen ist
insbesondere die jetzt vorgesehene Erleichterung der so-
genannten karitativen Rechtsberatung wichtig. Damit
können Selbsthilfegruppen, soziale Beratungsstellen,
Verbände wie zum Beispiel amnesty international oder
die Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienst-
verweigerer aus Gewissensgründen und Vereine der
Flüchtlingshilfe mit juristischer Unterstützung im Hin-
tergrund Menschen Rechtsrat erteilen, die wegen der da-
mit verbundenen Kosten oder aus anderen Gründen kei-
nen Anwalt und keine Anwältin aufsuchen würden.
Der Regierungsentwurf packt die wichtigen Probleme
an den Hörnern. Ob alle Griffe richtig gesetzt sind, muss
jetzt im Einzelnen geprüft werden. Wir werden uns in
den Beratungen einige wichtige Einzelfragen nochmals
intensiv anschauen. Ich nenne nur die Annexberatung
durch Nichtanwälte, die Öffnung der Beratung durch
große und mächtige Verbände und Vereine oder die Aus-
gestaltung der dauerhaften Zusammenarbeit zwischen
Anwaltschaft und anderen Berufen. Die Regelung an-
waltlicher Dienstleistungen für die Bürgerinnen und
Bürger sollte kein parteipolitisches Streitthema werden.
Wir Grüne sichern unsere konstruktive Mitarbeit zu und
erwarten von der Großen Koalition eine Ausgestaltung
der Beratungen und Beachtung der Argumente vor allem
der Selbstorganisationen der deutschen Anwaltschaft,
die am Ende eine einmütige Entscheidung des Bundesta-
ges ermöglicht.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Der Entwurf eines Gesetzes
zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts, den wir
heute in erster Lesung beraten, schlägt vor, das Rechts-
beratungsgesetz aus dem Jahr 1935 durch ein zeitgemä-
ßes Rechtsdienstleistungsgesetz, das RDG, zu ersetzen.
Es besteht dabei – übrigens auch innerhalb der Anwalt-
schaft – ein breiter Konsens, dass diese grundlegende
Reform notwendig ist, notwendig deshalb, weil das alte
Rechtsberatungsgesetz in den vergangenen Jahren durch
Urteile des Bundesverfassungsgerichts und der Bundes-
gerichte so weit eingeschränkt wurde, dass es in seinem
Wortlaut ohne genaue Kenntnis dieser Rechtsprechung
gar nicht mehr angewandt werden kann, notwendig aber
auch, weil wir eine moderne, zeitgemäße gesetzliche Re-
gelung brauchen, um Forderungen nach einer immer
weiter gehenden Freigabe der Rechtsberatung begegnen
zu können, die vor allem aus Europa gekommen sind
und weiter kommen werden.
Mit dem RDG schaffen wir eine solche europarechts-
und verfassungskonforme Regelung, mit der wir uns klar
und eindeutig zu einer grundsätzlichen Beibehaltung des
sogenannten Anwaltsmonopols für den gesamten Kern-
bereich rechtlicher Dienstleistungen bekennen. Dies be-
trifft einerseits die Vertretung vor Gericht, die auch
künftig grundsätzlich in Anwaltshand gehört. Aber auch
außergerichtliche Rechtsdienstleistungen sollen im
Grundsatz den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7971
(A) (C)
(B) (D)
als den, wie es in § 3 der Bundesrechtsanwaltsordnung
heißt, „berufenen unabhängigen Beratern und Vertretern
in allen Rechtsangelegenheiten“ vorbehalten bleiben.
Öffnungen gegenüber den Vorschriften des geltenden
Rechtsberatungsgesetzes enthält der Entwurf des RDG
allerdings dort, wo sie durch die erwähnten Gerichtsent-
scheidungen vorgezeichnet sind: Zunächst soll das im
Rechtsberatungsgesetz angelegte Verbot der unentgeltli-
chen, insbesondere karitativen Rechtsberatung insge-
samt aufgehoben werden. Bis heute untersagen Behör-
den oder Gerichte unter Berufung auf das
Rechtsberatungsgesetz sogar Steuerberatern oder Wirt-
schaftsprüfern etwa die Beratung und Vertretung des ei-
genen Ehe- oder Lebenspartners in dessen Rentenange-
legenheiten, oder sie schränken die Sozialrechtsberatung
bedürftiger Personen durch kirchliche Einrichtungen und
Wohlfahrtsverbände ein. Eine so rigide Überregulierung
ist, wie auch das Bundesverfassungsgericht für die un-
entgeltliche altruistische Rechtsberatung durch einen
pensionierten Richter im berühmt gewordenen Fall
„Kramer“ entschieden hat, nicht zu rechtfertigen.
Deshalb sollen künftig unentgeltliche Rechtsdienst-
leistungen sowohl im Familien- und Freundeskreis als
auch bei der Rechtsberatung durch karitative Einrichtun-
gen grundsätzlich erlaubt sein. Der erforderliche Schutz
der Rechtsuchenden wird bei der karitativen Rechtsbera-
tung dadurch gewährleistet, dass sie nur durch oder unter
Anleitung von Volljuristen erbracht werden darf und im
Fall dauerhaft unqualifizierter Rechtsdienstleistungen
untersagt werden kann.
Im Mittelpunkt des Interesses der Anwaltschaft stand
und steht allerdings nicht so sehr diese wichtige Öffnung
der unentgeltlichen Rechtsberatung, sondern die Rege-
lung zur Zulässigkeit rechtsdienstleistender Nebenleis-
tungen durch Nichtanwälte im wirtschaftlichen, gewerb-
lichen Bereich. Auch für diesen Bereich haben die
Gerichte seit Mitte der 1990er-Jahre zunehmend Öffnun-
gen überall dort durchgesetzt, wo rechtliche Tätigkeiten
nicht den Kern und Schwerpunkt einer im Wesentlichen
wirtschaftlich ausgerichteten Dienstleistung darstellen.
Manche Bereiche, etwa die Fördermittelberatung oder
die Testamentsvollstreckung, wurden ganz aus dem An-
wendungsbereich des Rechtsberatungsgesetzes heraus-
genommenen; in anderen Bereichen, etwa der Insolvenz-
und Sanierungsberatung, wurde den in diesem Bereich
hochqualifizierten Betriebswirten, Steuerberatern und
Kaufleuten eine sehr weitreichende „Annexkompetenz“
zuerkannt.
An diesen Mindeststandards ist der vorliegende Ge-
setzentwurf ausgerichtet. Seine Formulierungen sind
– übrigens in Abstimmung und zuletzt im Konsens mit
Spitzenvertretern von Bundesrechtsanwaltskammer und
Deutschem Anwaltverein – so gewählt, dass sie einer-
seits die gebotenen Öffnungen ermöglichen und anderer-
seits die Grenzen zulässiger Rechtsberatung deutlich
hervorheben. Wer wie einzelne Verbandsvertreter vor-
schlägt, hinter diesen Formulierungen zurückzubleiben
und die Zulässigkeit rechtsdienstleistender Nebenleis-
tungen noch weiter einzuschränken, wird den verfas-
sungs- und europarechtlichen Vorgaben nicht mehr ge-
recht. Zudem würde die Möglichkeit vertan, im
Randbereich rechtlicher Dienstleistungen mehr Wettbe-
werb, mehr wirtschaftliche Chancen und Entwicklungs-
möglichkeiten zu schaffen.
Erlaubt sei bei diesen Stichworten eine abschließende
Anmerkung zu den Marktchancen, die der vorliegende
Gesetzentwurf auch und gerade für Rechtsanwältinnen
und Rechtsanwälte eröffnet. Ihnen bleibt nicht nur der
Kernbereich rechtsdienstleistender Tätigkeit exklusiv
vorbehalten, was in Europa längst nicht die Regel ist.
Anwälte sollen darüber hinaus die Möglichkeit erhalten,
berufliche Verbindungen mit Angehörigen anderer freier
oder auch gewerblicher Berufe einzugehen und sich so
neue Beratungsmärkte und Tätigkeitsfelder zu erschlie-
ßen. Eine künftig mögliche Sozietät etwa mit Unterneh-
mensberatern, Architekten oder auch – man denke an
das Arzthaftungsrecht – mit Medizinern wird der An-
waltschaft und den Rechtsuchenden insgesamt nicht
schaden, sondern nutzen. Voraussetzung ist allerdings,
dass die Rechtsanwältin und der Rechtsanwalt innerhalb
dieser beruflichen Verbindungen unabhängig und nur
den Interessen des Mandanten verpflichtet bleiben. Dies
gewährleisten die Regelungen des Gesetzentwurfs, die
der Deutsche Anwaltverein übrigens fast wortgleich in
seinen jüngst vorgelegten Vorschlag für eine BRAO-Re-
form übernommen hat. Auch dies zeigt: Der Entwurf des
Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts
entspricht den Interessen aller Beteiligten, nicht zuletzt
denjenigen einer aufgeschlossenen, zukunftsorientierten
Anwaltschaft.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Planungssicherheit
für Landwirte und Milchwirtschaft durch defi-
nitiven Beschluss zum Auslaufen der Milchquo-
tenregelung schaffen (Tagesordnungspunkt 29)
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Auch wenn unser
heutiger Tagesordnungspunkt zu sehr später Stunde auf-
gerufen wird – Deutschlands Milchkühe schlafen um
diese Uhrzeit bereits friedlich –, so soll das nicht darüber
hinwegtäuschen, dass wir heute über eine Fragestellung
von großer Tragweite zu beraten haben. Es geht um nicht
weniger als um grundlegende Weichenstellungen für die
Zukunft der deutschen Milchproduktion und -wirtschaft.
Der Milchsektor nimmt innerhalb der deutschen Land-
und Ernährungswirtschaft eine herausragende Stellung
ein: Die Bundesrepublik ist der größte Milchproduzent
innerhalb der Europäischen Union, weltweit die Num-
mer fünf. An der Milch hängen in hohem Maße Wert-
schöpfung und Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und
in den ländlichen Regionen.
Seit 1984 unterliegt die Milcherzeugung in der Euro-
päischen Union dem Quotensystem. Dieses hat, das
müssen wir unumwunden feststellen, alle ihr zugrunde-
liegenden Zielsetzungen deutlich verfehlt: Die Überpro-
duktion von 20 Prozent wurde nicht gesenkt; weder sind
die Einkünfte der Milchproduzenten auf ein auskömmli-
7972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
ches Maß angewachsen, noch wurde der in allen Berei-
chen der Landwirtschaft stattfindende langfristige Struk-
turwandel konstruktiv flankiert. Stattdessen wird in
Deutschland jeder Milchproduzent unzumutbar belastet:
Auf jedes Kilogramm abgelieferter Milch entfallen 3 bis
3,5 Cent reine Quotenkosten, mithin mehr als 10 Prozent
des Erlöses. Auf die Jahresproduktion bezogen sprechen
wir über eine Gesamtsumme von etwa 800 bis 900 Mil-
lionen Euro, die unseren Milchbetrieben fehlen, nicht
zuletzt zur Anpassung an das Weltmarktniveau und für
die hierfür notwendigen Investitionen.
Die negative Bilanz der Quotenregelung ist nicht nur
meine private Meinung, sondern alle mit den Fragen des
Milchmarktes befassten Fachleute sind sich in dieser
Hinsicht einig. Die dem Antrag der FDP-Fraktion, über
den wir heute zu beraten haben, zugrundeliegende Ana-
lyse ist zweifelsohne richtig, aber sie ist mittlerweile
Allgemeingut, um nicht zu sagen eine Binsenweisheit. In
dieser Hinsicht zeigte sich die größte Oppositionsfrak-
tion also weder besonders originell noch besonders
weise. Die aus dem Scheitern des Quotensystems zu zie-
hende Folgerung liegt ebenso auf der Hand: Es gehört
abgeschafft! Auch dies ist keineswegs ein Geistesblitz
des Kollegen Goldmann und seiner Fraktion – die Sache
ist evident und bedarf keiner grundsätzlichen Diskus-
sion. Es stellt sich also nicht die Frage des Ob, sondern
wir müssen über das Wann und vor allem das Wie spre-
chen. Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass wir
möglichst rasch die notwendigen Entscheidungen treffen
und verbindliche Positionen erarbeiten müssen. Unsere
Milchbauern und das milchverarbeitende Gewerbe brau-
chen eine möglichst langfristige Planungs- und Investi-
tionssicherheit. Die Bundesregierung ist dringend aufge-
fordert, noch während der deutschen Ratspräsidentschaft
einen eindeutigen Standpunkt einzunehmen und auf EU-
Ebene die deutschen Interessen adäquat zu vertreten.
Spätestens mit dem 2008 anstehenden „Health Check“
müssen wir einen Ausstiegskorridor aus der Quote ver-
bindlich vereinbaren. Die wichtigste Wegmarke ist das
Jahr 2013, nach dem die Exporterstattungen wegfallen
und aller Voraussicht nach auch die aktuellen WTO-Ver-
handlungen endlich abgeschlossen sein werden. Hinter
die bereits gemachten Zugeständnisse werden wir – das
muss allen klar sein – nicht mehr zurückgehen können.
Es bleibt die letzte und in meinen Augen entschei-
dende Frage: Wie soll der Ausstieg aus dem Quotensys-
tem vollzogen, ausgestaltet und begleitet werden? Was
das politische Instrumentarium für den Ausstieg angeht,
so habe ich eine klare und eindeutige Meinung: Eine
schrittweise Absenkung der Superabgabe ist in meinen
Augen am besten geeignet, um einen allmählichen, glei-
tenden Abschied von der Milchquote zu nehmen. Expan-
dierende Betriebe würden auf ihrem Weg hin zur
Wettbewerbsfähigkeit unter Weltmarktbedingungen zu-
nehmend entlastet, die obsolet gewordene Quote allmäh-
lich bis zur Bedeutungslosigkeit entwertet und damit
faktisch beseitigt. Alle anderen in diesem Zusammen-
hang diskutierten Instrumente, beispielsweise eine inter-
oder besser transnationale Saldierung, ein Quotenhandel
über Staatsgrenzen hinweg oder eine Aufstockung der
Quote sind wegen des damit verbundenen immensen Bü-
rokratieaufwandes und den zwangsläufig auf Brüsseler
Ebene entstehenden politischen Streitereien mit Nach-
druck abzulehnen.
Die Frage nach dem Wie umfasst allerdings deutlich
mehr als nur die politischen Ausstiegsoptionen. Wir
müssen uns über die mittel- und langfristigen Folgen
nicht nur für die internationalen Märkte, sondern auch
für die Betriebe und für unsere ländlichen Regionen Ge-
danken machen. Gerade zu diesem wesentlichen Punkt
finde ich in dem vorliegenden Antrag überhaupt nichts:
Einmal mehr wiederholen die Freidemokraten ihr Glau-
bensbekenntnis, das auch durch jahre- und jahrzehnte-
langes Wiederholen nicht richtig wird: Der Markt wird
es schon richten. – Genau das wird er eben nicht! Eine
solche Politik des reinen Marktliberalismus ließe viele
Menschen in weiten Teilen unseres Landes im Regen
stehen. Das ist unverantwortlich, kaltschnäuzig und mit
uns Sozialdemokraten selbstverständlich nicht zu ma-
chen! Natürlich wird die Zukunft einen beschleunigten
Strukturwandel mit sich bringen. Diesen muss und wird
die Politik flankierend begleiten und mitgestalten. Unter
den künftigen Wettbewerbsbedingungen wird es in vie-
len Regionen nicht mehr möglich sein, allein von der
herkömmlichen Milchproduktion zu leben. Um eine flä-
chendeckende Bewirtschaftung auch für die Zukunft zu
gewährleisten, die Wertschöpfung in diesen Gebieten zu
sichern und Arbeitsplätze zu schaffen, gilt es, alternative
oder komplementäre Einkommensquellen zu erschlie-
ßen, auszubauen und nachhaltig zu sichern. In diesem
Zusammenhang gibt es zahlreiche Optionen. Über die
Biomassestrategie, die rapide wachsende Nachfrage
nach ökologisch erzeugten Lebensmitteln und Perspekti-
ven des Tourismus ist bereits hinlänglich gesprochen
worden.
Unser besonderes Augenmerk verdient in diesem Zu-
sammenhang die Honorierung öffentlicher Güter. Das
bedeutet beispielsweise, dass die Landwirte in Regionen,
aus denen sich die Milchkuhhaltung zurückzieht, die be-
stehenden Grünlandstandorte erhalten und durch exten-
sive Bewirtschaftung die Biodiversität erhalten und si-
chern können. Eine solche gesellschaftlich erwünschte
Dienstleistung kann durchaus zu einem durch Marktme-
chanismen entstehenden Preis honoriert werden. Eine
strukturell sinnlose Verteilung entsprechender Mittel
nach dem altbekannten Gießkannenprinzip kann und
darf es hier – das will ich klarstellen – jedoch ebenso
wenig geben wie die Wahrung vermeintlicher Besitz-
stände.
Die politische Konsequenz ist klar: Umstellungshil-
fen, um die Einkommens- und Wertschöpfungsbasis zu
verbreitern wie auch die angemessene Entlohnung für
gesellschaftlich erwünschte Leistungen stellen die
Zweite Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik vor große
Aufgaben. Daher gilt es, diese Zweite Säule nicht zu
überfordern, sondern sie zu stärken. Doch auch die zu-
kunftsorientierten expandierenden Milchproduzenten
brauchen unsere Hilfe. Zunächst einmal müssen wir of-
fen darüber diskutieren, wie wir innerhalb der EU glei-
che Wettbewerbsbedingungen gewährleisten können.
Hier ist sicherlich zunächst darüber nachzudenken, die
Top-ups über das Jahr 2010 hinaus bei diesen Betrieben
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7973
(A) (C)
(B) (D)
zu belassen. Vielfach wird zudem der Weg zu Wettbe-
werbsfähigkeit an den internationalen Märkten hohen
Bedarf an Investitionen mit sich bringen. Auch hier kann
die Politik durch befristete Programme zur Investitions-
förderung helfen. Als Instrument der Wahl sehe ich
staatlich garantierte Ausfallbürgschaften an – sie bieten
gegenüber unmittelbaren Finanzhilfen bessere Perspekti-
ven, dass die eingesetzten Mittel nachhaltige strukturelle
Wirkungen zeitigen.
Es ist mir ein besonderes Anliegen, die Milchindus-
trie in diesem Zusammenhang in die Pflicht zu nehmen.
Die Mittel für die Anpassung an künftige Marktstruktu-
ren müssen aus eigener Kraft aufgebracht werden. Die
zwangsläufig entstehenden Kosten dürfen nicht über
niedrigere Auszahlungspreise den Landwirten aufgebür-
det werden. Angesichts vielfach bestehender regionaler
Nachfragemonopole ist über neue Mechanismen der
Preisbildung, beispielsweise über Milchbörsen oder Er-
zeugerzusammenschlüsse, nachzudenken. Sowohl die
Sicherung von Arbeit und Wertschöpfung in benachtei-
ligten Regionen als auch die Hinführung der wettbe-
werbsfähigen Betriebe an härter werdende Wettbewerbs-
bedingungen wird sehr viel Geld kosten. Doch das
derzeitige Marktordnungssystem, das, wie gesagt, eher
schadet als nützt, gibt es ja auch keineswegs umsonst:
Im Jahr 2006 musste die EU hierfür mehr als 850 Millio-
nen Euro aufwenden. In dieser Summe sind, darauf
möchte ich deutlich hinweisen, die Milchprämien kei-
neswegs enthalten. Dieses Geld ist einer sinnvollen und
nachhaltigen Strukturpolitik zuzuführen.
Ich fasse zusammen: Es besteht ein breiter Konsens
darüber, dass das derzeitige Milchquotensystem versagt
hat und ein frühestmöglicher Ausstieg die einzig ver-
nünftige Option ist. Die dafür notwendigen politischen
Entscheidungen sind umgehend zu treffen, um Pla-
nungssicherheit für alle Beteiligten zu schaffen. Der
Ausstieg aus der Quote wird den Strukturwandel in die-
sem Bereich der Landwirtschaft deutlich beschleunigen.
Diesen Prozess gilt es flankierend zu begleiten und zu-
kunftsorientiert mitzugestalten. Dieser letzte Aspekt
fehlt in dem vorliegenden Antrag völlig. Wir Sozialde-
mokraten bekennen uns zu unserer Verantwortung für
die Menschen. Sie ist die fundamentale Leitlinie unserer
Politik für die ländlichen Räume. Daher können und
werden wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Die deutsche
Milchwirtschaft ist mit einem Umsatz von etwa 20 Mil-
liarden Euro/Jahr und einem Exportvolumen von rund
4 Milliarden Euro eine Schlüsselbranche der deutschen
Ernährungswirtschaft. Über 100 000 landwirtschaftliche
Betriebe bilden das Rückgrat der Milchwirtschaft. In
über 100 überwiegend mittelständischen Unternehmen
mit insgesamt fast 40 000 Mitarbeitern werden täglich
75 000 Tonnen Milch zu hochwertigen Nahrungsmitteln
verarbeitet. Damit werden allein in Deutschland mehr
als 20 Prozent der Milch aller 25 EU-Staaten verarbeitet.
Doch mit der Milch verbinden viele auch Begriffe wie
Milchseen und Butterberge. Diese beiden Begriffe präg-
ten über lange Zeit die Agrardiskussion, in den 70er- und
frühen 80er-Jahren. Die EU führte 1984 schließlich die
Milchquote ein, die zunächst einen Teil der Überproduk-
tion stoppte. Doch ihr zentrales Ziel, die Herstellung ei-
nes Marktgleichgewichts, hat sie nie erreicht. In der
Folge hat das Scheitern der Milchquote zu sinkenden
Milcherzeugerpreisen und fallenden Einkommen in der
Milchwirtschaft beigetragen. Weiterhin wurde durch die
Milchquote der Strukturwandel in Landwirtschaft und
Milchwirtschaft erheblich verteuert. Nur Spitzenbetriebe
sind in der Lage, die notwendigen Nettoinvestitionen für
ein Wachstum zu rentablen Größeneinheiten zu tätigen.
Die so gekennzeichnete heutige Struktur birgt somit den
zukünftigen, zwangsläufigen Strukturwandel in sich.
Daran hat auch die Milchquotenregelung nichts geän-
dert. Die hohen Quotenkosten bedeuten vor allem für
Junglandwirte und Wachstumsbetriebe zusätzliche In-
vestitionskosten und eine Wachstums- bzw. Einstiegs-
hürde. Die staatliche Regulierung des europäischen
Milchmarktes hat damit nicht die Erwartungen von
Landwirten und Milchwirtschaft erfüllt, sodass in der
Agrarpolitik verstärkt auf marktwirtschaftliche Lösun-
gen gesetzt wird.
Nun gilt es, den Landwirten so schnell wie möglich
zu sagen, dass sie sich auf ein Ende der Milchquote ab
2015 einstellen müssen. Wir alle müssen dazu beitragen,
dass überall die Erkenntnis wächst, dass staatliche Len-
kungssysteme nicht funktionieren und die Landwirte
sich wieder auf den Markt einstellen müssen. Wir müs-
sen verhindern, dass durch ein zu zögerliches Handeln
falsche Investitionssignale gesetzt werden. „Die Milch-
quote ist gescheitert und läuft 2015 aus!“, das ist die
Botschaft, die wir aussenden müssen. Deshalb bin ich
dankbar, dass sowohl Frau Kommissarin Fischer Boel,
auf der IGW, als auch Minister Seehofer, gestern in un-
serer Ausschusssitzung, dies so klar gesagt haben. Viele
Milchbauern sind immer noch gegen das Ende der
Milchquote, weil sie Furcht vor freier Marktwirtschaft
haben, Furcht vor Preisdruck und heftigerem Struktur-
wandel. Sie bevorzugen Marktregulierungen, Eingriffe
des Staates, Mengenbegrenzungen und Ausgleichszah-
lungen. Sie meinen, dass das mit einer Milchquote zu
schaffen ist, wenn „die Beamten das nur mal endlich
richtig machen würden“.
Doch diese Wünsche kann die Milchquote nicht erfül-
len, das lehrt die Erfahrung der letzten 23 Jahre. Unab-
hängig von der eigenen Meinung muss man auch klar sa-
gen, dass die Milchquote schon deshalb auslaufen wird,
weil es auf europäischer Ebene keinen Willen zur Fort-
setzung gibt. Im Rat müssten jedoch 75 Prozent der
Stimmen für eine Fortsetzung abgegeben werden. Dies
wird nicht geschehen.
Die FDP begrüßt, dass der Bauernverband sich der-
zeit intensiv mit dieser Problematik beschäftigt und dies
zum Schwerpunktthema des nächsten Bauerntages ma-
chen wird. Unsere parlamentarischen Beratungen und
die Auseinandersetzung mit dem Thema auf berufsstän-
discher Ebene werden dazu beitragen, allen klar zu ma-
chen, dass sie sich künftig auf den Markt einstellen müs-
sen. Ich bin überzeugt, dass die Landwirte vor dem
Markt keine Angst zu haben brauchen. Die weltweite
Nachfrage nach Milch und Milchprodukten steigt. Un-
7974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
sere leistungsfähigen Betriebe werden sich nicht nur am
Markt behaupten können, sie werden auch davon profi-
tieren. Auch wenn es unmodern geworden scheint:
Manchmal kann ein Blick über den Atlantik weiterhel-
fen. In den USA stand und steht man nämlich vor ähnli-
chen Problemen wie in Europa. Allerdings gab es dort
nie eine Quote. Stattdessen hat man dort ein freiwilliges
Programm aufgelegt, das helfen soll, die Milchmenge zu
verringern: Die Erzeuger zahlen einen Beitrag in eine
Kasse ein, aus der wiederum Milchkühe aufgekauft und
geschlachtet werden, um so Milch aus dem Markt zu
nehmen. Inzwischen sind drei Viertel der Milchbauern
an dieses System angeschlossen. Zwischen 2003 und
2005 ist es so gelungen 1,5 Prozent der Milchproduktion
aus dem Markt zu nehmen. Dies Beispiel zeigt, dass
Bauern ohne staatliche Bürokratie zu intelligenten Lö-
sungen kommen, die dazu beitragen, Marktprobleme zu
lösen.
Ich verschließe allerdings nicht die Augen davor, dass
der zu erwartende Verdichtungsprozess bei der Milch-
produktion in den benachteiligten Regionen zu größeren
Problemen führen wird. Die FDP begrüßt es daher, dass
der Minister angekündigt hat, sich diesem Problem zu
stellen. Ein Begleitprogramm für benachteiligte Gebiete
ist richtig und sinnvoll. Wir werden diesen Diskussions-
prozess konstruktiv begleiten.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die FDP for-
dert einen möglichst schnellen Beschluss zum Ausstieg
aus der Milchquote am 31. März 2015. Ihre Lösung der
Probleme im Milchsektor lautet: Markt, Markt und noch
mal Markt. Im Sinne ihrer neoliberalen Ideologie löst
der globalisierte Markt alle Probleme. Jeder Milchvieh-
halter in der Eifel, im Taunus, Schwarzwald oder Erzge-
birge soll das Paradies des globalen Wettbewerbs genie-
ßen. So würde der Freiraum geschaffen für Wachstum,
steigende Produktion und die gewaltigen Einkommens-
steigerungen, die sich mit den globalen Weltmarktbedin-
gungen einstellen. Welch eine neoliberale Seifenblase!
Der vor einer Woche in der bayerischen Landesvertre-
tung stattgefundene milchpolitische Frühschoppen
zeigte schon, wohin der Hase laufen soll: Nach den
Vorstellungen eines französischen Managers der Milch-
industrie – des familiengeführten Konzerns Lactalis –
braucht Europa 2020 nur noch zwei Konzernzentralen
– für Nord- und Südeuropa – um die Milcherfassung, die
Verarbeitung und Vermarktung wettbewerbsfähig zu or-
ganisieren. Die beiden Konzerne können dann – in enger
Absprache natürlich – alles regeln: von der Regionalver-
marktung und Bioproduktion bis zur industriellen Roh-
stoffproduktion für Arzneimittel und anderes mehr. Es
soll in diesem Szenario fast selbstverständlich sein, dass
alle davon profitieren. Den Mengenbedarf regeln die
Konzerne in Abstimmung mit der Marktlage, und die
Preise natürlich auch. Keine Frage, dass damit die
Milchbäuerinnenn und Milchbauern im Hunsrück, im
Westen Frankreichs oder in Polen rosigen Zeiten entge-
gensehen.
Völlig richtig ist aus unserer Sicht die Analyse der
FDP über die katastrophalen Folgen der Aufstockungen
der Quoten in den vergangenen Jahren über die Selbst-
versorgung hinaus. Der permanente Überschuss auf dem
EU-Milchmarkt führt zum für die Milchviehbetriebe rui-
nösen Preisdruck. Aktuell drohen die Betriebe mit Stopp
der Lieferungen an die Molkereien, wenn der Basispreis
nicht auf betriebswirtschaftlich notwendige 40 Cent pro
Liter erhöht und damit fast verdoppelt wird. Der aktuelle
Preis ist infolge der durch überhöhte Quoten ausgelösten
Überschüsse auf einem Dumping-Niveau angekommen,
auf dem nur ganz wenige Milchviehbetriebe in einigen
Regionen noch kostendeckend arbeiten können. Gleich-
zeitig kosten die Exportsubventionen der EU sehr viel
Geld. Offen ist, ob die Weltmarktangebote aus der EU
das gesamte Preisniveau in der Welt drücken und damit
sogar landwirtschaftliche Existenzen außerhalb Europas
bedrohen. Die subventionierten Exporte von Milchpro-
dukten tun dies ganz bestimmt.
Auf der anderen Seite ist es über die Quoten in den
vergangenen Jahren gelungen, die Milchproduktion in
Regionen zu halten, die ohne die Quote schon längst
keine Milchviehhaltung mehr hätten. Diese ist übrigens
durchaus auch von touristischer Bedeutung. Über lange
Jahre ist und war die Planbarkeit für die Milcherzeuger
gewährleistet. Vielen Betrieben ist mit einer alleinigen
Ausrichtung auf einen globalisierten Agrarmarkt nicht
geholfen. Viele Landwirtinnen und Landwirte sind daher
beunruhigt; die Meinungsvielfalt über die Quote ist in-
nerhalb des Berufsstandes mindestens ebenso groß wie
in der Politik.
Die Lösung der Probleme liegt dabei nicht allein in
der Abschaffung der Quote, obwohl das heutige System
natürlich nicht zukunftsfähig ist. Wie eine Weiterent-
wicklung der Milchproduktion in Europa aussehen
sollte, bedarf gründlicher Überlegungen. Für viele pro-
duktive Standorte ist sicherlich die Abschaffung der
Quote und die völlige Freigabe des Milchmarktes eine
interessante Option. Aber wäre das die Lösung für die
vielfältigen, sehr unterschiedlichen Regionen Europas?
Muss nicht über Lösungen nachgedacht werden für Ge-
biete, in denen die Milcherzeugung eine Grundlage
schafft für weitaus mehr als für einen anonymen globa-
len Wettbewerb um den „Rohstoff“ Milch?
Mit einem vorschnellen Beschluss zum Ausstieg aus
der Milchquote ohne Wenn und Aber und ohne eine Be-
gleitung der Betriebe in eine Zukunft, die eine nachhal-
tige Entwicklung bietet, werden ländliche Räume zer-
stört und Perspektiven verbaut. Eine solche Lösung lehnt
Die Linke ab.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beim
Thema Milch wird die Diskussion häufig allzu sehr auf
die Frage der Beibehaltung oder Abschaffung der Milch-
quoten nach 2014 verkürzt. So auch im vorliegenden
Antrag der FDP-Fraktion. Dabei geraten die Bedräng-
nisse und Sorgen, unter denen viele Milchbauern und
Milchbäuerinnen heute leiden, leicht aus dem Blick.
Fakt ist: Der Verfall des Milchpreises bedroht immer
mehr Milchviehbetriebe in ihrer Existenz. Dieses Pro-
blem wird durch die von der Bundesregierung zu verant-
wortenden drastischen Kürzungen bei den Fördermitteln
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7975
(A) (C)
(B) (D)
der zweiten Säule und den Wegfall von Landesförderun-
gen für die Grünlandregionen dramatisch verschärft. Von
dieser politischen Verantwortung für die heutige Situa-
tion der Milchbäuerinnen und Milchbauern dürfen De-
batten über die Zukunft der Milchquote nicht ablenken.
Richtig ist: Wir müssen uns auf ein Auslaufen des
Milchquotensystems zum Milchwirtschaftsjahr 2014/
2015 einstellen. Das heißt aber, wir müssen als Politik
klarstellen, was an die Stelle des Quotensystems treten
und wie es mit der Milchwirtschaft weitergehen soll.
Aus Sicht meiner Fraktion stehen dabei drei Grund-
sätze im Mittelpunkt.
Erstens muss sich unsere Politik in erster Linie an den
aktiv wirtschaftenden Milchbauern orientieren, nicht an
den Sofamelkern.
Zweitens muss Milchwirtschaft auch in den Mittelge-
birgsregionen möglich bleiben. Gerade dort ist eine
nachhaltige Milchwirtschaft mit Blick auf Wirtschafts-
struktur, Tourismus und ökologische Vielfalt unverzicht-
bar.
Und schließlich wollen wir eine natur- und tierge-
rechte Milchviehhaltung gewährleisten. Die Industriali-
sierung der Tierhaltung, die wir gerade bei den Schwei-
nen erleben, kann und darf für die Kühe kein Vorbild
werden.
Es kann also nicht darum gehen, einfach nur die
Milchquote abzuschaffen und alles weitere den Markt-
kräften zu überlassen, wie sich die FDP das vorstellt.
Not tut eine aktive und vorausschauende Politik, für die
wir mehr Spielräume im Rahmen der zweiten Säule der
Agrarförderung brauchen. Deshalb wird die grüne Frak-
tion nicht nachlassen, die Kürzungen bei der zweiten
Säule und die Blockadehaltung der Bundesregierung bei
der fakultativen Modulation zu kritisieren. Das sind
grundlegend falsche Weichenstellungen, die der Zu-
kunftsfähigkeit der Landwirtschaft insgesamt schaden
und ganz besonders den Milchbäuerinnen und Milchbau-
ern!
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz: Die Einführung der Milchquotenregelung im
Jahr 1984 erfolgte als Reaktion auf eine nicht mehr kon-
trollierbare Situation auf dem EU-Milchmarkt. Die La-
gerbestände an Butter und Magermilchpulver erreichten
ein Rekordniveau. Die Ausgaben für den EU-Milch-
markt drohten, den Haushaltsrahmen zu sprengen. Der
subventionierte Absatz der Überschüsse auf Drittlands-
märkten führte in einem zunehmenden Maße zu Konflik-
ten mit wichtigen Handelspartnern.
Die EG-Kommission wie auch die Mehrheit der Mit-
gliedstaaten waren damals der Auffassung – und jetzt zi-
tiere ich –: „dass zur Wiederherstellung des Gleichge-
wichts im Milchsektor eine Kontingentierung die
wirksamste und in ihrer Auswirkung auf die Erzeuger
einkommen die am wenigsten einschneidende Maß-
nahme sei“.
Angesichts der gesunkenen Milchpreise und der zu
erwartenden veränderten Rahmenbedingungen – hier vor
allem der Abbau von Exporterstattungen und des Außen-
schutzes – wird in Politik und Milchwirtschaft die Frage
nach der Zukunft der Milchquote intensiv diskutiert.
Wachstumswillige Betriebe fordern die Abschaffung
der Quotenregelung. Andererseits befürchten Milcher-
zeuger auf weniger wettbewerbsfähigen Standorten das
Aus der Milcherzeugung in diesen Regionen. Beide Ar-
gumente nimmt die Bundesregierung sehr ernst.
Die derzeitige Quotenregelung läuft mit dem Quoten-
jahr 2014/15 aus, wenn zuvor keine andere Entschei-
dung getroffen wird. Sollte man in der EU mehrheitlich
zu der Auffassung gelangen, dass mit einem mengenre-
gulierenden Instrument wie der Quotenregelung die
künftigen Herausforderungen auf dem EU-Milchmarkt
nicht bewältigt werden können, ist es nur logisch, keine
andere staatliche Regulierung einzuführen.
Nun zur zeitlichen Perspektive: Es ist davon auszuge-
hen, dass die Zukunft der Quotenregelung im Rahmen
des sogenannten Health Check im Jahr 2008 seitens der
EU-Kommission thematisiert wird. Agrarkommissarin
Fischer Boel hat wiederholt erklärt, dass sie die Quoten-
regelung nicht mehr für zeitgemäß hält und eine Verlän-
gerung über das Jahr 2015 hinaus ablehnt. Sie hat ange-
kündigt, die Kommission werde Ende 2007/Anfang
2008 einen Bericht zum Milchmarkt vorlegen. Mit der
Vorlage dieses Berichts durch die Kommission fällt auf
EU-Ebene der Startschuss für eine intensive Diskussion
der Milchproblematik.
Selbstverständlich wird Bundesminister Seehofer im
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auch Ge-
spräche mit seinen Kollegen aus anderen EU-Mitglied-
staaten zur künftigen Ausgestaltung der EU-Milch-
marktordnung führen. Er beabsichtigt, zur Frage, ob die
Quotenregelung noch ein Zukunftsmodell für den EU-
Milchmarkt sein kann, bis zum Sommer eine Position
aus deutscher Sicht zu formulieren.
Eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe wird – wie von den
Amtschefs von Bund und Ländern auf ihrer Konferenz
am 18. Januar beschlossen – die mit einem möglichen
Quotenausstieg im Zusammenhang stehenden Fragen
aufarbeiten und zur Herbstkonferenz der Agrarminister
Ergebnisse für die weitere Diskussion auf EU-Ebene
vorlegen. Hier geht es vor allem darum, wie ein Quoten-
ausstieg, insbesondere auch im Hinblick auf notwendige
Begleitmaßnahmen, gestaltet werden kann.
In diesem Zusammenhang wird auch geprüft, welche
Möglichkeiten Bund und Länder haben, die Landwirt-
schaft auf den Standorten zu stärken, auf denen bei wei-
terer Reduzierung der Stützung im Milchbereich und
Auslaufen der Quote die Einstellung der landwirtschaft-
lichen Flächennutzung droht. Wir wollen die Landwirte
dabei unterstützen, auch auf diesen Standorten wirt-
schaftliche Perspektiven zu entwickeln. Wir brauchen
die landwirtschaftliche Wertschöpfung in den Regionen.
Was die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen betrifft,
so hat die Politik der Bundesregierung bereits zu einer
deutlichen Verbesserung der Einschätzung der wirt-
7976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
schaftlichen Lage durch die Landwirte beigetragen.
Diese Verbesserung in der Einschätzung ihrer Zukunfts-
perspektiven wird auch von den Milchviehbetrieben mit-
getragen. Dies zeigen Erhebungen des Konjunkturbaro-
meters Agrar.
Milch und Milcherzeugnisse sind zudem die bedeu-
tendsten Produkte im Bereich des deutschen Außenhan-
dels Land- und Ernährungswirtschaft. Im Jahr 2005 wur-
den für 5,2 Milliarden Euro Milch und Milcherzeugnisse
exportiert. Dies entsprach einem Anteil von rund 15 Pro-
zent der gesamten deutschen Ausfuhren an Gütern der
Land- und Ernährungswirtschaft. Schätzungen für das
Jahr 2006 zeigen, dass sich die Situation weiter verbes-
sert hat. Demnächst werde ich ein Branchengespräch
führen, um weitere Möglichkeiten der Exportförderung
auszuloten.
Wir brauchen den Absatz auf den heimischen Märk-
ten und in Drittländern, und dazu brauchen wir eine
wettbewerbsfähige Milch- und Molkereiwirtschaft. Zu
deren Entwicklung wird die Bundesregierung auch wei-
terhin mit allem Nachdruck beitragen. Regionale land-
wirtschaftliche Wertschöpfung mit oder ohne Milch und
Dienstleistungen der Landwirtschaft insbesondere für
die Landschaftspflege, den Artenschutz und den Touris-
mus werden zukünftig die Standbeine der Landwirt-
schaft in den benachteiligten Regionen sein.
Die Bundesregierung wird darauf drängen, bei der EU
wie bei den Ländern, dass die notwendigen Rahmenbe-
dingungen dafür geschaffen werden.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Va-
terschaft (Tagesordnungspunkt 21)
Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute in
erster Lesung mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung „Zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Va-
terschaft“.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits in der vergange-
nen Legislaturperiode auf die Problematik hingewiesen.
Daraufhin haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf ge-
einigt, gemeinsam einen entsprechenden Gesetzentwurf
zu erarbeiten.
Lassen Sie mich in einigen Worten den Hintergrund
unserer Initiative skizzieren.
Bei Scheinvaterschaften erkennt ein Mann eine Vater-
schaft an, obwohl er weder der leibliche Vater ist noch
zu dem Kind in einer sozial-familiären Beziehung steht.
Konkret heißt das, dass Frauen ohne Chance auf ein
Asyl- oder Aufenthaltsrecht in Deutschland ihr Kind zur
Welt bringen und ein deutscher oder ein ausländischer
Mann mit gesichertem Aufenthaltsstatus unmittelbar vor
bzw. nach der Geburt die Vaterschaft anerkennt. Mit der
Anerkennung erwirbt das Kind die deutsche Staats-
angehörigkeit. Die Mütter erhalten hingegen ein von der
deutschen Staatsbürgerschaft des Kindes abgeleitetes
Aufenthaltsrecht. Das Gleiche gilt für etwaige weitere
Kinder, die nach Deutschland nachreisen bzw. hier ver-
bleiben dürfen. Darüber hinaus erlangen alle Beteiligten
einen Anspruch auf Sozialgeld.
Wenn die Vaterschaftsanerkennung ausschließlich auf
Vorteile im Staatsangehörigkeits- und Ausländerrecht
zielt und nicht um des Kindes willen geschieht, muss es
möglich sein, diese missbräuchliche Vaterschaftsanerken-
nung anzufechten. Da jedoch eine Anfechtungsmöglichkeit
durch Behörden derzeit gesetzlich nicht geregelt ist,
muss das Bürgerliche Gesetzbuch um ein Anfechtungs-
recht für eine öffentliche Stelle ergänzt werden.
Wir müssen vor dem Hintergrund der ständig zuneh-
menden Missbrauchsfälle diese Gesetzeslücke nun zügig
schließen. Allein im Zeitraum von Frühjahr 2003 bis
Frühjahr 2004 betrug die Zahl der Verdachtsfälle des
Leistungsmissbrauchs und der Erschleichung von Auf-
enthaltstiteln bundesweit 1 694.
Zudem lässt sich feststellen, dass immer stärker profes-
sionelle Schleuserbanden in der organisierten Vermittlung
von „Vaterschaften“ ein neues und lukratives Geschäfts-
feld entdeckt haben, in dem mit geringem Risiko sehr
hohe Profite zu erzielen sind.
Auf die anerkennenden Väter kommt dabei mangels
finanzieller Leistungsfähigkeit keinerlei Unterhaltsver-
pflichtung und somit kein materieller Nachteil zu. Auch
strafrechtliche Konsequenzen brauchen sie bislang nicht
zu fürchten. Anders als bei der Scheinehe ist die Anerken-
nung nicht-leiblicher Kinder aus sachfremden Motiven
legal.
Außerdem haben sich in jüngster Zeit die Berichte
von im Ausland lebenden Deutschen verstärkt, die die
Vaterschaft von dort lebenden ausländischen Kindern
anerkennen. Auch diese erhalten in der Folge die deutsche
Staatsbürgerschaft, was ihnen, ihren Müttern sowie etwa-
igen Geschwistern die Möglichkeit eröffnet, in Deutsch-
land zu leben. Besonders drastisch ist in diesem Zusam-
menhang der Fall eines in Paraguay lebenden
Deutschen, der dort und in anderen Ländern die Vater-
schaft von mehr als 300 ausländischen Kindern anerkannt
hat. Dies unterstreicht noch einmal deutlich die Dring-
lichkeit einer entsprechenden gesetzlichen Regelung.
Der vorliegende Gesetzentwurf bietet eine umsichtige
und ausgewogene Lösung an. Wir beabsichtigen damit
– wie bereits gesagt –, die Regelungen zur Anfechtung
der Vaterschaft im Bürgerlichen Gesetzbuch um ein
Anfechtungsrecht für eine öffentliche Stelle zu ergänzen.
Die für die Anfechtung zuständige Behörde sollen die
Länder entsprechend den Bedürfnissen selbst bestimmen
können.
Die Anfechtung ist danach nur erfolgreich, wenn zwi-
schen dem Kind und dem Anerkennenden keine sozial-
familiäre Beziehung besteht oder zum Zeitpunkt der
Anerkennung bestanden hat. Dadurch wird verhindert,
dass durch die Anfechtung eine vom Grundgesetz in
Art. 6 geschützte Familie auseinandergerissen wird.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7977
(A) (C)
(B) (D)
Außerdem setzt die Anfechtung voraus, dass durch die
Anerkennung der Vaterschaft rechtliche Voraussetzungen
für die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des
Kindes oder eines Elternteils geschaffen werden. Hier-
durch wird sichergestellt, dass nur jene Missbrauchsfälle
erfasst werden, die wir mit diesem Gesetz unterbinden
wollen.
Soweit das Familiengericht der Anfechtungsklage
stattgibt, entfällt die Vaterschaft des Anerkennenden mit
Rückwirkung auf den Tag der Geburt des Kindes. Mit dem
vorliegenden Entwurf wird das Konzept der Kindschafts-
rechtsreform von 1998 gewahrt. Die damalige Reform
hatte die Elternautonomie gestärkt und die Entstehung
von Familien gefördert, indem sie das Zustandekommen
einer wirksamen Vaterschaftsanerkennung allein an die
notariell beurkundete Erklärung des Vaters sowie der
Zustimmung der Mutter knüpft. Dieser Gedanke wird
mit dem neuen Anfechtungsrecht der Behörden dem
Grunde nach nicht angetastet.
Soziale Vaterschaften, also jene Beziehungen, bei denen
zwischen dem Anerkennenden und dem Kind tatsächlich
eine sozial-familiäre Beziehung besteht bzw. bestanden
hat, bleiben auch in Zukunft geschützt.
Nicht schützenswert sind jedoch solche Anerkennun-
gen, die ausschließlich erfolgen, um ausländerrechtliche
Vorteile zu erlangen.
In diesem Zusammenhang gilt es auch zu beachten,
dass die Folgen solcher missbräuchlichen Anerkennungen
besonders für die betroffenen Kinder verheerend sind.
Die Anerkennung durch den „falschen“ Vater vereitelt
ihre Rechte auf Kenntnis ihrer Abstammung sowie auf
den Umgang mit dem leiblichen Vater.
Wir stehen nun am Beginn des Gesetzgebungsverfah-
rens. Die CDU/CSU hofft, dass am Ende ein Gesetz auf
den Weg gebracht werden kann, das die Missbrauchs-
möglichkeiten verhindert.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf wollen wir unsere Vereinbarung im Ko-
alitionsvertrag umsetzen, den „Missbrauch von Vater-
schaftsanerkennungen zur Erlangung von Vorteilen im
Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht … durch ge-
eignete Maßnahmen, beispielsweise die Schaffung eines
Anfechtungsrechts einer öffentlichen Stelle, (zu) unter-
binden“.
Durch die Kindschaftsrechtsreform von 1998 hat der
Gesetzgeber die Elternautonomie gestärkt und die Ent-
stehung von Familien gefördert, indem das Zustande-
kommen einer wirksamen Vaterschaftsanerkennung al-
lein an formgebundene Erklärungen des Vaters und der
Mutter geknüpft ist. Damit hat sich der Gesetzgeber be-
wusst davon verabschiedet, die Anerkennung an eine be-
hördliche Zustimmung zu knüpfen. Es geht darum, den-
jenigen anerkennenden Vater zu unterstützen, der
Verantwortungsbereitschaft für das Kind zeigt und unter-
haltspflichtig wird.
Nicht schützenswert jedoch ist der anerkennende
Mann, der erkennbar keinen väterlichen Bezug – weder
sozial noch biologisch – zum Kind aufweist, sondern le-
diglich die aufenthaltsrechtliche Konsequenz einer Va-
terschaftsanerkennung zum Ziel hat. Im Zusammenhang
mit dem Aufenthaltsstatus beteiligter Personen gibt es
nämlich Fälle, in denen Männer eine Vaterschaft aner-
kennen, die weder die biologischen Väter der Kinder
sind noch ein soziales Vater-Kind-Verhältnis haben oder
anstreben und zudem die aus einer Vaterschaft folgende
Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit nicht zu
fürchten brauchen. Derartige Vaterschaftsanerkennun-
gen sind vom Schutzzweck der Kindschaftsrechtsreform
nicht gedeckt.
Mir fehlt bislang jedoch ausreichend belastbares Zah-
lenmaterial über die Größenordnung der Missbräuche in
diesem Bereich. Auch wenn mir klar ist, dass es keine
konkreten Zahlen geben kann, solange es an Rechts-
grundlagen fehlt, die eine Erhebung solcher Zahlen er-
möglicht, erwarte ich von der notwendigen Sachverstän-
digenanhörung hierzu weitere Erkenntnisse. Die
Innenminister der Länder haben für die Zeit vom
1. April 2003 bis zum 31. März 2004 bei ihren Auslän-
derbehörden Fallzahlen erhoben. Danach wurde 1 694
unverheirateten ausländischen Müttern eines deutschen
Kindes, die im Zeitpunkt der Vaterschaftsanerkennung
ausreisepflichtig waren, aufgrund der Vaterschaftsaner-
kennung ein Aufenthaltstitel erteilt. Selbstverständlich
können diese Zahlen nicht belegen, in wie vielen Fällen
es sich tatsächlich um missbräuchliche Vaterschaftsaner-
kennungen handelt. Sie zeigen aber einen nicht unerheb-
lichen Rahmen, in dem missbräuchliche Vaterschafts-
anerkennungen stattfinden können.
Es ist nicht unser Anliegen, einen Generalverdacht
gegen binationale Familien zu konstruieren. Ganz im
Gegenteil wollen wir die Einzelfälle aufdecken, um da-
durch zielgenau derartige Ansinnen zu entkräften und
das Ansehen der Kindschaftsreform und die Elternrechte
zu stärken. Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich vor,
dass die Behörden nur tätig werden müssen, wenn „kon-
krete Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Vo-
raussetzungen für ein behördliches Anfechtungsrecht …
vorliegen“.
Das geplante behördliche Anfechtungsrecht stellt da-
her gerade keinen Eingriff in die Eltern-Kind-Beziehung
dar, da weder eine leibliche noch eine soziale Beziehung
zwischen Kind und angeblichem Vater besteht. Es han-
delt sich schließlich weder um den biologischen noch
um den sozialen Vater. Damit kann auch keine Verlet-
zung der Rechte aus Art. 6 Grundgesetz vorliegen.
Auch Bedenken im Hinblick auf Art. 16 Abs. 1
Grundgesetz in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
verfangen meines Erachtens nicht. Das Erschleichen ei-
ner Aufenthaltserlaubnis durch Täuschung kann keinen
Vertrauenstatbestand begründen. Dass das Kind seine
deutsche Staatsangehörigkeit nachträglich wieder ver-
liert, ist logische Konsequenz. Die zeitliche Begrenzung
der behördlichen Anfechtungsmöglichkeit muss hier
Schutz vor unbilligen Härten bieten. Zu erörtern bleibt
weiter, ob und wenn ja in welcher Weise dieser Verlust
der Staatsangehörigkeit einer ausdrücklichen gesetzli-
chen Regelung bedarf.
7978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Persönlich freue ich mich, dass wir eine Regelung ge-
funden haben, die die herausragende und wichtige Auf-
gabe der Jugendämter honoriert. Anders als andere Be-
hörden werden die Jugendämter nur dann zu einer
aufenthaltsrechtlichen Mitteilung verpflichtet, wenn da-
durch die eigene Aufgabe nicht gefährdet ist. Die Ju-
gendämter werden in ihrer Neutralität gestärkt. Hilfebe-
dürftige Familien dürfen nicht abgeschreckt werden. Sie
können weiter auf vertrauensvolle Zusammenarbeit
bauen.
Dieser sensible Bereich braucht behutsame Regelun-
gen. Sowenig wie die Vaterschaftsanerkennung miss-
braucht werden darf, sowenig dürfen Elternautonomie
angetastet oder binationale Ehen unter Generalverdacht
gestellt werden. An diesen Prämissen werden wir den
vorliegenden Entwurf messen und beurteilen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Die Bundesregierung greift mit diesem Gesetzentwurf in
den Kernbereich familiärer und personeller Selbstbe-
stimmung ein. Das uns heute zur ersten Beratung vorlie-
gende Gesetz basiert auf Vermutungen, Unterstellungen
und Misstrauen gegenüber nichtehelicher Elternschaft in
binationalen oder ausländischen Familien. Es geht der
Bundesregierung um bisher nicht belegte Fälle von Va-
terschaftsanerkennungen, die angeblich nur getätigt wer-
den, um entweder Kind und Mutter oder dem anerken-
nenden Vater einen gesicherten Aufenthaltsstatus in
Deutschland zu ermöglichen. Dies soll durch ein Vater-
schaftsanfechtungsrecht staatlicher Behörden verhindert
werden.
Als Grundlage für die Notwendigkeit dieses Gesetz-
entwurfs wird vor allem eine Zahl angeführt: 1 694. Die
Zahl stammt aus einer Erhebung bei Ausländerbehörden
im Zeitraum vom l. April 2003 bis 31. März 2004 und
umfasst die Anzahl der unverheirateten ausländischen
Frauen, die im Zeitpunkt einer Vaterschaftsanerkennung
ausreisepflichtig waren und einen Aufenthaltstitel erhiel-
ten. Wie die Bundesregierung in der Begründung des
Gesetzentwurfs zugibt, belegen diese Zahlen nur eines:
Die Zahl der ausländischen unverheirateten Frauen, die
zur Ausreise verpflichtet waren, als ein Mann ihr Kind
als das seinige anerkannte. Diese Zahl kann nicht bele-
gen, dass diese Anerkennungen missbräuchlich waren
und nur getätigt wurden, um Mutter und Kind den Auf-
enthalt in Deutschland zu ermöglichen. Über diese Zahl
hinaus hat die Bundesregierung bis heute keine weiteren
Daten oder Studien vorgelegt, die ansatzweise einen sol-
chen Missbrauch belegen können. Staatliche Eingriffe in
dem geplanten Umfang können auf der bisherigen Da-
tengrundlage aus meiner Sicht nicht begründet werden.
Die Idee eines Vaterschaftsanfechtungsrechts für
staatliche Behörden zur Bekämpfung angeblicher miss-
bräuchlicher Vaterschaftsanerkennungen ist nicht neu.
Vaterschaftsanerkennungen zum Erhalt der Staatsange-
hörigkeit und von Aufenthaltsrechten prangerte bereits
die Unions-Fraktion in der vergangenen Wahlperiode an
und forderte ein Anfechtungsrecht für Behörden. Diese
Forderung der Union stieß damals nicht nur auf Ableh-
nung der FDP, sondern auch auf Ablehnung der SPD. Ich
darf Kollegin Fograscher an dieser Stelle zitieren: Es
„wird ein Teil der Bevölkerung unter Generalverdacht
genommen, denn es ist nicht gesichert, ob es sich bei
diesen Zahlen wirklich um Scheinvaterschaften handelt
oder die anerkennenden Väter nicht doch die biologi-
schen Väter sind.“ Hier muss ich der Kollegin der SPD
recht geben – warum sehen Sie das heute anders? Denn
damals hielten sie einen „derart massiven Eingriff in das
seit 1998 geltende neue Kindschaftsrecht“ auf „dieser
ungesicherten Datenlage“ für „nicht vertretbar“.
Die Zahlen des damaligen Antrags der Union bilden
nun die Grundlage des Gesetzentwurfs. Wieso sind diese
Zahlen nun eine ausreichende und sichere Datenlage?
Und noch etwas anderes macht stutzig: Wenn von an-
geblichen Missbrauchsfällen eine Notwendigkeit für
gravierende Gesetzesänderungen abgeleitet wird – wie
ist es zu erklären, dass der Gesetzentwurf auf alten Zah-
len aus den Jahren 2003/2004 basiert und zwischenzeit-
lich keine „gesicherte Datenlage“ geschaffen wurde?
Nun zu den geplanten Änderungen: Staatliche Behör-
den sollen das Recht bekommen, bestimmte Vater-
schaftsanerkennungen vor Gericht anzufechten. Be-
schränkt wird dieses Anfechtungsrecht auf die
Anerkennungen, durch die die rechtlichen Voraussetzun-
gen für eine erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufent-
halt des Kindes oder eines Elternteiles geschaffen wer-
den können. Damit kommt dieses Anfechtungsrecht den
Behörden nur zu, wenn entweder Mutter und Kind oder
der Vater nicht deutsche Staatsangehörige sind oder kei-
nen gesicherten Aufenthalt in Deutschland haben. Der
Anfechtung vorgeschaltet sind Misstrauen gegenüber bi-
nationalen und ausländischen Familien. Diese werden
einem nicht zu akzeptierenden Generalverdacht unter-
worfen.
Eine weitere Voraussetzung einer für die Behörde er-
folgreichen Vaterschaftsanfechtung ist, dass zwischen
dem Kind und dem Anerkennenden keine sozial-famili-
äre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt der Anerken-
nung oder des Todes bestanden hat. Dieser Tatbestand ist
zum einen unklar und stellt zum anderen nicht nur für
die Praxis der Verwaltungsbehörden, sondern vor allem
für alle binationalen und ausländischen Familien eine
große Unsicherheit dar. Eine Erforschung der Abstam-
mung und der familiären Lebenssituation wird als Regel-
fall die Folge der geplanten Gesetzesänderungen sein.
Die künftigen massiven Eingriffe und Nachforschungen
in der Intimsphäre der Familien sind durch Interessen
des Allgemeinwohls nicht gerechtfertigt. Es ist vielmehr
zu befürchten, dass eine ausländische oder binationale
Familie, in der die Eltern nicht verheiratet sind, sich nur
von dem Generalverdacht befreien kann, indem sie den
Ausländerbehörden oder Standesämtern eine tatsächli-
che genetische Vaterschaft nachweist. Dies kann nicht
hingenommen werden.
Die Auswirkungen und Ziele des Gesetzentwurfs wer-
den auch durch die historische Entwicklung des Kind-
schafts- und Abstammungsrechts deutlich: Der deutsche
Gesetzgeber hat unter Regierungsbeteiligung der Libera-
len mit der Kindschaftsreform 1998 deutlich gemacht,
dass staatliche Interventionen in Kernbereiche der Fami-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7979
(A) (C)
(B) (D)
lie – zu denen ohne Zweifel auch die Frage der Vater-
schaft und der Vaterschaftsanerkennung gehört – keinen
Platz in einem modernen Familien- und Abstammungs-
recht haben. Wie der heute zu beratende Gesetzentwurf
zutreffend feststellt, wurde mit gutem Grund die bis da-
hin bestehende Bevormundung der Mutter eines nicht-
ehelich geborenen Kindes durch die Amtspflegschaft des
Jugendamtes abgeschafft und die Rechte der Mutter ge-
stärkt. Wie die Gesetzesbegründung weiterhin richtig
feststellt, sollte der Mutter eines nichtehelichen Kindes
nicht weiter Misstrauen entgegengebracht werden. Nun
will die Bundesregierung dieses Vertrauen wieder ein-
schränken – aber nur bei Beteiligung von Ausländern,
und dies in Zeiten des Antidiskriminierungsgesetzes.
Wie erklären Sie diese so offensichtliche Diskriminie-
rung und Stigmatisierung nichtehelicher Kinder binatio-
naler und ausländischer Eltern? Denn die Rechte, die
den unehelichen Kindern binationaler oder ausländischer
Eltern durch eine staatliche Anfechtung genommen wer-
den, bleiben bei ehelichen Kindern aus ausländischen
und binationalen Familien bestehen. Eine Ungleichbe-
handlung nichtehelicher Kinder und nichtehelicher El-
ternschaft ist nicht vertretbar.
Verfassungsrechtliche Bedenken sind ein weiterer As-
pekt bei diesem Gesetzentwurf, sowohl in Bezug auf das
Elternrecht, gem. Art. 6 Abs. 2 GG als auch hinsichtlich
Art. 6 Abs. l GG. Eltern-Kind-Gemeinschaften sind in-
sofern geschützt, als sie ihre Gemeinschaften in familiä-
rer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei gestalten
können. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichtes ist das Verhältnis des Kindes – auch
des nichtehelichen – sowohl zu seiner Mutter als auch zu
seinem Vater geschützt. Der Anerkennung einer Vater-
schaft folgen Unterhalts- und erbrechtliche Ansprüche
des Kindes. Diese Rechte werden dem Kind genommen,
wenn der Staat die Vaterschaftsanerkennung erfolgreich
anficht. Dies kann nicht die Absicht des Gesetzgebers
sein, der sich seit Jahrzehnten bemüht, das Kindeswohl
zu wahren und zu fördern.
Eines ist am Ende der ersten Lesung in aller Deutlich-
keit festzuhalten: Eine Stigmatisierung und Diskriminie-
rung binationaler und ausländischer Familien ist mit der
FDP nicht zu beschließen. Wenn sich Missbräuche im
relevanten Maße nachweisen ließen, stehen wir der Dis-
kussion über Lösungswege offen – das Abstammungs-
recht ist hier aber der falsche Weg.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Debatte um
Scheinasylanten und Scheinehen erlebt heute ihre
Fortsetzung. Die Union und SPD beabsichtigen, ein
neues Feld zu eröffnen, auf dem sie Menschen mit aus-
ländischer Staatsangehörigkeit des Missbrauchs guten
deutschen Rechts verdächtigen können: die Scheinväter.
Nach dem Asylrecht und der Ehe ist nun die Vaterschaft
an der Reihe. Zukünftig können deutsche Behörden bi-
nationale Paare einer ganzen Prozessur an Verdächtigun-
gen, Befragungen und Entrechtung unterwerfen.
Ideologisch lässt der hier vorliegende Gesetzentwurf
das Bild des Asylmissbrauchs wieder aufleben. Praktisch
ist der Kampf gegen die sogenannte Scheinvaterschaft
eine weitere Maßnahme, um den Familiennachzug einzu-
schränken. Dabei wird hier ein Gesetzentwurf vorgelegt,
ohne dass überhaupt eine empirische Datenbasis exis-
tiert, die die Häufigkeit von Scheinvaterschaften begrün-
den kann. Den Umgang der Bundesregierung mit dem
Mangel an empirischen Daten halte ich für höchst unse-
riös. Denn der Gesetzentwurf heizt die Debatte mit be-
achtlich hohen Zahlen auf. Warum tut sie dies, wenn sie
gleichzeitig einräumt, dass diese Zahlen lediglich die un-
verheirateten Mütter eines deutschen Kindes zusammen-
fassen, die über eine Vaterschaftsanerkennung einen Auf-
enthaltstitel erhielten? Die Bundesregierung tut das, weil
sie diese Personengruppe generell unter Generalverdacht
stellen will. Außerdem bringt das BMJ in einer Presse-
mitteilung ein drastisches Beispiel eines Obdachlosen,
der für eine Scheinvaterschaft Geld kassiert. Gleichzeitig
sollen hier angeblich organisierte Strukturen am Werke
sein – nachzulesen auf Seite 11 des Gesetzentwurfs.
Diese Zahlen und diese Beispiele werden von der Presse
gerne aufgegriffen, ohne dass sie auf real nachgewiese-
nen Tatsachen beruhen. Das ist kein seriöser Umgang mit
dem Thema, sondern ein Missbrauch von Zahlen. Der
Gesetzgeber ist auch nicht daran interessiert, wahrheits-
widrige Vaterschaftsanerkennungen grundsätzlich zu be-
seitigen. Denn allein binationalen Partnerschaften wer-
den unter einen Generalverdacht der Scheinvaterschaft
gestellt. Die Konsequenzen dieses Generalverdachts sind
für die Betroffenen gravierend. Um den Missbrauch von
einigen wenigen zu bekämpfen, werden wichtige Grund-
rechte von binationalen Familien eingeschränkt. Denn
eins ist klar: Auch wenn der Gesetzentwurf so tut, als ob
der Tatbestand der sozial-familiären Beziehung eindeutig
bestimmt ist, ist dem realiter nicht so. Letztendlich müs-
sen die Behördenmitarbeiter beurteilen und interpretie-
ren, ob tatsächlich Verantwortung übernommen wird
oder eine Scheinvaterschaft vorliegt.
Ich möchte hier niemandem willkürliches Verhalten
unterstellen, aber dieses Gesetz regt Standes- und Ju-
gendämter sowie die Ausländerbehörden gerade zum
Misstrauen an, weil es die Straftat voraussetzt. Es macht
Vermutungen zu einem notwendigen Bestandteil, um ein
Verfahren einzuleiten. Schon jetzt ist vorauszusehen,
dass unzählige binationale Eltern zu Unrecht betroffen
sein werden. Und wie wir das aus der deutschen Ge-
schichte bereits kennen, wird es immer Bürgerinnen und
Bürger geben, die Gesetze dafür nutzen, Unschuldige zu
denunzieren.
Allein schon der Verdacht hätte aber für die Betroffe-
nen weitreichende Einschränkungen von Grundrechten
zur Folge. So kann für die Dauer eines Verfahrens die
Verlängerung eines Aufenthaltstitels ausgesetzt werden
oder eine Familienzusammenführung unterbleiben. Für
äußerst problematisch halte ich außerdem die allgemeine
Mitteilungspflicht von öffentlichen Stellen an die Aus-
länderbehörde bei Verdacht auf Scheinvaterschaften. Ich
erachte es politisch für falsch, aufenthaltsrechtliche
Kontrollfunktionen auf Behörden zu verlagern, die einen
ganz anderen gesellschaftlichen Auftrag besitzen und
deren Arbeit auf einem Vertrauensverhältnis beruht.
Hiermit meine ich vor allem das Jugendamt, aber auch
Kindertagesstätten würden darunter fallen.
7980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Das eigentliche Problem mit den Scheinvaterschaften
ist ein ganz anderes. Sie sollten sich mal die Frage stel-
len, warum Menschen überhaupt Scheinvaterschaften
eingehen. Warum klammern sich Menschen, die hier seit
Jahren leben und von Abschiebung bedroht sind, an je-
den Strohhalm, der sich ihnen bietet? Die Bundestags-
fraktion Die Linke hält das restriktive Aufenthaltsgesetz
für das eigentliche Problem: Erst eine Politik, die Ein-
wanderung verhindert, Flüchtlingen kaum noch Schutz
vor Verfolgung bietet, die Abschiebemaschinerie ankur-
belt und ein dauerhaftes Bleiberecht verweigert, zwingt
Menschen dazu, solche Rechtslücken zu nutzen. Statt
den Generalverdacht gegen binationale Paare zu schü-
ren, sollten Sie die Aufenthaltsmöglichkeiten verbes-
sern. Damit würden Sie mal was Sinnvolles tun.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ-
NEN): Ein zentraler Schwachpunkt des vorliegenden
Entwurfs eines Gesetzes der Bundesregierung zur Er-
gänzung des Rechts auf Anfechtung der Vaterschaft ist
es, dass die Bundesregierung nicht imstande ist, darzule-
gen, ob es in Deutschland überhaupt in relevantem Um-
fang den behaupteten Missbrauch von Vaterschaftsaner-
kennungen gibt. Die Zahlen, auf die sich der
Gesetzentwurf stützt, können nämlich – so auf Seite 11
in der Gesetzesbegründung – „nicht belegen, in wie vie-
len Fällen es sich tatsächlich um missbräuchliche Vater-
schaftsanerkennungen handelt (...) Sie zeigen aber einen
nicht unerheblichen Rahmen, in dem missbräuchliche
Vaterschaftsanerkennungen stattfinden können.“ Ein Ge-
setz zur Ergänzung des Rechts auf Anfechtung der Va-
terschaft bedarf aber einer validen rechtstatsächlichen
Datengrundlage über das Phänomen, das man bekämp-
fen möchte, und keine hypothetischen Vermutungen
über einen möglicherweise stattfindenden Rechtsmiss-
brauch. Schließlich ist der Gesetzentwurf mit gravieren-
den Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte der Betroffe-
nen verbunden.
Die Ermächtigung einer – von den Bundesländern zu
bestimmenden – Behörde zur Anfechtung der Vater-
schaft schwächt überdies die seit 1961 schrittweise er-
reichte familienrechtliche Absicherung der Elternauto-
nomie. Die Elternautonomie gewährleistet insbesondere
§ 1595 BGB, der für die wirksame Vaterschaftsanerken-
nung allein die formgebundenen Erklärungen des aner-
kennenden Vaters und der Mutter verlangt. Um vermute-
ten ausländerrechtlichen Belangen Rechnung zu tragen,
lässt der Entwurf der Bundesregierung das 1961 abge-
schaffte Anfechtungsrecht öffentlicher Stellen wieder
aufleben. Auf diese Weise werden schwerwiegende Ein-
griffe in den Bestand der Familie und die Elternautono-
mie möglich, die das Familienrecht nicht zuletzt auch
mit der Kindschaftsreform gegen Eingriffe staatlicher
Behörden abgesichert hatte.
Die im Entwurf vorgesehene Ermächtigung staatli-
cher Behörden zur Anfechtung der Vaterschaft stellt die
Elternautonomie infrage, ohne dass vorrangige schutz-
bedürftige familiäre Beziehungen diesen Eingriff recht-
fertigen. Das vorgeschlagene Mittel des behördlichen
Anfechtungsrechtes ist zur Abwehr des behaupteten
Missbrauchs weder erforderlich noch angemessen.
Die Bundesregierung hat es weiterhin nicht geschafft,
das zentrale Problem ihres Anliegens, nämlich die be-
hördliche Beweis- und Begründungspflicht im Zusam-
menhang mit der Anfechtung einer Vaterschaft, zu lösen.
Bei der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Lö-
sung darf es aus unserer Sicht keinesfalls bleiben; denn
diese stellt Eltern, die nur über einen unsicheren Aufent-
haltsstatus verfügen, unter einen unzulässigen Gene-
ralverdacht. Auch Menschen mit ungesichertem Auf-
enthaltsstatus, mit finanziellen und psychischen
Schwierigkeiten versuchen, ein ganz normales Leben zu
führen. Sie verlieben sich, gehen Beziehungen ein und
gestalten diese. Wenn dabei Bindungen mit einem Deut-
schen entstehen, dürfen diese nicht generell unter dem
Verdacht des Erschleichens von Vorteilen gesehen wer-
den.
Aus der Gesetzesbegründung wird ersichtlich, dass
die anfechtungsberechtigte Behörde im Hinblick auf ihre
Darlegungslast einseitig begünstigt wird; Sie muss ledig-
lich „Umstände“ vortragen, die gegen die Vaterschaft
sprechen. Hierfür soll es – so die Gesetzesbegründung
weiter – schon genügen, wenn die Anfechtungsbehörde
das (Nicht-)Vorliegen des Zusammenlebens in häusli-
cher Gemeinschaft in Beziehung setzt zur aus fänder-
rechtlichen Situation der Beteiligten. Soweit dies ge-
schehen ist, sei es Aufgabe der Anfechtungsgegner, zu
ihrer Beziehung im Einzelnen vorzutragen.
Darüber hinaus kann der Umstand, dass keine häusli-
che Gemeinschaft vorliegt oder noch keine sozial-fami-
liäre Beziehung aufgebaut wurde, allein nicht ausrei-
chend sein für ein Anfechtungsrecht des Staates. Es kann
hierfür eine Vielzahl objektiver Gründen geben, etwa
wenn sich ein Elternteil im Ausland befindet.
Völlig aus dem Blick geraten sind bei dem Gesetzent-
wurf die Kinder und damit die Achtung des Kindes-
wohls. Die Kinder werden durch Anfechtungsverfahren
ihrer Väter beraubt, ohne einen anderen Vater als Be-
zugsperson zu erhalten. Sie werden für wahrheitswidrige
Angaben ihrer Mütter bestraft, auch noch nach Jahren,
und dies härter als die verursachenden Personen, ob-
gleich sie nichts dazu beigetragen haben. Die Kinder
können nicht in Rechtssicherheit aufwachsen, da diese
nur vermeintlich besteht. Gleichwohl fühlt sich das Kind
dieser Gesellschaft zugehörig und wird in dieser soziali-
siert. Der vorliegende Gesetzentwurf steht daher dem
Kindeswohl in vielen Punkten entgegen.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt eine bestimmte
spezielle Personengruppe unter Generalverdacht, rechtli-
che Vorteile durch wahrheitswidrige Angaben zu erlan-
gen. Bei einer derart niedrigen Verdachtsschwelle, wie
sie die Bundesregierung vorschlägt, wird praktisch jede
soziale Vaterschaft für ein Kind, dessen Mutter lediglich
über einen unsicheren Aufenthaltsstatus verfügt, mit ei-
ner Anfechtungsklage rechnen müssen, wenn Vater und
Kind nicht zusammenleben – und dies, obwohl bislang
nur Einzelfälle bekannt geworden sind.
Wir sind klar gegen ein Zurückdrehen der Kind-
schaftsrechtsreform. Der Gesetzgeber hatte damals bei
dieser Reform bewusst auf eine behördliche Beteiligung
bei der Vaterschaftsfeststellung unehelicher Kinder ver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7981
(A) (C)
(B) (D)
zichtet und damit die Rechte der Mütter gestärkt. Staatli-
che Stellen haben weder bei ehelichen noch bei uneheli-
chen Kindern von Deutschen das Recht, die Vaterschaft
des biologischen oder auch des sozialen Vaters in Zwei-
fel zu ziehen. Gleiches muss auch für die Kinder von
ausländischen Vätern oder Müttern und binationale
Paare gelten. Wir lehnen den vorliegenden Gesetzesent-
wurf daher ab.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Der vorliegende Gesetzent-
wurf hat viel mit der Kindschaftsrechtsreform von 1998
zu tun, die seit über acht Jahren mit viel Engagement
umgesetzt wird. Die Reform hat die Elternautonomie ge-
stärkt und die Entstehung von Familien gefördert, weil
unsere Gesellschaft Kinder braucht und weil Kinder Vä-
ter brauchen. Die Vaterschaftsanerkennung ist deshalb
nicht mehr von einer staatlichen Überprüfung oder gar
Genehmigung abhängig. Damit fördern und schützen
wir gemäß dem Auftrag des Grundgesetzes die leibli-
chen wie die sozialen Vaterschaften.
Soziale Vaterschaft bedeutet aber, die elterliche Ver-
antwortung tatsächlich und nicht nur auf dem Papier zu
übernehmen. Die Länder haben hier in ihrer Verwaltungs-
praxis eine problematische Entwicklung festgestellt und
den Sachverhalt in der Innenministerkonferenz aufgear-
beitet. Es gibt Vaterschaften, die nur aus einem einzigen
Grund anerkannt werden: um staatsangehörigkeits- und
ausländerrechtliche Vorteile zu erlangen. Die Vaterschaft
wird nur zum Schein anerkannt und ist nicht auf ein Va-
ter-Kind-Verhältnis gerichtet. Die Unterhaltspflichten
brauchen den Scheinvater oft mangels Leistungsfähig-
keit nicht weiter zu kümmern. Das ist ein Missbrauch
der Kindschaftsrechtsreform und gefährdet die Akzep-
tanz dieser Reform. Deshalb hat die Bundesregierung
eine Ergänzung des Anfechtungsrechts vorgelegt.
Bei diesem Gesetz handelt sich um ein sensibles Un-
terfangen. Wir mussten das Anfechtungsrecht zielgenau
auf die zweckwidrigen Vaterschaftsanerkennungen rich-
ten, damit wir nicht in die Rechte der Familien eingrei-
fen. Die Reaktionen des Bundesrates und vieler Fachver-
bände bescheinigen uns, dass dieses Ziel erreicht worden
ist. Die Anfechtung der Vaterschaft kann nur Erfolg ha-
ben, wenn erstens der Anerkennende nicht der biologi-
sche Vater des Kindes ist, wenn zweitens zwischen dem
Kind und dem Anerkennenden keine sozial-familiäre
Beziehung besteht oder im Zeitpunkt der Anerkennung
bestanden hat und drittens die Vaterschaftsanerkennung
tatsächlich ausländerrechtliche Vorteile nach sich gezo-
gen hat.
Ich betone: Auf Ablehnung stößt dabei nicht der legi-
time Wunsch ausländischer Menschen nach einem gesi-
cherten Aufenthalt in Deutschland. Missbilligt wird aber
der Missbrauch einer Vaterschansanerkennung für diese
Zwecke.
Wenn das Vorhaben gleichwohl bei manchen Verbän-
den auf Ablehnung stößt, liegt das vor allem an der
Sorge vor einem „Generalverdacht“ gegen binationale
Familien und Partnerschaften. Wir haben diese Kritik
sehr ernst genommen und jedes Detail unseres Entwurfs
in den letzten Monaten nochmals sorgfältig auf den Prüf-
stand gestellt, ob es entweder die Effektivität des Geset-
zes gefährden oder aber umgekehrt über das Ziel hinaus-
schießen und binationale Familie beinträchtigen kann.
Die Bestimmung der anfechtungsberechtigten Be-
hörde haben wir dabei aus guten Gründen den Ländern
überlassen. Die Stellungnahmen zum Gesetzentwurf ha-
ben uns sehr deutlich gemacht, dass auf Länderebene
ganz verschiedene Lösungen sachgerecht sein können.
Ich bin zuversichtlich, dass der Gesetzentwurf der
Bundesregierung eine gute Grundlage für zügige und
zielführende Beratungen im Bundestag sein wird.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Heimbericht im
Bundestag diskutieren – Missstände offenlegen
und bekämpfen (Tagesordnungspunkt 22)
Markus Grübel (CDU/CSU): Wir beschäftigen uns
mit einem Antrag der Fraktion Die Linke, der – das ist
keine Frage – ein sicherlich bedeutsames Thema, näm-
lich das Heimrecht bzw. den Heimbericht, anspricht, je-
doch ist der Bundestag für diesen Antrag der falsche
Adressat. Daher – ich schicke es gleich voraus – lehnen
wir den Antrag ab.
Man kann ja gerne unterschiedlicher Ansicht darüber
sein, ob es richtig war, das Heimrecht weitgehend auf
die Länder zu übertragen. Aber es ist nun einmal Fakt,
dass mit dem Inkrafttreten der Föderalismusreform die
öffentlichrechtlichen Vorschriften des Heimrechts, zu
denen auch die Berichtspflicht gemäß § 22 des Heimge-
setzes gehört, in die ausschließliche Gesetzgebungskom-
petenz der Länder übergegangen sind. Sowohl Bundes-
tag als auch Bundesrat sind damit für diese Materie nicht
mehr die zuständigen gesetzgebenden Körperschaften.
Im Übrigen wurde diese Frage schon einmal im Plenum
– im Rahmen einer Fragestunde vor zwei Monaten –
ausführlich debattiert.
Abgesehen von der rechtlichen Sachlage würde es
kaum Sinn machen, über etwas zu diskutieren, für das
man nicht mehr zuständig ist und bei dem man folglich
auch keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr besitzt. Es
wäre sicherlich auch nicht angemessen, gegenüber der
Öffentlichkeit Eindruck zu erwecken, dass der Bund
noch eine Zuständigkeit besäße.
Die Schlussfolgerungen oder besser gesagt die politi-
schen Konsequenzen müssen zukünftig die Länder zie-
hen. Da muss man einfach einmal abwarten. Nach mei-
nen Informationen haben die Länder zwar noch keine
eigenen Heimgesetze verabschiedet; ich bin aber sehr
zuversichtlich, dass die Länder mit den Informationen
des Heimberichts sorgfältig umgehen, sie bewerten wer-
den und dann auch die notwendigen und richtigen Kon-
sequenzen ziehen werden. Es gibt keinen Grund, an dem
Gestaltungswillen bzw. der Kompetenz der Länder zu
zweifeln.
7982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Der Heimbericht, der sich aufgrund einer komplexen
Auswertung von Daten- und Zahlenmaterial um ein Jahr
verzögerte, ist seit Mitte Oktober 2006 als Onlinepubli-
kation auf der Homepage des BMFSFJ eingestellt und
damit für alle Interessierten öffentlich zugänglich. Hie-
rüber wurden auch die Kolleginnen und Kollegen der
Fraktion Die Linke in Kenntnis gesetzt. Zudem haben
alle Mitglieder des zuständigen Ausschusses ein Druck-
exemplar erhalten. Damit wurde meines Erachtens aus-
reichend Öffentlichkeit gewährt.
Zur Qualitätssicherung in Heimen möchte ich Folgen-
des anmerken: Entgegen ihrer Wertung kommt der
Heimbericht auf Seite 2 Mitte zu folgender Einschät-
zung:
Die Qualität der stationären Versorgung ist, wie die
Fakten dieses Berichts belegen, erheblich besser als es
öffentlich geführte Debatten und einzelne Berichte gele-
gentlich vermuten lassen. Gute Pflege und Betreuung ist
möglich und wird in den Heimen grundsätzlich auch
praktiziert.
Der Heimbericht belegt eindeutig, dass sich die Be-
dingungen für ältere Menschen in Heimen stetig verbes-
sert haben: Der steigende Anteil an Einzelzimmern trägt
dem Bedürfnis nach Privatheit Rechnung. Moderne und
bewohnerfreundliche Standards werden beim Neubau
und bei der Renovierung von Einrichtungen stationärer
Altenhilfe zugrunde gelegt. Die sogenannten neuen
Wohnmodelle, in denen die Bewohnerinnen und Bewoh-
ner ihren Alltag weitestgehend eigenständig gestalten
können, breiten sich immer mehr aus. In den Kernberei-
chen der Pflege und Betreuung wurde in den vergange-
nen Jahren mehr Personal eingesetzt. Die gesetzlich
vorgeschriebene Fachkraftquote wird in allen Bundes-
ländern erfüllt. Bei den Einrichtungsträgern und ihren
Verbänden haben Fragen der Qualitätssicherung und des
Qualitätsmanagements einen hohen Stellenwert, sodass
erforderliche Änderungen in der Betriebsorganisation
der Heime zum Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner
umgesetzt werden können.
Neben diesen Verbesserungen im Bereich der Heim-
versorgung nimmt der Bericht auch künftige Herausfor-
derungen und noch bestehende Defizite stationärer Ver-
sorgung und Pflege in den Blick: So sollen bestimmte,
auf demenzerkrankte ältere Menschen ausgerichtete Be-
treuungskonzepte überall feste Bestandteile der Heim-
versorgung werden. Zudem werden Ansätze zur Verbes-
serung der Sterbebegleitung und der palliativen
Versorgung gesehen.
Befürchtungen, dass mit der Verlagerung der Gesetz-
gebungskompetenz für das Heimrecht auf die Länder ge-
mäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ein Qualitätsverlust ver-
bunden sein könnte, teile ich nicht. Mehr Wettbewerb
kann auch zu höheren Qualitätsgewinnen führen. Im Üb-
rigen ist die Umsetzung des Heimgesetzes und damit die
Auslegung der im Heimrecht verankerten Standards
schon immer eigenverantwortliche Angelegenheit der
Länder gewesen.
Mit Blick auf die jetzt anstehende Reform der Pflege-
versicherung ist eine Diskussion über den künftigen
Stellenwert stationärer Versorgung unverzichtbar. Eine
wichtige Aufgabe bleibt die Entbürokratisierung in der
Pflege, damit die Qualität der stationären Versorgung er-
halten und auch bezahlbar bleibt. In nicht allzu langer
Zeit werden wir uns an dieser Stelle darüber unterhalten,
wie man das Ziel erreichen kann, die stationäre Heim-
versorgung so zu gestalten, dass Lebensqualität, Würde
und Selbstbestimmung auch vor dem Hintergrund der
tiefgreifenden Veränderungen aufgrund des demografi-
schen Wandels garantiert bleiben.
Zur angeführten Kritik eines UN-Ausschusses aus
dem Jahr 2001, die in der deutschen Öffentlichkeit große
Aufmerksamkeit erregte und mitunter zu einer Verunsi-
cherung älterer Menschen führte, möchte ich gerne Fol-
gendes anmerken: Die Zahlenangaben in Bezug auf Pfle-
gemängel waren nicht hinreichend valide, das wurde
auch von der Mehrzahl der Länder bestätigt. Im Prinzip
handelte es sich damals um pauschale Vorwürfe, die
nicht belegt werden konnten. Mängel und Missstände
gab und gibt es immer wieder; das kann man nicht in
Gänze verhindern. Man kann aber dafür sorgen, dass
sich die Situation in Pflegeheimen verbessert. Das hat
die damalige Bundesregierung mit einer Reihe von Maß-
nahmen auch getan. Sowohl das novellierte Heimgesetz
als auch das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz (PQsG)
von 2002 waren Grundlage für eine verbesserte interne
und externe Qualitätssicherung in den Pflegeeinrichtun-
gen. Weiterhin wurde zur bundeseinheitlichen Ausbil-
dung und zur Verbesserung des Berufsbildes der Alten-
pflegerin und des Altenpflegers ein Altenpflegegesetz
verabschiedet. Zudem wurden zur Umsetzung des Heim-
gesetzes und des PQsG die Heimmindestbauverordnung
zur Verbesserung der räumlichen Bedingungen und die
Heimmitwirkungsverordnung erarbeitet. Daneben wur-
den vielfältige Vorhaben und Projekte in Angriff genom-
men, wie zum Beispiel die Entwicklung von
Expertenstandards, die Expertise „Qualität in stationären
Pflegeeinrichtungen“, das Modellprogramm „Altenhil-
festrukturen der Zukunft“. Darüber hinaus wurden lang-
fristig Gelder für die angewandte Pflegeforschung zur
Verfügung gestellt.
Alles in allem zeigt doch auch der jetzt vorgelegte
Heimbericht, dass die Vorwürfe bzw. Behauptungen des
UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kultu-
relle Rechte von 2001 für Deutschland nicht zutreffen.
Wolfgang Spanier (SPD): Wir diskutieren und ent-
scheiden heute über den Antrag der Fraktion Die Linke
„Heimbericht im Bundestag diskutieren – Missstände
offen legen und bekämpfen“. Um es gleich vorweg zu
sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion wird diesen Antrag
ablehnen.
Ich weiß, das könnte Anlass zu Missverständnissen
und Fehlinterpretationen sein. Ist der erste Heimbericht
der Bundesregierung so unwichtig, dass es sich für den
Bundestag nicht lohnt, ihn zu debattieren? Hat die SPD-
Bundestagsfraktion etwa kein Interesse, Missstände in
Heimen offenzulegen und zu bekämpfen? Beides ist
natürlich nicht der Fall.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7983
(A) (C)
(B) (D)
Der Bericht über die Situation der Heime und die
Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner verdient
die besondere Aufmerksamkeit aller politisch Verant-
wortlichen. Wir erwarten, dass er als Informationsquelle
und als Planungsgrundlage von den Verantwortlichen in
Politik, Praxis und Fachöffentlichkeit genutzt wird.
Die Lebensqualität der Menschen, die in Heimen leben,
ist für uns eine moralische, aber auch eine politische
Verpflichtung. Selbstverständlich bedeutet das nicht nur,
dass die Hinweise des Heimberichts auf Missstände und
Mängel ernst genommen werden müssen, sondern dass
alles getan werden muss, um diese zu beseitigen. Ich bin
davon überzeugt, in dieser Einschätzung stimmen wir
alle überein, über die Parteigrenzen hinweg.
Der Bericht hätte bereits im Jahre 2004 vorgelegt
werden müssen und wurde erst im Oktober 2006 auf der
Homepage des Bundesministeriums für Frauen, Senioren,
Familie und Jugend veröffentlicht. Er ist also der Öffent-
lichkeit und damit allen politisch Verantwortlichen
zugänglich. Alle Mitglieder unseres Fachausschusses
haben selbstverständlich ein Druckexemplar erhalten.
Die Bundesregierung verzichtete auf eine offizielle
Weiterleitung des Berichts an den Deutschen Bundestag,
da das Heimrecht nach der Föderalismusreform in die
Gesetzgebungskompetenz der Länder übergegangen ist.
Nach § 22 des Heimgesetzes muss das Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den gesetz-
gebenden Körperschaften des Bundes berichten. Der Bund
hat aber eben keine gesetzgebenden Kompetenzen mehr.
An dieser Stelle will ich noch einmal ausdrücklich
betonen: Die Fachpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion
wie auch der Union und – dessen bin ich mir sicher –
aller Fraktionen des Bundestages wollten die Kompetenz
für das Heimrecht beim Bund erhalten. Das war leider
nicht durchsetzbar. Bis auf ganz wenige Ausnahmen
haben die Bundesländer darauf bestanden, die gesetz-
gebende Kompetenz für das Heimrecht übertragen zu
bekommen. Entsprechend haben die Landesregierungen
votiert – unabhängig von der parteipolitischen Konstel-
lation, ob das Land Bayern, das Land NRW oder auch
Berlin.
Das Bundesministerium hat hier nur konsequent ge-
handelt. Der Bundestag hat nun einmal nicht mehr die
Gesetzgebungskompetenz. Natürlich könnte er über den
Bericht debattieren, aber er könnte keinerlei politische
Konsequenzen ziehen. Der Eindruck in der Öffentlichkeit
wäre fatal. Der Bund würde den Eindruck erwecken, als
habe er eine Verantwortung für diesen Bereich, obwohl
er keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten mehr hat. Die
Öffentlichkeit würde aber zu Recht erwarten, dass wir
aus diesem Bericht Konsequenzen ziehen.
Das ist der Grund, weswegen wir Ihren Antrag ab-
lehnen, die Bundesregierung aufzufordern, den Heim-
bericht offiziell dem Deutschen Bundestag zuzuleiten.
Wir wenden uns auch gegen die polemische Überspitzung
Ihres Antrags. Der Antrag der Linken überzeichnet und
verzerrt den sachlichen Befund des Berichts, der – das steht
auf Seite 12 des Berichts – tatsächlich davon ausgeht, dass
„schwere Missstände … vereinzelt vorkommen, jedoch
nicht den Heimalltag prägen“. Natürlich ist es wichtig,
Missstände zu erkennen. Selbstverständlich erwarten
wir, dass diese Missstände und die Mängel in der Pflege
beseitigt werden. Für Ihre Skandalisierung und Diffa-
mierung der Heime gibt der Heimbericht aber keinerlei
Anlass.
Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass die Situation
der Heimbewohnerinnen und -bewohner durch zahlreiche
Maßnahmen, die Pflegequalität und die Selbstbestimmung
der Pflegebedürftigen zu gewährleisten, verbessert
wurde. Ich nenne das verpflichtende Instrument des
Qualitätsmanagements, verankert im SGB XI, die
Stärkung der Heimmitwirkung über Heimbeiräte, die
Selbstbestimmung von betreuten Personen im Zweiten
Betreuungsrechtsänderungsgesetz 2005, die Verbesserung
der Altenpflegeausbildung, pflegerische Verbesserungen,
wie zum Beispiel Modelle zur Sturz- und Dekubitus-
prophylaxe. Dazu gehören auch das Modellprogramm
„Altenhilfestrukturen“ und verschiedene Programme, die
neue Wohnformen unterstützen, die neue Wohnformen als
Alternative zum Heim bzw. als Strukturveränderung im
Heim fördern.
Wir erwarten, dass diese positiven Ansätze, soweit sie
jetzt in der Gesetzgebungskompetenz der Länder liegen,
weiterentwickelt werden. Wir erwarten, dass die Landes-
parlamente ihrer neuen Verantwortung gemäß die Anre-
gungen und Schlussfolgerungen aus dem Heimbericht
aufgreifen.
Sibylle Laurischk (FDP): Der Umgang der Bundes-
regierung mit dem Ersten Heimbericht zeigt, welch of-
fene Flanke die Pflegepolitik für sie darstellt. Bereits die
Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage
der FDP-Fraktion zur Reform der Pflegeversicherung,
die nur als ungenügend bezeichnet werden kann, lässt
uns für die Zukunft das Schlimmste befürchten. Die im
Koalitionsvertrag vereinbarten Leistungsverbesserun-
gen werden schon wieder zurückgenommen, ein neuer
Pflegebedürftigkeitsbegriff soll erst nach der Reform de-
finiert werden. Das bedeutet, den zweiten Schritt vor
dem ersten zu machen.
Und nun drückt sich die Regierung auch noch vor
einer Bewertung des Heimberichts. Man sei mit der
Verschiebung der Gesetzeskompetenz durch die Födera-
lismusreform an die Bundesländer für eine Weiterent-
wicklung des Heimrechts nicht mehr zuständig und
müsse sich daher den Ergebnissen des Berichts nicht
mehr widmen. Übersehen wird dabei, dass die Bundes-
regierung für den im Heimbericht betrachtenden Zeit-
raum für das Heimrecht zuständig war. Daher ist eine
Befassung im Bundestag mit den Zuständen in den deut-
schen Heimen politisch geboten, wenn auch vielleicht
für die Regierung nicht besonders schmeichelhaft. Daher
stimme ich dem Antrag auf formelle Zuleitung des Be-
richts an den Bundestag ausdrücklich zu. Eine Debatte
über diese Fragen des Älterwerdens steht dem Bundes-
tag gut an.
Die öffentliche Meinung über Pflegeheime ist verhee-
rend. Schockierende Berichte in den Medien und eine
immer hilfloser erscheinende Pflegebürokratie lassen die
Menschen nach Auswegen suchen. Nach einer Studie
7984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
wollen sich 32 Prozent der Befragten lieber das Leben
nehmen, als zum Pflegefall zu werden. Die Zahlen für
die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe steigen immer
mehr an. Die Angst, in hilfloser Lage im Heim dahinzu-
vegetieren, ist die Schreckensvorstellung Nummer eins
in unserer Gesellschaft.
Der Heimbericht versucht, dem überzeichneten Bild
entgegenzuwirken: Die Qualität der stationären Versor-
gung sei erheblich besser, als es öffentlich geführte De-
batten und einzelne Berichte vermuten lassen. Gute
Pflege und Betreuung sei möglich und werde in den Hei-
men grundsätzlich auch praktiziert. Dies ist in dieser
Pauschalität genauso wenig zielführend wie reißerische
Presseberichte über Vernachlässigung. Die Realität muss
nüchtern betrachtet werden, um dann die Konsequenzen
daraus zu ziehen.
Ob 83 Minuten durchschnittliche individuelle Pflege-
zeit am Tag, wie der Heimbericht eine Studie aus
Nordrhein-Westfalen zitiert, ausreichen, um ein men-
schenwürdiges Leben, wie wir alle es verstehen, zu er-
möglichen, kann man diskutieren. Wichtiger ist: Die
Mitarbeiter müssen endlich die Möglichkeit bekommen,
sich ausreichend um den einzelnen Bewohner zu küm-
mern. Die starke Zunahme der physischen und vor allem
der psychischen Krankheitsfälle bei den Mitarbeitern
sind aber die Symptome der Überforderung. Exempla-
risch sieht man das Dilemma bei der steigenden Zahl der
freiheitsentziehenden Maßnahmen. Diese sind leider an
der Tagesordnung – und besonders zu kritisieren, wenn
sie zur Arbeitserleichterung des Personals und nicht zum
Schutz der Betroffenen unternommen werden.
Realistischerweise darf man aber auch keine indivi-
duelle soziale Betreuung rund um die Uhr erwarten. Hier
sind flankierende Initiativen zu unterstützen, die gerade
auf Basis bürgerschaftlichen Engagements Ansprache
und Zerstreuung für Bewohner bieten, die dies in zuneh-
mendem Maße nicht mehr durch die Familie erwarten
können. Leider äußert sich der Bericht nicht detailliert
zur psychosozialen Situation der Bewohner. Ebenso feh-
len weiterführende Hinweise auf Probleme im Zusam-
menhang mit der steigenden Zahl von Bewohnern mit
Migrationshintergrund. Angesichts der ersten türkischen
Altenheime, die in Berlin eröffnen, ist ein kurzer Hin-
weis auf die Notwendigkeit von kultursensibler Alten-
pflege zu wenig. Hier hätte ich mir einen größeren
Schwerpunkt gewünscht.
Der Bericht schlägt zur Weiterentwicklung der Heime
folgende Maßnahmen vor: Position der Bewohnerinnen
und Bewohner stärken, bedarfsgerechte Wohn- und Be-
treuungsformen ausbauen, die Pflege entbürokratisieren
sowie endlich einen sichtbaren Qualitätswettbewerb der
Einrichtungen ermöglichen. Letzteres muss durch ein
verbessertes Qualitätsmanagement und eine höhere
Transparenz des Heimgeschehens erreicht werden. Dies
geht in die richtige Richtung. Die FDP-Fraktion hat in
ihrem Antrag „Entbürokratisierung der Pflege vorantrei-
ben – Qualität und Transparenz der stationären Pflege
erhöhen“ Forderungen aufgestellt, deren Erfüllung zu
einer deutlichen, auch kurzfristigen Verbesserung der
Situation in den Heimen führen werden und die über die
allgemeinen Forderungen des Berichtes sowie des „Run-
den Tisches Pflege“ vom Herbst 2005 hinausgehen.
Die Debatte über die Situation in unseren Heimen ist
dringend erforderlich, und die Bundesregierung verpasst
eine Chance für eine rationale Beschäftigung mit diesem
Thema, um unrealistischen Schreckenszenarien entge-
genzutreten.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): 160 000 Menschen le-
ben derzeit in der Bundesrepublik in sogenannten Groß-
einrichtungen. Ich nehme an, keiner der Bundestagsab-
geordneten, kein Mitglied der Bundesregierung und
keiner ihrer Spitzenbeamten möchte Nummer 160 001
sein.
Warum ist das Leben im Heim für Sie persönlich so
ziemlich das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können,
wenn Sie infolge von Krankheit, Unfall oder Alter auf
Hilfe und Assistenz angewiesen sind? Weil Sie wissen
oder ahnen, wie es ist in so einem „Heim“!
Am l. Dezember 2006 startete die Bundesinitiative
„Daheim statt Heim“. Unsere Kollegin Silvia Schmidt,
die Behindertenbeauftragte der SPD-Fraktion, hat mit
weiteren Persönlichkeiten aus der Behindertenbewegung,
aus Politik und Medien diese Initiative angestoßen. Als
einer der Erstunterzeichner möchte ich von dieser Stelle
ausdrücklich für die Bundesinitiative und deren Forderun-
gen werben: Schließen Sie sich an!
„Daheim statt Heim“, das heißt für Menschen mit
Behinderungen und/oder Pflege- und Assistenzbedarf, in
ihrer eigenen Wohnung im selbst gewählten und gewohn-
ten Umfeld leben zu können. Zur Verwirklichung des
gesetzlich normierten Wunsch- und Wahlrechtes müssen
sie die nötige Unterstützung bekommen. Um dieses Ziel
zu erreichen, fordern die Unterzeichnerinnen und
Unterzeichner der Bundesinitiative: einen Baustopp für
neue Heime, den Abbau bestehender Heimplätze, den
flächendeckenden Aus- und Aufbau individuell-bedarfs-
deckender vernetzter Unterstützungsangebote für ältere
und behinderte Menschen, die Garantie der Wahl-
möglichkeiten der Betroffenen, unter anderem durch
persönliche Budgets, die Gewährleistung des Grundsatzes
„Daheim statt Heim“ in allen gesetzes- und verwaltungs-
technischen Regelungen auf allen Ebenen und in der
Praxis, die Beteiligung der Betroffenen an dem Reform-
prozess nach der Devise „Nichts über uns ohne uns“.
Ich hoffe und wünsche, dass viele weitere Mitglieder
des Bundestages die Initiative unterzeichnen, aktiv unter-
stützen und der Bundestag diese Forderungen sehr bald
gemeinsam mit dem Heimbericht der Bundesregierung
debattieren wird.
Anlässlich des Welttages der Menschen mit Behinderun-
gen am 3. Dezember stand am 30. November 2006 der
Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung
schwerbehinderter Menschen beim Bund sowie zwei
weitere Anträge betreffend der Teilhabe behinderter
Menschen auf der Tagesordnung des Bundestages. Nach
23.00 Uhr sollten in einer halben Stunde die behinderten-
politischen Themen beraten werden. Der Antrag der
Linksfraktion zum Heimbericht der Bundesregierung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7985
(A) (C)
(B) (D)
sollte heute Nacht nach 2 Uhr in einer halben Stunde
diskutiert werden. Die Einordnung von behindertenpoli-
tischen Themen in die Tagesordnung spricht für sich, die
Abgabe der Reden zu Protokoll statt die Rede vor leerem
Haus zu solcher Uhrzeit ist die logische Konsequenz.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend veröffentlichte im Oktober dieses
Jahres mit zweijähriger Verspätung den ersten Bericht
über die Situation der Heime und der Betreuung ihrer
Bewohnerinnen und Bewohner auf ihrer Internetseite. In
diesem Heimbericht ist erwähnt, dass auf eine offizielle
Weiterleitung des Berichts an den Deutschen Bundestag
verzichtet wird, da nach der Föderalismusreform das
Heimrecht nicht mehr in Bundeskompetenz liege. Das
Heimgesetz gilt aber (inklusive der in § 22 genannten
Berichtspflicht an die gesetzgebenden Organe) so lange
fort, bis die Länder eigene Heimgesetze beschlossen haben.
Das ist bisher nicht der Fall. Die Bundesregierung ist
also weiterhin an das Heimgesetz gebunden. Außerdem
bestand die Berichtspflicht schon vor mehr als zwei Jahren.
Der Heimbericht weist darauf hin, dass Qualitätsmängel
in den unterschiedlichen Bereichen des Heimgeschehens
sowie in verschiedenen Schweregraden auftreten. Das
Spektrum reicht von offener Gewalt bis hin zu gefährlicher
Pflege. Repräsentative Daten dazu liegen bislang nicht vor.
Einer jährlichen Prüfung werden nicht alle Heime unter-
zogen, obwohl dies in § 15 des Heimgesetzes gesetzlich
vorgeschrieben ist. Die genaue Prüfquote ist nicht bekannt.
Der Anteil unangemeldeter – und damit effektiver – Prü-
fungen schwankt in den Bundesländern erheblich.
Internationale Menschenrechtsausschüsse kritisierten
bereits die sehr unbefriedigenden Zustände in deutschen
Pflegeheimen. So äußerte 2001 der UN-Ausschuss für
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR),
der die Einhaltung des UN-Sozialpakts überwacht, seine
„große Besorgnis über die menschenunwürdigen Zustände
in Pflegeheimen“ und forderte die Bundesrepublik
Deutschland auf, „Sofortmaßnahmen“ zur Verbesserung
der Situation zu ergreifen. Große soziale Verbände doku-
mentieren immer wieder, dass sich die Situation in vielen
Heimen noch immer nicht verbessert hat und Pflege-
bedürftige – häufig aus Personalmangel – menschenunwür-
dig behandelt werden. Für den Bereich Menschenrechte/
Menschenwürde ist die Bundesregierung weiterhin
– auch nach der Föderalismusreform – zuständig.
Deswegen fordert die Linksfraktion die Bundesregie-
rung auf, den Bericht über die Situation der Heime und
der Betreuung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, wie
in § 22 des Heimgesetzes vorgeschrieben, offiziell dem
Deutschen Bundestag zuzuleiten, damit dieser den
Bericht ausführlich (und hoffentlich nicht erst wieder
spät in der Nacht) debattiert.
Mit dem Antrag der Linksfraktion auf Einsetzung einer
Enquete-Kommission „Ethik, Recht und Finanzierung
des Wohnens mit Assistenz“ vom April 2006 sowie dem
Antrag der Linksfraktion zur Vorlage eines Gesetzes
zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile vom
November 2006 gibt es zur Thematik Diskussionsange-
bote, die von großen Teilen der Behindertenbewegung
getragen werden. Es mangelt also nicht an Lösungsange-
boten für dringende Probleme. Aber – bisher – an der
Bereitschaft der Mehrheit dieses Hohen Hauses, diese
Vorschläge aufzugreifen.
Wir brauchen die Debatte und vor allem endlich einen
wirklichen Paradigmenwechsel: Nicht mehr Heim son-
dern „Daheim statt Heim!“
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Diesen Antrag der Fraktion Die Linke hätte sich die
Bundesregierung ersparen können. Er ist die Konse-
quenz einer missglückten Föderalismusreform. Der An-
trag konnte nur zustande kommen, weil zwar in den Be-
schlüssen zur Föderalismusreform festgelegt wurde,
dass das Heimrecht in Zukunft Ländersache sein soll,
Landesgesetze aber noch nicht vorhanden sind und folg-
lich der Bund zuständig bleibt. Unsere Fraktion hat er-
hebliche Bedenken gegen die Verlagerung des Heim-
rechts auf die Länder geäußert, sie war in keiner Weise
sachlich begründet. Wir haben früh auf den Umstand
aufmerksam gemacht, dass gerade beim Heimrecht un-
klare Zustände entstehen werden, wenn diese Materie an
die Länder gegeben wird. Und wie sich zeigt, sollten wir
recht behalten.
Niemand – weder die Ministerin noch der Staatsse-
kretär – konnte uns erklären, warum beispielsweise in
Schleswig-Holstein in Zukunft andere Qualitätsstan-
dards oder Regelungen möglich sein sollten als in Rhein-
land-Pfalz, für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein
äußerst irritierender und intransparenter Zustand. „Keine
Sorge“, so wurde uns vonseiten der Bundesregierung
versichert, „sobald das Heimrecht an die Länder geht,
werden die sich zusammensetzen und umgehend Lan-
desgesetze auf den Weg bringen.“ Kaum war die Födera-
lismusreform beschlossen, sah die Lage ganz anders aus.
Es sei rechtlich sowieso nicht möglich, dass sich die
Länder mit dem gesamten Heimrecht auseinandersetzen;
denn ein Großteil der Bestimmungen sei auch weiterhin
ureigene Bundeskompetenz, so die Bundesregierung –
völlig neue Töne plötzlich.
Mir scheint, der Bundesregierung selbst fehlt zurzeit
der Überblick. Man versucht derzeit, sämtliche Bestim-
mungen zum Heimrecht auseinanderzudividieren, um
überhaupt sagen zu können, wer für was in Zukunft zu-
ständig sein wird. Dieses Problem hatten nicht nur zahl-
reiche Verbände in ihren Stellungnahmen schon früh
zum Ausdruck gebracht, es war auch das Ergebnis eines
Fachgesprächs unserer Fraktion. Die einhellige Auffas-
sung war: keine Verlagerung des Heimrechts an die Län-
der. Das sahen auch die Expertinnen und Experten in der
Anhörung zur Föderalismusreform so. Sie plädierten in
der Mehrzahl eindringlich dafür, das Heimrecht zu refor-
mieren, aber im Interesse der Betroffenen und ihrer An-
gehörigen sowie einheitlicher Qualitätsstandards dieses
in Bundeskompetenz zu belassen. Bis heute hat noch
kein einziges Bundesland einen konkreten neuen Vor-
schlag vorgelegt, wie es in Zukunft in dieser Frage ver-
fahren will. Die Lage ist äußerst kompliziert und hat
durch die Föderalismusreform eher zur Verwirrung als
zu Klarheit und Transparenz beigetragen.
7986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
In dieser Situation nun veröffentlicht das Familienmi-
nisterium einen Bericht auf ihrer Homepage, der einen
Einblick in die Situation von Heimen und den Menschen,
die dort leben, gibt. Eine parlamentarische Diskussion ist
vonseiten der Großen Koalition mit Verweis auf die Verla-
gerung des Heimrechts an die Länder nicht vorgesehen.
Dabei ist der Bericht eine erste Quelle für umfassendes
Datenmaterial und vergleichende Betrachtungen. Er ist
also mehr als notwendig, um uns verlässliche Zahlen und
Fakten zu nennen. Er fokussiert sich insbesondere auf
Pflegeheime, weil hier der Informationsstand noch erheb-
lich zu wünschen übrig lässt. In Anbetracht der demogra-
fischen Entwicklung, die auf eine Zunahme von Pflegebe-
dürftigen hindeutet, sind wir gut beraten, diesem Thema
eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Noch haben
wir Zeit, mit den Kenntnissen und Daten die Entwicklung
von morgen zu beeinflussen, und noch sind wir, die Bun-
desebene, zuständig. Noch ist es unsere Pflicht, sich mit
diesem Sachverhalt zu beschäftigen, auch wenn man-
chem das nicht passt.
Die Bundesregierung macht es sich zu einfach, wenn
sie diesen Bericht – mit Hinweis auf fehlende Zuständig-
keit – einer parlamentarischen Debatte vorenthält. Es be-
steht nicht nur Handlungsbedarf, wofür dieser Bericht
eine gute Grundlage ist, es ist auch nach wie vor die Zu-
ständigkeit des Bundes, in diesem Bereich tätig zu sein.
Hierin stimmen wir mit der Fraktion Die Linke überein.
Nicht teilen können wir jedoch die ausschließliche Fo-
kussierung auf mögliche Missstände. Es ist richtig und
wichtig, Missstände in Heimen offenzulegen, sich für
den Schutz und die Rechte von Menschen in Heimen
einzusetzen, aber ihre Herangehensweise wird dem Be-
richt insgesamt nicht gerecht. Auch wir sehen die Bun-
desregierung in der Pflicht, eine Diskussion des Berichts
im Parlament zu ermöglichen.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– BAföG an neue Entwicklungen anpassen –
Auszubildende mit Kindern unterstützen,
Auslandsaufenthalte erleichtern, Migran-
tenförderung verbessern und Hinzuver-
dienstgrenzen erhöhen
– Studierende Mütter durch die Softortmaß-
nahme Baby-BAföG unterstützen
– Statt Nullrunde – BAföG angleichen
– Sofortmaßnahmen beim BAföG – für mehr
Zugangsgerechtigkeit und höhere Bildungs-
beteiligung
(Tagesordnungspunkt 23 a bis d)
Dorothee Bär (CDU/CSU): Unser Ziel ist: Die För-
derung durch das BAföG muss an neue Entwicklungen
angepasst werden. Was bedeutet das? Für uns sind dabei
fünf Punkte wichtig, mir persönlich davon einer ganz be-
sonders: Erstens. Die Förderung von Familien während
der Ausbildungszeit. Schon jetzt wird die Erziehung von
Kindern im BAföG berücksichtigt: Wird beispielsweise
während der Ausbildungszeit ein Kind betreut, kann die
Förderungsdauer verlängert werden.
Das ist für uns jedoch noch nicht ausreichend. Wir
wollen Studierende mit Kind während des Studiums di-
rekt fördern. Dies halte ich insbesondere für wichtig, um
Akademikern eine frühere Familiengründung zu erleich-
tern. Es darf nicht mehr heißen: Kind oder Studium, son-
dern Kind und Studium!
Ein pauschaler Betreuungszuschlag von 113 Euro pro
Kind und Monat ist dafür aus meiner Sicht der Weg in
die richtige Richtung. Diese Förderung soll allen förde-
rungsberechtigten Auszubildenden mit Kind zustehen,
nicht nur den Studierenden.
In den Verhandlungen werde ich mich deshalb für
eine Förderung einsetzen, die abhängig von der Zahl der
Kinder ist. Ich fordere Herrn Steinbrück auf, die Mittel
dafür freizugeben. Es muss bereits für junge Menschen
deutlich sein, dass Kinder in dieser Gesellschaft will-
kommen sind. Kind und Karriere dürfen genauso wenig
ein Widerspruch sein wie Kind und Ausbildung.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Auslandsausbil-
dung. Ich habe selbst erlebt, wie bereichernd ein Aufent-
halt im Ausland ist. Ich halte es deshalb für elementar,
dass eine solche Möglichkeit allen offensteht. Die För-
derung eines Vollstudiums im Ausland ist derzeit nicht
möglich. Europa wächst jedoch immer weiter zusam-
men. Der Bolognaprozess macht gute Fortschritte und
ermöglicht flexibles Studieren. Wir halten es daher für
folgerichtig, auf die einjährige Orientierungsphase im
Inland zu verzichten. Diese Zeit kann sinnvoller einge-
setzt werden.
Auch ein Auslandsaufenthalt im Rahmen eines Prak-
tikums wird vereinfacht. Für solche Aufenthalte gilt
künftig im europäischen wie außereuropäischen Ausland
die gleiche Regelung.
Ein dritter wichtiger Punkt ist die Migrantenförde-
rung. Leben junge Migranten in Deutschland mit der
Perspektive, hier längerfristig zu bleiben, ist es in unser
aller Interesse, dass sie eine gute Ausbildung erhalten
und sich integrieren können. Eine Ausdehnung der För-
derung durch das BAföG erscheint deshalb sinnvoll.
Es sollen viertens die Zuverdienstmöglichkeiten er-
leichtert werden. Eine einheitliche Regelung ist das ein-
fachste: Zuverdienst in Höhe eines Minijobs, also
400 Euro, sollte nicht auf das BAföG angerechnet wer-
den. Eine Tätigkeit im Rahmen eines solchen Jobs ver-
längert die Studienzeit sicherlich nicht.
Fünftens. Die elternunabhängige Förderung muss auf-
grund der angespannten Haushaltslage leider konzen-
triert werden. Das bedeutet selbstverständlich keinen
kompletten Ausstieg aus der Ausbildungsförderung für
Schüler auf dem sogenannten zweiten Bildungsweg.
All diese Neuerungen tragen den veränderten Bedin-
gungen für Ausbildung und Studium Rechnung. Sie er-
möglichen auch in Zukunft das Studium oder eine Aus-
bildung für alle und sichern die Chancengleichheit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7987
(A) (C)
(B) (D)
Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam in den nächsten
Wochen und Monaten an einem Strang ziehen, um be-
sonders das Studium mit Kind oder mehreren Kindern zu
erleichtern und zu forcieren.
Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Wie angekün-
digt, wollen wir aus dem jetzt vorliegenden BAföG-Be-
richt die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen.
Diese Schlussfolgerungen gliedern sich in zwei Teile:
Erstens die grundsätzliche Aussage, dass eine Erhö-
hung der Bedarfssätze, Freibeträge und Vomhundert-
sätze nicht nur geboten, sondern nach mehrjähriger Stag-
nation dringend überfällig ist. Dieser Feststellung
widerspricht auch nicht, dass die Ausgaben für das
BAföG ebenso gestiegen sind wie die Anzahl der geför-
derten Studierenden, Schüler und Schülerinnen. Das be-
grüßt meine Fraktion. Dies darf aber den Blick nicht da-
vor verstellen, dass die in der HIS-Studie ermittelten
Bedarfe für Studierende deutlich unterschritten werden
und der Prozentsatz der Geförderten nach dem steilen
Anstieg nach der BAföG-Reform im Jahr 1999 in den
letzten Jahren zwar nur leicht mit jährlich 0,1 Prozent
pro Jahr, aber kontinuierlich wieder sinkt. Ziel meiner
Fraktion, Ziel der Koalition und auch der Bundesregie-
rung ist es aber, dass das BAföG als eines der wichtigs-
ten Instrumente zur materiellen Absicherung von Schü-
lern und Schülerinnen, Studenten und Studentinnen aus
einkommensschwachen Familien genauso erhalten
bleibt, wie als Instrument um die Zahl hochqualifizierter
junger Leute zu erhöhen. Studienkredite können eine
sinnvolle Ergänzung, aber kein Ersatz für BAföG sein,
wenn wir nicht junge Leute mit Schuldenbergen ins Be-
rufsleben entlassen wollen. Ich sage hier ganz deutlich:
Vorsicht ist bei der Inanspruchnahme von solchen Kredi-
ten geboten, denn zurückgezahlt werden mit Zins und
Zinseszins müssen sie, wie wir an den jüngst veröffent-
lichten Zahlen unschwer erkennen können.
Für das Jahr 2007 kann eine spürbare Erhöhung der
Bedarfssätze, Einkommensfreigrenzen und Vomhundert-
sätze haushaltsmäßig nicht mehr dargestellt werden. Na-
türlich stimmt es, wie es die Bundesregierung im
BAföG-Bericht darstellt, dass die Haushaltskonsolidie-
rung gerade auch im Interesse der jungen Generation
liegt. Von genauso großer Bedeutung nicht nur für die
heute Lernenden und Studierenden, sondern für uns alle
aber sind möglichst viele, möglichst hochqualifizierte
junge Menschen, die ihre Qualifikation unabhängig vom
Geldbeutel ihrer Eltern erwerben können. Deshalb stim-
men wir der Bundesregierung zu, dass auch vor Vorlage
des nächsten BAföG-Berichts Vorschläge zur Erhöhung
der bereits genannten Parameter gemacht werden kön-
nen. Für meine Fraktion kündige ich an, dass wir genau
das tun werden, und Sie können sicher sein, dass wir ei-
nen Vorschlag zur spürbaren Erhöhung insbesondere der
Bedarfssätze, aber auch der Einkommensgrenzen, die
noch in dieser Legislatur wirksam werden, machen wer-
den.
Der zweite Teil unserer Schlussfolgerungen nicht nur
aus dem BAföG-Bericht, sondern aus sich verändernden
Entwicklungen betrifft mehrere Punkte:
Zum Ersten wollen wir die Situation der BAföG-
Empfänger und -Empfängerinnen, die Kinder zu be-
treuen haben, deutlich verbessern und sie genauso be-
handeln wie diejenigen, die Meister-BAföG beziehen.
Dafür wollen wir das unzeitgemäße „Abkindern“, die
Reduzierung der Darlehenssumme bei Nichterwerbstä-
tigkeit wegen Betreuung eines Kindes, abschaffen.
Zum Zweiten wollen wir die ebenso unzeitgemäße
Regelung abschaffen, dass einem Auslandsstudium ein
mindestens einjähriges Studium in Deutschland voraus-
gehen muss. Gleichzeitig soll für Auslandsstudierende
auch für Reisekosten und sonstige Auslandszuschläge
die Normalförderung als Zuschuss und Darlehen gelten.
Studiengebühren für ein Jahr sollen in diese Regelung
mit einbezogen werden. Für die meisten BAföG-Geför-
derten wird sich die Darlehenssumme durch die Decke-
lung bei 10 000 Euro dadurch nicht erhöhen. Wir wollen
auch, dass Auslandspraktika erleichtert werden.
Zum Dritten wollen wir einen Beitrag zur besseren
Integration von Migranten und Migrantinnen dadurch
leisten, dass EU- und Nicht-EU-Ausländer und Auslän-
derinnen, wenn sie in Deutschland einen Daueraufent-
halt haben, nach den gleichen Kriterien und unabhängig
von der Dauer der Erwerbstätigkeit ihrer Eltern gefördert
werden können.
Zum Vierten sollen die Hinzuverdienstgrenzen auf
einheitlich 400 Euro angehoben werden.
Zum Fünften halten wir es für gerechtfertigt, dass der
klassische zweite Bildungsweg, also Abendgymnasium
und Kolleg, von einer beruflichen Ausbildung und einer
Erwerbstätigkeit oder einer längern Erwerbstätigkeit,
wenn keine berufliche Ausbildung vorhergeht, abhängig
ist – wie es ursprünglich auch gedacht war. In den Fäl-
len, in denen diese Kriterien erfüllt werden, ist eine el-
ternunabhängige BAföG-Förderung angebracht, wo
nicht, eine elternabhängige, wie an anderen Berufsfach-
schulen auch, die selbstverständlich wie für alle Schüle-
rinnen und Schüler voll als Zuschuss gezahlt wird. Wir
halten allerdings eine vergleichsweise kurze Erwerbstä-
tigkeit für ausreichend. Eine nur einjährige Berufspraxis
nützt den jungen Leuten und verhindert gleichzeitig eine
ungerechtfertigte Verzögerung einer eventuell beabsich-
tigten Studienaufnahme. Das Studium wird im Übrigen
bei den allermeisten der Abendgymnasiasten und Kolle-
giaten nach der elternunabhängigen schulischen Förde-
rung elternabhängig gefördert. Selbstverständlich brau-
chen wir für eine solche Regelung eine großzügige
Übergangsregelung.
Ich habe gerade gesagt, ich halte diese Maßnahme
auch im Sinne der Gleichbehandlung von Schülern und
Schülerinnen unterschiedlicher Schularten, die die glei-
chen Voraussetzungen mitbringen, für gerechtfertigt –
mehr aber auch nicht. Ich sage klar: Wir wollen mit dieser
Regelung weder die Zahl der Schülerinnen und Schüler
des zweiten Bildungswegs reduzieren noch gewachsene
Strukturen gefährden. Wir werden im Gesetzgebungsver-
fahren auch klären, ob die vorgesehenen Minderausgaben
nicht durch Mehrausgaben zum Beispiel nach dem SGB II
wieder aufgebraucht werden. Wir werden deshalb im Rah-
men des Gesetzgebungsverfahrens sehr genau darauf
7988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
achten, ob das Ziel eines Aufrechterhaltens der Schüler-
zahl des zweiten Bildungswegs erreicht wird, und for-
dern die Bundesregierung auf, das verbindliche Einver-
nehmen in dieser Frage mit den Ländern herzustellen.
Und weil die Schulstrukturen von Bundesland zu
Bundesland so unterschiedlich sind, wollen wir insbe-
sondere zum Bereich der Kollegs und Abendgymnasien
eine sehr zeitnahe Evaluation. Dies gilt auch für die Ent-
wicklung der im Ausland Studierenden. Denn wir wol-
len erreichen, dass der zweite Bildungsweg von mög-
lichst vielen in Anspruch genommen wird und die Zahl
der Auslandsstudierenden steigt.
Diese kleine BAföG-Novelle enthält viele wichtige
Verbesserungen. Die eine oder andere Idee der Opposi-
tion wird mit ihr auch aufgegriffen, aber mit Augenmaß
und finanzierbar. Die größere BAföG-Novelle mit der
Erhöhung der Bedarfssätze und Einkommensfreibeträge
kündige ich für meine Fraktion für diese Legislatur an
und freue mich jetzt schon über die ebenso bereits ange-
kündigte Unterstützung unseres Koalitionspartners.
Herzlichen Dank, Herr Kretschmer.
Uwe Barth (FDP): Ich frage mich schon, warum wir
das für die Zukunft unserer Gesellschaft so außerordent-
lich wichtige Thema der staatlichen Ausbildungsförde-
rung von jungen Menschen aus eher einkommensschwa-
chen Schichten in diesem Hohen Hause erst nach
Mitternacht diskutieren. Liegt es an der Botschaft des
Antrages von CDU/CSU und SPD, dessen einzige Ant-
wort auf den 17. Bericht nach § 35 BAföG zur Überprü-
fung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundert-
sätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 eine Erhöhung
von Hinzuverdienstgrenzen bei Studierenden ist?
Trotz steigender Steuerbelastungen der Familien, die
letztlich auch durch sprunghaft steigende Lebenshal-
tungskosten von den Studierenden getragen werden
müssen, trotz steigender Kosten für die Krankenversi-
cherung, trotz Reduzierung des Kindergeldanspruches
vom 27. auf das 25. Lebensjahr reagiert diese Bundesre-
gierung nicht auf die Notwendigkeit einer längst fälligen
Anpassung der Bedarfssätze und Freibeträge.
Der Hinweis, dass der Haushalt eine Anpassung nicht
hergebe, kann an dieser Stelle nicht genügen. Mindes-
tens das Bekenntnis, bei der Aufstellung des nächsten
Haushaltes eine Anpassung mit einzuplanen, ist als Sig-
nal an die Studenten notwendig. Dazu sind Sie im Übri-
gen nach § 35 BAföG auch verpflichtet! Der Populismus
der Linken hilft uns hier nicht weiter. Ihre Vorschläge
beschränken sich wie immer darauf, zu verteilen.
In Wahrheit ist das alles aber nur ein Herumdoktern
an Symptomen. Was wir wirklich brauchen, ist eine Sys-
temumstellung des BAföG, das die Geförderten wie
junge Erwachsene behandelt und ihnen elternunabhän-
gig eine Grundförderung, die sich aus Kindergeld, Steu-
erfreibetrag und Ausbildungsfreibetrag zusammensetzt,
zukommen lässt. In früheren Diskussionen waren wir
alle bereits einen Schritt weiter. Wir wollten die eltern-
unabhängige Förderung stärken. Wir wollten erreichen,
dass Studierende eben nicht mehr darauf angewiesen
sind, während des Studiums zu arbeiten. Wir wollten
eine Verteilungsgerechtigkeit zugunsten unterer und
mittlerer Einkommensschichten. Wir wollten das Ver-
hältnis von Zuschuss und Darlehen für Geförderte aus
einkommensschwachen Verhältnissen grundsätzlich ver-
ändern. Wir wollten eine Vereinfachung der gesetzlichen
Vorschriften und des Verwaltungsvollzuges erreichen.
Kurz gesagt, wir wollten eine große Strukturreform des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes.
SPD und GRÜNE hatten mit ihrer 21. Novellierung
des Bundesausbildungsförderungsgesetzes – sie nannten
es hochtrabend Ausbildungsförderungsreformgesetz –
endgültig Abschied von diesen weitreichenden Reform-
vorstellungen genommen. Die Große Koalition setzt nun
genau diese Politik der „Reparaturnovellen“ weiter fort
und verzichtet auf die nötige Strukturreform.
Vor Jahren hat die FDP-Bundestagsfraktion diesem
Hohen Hause bereits einen wirklichen Reformantrag
zum BAföG vorgelegt. Der Grundtenor: eine elternunab-
hängige Ausbildungsförderung, die den Studierenden
eine ihrem Alter angemessene Eigenverantwortung
überträgt!
Sehr geehrte Frau Schavan, anstatt mit einer Anhe-
bung der Bedarfssätze und Freibeträge zumindest um 3,5
Prozent bzw. 1 Prozent – so wie es der 17. Bericht for-
dert – die Lebenssituation der Studierenden zu verbes-
sern und ihnen ein zielgerichtetes Studium zu ermögli-
chen, sagen Sie: Na, dann arbeitet doch ein bisschen
mehr neben dem Studium und studiert dafür ein bisschen
länger! Was ist das für eine Logik?
Schon heute sind unsere Hochschulabsolventen an
Fachhochschulen mit rund 27,9 Jahren und an Universi-
täten mit 28,1 Jahren die ältesten in Europa. Allein durch
die Verkürzung der Studiendauer um nur ein Jahr könn-
ten Bund und Länder viele Millionen Euro sparen. Das
Thema Studiengebühren wurde bislang auch nur unzu-
reichend in die Debatten einbezogen.
In den letzten Jahren seit 2004 sind die Verbraucher-
preise jedes Jahr wieder deutlich angestiegen. Allein
2005 betrug der Anstieg 2,5 Prozent. Auch in diesem
Jahr erwarten wir 2,3 Prozent! Die letzte Anpassung der
Bedarfssätze erfolgte im Jahr 2001! Dass sich die
BAföG-Ausgaben von Bund und Ländern in den letzten
Jahren erhöht haben, ist auf die Steigerung der Geförder-
tenquote zurückzuführen. Jetzt muss es zu einer Verbes-
serung der Lebensumstände der Studierenden kommen.
Auf diesem Weg ist auch der Vorschlag der FDP,
Müttern im Studium eine Zulage von 280 Euro zu ge-
währen, als Reaktion auf das neue Elterngeld und als ein
erster Schritt zu werten. Dieser berücksichtigt unsere
Pflicht, die Mütter dann zu unterstützen, wenn sie die
Hilfe am nötigsten brauchen. Dies ist unbestritten unmit-
telbar nach der Geburt des Kindes und nicht gegebenen-
falls erst Jahre nach Beendigung des Studiums. Wir kön-
nen und dürfen es nicht hinnehmen, dass eine
Schwangerschaft für eine Studentin ein erhöhtes Risiko
mit sich bringt, ihr Studium abzubrechen.
Im Ergebnis müssen wir dazu kommen, dass die jun-
gen Menschen ihr Studium in einer vernünftigen Zeit ab-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7989
(A) (C)
(B) (D)
solvieren können. Dies erreichen wir aber nicht, indem
wir von ihnen verlangen, noch mehr zu jobben. Wir
müssen die Struktur der Finanzierung des Studiums so
umgestalten, dass sich die Betroffenen auf ihr Studium
konzentrieren können. Dabei müssen wir natürlich auch
die Finanzierung der Hochschulen ohne eine ideologi-
sche Stigmatisierung von Studiengebühren im Blick hal-
ten. Die Belastung der Absolventen muss sich in einem
Rahmen bewegen, der den Start ins Berufs- und Famili-
enleben nicht unvertretbar erschwert.
Das klingt wie die Quadratur des Kreises. Aber das ist
die Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Für die
FDP erkläre ich an dieser Stelle, dass wir an Lösungen
gerne konstruktiv mit Ihnen zusammenarbeiten werden.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Laut Tagesordnung
soll das Thema BAföG heute zwischen 3.20 Uhr und
3.55 Uhr mitten in der Nacht aufgerufen werden: Das ist
also die Bedeutung, die die Große Koalition dem BAföG
beimisst. Man könnte darüber hinwegsehen, wenn die
BAföG-Politik der Großen Koalition auf einem guten
Wege wäre. Leider ist das Gegenteil der Fall: Der vor
kurzem veröffentlichte Bericht zum BAföG bewies ein-
drucksvoll, dass die Gefördertenquote nicht steigt, son-
dern im letzten Jahr gesunken ist. Diese Entwicklung
dürfen Sie nicht einfach hinnehmen!
Genau das machen Sie aber mit Ihrem Antrag. Es
handelt sich dabei nicht um einen ernsthaften Versuch,
das BAföG zu verbessern, sondern um ein Ablenkungs-
manöver zur Verschleierung des Reformbedarfs! Ihre
minimalen strukturellen Veränderungen bringen herzlich
wenig, wenn nicht gleichzeitig auch eine finanzielle An-
passung erfolgt. Dies wäre aber längst überfällig. Die
letzte Anpassung der Bedarfssätze und Freibeträge war
im Jahr 2001. Seitdem hat der BAföG-Bericht alle zwei
Jahre Anpassungen gefordert. Sie haben diese Warnungen
jedes Mal aufs Neue ignoriert. Seit der Wiedervereinigung
hat keine Regierung die Anhebung der Bedarfssätze und
Freibeträge so lange verschleppt. Das ist für uns nicht
akzeptabel. Wir fordern, dass sie noch in diesem Jahr um
mindestens 10 Prozent erhöht werden.
Zweitens werden wir keine weiteren Verschlechterungen
beim BAföG hinnehmen. In Ihren Antrag haben Sie aber
gleich mehrere hineingemogelt: Als Beispiel möchte ich
auf Ihre Vorschläge beim Auslands-BAföG hinweisen.
Sie schlagen vor, dass Studiengebühren an ausländischen
Hochschulen und Auslandszuschläge künftig kein Vollzu-
schuss, sondern zur Hälfte ein Darlehen werden sollen.
Nach zwei Semestern sollen die Studierenden dann voll-
kommen alleine für die Finanzierung der Studiengebühren
an ausländischen Hochschulen aufkommen. Ihnen wird
lediglich ein Darlehen angeboten.
Untersuchungen haben gezeigt, dass schon heute die
Teilnahme an Auslandsaufenthalten mit der sozialen
Herkunft korreliert. Wer aus einem einkommensschwachen
Elternhaus kommt, studiert seltener im Ausland. Für
Studierende aus reichen Elternhäusern ist dies viel leichter
realisierbar. Mit Ihren Vorschlägen werden Sie diese
soziale Ungleichheit weiter verschärfen. Die von Ihnen
immer wieder eingeforderte Internationalisierung der
Hochschulen ist dann – noch mehr als heute – eine Inter-
nationalisierung für wenige. Die Linke findet das falsch.
Wir fordern deshalb, dass Studiengebühren und Auslands-
zuschläge weiterhin als Vollzuschuss übernommen werden.
Ein weiteres Beispiel für klare Verschlechterungen
beim BAföG sind die von Ihnen vorgeschlagenen Ein-
schränkungen bei der elternunabhängigen Förderung.
Auch das halten wir für einen falschen Schritt. Wenn an
Abendschulen und Kollegs kein elternunabhängiges
BAföG mehr gezahlt wird, bedeutet das eine Einschrän-
kung der Möglichkeiten des zweiten Bildungsweges.
Wir wollen diese Möglichkeiten dagegen ausbauen.
Mindestens müssten also die bisherigen Möglichkeiten
einer elternunabhängigen Förderung erhalten bleiben.
Schließlich zeigt Ihr Antrag, dass wir über die weitere
Entwicklung des BAföG offensichtlich grundsätzlich
unterschiedliche Auffassungen haben. Sie sehen das
BAföG als eine Förderungsmöglichkeit unter vielen.
Gleichzeitig begrüßen Sie die finanzielle Steigerung bei
der sogenannten Begabtenförderung und das Angebot
von Studienkrediten der KfW. Wir wollen das BAföG
dagegen perspektivisch zu einer elternunabhängigen
Grundsicherung mit Vollzuschuss für alle Studierenden
ausbauen. Nur auf diesem Weg ließe sich ein offener
Hochschulzugang und eine eigenständige Studiengestal-
tung realisieren. Darlehen, Kredite und Stipendien sind
für uns der falsche Weg, um soziale Ungleichheit an der
Hochschule abzubauen. In unserem Antrag fordern wir
in einem ersten Schritt deshalb, das Angebot der KfW-
Studienkredite zurückzunehmen.
Abschließend noch eine letzte Bemerkung: Wir bestrei-
ten nicht, dass Sie mit dem Antrag auch einige sinnvolle
und richtige Vorschläge machen. Vieles davon haben Sie
eins zu eins aus unserem Antrag vom letzten Jahr ab-
geschrieben – aber das sei nur nebenbei bemerkt. Dazu
gehören die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen, die
Abschaffung der Orientierungsphase im Inland vor einem
Auslandsstudium oder die besseren Fördermöglichkeiten
für Migrantinnen und Migranten. An unserer Ablehnung
für einen insgesamt unzureichenden und in vielen Berei-
chen schlechten Antrag wird das aber nichts ändern.
Nach fünf Jahren halten Sie es immer noch nicht für
nötig, die Bedarfssätze und Freibeträge zumindest an die
gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen. Faktisch
legen Sie uns hier also einen BAföG-Kürzungsantrag vor.
Wir wollen aber kein SPARföG. Und deshalb werden wir
Ihren Antrag ablehnen.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
BAföG-Satz „wird den Kostenbelastungen von Studie-
renden aus sozial schwächeren Bevölkerungsschichten
nicht mehr gerecht und hält begabte junge Menschen
von einem Studium ab“. „Ich erwarte, dass Haushalts-
mittel für eine Anhebung der BAföG-Sätze bereitgestellt
werden.“ Erkennen Sie hier Ihre eigenen Aussagen wie-
der? Diese Sätze stammen von den Bildungspolitikern
von SPD und Union. Eigentlich weckt dies Hoffnungen
für die BAföG-Novelle der Bundesregierung. Aber Fehl-
anzeige: Die Große Koalition verordnet Schülerinnen,
Schülern und Studierenden eine Nullrunde. Damit igno-
7990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
rieren Sie nicht nur Ihre eigenen Aussagen und Ihren
Koalitionsvertrag mit dem Ziel einer bedarfsdeckenden
Förderung, sondern auch die Forderungen von uns Grü-
nen, den Studierendenorganisationen, den Studentenwer-
ken und sogar dem BAföG-Beirat der Bundesregierung.
Das BAföG hat in den letzten 35 Jahren über 8 Mil-
lionen jungen Menschen aus einkommensschwachen Fa-
milien den Zugang zu Studium und Ausbildung eröffnet.
Es hat damit die Chancengerechtigkeit im Bildungssys-
tem entscheidend verbessert. Die rot-grüne BAföG-Re-
form hat hierzu besonders beigetragen. So ist während
unserer Regierungszeit die Zahl der BAföG-Geförderten
um über 50 Prozent gestiegen. Gleichzeitig stieg die Stu-
dierendenquote unter Rot-Grün um fast 10 Prozent-
punkte auf knapp 38 Prozent.
Unter Schwarz-Rot droht das BAföG dagegen zu ver-
kümmern. Die Große Koalition setzt lieber auf Studien-
kredite mit eingebauter Schuldenfalle. Das BAföG-,,Re-
förmchen“ der Koalition darf keinen einzigen Cent
kosten. Doch mehr Zugangsgerechtigkeit im Bildungs-
system gibt es nicht zum Nulltarif. Studierwilligen aus
finanzschwachen Familien helfen keine Sonntagsreden,
sondern nur eine verlässliche und auskömmliche Le-
bensunterhaltsfinanzierung ohne ausufernden Schulden-
berg. Wir müssen dafür sorgen, dass Förder- und Le-
benswirklichkeit wieder in Einklang gebracht werden.
Einer kostenneutralen Reform können wir daher nicht
zustimmen.
Daher schlagen wir Grüne für das BAföG – ungeach-
tet langfristig erforderlicher Strukturreformen – unter
anderem folgende Sofortmaßnahmen vor:
Erstens. BAföG rauf! Die Bedarfssätze und Freibe-
träge müssen entsprechend der Entwicklung von Le-
benshaltungskosten und Einkommen erhöht werden.
Studiengebühren in sieben unionsregierten Ländern
bringen erhebliche finanzielle Mehrbelastungen für
einen Großteil der Studierenden mit sich. Hinzu
kommen die Altersbeschränkung des Kindergelds auf
25 Jahre und die Umstellung von Elterngeld auf Erzie-
hungsgeld, die studierende Eltern benachteiligt.
Zweitens. Familien besser unterstützen! Wir brauchen
familienfreundlichere Hochschulen, mehr Unterstüt-
zung für studierende Eltern sowie mehr und bessere Kin-
derbetreuungsangebote mittels eines Rechtsanspruchs ab
dem vollendeten ersten Lebensjahr. Zudem müssen
BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger während der
Ausbildung einen Kinderzuschuss erhalten. In diesem
Anliegen unterstützen wir die Bundesregierung. Der bis-
herige Darlehensteilerlass nach dem Studium muss zu-
mindest für diejenigen Eltern erhalten bleiben, für die
die neue Kinderkomponente zu spät kommt.
Drittens: Elternunabhängig fördern! Das Vorhaben
der Großen Koalition, die elternunabhängige Förderung
im zweiten Bildungsweg beim Besuch von Abendgym-
nasien und Kollegs zu beschneiden, ist ein fatales Signal
an junge Menschen eher bildungsferner Herkunft. Die
Sicherheit des elternunabhängigen BAföGs ist für viele
Schülerinnen und Schüler eine entscheidende Motiva-
tion, sich nach Lehre oder Beruf höher zu qualifizieren.
Hier legt Schwarz-Rot einem sozialen Aufstieg durch
Bildung Steine in den Weg.
Ziel der geplanten BAföG-Novelle muss es sein, Ge-
rechtigkeitslücken zu schließen. Wir machen hierzu wei-
tere Vorschläge, zum Beispiel auch für Studierende mit
Migrationshintergrund, für Studierende im Teilzeit- oder
Auslandsstudium, für gleichgeschlechtliche Lebenspart-
ner.
Der Antrag der Koalition zeigt: Wer eine Bundes-
ministerin stützt, die das BAföG für ein Auslaufmodell
hält, kann keine zukunftsweisenden Reformen der Aus-
bildungsförderung auf den Weg bringen. Die Anträge
von Linkspartei und FDP decken sich in Teilen mit unse-
rem Maßnahmenpaket. Die Wünsche der Linkspartei
driften jedoch teilweise ins Schlaraffenland – ohne
Rücksicht auf haushaltspolitische Vernunft und Nachhal-
tigkeit. So laufen ihre Forderungen zum Beispiel darauf
hinaus, dass der deutsche Steuerzahler die exorbitanten
Auslandsstudiengebühren in Harvard in voller Höhe
über die gesamte Studiendauer als Vollzuschuss über-
nimmt.
Bei der FDP freut uns die (späte) Einsicht, dass der
„BAföG-Höchstsatz heute bei weitem nicht mehr zur
Existenzsicherung ausreicht“. Wieso fordern Sie dann
aber keine Erhöhung der BAföG-Sätze? Das ist genauso
inkonsequent wie die eingangs erwähnten Aussagen der
Koalitionspolitiker.
Reden und Handeln müssen zusammenpassen. Über-
arbeiten Sie Ihre BAföG-Novelle! Andernfalls wird die
Gefördertenquote weiter sinken und Sie gefährden Ihr
Ziel einer 40-prozentigen Studierendenquote. Eine wei-
tere BAföG-Nullrunde ist keinesfalls akzeptabel.
Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung: Vor gut zwei
Wochen hat die Bundesregierung den 17. BAföG-Be-
richt vorgelegt. Er weist einen weiteren Anstieg der Ge-
fördertenzahlen und des finanziellen Engagements von
Bund und Ländern in der Ausbildungsförderung aus.
Auch der Anteil derjenigen, die eine Vollförderung er-
halten, ist weiter gestiegen. Erfreulich ist zudem die
deutliche Zunahme der Geförderten im Ausland, die be-
legt, dass die Internationalisierung der Ausbildung auch
für BAföG-Geförderte zunehmend selbstverständlich
wird.
Der 17. BAföG-Bericht macht deutlich: Das Niveau
der Ausbildungsförderung konnte auch in einer wirt-
schaftlich und finanzpolitisch schwierigen Zeit konstant
gehalten werden. Dies ist ebenso wie die nach wie vor
angespannte Haushaltslage von Bund und Ländern zu
beachten, wenn nun Forderungen nach einer baldigen
Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge erhoben
werden. Zurzeit ist der hierfür erforderliche finanzielle
Spielraum angesichts der unverändert bestehenden Not-
wendigkeit zur Konsolidierung der öffentlichen Haus-
halte nach Ansicht der Bundesregierung nicht vorhan-
den.
Gleichwohl gibt es einen hinreichenden Bedarf zur
Anpassung des BAföG an veränderte Rahmenbedingun-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7991
(A) (C)
(B) (D)
gen. Wir wollen den Schülern und Studierenden neue
Möglichkeiten und Chancen in ihrer Ausbildung eröff-
nen. Deshalb wird die Bundesregierung in Kürze einen
Gesetzentwurf vorlegen, der vier Schwerpunkte für ge-
zielte strukturelle Verbesserungen in der Ausbildungs-
förderung setzt.
Erster Schwerpunkt: Wir wollen Familien schon wäh-
rend der Ausbildung fördern und entlasten. Aus den bis-
herigen Gesprächen über unsere Pläne habe ich den
Eindruck gewonnen, dass die Richtigkeit einer familien-
politischen Umsteuerung innerhalb des BAföGs von nie-
mandem ernsthaft bezweifelt wird. Es ist bildungs- und
familienpolitisch sinnvoll, sich stärker den finanziellen
Belastungen junger Eltern während der Ausbildung zu
widmen als den sehr viel später, nach abgeschlossener
Ausbildung, entstehenden Lasten bei einer erst dann fol-
genden Kinderbetreuung.
Damit wir uns hier nicht missverstehen: Es geht uns
nicht um ein „Baby-BAföG“, wie es die Liberalen for-
dern. Es geht uns gerade nicht um Unterstützungsleis-
tungen für und wegen des Babys – hier greifen bereits
andere staatliche Leistungen. Was aber dringend nottut,
ist eine Unterstützung für die Auszubildenden selbst, die
ihnen eine Betreuung von Kindern auch zu Zeiten er-
möglicht, zu denen Kindertagesstätten nicht geöffnet
haben, aber Seminare und Veranstaltungen an der Uni
die Präsenz des Auszubildenden fordern. Es geht also
nicht um „Baby-BAföG“ nicht um den bildungs- und
erziehungsbedingten Bedarf des Babys, wie es im FDP-
Antrag fälschlicherweise dargestellt wird, sondern es
geht, wenn Sie so wollen, um „Mütter-BAföG“ oder
„Väter-BAföG“.
Mit einem Kinderbetreuungszuschlag von 113 Euro
pro Monat haben wir hierbei die richtigen Bemessungs-
parameter im Blick und können eine spürbare Hilfe für
die betroffenen Auszubildenden bieten, die ihre eigene
Ausbildung mit der gleichzeitigen Elternverantwortung
unter einen Hut bringen müssen. Über die Frage, welche
Höhe für einen solchen pauschalen Betreuungszuschlag
bei Auszubildenden mit mehreren Kindern die richtige
ist, werden wir sicher im Verlauf der parlamentarischen
Beratungen noch sprechen.
Zweiter Schwerpunkt: Wir wollen die Ausbildung im
Ausland erleichtern. Wir werden als weiteren Schritt zur
Internationalisierung der Ausbildung die sogenannte
Orientierungsphase abschaffen. Damit dehnen wir die
BAföG-Förderung auf vollständige Ausbildungen im
EU-Ausland und in angrenzenden Nachbarstaaten, ins-
besondere der Schweiz, aus. Voraussetzung ist, dass sich
die betreffenden Auszubildenden zuvor wenigstens drei
Jahre im Inland aufgehalten haben. Damit verzichten wir
auf den bisher zwingend erforderlichen Beginn der
Ausbildung im Inland, der von einzelnen Auszubilden-
den, die sich für ganz bestimmte Ausbildungsgänge im
europäischen Ausland interessieren, als unnötiger Um-
weg und Zeitverschwendung wahrgenommen wird. Ich
will ganz deutlich sagen, dass wir hier zusammen und
fast zeitgleich mit den Niederlanden, die in ihrem Aus-
bildungsförderungsrecht eine vergleichbare Öffnung
noch in diesem Jahr planen, innerhalb Europas eine ein-
deutige Vorreiterrolle übernehmen.
Als zweites Element des Internationalisierungspakets
werden wir die Förderung außereuropäischer Praktika
von dem bisherigen zusätzlichen Erfordernis „beson-
derer Förderlichkeit für die Ausbildung“ befreien. Das
Sammeln praktischer internationaler Erfahrungen wäh-
rend der Ausbildung macht nicht an den Grenzen Euro-
pas halt. Entbehrlich hingegen sind bei diesen in aller
Regel kürzeren Praktikumsaufenthalten die Auslands-
zuschläge, die ansonsten für Auslandsaufenthalte außer-
halb der EU anfallen. Hiermit begegnen wir zugleich
einer möglichen Missbrauchsgefahr durch eher touris-
tisch motivierte Auslandsaufenthalte.
Für Studienaufenthalte selbst haben wir Anlass gese-
hen, die bisherige Regelung für Auslandszuschläge und
im Ausland erhobene Studiengebühren zu modifizieren.
In beiden Fällen sollte die Förderung künftig zur Hälfte
als Zuschuss, zur anderen Hälfte als Darlehen gewährt
werden. Mit Blick auf die im Inland geltenden Regelun-
gen erscheint es zudem sinnvoll, ausländische Studien-
gebühren künftig nur noch für die Dauer bis zu einem
Jahr und bis zu einer Höchstgrenze von 4 600 Euro in-
nerhalb der BAföG-Normalförderung zu berücksichti-
gen. Die Finanzierung von Studiengebühren während
länger andauernder Auslandsaufenthalte bis hin zu
kompletten Auslandsstudien sollte hingegen außerhalb
des BAföGs und unabhängig vom BAföG-Bezug erfol-
gen – beispielsweise über das Studienkreditprogramm
der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Dies würde dann
auch denjenigen Studierenden aus dem Mittelstand
helfen, die einerseits keine BAföG-Berechtigung haben,
andererseits aber die finanziellen Mittel für lang andau-
ernde Auslandsstudien ohne ein solches Finanzie-
rungsinstrument nicht aufbringen könnten.
Dritter Schwerpunkt: Wir wollen die Förderung für
Migranten verbessern. Bildung und Ausbildung sind ein
wesentlicher Schlüssel für gelungene Integration. Des-
halb wollen wir es ausbildungswilligen jungen Men-
schen mit Migrationshintergrund erleichtern, diesen Weg
zu beschreiten – auch dann, wenn sie nicht schon über
ihre Eltern und deren Erwerbseinkünfte zum deutschen
Steueraufkommen haben beitragen können, aus dem die
Ausbildungsförderung finanziert wird. Wer mit dauer-
hafter Bleibeperspektive in Deutschland lebt, sollte nicht
dadurch von einer sinnvollen Ausbildung abgehalten
werden, dass mit dem Beginn der Ausbildung ein Verlust
von Transferleistungen nach dem SGB II droht und da-
mit der Lebensunterhalt nicht mehr gesichert ist.
Vierter Schwerpunkt: Wir wollen die Hinzuverdienst-
grenzen erhöhen. Bislang sind die Obergrenzen für an-
rechnungsfreie bleibende Hinzuverdienste je nach Art
der Ausbildung gestaffelt. Weil es hierfür keine überzeu-
gende Begründung mehr gibt, streben wir eine Verein-
heitlichung der Hinzuverdienstgrenzen an und verbinden
dies mit einer Anhebung auf das Minijob-Niveau von
400 Euro brutto monatlich. Viele Auszubildende haben
ein Bedürfnis nach flexibel nutzbaren Möglichkeiten,
selbst etwas zur Finanzierung ihrer Ausbildung beizutra-
gen. Diesem Bedürfnis kommen wir nach. Lassen Sie
7992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
mich an dieser Stelle ausdrücklich klarstellen: Es geht
keineswegs darum, einen Rückzug aus der staatlichen
Ausbildungsförderung einzuleiten oder vorzubereiten.
Es geht vielmehr um mehr Spielräume für diejenigen,
die aus eigenem Antrieb heraus zusätzliche individuelle
Bedürfnisse befriedigen oder schlicht selbst stärker zur
Finanzierung beitragen und ihre zum Unterhalt ver-
pflichteten Eltern entlasten wollen.
Um die genannten, wichtigen strukturellen Korrektu-
ren innerhalb des BAföG finanziell abfangen zu können,
werden wir im Bereich der Kollegschulförderung durch
Rückbesinnung auf den eigentlichen Kern des zweiten
Bildungswegs die Voraussetzungen für die elternunab-
hängige Förderung nachsteuern. Wir halten es nur dann
für gerechtfertigt, auf die Beteiligung zahlungskräftiger
Eltern an der Ausbildungsfinanzierung zu verzichten,
wenn diese unterhaltsrechtlich auch wirklich nicht mehr
herangezogen werden könnten. Das scheint jedenfalls
dann nicht ohne Weiteres der Fall, wenn die Kinder nicht
wenigstens einmal durch eigene Erwerbstätigkeit im An-
schluss an eine berufliche Ausbildung bereits auf eige-
nen Füßen gestanden haben. Es ist nur konsequent und
gerecht im Verhältnis zu anderen Auszubildenden, dies
konkret zur Voraussetzung zu erheben und nicht länger
als typischen Regelfall bei Kollegschülern und Abend-
gymnasiasten ohne Weiteres zu unterstellen. Mir ist sehr
wichtig, klarzustellen, dass dies nichts mit einer Beendi-
gung der Ausbildungsförderung für Schüler auf dem
zweiten Bildungsweg zu tun hat. Ziel ist ausschließlich
eine Konzentration der Förderung auf diejenigen, die fi-
nanziell auch tatsächlich darauf angewiesen sind, weil
sie nicht auf Unterstützung aus dem Elternhaus zurück-
greifen können.
Mit diesen geplanten Änderungen werden wir wich-
tige strukturelle Verbesserungen und Umsteuerungen er-
reichen, die für die weitere Sicherung von Chancen-
gleichheit in der Ausbildung geboten sind. Ich freue
mich daher, dass die Koalitionsfraktionen mit ihrem
Antrag diesen Weg vorbereiten und damit die Bundes-
regierung darin bestärken, in wenigen Wochen einen ent-
sprechenden Gesetzentwurf zu verabschieden. Dies ist
ein gutes Signal für die Studierenden und die Schüler in
unserem Land!
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Holz-
absatzfondsgesetzes (Tagesordnungspunkt 17)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Unsere Bäuerinnen
und Bauern werden gebraucht und sind wichtige Leis-
tungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft. Das war auf
der Grünen Woche in Berlin wieder deutlich zu spüren:
Land- und Forstwirtschaft sind eine Zukunftsbranche!
Für die deutsche Land- und Forstwirtschaft ist eine
schlagkräftige Vermarktung ihrer Produkte – sowohl re-
gional als auch national und international – sehr wichtig.
Deshalb müssen wir erschlossene Märkte pflegen, aber
auch neue erschließen. Dies kann sowohl die Land- als
auch die Ernährungswirtschaft nicht allein, sondern nur
gemeinsam in der „Kette“.
Eines der wichtigsten Glieder in dieser Kette bildet
der Absatzfonds. Er hat die Förderung des Absatzes und
der Verwertung von Erzeugnissen der deutschen Land-,
Ernährungs- und Forstwirtschaft zur Aufgabe.
Würde man auf die zentrale Absatzförderung im Bereich
der Land- und Ernährungswirtschaft verzichten, entfiele
ein wichtiges Instrument zur Sicherung der Marktstellung
und damit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Land- und Ernährungswirtschaft. Die Bedeutung des
Absatzfonds wird auch im Binnenmarkt infolge des ein-
geleiteten Abbaus der Markt- und Preisstützung weiter
zunehmen.
Für den Sektor Landwirtschaft brauchen wir auch in
Zukunft eine zentrale Marketingagentur – die CMA –, die
diese Aufgaben wahrnimmt. Wir müssen über Marktent-
wicklungen, Preise und Verbrauch informiert sein. Wir
brauchen Markttransparenz. Wir brauchen auch unbedingt
die ZMP. Diese Notwendigkeit wird derzeit leider ange-
zweifelt.
Ich erinnere an den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Köln vom 18. Mai 2006. Drei Unternehmen hatten in ei-
nem Verfahren gegen die Pflichtbeiträge zum Absatz-
fonds geklagt. Die Frage der Rechtmäßigkeit liegt dem
Bundesverfassungsgericht vor. Mit einem Spruch des
Bundesverfassungsgerichtes ist aller Voraussicht nach
frühestens in zwei Jahren zu rechnen. Ich gehe aber fest
davon aus, dass das Absatzfondsgesetz verfassungskon-
form ist.
Dies zeigt auch ein aktueller Beschluss des Verwal-
tungsgerichts München. In dem Beschluss wurde unter
anderem festgestellt, dass keine schwerwiegenden Zweifel
an der Vereinbarkeit des Absatzfondsgesetzes mit dem
Grundgesetz bestehen. Ebenso hat der Europäische Ge-
richtshof in einem Urteil aus dem Jahr 2002 die zentrale
Absatzförderung an sich nicht infrage gestellt. Erst 2004
hatte die EU-Kommission das Absatzfondsgesetz beihil-
ferechtlich erneut genehmigt. Maßnahmen mit Her-
kunftsbezug werden sogar mit EU-Mitteln kofinanziert.
Viele EU-Mitgliedstaaten haben dem Absatzfonds
vergleichbare nationale Institutionen. Dies zeigt sich ins-
besondere an den jüngsten beihilferechtlichen Genehmi-
gungen von Maßnahmen der österreichischen AMA und
den britischen staatlichen Institutionen „Food from Britain“
und „English Beef and Lamb Executive“ durch die EU-
Kommission. Beide Organisationen vergeben ebenfalls
Qualitätssiegel für landwirtschaftliche Produkte, deren
Herkunft und Qualität sie überprüft haben.
Auch das CMA-Gütezeichen wird bei Vorliegen objek-
tiver, innerer Merkmale der Erzeugnisse vergeben, wobei
die Produktqualität unverändert im Vordergrund steht.
Darüber hinaus gestatten die künftigen „Rahmenrege-
lungen der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen im
Agrarsektor“ in ihrer jüngsten Entwurfsfassung die Ver-
knüpfung von Gütezeichen und Ursprungsbezeichnung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7993
(A) (C)
(B) (D)
Begründet werden die Widersprüche in Deutschland
mit Verweis auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtes
Köln. Getragen werden sie jedoch von prüfungsrecht-
lichen Argumenten, von der Auffassung, dass die CMA
wenig erfolgreich arbeitet, oder von der Sorge, im Falle
einer Abschaffung des Absatzfonds abgeführte Beiträge
nicht zurückzuerhalten.
Nach einer aktuellen Studie allerdings wird die Wich-
tigkeit einer Institution wie der CMA von der großen
Mehrheit der Landwirte bestätigt. Nur eine verschwin-
dend geringe Minderheit will die Abschaffung der
CMA. Allerdings hatten die Widersprüche bereits zur
Folge, dass der Verwaltungsrat des Absatzfonds auf
Grund der schwebenden Rechtslage beschlossen hat, die
Ausgaben rigide zu drosseln. Die Drosselung der Ausgaben
wird erhebliche Folgen für Absatz und Verwertung von
Erzeugnissen der Land- und Ernährungswirtschaft haben.
Darüber hinaus leidet durch Einsparungen bei der
ZMP die Markttransparenz, die bei Kauf und Einkauf
von großer Hilfe für die Landwirte ist. Die Folgen der
durch die Widersprüche erzwungenen Mittelkürzungen
werden gravierend sein. Es wird im Inland zu tiefen Ein-
schnitten beim zentral-regionalen Marketing kommen.
Leider ist der Kontakt zum Landwirt für die Mehrheit
der Bevölkerung nicht mehr selbstverständlich. Deutsche
Bäuerinnen und Bauern produzieren heute in einem
gesellschaftlichen Umfeld, das sich immer weiter von der
Landwirtschaft entfernt. Es geht also auch darum, die
Wertigkeit und Wertschätzung heimischer Nahrungsmittel
stärker in den Fokus der Verbraucherinnen und Verbraucher
zu rücken. Außerdem trägt die zentrale Absatzförderung
zu einer höheren Wertschöpfung der deutschen Land-
und Ernährungswirtschaft bei.
Wenn wir zudem unsere Produkte in Deutschland und
in fernen Ländern absetzen wollen, wenn wir in einigen
Bereichen sogar höhere Erlöse erzielen wollen, weil wir
höhere Standards bieten, müssen wir dies auch den Kon-
sumenten erklären. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass
die Kommunikation zum Thema Sicherheit der Lebens-
mittel nur noch auf Sparflamme betrieben wird. Darüber
würden sich ausländische Anbieter ebenso freuen wie
selbsternannte Verbraucherschützer.
Deutschland zählt zu den größten Agrarexporteuren
der Welt. 2004 wurden Agrargüter im Wert von rund
34,1 Milliarden Euro im Ausland abgesetzt. 1970 waren
es erst 1,3 Milliarden Euro. Wir haben bereits beachtliche
Märkte in den EU-Beitrittsländern und in Russland ge-
wonnen. Diese Märkte erschließen sich nicht von selbst.
In einem solch mittelständisch geprägten Umfeld wie
der Agrar- und Ernährungswirtschaft braucht man starke
Partner. Die CMA unterstützt vor allem kleine und mittlere
Unternehmen, die im Exportgeschäft alleine kaum eine
Chance hätten. CMA-Auslandsbüros in wichtigen Ländern
der EU, in Amerika, Japan und China führen vor Ort
Aktionen durch und stehen als Ansprechpartner für deut-
sche Exporteure und ausländische Importeure zur Verfü-
gung. So würde die CMA auch ihr äußerst erfolgreiches
Marketing auf den expandierenden Auslandsmärkten
zurückfahren müssen.
Die gerade erwähnten Aufgaben, können nur mit
Hilfe des Absatzfonds erfüllt werden. Diese Einrichtung
ist enorm wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit unserer
landwirtschaftlichen Betriebe.
Ich halte den Absatzfonds für das wichtigste Marketing-
instrument der deutschen Land-, Forst-, und Agrarwirt-
schaft für die Erschließung und Pflege von Märkten im
In- und Ausland. Ich warne davor, bewährte und von
ausländischen Anbietern kopierte Einrichtungen wie
ZMP und CMA zu unterschätzen. Jeder Widerspruch
trägt dazu bei.
Um den Absatzfonds zukunftsfähig zu gestalten, hat
die Koalition den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Absatzfondsgesetzes vorgelegt.
Mit diesem Änderungsgesetz möchten wir die aufgaben-
bezogene Verteilung der Ausgabenlast neu regeln, die im
Absatzfondsgesetz verankerte gegenseitige personelle
Verzahnung des Verwaltungsrates des Absatzfonds mit
dem Aufsichtsorgan der Durchführungseinrichtung zur
Absatzförderung aufheben und die Zahl der Mitglieder
des Verwaltungsrates des Absatzfonds erhöhen und seine
Zusammensetzung ändern. Außerdem sollen die Amts-
zeiten des Vorstandes und des Verwaltungsrates des
Holzabsatzfonds sowie die Fristen zur Entlastung des
Vorstandes des Holzabsatzfonds und der Vorlage des
Jahresabschlusses des Holzabsatzfonds verlängert werden.
Ich verstehe mich als deutsche Agrarpolitikerin. Die
Interessen unserer Landwirtschaft stehen für mich im
Vordergrund. Unsere Land- und Forstwirtschaft steht für
heimische Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze. Wir sind
stolz auf ihre Produkte und Leistungen. Die Wichtigkeit
einer Institution wie der CMA wird nach einer aktuellen
Studie von der großen Mehrheit der Landwirte bestätigt.
Nur eine verschwindend geringe Minderheit will die
Abschaffung der CMA.
Wir sollten deshalb alles dafür tun, den Absatzfonds zu
erhalten. Hier möchte ich besonders meinem Kollegen
Herzog für seine geleistete Arbeit danken, und dem
Gesetzentwurf nach den Ausschussberatungen zustimmen.
Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute in erster
Lesung das von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Ge-
setz zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des
Holzabsatzfondsgesetzes. Dieses Gesetz hatten wir
bereits in letzter Legislatur, im ersten Halbjahr 2005, in-
tensiv beraten und beschlossen. Nun, wieso dann die
Wiederholung, mögen sich einige fragen – ich muss ein-
gestehen, dass das damalige Gesetzgebungsverfahren
leider durch eine gewisse Unverständigkeit eines dama-
ligen Koalitionskollegen blockiert wurde, der mit De-
tails in der Sache und mit Parteizugehörigkeit Schwie-
rigkeiten hatte. Letzten Endes kam es dann nicht zu
einer, wie zunächst vorgesehen, überfraktionellen Eini-
gung und daher vielmehr zu einer Beerdigung des Vor-
gangs im Vermittlungssausschuss. So weit zur Historie.
Das nun vorliegende Gesetz regelt im Wesentlichen
die Erstattung der Personal- und Sachkosten, die der
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung im
Zuge der Erhebung der Sonderabgabe entstehen durch
7994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
den Absatz- bzw. Holzabsatzfonds und die personelle
Entflechtung des Verwaltungsrates des Absatzfonds mit
dem Aufsichtsrat der CMA. In diesem Zuge wird die
Zahl der Mitglieder des Verwaltungsrates des Absatz-
fonds erhöht und ihre Zusammensetzung verändert, wei-
terhin werden einige Fristen und Amtszeiten angepasst.
Im Grunde sind das Hüte von gestern über die wir
heute reden könnten, doch im Kielwasser der sich über-
schlagenden Ereignisse des vergangenen halben Jahres
bekommt die aktuelle Debatte einen anderen Zungen-
schlag. Wir haben eine passende Gelegenheit, allgemein
zum zentralen Agrarmarketing Stellung zu nehmen.
Der Absatzfonds und seine Ausführungsgesellschaf-
ten CMA und ZMP sind in jüngster Vergangenheit Ge-
genstand heftiger Diskussionen in der Land- und Ernäh-
rungswirtschaft, der Wissenschaft und leider auch der
Gerichte geworden. Die geäußerte Kritik ist nicht neu.
Aber auch nicht gänzlich falsch.
Falsch sind Behauptungen, dass wir kein zentrales
Agrarmarketing brauchen. Wir brauchen sogar dringend
ein zentrales Werkzeug, um den Absatz landwirtschaftli-
cher Produkte auf den Märkten im In- und Ausland zu
befördern, um Inhalte an die Verbraucher zu transportie-
ren und um Markttransparenz aufrechtzuerhalten und zu
verbessern. Ein zentrales Instrument kann vieles leisten,
was einzelwirtschaftlich niemals umzusetzen wäre. Wir
brauchen also nicht weniger Agrarmarketing, sondern
besseres.
Ich bin auch davon überzeugt, dass die Behauptun-
gen, das Absatzfondsgesetz sei verfassungswidrig und
die Erhebung der Abgaben damit illegal, ins Leere lau-
fen werden. Diese Entscheidung obliegt nun dem Bun-
desverfassungsgericht. Doch ich bin zuversichtlich, dass
es nach Prüfung des Sachverhalts dem Vorlagenbe-
schluss nicht folgen wird. Denn zum einen haben sich
nicht nur der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung
und der Bundesrat inklusive Vermittlungssausschuss in-
tensiv mit dem Gesetz beschäftigt und beschlossen. Zu-
dem wurden die vorgesehenen Änderungen und damit
auch das Gesetz selber ebenfalls von der EU-Kommis-
sion notifiziert und damit auch für gemeinschaftstaug-
lich befunden. Es würde mich doch sehr verwundern,
wenn diese geballte Kompetenz die Basisprüfung auf
Verfassungsgerechtheit vergessen hätte.
Auch die Landwirtschaft gibt laut der neuesten Um-
frage an der Basis ein anderes Meinungsbild als es die
Berichterstattung der letzten Monate hatte vermuten las-
sen. Als Fazit des eingeholten, sehr differenzierten Mei-
nungsbildes steht ein „Ja, aber“ zum Absatzfonds und
insbesondere zur CMA.
Nutzen wir gemeinsam die parlamentarische Bera-
tung zu diesem Änderungsgesetz und die anberaumte
Expertenanhörung, eine Grundlage für eine breite Dis-
kussion zur Optimierung des zentralen Agrarmarketings
zu legen. Ich kann mich in dieser Sache nur wiederho-
len: Wir brauchen nicht weniger sondern besseres Agrar-
marketing! Betrachten wir die Krise als Chance und neh-
men wir die an den Absatzfonds gestellten Forderungen
nach Optimierung der Struktur und Strategie ernst. Nur
gemeinsam mit den Beitragszahlenden macht es Sinn,
den Fonds zu erhalten.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Durch die anste-
hende kleine Novelle des Absatzfondsgesetzes, die wir
heute in erster Lesung beraten, werden durchaus sinn-
volle Änderungen auf den Weg gebracht, aber sie geht
am Kernproblem vorbei.
Ein Blick in die Begründung offenbart uns allerdings,
worum es bei dieser Novelle wirklich geht, nämlich dem
Bundesverfassungsgericht eine Rechtfertigung zu lie-
fern, das Absatzfondsgesetz im Grundsatz als verfas-
sungsgemäß einzustufen. Ob dieser Weg Erfolg verspre-
chend ist, bleibt abzuwarten.
Worum geht es denn nun eigentlich bei diesem
Thema? Seit 1969 wird von den Produzenten des grünen
Bereichs eine Zwangsabgabe erhoben, um mit zentralen
Marketingstrategien den Absatz und Export landwirt-
schaftlicher Produkte zu fördern. Wir kennen die alten
Werbesprüche noch: Qualität aus deutschen Landen!
Doch wir alle wissen auch, dass die Werbung für speziell
deutsche landwirtschaftliche Produkte seit einem Urteil
des EuGH verboten ist und nur noch ganz allgemein für
Milch oder Blumen oder Ähnliches geworben werden
darf, wovon dann nicht nur unsere heimischen Produ-
zenten profitieren, sondern natürlich auch die Impor-
teure.
Ich bin froh, dass unser Ausschuss bereits eine Anhö-
rung zum Absatzfonds beschlossen hat. Da werden wir
die Gelegenheit haben, ausführlich über die Vor- und
Nachteile der zentralen Absatzförderung zu diskutieren.
Zwangssysteme unterliegen in einer rechtsstaatlichen
Demokratie immer einem besonderen Rechtfertigungs-
druck. Der Nutzen für die zwanghaft Beglückten muss
offensichtlich sein. Als Liberaler bevorzuge ich grund-
sätzlich freiwillige Systeme, aber in manchen Fällen
muss man auch eine Pflicht verfügen, wie zum Beispiel
bei der Kfz-Haftpflicht oder bei der Kranken- und Ren-
tenversicherung.
Doch ist die Gruppennützigkeit, die Voraussetzung
für die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Zwangssys-
tems, auch noch beim Absatzfonds so offensichtlich?
Das Verwaltungsgericht Köln, das mit seinem Urteil im
letzten Jahr für das anstehende Verfahren vor dem Ver-
fassungsgericht gesorgt hat, bezweifelt die Gruppennüt-
zigkeit der Zwangsabgabe.
Ich weiß natürlich, dass die überwiegende Zahl der
Verbände für den Erhalt des Absatzfonds eintritt. So
wird zum Beispiel auf den Nutzen der Exportförderung
durch den Absatzfonds hingewiesen. Doch wir alle wis-
sen auch, dass die Unzufriedenheit unter den Bauern
über die Effizienz der CMA hoch ist. Viele fühlen sich
durch die Werbung schlicht nicht vertreten, müssen aber
trotzdem die Abgabe zahlen, und andere bezweifeln,
dass die Werbung der CMA für sie irgendwelche Vor-
teile bietet.
Betrachten wir einige der Probleme einmal etwas
näher. Ist die Exportförderung wirklich so entscheidend
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7995
(A) (C)
(B) (D)
für die Landwirte? In einem Fernsehbericht des Bayeri-
schen Fernsehens wurde letzte Woche davon berichtet,
dass die Auslandsmessenbetreuung vor allem von den
Vertrieben landwirtschaftlicher Produkte genutzt wür-
den, also zum Beispiel von Lidl und Aldi. Welcher land-
wirtschaftliche Produzent setzt denn seine Produkte tat-
sächlich über Auslandsmessen direkt im Ausland ab?
Der Hähnchenmäster beliefert Wiesenhof, der Fleisch-
produzent Tönnies, der Obst- und Gemüsebauer Krefeld
usw. Wie profitieren diese Landwirte denn von der Ex-
portförderung oder der Absatzförderung allgemein?
Ich finde es auch seltsam, dass die Landwirte ihre Ex-
portförderung selber bezahlen, während das Bundeswirt-
schaftsministerium 180 Millionen Euro Steuermittel für
die gesamte Außenwirtschaftsförderung des nichtgrünen
Bereichs einsetzt und allein 36 Millionen Euro für die
Auslandsmessenbetreuung. Warum müssen Bauern dies
aus eigener Tasche bezahlen und für den nichtgrünen
Bereich bezahlt dies der Steuerzahler?
Insbesondere die sogenannten Flaschenhalsbetriebe
wenden sich immer wieder gegen den Absatzfonds und
bestreiten den Sinn und Zweck des zentralen Absatzmar-
ketings. Angesichts dessen, dass die meisten landwirt-
schaftlichen Betriebe doch nur noch beim regionalen
Marketing einen direkten Kontakt zum Endverbraucher
haben, stellt sich auch mir die Frage, worin der Sinn
liegt, in allgemeiner Werbung zum Beispiel Milch anzu-
preisen? Der Bauernverband spricht davon, dass die
CMA-Werbung ganz allgemein dem Verbraucher die
Werthaltigkeit landwirtschaftlicher Produkte vermitteln
soll. Aber glaubt denn wirklich jemand, dass die CMA
Einfluss auf die Verbraucherentscheidung nehmen
könnte, lieber ein Buch, einen CD-Player, Design-Klei-
dung oder ein Stück Qualitätsfleisch zu kaufen?
Das sind alles Fragen, denen wir im weiteren parla-
mentarischen Verfahren nachgehen müssen. Das sind
Fragen, die deutlich machen, unter welchem Rechtferti-
gungsdruck der Absatzfonds und damit auch wir als
Agrarpolitiker stehen.
Mir scheint, dass die Regierung es sich mit ihrer klei-
nen Novelle zu leicht gemacht hat. Das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts wird nicht vor 2009 erwartet.
Warum hat die Regierung nicht eine umfassende Reform
auf den Weg gebracht und angestoßen? Selbst von de-
nen, die grundsätzlich für den Erhalt des Absatzfonds
eintreten, gibt es eine Reihe von grundlegenden Reform-
forderungen, um die Effizienz der Werbung zu erhöhen.
Diese Diskussion bis nach einem Urteil zu verschieben,
halte ich für sehr riskant.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Absatz-
fondsgesetzes geht mit Eleganz an den eigentlichen Fra-
gen zur Notwendigkeit und Struktur der CMA und ZMP
vorbei.
Im Mai 2006 entschied das Verwaltungsgericht Köln,
dass die Zwangsabgaben, die die Molkereien, Schlacht-
höfe, Mühlen usw. an den Absatzfonds abführen müs-
sen, verfassungswidrig seien, und überwiesen das Urteil
zur Überprüfung an das Bundesverfassungsgericht.
In der Folge gab es eine Kampagne unter Landwirten.
In direkten Schreiben wiesen sie die Schlachthöfe,
Molkereien usw. darauf hin, gegebenenfalls die für die
Zwangsabgabe abgezogenen Beiträge wieder zurückzu-
fordern. Die Konsequenzen sind bekannt: Durch die er-
forderlichen finanziellen Rückstellungen können die
CMA und auch die ZMP nicht mehr in gewohnter Weise
weiterarbeiten. Die Bauern, die für ihre Rückforderungs-
optionen die Briefe an die Verarbeitungsbetriebe ge-
schrieben haben, waren allerdings vermutlich nicht die-
jenigen 1 000 Landwirte, die in einer Umfrage des
Bauernverbands während der Grünen Woche als große
Befürworter der CMA vorgestellt wurden. Die Frage
stellt sich: Welcher Teil der Landwirtschaft stellt die
Mehrheit dar?
Es waren immerhin genügend Landwirtinnen und
Landwirte, die zur Wahrung ihres eigenen Rechtes auf die
Rechtslage hingewiesen haben, um die CMA und die mit
ihr verbundene ZMP in eine finanzielle Notlage zu brin-
gen. Die zeitlich befristeten Stellen in den Institutionen
wurden bereits gekündigt, einige der üblichen – allerdings
auch nicht unumstrittenen – Kampagnen der CMA muss-
ten auf Eis gelegt werden.
Das ist unbestritten eine schwierige Situation. Aller-
dings bleibt offen, ob der Schaden für die Absatzsitua-
tion inländischer Produkte wirklich so dramatisch ist,
wie er beschrieben wird. Der Absatzfonds existiert
bereits seit 1969. Trotzdem ist bis heute durchaus um-
stritten, ob die durch ihn finanzierten Werbe- und Ab-
satzkampagnen wirklich zu einem höheren Absatz ein-
heimischer Produkte geführt haben. Zudem leben wir
unterdessen in einem gerade auf dem Agrarsektor weit-
gehend harmonisierten europäischen Binnenmarkt mit
offenen Grenzen. Nach EU-Recht darf unterdessen nicht
mehr für staatlich, das heißt national abgegrenzte Pro-
dukte geworben werden. Die CMA hat das durchaus be-
rücksichtigt, indem für Warengruppen wie Milch oder
Fleisch ohne Kennzeichnung der nationalen Herkunft
geworben wurde. Haben diese Marketingaktionen dann
aber die beabsichtigte große Wirkung, dass es noch
messbare Absatzvorteile für heimische Produkte gibt?
Das bleibt zumindest umstritten. Tatsache ist, dass viele
Betriebe offensichtlich die Arbeit des Absatzfonds nicht
bemerken – außer bei den regelmäßigen Abzügen in den
Lieferabrechnungen für Milch, Getreide oder Tiere.
Andererseits: Die CMA-Siegel erfreuen sich bei den
Verbraucherinnen und Verbrauchern trotz der Präsenz
über Jahrzehnte immer noch erstaunlicher Unbekannt-
heit. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Absatzwer-
bung von Markenprodukten der Lebensmittelindustrie
nichts mit der CMA-Werbung zu tun hat. Die Lebens-
mittelindustrie wirbt für sich und für ihre Produkte, wie
wir wissen, mit zum Teil großen Erfolg. Diese Werbung
finanziert sie selbst und völlig freiwillig. Im Übrigen
macht das auch jede Landwirtin oder jeder Landwirt bei
der eigenen Direktvermarktung oder für den eigenen
Hofladen!
7996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
Die Freiwilligkeit ist dabei der große Knackpunkt, der
auch vor dem Verfassungsgericht womöglich entschei-
dend ist. Landwirte, die wegen Verbandsproduktionen,
zum Beispiel bei Neuland oder Bioland, zum Teil noch
erhebliche eigene Beiträge zum Marketing dieser Ver-
bände zahlen, sehen erst Recht nicht ein, warum sie noch
Zwangsbeiträge an eine so anonyme Institution wie die
CMA zahlen sollen.
Aber: Es gibt durchaus Tätigkeiten des Absatzfonds,
die gerade aus heutiger Sicht als unverzichtbar erschei-
nen. So sind die Preismeldesysteme der ZMP für viele
Betriebe eine wichtige Orientierungshilfe geworden.
Auch für sich entwickelnde Marktbereiche wie der Bio-
markt kann die ZMP viel zur Orientierung in der Preis-
findung beitragen. Fragt man die Betriebsleiterinnen und
Betriebsleiter nach der CMA und der ZMP, kommt so-
fort und viel Positives über den Nutzen, den die ZMP für
die Betriebe bringt.
Aus unserer Sicht sollte es in der Diskussion der Ge-
setzesnovelle auch darum gehen, die CMA und ZMP zu-
kunftsfähig zu machen. Das heißt: eine Evaluation und
dann Konzentration auf die Aufgaben, die aus der Sicht
der beteiligten Beitragszahler sinnvoll und notwendig er-
scheinen. Die Linke fordert ein Zukunftskonzept der
CMA und der ZMP, wobei vielleicht notwendige Um-
strukturierungen natürlich sozialverträglich und unter
Wahrung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer vollzogen werden müssen. Da-
bei muss es auch darum gehen, dass die betroffenen
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler das Finanzie-
rungssystem der Institutionen akzeptieren. Ein Auftrag,
der im Gesetzentwurf der Regierung noch nicht im An-
satz aufgenommen worden ist.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Die
CMA veröffentlichte jüngst die Ergebnisse einer Befra-
gung: Demnach halten 71 Prozent der Landwirte die Ar-
beit der CMA für wichtig, um die Wertschätzung für hei-
mische Produkte bei den Verbrauchern zu unterstützen,
58 Prozent sind der Ansicht, die CMA stehe hinter den
deutschen Bauern. Die Werbeaktivitäten der CMA be-
werteten 59 Prozent der Befragten mit „gut“.
Die CMA präsentiert diese Zahlen mit Stolz und wer-
tet sie als Bestätigung ihrer Arbeit. Es kann bezweifelt
werden, ob diese Schlussfolgerung berechtigt ist. Im
Umkehrschluss deuten die Ergebnisse allerdings darauf
hin, dass fast 30 Prozent der Landwirte die Arbeit der
CMA für unwichtig halten, dass mehr als 40 Prozent
nicht den Eindruck haben, die Organisation, die sie aus
ihren Abgaben finanzieren, steht wirklich hinter ihnen,
und von der Qualität der Werbemaßnahmen sind auch
mehr als 40 Prozent nicht überzeugt. Das ist also gerade
kein gutes Zeugnis, das die Landwirtschaft der Zentralen
Marketingagentur hier ausgestellt hat.
Die Legitimationskrise des Absatzfonds ist nicht neu.
Das EU-Recht lässt für herkunftsbezogene Werbemaß-
nahmen nur noch einen geringen Spielraum. Die Frage,
ob überhaupt und in welchem Maße die Abgabe zahlen-
den deutschen Erzeuger auch wirklich profitieren, wird
seit Jahren kontrovers diskutiert.
Durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts
Köln vom Mai 2006 und der darin geäußerten Zweifel an
der Verfassungskonformität wurde aus der schwelenden
Krise dann schlagartig eine existenzielle Bedrohung. Die
Flut an Klageverfahren, die folgte, zeigte das Ausmaß an
Misstrauen und Unzufriedenheit in weiten Kreisen der
Verarbeitungsbetriebe und bei den Landwirten. Kritik
kommt auch vonseiten der Verbraucherverbände. Mit
ihren Werbesprüchen hat die CMA doch einige Male
daneben gelegen.
Mit stark gekürzten Etats müssen sich CMA und
ZMP nun vorerst über die Runden retten. Eine Entschär-
fung der Krise erhoffen sie sich durch den hier vorlie-
genden Gesetzentwurf. Daher wird im Begründungsteil
sehr ausführlich zum Zweck und zur Aufgabenstellung
des Absatzfonds Stellung genommen und die Bedeutung
der Absatzförderung für die deutsche Land- und Ernäh-
rungswirtschaft dargestellt.
Bei der kleinen Novelle des Absatzfondsgesetzes geht
es ja eigentlich um eher unbedeutende, technische Ände-
rungen. Die neue Regelung zur Erstattung der Personal-
und Sachkosten aus dem Absatzfonds an die Bundesan-
stalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) entspricht
dem Gebot einer aufgabenbezogenen Verteilung der Aus-
gabenlast. Rot-grün hatte diese Kostenerstattung – unter
massiver Kritik der Union – bereits beschlossen. Im Er-
gebnis hat die CDU das Gesetz im Bundesrat vor der vor-
gezogenen Neuwahl sterben lassen. Interessant ist, dass
sie diese Regelungen jetzt völlig widerstandslos mitträgt.
Die vorgesehene Änderung in der Zusammensetzung
des Verwaltungsrates, die Verlängerung der Amtszeiten
des Vorstandes und der Verwaltungsratsmitglieder, die
Fristverlängerungen: hier lohnt es sich eigentlich auch
nicht wirklich, groß drüber zu streiten.
Ich möchte hier und heute zur verfassungsrechtlichen
Frage keine Stellung beziehen. Diese Frage wird noch
eingehend zu prüfen sein. Wir haben ja auch die Anhö-
rung dazu am 7. März im Ausschuss. Ich gehe momen-
tan nicht davon aus, dass der Absatzfonds durch Karls-
ruhe zu Fall gebracht wird.
Die Legitimationskrise des Absatzfonds lässt sich
aber nicht durch eine kleine Novelle lösen, und auch
nicht durch Gerichtsurteile, wie jüngst durch das Ver-
waltungsgericht München. Das eigentliche Problem ist:
Der Absatzfonds hat keine wirkliche Rückendeckung,
weder seitens der Lebensmittelwirtschaft noch seitens
der Bäuerinnen und Bauern. Das wird aus den Pressebe-
richten und auch aus den zahlreichen Zuschriften, die ich
und sicher auch die Kollegen aus den anderen Fraktio-
nen in den letzten Monaten erhalten haben, allzu deut-
lich.
Seit langem fordern die Grünen und kritische Organi-
sationen wie das Agrarbündnis, aber auch die Wirt-
schaft, eine radikale Reform. Der Absatzfonds braucht
ein neues Konzept. Die Arbeit der CMA gehört auf den
Prüfstand. Kritik kommt nicht nur von den Beitragszah-
lern, auch von unabhängigen Wissenschaftlern, wie bei-
spielsweise Prof. Dr. Tilman Becker von der Universität
Hohenheim. Er vertritt die These, dass insbesondere die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7997
(A) (C)
(B) (D)
Maßnahmen der gattungsbezogenen Werbung weitge-
hend wirkungslos sind und vermutlich kaum zu einer
Einkommensverbesserung der Landwirte beitragen.
Akzeptanz findet die Absatzförderung dagegen im
Bereich des zentral-regionalen Marketings, denn hier be-
stehen echte Chancen, den Absatz regionaler Produkte
zu fördern und zur Steigerung der Wertschöpfung und
zum Erhalt von Arbeitsplätzen beizutragen. Auch Ex-
portförderung hat ihre Berechtigung. Ebenfalls sehr
sinnvoll sind Maßnahmen zur Schaffung von mehr
Transparenz für die Verbraucher und zur Qualitätssiche-
rung.
Hauptkritik ist auch die fehlende Evaluierung von un-
abhängiger Seite. Die Erfolgskontrolle der CMA ist un-
zureichend. Ein hoher Bekanntheitsgrad der CMA ist ein
Beleg für erfolgreiche Werbung in eigener Sache, doch
das nützt nicht unbedingt auch den Beitragszahlern, dem
Image und dem Absatz der Produkte. Ich fordere daher
eine transparente und objektive Erfolgskontrolle, ebenso
eine Transparenz bei der Mittelverwendung statt perma-
nenter Heimlichtuerei. Die Beitragszahler, aber auch die
Steuerzahler haben ein Anrecht darauf, zu erfahren, wo-
für ihre Gelder verwendet werden und ob Maßnahmen
die gewünschte Wirkung erzielt haben oder nicht.
Ich stelle auch in Frage, ob die CMA als zentrale
Agentur alles abwickeln muss. Viel besser wäre es, die
unterschiedlichen Aufgabenbereiche jeweils im Aus-
schreibungsverfahren an geeignete Bewerber zu verge-
ben. Auch in diesem Bereich wäre weniger Monopol
und mehr Wettbewerb sicherlich ein Gewinn an Effi-
zienz und Qualität.
Dennoch halte ich die Arbeit des Absatzfonds für
wichtig. Es wäre sehr gefährlich, das Instrument des
staatlich geförderten Agrarmarketings in Deutschland
aufzugeben. Damit würde dieses Feld der Nahrungsmit-
telindustrie überlassen, mit möglichen weiteren negati-
ven Folgewirkungen für das Ernährungsverhalten. Die
anderen Mitgliedstaaten der EU verfügen über ver-
gleichbare Instrumente des aus Abgaben und öffentli-
cher Kofinanzierung gespeisten Gemeinschafsmarke-
tings, in Frankreich beispielsweise betragen die
Aufwendungen dafür 286 Millionen Euro in 2003, in
Deutschland 159 Millionen Euro und in den Niederlan-
den 102 Millionen Euro.
Die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft
braucht dieses Instrument, um im Wettbewerb weiterhin
bestehen zu können. Lebensmittel brauchen mehr Wert-
schätzung, ebenso wie Agrarkultur, Genuss und Gesund-
heit. Marktorientierung und Wettbewerb in der Land-
wirtschaft werden zunehmen, wie wir alle wissen, und ja
auch vom Grundsatz her begrüßen. Wir Grüne setzen
uns dafür ein, dass im Wettbewerb Qualität sowie hohe
Standards und die besonderen Leistungen der Landwirt-
schaft für Tierschutz oder Naturschutz gestärkt werden.
Dafür können die Möglichkeiten der mit öffentlichen
Geldern bezuschussten Absatzförderung genutzt wer-
den.
In jeder Krise steckt auch eine Chance. Ich hoffe, der
Absatzfonds nutzt endlich diese Chance, zum Wohle der
Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft in Deutsch-
land. Ohne grundlegende Reform kann das Instrument
„Zwangsabgabe“ nicht mehr aufrechterhalten werden.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
– Entwurf eines Gesetzes zu dem Zusatzproto-
koll vom 12. September 2002 zum Überein-
kommen vom 16. November 1989 gegen Do-
ping
– Antrag: Bekämpfung des Dopings im Sport
(Tagesordnungspunkt 25, Zusatztagesordnungs-
punkt 11)
Bernd Heynemann (CDU/CSU): Der Deutsche
Olympische Sportbund hat in seinem Positionspapier zum
Staatsziel Sport unter Punkt 3.3 – Wertevermittlung – Fol-
gendes festgehalten:
Der Sport bietet vor allem jungen Menschen die
Gelegenheit, ihre Grenzen auszuloten. Damit
verbunden ist auch das Lernen, mit Misserfolgen
umzugehen, seine Gegner zu respektieren, sich an
Spielregeln zu halten, als Teamplayer zu agieren.
Sportvereine sind „Schulen der Demokratie“, da sie
viele Beteiligungsmöglichkeiten – gerade für
Jugendliche – bieten. Sie vermitteln in großem
Umfang die Werte unserer Gesellschaft.
Gerade der sportliche Wettkampf ist eine Herausfor-
derung an die eigene Leistungsfähigkeit. Dopingmittel
werden eingesetzt, um Sieger zu sein. Das ist Betrug und
hat keinen Wert. Seit dem Vorliegen des Gesetzentwurfes
vom Oktober 2005 sind viele unrühmliche, aber medien-
wirksame Dopingfälle passiert. Das größte Beispiel ist
aus meiner Sicht der Dopingverdacht bzw. der wahr-
scheinliche Dopingbetrug von Jan Ullrich, dem ehemaligen
Tour-de-France-Sieger. Aber allein dieses Beispiel zeigt
uns, wie mehrdimensionial dieser Dopingbetrug ist und
wie gut koordiniert er abläuft. Der vor wenigen Wochen
debattierte Gesetzentwurf gegen Doping hat in seinen
Paragrafen 5, 7 und 8 Maßnahmen zur innerstaatlichen
Koordinierung sowie zur Einschränkung der Verfügbar-
keit von verbotenen Wirkstoffen festgelegt. Die Frage ist
nun: Wie kann Doping verhindert werden? Es gab viele
Beispiele für eine freiwillige Verpflichtung der Athleten,
für Verpflichtungen zur Rückzahlung erhaltener unberech-
tigter Prämien, zu mehr Transparenz, Trainingskontrol-
len, und auch für schärfere Gesetzesanwendungen. Do-
ping war und ist noch immer ein Thema. Gerade zu
DDR-Zeiten wurde es wissenschaftlich und teilweise
ohne Wissen der Athleten flächendeckend betrieben. So
hat der Nachfolgekonzern des VEB Jenapharm, die jet-
zige Jenapharm, im letzten Jahr 184 Dopingopfern des
DDR-Sports ein Schmerzensgeld in Höhe von je
9 250 Euro auf freiwilliger Basis gezahlt, und ebenso hat
sich der DOSB mit 167 DDR-Dopingopfern verständigt.
Wir befassen uns im Bundestag schon längere Zeit
mit dem Thema Doping und Antidopingmaßnahmen,
7998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
und das nicht nur seit Vorliegen des Gesetzentwurfes aus
dem Jahr 2005. Wir hatten im letzten Jahr zu diesem
Thema eine Anhörung im Sportausschuss. Am Ende
stellte sich die Frage nach der Unterstützung des Staates
bei der Dopingbekämpfung: Ist politisches Handeln not-
wendig? Im Kern war folgende juristische Frage zu
beantworten: Soll der Besitz von Dopingsubstanzen straf-
frei bleiben? Der DOSB hat sich mit seinem 10-Punkte-
Programm vom Dezember 2006 in Weimar für ein ver-
schärftes Arzneimittelgesetz, gegen ein Strafgesetz und
gegen den Straftatbestand des Besitzes von Dopingmitteln
ausgesprochen. Wer aber ein Strafgesetz fordert, muss
wissen, dass ein solches Gesetz nicht nur für den Hoch-
leistungssport gemacht werden kann; es gilt dann für alle
Bürger, das heißt auch für die Nutzer der vielen Fitness-
studios. Wer sollte das dann – mit welcher Konsequenz
und welchem Aufwand – kontrollieren und umsetzen?
Ganz zu schweigen vom eingeleiteten Anfangsverdacht,
sprich Anzeige bzw. Denunziation! Den Straftatbestand
Sportbetrug im Gesetz zu verankern ist äußerst schwierig
und fragwürdig. Dann ist beim Fußball die Schwalbe im
Strafraum ein Gesetzesverstoß. Das kann doch niemand
ernsthaft staatlich verfolgen wollen.
Wir als CDU/CSU-Fraktion sehen uns hier auf einer
Linie mit Dr. Michael Vesper, dem Generaldirektor des
DOSB. Er sagt unter anderem: Im Kampf gegen Doping
müssen Sport und Staat Hand in Hand arbeiten. Jeder da,
wo er am besten ist. Sportler, die dopen, bestraft der
Sport selbst und geradezu brutal. Bei positiven Tests
kennt er keine Unschuldsvermutung, er verhängt Sperren,
die nicht nur in Deutschland, sondern international greifen
und einem Berufsverbot gleichkommen. Und er tut das
sofort ohne langwierige Verfahren. Für ein Urteil
braucht man oft Jahre.
Ich glaube, das ist das härteste Mittel, das einen
Sportler treffen kann: dass er nicht mehr seinen Sport
ausüben darf. Außerdem ist es im Sport so, dass ein positiv
getesteter Athlet seine Unschuld beweisen muss. Im
staatlichen Rechtssystem ist es dagegen umgekehrt: Hier
muss der Staat die Schuld nachweisen. Der Athlet
könnte aufgrund seines Zeugnisverweigerungsrechts
Tests ablehnen. In der Sportgerichtsbarkeit würde dies
dagegen zu einer sofortigen Sperre führen. Gäbe es aber
den Fall, dass ein vermeintlicher Dopingsünder durch
die Sportgerichtsbarkeit gesperrt ist und ein Gericht ihn
zwei Jahre später mangels Beweisen freispricht, dann
würden die Strafen des Sports angreifbar, der konse-
quente Kampf gegen das Doping würde ausgehebelt.
Den Athleten mit dem Strafrecht nur zu drohen, ist keine
Problemlösung.
Das nun vorliegende Zusatzprotokoll zum Kampf gegen
Doping ist eine praktikable und notwendige Ergänzung
zum Übereinkommen vom 16. November 1989. Mit der
Unterzeichnung durch die Bundesrepublik Deutschland
hat sich eine bedeutende Sportnation klar bekannt, die
Wirksamkeit der Kontrollen zu erhöhen, zu harmonisieren,
zu akzeptieren und multilateral umzusetzen. Wer sich als
Staat nicht per Unterschrift zu diesem Protokoll und seiner
inhaltlichen Umsetzung bekennt, darf sich durchaus dem
Ruf ausgesetzt sehen, dem Doping etwas Positives abge-
winnen zu wollen. Die WADA, die Anti-Doping-Welt-
agentur, und auch die NADA, die Nationale Antidoping-
agentur, werden jetzt in ihrer Kompetenz und ihrer
begleitenden Rolle im Hochleistungssport gestärkt.
Es bedarf keines zusätzlichen Antrages durch die Frak-
tion der Grünen, weil dieses vorliegende Zusatzprotokoll
den Umsetzungsaufgaben voll gerecht wird. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion stimmt für die Ratifizierung
dieses Protokolls und sieht darin einen weiteren Schritt in
Richtung eines sauberen Sports.
Dr. Peter Danckert (SPD): Bereits in der vergangen
Sitzungswoche haben wir uns hier an dieser Stelle mit
der Dopingproblematik auseinandergesetzt. Dabei ging
es darum, das Internationale Übereinkommen der
UNESCO vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im
Sport zu verabschieden. Das Übereinkommen enthält
wichtige Regelungen zur weltweiten Vereinheitlichung
staatlicher Maßnahmen gegen Doping im Sport. Damit
ist der Weg für eine internationale Bekämpfung von Do-
ping im Sport frei.
Dass das Thema Doping auch heute erneut auf der Ta-
gesordnung des Deutschen Bundestages steht, zeigt, dass
Doping im Bereich des nationalen und des internationa-
len Spitzensports ein ernsthaftes Problem darstellt, das
der Sport allein nicht in der Lage ist zu lösen. Doping im
Sport ist Betrug am Mitbewerber, an den Zuschauern
und an der Öffentlichkeit.
Das heute in erster Lesung zu beratende Gesetz zu
dem Zusatzprotokoll vom 12. September 2002 zum
Übereinkommen des Europarates vom 16. November
1989 ist ein weiteres Instrument für eine effektive Do-
pingbekämpfung. Es verpflichtet alle Vertragsparteien
zur gegenseitigen Anerkennung der Durchführung von
Dopingkontrollen. Bisher war dies nur auf der Grund-
lage bilateraler Abkommen geregelt. In Zukunft erken-
nen die Vertragsparteien gegenseitig die Zuständigkeit
von Sportorganisationen oder nationalen Antidoping-
Stellen an, in ihrem Hoheitsgebiet Dopingkontrollen bei
Sportlern aus dem Hoheitsgebiet anderer Vertragspar-
teien durchzuführen. Entscheidend ist auch, dass die Er-
gebnisse gegenseitig anerkannt werden. Damit ist zu-
mindest auf europäischer Ebene sichergestellt, dass
zwischenstaatliche Dopingkontrollen besser koordiniert
werden können.
Darüber hinaus erkennen die Vertragsparteien durch
das Zusatzprotokoll die Zuständigkeit der Welt-Anti-Do-
ping-Agentur (WADA) und anderer ihr unterstellter Do-
pingkontrollorganisationen für die Durchführung von
Kontrollen auch außerhalb von Wettkämpfen bei den
Sportlern an. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt.
Denn gerade bei den Dopingkontrollen – national wie in-
ternational – liegt noch vieles im Argen. Die brisante
Reportage der beiden Journalisten Hajo Seppelt und Jo
Goll, die am 18. Januar 2007 in der ARD ausgestrahlt
worden ist, hat sicherlich vielen von uns die Augen ge-
öffnet. Hier war von 400 Fällen im Jahr 2006 die Rede,
bei denen Athleten zu Dopingtests nicht angetroffen
worden waren. Wie kann das sein? Bei den strengen Re-
geln von NADA und WADA-Code dürfte das eigentlich
nicht der Fall sein.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 7999
(A) (C)
(B) (D)
In der gestrigen öffentlichen Anhörung des Sportaus-
schusses mit Vertretern der Nationalen Antidoping-
agentur (NADA), des DOSB, Dopingkontrolleuren und
Spitzenathleten – wer die Sitzung gestern verpasst hat,
kann sich diese am 7. Februar 2007 auf Phoenix nach-
träglich anschauen – hatte ich alle Beteiligten um Auf-
klärung gebeten. Dabei hat die NADA Fehler bei der
Umsetzung des Dopingkontrollsystems eingeräumt. Im
vergangenen Jahr hätten 201 Fälle von nicht angetroffe-
nen Sportlern – so genannte Missed Tests – an die Sport-
verbände, die für die Sanktionierung des Athleten zu-
ständig sind, weitergegeben werden müssen. Dies ist
nicht geschehen.
Noch etwas anderes ist bei der gestrigen Anhörung
zutage getreten: Viele Athleten wissen nicht, dass sie al-
lein dafür verantwortlich sind, die erforderlichen Anga-
ben zu Aufenthaltsort und Erreichbarkeit zu machen.
Hier muss eine bessere Aufklärung der Athleten erfol-
gen.
Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu dem
vorliegenden Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen. Ich bedauere, dass die Grünen den in der ver-
gangenen Woche von der Koalition eingebrachten Vor-
schlag, den Besitz nicht geringer Mengen bestimmter
Dopingsubstanzen (auch beim Sportler) unter Strafe zu
stellen, ablehnen. Stattdessen unterbreiten sie uns in ih-
rem gestern nachträglich eingebrachten Antrag den Vor-
schlag zur Verankerung eines Straftatbestandes der „Ver-
fälschung des wirtschaftlichen Wettbewerbs im Sport,
der im wirtschaftlich relevanten Bereich des Sports die
Wettbewerbsverzerrungen durch Einsatz von Doping-
mitteln“ unter Strafe stellt.
In dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen heißt es:
„Sportlerinnen und Sportler, die nicht geringe Mengen
von Dopingmitteln mit sich führen, können schon heute
strafrechtlich belangt werden, wenn wegen der Menge
nicht davon auszugehen ist, dass es sich nur um Doping-
substanzen zur eigenen Verwendung handelt.“ Diese
Auffassung ist schlicht falsch, weil bislang allein der Be-
sitz von unerlaubten Substanzen nach dem Arzneimittel-
gesetz (AMG) nicht strafbar ist.
Ich bin überzeugt, dass der Kompromiss der Koali-
tionsfraktionen der Durchbruch im Kampf gegen Doping
ist. Selbst der Deutsche Olympische Sportbund, der be-
kanntlich in der Frage der Besitzstrafbarkeit anderer
Auffassung war, beteuert, „dass alles das, was nun in das
Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Bundesrat
eingebracht wird, im Einklang steht mit dem, was wir in
Weimar nach eingehenden Beratungen in unserem Ak-
tionsplan beschlossen haben“. Na bitte!
Dagmar Freitag (SPD): Am 15. Februar 2006 hatte
die Bundesrepublik Deutschland in Straßburg das Zu-
satzprotokoll vom 12. September 2002 zum Überein-
kommen des Europarates vom 16. November 1989 ge-
gen Doping unterzeichnet. Mit dem nun von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf stimmen
wir dieser Zusatzvereinbarung formal zu.
Wir erwarten, dass durch die im Zusatzprotokoll gere-
gelten Vereinbarungen zwischen den Vertragsstaaten die
Effektivität der Dopingkontrollen erhöht wird. Bisher
war eine gegenseitige Durchführung und Anerkennung
von Dopingkontrollen zwischen den einzelnen Vertrags-
staaten nicht geregelt. In Zukunft werden sich die Staa-
ten, die das Zusatzprotokoll in nationales Recht umset-
zen, gegenseitig ermächtigen, Dopingkontrollen bei
Sportlerinnen und Sportlern aus dem Hoheitsgebiet an-
derer Vertragsparteien nicht nur durchzuführen und an-
zuerkennen, sondern das Ergebnis dieser Kontrollen
auch den jeweiligen nationalen Antidopingorganisa-
tionen und dem betroffenen Sportverband zur Verfügung
zu stellen. Dies ist ein weiterer Schritt in Richtung einer
effektiveren Bekämpfung des Dopings über Landesgren-
zen hinaus, nachdem wir in der vergangenen Sitzungs-
woche das Gesetz zum Internationalen Übereinkommen
vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport verab-
schiedet haben, das eine UNESCO-Konvention umset-
zen und den Staaten erstmals ein weltweites Instrument
für eine umfassende Dopingbekämpfung zur Verfügung
stellen wird.
Mit dem heute in erster Lesung beratenen Gesetzent-
wurf wird zumindest in den europäischen Vertragsstaa-
ten eine weitere Lücke geschlossen, die bisher von Ath-
letinnen und Athleten, die Doping zur unerlaubten
Leistungssteigerung anwenden, genutzt werden konnte.
Das Zusatzprotokoll erkennt über die europäische Ebene
hinaus die „Zuständigkeit der Welt-Anti-Doping-Agen-
tur (WADA) und anderer ihr unterstellter Dopingkon-
trollorganisationen für die Durchführung von Kontrollen
auch außerhalb von Wettkämpfen bei ihren Sportlerin-
nen und Sportlern“ an. Wir müssen – auf politischer und
sportpolitischer Ebene – auch weiterhin auf eine Harmo-
nisierung der auf internationaler Ebene geltenden Regu-
larien hinarbeiten.
Doping ist ein internationales Problem, dass sowohl
die Sportverbände, die Antidopingorganisationen, aber
auch die Regierungen weltweit dazu veranlassen muss,
härtere Bandagen im Kampf gegen das Doping anzule-
gen. Die Koalitionsfraktionen haben auf diesem Weg mit
der vor kurzem getroffenen Vereinbarung einen großen
Schritt in Richtung einer effektiven und wirksamen Ahn-
dung von Dopingvergehen gemacht. In Zukunft soll der
Besitz nicht geringer Mengen von bestimmten Doping-
substanzen unter Strafe gestellt werden.
Eins muss jedoch klar sein: auf diesem unbestrittenen
Fortschritt dürfen wir uns nicht ausruhen; im Gegenteil:
alle, denen an einem glaubwürdigen Antidopingkampf
gelegen ist, sind nach den Erkenntnissen der letzten
Sportausschussitzung aufgefordert, sich den dort offen-
kundig gewordenen Problemen zu stellen und für Ab-
hilfe zu sorgen. Verbände müssen sicher sein können,
zeitnah über Regelverstöße ihrer Athletinnen und Athle-
ten informiert zu werden; nur dann können die Sanktio-
nen umgesetzt werden. Weitere Versäumnisse darf es an
dieser Stelle nicht mehr geben. Weiterhin muss die Frage
beantwortet werden, ob das derzeitige System der Urin-
kontrollen den Aufwand und das Geld wirklich wert ist.
Denn, wie verwundbar muss ein System sein, in dem
Spitzensportler offenkundig jahrelang unentdeckt dopen
8000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
können? Die NADA hat die Spitzenverbände zu einem
Gespräch eingeladen; wir erwarten, dass dort auch Vor-
schläge gemacht werden, wie das Kontrollsystem zu-
mindest weitgehend wasserdicht werden kann. Hierzu
gehört sicher auch der Vorschlag, sich nicht ausschließ-
lich auf Urinkontrollen zu beschränken.
Zusätzlich zu dem vorliegenden Gesetzentwurf zu
dem Zusatzprotokoll vom 12. September 2002 zum
Übereinkommen vom 16. November 1989 gegen Do-
ping liegt uns ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Bekämpfung des Dopings im
Sport“ vor.
Nachdem die Koalitionsfraktionen sich in der vergan-
genen Sitzungswoche auf die bereits angesprochene Re-
gelung verständigen konnten – leider gab es für die auch
vom Kollegen Hermann in der Vergangenheit favori-
sierte Besitzstrafbarkeit dort in der Fraktion keine Mehr-
heit – haben wir es heute mit einem neuen Vorschlag zu
tun. Er scheint allerdings nach der Abstimmungsnieder-
lage in der Fraktion mit der berühmten heißen Nadel ge-
strickt zu sein. Anders ist kaum zu erklären, dass der
Forderungsteil fast ausschließlich auf den Vermögens-
schutz abhebt – von Doping gehen unbestritten erheblich
mehr Gefahren und Nachteile aus. Der Schutz der Ge-
sundheit spielt im vorliegenden Antrag eine völlig unter-
geordnete Rolle, kommt in eher lyrischer Form im Ein-
leitungsteil am Rande vor.
Und ebenso bedauerlich: die von der Koalition verab-
redete Einführung der Strafbarkeit des Besitzes nicht ge-
ringer Mengen näher bezeichneter Dopingsubstanzen
wird abgelehnt. Nicht nur bedauerlich – eigentlich un-
fassbar! Es findet ein Paradigmenwechsel statt, den auch
Nicht-Juristen verstehen können. Aber ich erkläre es
gerne noch einmal. Der heutige § 6 a AMG hat sich als
„totes Recht“ erwiesen, weil danach der Nachweis des
Inverkehrbringens erbracht werden musste. Die Erfolgs-
quote war gleich null. Nach der von uns vorgesehenen
Regelung muss zukünftig die Abgabeabsicht nicht mehr
nachgewiesen werden; der bloße Besitz einer nicht ge-
ringen Menge der betreffenden Substanzen reicht aus.
Damit wird die entscheidende Schwachstelle beseitigt.
Und das soll kein Fortschritt sein? Insgesamt geht es im
vorliegenden Antrag fast ausschließlich um den Schutz
der Interessen des Kommerzes im Sport und weniger um
die Ideale und den Schutz der Gesundheit von Sportlern.
Und die auch von uns geforderte Einführung von
Schwerpunktstaatsanwaltschaften macht natürlich nur
Sinn, wenn ein tatsächlich anwendbares Gesetz vorliegt.
Das ist bei der von uns vorgesehenen Regelung der Fall,
da hieran bei Dopingverdacht ein Tätigwerden der
Staatsanwaltschaft geknüpft werden kann. Fazit: Dieser
Antrag wird die Bekämpfung von Doping in Deutsch-
land nicht weiterbringen, deshalb wird dafür von uns
keine Zustimmung gegeben.
Detlef Parr (FDP): Erneut befassen wir uns heute mit
der Dopingproblematik im Plenum, wegen des Zusatz-
protokolls zum Übereinkommen vom 16. November
1989 gegen Doping, das wir vor zwei Wochen im Bun-
destag bereits angenommen haben, und des Antrags von
Bündnis 90/Die Grünen, auf den wir seit Jahren gewartet
haben, genauer gesagt, seit fast neun Jahren. In den sieben
Jahren Regierungsbeteiligung zusammen mit der SPD
kam es – trotz mehrfacher, großer Ankündigungen – zu
keiner nennenswerten Antidopinginitiative dieser Frak-
tion.
Jetzt hat sie einen ausführlichen Antrag vorge-
legt. Die beschriebenen Feststellungen beschreiben
die gegenwärtige Lage im Großen und Ganzen zu-
treffend, und die Forderungen decken sich zum großen
Teil mit denen des organisierten Sports, so zum Beispiel
was die Änderung des Arzneimittelgesetzes, die Rück-
forderung von Mitteln bei Verstößen gegen geleistete
Zusagen, die Kennzeichnungspflicht von Arzneimitteln
oder die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwalt-
schaften angeht.
Grundsätzlich könnten wir dem Antrag in diesen
Punkten zustimmen. Vor allem die Ablehnung der Be-
sitzstrafbarkeit des einzelnen Sportlers ist auch aus libe-
raler Sicht überzeugend. In der Tat ist es bereits heute so,
dass man gegen diejenigen vorgehen kann, die Doping-
substanzen zum Handel besitzen. Auch Sportlerinnen
und Sportler, die nicht geringe Mengen von Dopingmit-
teln bei sich haben, können heute nach geltendem Recht
strafrechtlich belangt werden. Die Kritik an dem Vorstoß
der Großen Koalition bezüglich der Festlegung dieser
Mengen ist gerechtfertigt. Probleme beim Vollzug dieser
Gesetzesvorschrift sind – wie das BTMG beweist –
leicht vorherzusagen.
Die Forderung in Teil II, Punkt 4, „Verankerung
eines Straftatbestandes der Verfälschung des wirtschaft-
lichen Wettbewerbs im Sport“, können wir allerdings
nicht mittragen. Die Möglichkeit eines Straftatbestandes
Sportbetrug wurde auch innerhalb der ReSpoDo disku-
tiert und fand schon damals keine Mehrheit. Auch im
Laufe der Anhörung zum Doping im Sportausschuss im
letzten Herbst wurde deutlich, dass diese Forderung
nicht umzusetzen sei. Wie soll eine effektive Abgren-
zung zwischen Freizeit- und Berufssport gewährleistet
sein? Ab welchem Vermögensvorteil würde man eingrei-
fen müssen? Die Gefahr einer Kriminalisierung großer
Bevölkerungskreise ist nicht zu übersehen.
Darüber hinaus scheint mir der Auffangtatbestand der
Manipulationen uferlos. Bei gleicher Anwendung müsste
man auch die Schwalbe im Strafraum – man denke an die
Millionen, die beispielsweise ein Champions-League-
Finale bringt – oder das unzulässige technische Equip-
ment in der Formel 1 unter Strafe stellen. Keiner kann
sich einen solchen Sachverhalt wünschen!
Zu Recht weist der Antrag der Grünen in der Einlei-
tung auf die Bedeutung des Sports und auf die Tatsache
hin, dass in vielen Landesverfassungen der Sport bereits
verankert ist. Kollege Hermann hat selber einst erklärt:
„Die Diskussion um eine Aufnahme des Sports in das
Grundgesetz muss vorangebracht werden.“ Genau dies
machen Sie mit diesem Antrag nicht. Hier hätte ich ein
stärkeres Zeichen erwartet: ein Plädoyer für den Sport
im Grundgesetz, auch in diesem Zusammenhang.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 8001
(A) (C)
(B) (D)
Die Grünen haben nun die Chance, im Sportausschuss
diese strittigen Punkte zu klären. Ich freue mich auf die
weiteren Beratungen im Sportausschuss.
Katrin Kunert (DIE LINKE): Nachdem Deutschland
dem internationalen Übereinkommen gegen Doping im
Sport beigetreten ist, müssen noch ausstehende Regularien
international geklärt werden. Somit ist der Entwurf eines
Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll zum Übereinkommen
gegen Doping nur folgerichtig.
Das Zusatzprotokoll schafft die Grundlage für die
gegenseitige Durchführung und Anerkennung von
Dopingkontrollen. Dadurch kann die Wirksamkeit der
Kontrollen erhöht werden. Bilaterale und multilaterale
Vereinbarungen können transparenter und effizienter
werden.
So positiv die Tatsache auch zu werten ist, dass in-
zwischen über 40 Staaten dem Übereinkommen gegen
Doping im Sport beigetreten sind, so vermisse ich schon
einige Sportnationen, die im wirksamen Kampf gegen
Doping wichtig wären.
Wenn wir über die Bekämpfung des Dopings im Sport
reden und über geeignete Maßnahmen streiten, müssen
viele Gesichtspunkte berücksichtigt werden. So finde ich
die Feststellung in der Einleitung des Antrages der Grünen
vom Ansatz her richtig. Dort heißt es: „Erkennbar ist
auch, dass der Sport alleine mit den Problemen nicht fertig
werden kann. Dies bedeutet nicht, dass staatliche Maß-
nahmen anstelle der Dopingbekämpfung durch den
Sport treten sollen. Vielmehr müssen Sport und Staat
ihre Maßnahmen und Strategien zur Dopingbekämpfung
verbessern.“
Die Grünen schlagen eine Vielzahl von Maßnahmen
vor, die in der Tat diskussionswürdig sind. Dieser Antrag
ist als Grundlage besser geeignet als die von der Koalition
nach hartem Ringen veröffentlichte Presseerklärung zu
diesem Thema. Die Erhöhung der bundesstaatlichen
Finanzmittel zur Dopingbekämpfung ist erforderlich.
Das sehen wir genauso.
Ein Sportfördergesetz des Bundes hat die Linke bereits
im Rahmen der Debatte um das Sportwettenmonopol
vorgeschlagen. Wir brauchen ein Sportfördergesetz – un-
abhängig vom Kampf gegen das Doping. Ein solches
Gesetz sollte sich nicht nur auf die Dopingbekämpfung
beschränken.
Problematisch an dem Antrag der Grünen ist jedoch,
dass ausweislich der Begründung auch bei Verstößen
durch einzelne Sportlerinnen und Sportler den Sport-
fachverbänden finanzielle Mittel gesperrt, gekürzt oder
zurückgefordert werden können. Hier würde ein ganzer
Verband für das Fehlverhalten eines einzelnen Sportlers
in Haftung genommen.
Die Frage, ob und inwieweit bestehende strafrechtliche
Sanktionen verschärft bzw. weitere Sanktionsmöglichkei-
ten – insbesondere gegen die Athletinnen und Athleten –
geschaffen werden sollten, sollte nicht vorschnell mit Ja
beantwortet werden. Auch ich lehne die Einführung der
sogenannten Besitzstrafbarkeit bei den Sportlern ab. Der
Vorschlag der Koalitionsfraktionen lässt offen, wie die
nicht geringe Menge zu bestimmen ist. Für den Bereich
des Sports ist es wohl unzumutbar, erst nach zeitintensiven
rechtlichen Auseinandersetzungen in dieser Frage Klar-
heit zu bekommen. Im Übrigen sind die Grenzwerte des
Betäubungsmittelgesetzes auf Dopingsubstanzen nicht
anwendbar.
Die vorgeschlagene Zusammenarbeit mit den Ländern,
Informations- und Aufklärungskampagnen oder der Infor-
mationsaustausch zwischen Staatsanwaltschaften, NADA
und Sportorganisationen und die Berichterstattung der
Bundesregierung zum Antidopingkampf sind zweifels-
ohne wichtige Maßnahmen im Kampf gegen Doping.
Aber bewältigen wir das Problem nur mit Sanktionen;
nur mit Maßnahmen gegen etwas?
Wir müssen für Bedingungen in dieser Gesellschaft
sorgen, die Doping uninteressant machen! Mir fehlen im
Antrag der Grünen Maßnahmen zur Stärkung des Sport-
lers oder besser gesagt das Wirken für den Sportler.
Die Gesellschaft verlangt von unseren Athleten immer
nur Spitzenleistungen. Die Öffentlichkeit kann himmel-
hoch jauchzend Siege feiern, aber wehe, die Deutschen
versagen mal.
Die Linke ist für eine umfassende Debatte zum Sport;
angefangen beim Schulsport bis hin zum Leistungssport.
Wie begleitet der Staat den Sportler von der Talentför-
derung bis zum Karriereende? Wie werden die Möglich-
keiten der Vereinbarkeit von Sport, Studium oder
Berufsausbildung geschaffen? Wie wird Sportwissen-
schaft betrieben, um effektivere Trainingsmethoden zu
entwickeln? Es gibt interessante Projekte, die sich diesen
Themen widmen.
Abschließend möchte ich noch einmal kurz auf die
gestrige Anhörung im Sportausschuss eingehen. Es hat
sich herausgestellt, dass die handelnden Akteure bei den
Dopingkontrollen sowohl Kommunikations- als auch
Auslegungsschwierigkeiten haben. Wichtig aber war für
alle Beteiligten, dass der Wille da ist, gemeinsam etwas
gegen Doping zu tun. In diesem Sinne werden wir, sobald
der bereits angekündigte Gesetzentwurf der Bundes-
regierung vorliegt, noch eine intensive Debatte führen
müssen.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Seit langem kündigt die Koalition Antragspakete und
Maßnahmenkataloge in der Dopingbekämpfung an.
Aber nichts haben Sie seit Ihrem Regierungsantritt vor-
gelegt. Es gibt keinen Antrag von Ihnen, es gibt keine
Gesetzesinitiative; Sie produzieren zahlreiche Inter-
views, die Ihre politische Handlungsunfähigkeit über-
spielen sollen. Denn seit Monaten blockieren Sie sich
selbst in der Frage der Besitzstrafbarkeit von Dopingmit-
teln. Das einzige, was Sie als Kompromiss in der Frage
einer Gesetzesveränderung zur Dopingbekämpfung an-
zubieten haben, ist eine Presseerklärung vom Januar die-
ses Jahres. Das ist jedoch eine ganz erstaunliche Lö-
sungsvariante, denn, meine sehr geehrten Damen und
Herren aus den Regierungsfraktionen, Pressemitteilun-
8002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
(A) (C)
(B) (D)
gen sind nicht antragsfähig im Sinne der Geschäftsord-
nung des Deutschen Bundestages.
Aber nicht nur die Regierungsfraktionen sind in die-
sem zentralen Bereich der Sportpolitik außer Tritt gera-
ten. Auch der für den Sport zuständige Bundesminister
Schäuble schwankt mit und trägt zur Verwirrung und zur
politischen Richtungslosigkeit in der Dopingbekämp-
fung bei. Einmal spricht er sich im September in einem
Interview für eine Besitzstrafbarkeit bei Dopingmitteln
aus. Aber schon kurze Zeit später ist er eingeknickt und
hat auf der Mitgliederversammlung des Deutschen
Olympischen Sportbunds (DOSB) in Weimar einen
Rückzieher gemacht. Alles nach dem Motto: Unter kei-
nen Umständen darf es in Deutschland ein Antidoping-
gesetz geben, denn nichts darf gegen den organisierten
Sport entschieden werden. Der Applaus bei einem Groß-
teil des organisierten Sports war ihm somit gewiss; das
Murren – auch aus den Koalitionsfraktionen heraus –
über dieses Übergehen des Parlaments bleibt.
Eigentlich hätte dem Minister in Weimar eine Diskre-
panz innerhalb des organisierten Sports auffallen müs-
sen: Denn besonders die Sportverbände, die besonders
von Dopingfällen ihrer Sportler betroffen sind – ich
nenne die Leichtathletik, den Bund Deutscher Radfahrer
und die Triathleten – haben deutlich für eine strafrechtli-
che Verantwortung von einzelnen Athletinnen und Ath-
leten Stellung bezogen. Dabei wird zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass sich Strafrecht und Sportgerichtsbarkeit
weder gegenseitig aufheben noch gegenseitig blockie-
ren.
Auch in einem anderen wichtigen Bereich der Do-
pingbekämpfung sind die bestehenden Probleme offen-
sichtlich. Die von der Nationalen Antidopingagentur
(NADA) für das Jahr 2006 eingeräumten 201 sogenann-
ten „missed tests“, also verpasste Trainingskontrollen
bei deutschen Athleten, können nicht auf persönliche
Fehler zurückgeführt werden. Es ist deutlich geworden:
Wir haben ein lückenhaftes Dopingkontrollsystem, das
in einer Legitimitätskrise steckt. Es werden zu viele
Athletinnen und Athleten nicht bei Trainingskontrollen
angetroffen, und es bestehen erhebliche Defizite beim
Nachweis von Dopingstoffen und angewendeten
Dopingmethoden. Darüber hinaus sind Manipulationen
durch die Athleten selbst und auch durch deren Umfeld
möglich. Es ist doch offensichtlich, dass etwas nicht
stimmt, wenn die in den zurückliegenden Jahren die
scheinbar am besten kontrollierten Athletinnen und
Athleten jetzt die Dopingschlagzeilen beherrschen.
Wir müssen das Kulturgut Sport, den fairen Wettbe-
werb besser schützen. Es müssen auch endlich die richti-
gen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, dass
sich Teile des Sports weiter kommerzialisiert haben und
daher auch Regeln ähnlich dem Wirtschaftsrecht ange-
wendet werden müssen. Der Sportbetrug durch Doping
muss bestraft werden, und die längst international täti-
gen kriminellen Dopingnetzwerke müssen stärker dem
Strafrecht unterzogen werden. Und auch der Sportler,
der durch Doping den wirtschaftlichen Wettbewerb im
Sport verfälscht, überwiegend also der Profisportler,
muss zukünftig mit strafrechtlichen Sanktionen rechnen.
Damit zeigt unsere Fraktion einen zeitgemäßen und auch
verfassungsrechtlich tragbaren Weg auf. Ich bedauere es
sehr, dass die große Koalition sich leider bisher nicht
ernsthaft damit auseinander gesetzt hat und nur schlicht-
weg Ablehnung signalisiert hat.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Dopingbe-
kämpfung muss konzeptionell und strukturell weiter ent-
wickelt werden: Wir brauchen erstens ein modernes und
funktionsfähiges Dopingkontroll- und Sanktionssystem,
wir brauchen zweitens eine finanziell gut ausgestattete
Antidopingforschung, und drittens muss eine wirkungs-
volle und umfassende Gesamtstrategie mit dem Schwer-
punkt Dopingprävention entwickelt werden.
In diese Richtung geht der vorliegende Antrag unse-
rer Fraktion.
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern: Mit dem vorliegenden
Gesetz zum Zusatzprotokoll vom 12. September 2002
zum Übereinkommen vom 16. November 1989 gegen
Doping liegt uns nach Verabschiedung der entsprechen-
den UNESCO-Konvention in der letzten Plenarwoche
erneut ein internationales Vertragsgesetz zur Doping-
bekämpfung vor. Das unterstreicht: Doping ist kein aus-
schließlich nationales Problem und kann daher nur in
einem abgestimmten internationalen Zusammenwirken
bekämpft werden. Vor diesem Hintergrund hat die Bun-
desregierung bereits 1992 das Übereinkommen des
Europarates vom 16. November 1989 gegen Doping
gezeichnet und 1994 ratifiziert.
Auf dieser Grundlage und den mit dem Übereinkom-
men bisher gesammelten Erfahrungen wurde das nun-
mehr zur Beratung anstehende Vertragsgesetz zum er-
gänzenden Zusatzprotokoll erarbeitet.
Das Zusatzprotokoll dient der internationalen Verein-
heitlichung der Verfahrensweise bei Dopingkontrollen
innerhalb der Vertragsstaaten sowie einer Verbesserung
der Beobachtung der Umsetzung der Verpflichtungen
nach dem Europäischen Übereinkommen vom 16. No-
vember 1989 gegen Doping. Ziel ist es, die Wirksamkeit
der Kontrollen zu erhöhen und zur Harmonisierung,
Transparenz und Effizienz der bilateralen und multi-
lateralen Dopingvereinbarungen beizutragen.
In dem Übereinkommen gegen Doping verpflichten
sich die Vertragsparteien, in den in ihm behandelten An-
gelegenheiten eng zusammenzuarbeiten und eine ähnli-
che Zusammenarbeit zwischen ihren Sportorganisatio-
nen zu fördern. Bisher wurden zur Erfüllung dieser
Verpflichtung zwischen einzelnen Staaten meist bilate-
rale Abkommen geschlossen. Zur Effizienzsteigerung
der Dopingkontrolltätigkeit und zur Gleichbehandlung
aller Athletinnen und Athleten ist die einheitliche Form
und die Ausdehnung der gegenseitigen Kontrolltätigkeit
auf alle Unterzeichnerstaaten ein Meilenstein.
Die Umsetzung der von den Unterzeichnerstaaten
freiwillig eingegangenen Verpflichtungen ist ein wesent-
liches Element der Harmonisierung und Verbesserung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007 8003
(A) (C)
(B) (D)
der Maßnahmen gegen das Doping. Die bisherige Vorge-
hensweise erschöpfte sich in der Sammlung von Einzel-
daten, die mithilfe eines Fragebogens abgefragt und
gesammelt veröffentlicht wurden. Die Fragestellung
konnte hierbei nicht die jeweiligen Besonderheiten der
Rechtslage in den Unterzeichnerstaaten berücksichtigen.
Deshalb ist das neue Instrumentarium deutlich weiter-
führend. Zweck des Zusatzprotokolls ist die Schaffung
einer international anerkannten rechtlichen Grundlage
zur Verbesserung der Dopingkontrolltätigkeit (Art. 7
Abs. 3 Nr. b) und die Stärkung der beobachtenden Be-
gleitgruppe bei der Beobachtung der Umsetzung der
Maßnahmen (Art. 11 Abs. 1 Satz 1).
Durch die Zustimmung zu diesem Protokoll wird
mehr Gerechtigkeit im Spitzensport geschaffen, weil alle
Sportlerinnen und Sportler der Unterzeichnerstaaten
gleichermaßen einem dichten Kontrollnetz unterworfen
werden. Allerdings bedingt dies auch, dass Verstöße ge-
meldet werden. Das auch auf diesem Gebiet Verbesse-
rung und Harmonisierung notwendig sind, hat die letzte
Sitzung des Sportausschusses verdeutlicht.
Durch das Verfahren der Evaluierung wird eine bes-
sere Vergleichbarkeit und damit Harmonisierungsgrund-
lage für die Umsetzung der Konvention geschaffen.
Auf das dem Zusatzprotokoll zugrunde liegende Eu-
roparatsübereinkommen wurde in der Diskussion der
letzten Monate um eine effektive Dopingbekämpfung
vielfach auch mit dem Argument verwiesen, Art. 4
Abs. 1 „fordere“ Maßnahmen zur Verhinderung des Be-
sitzes von Dopingmitteln. Die Einführung einer Besitz-
strafbarkeit des Sportlers sei daher geboten, Wortlaut so-
wie Sinn und Zweck von Art. 4 Abs. 1 fordern allerdings
nicht, den Besitz von Dopingmitteln unter Strafe zu stel-
len. Vielmehr haben – so wie bei der UNESCO-Konven-
tion gegen Doping – die Vertragsstaaten verschiedene
Handlungsoptionen zur Umsetzung dieser Bestimmung,
zum Beispiel Präventionsmaßnahmen, Verschreibungs-
pflicht, Verschärfung der Kontrollen und konsequente
Wettkampfsperren, um nur einige zu nennen.
Allerdings wäre die Besitzstrafbarkeit eine der mög-
lichen Alternativen, um der Zielrichtung des Europarats-
übereinkommens nachzukommen. Ich bitte um Zustim-
mung zum vorliegenden Gesetz.
79. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18