1) Anlage 32
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4145
(A) (C)
(B) (D)
eränderungsgesetz 2007 aus folgenden Gründen nicht
zu: Die Absenkung der Altersgrenze für die Gewährung
bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem
Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Ta-
gesordnungspunkt 3 a)
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Ich stimme dem Steu-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Adam, Ulrich CDU/CSU 29.06.2006*
Bär, Dorothee CDU/CSU 29.06.2006
Barnett, Doris SPD 29.06.2006*
Bartsch, Dietmar DIE LINKE 29.06.2006
Bollen, Clemens SPD 29.06.2006
Deittert, Hubert CDU/CSU 29.06.2006*
Fischbach, Ingrid CDU/CSU 29.06.2006
Fischer (Karlsruhe-
Land), Axel E.
CDU/CSU 29.06.2006*
Hilsberg, Stephan SPD 29.06.2006
Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 29.06.2006
Klug, Astrid SPD 29.06.2006
Kolbow, Walter SPD 29.06.2006
Link (Heilbronn),
Michael
FDP 29.06.2006
Lintner, Eduard CDU/CSU 29.06.2006*
Lopez, Helga SPD 29.06.2006
Multhaupt, Gesine SPD 29.06.2006
Niebel, Dirk FDP 29.06.2006
Strothmann, Lena CDU/CSU 29.06.2006
Anlagen zum Stenografischen Bericht
von Kindergeld bzw. kindbedingten Steuerfreibeträgen
auf die Zeit vor Vollendung des 25. Lebensjahres halte
ich zwar grundsätzlich für vertretbar. Unzureichend sind
jedoch die Übergangsfristen bei der Absenkung der Al-
tersgrenze, die zu kurz bemessen sind.
Die Beschränkung der Entfernungspauschale auf
Fernpendler, Ausschluss von 20 Entfernungskilometern,
halte ich für falsch und ungerecht. Alternativ hätte die
Werbekostenpauschale abgesenkt und die Entfernungs-
pauschale vom ersten Kilometer an beibehalten werden
müssen.
Siegmund Ehrmann (SPD): Die Beratungen zum
Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es in
sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachteili-
gung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn die
Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorgesehen
kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade diese
Berufsgruppe, die in den vergangen Jahren erhebliche
Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen und zu-
dem noch infolge der Verlagerung der Arbeitsplätze an
weiter entfernte Zechenstandorte zusätzliche Aufwen-
dungen hat, wird durch den Wegfall der bisher steuerfrei
entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt.
Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“
der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung
ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem ak-
tuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu-
mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren
können, um den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit
einer Kompensation einzuräumen. Die für Finanzen zu-
ständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion haben sich aber mit dem Argument des „fehlenden
Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine Beibehaltung
der Bergmannsprämie ausgesprochen und somit jedwede
Änderung vereitelt.
Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf-
fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags-
fraktion – und somit auch der Unterzeichner – erkennt
den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen
Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge-
genüber der Streichung der Entfernungspauschale und
der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem
21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech-
tere Modelle gegeben.
Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für
die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro
Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent-
fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu-
zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit
920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche
Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt
und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel
abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können.
Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer-
4146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen
müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem
die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells
ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti-
ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung
versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des
Alternativmodells vereitelt.
Gabriele Frechen (SPD): Das Steueränderungsge-
setz 2007 verfolgt das Ziel, weitere Steuervergünstigun-
gen und Ausnahmetatbestände abzubauen, den Finanzie-
rungsbeitrag von Spitzenverdienern zumindest in
geringem Umfang zu erhöhen und damit die öffentlichen
Haushalte zu konsolidieren. Diese Zielsetzung halte ich
für richtig. Deshalb stimme ich dem vorliegenden Ge-
setzentwurf der Regierungskoalition zu. Ich halte jedoch
die Kürzung der Entfernungspauschale für falsch. Die
Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Ar-
beitsplatz sind berufsbedingte Kosten und müssen damit
auch steuerlich als Werbungskosten anerkannt werden.
Das nun zur Entscheidung stehende Modell, das die
Wegekosten erst ab dem 21. Kilometer berücksichtigt, ist
nicht sachgerecht. Es führt zu einer ungerechten Vertei-
lung der zusätzlichen Belastungen. Im Lichte der Ergeb-
nisse der Expertenanhörung haben wir deshalb versucht,
diesen Punkt zu korrigieren und das vorgegebene Konso-
lidierungsvolumen durch eine geringere lineare Kürzung
der Pendlerpauschale sowie eine Absenkung des Arbeit-
nehmerpauschbetrags zu erreichen. Diese Lösung hätte
die Belastungen gerechter verteilt und die tatsächliche
Subventionierung durch die Arbeitnehmerpauschale re-
duziert. Obwohl Teile der Union außerhalb des Parla-
ments vorgegeben haben, für eine sachgerechte Lösung
offen zu sein, hat die CDU/CSU-Fraktion sich einer Ver-
besserung des Gesetzentwurfs verweigert.
Ich gehe auf Basis der juristischen Stellungnahme des
Bundesfinanzministeriums davon aus, dass die Heraus-
nahme der Pendlerpauschale aus den Werbungskosten
keine negativen Auswirkungen für die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer im Sozial- und Arbeitsrecht ha-
ben wird.
Für problematisch halte ich die komplette Streichung
der Bergmannsprämie ab 2008. Der Koalitionsvertrag
sah nur die Abschaffung der Steuerfreiheit vor. Das wäre
zumindest kurz- und mittelfristig die bessere Lösung ge-
wesen. Auch hier konnte keine Veränderung erreicht
werden. Außerdem habe ich mich für eine Verlängerung
der Übergangszeit bei der Absenkung der Bezugsdauer
des Kindergeldbezuges eingesetzt. Ich hielte eine wei-
tere Übergangsfrist von zwei Jahren für sachgerechter.
Da ich den Grundsatz und die Notwendigkeit der
Haushaltskonsolidierung für richtig halte, stimme ich
trotz der gemachten Bedenken diesem Gesetzentwurf zu.
Petra Hinz (Essen) (SPD): Die Beratungen zum
Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es in
sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachteili-
gung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn die
Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorgesehe-
nen kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade
diese Berufsgruppe, die in den vergangenen Jahren er-
hebliche Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen
und zudem noch infolge der Verlagerung der Arbeits-
plätze an weiter entfernte Zechenstandort zusätzliche
Aufwendungen hat, wird durch den Wegfall der bisher
steuerfrei entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt.
Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“
der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung
ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem
aktuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu-
mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren
können, um den Tarifvertragsparteien die Möglich-
keit einer Kompensation einzuräumen. Die für Finan-
zen zuständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion haben sich aber mit dem Argument des
„fehlenden Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine
Beibehaltung der Bergmannsprämie ausgesprochen und
somit jedwede Änderung vereitelt.
Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf-
fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags-
fraktion – und somit auch die Unterzeichnerin – erkennt
den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen
Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge-
genüber der Streichung der Entfernungspauschale und
der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem
21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech-
tere Modelle gegeben.
Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für
die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro
Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent-
fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu-
zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit
920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche
Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt
und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel
abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können.
Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer-
bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem
Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von
920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen
müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem
die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells
ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti-
ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung
versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des
Alternativmodells vereitelt.
Dr. Bärbel Kofler (SPD): Aufgrund der Änderungen
im Bereich der Entfernungspauschale sehe ich mich au-
ßer Stande, dem Steueränderungsgesetz zuzustimmen.
Nicht nur, dass es Arbeitnehmern insbesondere in ländli-
chen Regionen nicht zu vermitteln ist, dass ihre real ent-
stehenden Kosten zur Erhaltung ihres Arbeitsplatzes
steuerlich anders behandelt werden als vergleichbare
Aufwendungen Selbstständiger. Ich halte es auch für
nicht richtig, steuerliche Tatbestände zu schaffen, die ge-
gebenenfalls versicherungsrechtlich negative Folgen für
Arbeitnehmer nach sich ziehen. Darüber hinaus bin ich
der Meinung, die vorliegende Regelung ist verfassungs-
widrig. Entsprechende Klagen vor dem Bundesverfas-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4147
(A) (C)
(B) (D)
sungsgericht und daraus folgende Unsicherheiten für den
Bundeshaushalt tragen meines Erachtens nicht in dem
Maß zu der erhofften Konsolidierung des Haushaltes
bei.
Leider kann ich generell im Entwurf zum Steuerände-
rungsgesetz 2007 keinen ausgewogenen und gerechten
Beitrag aller Bevölkerungsteile zur Haushaltskonsolidie-
rung erkennen. Das weitaus größte Einsparvolumen
muss von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern er-
bracht werden. Diese Tendenz der Steuergesetzgebung
erfüllt mich mit großer Sorge.
Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Die Beratungen
zum Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es
in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachtei-
ligung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn
die Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorge-
sehenen kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade
diese Berufsgruppe, die in den vergangen Jahren erhebli-
che Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen und
zudem noch infolge der Verlagerung der Arbeitsplätze
an weiter entfernte Zechenstandorte zusätzliche Auf-
wendungen hat, wird durch den Wegfall der bisher steu-
erfrei entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt.
Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“
der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung
ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem
aktuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu-
mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren
können, um den Tarifvertragsparteien die Mög-
lichkeit einer Kompensation einzuräumen. Die für Fi-
nanzen zuständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion haben sich aber mit dem Argument des
„fehlenden Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine
Beibehaltung der Bergmannsprämie ausgesprochen und
somit jedwede Änderung vereitelt.
Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf-
fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags-
fraktion – und somit auch den Unterzeichner – erkennt
den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen
Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge-
genüber der Streichung der Entfernungspauschale und
der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem
21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech-
tere Modelle gegeben.
Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für
die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro
Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent-
fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu-
zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit
920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche
Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt
und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel
abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können.
Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer-
bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem
Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von
920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen
müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem
die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells
ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti-
ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung
versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des
Alternativmodells vereitelt.
Hilde Mattheis (SPD): Heute wird über den Koali-
tionsentwurf eines Steueränderungsgesetzes abgestimmt.
Ich halte vor allem die vorgesehenen Kürzungen bei der
Entfernungspauschale und die Absenkung der Alters-
grenze beim Kindergeld für falsch. Gleichzeitig habe ich
Verständnis für die Proteste der Lehrer und Lehrerinnen
bezüglich der Streichung der steuerlichen Absetzbarkeit
von häuslichen Arbeitszimmern. Daher werde ich gegen
diesen Gesetzentwurf stimmen.
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Trotz mei-
ner erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ge-
genüber der im Gesetzentwurf enthaltenen Regelung zur
Pendlerpauschale stimme ich diesem Gesetzentwurf,
16/1545, zu. Ich vertraue hierbei den Aussagen des Bun-
desfinanzministers, Herrn Peer Steinbrück, und den
Fachleuten des Ministeriums für Finanzen, die wieder-
holt und ausdrücklich auf die verfassungsmäßige Unbe-
denklichkeit des Gesetzes hingewiesen haben.
Auch bei der Notwendigkeit der Haushaltskonsolidie-
rung und der dauerhaften Sanierung der öffentlichen
Haushalte ist meine Zustimmung mit der Zusage des
BMF verbunden, dass die Konsolidierungsmaßnahmen
dem Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit entsprechen
und diese nicht zulasten von ländlichen und struktur-
schwachen Regionen erfolgen.
Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Mit dem Steu-
eränderungsgesetz 2007 werden insbesondere im Koali-
tionsvertrag vorgesehene Maßnahmen umgesetzt. Geplant
ist unter anderem die Beschränkung der Entfernungspau-
schale auf Fernpendler, Ausschluss von 20 Entfernungski-
lometern. Auch der Bundesrat hat um verfassungsrechtliche
Überprüfung gebeten. Die Äußerung des Bundesfinanz-
ministers zu diesem Sachverhalt überzeugt nicht. Man
stellt Folgendes fest:
Vor dem Hintergrund, dass von Beschäftigten heute
eine erhöhte Mobilität und Flexibilität gefordert
wird, hält die Bundesregierung Wahrung der sozia-
len Ausgewogenheit der Regelung und im Hinblick
auf Artikel 6 Abs. l des Grundgesetzes die vorge-
schlagene Härtefallregelung für sachgerecht und im
Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip für
verfassungsrechtlich möglich.
Die Feststellung, dass es „verfassungsrechtlich mög-
lich“ ist, ist sehr vage. Deshalb ist zu befürchten, dass
die Entscheidung des Parlaments einer verfassungsrecht-
lichen Prüfung nicht standhält.
Im Übrigen betrifft diese Entscheidung vor allem den
ländlichen Raum. Da ausreichende ÖPNV-Angebote
kaum vorhanden sind, werden Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer hier besonders benachteiligt, obwohl die
Politik eine immer größere Flexibilität von ihnen fordert.
4148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Silvia Schmidt (SPD): Das Steueränderungsgesetz
2007 ist ein wichtiger Baustein zur notwendigen Konso-
lidierung des Haushaltes und damit auch zur Wiederer-
langung staatlicher Gestaltungsspielräume. Beispiels-
weise werden durch die 3-prozentige Erhöhung des
Spitzensteuersatzes für jährliche Einkommen ab 250 000/
500 000 Euro, ledig/verheiratet, Spitzenverdiener zu ei-
nem solidarischen Konsolidierungsbeitrag verpflichtet.
Neben einer Reihe von weiteren notwendigen Maßnah-
men sieht das Gesetz eine schrittweise Streichung der
Bergmannsprämie vor. Wir lehnen dies ab. Die 1956 zur
Anerkennung der besonderen Leistungen des unter Tage
tätigen Bergmanns geschaffene Prämie hat auch heute
ihre Berechtigung nicht verloren. Die Arbeit der Berg-
leute hat sich zwar verändert, findet aber nach wie vor un-
ter erschwerten Bedingungen statt. Im Übrigen haben die
Betroffenen in den vergangenen Jahren durch massiven
Arbeitsplatzabbau, Umstrukurierungen und Rationalisie-
rungsmaßnahmen teilweise schmerzliche Einkommens-
einbußen erlitten. Ebenso sind viele Bergleute als Fern-
pendler von der Kürzung der Entfernungspauschale be-
troffen.
Die betroffenen Standorte des Steinkohle- und Kali-
bergbaus liegen ausnahmslos in strukturschwächeren
Regionen. Ihnen droht ein weiterer massiver Kaufkraftver-
lust, der mittelfristig durch entsprechende Tarifsteigerun-
gen nicht kompensiert werden kann. Selbstverständlich
müssen alle Bevölkerungsgruppen zur Konsolidierung
des Haushaltes herangezogen werden. Im Vergleich zu
anderen Berufsgruppen trifft es die Bergleute mit rund
1 000 Euro netto jährlich in besonderer Härte.
Vor dem Hintergrund des bescheidenen Einsparpoten-
zials im Bundeshaushalt von rund 23 Millionen Euro
missbilligen wir die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion,
auf dem Verhandlungsweg eine stärker an den Interessen
der Bergleute orientierte Kompromisslösung zu erzielen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Klaus Hofbauer und Bartho-
lomäus Kalb (beide CDU/CSU) zur namentli-
chen Abstimmung über den Entwurf eines Steu-
eränderungsgesetzes 2007
(Tagesordnungspunkt 3 a)
Mit dem Steueränderungsgesetz 2007 werden insbe-
sondere im Koalitionsvertrag vorgesehene Maßnahmen
umgesetzt. Geplant ist unter anderem die Beschränkung
der Entfernungspauschale auf Fernpendler, Ausschluss
von 20 Entfernungskilometern. Auch der Bundesrat hat
um verfassungsrechtliche Überprüfung gebeten. Die Äu-
ßerung des Bundesfinanzministers zu diesem Sachver-
halt überzeugt nicht. Man stellt Folgendes fest:
Vor dem Hintergrund, dass von Beschäftigten heute
eine erhöhte Mobilität und Flexibilität gefordert
wird, hält die Bundesregierung zur Wahrung der so-
zialen Ausgewogenheit der Regelung und im Hin-
blick auf Artikel 6 Abs. l des Grundgesetzes die
vorgeschlagene Härtefallregelung für sachgerecht
und im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprin-
zip für verfassungsrechtlich möglich.
Die Feststellung, dass es „verfassungsrechtlich mög-
lich“ ist, ist sehr vage. Deshalb ist zu befürchten, dass
die Entscheidung des Parlaments einer verfassungsrecht-
lichen Prüfung nicht standhält.
Im Übrigen betrifft diese Entscheidung vor allem den
ländlichen Raum. Da ausreichende ÖPNV-Angebote
kaum vorhanden sind, werden Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer hier besonders benachteiligt, obwohl auch
die Politik eine immer größere Flexibilität von ihnen for-
dert.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Lothar Binding (Heidel-
berg), Dr. Frank Schmidt und Gunter Weißger-
ber (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung
über den Entwurf eines Steueränderungsgeset-
zes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a)
Nach bisherigem Recht können für Fahrten zum
Arbeitsplatz für jeden Entfernungskilometer 30 Cent als
Werbungskosten von der Steuer abgesetzt werden, die so
genannte Pendlerpauschale. Mit Wirkung zum 1. Januar
2007 soll das so genannte Werkstorprinzip eingeführt
werden. Aufwendungen für den Weg zum Arbeitsplatz
gehören dann zum Privatbereich und können nicht mehr
steuerlich geltend gemacht werden. Lediglich als „Här-
tefallausgleich“ sollen ab 1. Januar 2007 für Fernpendler
die Fahrtkosten ab dem 21. Entfernungskilometer mit
30 Cent pro Kilometer von der Steuer als Werbungskos-
ten anerkannt werden. Die Entfernungspauschale wird
dabei mit der Werbungskostenpauschale von 920 Euro
verrechnet. Durch diese Maßnahme werden Mehrein-
nahmen von etwa 2,5 Milliarden Euro pro Jahr erwartet.
In unserem Kulturkreis, anders als zum Beispiel in
den USA, wohnt man zu Hause und fährt zum Zwecke
der Einkommenserzielung an den Arbeitsplatz. Einem
ähnlichen Denkansatz folgen auch die Regelungen bei
der Wegeunfallversicherung. Die formalrechtliche Mög-
lichkeit, hier zwischen Steuerecht und Versicherungs-
recht zu unterscheiden, hebt den durch die Beschlussfas-
sung erzeugten Widerspruch nicht auf. Gegen diese
Veränderungen beim Werbungskostenabzug haben wir
erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, denn mit
der Unstetigkeitsstelle hinsichtlich der Behandlung der
Pendlerpauschale bis 20 Kilometer und darüber besteht
die Gefahr der Verfassungswidrigkeit.
Hintergrund dieser vermuteten Verfassungswidrig-
keit ist die Tatsache, dass es sich bei den Kosten für
Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz um klassi-
sche Werbungskosten handelt. Da derartige Aufwendun-
gen dem Steuerpflichtigen zum Lebensunterhalt nicht
zur Verfügung stehen, müssen sie steuerlich als Wer-
bungskosten berücksichtigt werden. Durch diese Neure-
gelung werden wie bisher pauschal auch jene Arbeitneh-
mer begünstigt, die keine Kosten haben. Belastet werden
hingegen jene, die „echte“ Kosten, Fahrtkosten haben.
Zur Vermeidung dieses Verfassungsrisikos haben wir
vorgeschlagen, die Arbeitnehmerpauschale auf 500 Euro
zu senken, sie gleichzeitig nicht auf die Entfernungspau-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4149
(A) (C)
(B) (D)
schale anzurechnen und die Entfernungspauschale auf
20 Cent pro Kilometer für die ersten 20 Kilometer und
auf 25 Cent pro Kilometer für die weiteren Kilometer
festzulegen. Damit wären die fiskalpolitisch notwendi-
gen 2,5 Milliarden Euro pro Jahr ebenso erreichbar, die
Belastungswirkung für alle Arbeitnehmer wäre aber ge-
rechter.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf in der geänderten
Fassung trotzdem zu, weil das Ganze mehr ist als die
Summe seiner Teile und der Entwurf des Steuerände-
rungsgesetzes ein Maßnahmenpaket ist, das unabdingbar
zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes notwendig ist.
Und Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiger Schritt
auf dem Weg den Sozialstaat zukunftsfest zu gestalten.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Gerd Bollmann, Dieter Gra-
sedieck, Christoph Pries und Axel Schäfer (Bo-
chum) (alle SPD) zur namentlichen Abstim-
mung über den Entwurf eines
Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesordnungs-
punkt 3 a)
Das vorliegende Steueränderungsgesetz dient der zü-
gigen und dauerhaften Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte. Der Entwurf sieht Regelungen vor, die einer-
seits auf eine dauerhafte Sanierung der öffentlichen
Haushalte zielen, andererseits aber den Grundsätzen der
individuellen Leistungsfähigkeit und der Verteilungsge-
rechtigkeit sowie der Steuervereinfachung dienen. Diese
Ziele unterstützen auch die Unterzeichner. Mit unserer
grundsätzlichen Zustimmung erkennen wir an, dass die-
ser Gesetzentwurf grundsätzlich die angestrebten Ziele
erreicht.
Wir müssen jedoch verdeutlichen, dass wir die Ab-
schaffung der Bergmannsprämie und deren Begründung
ablehnen. Die Abschaffung der Bergmannsprämie be-
deutet für die unter Tage Beschäftigten eine Lohnein-
buße bis zu 1 000 Euro jährlich. Angesichts der Lohn-
entwicklung gerade im Bergbau sind wir der Meinung,
dass diese Einbußen sozial ungerecht sind. Die unter
Tage Beschäftigten haben in den letzten Jahren auf
Lohnzuwächse verzichtet und auch im Vergleich mit an-
deren Berufsgruppen stärkere Einkommensverluste ak-
zeptiert. Der Wegfall der Bergmannsprämie bedeutet
eine überproportionale finanzielle Belastung für eine Be-
rufsgruppe. Das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit wird
hier verletzt.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Michael Roth (Heringen),
Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Joachim Poß,
Ernst Kranz, Waltraud Lehn und Johannes
Pflug (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung
über den Entwurf eines Steueränderungsgeset-
zes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a)
Das Steueränderungsgesetz 2007 ist ein wichtiger
Baustein zur notwendigen Konsolidierung des Haushal-
tes und damit auch zur Wiedererlangung staatlicher Ge-
staltungsspielräume. Beispielsweise werden durch die
3-prozentige Erhöhung des Spitzensteuersatzes für jähr-
liche Einkommen ab 250 000/500 000 Euro, ledig/ver-
heiratet, Spitzenverdiener zu einem solidarischen Kon-
solidierungsbeitrag verpflichtet. Neben einer Reihe von
weiteren notwendigen Maßnahmen sieht das Gesetz eine
schrittweise Streichung der Bergmannsprämie vor. Wir
lehnen dies ab. Die 1956 zur Anerkennung der besonde-
ren Leistungen des unter Tage tätigen Bergmanns ge-
schaffene Prämie hat auch heute ihre Berechtigung nicht
verloren. Die Arbeit der Bergleute hat sich zwar verän-
dert, findet aber nach wie vor unter erschwerten Bedin-
gungen statt. Im Übrigen haben die Betroffenen in den
vergangenen Jahren durch massiven Arbeitsplatzabbau,
Umstrukturierungen und Rationalisierungsmaßnahmen
teilweise schmerzliche Einkommenseinbußen erlitten.
Ebenso sind viele Bergleute als Fernpendler von der
Kürzung der Entfernungspauschale betroffen.
Die betroffenen Standorte des Steinkohle- und Kali-
bergbaus liegen ausnahmslos in strukturschwächeren
Regionen. Ihnen droht ein weiterer massiver Kaufkraftver-
lust, der mittelfristig durch entsprechende Tarifsteigerun-
gen nicht kompensiert werden kann. Selbstverständlich
müssen alle Bevölkerungsgruppen zur Konsolidierung
des Haushaltes herangezogen werden. Im Vergleich zu
anderen Berufsgruppen trifft es die Bergleute mit rund
1 000 Euro netto jährlich in besonderer Härte.
Vor dem Hintergrund des bescheidenen Einsparpoten-
zials im Bundeshaushalt von rund 23 Millionen Euro
missbilligen wir die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion,
auf dem Verhandlungsweg eine stärker an den Interessen
der Bergleute orientierte Kompromisslösung zu erzielen.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Florian Pronold, Marco
Bülow, Ulla Burchardt, Martin Burkert,
Dr. Carl-Christian Dressel, Petra Ernstberger,
Gabriele Fograscher, Peter Friedrich, Angelika
Graf (Rosenheim), Gabriele Groneberg, Bettina
Hagedorn, Reinhold Hemker, Frank Hofmann
(Volkach), Lothar Ibrügger, Brunhilde Irber,
Christian Kleiminger, Rolf Kramer, Anette
Kramme, Jürgen Kucharczyk, Dirk Man-
zewski, Lothar Mark, Detlef Müller (Chem-
nitz), Heinz Paula, Maik Reichel, Gerold Rei-
chenbach, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Renate
Schmidt (Nürnberg), Heinz Schmitt (Landau),
Ewald Schurer, Dr. Angelica Schwall-Düren,
Christoph Strässer, Jella Teuchner, Rüdiger
Veit und Dr. Wolfgang Wodarg (alle SPD) zur
namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesord-
nungspunkt 3 a)
Das Steueränderungsgesetz 2007 verfolgt das Ziel,
weitere Steuervergünstigungen und Ausnahmetatbe-
4150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
stände abzubauen, den Finanzierungsbeitrag von Spitzen-
verdienern zumindest in geringem Umfang zu erhöhen
und damit die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.
Diese Zielsetzung halten wir für richtig. Deshalb stim-
men wir dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regie-
rungskoalition zu.
Wir halten jedoch die Kürzung der Entfernungspau-
schale für falsch. Die Aufwendungen für Fahrten zwi-
schen Wohnung und Arbeitsplatz sind eindeutig berufs-
bedingte Kosten und müssen damit auch steuerlich als
Werbungskosten anerkannt werden. Die dabei vorge-
nommene Pauschalierung darf nicht willkürlich vorge-
nommen werden, sondern muss zumindest annähernd
den realen Kosten entsprechen. Angesichts der steigen-
den Mobilitätserwartungen an Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, der in ländlichen Regionen unvermeidbar
weiteren Arbeitswege und der steigenden Kosten für den
Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz ist eine Kür-
zung nicht angemessen.
Das nun zur Entscheidung stehende Modell, das die
Wegekosten erst ab dem 21. Kilometer berücksichtigt,
ist nicht sachgerecht. Es führt zu einer ungerechten Ver-
teilung der zusätzlichen Belastungen und ist verfas-
sungsrechtlich höchst bedenklich. Im Lichte der Ergeb-
nisse der Expertenanhörung haben wir deshalb versucht,
diesen Punkt zu korrigieren und das vorgegebene Kon-
solidierungsvolumen durch eine geringere lineare Kür-
zung der Pendlerpauschale sowie eine Absenkung des
Arbeitnehmerpauschbetrags zu erreichen. Diese Lösung
hätte zumindest die Belastungen gerechter verteilt, ver-
fassungsrechtliche Bedenken ausgeräumt und die tat-
sächliche Subventionierung durch die Arbeitnehmerpau-
schale reduziert. Obwohl Teile der Union außerhalb des
Parlaments vorgegeben haben, für eine sachgerechte Lö-
sung offen zu sein, hat die CDU/CSU-Fraktion sich ei-
ner Verbesserung des Regierungsentwurfs verweigert.
Wir gehen auf Basis der juristischen Stellungnahme
des Bundesfinanzministeriums davon aus, dass die He-
rausnahme der Pendlerpauschale aus den Werbungskos-
ten keine negativen Auswirkungen für die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer im Sozial- und Arbeitsrecht
haben wird.
Anlage 8
Erkärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Renate Blank (CDU/CSU) zur
namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Bu-
ches Sozialgesetzbuch (Tagesordnungspunkt 4 b)
In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt.
Mein Votum lautet „Nein“.
Anlage 9
Erklärung
des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung:
Sammelübersichten 79 zu Petitionen (Zusatzta-
gesordnungspunkt 4 k)
Namens der Fraktion der FDP erkläre ich, dass das
Votum „Ablehnung“ lautet.
Anlage 10
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäi-
scher Richtlinien zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Aufgrund der Nach-
verhandlungen zwischen den Koalitionsfraktionen und
den daraus resultierenden Verbesserungen des AGG
werde ich im Sinne der Fraktion heute zustimmen. Den-
noch bleiben mir erhebliche Bedenken zum Gesetz über-
haupt. Nach meiner Überzeugung ist dieses Gesetz über-
flüssig und alle EU-Vorgaben sind bereits ausreichend in
deutschen Gesetzen verankert, so zum Beispiel in Art. 1
des Grundgesetzes. Auch passt dieses Gesetz nicht in die
Landschaft der beabsichtigten Entbürokratisierung.
Daher fordere ich die Bundesregierung auf, solche
und ähnliche Vorhaben aus Brüssel bereits im Vorfeld
bei deren Entstehung zu verhindern und die deutsche
EU-Ratspräsidentschaft 2007 dazu zu nutzen, den
Kampf gegen die Bürokratie zu forcieren.
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich kann dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung aus folgenden Grün-
den nicht zustimmen: Erstens. Zwar sind die Änderun-
gen am ursprünglichen Entwurf zu begrüßen, sie reichen
aber nicht aus. So gilt das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz, AGG, nicht, wenn in Betrieben weniger als
fünf Arbeitnehmer beschäftigt sind. Dies mag Hand-
werksbetriebe entlasten, das Gros der kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen, die in der Regel mehr als fünf
Arbeitnehmer beschäftigen, profitiert von dieser Entlas-
tung nicht. Gleiches gilt für die Entlastung hinsichtlich
Vermietungen. Dort gilt das AGG erst dann, wenn ein
Vermieter mehr als 50 Wohnungen vermietet. Die Masse
der Wohnungsbaugesellschaften insbesondere in Ost-
deutschland vermietet mehr als 50 Wohnungen.
Zweitens. Es bleibt das ungerechtfertigte Aufstocken
auf die durch die ehemalige rot-grüne Bundesregierung
maßgeblich beeinflusste Richtlinie der EU um vier bzw.
fünf Diskriminierungsmerkmale. Mit dieser Erweiterung
ist eine Ideologisierung des Zivilrechts durch eine
Expansion von Schadenersatzansprüchen im Sinne des
Übergangs von materiellen auf immaterielle Schäden zu
befürchten.
Drittens. Das Vertragsrecht im Sinne von Vertrags-
freiheit wird in unangemessener Art und Weise beein-
trächtigt.
Viertens. Die Schaffung der Antidiskriminierungsbe-
hörde mit einer lediglich vertraglichen Bindung an das
Familienministerium, das heißt ohne jegliche Fach- oder
Rechtsaufsicht, wird früher oder später zu einer Ver-
selbstständigung dieser Behörde hin zu einer Art morali-
scher Instanz führen. Abgesehen davon werden die er-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4151
(A) (C)
(B) (D)
weiterten Aufgabenbereiche zu weiterer Bürokratie auch
bei den Behörden führen.
Fünftens. Die Beweislast bleibt trotz des Versuches
der redaktionellen Klärung in der Begrifflichkeit unklar.
Insgesamt ist damit zu rechnen, dass das AGG den
Grundstein für eine Prozessflut legen könnte, betriebli-
che und privatrechtliche Abläufe erheblich stört oder zu-
mindest zeitlich verzögert sowie mit entsprechenden
Kosten und zusätzlichem Verwaltungsaufwand belastet.
Dies alles widerspricht der Grundaussage der Union,
insbesondere zum Thema Bürokratieabbau, sowie mei-
ner in meinem Wahlkreis allgemein bekannten eigenen
Grundüberzeugung, dass die Gleichheit vor dem Gesetz
bzw. die Diskriminierungsverbote sowohl im Grundge-
setz, Art. 3, den Verfassungen der Bundesländer und in
entsprechenden Ausführungsgesetzen hinreichend gere-
gelt sind. Deshalb kann ich dem Gesetz nicht zustim-
men.
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Ich stimme die-
sem Gesetzentwurf in der Fassung des Beschlusses des
Rechtsausschusses, Drucksache 16/2022, zu. Zwar setzt
die in der jetzt zur Abstimmung vorliegenden Fassung,
insbesondere durch § 2 Abs. 4 – Herausnahme des Kün-
digungsschutzes –, die verbindlich umzusetzenden vier
EU-Richtlinien nicht oder nicht voll um. Da deren Inhalt
zusammen mit dem EG-rechtlichen allgemeinen Diskri-
minierungsverbot jedoch auch in Deutschland unmittel-
bar geltendes Recht ist, haben die deutschen Gerichte,
insbesondere die Arbeitsgerichte, entsprechend zu ver-
fahren, also das deutsche Recht richtlinienkonform aus-
zulegen bzw. außer Anwendung zu lassen.
Henry Nitzsche (CDU/CSU): Mein Abstimmverhal-
ten begründe ich wie folgt: Das Allgemeine Gleichbe-
handlungsgesetz verletzt bisherige Rechtstraditionen,
schafft zusätzliche Rechtsunsicherheit, greift in zentrale
Freiheitsrechte ein und produziert ausufernde Bürokra-
tie. Deswegen stimme ich in namentlicher Abstimmung
gegen den Gesetzentwurf.
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Trotz erkennba-
rer positiver Nachbesserungen bei dem von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung
des Grundsatzes der Gleichbehandlung, AGG, Drucksa-
che 16/1780, sehe ich nach wie vor zu große Eingriffe
in die Vertragsfreiheit, sodass ich diesem Gesetzent-
wurf nicht zustimmen kann.
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Ich stimme
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, da die Not-
wendigkeit besteht, die zugrunde liegende EU-Richtlinie
umgehend in nationales Recht umzusetzen, da eine zu-
sätzliche Belastung des Haushalts vermieden werden
muss. Trotzdem bleiben Bedenken gegen den vorliegen-
den Entwurf. Das Gesetz enthält unnötige bürokratische
und detaillierte Regelungen, die das Ziel des Bürokratie-
abbaus konterkarieren. Zwar sind die Änderungen am
ursprünglichen Entwurf zu begrüßen, sie reichen aber
nicht aus. So werden durch die nicht ausreichende
Rechtssicherheit Gerichte, öffentlicher Dienst und Be-
triebe belastet. Diese Belastungen sind nicht vorherseh-
bar und stellen deswegen ein Risiko für Betriebe dar.
Diese müssen ihre Geschäftsplanungen verändern und
geplante Investitionen können unter Umständen nicht
durchgeführt werden. Es entstehen höhere Kosten für
Betriebe, unabhängig ob sie einen Diskriminierungstat-
bestand erfüllt haben oder nicht.
Zudem habe ich Bedenken gegen die Ausweitung der
EU-Richtlinie um weitere vier bzw. fünf Diskriminie-
rungsmerkmale. Mit dieser Erweiterung werden die Pri-
vatautonomie und die Vertragsfreiheit eingeschränkt. Es
muss Arbeitgebern möglich sein, bei der Einstellung
nicht nur objektive Kriterien wie die berufliche Qualifi-
kation, sondern auch subjektive Kriterien wie Vertrau-
enswürdigkeit, Sympathie und Kommunikationsverhal-
ten auf Basis von Erfahrung und Menschenkenntnis für
eine Einstellung bzw. Nichteinstellung anwenden zu
dürfen.
Die Beweislast bleibt unklar. Für Arbeitgeber, für die
es eine riskante Investition darstellt, einen neuen Mitar-
beiter einzustellen, setzt dieses Gesetz einen Anreiz,
keine neuen Stellen auszuschreiben und Arbeitsplätze zu
schaffen.
Durch die zu erwartenden Prozesse wird in den Be-
trieben, in den Gerichten und im öffentlichen Dienst Per-
sonal gebunden, das seine eigentlichen Aufgaben dann
nicht mehr im gleichen Maße ausführen kann. Dies hat
zur Folge, dass Personal- und Geschäftsplanungen obso-
let werden können. Die betrieblichen Prozesse können
nicht in gleichem Maße fortgeführt werden, was die be-
trieblichen Abläufe empfindlich stören kann.
Dies alles sind meines Erachtens schwerwiegende
Nachteile des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grund-
satzes der Gleichbehandlung, die ich nur vor dem Hin-
tergrund der staatlichen Verpflichtungen im Rahmen der
EU zu tragen bereit bin.
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der vorliegende
Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt einen wichti-
gen Schritt zur Verwirklichung der Rechte behinderter
Menschen dar. Er ist aber noch nicht weitreichend ge-
nug. Ich werde diesem Gesetzentwurf trotz der hier for-
mulierten Bedenken im Interesse behinderter Menschen
und ihrer Angehörigen zustimmen.
Denn der Entwurf bleibt leider in einigen Punkten
hinter den Bedürfnissen behinderter Menschen zurück.
Immer noch wird das Recht zur freien Diskriminierung
über das Recht zur Freiheit von Diskriminierung gestellt.
Diskriminierung ist kein Kavaliersdelikt, vergleichbar
mit Falschparken. Wer diskriminiert, verweigert dem
Opfer grundlegende Menschenrechte. Deshalb hätte ich
zum Beispiel einem ausdrücklichen Kontrahierungs-
zwang bei Versicherungsunternehmen positiv gegen-
übergestanden, obwohl ich der Ansicht bin, dass dieser
implizit im Gesetzentwurf enthalten ist.
4152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Der Entwurf des Allgemeinen Gleichbehandlungsge-
setzes, AGG, ist erneut geändert worden. Wer diskrimi-
niert wird, muss jetzt innerhalb von zwei Monaten
schriftlich Ansprüche erheben, §§ 15 IV, 21 V l AGG.
Ursprünglich waren sechs Monate vorgesehen. Im Ent-
wurf vom Mai war die Frist auf drei Monate halbiert
worden. Diese Änderung ist europarechtlich bedenklich,
da sie die bisherige Regelung bei Diskriminierung we-
gen des Geschlechts, § 611 a Abs. 4 BGB, verschlech-
tert. Dies verstößt gegen das EU-Verbot, den bisherigen
Schutz vor Behinderung durch die Neuregelung abzu-
senken. Zudem verstößt es gegen die Forderung der EU
Richtlinien, nach einem effektiven Schutz vor Diskrimi-
nierung. Wahrscheinlich wird diese Regelung vom Euro-
päischen Gerichtshof aufgehoben.
Die Beweislast ist ebenfalls geändert worden. Der
Diskriminierte muss Indizien beweisen, die eine Be-
nachteiligung wegen eines Diskriminierungsgrundes
vermuten lassen, § 22 AGG. Ursprünglich musste der
Diskriminierte Tatsachen glaubhaft machen, die eine Be-
nachteiligung wegen eines Diskriminierungsgrundes
vermuten lassen. Allerdings stellt die Begründung des
Entwurfs fest, diese Neuformulierung solle nur klarstel-
len, dass eine eidesstattliche Versicherung des Diskrimi-
nierten allein nicht ausreicht, um eine Benachteiligung
glaubhaft zu machen.
Im Arbeitsrecht sollen bei Kündigungen ausschließ-
lich die Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes gel-
ten, § 2 Abs. 4 AGG. Bislang sollten diese „vorrangig“
gelten. Allerdings können durch die Vorschriften des
Kündigungsschutzgesetzes nicht die zwingenden EU
Vorgaben zum Diskriminierungsschutz ausgehebelt wer-
den. Damit ändert diese Änderung an der Rechtslage
nichts. Gewerkschaften und Betriebsräte dürfen weiter-
hin Arbeitgeber verklagen, die grob gegen die Vorschrif-
ten des AGG verstoßen, § 17 AGG. Diese Regelung ist
bei der CDU/CSU besonders umstritten. Daher wurde
das Klagerecht jetzt ausdrücklich auf grobe Verstöße be-
schränkt.
Ein Diskriminierungsverbot gilt bei Wohnungsver-
mietung nur für Vermieter, die mehr als 50 Wohnungen
vermieten, § 19 V AGG. Durch diese Regelung bleibt
der größte Teil des Wohnungsmarktes offen für Diskri-
minierung. Auch größere Wohnungsgesellschaften kön-
nen sich durch passende Gesellschaftskonstrukte auf
diese Ausnahmeregel berufen. Allerdings ändert diese
Regelung wenig, da bereits nach dem bisherigen Ent-
wurf nur bei „Massengeschäften“ Diskriminierung ver-
boten ist.
Ebenso ist der § 20 des Gesetzentwurfes meiner An-
sicht nach änderungsbedürftig. Die bisherige Formulie-
rung in § 20 Abs. l Satz l, „der Vermeidung von Gefah-
ren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken
vergleichbarer Art dient ist viel zu unkonkret gefasst und
öffnet weiteren Diskriminierungen Tür und Tor. Besser
wäre gewesen: Das kann insbesondere der Fall sein,
wenn die unterschiedliche Behandlung notwendig ist,
um eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit oder des
Lebens der Person oder Dritter zu vermeiden, gesetzli-
che Unfallverhütungsvorschriften es erfordern oder nur
so voraussichtliche Schäden vermieden werden können.
Zudem schlage ich die Einfügung des folgenden Sat-
zes in § 20 vor: Derjenige, der sich auf einen sachlichen
Grund für eine unterschiedliche Behandlung beruft, hat
die Nachweise hierfür auf Verlangen vorzulegen oder
auf andere Weise glaubhaft zu machen.
Aber dieser Gesetzesentwurf ist die Umsetzung meh-
rerer EU-Richtlinien. Schließlich dient das AGG dem
wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Gerade
Länder, in denen seit Jahrzehnten Diskriminierungsver-
bote bestehen, wie die USA und Großbritannien, sind
wirtschaftlich wesentlich dynamischer als Deutschland.
Die Vorteile werden besonders im Arbeitsleben deutlich:
Weniger Diskriminierung heißt mehr sachliche Entschei-
dung. Je sachlicher die Entscheidung, desto effizienter
die Auswahl. Diskriminierungsfreie Auswahl heißt da-
mit: Der Beste erhält die Stelle. Damit ist Diskriminie-
rungsfreiheit wirtschaftlich effizienter.
Zudem können wir es uns vor dem Hintergrund der
demografischen Entwicklung nicht länger leisten, be-
stimmte Gruppen weitgehend von Arbeit und berufli-
chen Aufstieg auszuschließen. Derzeit sind zum Beispiel
Ältere, Behinderte und Frauen im Arbeitsleben erheblich
benachteiligt. Diesen Luxus, nur die Fähigkeiten deut-
scher, nicht behinderter Männer bis 40 Jahre effizient zu
nutzen, können wir uns heute nicht mehr leisten. Gerade
die deutsche Wirtschaft müsste ein vitales Interesse da-
ran haben, die vorhandenen Arbeitnehmer möglichst
effizient und nicht möglichst vorurteilskonform einzu-
setzen. Jede Untersuchung hat bestätigt: Antidiskrimi-
nierung erhöht den wirtschaftlichen Erfolg eines Unter-
nehmers.
Beim Entwurf des AGG gibt es leider noch erhebliche
Missverständnisse. Immer wieder wird behauptet, an-
gebliche Diskriminierer müssten ihre „Unschuld“ bewei-
sen. Tatsächlich muss das Opfer glaubhaft machen, dis-
kriminiert zu werden. Dafür muss es Indizien vortragen,
wie zum Beispiel diskriminierende Ausschreibungen,
Statistiken, diskriminierende Äußerungen und Fragen.
Ausreichend ist auch die Glaubhaftmachung einer dis-
kriminierenden Grundeinstellung. Diese liegt vor, wenn
der Täter durch sein allgemeines Verhalten klar macht,
dass er bestimmte Gruppen ablehnt, zum Beispiel frau-
enfeindliche Werbung oder behindertendiskriminie-
rende Ausschreibungen für andere Stellen. Verfügt allein
eine Seite über die erforderlichen Informationen, muss
sie diese nach den Grundsätzen der angestellten Darle-
gung – und Beweislast einbringen. Nur wenn auf diese
Weise eine Diskriminierung glaubhaft gemacht ist, trägt
der angebliche Diskriminierer die Beweislast. Diese Re-
gelung entspricht in Wortlaut und Auslegung den zwin-
genden Vorgaben der EU Richtlinien.
Auch bei der Höhe des Schadens bestehen Missver-
ständnisse. Es geht nicht darum, in Deutschland Scha-
denersatzforderungen zu ermöglichen, wie sie in den
USA üblich sind. Dort haben Großkonzerne mehrere
Hundert Millionen Dollar wegen Diskriminierung zah-
len müssen. Die EU verlangt zwar ein abschreckend ho-
hes Schmerzensgeld, doch liegt dies nach allgemeiner
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4153
(A) (C)
(B) (D)
Ansicht in den europäischen Staaten im Arbeitsrecht bei
einem Jahresgehalt, mindestens aber 30 000 Euro. Nur
in schweren Fällen kann dieser Betrag überschritten wer-
den. Im Zivilrecht liegt das Schmerzensgeld noch darun-
ter. Das Schmerzensgeld beträgt das Doppelte des mate-
riellen Schadenersatzes, wenigstens aber 10 000 Euro.
Beim materiellen Schadensersatz bei Verlust des Ar-
beitsplatzes hat sich in den EU-Staaten ebenfalls eine ge-
genüber den USA zurückhaltendere Rechtsprechung he-
rausgebildet. In Europa wird allgemein abgestellt, wie
lange der Diskriminierte üblicherweise auf der Stelle
verblieben wäre. So wurde dies zum Beispiel in der
„Vento Entscheidung“ in England geregelt. Diese
Grundsätze unterscheiden Europa deutlich von den USA
und beschränken die Schadenersatzsummen. Sie orien-
tieren sich an dem unteren Ende des durch die Richtli-
nien vorgegebenen Abschreckungsgebotes bei der Scha-
densersatzhöhe. Die Höhe des Schadenersatzes wird sich
also an der europäischen Rechtsprechung orientieren.
Abgesehen von der Höhe des Schadenersatzes sind
die Rechtsprechung und Gesetzgebung der USA Vorbild
der EU-Richtlinien und sind für die Auslegung des AGG
heranzuziehen. Für eine erfreuliche Rechtssicherheit
sorgt die Zertifizierung der Antidiskriminierungsvor-
schriften durch den Europäischen Anti-Diskriminie-
rungsrat, insbesondere im Arbeitsleben. Die Unterneh-
men erhalten erhöhte Rechtssicherheit und die
Effizienzvorteile eines diskriminierungsfreien Unterneh-
mens. Gleichzeitig wird in Deutschland der Diskriminie-
rungsschutz konsequent umgesetzt. Dies entspricht auch
der allgemeinen Entwicklung auf EU-Ebene sowie den
Vorstellungen der EU Kommission, Subventionen und
öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben,
die soziale Mindeststandards nachweisbar einhalten.
Rolf Stöckel (SPD): Ich stimme dem Gesetzentwurf
zu, weil ich die überfällige Umsetzung der europäischen
Richtlinien zur „Antidiskriminierung“ in nationales
Recht grundsätzlich begrüße und unterstützen will. Die
im Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD vorgenommene Streichung des Merkmals „Weltan-
schauung“ im Bereich des zivilrechtlichen Diskriminie-
rungsschutzes halte ich allerdings für verfassungswidrig.
Ich kann nur zustimmen, weil ich überzeugt bin, dass
diese Streichung keine Rechtswirksamkeit entfalten
kann, weil sie nicht nur gegen das Ziel der Verwirkli-
chung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, sondern
auch gegen unveränderbare Verfassungsgrundsätze ver-
stößt. Nach Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundes-
republik Deutschland sind „die Freiheit des Glaubens,
des Gewissens und die Freiheit des religiösen und welt-
anschaulichen Bekenntnisses unverletzlich“.
Da ich mich ausdrücklich zu einer nichtreligiösen
Weltanschauung, nämlich dem weltlichen Humanismus,
bekenne und Mitglied einer Weltanschauungsgemein-
schaft bin, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts
anerkannt ist, lehne ich insbesondere die diskriminie-
rende Begründung der Streichung durch den Rechtsaus-
schuss des Deutschen Bundestages ab. Aus der Begrün-
dung des Rechtsausschusses „Gleichwohl besteht die
Gefahr, dass zum Beispiel Anhänger rechtsradikalen Ge-
dankengutes aufgrund der Vorschrift versuchen, sich Zu-
gang zu Geschäften zu verschaffen, die ihnen aus aner-
kennenswerten Gründen verweigert wurden“ ließe sich
meines Erachtesn fordern, das Merkmal „Religion“ sei
zu streichen, weil zum Beispiel Terroristen und andere
Straftäter ihre Taten religiös begründen.
Anlage 11
Erklärungen nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Michaela
Noll, Michael Hennrich, Karl-Georg Wellmann,
Kai Wegner, Joachim Hörster, Ernst Hinsken,
Norbert Königshofen, Andreas G. Lämmel,
Gerhard Wächter, Stefan Müller (Erlangen),
Maria Michalk, Dr. Karl Lamers (Heidelberg),
Bernward Müller (Gera), Volkmar Uwe Vogel,
Dr. Rolf Koschorrek, Bernhard Schulte-Drüg-
gelte, Andreas Schmidt (Mülheim), Gunther
Krichbaum, Georg Fahrenschon, Hans Michel-
bach, Georg Schirmbeck, Steffen Kampeter,
Laurenz Meyer (Hamm), Anke Eymer (Lü-
beck), Albert Rupprecht (Weiden), Karl-Theo-
dor Freiherr zu Guttenberg, Dr. Joachim Pfeif-
fer, Clemens Binninger, Daniela Raab, Dr.
Günter Krings, Klaus-Peter Willsch, Carsten
Müller (Braunschweig), Klaus-Peter Flosbach,
Marco Wanderwitz, Kurt Segner, Markus Grü-
bel, Jochen Borchert, Philipp Mißfelder, Sibylle
Pfeiffer, Gitta Connemann, Jens Koeppen, Pa-
tricia Lips, Stephan Mayer (Altötting), Susanne
Jaffke, Andrea Astrid Voßhoff, Bernd Heyne-
mann, Olav Gutting, Bernd Schmidbauer, Rita
Pawelski, Franz Obermeier, Erika Steinbach,
Monika Grütters, Andreas Jung (Konstanz), In-
gbert Liebing, Marie-Luise Dött, Julia Klöck-
ner, Ute Granold, Michael Brand, Dr. Heinz
Riesenhuber, Katharina Landgraf, Dr. Georg
Nüßlein, Thomas Strobl (Heilbronn), Renate
Blank und Dr. Ole Schröder (alle CDU/CSU)
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäi-
scher Richtlinien zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung (Tagesord-
nungspunkt 5 a)
Wir begrüßen alle geeigneten Initiativen gegen Dis-
kriminierung aufgrund von Rasse, ethnischer Herkunft,
Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter und sexueller
Identität. Derartige Diskriminierungen haben in einer
aufgeklärten und toleranten Gesellschaft keinen Platz.
Dies ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild,
welches von der Unverletzbarkeit der Würde jedes Ein-
zelnen ausgeht. Es ist daher selbstverständlich, dass sich
eine Gesellschaft Regeln gibt, die deutlich machen, dass
Diskriminierungen gegen die Würde eines jeden Men-
schen verstoßen und geahndet werden müssen. Es ist be-
dauerlich, dass die zugrunde liegenden EU-Richtlinien
unnötige, zu detaillierte und bürokratische Regelungen
enthalten. Gleichwohl ist die Umsetzung in deutsches
Recht europarechtlich geboten. Jeder weitere Verzug
4154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
hätte hohe Strafzahlungen für die Bundesrepublik
Deutschland zur Folge gehabt.
Der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ist
es gelungen, im Vorfeld und während der parlamentari-
schen Beratungen deutliche Verbesserungen gegenüber
dem ursprünglichen Gesetzentwurf zu erreichen. Dies ist
ausdrücklich zu begrüßen. Damit konnte dem Ziel der
Bundesregierung, auch für die innerstaatliche Umset-
zung europäische Gesetzgebung auf das tatsächlich Not-
wendige zu beschränken, ein bedeutendes Stück näher
gekommen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf greift dennoch unver-
hältnismäßig in das hohe Gut der Vertragsautonomie von
Bürgern und Unternehmen ein, die ein wichtiges Funda-
ment einer freiheitlichen Rechts-, Wirtschafts- und Ge-
sellschaftsordnung ist. Er ist mit Belastungen für das
Wirtschafts- und Rechtsleben verbunden, die nicht zwin-
gend durch die zugrunde liegenden europäischen Richt-
linien vorgegeben wurden. Mit diesem Gesetz können
trotz seiner richtigen Ziele und der erreichten Verbesse-
rungen falsche Impulse in der Arbeitswelt gesetzt wer-
den.
Wir bedauern, dass die Fraktion der SPD nicht bereit
war, sich während der parlamentarischen Beratungen ei-
ner noch besseren Rechtssetzung zu öffnen. Umso wich-
tiger bleibt es, mögliche negative Auswirkungen im Hin-
blick auf bürokratische Belastungen, Rechtssicherheit
und Privatautonomie sowie den Arbeitsmarkt nach In-
Kraft-Treten dieses Gesetzes genau zu beobachten und
erforderlichenfalls schnellstmöglich zu korrigieren.
Nur unter Zurückstellung größter persönlicher Beden-
ken stimmen wir deshalb heute diesem Gesetzentwurf
zu.
Anlage 12
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Be-
steuerung von Energieerzeugnissen und zur
Änderung des Stromsteueregesetzes (Tagesord-
nungspunkt 8 a)
Dr. Axel Berg (SPD): Ich habe dem Gesetz zur Neu-
regelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und
zur Änderung des Stromsteuergesetzes entgegen dem
Votum meiner Fraktion meine Zustimmung verweigert
und mit „Nein“ gestimmt. Mit diesem Gesetz wird der
Reinbiokraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl von
Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine volle
Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Diesel-
kraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu
rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge-
stellt werden. Nur wenn die Rohölpreise für fossile
Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese
Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden.
Damit wird eine Entwicklung politisch eingeleitet, in
der die auf Pflanzenöl basierenden Biokraftstoffe über
die geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermono-
pol der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese
Entwicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei-
chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe
erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon-
zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli-
chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat
der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die
neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als
Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden, die
Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduk-
tionen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke
und damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und
Beschäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunk-
turellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi-
tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und
Pflanzenöl umgestiegen sind, entweder gefährdet wer-
den oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken.
Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer-
den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu-
ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg-
lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse
aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent-
standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen-
öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die
Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft-
stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur bleibt das
nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft-
stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange-
tastet. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgaskraft-
stoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf Flüssiggas
ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und ist nicht legiti-
mierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff politisch ge-
genüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird.
Ich bin der Überzeugung, dass das vorliegende Gesetz
keinen Bestand haben wird und noch vor Ende der Le-
gislaturperiode ein weniger kurzsichtiges und wider-
sprüchliches Gesetz erforderlich ist. Eine diesbezügliche
Initiative kündige ich hiermit an.
Gabriele Groneberg (SPD): Ich stimme dem vorlie-
genden Gesetzentwurf in der heute zu verabschiedenden
Fassung zu. Erhebliche Bedenken habe ich gegen den
Teil des Gesetzes, der die Besteuerung von Reinbiokraft-
stoffen regelt.
Den nach langen Verhandlungen gefundenen Kom-
promiss kritisiere ich insofern, weil davon auszugehen
ist, dass die generelle Strategie der vollen Besteuerung
dieser Kraftstoffe den Reinbiokraftstoffmarkt gefährden
wird. Gleichzeitig werden die Investitionen in diesen
Markt, welche vor allem von kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen aufgrund von steuerlichen Anreizen
vorgenommen wurden, infrage gestellt.
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Ich halte
die im Gesetzentwurf enthaltene Regelung zur Besteue-
rung von Biodiesel aus industriepolitischer Sicht für
falsch. Das Ergebnis wird sein, dass die Produktion von
Biodiesel in Deutschland keine Zukunftsperspektive hat.
Die im Gesetz vorgesehen Vollbesteuerung ab 2012 hat
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4155
(A) (C)
(B) (D)
schon jetzt erhebliche negative Auswirkungen auf die
Investitionstätigkeit in der Biodieselbranche. Investitio-
nen etwa in Biodieselkraftanlagen amortisieren sich
nach circa acht Jahren. Die Vollbesteuerung ab 2012 be-
deutet, dass für in diesem Jahr gebaute Anlagen eine
komplette Amortisierung nicht mehr möglich ist, was
somit einer Fehlinvestition gleich käme. Neue Investitio-
nen machen betriebswirtschaftlich keinen Sinn und es ist
zu erwarten, dass sie schon dieses Jahr nicht mehr getä-
tigt werden. Nach 2012 wird die Produktion von Biodie-
sel sich in Deutschland nicht mehr rentieren. Dies wird
eine Standortverlagerung der Produktion ins Ausland zur
Folge haben.
Zudem greift die nach wochenlanger Diskussion der
Fachleute vom Bundesfinanzministerium erzwungene
Lösung einer Vollbesteuerung industriepolitisch zu kurz
und ist nicht konsistent durchdacht. Erst wird die Bio-
branche mit Milliardenbeträgen gefördert, um ihr an-
schließend mit der Vollbesteuerung jede Zukunftsper-
spektive zu nehmen. Man hätte sich diese Steuerausfälle,
für die nun der Bundesfinanzminister verantwortlich ist,
gleich sparen können.
Trotz meiner Einwände gegenüber der Besteuerung
von Biodiesel stimme ich dem Gesamtpaket zu.
Dr. Hermann Scheer (SPD): Ich stimme dem Ge-
setz zur Neuregelung der Besteuerung von Energieer-
zeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes
entgegen dem Votum meiner Fraktion nicht zu und
werde mit Nein stimmen. Mit diesem Gesetz wird der
Reinbiokraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl von
Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine volle
Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Diesel-
kraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu
rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge-
stellt werden. Nur wenn die Rohölpreise für fossile
Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese
Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden.
Damit wird eine Entwicklung politisch eingeleitet, in
der die auf Pflanzenöl basierenden Biokraftstoffe über
die geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermono-
pol der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese
Entwicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei-
chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe
erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon-
zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli-
chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat
der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die
neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als
Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden, die
Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduktio-
nen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke und
damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und Be-
schäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunktu-
rellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi-
tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und
Pflanzenöl umgestiegen sind, entweder gefährdet wer-
den oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken.
Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer-
den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu-
ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg-
lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse
aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent-
standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen-
öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die
Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft-
stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur bleibt das
nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft-
stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange-
tastet. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgaskraft-
stoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf Flüssiggas
ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und ist nicht legiti-
mierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff politisch ge-
genüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird.
Ich bin der Überzeugung, dass das vorliegende Gesetz
keinen Bestand haben wird und noch vor Ende der Le-
gislaturperiode ein weniger kurzsichtiges und wider-
sprüchliches Gesetz erforderlich ist. Eine diesbezügliche
Initiative kündige ich hiermit an.
Wolfgang Wodarg (SPD): Ich habe dem Gesetz zur
Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen
und zur Änderung des Stromsteuergesetzes entgegen
dem Votum meiner Fraktion meine Zustimmung verwei-
gert und mit „Nein“ gestimmt. Mit diesem Gesetz wird
der Reinbiokrafftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzöl
von Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine
volle Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Die-
selkraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu
rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge-
stellt werden. Nur wenn die Rapsölpreise für fossile
Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese
Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden.
Damit wir eine Entwicklung politisch eingeleitet, in
der die auf Pflanzöl basierenden Biokraftstoffe über die
geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermonopol
der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese Ent-
wicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei-
chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe
erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon-
zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli-
chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat
der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die
neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als
Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden; die
Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduktio-
nen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke,
und damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und
Beschäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunk-
turellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi-
tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und
Pflanzöl umgestiegen sind, entweder gefährdet werden
oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken.
Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer-
den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu-
ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg-
lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse
aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent-
standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen-
öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die
4156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft-
stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur besteht das
nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft-
stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange-
tastet fort. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgas-
kraftstoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf
Flüssiggas ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und es ist
nicht legitimierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff po-
litisch gegenüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird.
Anlage 13
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: In-
nere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeits-
kampfrecht gewährleisten (Tagesordnungs-
punkt 9 b)
Namens der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
erkläre ich, dass das Votum „Ja“ lautet.
Anlage 14
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
den Anträgen:
– Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba ein-
fordern
– Menschenrechte in Kuba einfordern und die
kubanische Zivilgesellschaft fördern
(Tagesordnungspunkt 36)
In Kuba und anderen Ländern des karibischen Rau-
mes werden Menschenrechte verletzt; auf der Insel Kuba
am heftigsten derzeit in Guantanamo. Ich halte es für
richtig, diese alle anzuprangern und für die Durchset-
zung der Menschenrechte zu kämpfen – wie überall in
der Welt.
Die Entschließung heute halte ich für politische
Selbstbefriedigung! Sie ist angesichts politischer Alter-
nativen möglicherweise kontraproduktiv.
Ich werde mich deshalb der Stimme enthalten.
Anlage 15
Zu Protokolle gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie
und der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtli-
nie (Tagesordnungspunkt 12)
Nina Hauer (SPD): Die SPD-Fraktion hat sich bei
der Umsetzung des Basel-II-Regelwerkes für die Inte-
ressen des Mittelstandes eingesetzt. Zuletzt konnte noch
eine weitere wichtige Änderung für mittelständische
Kreditnehmer erreicht werden, indem die Kreditinstitute
aufgefordert werden, Ratingentscheidungen gegenüber
den Unternehmen offen zu legen. Jetzt steht fest: Basel
II verbessert die Kreditversorgung des Mittelstandes.
Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht begann im
Jahr 1999 mit der Überarbeitung des alten Regelwerkes
Basel I, das einen pauschalen Anrechnungswert von
8 Prozent für Kreditrisiken in Eigenkapital vorsah. Als
Folge dieser Regelung orientierten die Banken ihre Kre-
ditkonditionen nicht an der Bonität des Kunden, sondern
allein an der Kundengruppe, in die der Kunde eingeord-
net wurde. Basel I führte zu der verheerenden Entwick-
lung für Banken und Unternehmen, weil Unternehmen
mit schlechter Bonität und daher höheren Kreditzinsen
bevorzugt wurden.
Das neue Basel II korrigiert die Defizite von Basel I,
indem die Unterlegung von Krediten mit Eigenkapital an
das Ausfallrisiko und damit an die Bonität des Kredit-
nehmers gebunden wird. Diese neue Regelung wird sich
positiv auf die Stabilität der Banken selbst und auf die
des ganzen Finanzmarktes auswirken. Die neuen Regeln
verpflichten die Banken dazu, Risiken bei der Kreditver-
gabe stärker zu unterscheiden und zu bestimmen. Damit
werden die Banken, besonders die kleinen Institute, von
zu hohen Eigenkapitalanforderungen befreit.
Wichtig ist aber, dass das Regelwerk nicht nur unse-
rem Bankensystem gerecht wird, sondern auch die spe-
zielle deutsche Situation der mittelständischen Wirt-
schaft berücksichtigt. Unsere Wirtschaft ist in hohem
Grade abhängig von Krediten und es muss vermieden
werden, dass Unternehmen Schwierigkeiten haben, Ka-
pital zu erhalten.
Die Gefahr, dass Basel II zu einem Problem für die
kleineren und mittelständischen Unternehmen bei der
Kreditvergabe werden könnte, wurde von der alten Bun-
desregierung und dem damaligen Verhandlungsführer
Jochen Sanio frühzeitig erkannt und beseitigt. Die in den
zwei Entschließungen des Bundestages geäußerten
Bedenken und Wünsche konnten im internationalen Ba-
seler Ausschuss erfolgreich durchgesetzt werden. Bei-
spielsweise sieht Basel II vor, Kredite an kleine Unter-
nehmen bis 1 Million Euro mit einem um 25 Prozent
niedrigeren Risikogewicht zu belegen. Unter diese Be-
günstigung fallen 90 Prozent aller Kredite an mittelstän-
dische Unternehmen. Für den Mittelstand bedeuten diese
Verhandlungserfolge bessere Kreditbedingungen als un-
ter dem vorherigen Regelwerk Basel I.
Das Verhandlungsergebnis des Baseler Ausschusses,
Basel II, wurde zunächst in eine EU-Richtlinie gegossen.
Diese wird nun in nationales Recht umgesetzt. Wichtig
war für meine Fraktion bei dieser Umsetzung, dass die
Banken zu einem verantwortungsvollen und transparen-
ten Verhalten gegenüber ihren Kunden verpflichtet wer-
den. Die Banken müssen die Bonität und die Risiken
einer Kreditvergabe einschätzen und stehen hier vor gro-
ßen Herausforderungen. Mehr als zuvor wird durch
Basel II den Banken auch eine Beraterrolle gegenüber
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4157
(A) (C)
(B) (D)
mittelständischen Unternehmen zukommen, die ihre
Kreditkonditionen verbessern möchten. Gerade kleine
und mittlere Unternehmen ohne eigene Finanzabteilung
oder Ressourcen für einen Unternehmensberater müssen
von ihrer Bank Hilfestellungen bekommen, um ihre Bo-
nität und ihr Ratingergebnis für Bankkredite zu verbes-
sern.
Die SPD-Fraktion hat sich daher dafür eingesetzt,
dass der Deutsche Bundestag die Kreditwirtschaft
auffordert, den Kreditnehmern die sie betreffenden
Ratingergebnisse offen zu legen und die wesentlichen
Parameter für ihr Zustandekommen zu erläutern. Die
Kreditwirtschaft wird in der Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses aufgefordert, eine Selbstverpflich-
tung vorzulegen, die diese Transparenz sicherstellt. Es
gibt also genügend gute Gründe, dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zuzustimmen. Die SPD-Fraktion
wird dies tun.
Abschließend möchte ich mich bei den Berichterstat-
terkollegen der anderen Fraktionen und beim Bundes-
ministerium der Finanzen für die konstruktive und gute
Zusammenarbeit bedanken.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Wir haben ja heute
schon einige Stunden hier zusammen hinter uns; es ist
jetzt eigentlich Zeit fürs Abendessen und ein kaltes Bier
und etwas Fußball. Da lässt bei einigen die Konzentra-
tion schon etwas nach. Deswegen will ich mit einem
ganz einfachen Gedanken anfangen. Basel II soll die
Finanzmärkte stabilisieren und Finanzcrashs verhindern.
Und wenn wir Finanzcrashs verhindern wollen, müssen
wir fragen: Was kann Finanzcrashs auslösen? Schauen
wir in die Finanzpresse der letzten Wochen und Monate.
Da wird durchaus über Finanzcrashs diskutiert. Da fin-
den Sie Überschriften wie „Hedge-Fonds leiden unter
Marktturbulenzen“ – „FTD“ vom 19. Juni –, „Bundes-
bank geht Hedge-Fonds an – Warnung vor Risiken durch
aggressive Investoren“ – „FTD“ vom 17. Mai –, „Noten-
bank warnt vor Finanzcrash – EZB fürchtet Kollaps eines
großen Hedge-Fonds“ – „FTD“ vom 18. Mai –, „Banken-
verband warnt vor Hedge-Fonds“ – „FTD“ vom 13. Juni.
Wenn sich die Finanzpresse da nicht gewaltig irrt,
scheinen Hedgefonds – unregulierte, intransparente und
hochriskante Hedgefonds – doch in einem gewissen Zu-
sammenhang mit Finanzcrashs zu stehen. Und wenn
dem so ist, muss man doch fragen: Wie geht Basel II das
Problem Hedgefonds an? Und da muss ich sagen: mit
Samthandschuhen. Wo ist ein Mindestkapitalzuschlag
für Banken, die Kredite an hochriskante Hedgefonds
vergeben, die mit hochriskanten Hedgefonds Geld ver-
dienen? Und die oft gar nicht genau wissen – oder wis-
sen wollen –, welche Risiken sie dabei eingehen? Selbst
die Bundesbank schreibt doch mittlerweile, dass es ein
Problem ist, dass Banken oft nicht genau wissen, welche
Risiken sie bei ihren Geschäften mit Hedgefonds einge-
hen.
Basel II hätte grundsätzlich eine Möglichkeit geboten,
dem Einhalt zu gebieten. Mit Basel II werden auch die
Regeln geändert, nach denen ermittelt wird, wie viel
Mindestkapital eine Bank vorzuhalten hat. Hier hätte
eine indirekte Regulierung ansetzen können und für For-
derungen von Banken gegenüber Hedgefonds einen
deutlich erhöhten Mindestkapitalfaktor vorschreiben
können. So würde dem besonderen Risikocharakter die-
ser Forderungen Rechnung getragen und eine Krisen-
übertragung von Hedgefonds auf das Bankensystem er-
schwert.
Zudem träte ein Lenkungseffekt zugunsten transpa-
renter, weniger riskanter Anlagealternativen ein. Mit den
Mindestkapitalanforderungen steigen die Kosten einer
Bank, und die davon betroffenen Geschäfte werden für
Banken und/oder Hedgefonds unattraktiver.
Natürlich hätte man für eine wirksame internationale
Kontrolle das alles in Basel vereinbaren müssen oder zu-
mindest in Brüssel. Ich will mit alledem hauptsächlich
auf eines hinweisen: Eine andere Politik ist grundsätz-
lich möglich. Es ist möglich, internationale Finanz-
märkte zu regulieren. Die Instrumente sind vorhanden,
sie werden aber nicht genutzt. Und da müssen wir anset-
zen. Wir müssen – zusammen mit Gewerkschaften, zu-
sammen mit sozialen Bewegungen – den entsprechenden
gesellschaftlichen Druck entwickeln. Wir müssen zei-
gen: Eine andere Politik ist nicht nur möglich, wir wol-
len eine andere Politik auch durchsetzen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmt dem Ge-
setzentwurf zur Umsetzung der Banken- und der Kapi-
taladäquanzrichtlinie in deutsches Recht zu. Wir haben
ja auch bereits in der letzten Legislaturperiode intensiv
an seinem Entstehen mitgewirkt und die Verhandlungen
auf internationaler und europäischer Ebene gemeinsam
mit den anderen Fraktionen konstruktiv begleitet. Vor al-
lem ging es uns Grünen darum, dass die neu gefasste
Bankenrichtlinie kleinen und mittleren Unternehmen
keine zusätzlichen Schwierigkeiten bei der Finanzierung
aufbürdet.
Das vorliegende Gesetz, eher bekannt unter dem
Stichwort Basel II, weil es auf die Vereinbarung im Bas-
ler Bankenausschuss zurückgeht, gibt Anreize zur Mo-
dernisierung des Risikomanagements der Banken und
sorgt dafür, dass die Eigenkapitalunterlegung sich künf-
tig nach der Bonität des Kreditnehmers richtet. Notwen-
dig sind dafür unter anderem Änderungen der internen
Bankprozesse zu Forderungen, Sicherheiten und Ra-
tings. Nicht alle Kreditinstitute haben diese Änderungen
bereits vollständig vorgenommen. Da ist noch einiges zu
tun.
Ich möchte auf ein paar einzelne Aspekte dieser um-
fangreichen neuen Regulierung eingehen.
Erstens begrüßen wir ausdrücklich, dass die Bundes-
regierung eine Reihe von Wahlrechten so genutzt hat,
dass die Umsetzung der Bankenrichtlinie der deutschen
Bankenstruktur angemessen ist. An erster Stelle ist hier
das Thema Intragruppenforderungen zu nennen, also die
Frage, wie Forderungen innerhalb der Haftungsverbünde
von Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu bewer-
ten sind. Weil Sparkassen und Genossenschaftsbanken
gerade bei der Kreditversorgung kleiner und mittlerer
4158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Unternehmen eine besondere Rolle spielen, ist das für
uns wirtschaftspolitisch von großer Bedeutung.
Zweitens – das ist in der Anhörung deutlich gewor-
den – muten wir den Marktteilnehmern mit diesem um-
fangreichen Gesetzeswerk, zu dem dann auch noch die
überarbeitete Solvabilitätsverordnung und die Groß- und
Millionenkreditverordnung hinzukommen werden, eini-
ges zu. Gerade für kleine Banken ist das eine große ad-
ministrative Belastung. Zumindest den Vorschlag, mit
einer Neufassung des Kreditwesengesetzes dazu beizu-
tragen, dass dieses wieder lesbar wird, sollten wir nicht
in den Anhörungsunterlagen verstauben lassen.
Drittens ist uns wichtig – das ist einer der Gründe für
unseren Entschließungsantrag, den wir zu diesem Gesetz
einbringen –, dass bei den Fragen des Datenschutzes
eine klare Abgrenzung zwischen dem Bundesdaten-
schutzgesetz und dem Kreditwesengesetz als Spezial-
norm vorgenommen wird. Diese Anregung aus der An-
hörung hätte aufgegriffen werden sollen.
Schließlich: Uns reicht der Entschließungsantrag der
großen Koalition und der FDP, der die Wirtschaft zu ei-
ner Selbstverpflichtungserklärung auffordert, nicht aus.
Wir befürchten, dass wir mit dem Verfahren von Selbst-
verpflichtungserklärung und Bericht für lange Zeit eine
unbefriedigende Situation haben werden. Kreditsu-
chende Unternehmen und Verbraucherinnen und Ver-
braucher sollten das Recht dazu haben, dass ihnen die
Ratingentscheidungen der Banken in nachvollziehbarer
Weise schriftlich offen gelegt werden. Nur so kann si-
chergestellt werden, dass offensichtliche Unrichtigkeiten
im Ratingprozess entdeckt werden und die Kreditnehmer
ihre Ratingfaktoren, soweit möglich, so beeinflussen
können, dass sie ihr Risiko vermindern. Diese Rechte
von Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbrau-
chern durchzusetzen und damit eine Abwägung zwi-
schen den Rechten von Anbietern und Nachfragern auf
dem Kreditmarkt vorzunehmen, ist Aufgabe des Gesetz-
gebers. Dies bringen wir in unserem Entschließungsan-
trag zum Ausdruck.
Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister
der Finanzen: Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der
neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten
Kapitaladäquanzrichtlinie liegt Ihnen heute zur abschlie-
ßenden Beratung vor. Er ist Teil der Umsetzung der
neuen bankaufsichtlichen Eigenkapitalvorschriften – Ih-
nen sicher besser bekannt unter dem Stichwort
„Basel II“.
In der heutigen Sitzung wird eine der grundlegenden
Modernisierungen unseres Bankenaufsichtsrechts ab-
schließend beraten. Sowohl für die Kreditwirtschaft als
auch für die Bankenaufsicht beinhaltet der Gesetzent-
wurf ohne Zweifel die bedeutendsten Änderungen seit
den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Hinter uns liegt ein langer, aber erfolgreicher inter-
nationaler Verhandlungsprozess. Die Bundesregierung
– unterstützt durch den Deutschen Bundestag – hat die-
sen knapp siebenjährigen Prozess in enger Abstimmung
mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
und der Deutschen Bundesbank begleitet. So ist es uns
gelungen, insbesondere eine faire Behandlung von Mit-
telstandskrediten durchzusetzen. Die in den Baseler und
Brüsseler Verhandlungen erzielten Erfolge sollen mit
diesem Gesetzentwurf im deutschen Bankenaufsichts-
recht verankert werden.
Dieses moderne Regelwerk ist dadurch gekennzeich-
net, dass sämtlichen Instituten wahlweise sowohl stan-
dardisierte Verfahren als auch bankeigene Modelle zur
Risikomessung und Berechnung der Eigenkapitalunter-
legung zur Verfügung stehen. Alle Verfahren haben ei-
nes gemeinsam: Sie knüpfen die Eigenkapitalunterle-
gung stärker als bisher an das Risiko eines Kredites.
Damit werden den Banken Anreize gegeben, die Risiken
genauer zu bestimmen und die benötigten Systeme kon-
tinuierlich fortzuentwickeln. Die Stabilität unseres Fi-
nanzsystems wird davon profitieren.
Die geplanten Änderungen des Kreditwesengesetzes
basieren im Wesentlichen auf Vorgaben der beiden EU-
Richtlinien. Der Gesetzentwurf ist strikt an den Min-
destanforderungen der Richtlinien ausgerichtet. Aller-
dings weisen allein die Vorgaben aus Brüssel einen be-
trächtlichen Umfang auf.
Nationale Wahlrechte, die die EU-Richtlinien bieten,
haben wir zugunsten der Kredit gebenden und Kredit
nehmenden Wirtschaft genutzt. Zu diesen Wahlrechten
gehören auch sämtliche Regelungen zugunsten von Mit-
telstandskrediten. Das so genannte Mittelstandspaket
von Basel II beinhaltet eine niedrigere Eigenkapitalun-
terlegung für kleinvolumige Kredite und eine stärkere
Berücksichtigung von Kreditsicherheiten. Dadurch wer-
den auch Kredite an Handwerker, Freiberufler und Land-
wirte entlastet. Geringere Eigenkapitalanforderungen für
Wohnimmobilienfinanzierungen werden privaten Haus-
halten nützen.
Zur Umsetzung der neuen Eigenkapitalregelungen in
das deutsche Bankenaufsichtsrecht sind neben dem vor-
liegenden Gesetzentwurf zwei Rechtsverordnungen mit
eher technischen Bestimmungen vorgesehen. Die not-
wendigen Ermächtigungsgrundlagen hierzu sind im Ge-
setzentwurf enthalten.
Die Sorge vor allem kleinerer Institute, die neuen
Vorschriften könnten unverhältnismäßig hohe Hürden
darstellen, wurde von der Bundesregierung sehr ernst
genommen. Mittlerweile lässt sich aber sagen, dass das
deutsche Bankensystem insgesamt von den neuen Vor-
schriften profitieren wird. Eine aktuelle Studie zeigt,
dass die Eigenkapitalanforderungen des deutschen Ban-
kensektors um 6,7 Prozent sinken würden, wenn die
neuen Regelungen bereits jetzt in Kraft wären. Beson-
ders hervorzuheben ist, dass Banken mit einem höheren
Anteil am Geschäft mit privaten Haushalten sowie klei-
nen und mittleren Unternehmen noch stärker profitieren.
Die notwendige Eigenkapitalunterlegung dieser Banken
würde sogar um 8,4 Prozent sinken.
Die neuen Vorschriften sollen erstmals ab dem 1. Ja-
nuar 2007 gelten. Kreditwirtschaft und Bankenaufsicht
bereiten sich seit Monaten intensiv auf dieses Datum
vor. Die enormen Anstrengungen werden unternommen,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4159
(A) (C)
(B) (D)
weil die rechtzeitige und sachgerechte Umsetzung von
Basel II zum Nutzen des Finanzplatzes Deutschland sein
wird.
Mit der heutigen abschließenden Beratung im Deut-
schen Bundestag ist die Umsetzung von Basel II in
Deutschland unaufhaltsam vorangeschritten. Länder, die
mit der Umsetzung der Baseler Vereinbarung bisher
noch zögern, werden sich von der erfolgreichen Umset-
zung in Deutschland und ganz Europa überzeugen kön-
nen.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Patientenverfügun-
gen neu regeln – Selbstbestimmungsrecht und
Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Pati-
enten stärken (Tagesordnungspunkt 13)
Ute Granold (CDU/CSU): Bereits in der vergange-
nen Legislaturperiode haben wir in diesem Haus über die
notwendige dritte Änderung des Betreuungsrechts debat-
tiert, allerdings haben sich durch den Regierungswechsel
die weiteren Beratungen in dieser Frage verzögert. Die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD haben dann im Ko-
alitionsvertrag festgeschrieben, die Diskussion über die
gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzu-
führen und abzuschließen.
Schon damals, im März 2005, bestand bei den Frak-
tionen Konsens, zügig den rechtlichen Rahmen der Pati-
entenverfügung verbindlich festzulegen, um in dieser
Frage die notwendige Rechtssicherheit bereitzustellen.
Dies wird bereits seit Jahren auch von den verschiedens-
ten Seiten angemahnt. So hat der BGH in seinem Urteil
vom 12. März 2003 einige zentrale Kriterien der Patien-
tenverfügung festgelegt und die Bedeutung der Patien-
tenverfügung an sich deutlich aufgewertet.
Die höchstrichterliche Entscheidung hat jedoch viele
Fragen offen gelassen, auf die wir seitdem nach befriedi-
genden Antworten suchen. In diese Diskussion sind mit-
tlerweile auch die Ergebnisse des Zwischenberichts der
Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen
Medizin und der interdisziplinären Arbeitsgruppe des
BMJ eingeflossen. Die zahlreichen Eingaben von Bür-
gern und Verbänden, von denen ich stellvertretend für
viele die der Deutschen Hospizstiftung und der beiden
Kirchen nenne, haben die Politik zusätzlich zum Han-
deln gemahnt und weitere konstruktive Diskussionsbei-
träge geleistet.
Dabei waren wir uns einig, dass die Initiative zu
einem Gesetzentwurf aus der Mitte des Parlaments kom-
men sollte. Die diesbezüglichen Beratungen in den Frak-
tionen sind noch nicht abgeschlossen. In der Unionsfrak-
tion liegt bereits ein internes Diskussionspapier vor, das
nach der Sommerpause abschließend beraten werden
wird. Wir gehen davon aus, dass es dann aus der Mitte
des Parlamentes durchaus mehrere konkurrierende über-
und auch interfraktionelle Gruppenanträge geben wird.
Da es bei der rechtlichen Ausgestaltung der Patien-
tenverfügung um eine Frage geht, die unterschiedliche
Überzeugungen berührt und deshalb unterschiedliche
Konsequenzen zur Folge hat, wird die Abstimmung da-
rüber letztendlich freizugegeben sein. Aufgrund der Be-
deutung des Themas ist es unserer Meinung nach besser,
in der beschriebenen Form aus der Mitte des Parlamen-
tes aktiv zu werden, statt dass eine Fraktion die Regie-
rung zum Handeln auffordert.
Darüber hinaus können wir die von der FDP-Fraktion
aufgestellten Forderungen an einen Gesetzentwurf auch
inhaltlich nicht in allen Punkten mittragen, da diese in
den zentralen Punkten des Lebensschutzes zu vage blei-
ben und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ab-
solut setzen.
In den anstehenden Beratungen kann zu Recht von
den Menschen erwartet werden, dass ihre Unsicherhei-
ten und Ängste in die Beratungen in vollem Umfang mit
aufgenommen werden müssen. Im Spannungsfeld zwi-
schen dem grundgesetzlich verankerten Schutz des Le-
bens und dem dort ebenso verankerten Recht auf Selbst-
bestimmung müssen in diesem Haus auf breiter Basis
tragbare Regelungen gefunden werden. Dabei geht es
auch um die Frage nach dem weitgebundenen Maßstab
von Politik, um die Frage nach dem Menschenbild.
Aus dem Antragstext der FDP-Fraktion ist zu entneh-
men, dass unseren Überlegungen gegensätzliche Vorstel-
lungen zum Menschenbild zugrunde liegen. Ausgangs-
punkt unserer Argumentation ist ein Menschenbild, das
auch unserer Verfassung zugrunde liegt und antike, jüdi-
sche und vor allem christliche Quellen hat. Dieses Men-
schenbild bestimmt sich über dem Begriff der Würde,
die absolut ist. Wer diesen Absolutheitsanspruch versagt,
muss wissen, dass er damit Dritten eine Verfügungsvoll-
macht zubilligt, die das Ende der Selbstbestimmung ei-
nes Menschen bedeutet.
Die Würde des Menschen ist vor jeder Einschränkung
zu schützen, und zwar unabhängig von seiner augen-
blicklichen Verfassung. Sie ist unantastbar. Damit sind
auch der eigenen Gestaltungsmacht Grenzen gesetzt. In
diesem Punkt unterscheiden sich unsere Vorstellungen
also fundamental von denen, die in dem hier vorliegen-
den Antrag zutage treten.
Der Natur ihr Recht zu belassen, verlangt den Ver-
zicht auf sterbebeschleunigende Maßnahmen und gebie-
tet umgekehrt nicht den Einsatz einer lebensverlängern-
den Maßnahme um jeden Preis. Wenn aus Lebensschutz
Lebenspflicht wird, ist eine Radikalisierung der Forde-
rungen hin zu einer Zulassung der aktiven Sterbehilfe
Tür und Tor geöffnet.
Die Schlussfolgerung hieraus ist unter einem christli-
chen Menschenbild ein unmissverständliches Verbot der
aktiven Sterbehilfe. Passive Sterbehilfe hingegen, die
hinzielt auf ein menschenwürdiges Sterbenlassen, ist er-
laubt und vielleicht sogar in einer größeren Zahl von Fäl-
len geboten.
Wenn nun die Frage gestellt wird, wer entscheidet,
was zu tun oder zu lassen ist, dann steht sicherlich der
Wille des Patienten im Vordergrund, begleitet von dem
4160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Arzt. Gesetzgebung und Rechtssprechung haben hierbei
einen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen eine Entschei-
dung zu treffen ist. Letztendlich fließen jedoch zahllose
Einzelgesichtspunkte in die Entscheidungen ein, die ein
kluges und bedachtes Urteil erfordern.
Eine komplette Verrechtlichung dort vorzunehmen,
wo der Mensch dem Gang der Natur folgend die Grenze
zwischen Leben und Tod überschreitet, bringt uns keiner
Lösung näher. Es ist nicht Aufgabe des Staates und der
Politik, Antworten auf die letzten Fragen menschlicher
Existenz zu geben. Krankheit, Sterben und Tod sind für
jede menschliche Ordnung unverfügbar. Aufgabe des
Staates ist es aber, die Bedingungen und Chancen für ein
menschenwürdiges Leben und Sterben zu schaffen: für
ein Gesundheitssystem, das alle Fortschritte der Medizin
bis hin zur Minimierung des Schmerzes allen Mitglie-
dern der Gesellschaft öffnet, sowie eine Ordnung, die
den Schutz auch der hilflosen Mitglieder der Gesell-
schaft bis zuletzt garantiert.
Die Erfahrungen in der Palliativmedizin und der Hos-
pizbewegung sind in dieser Situation gleich; kein
Schwerkranker will sterben, wenn seine Schmerzen und
andere Symptome kontrolliert sind und er als Mensch
angenommen ist. Der elementare Lebenswunsch der
Schwerkranken muss Wegweiser für die flächende-
ckende Ausweitung der Palliativmedizin und Hospizbe-
wegung wie auch der qualifizierten Aus- und Weiterbil-
dung der dort tätigen Menschen sein.
Wenn der Wille des Patienten – ich denke, darüber
sind wir uns einig – Maßstab des Handelns sein soll,
dann findet er in der so genannten Patientenverfügung in
Fällen fehlender Entscheidungsfähigkeit seine Rechtfer-
tigung in unserer Verfassung als Ausdruck der Selbstbe-
stimmung.
Da noch keine verbindlichen Fraktionsmeinungen
vorliegen, erscheint es mir sinnvoll, im Folgenden noch
einmal die Problemfelder zu umreißen und die noch of-
fenen Fragen ansprechen, die grundsätzlich hinsichtlich
der Verbindlichkeit, der Wirksamkeitsvoraussetzungen,
der Umsetzung und der Beteiligung des Vormund-
schaftsgerichts bestehen.
Im Konsens, dass die Basisversorgung – Ernährung
und Körperpflege – nicht zur Disposition stehen darf,
findet die Verbindlichkeit der Patientenverfügung ihre
Grenze im geltenden Recht, das durch das schon ange-
sprochene BGH-Urteil präzisiert worden ist: Der BGH
hat in seiner Entscheidung vom 12. März 2003 deutlich
gemacht, dass lebenserhaltende oder -verlängernde
Maßnahmen bei einem Patienten unterbleiben müssen,
wenn dieser einwilligungsunfähig ist, sein Grundleiden
einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat
und er zuvor seinen entsprechenden Willen – etwa in
Form einer Patientenverfügung – deutlich geäußert hat.
In diesem Zusammenhang ist genau zu prüfen, wie mit
weiteren Krankheitsbildern wie zum Beispiel der fortge-
schrittenen Demenz und mit Wachkomapatienten umzu-
gehen ist.
Möglichen Missbrauchsgefahren kann durch erhöhte
Qualitätskriterien, also Schriftform der Patientenverfü-
gung und Informationspflichten einerseits sowie entspre-
chende Verfahrensvorschriften andererseits – obligatori-
sche Beteiligung des Vormundschaftsgerichts und des
Konsils – begegnet werden. Es ist erfreulich, dass bezüg-
lich des Schriftformerfordernisses der Patientenverfü-
gung inzwischen allgemeiner Konsens besteht. Wün-
schenswert wäre auch, eine vorgeschaltete
Beratungspflicht und eine regelmäßige Aktualisierung
als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung festzuschrei-
ben.
Ein Konsil sollte in allen Fällen verbindlich festge-
schrieben werden, wobei in diesem Zusammenhang das
Erfordernis der weiteren Einschaltung des Vormund-
schaftsgerichts im Einzelnen geprüft werden sollte. Eine
vormundschaftsgerichtliche Entscheidung sollte nur
dann erforderlich sein, wenn eine verbindliche Patien-
tenverfügung nicht vorliegt und ein Konsens im Konsil
nicht erzielt werden kann. Diese Differenzierung ist ge-
rechtfertigt, wenn für die Patientenverfügung ein hoher
Qualitätsstandard gefordert wird, was zu begrüßen wäre.
Es ist unsere Aufgabe – ebenso wie bei der Vorsorge-
vollmacht –, bei den Menschen dafür zu werben, dass sie
sich für eine qualifizierte Patientenverfügung entschei-
den und damit selbst bestimmen, wie sie für sich die
Phase ihres Lebensendes gestalten wollen. Die Tatsache,
dass nach Schätzung der Deutschen Hospizstiftung
schon 2003 circa 7 Millionen Menschen eine Patienten-
verfügung verfasst hatten und die Diskussion der ver-
gangenen Jahre die Menschen zusätzlich für dieses
Thema sensibilisiert hat, unterstreicht, dass wir die dazu
notwendigen rechtlichen Kriterien dringend verbindlich
regeln müssen.
Zum Leben gehört das Sterben in Würde im Kreis der
Familie. Der fortschreitenden Entsozialisierung des Ster-
bens muss entgegen getreten werden. Sterben ist nicht
nur ein körperlicher Prozess, er hat auch eine seelische,
soziale, familiäre und geschichtliche Dimension. Der
Fortschritt der Medizin ist dankenswerterweise rasant,
kann und darf aber nicht zu einem unwürdigen Sterben
führen. Hoffen wir also, dass dieses Haus schon bald in
einem breiten Konsens die Rechtsgrundlage hierfür
schafft.
Markus Grübel (CDU/CSU): Lassen sie mich zwei
Gesichtspunkte zum Antrag der FDP „Patientenverfü-
gungen neu regeln“ ansprechen: erstens eine formale Be-
trachtung, zweitens eine inhaltliche Betrachtung.
Zur formalen Seite: Der Antrag ist gestellt von einzel-
nen Abgeordneten der FDP und der Fraktion der FDP.
Bei ethisch-rechtlichen Fragestellungen kann man aus
unterschiedlicher Überzeugung und unterschiedlichen
Werteordnungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kom-
men. Für unterschiedliche Auffassungen gibt es auch bei
der Frage der Patientenverfügung durchaus gute Gründe.
Jeder Abgeordnete soll dann frei nach seinem Gewissen
entscheiden. So haben wir es beim § 218 StGB, beim
Transplantationsgesetz und beim Stammzellengesetz
gemacht. So wollen wir es auch bei den Patientenverfü-
gungen machen. Bei der FDP gibt es offensichtlich ein
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4161
(A) (C)
(B) (D)
kollektives Fraktionsgewissen. Das halte ich für bemer-
kenswert und sehr bedenklich.
Der Antrag der FDP ist darauf gerichtet, dass die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Dies ist
aber überhaupt nicht der Wunsch der Mehrheit des Hau-
ses. Mit dem Entwurf für ein 3. Betreuungsrechtsände-
rungsgesetz wurde vom BMJ ein solcher Gesetzentwurf
erarbeitet und nach massiver Kritik wieder zurückgezo-
gen. Eine Mehrheit in diesem Hause ist der Ansicht, dass
es Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlaments geben
sollte. Dies werden wohl fraktionsübergreifende Grup-
penanträge sein. Und das ist auch richtig so. Im Herbst
2006 soll in den Fraktionen dazu der Abstimmungspro-
zess erfolgen. Eine Neuregelung könnte dann im Som-
mer 2007 in Kraft treten.
Zur inhaltlichen Seite: Die FDP macht das Selbstbe-
stimmungsrecht zum alleinigen Maßstab der Entschei-
dung. Sie wägt dabei die verschiedenen Verfassungs-
werte: – Selbstbestimmung, Lebensschutz und ein
Tötungstabu und die Menschenwürde – nicht angemes-
sen gegeneinander ab. Für den Widerstreit dieser ver-
schiedenen Verfassungswerte ist vom Gesetzgeber ein
möglichst schonender Ausgleich zu finden. Die FDP hat
auch nicht richtig abgewogen, wie sich der aktuelle vom
vorausverfügten Willen, der konkrete vom abstrakten
Willen und die reale Entscheidung von einer theoreti-
schen Entscheidung voneinander unterscheiden.
Jedenfalls komme ich für meinen Teil zum Ergebnis,
dass eine Abwägung zu einer Patientenverfügung führt,
deren Reichweite begrenzt ist – wie von der Enquete-
Kommission des Bundestages vorgeschlagen – und die
möglicherweise eine besondere Regelung für das über
sehr lange Zeit stabile Wachkoma, wenn trotz Ausschöp-
fung aller medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein
niemals wiedererlangt werden kann, vorsieht, und zwar
wie in den Überlegungen der EKD unter dem Titel „Ster-
ben hat seine Zeit“ dargestellt. Darüber werden wir noch
ausführlich diskutieren.
Es gibt auch große Übereinstimmung im Parlament:
Wir wollen die bestehende Rechtsunsicherheit durch
eine Änderung im Zivilrecht beenden, den Menschen die
Sorge vor einer Übertherapie nehmen und Verbesserun-
gen im Bereich der Hospizarbeit und palliativmedizini-
schen Versorgung erreichen. Daran wollen wir gemein-
sam arbeiten.
Christoph Strässer (SPD): In diesem Monat ist bei
unseren Nachbarn in Österreich das neue Gesetz zur Pa-
tientenverfügung in Kraft getreten. Mit den Stimmen der
Regierungskoalition sowie der Grünen beschloss der Na-
tionalrat im März, dass Patienten schriftlich festlegen
können, welche medizinischen Maßnahmen sie am Le-
bensende wünschen. Lebensverkürzende Maßnahmen
im Sinne dessen, was wir als aktive Sterbehilfe bezeich-
nen, bleiben verboten. Die Sozialdemokraten dort
stimmten gegen das Gesetz, weil es für sie zu strenge
Formvorschriften enthalte.
Das Gesetz verlangt nämlich zur Wirksamkeit der Pa-
tientenverfügung unter anderem: eine medizinische
Pflichtberatung, eine schriftliche Abfassung beim Notar
oder Rechtsanwalt und eine Erneuerung der Willenser-
klärung alle fünf Jahre.
Auch in Deutschland findet bereits seit einiger Zeit
eine breite gesellschaftliche Diskussion statt. Am Ende
der letzten Legislaturperiode waren interfraktionelle
Verhandlungen für einen Gesetzentwurf schon weit fort-
geschritten, konnten aber aus den bekannten Gründen
nicht mehr zum Abschluss gebracht werden. Vorberei-
tungen für einen geordneten und verantwortungsbewuss-
ten Diskussions- und Entscheidungsprozess sind, wie
Sie wissen, im Gange. Das ist auch wichtig, denn das
Thema bewegt die Menschen. Das habe ich nicht zuletzt
in zahlreichen Veranstaltungen in meinem Wahlkreis
Münster und darüber hinaus festgestellt. Diskussionen
zur Patientenverfügung gehörten immer nicht nur zu den
am besten besuchten Veranstaltungen, sie ergaben auch
immer leidenschaftliche, aber auch sehr sachliche Ausei-
nandersetzungen um dieses hochsensible Thema.
In den letzten Jahren ist in diese Frage große Bewe-
gung gekommen. Demografische und gesellschaftliche
Veränderungen auf der einen sowie der medizinische
Fortschritt auf der anderen Seite haben dazu geführt,
dass viele ältere, aber zunehmend auch junge Menschen
sich mit dem Thema beschäftigen. Man schätzt, dass be-
reits mehrere Millionen Menschen eine Patientenverfü-
gung abgeschlossen haben.
Im Zuge dieser Entwicklung hat auch der BGH die
Patientenrechte in den letzten Jahren immer wieder ge-
stärkt. Im Jahr 2003 hat er die Bedeutung der Patienten-
verfügung hervorgehoben und als unmittelbar rechtsver-
bindliche Willenserklärung gewertet. Im Jahr 2005 gab
es einen weiteren Beschluss, in dem sich das Gericht ge-
gen Zwangsbehandlungen ausgesprochen hat. Letztlich
sind aber auch in all diesen Entscheidungen wichtige
Fragen offen geblieben, so die zentrale Frage nach der
Reichweite einer Verfügung auch für den Fall, dass es
sich nicht um einen Krankheitsverlauf handelt, der „in-
faust“ ist, also irreversibel zum Tod führt.
Es ist in der Gesellschaft ein Paradigmenwechsel zu
beobachten: weg von einem medizinischen Paternalis-
mus hin zu mehr Autonomie des Patienten. Es wächst
das Bedürfnis der Menschen nach mehr Selbstbestim-
mung – gerade auch nach Selbstbestimmung zum Ende
des Lebens.
Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Be-
treuungsverfügungen können dabei wirksame Wege sein
und – eine entsprechende rechtliche Absicherung vo-
rausgesetzt – auch wertvolle Hilfestellung leisten.
Das Interesse bei den Bürgerinnen und Bürgern da-
nach ist groß. Die Unwissenheit und Unsicherheit aber
auch. Viele Betroffene sind zu Recht verunsichert, weil
sie nicht wissen, inwieweit ihre Verfügungen rechtsver-
bindlich sind. Über 200 Leitfäden und Musterverfügun-
gen tragen eher zur Verwirrung als zur Übersichtlichkeit
und Klarheit bei. Viele haben die Befürchtung, dass sich
Ärzte nicht an die Verfügung halten. Viele erliegen dem
Glauben, Angehörige könnten ohne weiteres für sie ent-
scheiden.
4162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Im Hinblick auf die wachsende Zahl an Patientenver-
fügungen besteht daher ein gesetzgeberischer Hand-
lungsbedarf. Eine im Betreuungsrecht gesetzlich gere-
gelte Patientenverfügung ist daher zu begrüßen. Sie
stärkt die Rechte der Patienten und sorgt für ein größeres
Maß an Rechtklarheit und Rechtssicherheit bei allen Be-
teiligten. Ich denke, das ist das, was die Betroffenen von
uns, dem Gesetzgeber, erwarten. Das sollten wir ihnen
auch geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, insofern
bieten Ansätze aus Ihrem Antrag eine Diskussionsgrund-
lage. Sie sind aber nicht neu und insbesondere meiner
Meinung nach an den falschen Adressaten gerichtet. Wir
haben uns in der letzten Legislaturperiode darauf ver-
ständigt, dass nicht die Bundesregierung einen Gesetz-
entwurf in das Gesetzgebungsverfahren einbringen wird,
sondern aus den Fraktionen heraus eigene Gruppenan-
träge in den Bundestag eingebracht werden sollten. Ich
halte das für die richtige Vorgehensweise, richtig des-
halb, weil sich die ethischen Grundlagen, um dies es
geht, nicht an Partei- oder Fraktionsgrenzen festmachen
lassen. Hier sind im wahrsten Sinne des Wortes „Gewis-
sensentscheidungen“ erforderlich. Ansatzpunkte für der-
artige Anträge bieten der Zwischenbericht der Enquete-
kommission „Ethik und Recht in der modernen
Medizin“ des Deutschen Bundestages aus dem Jahr
2004, die Stellungnahmen des Nationalen Ethikrates aus
dem Jahr 2005 und die Vorarbeiten unserer Fraktionen,
warum nicht auch die eine oder andere Entwicklung aus
Österreich oder anderen Ländern die gesetzliche Rege-
lungen gefunden haben.
Inhaltlich möchte ich schon an dieser Stelle vorweg-
nehmen, dass ich der Auffassung bin, dass die Patienten-
verfügung erstens unbedingt schriftlich abgefasst sein
muss. Der Schriftform kommt eine wichtige Beweis-
und Schutzfunktion zu – für den Verfasser und für den
behandelnden Arzt.
Zweitens sollte auf weitere Wirksamkeitsvorausset-
zungen verzichtet werden. Zahlreiche formale Hürden
wie in Österreich schränken meiner Ansicht nach das
Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen zu sehr ein,
in jeder und für jede Phase des menschlichen Lebens
steht das Prinzip der Menschenwürde und das Recht auf
Selbstbestimmung, abgeleitet aus den Art. l und 2 unse-
res Grundgesetzes, absolut im Vordergrund.
Drittens. Die Reichweite der Verfügung sollte deshalb
auch nicht beschränkt und damit dem Selbstbestim-
mungsrecht aus Art. 2 GG keine Grenzen gesetzt wer-
den.
Viertens. Die Zuständigkeit des Vormundschaftsge-
richtes sollte auf Konfliktfälle begrenzt werden.
Fünftens. Neben diesen gesetzlich zu regelnden Punk-
ten empfehle ich jedem Betroffenen gleichwohl, vor
dem Aufsetzen einer Patientenverfügung, ein ärztliches
Aufklärungsgespräch zu suchen sowie die Patientenver-
fügung möglichst umfassend und konkret abzufassen
und regelmäßig zu aktualisieren.
Ich weise aber ausdrücklich daraufhin, dass dies mei-
ner Meinung nach keine Wirksamkeitsvoraussetzungen
sein sollten.
Zum Abschluss ist es mir wichtig, darauf hinzuwei-
sen, dass die Patientenverfugung aber nicht nur isoliert
unter dem Aspekt der Lebensverkürzung betrachtet wer-
den sollte. Das erlebe ich immer wieder. Wir wollen kei-
nen Beitrag zu einer Gesellschaft leisten, die den Alten
und Kranken suggeriert, auf Behandlung verzichten zu
müssen.
Selbstverständlich kann eine Patientenverfügung
auch dazu genutzt werden, festzulegen, dass alles medi-
zinisch Mögliche für einen Patienten getan werden soll.
Ohnehin ist die Patientenverfügung nur ein – wenn auch
wichtiger – Baustein zur Sicherung der Würde und
Selbstbestimmung der Patienten. Sie muss als Rechtsin-
stitut eingebunden werden in Maßnahmen zur Sterbebe-
gleitung und in ein stärker ausgebautes Netz von pallia-
tivmedizinischen und hospizlichen Maßnahmen.
Vor allem müssen diese Möglichkeiten durch Aufklä-
rungskampagnen einer breiten Öffentlichkeit näher ge-
bracht werden. Nur so können die verschiedenen Bau-
steine auch ihre gewünschte Wirkung entfalten. Das
sollten wir bei unseren Beratungen in dem demnächst
anstehenden Gesetzgebungsprozess nicht vergessen.
Joachim Stünker (SPD): Die FDP will mit ihrem
Antrag eine Diskussion anstoßen, die längst im Gange
ist. Das Thema steht auf unserer Agenda weit oben.
Schon in den Koalitionsverhandlungen haben wir uns
hiermit befasst und vereinbart, die Diskussion über eine
gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzu-
führen und abzuschließen. In der SPD-Fraktion haben
wir kürzlich verabredet, dass Thema Patientenverfügung
auf der Klausursitzung im Sommer dieses Jahres inten-
siv zu behandeln.
Am Antrag der FDP missfällt mir die Aufforderung
an die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzule-
gen. Der Weg über einen Regierungsentwurf ist meiner
Ansicht nach nicht der richtige. Die Thematik ist mit ei-
ner Vielzahl von ethischen Fragen verbunden, die vertre-
tenen Positionen orientieren sich nicht an parteipoliti-
schen Linien. In solchen Fällen sollten Gesetzentwürfe
aus der Mitte des Bundestags eingebracht werden. Bei
den vergleichbaren Diskussionen um § 218 StGB oder
den Import embryonaler Stammzellen haben wir hiermit
sehr gute Erfahrungen gemacht.
In der Sache gehen die Vorstellungen der FDP in die
richtige Richtung. Der Antrag entspricht in weiten Tei-
len der Position der Arbeitsgruppe Rechtspolitik der
SPD-Bundestagfraktion. Auch wir sind der Ansicht, dass
eine Patientenverfügung nur bindend sein kann, wenn
sie schriftlich abgefasst und unterschrieben ist. Auch die
formfreie Widerrufbarkeit ist zweifelsohne geboten.
Besonders begrüße ich, dass sich auch die FDP in der
zentralen und übergeordneten Frage dagegen ausspricht,
Patientenverfügungen nur für bestimmte Erkrankungen
und Krankheitsstadien zuzulassen. Eine solche Reich-
weitenbegrenzung wäre mit dem in Art. 2 Abs. 2 GG ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4163
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schützten Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und
dem in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG
verankerten allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht ver-
einbar. Die geforderte „infauste Prognose“ würde zum
Beispiel bedeuten, dass für den Fall eines dauerhaften,
stabilen Wachkomas nicht vorab wirksam erklärt werden
kann, dass eine künstliche Ernährung oder Beatmung
einzustellen ist. Dies widerspräche dem Selbstbestim-
mungsrecht.
Zudem habe ich große Zweifel, ob es überhaupt mög-
lich ist, einen tödlichen, nicht aufhaltbaren Verlauf mit
hinreichender Sicherheit zu prognostizieren.
Michael Kauch (FDP): In der letzten Wahlperiode
hat sich die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der
modernen Medizin“ ebenso wie der Nationale Ethikrat
intensiv mit der Frage beschäftigt, wie durch Patienten-
verfügungen die Selbstbestimmung nicht mehr einwilli-
gungsfähiger Patienten bei der Entscheidung über Ein-
leitung oder Abbruch medizinischer Maßnahmen
gestärkt werden kann. Es wurde deutlich, dass hier sehr
unterschiedliche Auffassungen im Parlament bestehen.
Die FDP-Bundestagsfraktion hatte bereits in der letz-
ten Wahlperiode einen Antrag in den Deutschen Bundes-
tag eingebracht, um mehr Rechtssicherheit bei Patien-
tenverfügungen zu schaffen. Diesen Antrag bringen wir
jetzt erneut ins Parlament ein.
Unser Ziel ist es, mit dieser ersten Lesung den Dis-
kussionsprozess in dieser Wahlperiode zu eröffnen, um
ausgehend von unserem Antrag in Gespräche mit Kolle-
ginnen und Kollegen der anderen Fraktionen einzutre-
ten. Am Ende dieser Gespräche soll ein Gesetzentwurf
stehen, der von einer fraktionsübergreifenden Gruppe
eingebracht wird.
Um eines vorweg klarzustellen: Wir reden bei Patien-
tenverfügungen eben nicht über aktive Sterbehilfe oder
assistierten Suizid, wir reden nicht über das gezielte Tö-
ten eines Menschen. Es geht auch nicht um die Verwei-
gerung indizierter und gewünschter Behandlungen. Es
geht nicht um Töten, sondern um Sterbenlassen. Es geht
darum, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn der Patient
das wünscht.
Leitbild unseres Antrages ist das Bild eines Men-
schen, der über sein Leben auch in existenziellen Fragen
so weit wie möglich selbst entscheiden kann und soll,
ein Menschenbild, das der Selbstbestimmung Vorrang
vor anderen Überlegungen Dritter gibt, und seien sie
noch so fürsorglich motiviert. Das ist die eigentliche po-
litische Trennlinie zwischen den Lagern in dieser Dis-
kussion: die Trennlinie zwischen fürsorglichem Paterna-
lismus, der Zwangsbehandlungen in Kauf nimmt, und
dem Vertrauen auf die Kraft und die Urteilsfähigkeit des
einzelnen Menschen.
Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstel-
lung von einem autonomen Individuum. Natürlich ist der
Mensch eingebunden in Beziehungen und auch in innere
Zwänge. Gerade bei Patientenverfügungen kommt ein
anderer Aspekt hinzu: Man trifft Entscheidungen für
Szenarien in der Zukunft, die man nur bedingt abschät-
zen kann. Der vorausverfügte Wille ist immer schwächer
als der aktuell verfügte. Aber was ist die Alternative?
Die Alternative ist Fremdbestimmung durch andere
Menschen. Bei aller Relativierung des autonom handeln-
den Menschen: Wir Liberale entscheiden uns dann – im
Leben wie im Sterben – für die Selbstbestimmung.
Die moderne Intensivmedizin hat bedeutende Mög-
lichkeiten geschaffen, Leben zu retten und zu verlän-
gern. Manche Menschen erleben das als Chance, andere
lehnen bestimmte Behandlungen ab, weil sie diese als zu
belastend erleben oder für unwürdig halten. Die Frage,
ob eine lebensverlängernde Maßnahme als Geschenk
oder als Qual empfunden wird, kann nur der einzelne
Mensch für sich entscheiden.
Jede medizinische Maßnahme – nicht der Verzicht
darauf! – ist durch Einwilligung des Patienten zu recht-
fertigen. Eine Zwangsbehandlung ist Körperverletzung,
dem Arzt drohen strafrechtliche Konsequenzen. Dies gilt
im Grundsatz auch für den nichteinwilligungsfähigen
Patienten. Hier entscheidet der gesetzliche Vertreter.
Eine Patientenverfügung kann ein Instrument sein, in ge-
sunden Tagen zu formulieren, welche Therapien man in
solchen Fällen wünscht oder ablehnt. Niemand muss
eine Patientenverfügung abfassen. Jeder hat das Recht,
auch existenzielle Entscheidungen seinem gesetzlichen
Vertreter zu überlassen. Doch wer klar weiß, was er
wann wünscht, ablehnt oder begrenzt sehen will, dessen
Verfügung muss geachtet werden.
Die FDP will deshalb die rechtliche Verbindlichkeit
von Patientenverfügungen stärken. Patienten brauchen
Rechtssicherheit darüber, dass sich Ärzte und Betreuer
nicht über ihren im Voraus verfassten Willen hinwegset-
zen können, wenn sie am schwächsten sind, weil sie
kommunikationsunfähig sind und sich nicht mehr gegen
nicht gewünschte Behandlungen wehren können.
Das Recht zur Selbstbestimmung über den eigenen
Körper gehört zum Kernbereich der durch das Grundge-
setz geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Für
die FDP kommt daher eine Begrenzung der Reichweite
von Patientenverfügungen nicht infrage. Eine strikte Be-
grenzung der Reichweite auf einen „trotz Behandlung ir-
reversibel tödlichen Verlauf“, wie sie die Mehrheit der
Enquete-Kommission in der letzten Wahlperiode vorge-
schlagen hatte, liefert Patientinnen und Patienten
Zwangsbehandlungen gegen deren erklärten Willen aus.
Denn diese Rechtsfigur macht Patientenrechte von einer
ärztlichen Prognose abhängig, deren Verlässlichkeit
nicht in allen Fällen garantiert werden kann.
Vertreter einer strikten Reichweitenbegrenzung wie
die Mehrheit der früheren Enquete-Kommission gehen
für den Anwendungsfall des Wachkomas im Blick auf
die Selbstbestimmung noch hinter die Rechtslage zu-
rück. In den Behandlungsgrundsätzen der Bundesärzte-
kammer wird erklärt, dass es sich nicht um Sterbende
handelt und sie deshalb auch künstlich ernährt werden
müssen. Allerdings schränkt die Bundesärztekammer
ein: unter Beachtung ihres Willens. Diese Einschrän-
kung ist wichtig.
4164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Auch über religiös motivierte Behandlungsbeschrän-
kungen setzen sich Vertreter einer strikten Reichweiten-
begrenzung locker hinweg. Wenn ein Zeuge Jehovas
verfügt, niemals eine Bluttransfusion zu wollen, auch
wenn er deshalb sterben müsste, dann ist auch das zu
achten. Man mag es persönlich für falsch oder tragisch
halten, doch niemand hat das Recht, Menschenwürde,
Selbstbestimmungsrecht und Religionsfreiheit durch
Zwangsbehandlungen mit Füßen zu treten.
Kernforderung der FDP ist es dagegen, dass Thera-
piewünsche, Therapiebegrenzungen und Therapiever-
bote durch eine Patientenverfügung für jeden Zeitpunkt
eines Krankheitsverlaufes möglich sein müssen. Ledig-
lich eine Basispflege darf aus Gründen der Menschen-
würde nicht ausgeschlossen werden. Voraussetzung ist,
dass die Patientenverfügung hinreichend klar formuliert
und anwendbar ist, keine offenkundige, etwa nonverbale
Willensänderung erkennbar ist und die Verfügung dem
Patienten noch personal zurechenbar ist. Hieran wird
man bei manchen Formen der Demenz Zweifel haben
müssen. Hier ist dann – wie immer in Zweifelsfällen –
pro vita zu entscheiden.
Die FDP fordert darüber hinaus, dass eine Patienten-
verfügung aus Gründen der Rechtssicherheit und Be-
weiskraft schriftlich verfasst werden muss. Eine Ver-
pflichtung zur regelmäßigen Aktualisierung der
Patientenverfügung fordern wir nicht, da dabei die Ge-
fahr besteht, dass Patienten infolge des Alters, fortge-
schrittener Krankheit oder reiner Vergesslichkeit die Ak-
tualisierung versäumen und ihr niedergelegter Wille
unwirksam würde. Auch eine generelle Beratungspflicht
würde unnötige Bürokratien und Hürden aufbauen.
Dagegen setzen wir uns auch dafür ein, Angebote zur
Beratung und Aufklärung über Heilungsmöglichkeiten
und den Fortschritt der Leid mindernden Palliativmedi-
zin flächendeckend auszubauen. Denn je aufgeklärter
ein Mensch ist, desto selbstbestimmter kann er handeln.
Darüber hinaus spricht sich die FDP dafür aus, die
Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts einzuschrän-
ken. Nur im Konfliktfall zwischen dem behandelnden
Arzt und dem gesetzlichen Vertreter ist das Vormund-
schaftsgericht einzuschalten, wenn zuvor das behan-
delnde Pflegepersonal und die nächsten Angehörigen an-
gehört wurden. Eine Zuständigkeit des Gerichts ist
regelmäßig dann gegeben, wenn keine schriftliche Pa-
tientenverfügung vorliegt. Die regelmäßige Anrufung
des Vormundschaftsgerichtes schafft nur vordergründig
Rechtssicherheit. In Wahrheit werden durch die regelmä-
ßige Einschaltung der Gerichte wichtige Entscheidungen
unnötig hinausgezögert und an für diese Fragen oft nicht
qualifizierte Richter delegiert.
Die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von
Patientenverfügungen müssen in dieser Wahlperiode
endlich neu geregelt werden. Deshalb muss jetzt das Par-
lament handeln. Die FDP hat als einzige Fraktion einen
Antrag zur Patientenverfügung eingebracht. Auf dieser
Grundlage werden wir uns nun aktiv daran beteiligen,
mit gleich gesinnten Kolleginnen und Kollegen einen
Gruppen-Gesetzentwurf einzubringen.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Über die Notwendigkeit einer rechtlichen
Absicherung von Patientenverfügungen haben wir be-
reits im letzten Jahr anlässlich des Zwischenberichts der
Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ diskutiert. In der damaligen Debatte wurde
klar, dass es in jeder Fraktion mindestens zwei unter-
schiedliche Auffassungen bezüglich der rechtlichen
Ausgestaltung gibt, einige sich sogar ganz gegen eine
rechtliche Normierung aussprechen. Wenn ich also heute
meine Auffassung vortrage, so spreche ich zwar für ei-
nen großen Teil meiner Fraktion, nicht aber für alle.
Ich bin der Meinung, dass es trotz des BGH-Urteils
von 2003, wonach Patientenverfügungen eine Verbind-
lichkeit besitzen, einen rechtlichen Regelungsbedarf
gibt, weil es zum einen eine große Unwissenheit und
Unsicherheit unter den Ärzten über die derzeitige
Rechtslage gibt. So glaubt nach einer Umfrage die
Hälfte der befragten Ärzte, es sei aktive Sterbehilfe,
wenn sie aufgrund des geäußerten Willens des Patienten
oder der Patientin die künstliche Beatmung einstellen.
Ein weiterer Grund: Dieses sensible Gebiet sollte
nicht allein einer Klärung durch die Rechtsprechung vor-
behalten bleiben, zumal diese in den letzten Jahren kei-
neswegs einheitlich war. Denn: Auf der Strecke bleibt
dabei das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen über
den eigenen Körper. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist
jedoch der Kern der Menschenwürde. Es ist das höchste
unverletzliche und unveräußerliche Menschenrecht im
Grundrechtskatalog und findet seine Grenze ausschließ-
lich in den Rechten anderer.
Es ist die Aufgabe des Staates, die Selbstbestimmung
jedes Bürgers und jeder Bürgerin vor den Eingriffen an-
derer zu schützen. Ein staatlicher Paternalismus, der den
Menschen vor sich selbst schützen will, ist nur dann ge-
rechtfertigt, wenn der Einzelne zur Selbstbestimmung
nicht in der Lage ist. Das heißt aber auch, dass das
Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Kör-
per höher steht als die – sicherlich oft gut gemeinte –
Schutzpflicht anderer für sein Leben. Darum hat auch
niemand das Recht, gegen den Willen eines Menschen
eine Behandlung durchzusetzen.
Dabei ist klar: Durch die moderne Medizintechnik ist
der Zeitpunkt und die Art des Sterbens zunehmend von
medizinischen Entscheidungen bestimmt. Häufig kön-
nen Menschen nur sterben, wenn auf Maßnahmen ver-
zichtet, wenn eine Behandlung abgebrochen wird, wie es
in 50 Prozent aller Todesfälle passiert. Durch diese Ent-
scheidung entstehen viele ethische Probleme. Patienten-
verfügungen und Vorsorgevollmachten sind eine wich-
tige Hilfe für alle Beteiligten, die Entscheidung zu
treffen, die dem Willen der Patientin oder des Patienten
entsprechen. So weit herrschte schon vor einem Jahr Ei-
nigkeit.
Alle einwilligungsfähigen Menschen müssen also
eine Patientenverfügung abschließen können. Natürlich
kann sie nur dann umgesetzt werden, wenn die beschrie-
bene Situation mit der konkreten übereinstimmt, wenn
es keine Anzeichen einer Willensänderung gibt, wenn
keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie unter äu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4165
(A) (C)
(B) (D)
ßerem Druck entstanden ist und wenn keine aktive Ster-
behilfe verlangt wird.
Von einigen Kolleginnen und Kolleginnen wird nun
gefordert, dass die Bindungswirkung einer solchen Ver-
fügung begrenzt werden müsse. Sie plädieren dafür, dass
die Patientenverfügung nur im Falle eines irreversibel
tödlichen Verlaufs des Grundleidens Gültigkeit habe.
Die Begrenzung der Reichweite auf Personen mit einer
irreversibel tödlichen Krankheit lässt sich jedoch meines
Erachtens nicht rechtfertigen. Sie wäre medizinisch pro-
blematisch, weil es diesen medizinischen Begriff nicht
gibt. Man müsste ansonsten eine Lebenserwartung fest-
legen. Diese Begrenzung wäre aber auch ethisch unbe-
gründet und verfassungsrechtlich unhaltbar. Denn: Wenn
ein aktuell einwilligungsfähiger Mensch lebensverlän-
gernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille
auch geachtet werden, wenn er im Voraus für eine be-
stimmte Situation geäußert wurde, in der keine Äuße-
rungsfähigkeit mehr gegeben ist. Würde der Wille nur
im Falle eines tödlichen Verlaufs des Leidens geachtet,
bedeutete das im Umkehrschluss eine Zwangsbehand-
lung. Und die ist verboten.
Wir werden in den nächsten Monaten diese Debatte
intensiv zu führen haben. Der Antrag der FDP bietet
hierzu eine gute Grundlage.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur
Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den
Europäischen Haftbefehl und die Übergabever-
fahren zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union (Europäisches Haftbefehlsge-
setz – EuHbG) (Tagesordnungspunkt 14)
Wolfgang Nešković (Die LINKE): Als das Bundes-
verfassungsgericht am 18. Juli des vergangenen Jahres
feststellte, dass der Patient „Europäisches Haftbefehls-
gesetz“ an schweren Verfassungsmängeln krankte, da
hat man das Gesetz rasch in den Operationssaal gescho-
ben, um sich seiner Krankheit anzunehmen. Seitdem
wurde der Teint des Patienten aufgefrischt, es wurden
Vitaminspritzen verabreicht und eine Sauerstoffkur
durchgeführt. Jetzt hat der Patient wieder einigermaßen
rosige Wangen, aber die Ursache des Leidens wurde
nicht behoben. Die Ursache des Leidens war dem Pa-
tienten nämlich bereits mitgegeben, als er auf die Welt
kam.
Bereits der dem Europäischen Haftbefehlsgesetz zu-
grunde liegende Rahmenbeschluss des Rates ist eine
ernste Bedrohung für die Prinzipien der Würde und der
Freiheit des Menschen. Es ist hoch fraglich, ob dieser
Rahmenbeschluss überhaupt auf einer rechtmäßigen
Legitimationsgrundlage erlassen wurde. Anstelle eines
Rahmenbeschlusses wäre nämlich ein europäisches
Übereinkommen erforderlich gewesen.
Es ist weiterhin äußerst fraglich, ob die mit dem Rah-
menbeschluss geschaffenen Eingriffe in die Freiheits-
rechte der Bürger mit dem Legalitätsprinzip in Strafsa-
chen vereinbar sind. Hier wird ein europäisches
Strafrecht durch die Hintertür des Prozessrechtes einge-
führt. Wer ein europäisches Strafrecht will, muss es so
nennen und dafür Mehrheiten gewinnen.
Eben diese ernsten Bedenken hatten auch die Richter
des belgischen Verfassungsgerichtes, als sie sich am
13. Juli 2005 entschlossen, den EuGH im Vorabentschei-
dungsverfahren zu ersuchen, den Rahmenbeschluss auf
seine Nichtigkeit hin zu überprüfen. Ich meine, wir dür-
fen ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Richter am
belgischen Verfassungsgericht kein Stück weniger juris-
tisch gebildet und begabt sind als die Juristenmannschaft
im Ministerium von Frau Zypries. Es wäre daher ange-
bracht gewesen, vor der Erstellung endgültiger Neufas-
sungsentwürfe zunächst einmal die Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofes abzuwarten. So aber wird
der Deutsche Bundestag mit der Beratung eines Gesetzes
befasst, dem schon in kurzer Zeit die Grundlage abhan-
den kommen wird. Erteilen Sie diesen Gesetzesentwür-
fen eine Absage! Lassen Sie die Heilbemühungen am
Patienten „Haftbefehlsgesetz“ nicht zum Totentanz gera-
ten!
Doch nicht nur durch die europäische Brille betrach-
tet sind die Entwürfe hoch bedenklich. Sie sind es – auch
in ihrer aufgefrischten Form – mit Blick auf das deutsche
Grundgesetz. Die für den neuen § 80 vorgesehene Ab-
grenzung von Taten mit maßgeblichem Auslandbezug,
maßgeblichem Innlandsbezug und Mischfällen ist kaum
mehr als eine Ansammlung von Unbestimmtheiten.
Im deutschen Verfassungsrecht haben wir eine sehr
klare Formel: Je intensiver eine Maßnahme des Gesetz-
gebers in Grundrechte eingreift, umso strenger sind die
Anforderungen an die Bestimmtheit der Norm.
Diesem einfachen Grundsatz wird der Entwurf nicht
gerecht.
Vielleicht liegt das daran, dass man sich für die
Neufassungen darauf beschränkt hatte, die Empfehlun-
gen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Urteil trot-
zig abzuschreiben, anstatt für die inhaltliche Umsetzung
dieser Empfehlungen Sorge zu tragen.
Und wenn man sich schon aufs Abschreiben verlegt,
sollte man es sorgfältig tun:
Das Bundesverfassungsgericht hatte zum Problem der
gesicherten Rücküberstellung ausgeführt:
Die bloße Zusage einer Rücküberstellung ist inso-
weit unzureichend, weil damit noch nichts über die
Möglichkeit der Strafverbüßung in Deutschland ge-
sagt ist.
Dennoch findet sich in den Neufassungen dieselbe
ungenügende Formulierung wie schon im gerügten ers-
ten Gesetz. In der Begründung der Gesetzesentwürfe
werden wir dazu auf einen in der Zukunft erwarteten
Rahmenbeschluss zur Vollstreckungshilfe auf europäi-
scher Ebene verwiesen. Der soll dann klären, was heute
ungeklärt bleibt. Das ist befristeter Verfassungsbruch mit
unsicherem Fristablauf und keine Behebung des vom
Verfassungsgericht gerügten Misstandes. Des Weiteren
4166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
verschlechtern die Neufassungen die Rechtslage der in
Deutschland lebenden Ausländer, ohne dass es dafür
überhaupt eine Aufforderung vom Verfassungsgericht
gab.
Während der alte § 80 Abs. 3 für alle Ausländer, die
sich in Deutschland rechtmäßig aufhalten, dieselben
Schutzkriterien wie für Deutsche bereithielt, beschränkte
der neuere § 80 Abs. 4 diesen Schutz auf die sehr viel
kleinere Gruppe der Ausländer, die in familiärer oder in
Lebensgemeinschaft mit Deutschen leben. Im neuesten
Änderungsvorschlag des Justizministeriums ist dann
selbst dieser zwingende Schutz gestrichen und durch
eine fakultative Regelung ersetzt worden. Ich finde es
unerträglich, dass Menschen, die Sitte und Recht dieses
Landes achten, die hier Steuern zahlen, nicht auch in den
Genuss des üblichen Auslieferungsschutzes hinein ge-
nommen werden sollen. Schließlich ist der vom Bundes-
verfassungsgericht geforderte Rechtsschutz nicht verwirk-
licht worden. Das Festhalten am zweistufigen Verfahren
und die nur eingeschränkt übertragene Ermessenskon-
trolle an die Oberlandesgerichte sind den Maßstäben ei-
nes Rechtstaates schlicht unwürdig.
Ich bin ohne Mitleid für den sprichwörtlichen Patien-
ten „Haftbefehlsgesetz“, denn ich sorge mich um die
wirklichen Menschen, die dieses Gesetz betreffen soll.
Ich meine, dass die Menschen im Land sicher sein, müs-
sen, dass die Prinzipien des Rechtsstaates auch auf euro-
päischer Ebene gewahrt werden. Ich hoffe daher, dass
der Europäische Gerichtshof den zugrunde liegenden
Rahmenbeschluss samt seiner Ausführungsgesetze end-
lich beerdigen wird.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Einbürgerung er-
leichtern – Ausgrenzungen ausschließen (Tages-
ordnungspunkt 15)
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Die Linke for-
dert in ihrem Antrag unter anderem: Menschen, die seit
mindestens fünf Jahren in Deutschland sind, die deut-
sche Staatsangehörigkeit zu verleihen; die doppelte
Staatsbürgerschaft wieder einzuführen; auf das Bekennt-
nis zu unserer Verfassung und ausreichende Sprach-
kenntnisse als Voraussetzungen für den Erwerb der
Staatsbürgerschaft zu verzichten; die Pflichtteilnahme an
entsprechenden Kursen abzuschaffen.
Dieser Antrag ist ein weiterer Beleg für den Realitäts-
verlust der sozialistischen Linken in Deutschland. Allein
schon einen Einbürgerungsanspruch nach fünfjährigem
Aufenthalt in Deutschland, unabhängig vom Aufent-
haltstitel, zu fordern, geht an der Realität vorbei. Sie ha-
ben wohl das WM-Motto: „Die Welt zu Gast bei Freun-
den“ fehlinterpretiert. Nach Ihrem Antrag soll es in
Zukunft ausreichen, dass Menschen, die sich in Deutsch-
land möglicherweise illegal aufhalten und damit auch
den Lebensmittelpunkt hier haben, nur noch fünf Jahre
aussitzen müssen, um Deutsche zu werden. Die An-
nahme, dass jeder, dem wir einen deutschen Pass geben,
sich automatisch integriert, ist ein Trugschluss. Die Ein-
bürgerung eines ausländischen Mitbürgers kann nur das
Ergebnis einer erfolgreichen Integration sein und nicht
der Anstoß. Die Einbürgerungsurkunde muss doch die
Perspektive, ja der Anreiz sein, auf die sich alle Integra-
tionsbemühungen der hier lebenden Ausländer richten.
Wenn wir diesen Anreiz wegnehmen, dann können wir
keinen Integrationswillen mehr erwarten. Dies hat nichts
mit Diskriminierung zu tun.
Dieses sehen auch die deutschen Landkreise und
Kommunen so, welche vor Ort mit der gesellschaftli-
chen Aufgabe Integration zu tun haben. Und ich möchte
Frau Pau sehen, wie sie ihren Kommunalpolitikern in
Marzahn erklärt, dass in Zukunft nur noch Abwarten
reicht, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Zumal doch gerade dort, wo die Linkspartei stark ist, die
Äußerung des Kollegen Lafontaine „Deutscher ist nach
meinem Verständnis nur, wer sich an der Gemeinschaft
beteiligt“ auf großen Zuspruch gestoßen ist. Von jedem
Bürger in unserem Land erwarten wir, dass er sich zur
freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt,
deshalb ist es nur recht, dass wir dies auch von den Men-
schen einfordern, die Deutsche werden wollen. Mir ist
jedoch klar, dass eine Partei, welche in Teilen vom Ver-
fassungsschutz beobachtet wird, natürlich ein grundsätz-
liches Problem mit unserer Verfassung hat.
Es muss gestattet sein, die Ernsthaftigkeit eines Be-
kenntnisses zu unseren Werten und dem Grundgesetz zu
prüfen. Auf die Einführung von Mehrfachstaatsbürger-
schaften möchte ich in diesem Zusammenhang nicht nä-
her eingehen. Die Linke fordert in ihrem Antrag die Ab-
schaffung von verpflichtenden Integrationskursen und
von Mindeststandards bei den sprachlichen Fähigkeiten.
So erschweren sie es nicht nur unserer Gesellschaft,
ihre Integrationsleistung gegenüber den Migranten zu er-
bringen. Sie behindern auch die Anstrengungen der aus-
ländischen Mitbürger, die sich redlich bemühen, sich in
die Gesellschaft zu integrieren, indem Sie auf eine Stufe
mit denen stellen, die sich der Integration bisher erfolg-
reich verweigern.
Wie in der Sozialpolitik muss auch in der Integra-
tionspolitik „Fördern und fordern“ die Maxime sein. Es
besteht kein Zweifel daran, dass ausländische Mitbürger
in Deutschland willkommen sind, dazu gehört aber auch,
dass jeder seinen Beitrag zu einer erfolgreichen Integra-
tion leistet. Ziel muss es sein, zu einer Vereinbarung zwi-
schen Gesellschaft und Migranten zu kommen: Die Mi-
granten bemühen sich ihrerseits um eine Integration und
halten sich an die Spielregeln, Politik und Gesellschaft
setzen dafür die Rahmenbedingungen. Integration ist
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der alle Betei-
ligten ihren Beitrag zu leisten haben.
Mit Schaffung vernünftiger Rahmenbedingungen
müssen wir den hier lebenden Ausländern vernünftige
Wege in unsere Gesellschaft eröffnen. Dazu werden wir
die bestehenden Angebote kontinuierlich erweitern und
verbessern müssen. Voraussetzung für die Teilhabe an
dem gesellschaftlichen Leben ist vor allem die Beherr-
schung der deutschen Sprache, aber nicht, wie von der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4167
(A) (C)
(B) (D)
Linken gefordert, auf dem Niveau der einfachen mündli-
chen Verständigung. Der Weg aus der sozialen Isolation
in Deutschland erfordert mehr als nur ein paar Brocken
Deutsch. Migranten dürfen sich den Integrationskursen
in Deutschland nicht verschließen. Erfolgreiche Integra-
tion ist auch der Schlüssel für den sozialen Erfolg der
hier lebenden Ausländer. Dazu gehört eine umfassende
Bildung und Ausbildung, die neben den notwendigen
Sprachkenntnissen den Betroffenen auch Kenntnisse
über unseren Wertekanon, welcher seine Wurzeln in
Christentum, Aufklärung und Humanismus hat, vermit-
teln. Einbürgerungskurse können das am besten leisten.
Deshalb müssen sie Pflicht für jeden Integrationswilli-
gen sein. Verweigerungshaltungen sind diesbezüglich
ganz klar und konsequent zu sanktionieren.
Die Unionsfraktion wird nach dem Integrationsgipfel
bei der Bundeskanzlerin am 14. Juli 2006, welcher unter
Beteiligung von Migrantenvertretern stattfindet, einen
nationalen Aktionsplan „Integration“ vorlegen. Durch
die Festlegung gemeinsamer Ziele und eines Zeitplanes
sollen sich nach der Vorstellung meiner Fraktion Bund,
Länder, Kommunen und die gesellschaftlich relevanten
Gruppen über einheitliche Maßnahmen und Zuständig-
keiten bei dieser gesellschaftlichen Mammutaufgabe
verständigen. Die Grundlage dafür kann nur lauten:
Deutschland setzt die Rahmenbedingungen und die Ein-
bürgerungswilligen bemühen sich um die Integration.
Wir brauchen eine Zuwanderungs- und Integrations-
politik, welche auch an den Interessen unserer Bevölke-
rung ausgerichtet ist und vor allem der Situation unserer
sozialen Sicherungssysteme Rechnung trägt. Zuwande-
rung in einem sozial verträglichen Maße schützt letzten
Endes auch die Migrantinnen und Migranten, die sich er-
folgreich in unsere Gesellschaft integrieren oder sich be-
reits integriert haben. Die CDU/CSU-Fraktion stellt sich
der Herausforderung Integration und wird die entspre-
chenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. Dies darf
aber keine Einbahnstraße sein. Wenn wir keine Pariser
Verhältnisse wollen, sind wir auf die Mithilfe und die
Bereitschaft der hier lebenden Migrantinnen und Mi-
granten, sich zu integrieren, angewiesen.
Rüdiger Veit (SPD): Auch wenn in den zugrunde
liegenden Feststellungen und in der Begründung des An-
trags aus meiner Sicht einige durchaus richtige Elemente
enthalten sind, kann ich für die SPD-Fraktion weder jetzt
noch nach den zu erwartenden Beratungen im Innenaus-
schuss die Zustimmung in Aussicht stellen.
In der Tat ist es leider richtig, dass die Anzahl der
Einbürgerungen – sicherlich aufgrund ganz unterschied-
licher Ursachen – im Ergebnis in den letzten Jahren wie-
der deutlich zurückgegangen ist auf einen Wert, wie wir
ihn Anfang der 90er-Jahre, also vor In-Kraft-Treten der
Staatsangehörigkeitsreform am 1. Januar 2000, verzeich-
net haben. Völlig richtig hat der Bundestagspräsident
Norbert Lammert ausweislich der „Frankfurter Allge-
meinen Zeitung“ vom 28. Juni 2006 und damit ganz ak-
tuell, am Tag zuvor bei der Verleihung des Nationalprei-
ses 2006 an die Herbert-Hoover-Realschule in Berlin
Folgendes festgestellt: ,,Deutschland hat nicht zu viel
Einwanderung, sondern zu wenig Einbürgerung“. We-
nige Länder seien so sehr auf Einwanderung angewiesen
wie Deutschland, dessen vitales Interesse es sein müsse,
dass die begabten türkischen Kinder von heute zur Elite
von morgen heranwachsen könnten.
In einer Zeit, in der wir das Ge- oder Misslingen von
Integration bei uns intensiv diskutieren, setze ich aus
meiner Sicht gerne hinzu: In aller Regel – die bekannt-
lich natürlich auch Ausnahmen kennt – ist jede Einbür-
gerung ein Erfolg der Integration in unsere Gesellschaft.
Im Lichte dessen wird die SPD-Fraktion auch Koali-
tionsverhandlungen zu den laufenden Gesetzgebungsver-
fahren führen. Auch der Komplex des Staatsangehörig-
keitsrechtes ist Teil der Beratungen zum Entwurf eines
Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union, auch wenn – wie
die Antragssteller völlig richtig erkennen – eine etwaige
Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechtes mit der Um-
setzung dieser Richtlinien nichts zu tun hat. So scheint
es mir aber sachgerecht, die gesamte Materie des Auf-
enthaltsgesetzes, des Staatsangehörigkeitsgesetzes und
aller damit zusammenhängenden Gesetze zusammen mit
der in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen
Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes vorzunehmen
und – wie ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung nieder-
gelegt – hierbei auch drei weitere aus der Sicht der SPD-
Fraktion notwendige Sachverhalte zu regeln: Ich meine
eine Altfall-Bleiberechtsregelung für sich bereits lange
Jahre in Deutschland aufhaltende ausländische Mitbür-
gerinnen und Mitbürger, eine deutliche Verbesserung
beim Übergang von Duldung, – insbesondere Kettendul-
dung – hin zu Aufenthaltserlaubnissen, und den Kom-
plex der Überprüfung einiger Rechtsvorschriften, die die
rein humanitär motivierte Hilfe für in Deutschland ille-
gal sich aufhaltende Menschen betreffen.
Wir werden dabei auch die Anregungen und Vor-
schläge der letzten Konferenz der Innenminister der
Länder und des Bundes am 4. und 5. Mai dieses Jahres
zum Thema der Einbürgerung in unsere Beratungen ein-
beziehen; denn schließlich sind wir der Gesetzgeber und
als solcher auch zu diesem Thema gefordert. Dabei muss
allen klar sein, dass wir im Ergebnis einen tragfähigen
Kompromiss zwischen den beiden die große Koalition
tragenden Parteien finden müssen, und dies möglichst
mit Wirkung auf die Länderseite, damit das entspre-
chende Gesetz noch im Jahr 2006 im Bundesgesetzblatt
veröffentlicht werden kann, ohne dass auch noch ein
langwieriges Vermittlungsverfahren mit dem Bundesrat
benötigt wird.
Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und
Herren, auch auf der Seite der Antragsteller: Der Ge-
samtkomplex ist ebenso umfangreich wie vor dem
Hintergrund manchmal durchaus unterschiedlicher
Grundsatzvorstellungen zwischen den beiden Koalitions-
parteien auch schwierig, aber wir wollen ihn gemeinsam
bewältigen. Von daher versteht sich von selbst, dass wir
– wie das auch schon bei anderen, auf das gleiche Thema
abzielenden Anträgen der Oppositionsfraktionen der Fall
war – nicht isolierte Regelungen hier im Parlament
beschließen werden. Die Antragsteller sollten ihre
4168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Überlegungen dann zum geeigneten Zeitpunkt in die Be-
ratungen auch des Innenausschusses mit einfließen las-
sen. Bestehen sie dagegen auf einer sofortigen Behand-
lung und Abstimmung, werden wir vor dem Hintergrund
der soeben angesprochenen Verhandlungen der Koali-
tion zum Gesamtkomplex den Antrag ablehnen müssen.
Lassen Sie mich aber abschließend in der Sache noch
folgende Klarstellungen zu den Beschlüssen der letzten
Innenministerkonferenz anbringen, zumal die Be-
schlüsse nach ihrem Zustandekommen unterschiedlich
interpretiert werden:
Was die Frage der Sprachkenntnisse der Einbürge-
rungsbewerber angeht, so sollen sie sich am Sprachni-
veau B l lediglich orientieren, müssen aber nicht etwa in
vollem Umfange, auch bis hin zum schriftlichen Test,
nachgewiesen werden. Erreicht jemand allerdings dieses
Sprachniveau B l in vollem Umfang, kann er nach den
Vorstellungen auch der Innenminister bereits nach sechs
Jahren – bisher zum Beispiel sieben statt acht Jahren –
eingebürgert werden. Klar ist, dass zum Beispiel Einbür-
gerungsbewerber, deren Behinderung, deren Alter oder
auch deren Bildungsniveau einen derartigen Spracher-
werb unmöglich machen, nicht allein deswegen an ei-
nem Sprachtest in ihrem Einbürgerungsbegehren schei-
tern dürfen.
Mit dem Vorschlag der Innenministerkonferenz, Inte-
grationskurse durch das BAMF ausarbeiten zu lassen
und für Einbürgerungsbewerber anzubieten – mit der
Notwendigkeit der Bestätigung erfolgreicher Teilnehmer
durch die Kursträger – sind meines Erachtens die im
Vorfeld der Konferenz nicht nur öffentlich, sondern auch
schon im Parlament erörterten Tests wie der so genannte
baden-württembergische Muslimtest oder der Wissens-
und Wertetest aus Hessen – jedenfalls gegenwärtig –
vom Tisch und bedürfen deswegen auch keiner weiteren
Behandlung.
Was die Grenze von Tagessätzen bzw. Freiheitsstrafe
angeht – sind und bleiben Ausnahmen bei Überschrei-
tungen im Einzelfall möglich –, ist zu beachten, dass
diese Hürde nach den Vorstellungen der Innenminister
auch für die so genannte Ermessenseinbürgerung gelten
soll, wo bisher selbst die Verhängung einer wirklichen
Bagatellstrafe oder eines Bußgeldes die Anwendung der
Ermessensvorschrift zugunsten des Betroffenen hindert.
Seien Sie der Tatsache versichert, dass wir gerade die-
sem Punkt in den Koalitionsverhandlungen besondere
Aufmerksamkeit schenken werden und dass es hier und
heute nicht mein Anliegen ist, den Beschluss der Innen-
ministerkonferenz in jedem Punkt zu verteidigen. Klar-
heit über seinen möglichen Inhalt und seine Intension
sollte damit aber trotzdem geschaffen sein.
Was schließlich die Anregung bzw. das Begehren des
Antrages der Fraktion Die Linke angeht, das gesamte
Optionsmodell im Staatsbürgerschaftsrecht zu kippen,
bevor es erstmals richtig angewandt wird, sind die Un-
terschiede – hier brauchen wir gar nicht lange herumzu-
reden – zwischen den Koalitionsfraktionen so erheblich,
dass ich mir heute nicht vorstellen kann, wie dieser im
Jahre 1999 schwer zustande gekommene Kompromiss
unter Einbeziehung auch der Wünsche der FDP-beteilig-
ten Landesregierungen heute schon wieder aufgekündigt
werden könnte. Darum sollten wir hierauf auch nicht un-
nötig Kraft verwenden, sondern uns auf die Dinge kon-
zentrieren, die aktuell bewegt werden können.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die FDP unter-
stützt die Forderung nach einem modernisierten Einbür-
gerungsverfahren, aber nicht in der Art, die der Fraktion
der Linken vorschwebt. Alle Menschen mit Lebensmit-
telpunkt in Deutschland sollen nach Auffassung der Lin-
ken alle sozialen und politischen Rechte in Anspruch
nehmen können, einschließlich des Wahlrechts. Der
Aufenthaltstitel ersetzt demnach das Einbürgerungsver-
fahren. Selbstverständlich muss nach Auffassung der
Linksfraktion keiner der so Eingebürgerten seinen Le-
bensunterhalt selbst bestreiten; der Bezug von Sozial-
leistungen soll die Einbürgerung nicht mehr behindern.
Selbst Karl Marx wusste noch, dass ein Mehrwert, der
verteilt werden soll, erst einmal verdient werden muss.
Ich empfehle der Linkspartei diesbezüglich das Studium
der Werke von Marx und Engels, die sicherlich mehr
wirtschaftlichen Sachverstand besaßen als offenkundig
die Vertreter der SED-Nachfolgepartei in diesem Hause.
Ein darüber hinausgehender Blick in die Haushaltslage
des Bundes, der Länder und Kommunen ist offensicht-
lich ohnehin zu viel verlangt.
Anspruch auf Sozialleistungen sollen nach Vorstel-
lung der Linken alle Menschen erhalten, die einen Auf-
enthalt in Deutschland erreichen können. Das soll aber
nicht mehr so schwer sein, denn es muss nicht legal pas-
sieren: der Linkspartei erscheint das Verweigern der
deutschen Staatsangehörigkeit für Straftäter als unzu-
mutbar. Nach dem Wunsch der Linken sollen auch Kri-
minelle eingebürgert werden, die zu mehr als 180 Tages-
sätzen verurteilt worden sind.
Die Linke fordert die Einbürgerung jedes in Deutsch-
land geborenen Menschen. Ich frage mich, ob damit
jedes Kind von Eltern, die sich nur temporär in Deutsch-
land aufhalten, automatisch eine von den Eltern viel-
leicht gar nicht erwünschte Staatsangehörigkeit aufgenö-
tigt werden soll. Die Linke scheint jedenfalls in der
deutschen Staatsangehörigkeit kein wertvolles Gut zu
sehen, wenn sie es möglichst ohne Hürden und Kosten
zugänglich machen und sogar regelrecht aufnötigen will.
Um den innergesellschaftlichen Zusammenhalt ma-
chen sich die Linken keine Gedanken; deshalb reicht es
ihnen, dass sich die Neubürger nur rudimentär mündlich
verständigen können. Schon einigermaßen fließendes
Deutsch oder gar schriftliches Sprachvermögen ist aus
Sicht der Linken zu viel verlangt. Für eine sprachliche
Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, etwa durch die
Lektüre von Zeitungen, ist eine solche Sprachkompetenz
aber Voraussetzung. Die Demokratie lebt von solcher
Teilhabe und damit vom Beherrschen der Landesspra-
che. Es passt, dass die Linken den Einzubürgernden auch
keine Teilnahme an Staatbürgerschaftskursen vorschrei-
ben wollen.
Die Frage nach der Einstellung zu unserer Verfas-
sungsordnung erscheint den Linken konsequent als un-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4169
(A) (C)
(B) (D)
zumutbare Gesinnungsschnüffelei. Offenbar ist jeder
Test und jede Frage für die Linken verknüpft mit einem
Generalverdacht mangelnder Verfassungstreue. Warum
fordern die Linken dann eigentlich nicht auch die Ab-
schaffung aller auf die Vermittlung von Grundkenntnis-
sen ausgerichteten Schul- und Universitätsprüfungen,
weil dahinter der bösartige Generalverdacht stehe, jeder
Prüfling sei dumm? Wir Liberalen haben uns gegenüber
Fangfragen hinsichtlich der Gesinnung ausdrücklich ab-
lehnend positioniert. Aber diese Logik der Linken kön-
nen wir uns nicht zueigen machen.
Die Linken legen in ihrer Antragsbegründung die
Meinung dar, die gegenwärtige, dringend notwendige
Integrationsdebatte in Deutschland sei „mit rassistischen
Zügen“ behaftet, und unterstellen, der politisch grund-
sätzlich legitimen Forderung nach Überprüfung des
deutschen Ausländerrechts liege ein – Zitat Antragsbe-
gründung – „völkisch“ fundiertes Staatsbürgerschafts-
verständnis zugrunde. Das ist eine unglaubliche Wort-
wahl. Der bei uns Liberalen nicht übermäßig beliebte
CSU-Generalsekretär Söder wird mit dem Terminus
„völkisch“ in den Verdacht von Rassismus gebracht.
Diese Art der Verunglimpfung des politischen Gegners
finde ich unerträglich.
Die Linken zeigen mit ihrem Antrag deutlich, wes
Geistes Kind sie sind. Seine Ziele sind klar: Sie wollen
möglichst ungehemmte Einwanderung ohne Qualifizie-
rung, sie wollen keinen gesellschaftlichen Diskurs, sie
wollen möglichst massive gesellschaftliche Konflikte
durch unbegrenzte Einbürgerung von Kriminellen.
Die Linken wollen die komplette Aushöhlung des So-
zialsystems durch uneingeschränkte Einbürgerung von
Menschen, die nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt
nicht selbst bestreiten können, sondern auch nicht in der
Lage sind, einen Beitrag zum solidarischen Sozialsystem
zu leisten. Sie wollen, dass möglichst viele Menschen
von staatlichen Alimenten abhängig sind.
Sie wollen die Einbürgerung von Menschen, die in
keiner Weise in dieser Gesellschaft Chancen haben kön-
nen, nicht nur, weil sie mental, sprachlich und wirt-
schaftlich auf diese Gesellschaft nicht vorbereitet sind,
sondern weil sie möglichst auch nicht vorbereitet werden
sollen. Das ist geradezu unmenschlich.
Diesen Menschen wollen die Linken keine Jobs und
keine Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, wozu das
Beherrschen der deutschen Sprache notwendig ist, ein-
räumen. Dafür aber sollen sie das Wahlrecht erhalten:
ein tolles Angebot!
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Linken tatsäch-
lich so naiv sind, zu glauben, dass alle Probleme bei der
Integration von Zuwanderern dadurch gelöst werden,
dass man ihnen Wahlrecht und Staatsangehörigkeit ein-
räumt und ansonsten so tut, als gäbe es keine Probleme.
Ich bin sicher, dass ein Großteil der Menschen in die-
sem Land etwas anderes will. Ich danke der Linken aus-
drücklich, dass sie einen so offenherzigen Einblick in
ihre Gesinnung gestattet hat, die im Hinblick auf ihre
Verfassungstreue ganz offensichtlich problematisch ist.
Sevim Dagdelan (DIE LINKE): In unserem Land le-
ben heute über 15 Millionen Menschen, die einen Migra-
tionshintergrund haben. Und ein Großteil von ihnen
kann grundlegende Rechte nicht beanspruchen, weil sie
keine Staatsbürger sind. Mit unserem Antrag wollen wir
dieses Demokratiedefizit beseitigen. Wir wollen deutlich
machen, dass der Schlüssel zur politischen Integration
und Chancengleichheit in der rechtlichen Gleichstellung
liegt. Diese Gleichberechtigung wiederum schaffen wir
mit einem radikal vereinfachten und erleichterten Ein-
bürgerungsverfahren. So gesehen ist die Einbürgerung
nicht der krönende Abschluss des Integrationsprozesses,
sondern gehört zu dessen Grundvoraussetzungen.
Wir wissen, dass nicht alle diesen Leitgedanken fol-
gen, sondern eher einer Abwehrhaltung. Stellvertretend
dafür möchte ich Herrn Stoiber hinsichtlich der Kon-
zepte von Einbürgerungstests zitieren:
„Bayern will hier Druck machen, weil wir uns ge-
nau anschauen und überprüfen sollten, wer dauer-
haft zu uns kommt und Deutscher wird.“
Mit anderen Worten soll wieder unterschieden werden
zwischen denen, die uns nützen, und denen, die uns aus-
nützen. Ein Arbeiter, der nach 30 Jahren am Fließband
arbeitslos wurde, wird samt seiner Familie nicht einge-
bürgert. Aber wir diskutieren heute wieder über Neure-
gelungen für die Zuwanderung von Hochqualifizierten,
weil der Arbeitgeberverband den Bedarf anmeldet. Aus
Afrika stammende Topstürmer sollen für die deutsche
Nationalmannschaft die Tore schießen. Aber afrikani-
sche Straßenfußballer bekommen nicht einmal das Vi-
sum für ein Fußballturnier. Dieses Nützlichkeitsprinzip
ist unmoralisch, verwerflich und inakzeptabel.
Sind Sie nicht auch der Ansicht, dass wir im Jahre
2006, also im fünften Jahrzehnt der Migration in die
Bundesrepublik, anders argumentieren sollten? Auch aus
Ihren Reihen wird diese Frage nämlich bejaht. Der Inte-
grationsminister in NRW, Herr Laschet, sagt zum Bei-
spiel, dass wir mehr Einbürgerung brauchen, dass jede
Einbürgerung ein Erfolg ist. Auch der Bundestagspräsi-
dent, Herr Lammert, sagte noch vorgestern, dass wir zu
wenige Einbürgerungen haben, und er hat dazu aufgeru-
fen, verstärkt für Einbürgerungen zu werben.
Doch Sie können so viel werben, wie Sie wollen. Mit
der derzeitigen Einbürgerungsverhinderungspolitik wer-
den Sie Einbürgerungen nicht fördern. Es kommt nicht
von ungefähr, dass die Einbürgerungsquote in Schweden
oder den Niederlanden fast fünfmal höher ist als in Bay-
ern oder Baden-Württemberg. Seit der Reform des
Staatsangehörigkeitsgesetzes zum 1. Januar 2000 haben
wir einen deutlichen Rückgang bei Einbürgerungen.
Wenn wir die Voraussetzungen dafür weiter verschärfen,
wie das auch von der IMK vor wenigen Wochen be-
schlossen wurde, wird sich nichts daran ändern. Im Ge-
genteil. Die soziale Situation wie zum Beispiel die Ar-
beitsmarktlage, fehlende Angebote zum Spracherwerb
werden in der Debatte ausgeblendet. Als wären ver-
pflichtende Sprachkurse das Allheilmittel, werden fast
alle Probleme auf Sprachdefizite verkürzt. Wer ange-
sichts der stigmatisierenden Debatte heute noch den Mut
aufbringt, die Einbürgerung zu beantragen, müsste nicht
4170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
nur den deutschen Pass erhalten, sondern auch das Bun-
desverdienstkreuz. Und der Integrationsgipfel lässt in
dieser Hinsicht auch nichts Positives erwarten.
Mit unserem Antrag wollen wir dagegensteuern und
den Menschen in unserem Land signalisieren, dass Mi-
grantinnen und Migranten gleichberechtigter Teil dieser
Gesellschaft sind. Unsägliche Schuldzuweisungen von
angeblicher Integrationsunwilligkeit oder fehlender Inte-
grationsbereitschaft sind da nur Störsignale. Mit Ihren
Generalverdächtigungen haben Sie in letzter Zeit großen
Schaden angerichtet. Wir müssen wieder dafür sorgen,
dass das Vertrauen in ein Zusammenleben in Frieden,
Freundschaft und Solidarität stärker wird. Informations-
kampagnen für Einbürgerungen, wie sie in Berlin bereits
laufen und von der Landesregierung in Nordrhein-West-
falen angekündigt wurden, sind unseres Erachtens
Schritte in die richtige Richtung und deshalb Teil unse-
res Antrages. Das ist der Weg, den wir gehen müssen,
um die von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
der Regierungsfraktionen, immer wieder beklagten Defi-
zite bei der Integration wettzumachen.
Abschließend ein paar Worte an Sie: Liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen, in Ihrem Fraktionsbeschluss vom 30. Mai, den ich
in mancher Hinsicht kritisiere, fordern Sie im Rahmen
des Integrations-Fahrplans die Weiterentwicklung der
einbürgerungsrechtlichen Politik. Ich konnte mit Freude
einige Übereinstimmungen in dieser Hinsicht feststellen.
Sollten Sie unseren Antrag nicht unterstützen, könnte ich
das jedenfalls nicht auf inhaltliche Bedenken zurückfüh-
ren.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Eine demokratisch verfasste Gesellschaft kann
auf Dauer nur funktionieren, wenn nicht große Bevölke-
rungsteile von einer vollen Partizipation ausgeschlossen
werden. Eine volle politische Teilhabe der Eingewander-
ten bzw. hier geborenen Inländer mit ausländischem
Pass ist aber nur über den Erwerb der deutschen Staats-
angehörigkeit möglich.
Einige Zahlen – nach Angaben des jüngsten Migra-
tionsberichtes –, um die tatsächliche Größe des Pro-
blems zu verdeutlichen:
Erstens. In Deutschland leben rund 6,7 Millionen
Ausländer.
Zweitens. Ungefähr die Hälfte aller Migrantinnen und
Migranten lebt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland.
30 Prozent von diesen leben sogar schon 20 Jahre oder
länger hier, 40 Prozent von ihnen seit mehr als 15 Jah-
ren. Bei Ausländern aus den klassischen Anwerbestaa-
ten, zum Beispiel Türkei, sind die Aufenthaltszeiten
durchschnittlich noch länger.
Drittens. Jährlich werden circa 100 000 ausländische
Kinder geboren, bei deren Geburt in der Mehrzahl fest-
steht, dass sie hier aufwachsen, zur Schule gehen, heira-
ten und arbeiten werden. Dennoch sind sie rechtlich
Ausländer.
Diese Zahlen lassen nur einen Schluss zu: Der Erwerb
der Staatsangehörigkeit muss weiter erleichtert werden.
Zwar konnten wir 1999 ein neues Staatsangehörigkeits-
recht verabschieden, dessen gefundener Kompromiss
durch ein Vermittlungsausschussverfahren allerdings
hinter den Zielen der grünen Bundestagsfraktion zurück-
blieb.
Insbesondere für die erste Einwanderergeneration hat-
ten wir uns ein großzügigeres Angebot erhofft. Zumin-
dest für diese Generation hätten wir uns die regelmäßige
Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft gewünscht.
Es blieb aber beim Grundsatz der Vermeidung von
Mehrstaatigkeit. Wir konnten zwar die Ausnahmen er-
weitern, aber ein wirklicher Brückenschlag zur ersten
Generation ist das noch nicht. Dies ist damals an der
FDP gescheitert.
Die Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen hat im Mai 2006 ein umfassendes Integrationskon-
zept verabschiedet. Mit dem neuen Grundsatzpapier ent-
wickeln wir unsere Integrationspolitik weiter. In diesem
Papier plädieren wir für einen gesellschaftlichen Integra-
tionsvertrag: Die aufnehmende Gesellschaft und die Mi-
grantinnen und Migranten müssen sich unserer Überzeu-
gung nach gemeinsam der großen Herausforderung der
Integration stellen.
Ein gesellschaftlicher Integrationsvertrag macht auch
eine Weiterentwicklung in der Einbürgerungspolitik un-
seres Landes notwendig.
Erstens. Im Rahmen des Integrationsvertrages müssen
die Fristen für Einbürgerungen verkürzt werden.
Zweitens. Das Angebot an staatsbürgerlichen Kursen,
in denen man sich auf eine Einbürgerung vorbereiten
kann, muss ausgebaut werden. Diese Kurse sollten frei-
willig sein. Sie sollten sowohl in die rechtliche und poli-
tische Ordnung unserer Gesellschaft einführen, aber
auch Hilfestellungen im täglichen Leben anbieten und
auf Beratungsstellen verweisen, wie zum Beispiel für
Frauen. Gesinnungsprüfungen bei Einbürgerungsverfah-
ren sind nicht nur untauglich, sondern auch verfassungs-
rechtlich unzulässig.
Drittens. Einbürgerungsverfahren sollen zu einem re-
präsentativen, dem Anlass angemessenen freudigen Er-
eignis werden. Ein feierliches Gelöbnis oder ein Eid auf
die Verfassung – wie von Teilen der Union gefordert –
tragen aber dazu nichts bei. Ein solcher Akt könnte auch
kaum rechtliche Folgen haben: Wann wäre ein solcher
Eid gebrochen? Welche Konsequenzen sollten drohen,
wenn – auch grundgesetzlich – niemand aufgrund eines
staatlichen Akts durch Entzug der Staatsangehörigkeit in
die Staatenlosigkeit geworfen werden darf? Auch wird
Deutschen nicht abverlangt, einmal in ihrem Leben ei-
nen Treueeid auf die Verfassung abzulegen.
Viertens. Die Hinnahme von Mehrstaatigkeit wollen
wir zumindest für Angehörige der ersten Generation der
zugewanderten Migrantinnen und Migranten generell er-
möglichen.
Fünftens. Im Hinblick auf in Deutschland geborene
deutsche Kinder, die neben ihrer deutschen Staatsange-
hörigkeit eine zweite besitzen, widerspricht es dem An-
satz des Integrationsvertrages, wenn sie später dazu ge-
zwungen werden, gegebenenfalls ihren deutschen Pass
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wieder abzugeben. Nach Ansicht von Bündnis 90/Die
Grünen soll der Optionszwang für heranwachsende Mi-
grantenkinder entfallen.
Wir wollen, dass sich mehr Menschen für die Einbür-
gerung entscheiden, weil sie sich mit dieser Gesellschaft
und diesem Staat identifizieren. Wir wollen, dass der
Tatsache Rechnung getragen wird, dass viele Migrantin-
nen und Migranten hier seit Jahren leben und ihren Le-
bensmittelpunkt haben.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der
Vermögensabschöpfung bei Straftaten (Tages-
ordnungspunkt 18)
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU): Der Gesetzentwurf zur Stärkung der Rückgewin-
nungshilfe und Vermögensabschöpfung bei Straftaten
nimmt nicht für sich in Anspruch, ein großartiges Re-
formwerk zu sein. Nein. Dieser Gesetzentwurf ist aber
auch mehr als die Umsetzung einer Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Januar 2004.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
zwar beim einfachen Verfall § 73 StGB, nicht aber beim
so genannten erweiterten Verfall § 73 d StGB Schaden-
sersatzansprüche von Tatopfern Vorrang vor der straf-
rechtlichen Gewinnabschöpfung haben. Vorgabe des
Bundesverfassungsgerichtes war, die strafprozessualen
Vorschriften zur Rückgewinnungshilfe in §§ 111 b ff.
StPO opferfreundlicher auszugestalten. Die Bundesre-
gierung hätte sich somit mit einer geringfügigen Ergän-
zung des § 73 d Abs. 1 StGB zufrieden geben können,
um dem Prüfauftrag des Bundesverfassungsgerichtes ge-
recht zu werden. Dabei darf man nicht verkennen, dass
die Bundesregierung sich seit dem Jahr 1998 mit einer
Änderung des Rechts der Vermögensabschöpfung und
Rückgewinnungshilfe beschäftigt. Auch elegante Lösun-
gen, die teilweise bei der Sachverständigenanhörung zur
Änderung dieses Gesetzes angesprochen wurden, wur-
den überlegt. Bis zu Ende gedacht wäre auch eine im
materiellen Recht angesiedelte elegante Lösung in der
gewünschten Kargheit kaum möglich gewesen.
Dankenswerterweise hat das BMJ die für den Fach-
mann schwer und für den Laien gar nicht verständlichen
Vorschriften der StPO zur Rückgewinnungshilfe durch-
forstet. So sind jetzt einige Verbesserungen für die Opfer
von Straftaten vorgesehen. Zum Beispiel soll die Frist
zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen für
Opfer von drei Monaten auf drei Jahre verlängert werden
(§ 111 i Abs. 3 StPO). Zusammen mit weiteren sinnvol-
len Änderungen ist der § 111 i StPO allerdings zu einem
juristischen Monstrum mit acht Absätzen mutiert. Und
dennoch haben wir bei der Beratung des Gesetzentwur-
fes weder die Geduld noch den Überblick verloren.
In der Debatte wurden erwägenswerte Änderungs-
wünsche vorgebracht. Kollege Dr. Danckert wollte die
verlängerte Frist zur Geltendmachung von Schadener-
satzansprüchen der Opfer an der Rechtskraft des Urteils
festgemacht wissen. Das stieß bei Regierungsvertretern
auf wenig Gegenliebe. Nicht anders war es bei meinem
Ansinnen, für die Vermögenshaft die weitere Be-
schwerde zuzulassen. Doch getreu dem Motto: „Wir sind
der Gesetzgeber“ (Art. 77 Abs. 1 GG), haben Kollege
Dr. Danckert und ich eine Phalanx gebildet und wir hat-
ten Erfolg. Ihnen liegt ein überarbeiteter Entwurf vor:
Fristbeginn ab Rechtskraft des Urteils! Weitere Be-
schwerde gegen einen existenzbedrohenden Arrest in
das Vermögen eines Beschuldigten!
Insgesamt führt dieser Gesetzentwurf zu einer Stär-
kung von Opferinteressen und einer Berücksichtigung
von Belangen eines Beschuldigten, der nach Art. 6
Abs. 2 MRK als unschuldig zu gelten hat. Ein gutes Er-
gebnis.
Gern wären wir auch der Anregung der FDP nachge-
kommen, beschlagnahmte Gelder, die Opfer nicht abrufen,
statt im Wege des nachgelagerten Verfalls – Auffang-
rechtserwerb – dem Staat zuzuweisen, opferschützenden
Organisationen zur Verfügung zu stellen. Das stieß aber
auf gesetzestechnische und fiskalische Bedenken. Hier
haben wir uns – vorerst – auf einen Appell an die Länder
beschränkt, einen angemessenen Teil der den Ländern
aus dem Auffangrechtserwerb zufließenden Gelder Op-
fer schützenden Organisationen zur Verfügung zu stel-
len.
Offen geblieben ist die ersatzlose Streichung der
§§ 111 o und p StPO. Diese Vorschriften werden nicht
mehr benötigt, seit das Bundesverfassungsgericht mit
Urteil vom 20. März 2002 die Vermögensstrafe nach
§ 43 a StGB für verfassungswidrig erklärt hat. Das soll-
ten wir gelegentlich nachholen.
Sie sehen also, alle Mitglieder des Rechtsausschusses
haben sich redlich Mühe gegeben. Wir bitten diese Mühe
mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf zu ho-
norieren.
Dr. Peter Danckert (SPD): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf verfolgt der Gesetzgeber zwei Ziele: Zum
einen sollen finanziell geschädigte Opfer von Straftaten
bei der Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche im Ver-
gleich zur bestehenden Rechtslage besser gestellt wer-
den. Zum anderen soll das durch eine Straftat erlangte
Vermögen dem Staat zufallen, wenn der durch eine
Straftat Geschädigte seine Ansprüche nicht innerhalb ei-
ner Dreijahresfrist verfolgt. Damit wollen wir das Signal
geben: Straftaten lohnen sich nicht!
Bereits die bisher einschlägigen Vorschriften des
Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung sahen
die Möglichkeit der Geltendmachung von Ansprüchen
auf aus Straftaten erlangtes Vermögen durch die Geschä-
digten vor. Es hat sich aber herausgestellt, dass noch ei-
nige Regelungsdefizite bei der Umsetzung der Vorschrif-
ten über die Rückgewinnungshilfe beim Verfall von
Wertersatz bestehen. So kann nach geltendem Recht
letztlich nicht ausgeschlossen werden, dass der durch
eine Straftat erlangte Vermögensvorteil wieder an den
Täter zurückfällt und Opfer bzw. der Staat leer ausgehen.
4172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir
dahin kommen, dass sich Straftaten nicht lohnen. Wir
wollen die bestehenden Regelungslücken beseitigen und
die strafrechtliche Vermögensabschöpfung verbessern –
ohne das bisherige gesetzliche Regelungskonzept im
Grundsatz zu verändern und bei möglichst geringem
Aufwand für die Praxis. Dies erfordert punktuelle Ände-
rungen bzw. Ergänzungen des geltenden Prozessrechts,
die wir jetzt vorgenommen haben. Dies betrifft insbeson-
dere § 73 Abs. l Satz 2 Strafgesetzbuch. Zur Diskussion
stand hierbei eine materiell-rechtliche Lösung eines Auf-
fangrechtserwerbs des Staates. Wir haben uns letztend-
lich aber auf einen prozessualen Auffangrechtserwerb
nach § 111 i StPO-E verständigt, die in unseren Augen
die geeignetere Variante ist. Allenfalls kritisch anzumer-
ken ist, dass die vorgeschlagenen Regelungen in § 111 i
StPO-E ein wenig lang und umständlich geraten sind.
Aber die komplexe Materie lässt leider keine andere Re-
gelung zu.
Als wir den Gesetzentwurf in erster Lesung am
10. März 2006 hier an dieser Stelle im Plenum beraten
haben, habe ich mich bereits im Großen und Ganzen zu-
frieden mit dem Entwurf gezeigt. Ich habe allerdings auf
einen Punkt aufmerksam gemacht, den ich für verbesse-
rungswürdig erachte, nämlich, dass der Beginn der Drei-
jahresfrist an die Rechtskraft des Strafurteils anknüpft
und nicht wie bisher an den Zeitpunkt der Verurteilung
des Täters. Diese Notwendigkeit wurde auch von zahl-
reichen Praktikern erkannt und gefordert. Ich freue mich
daher, dass es uns im Laufe der Ausschussberatungen
und in zahlreichen Gesprächen gelungen ist, in diesem
Punkt eine Verbesserung herbeizuführen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, die
Frist zur Geltendmachung von Ansprüchen auf be-
schlagnahmtes Vermögen auf drei Jahre auszudehnen.
Das gibt den Geschädigten ausreichend Zeit, ihre An-
sprüche geltend zu machen und Zwangsvollstreckungs-
maßnahmen in das sichergestellte Vermögen zu betrei-
ben.
Allerdings habe ich mich von Anfang an dafür ausge-
sprochen, dass die Rechtskraft der Zeitpunkt sein
müsste, an dem für den Beginn der Frist angesetzt wird.
Für den Geschädigten entstünde daraus kein Nachteil.
Im Gegenteil: Es entsteht sogar ein Vorteil. Das Problem
ist doch, dass es sehr häufig passiert, dass Urteile erster
Instanz in Revision gehen, aufgehoben werden und wie-
derverhandelt werden.
Die Änderung trägt dem Aspekt Rechnung, dass erst
mit der Rechtskraft des letzten tatrichterlichen Urteils
das Erlangte verbindlich bezeichnet ist. Für den Geschä-
digten ergibt sich daraus ein hohes Maß an Rechtssicher-
heit.
Ich bin sicher, dass wir mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf jetzt das erreicht haben, was wir erreichen woll-
ten, nämlich eine Verbesserung der Rechtslage der Ge-
schädigten. Wir haben ferner sichergestellt, dass die
Täter im Nachhinein nicht von ihren Straftaten profitie-
ren.
Auf einen Aspekt möchte ich an dieser Stelle aller-
dings noch gerne hinweisen: auf das nach geltendem
Recht bestehende Instrumentarium der vorläufigen Si-
cherung von Vermögenswerten. In der Praxis führt dies
häufig zu unbilligen und unangemessenen Folgen. Das
Bundesverfassungsgericht hat sich in zahlreichen Ent-
scheidungen mit der Frage der vorläufigen Sicherungs-
maßnahmen befasst, zuletzt am 29. Mai 2006. Denn im-
mer wieder kommt es bei solchen Sicherstellungen zu
Kontensperrungen oder Auszahlungsverboten, die die
wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Betroffenen stark
einschränken und den Ruf des betroffenen Unterneh-
mens schädigen. Bei Arbeitnehmern drohen sogar ar-
beitsrechtliche Konsequenzen. Der Schaden, der daraus
entsteht, ist kaum wiedergutzumachen, sollte sich später
der Verdacht als unbegründet erweisen.
In der Entscheidung vom 29. Mai 2006 folgert das
Bundesverfassungsgericht daher, dass es einer besonders
sorgfaltigen Prüfung und einer eingehenden Darlegung
der dabei maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen
Erwägungen in der Anordnung bedarf, wenn im Wege
vorläufiger Sicherungsmaßnahmen das gesamte oder na-
hezu das gesamte Vermögen dem Betroffenen entzogen
wird.
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung muss ver-
schärft darauf geachtet werden, dass die Amts- und
Landgerichte dieser Rechtsprechung Folge leisten. Im
Falle einer Nichtbefolgung ist dann der Gesetzgeber auf-
gefordert, hier nachzubessern.
Jörg van Essen (FDP): Die FDP hat immer betont,
dass sie die Grundrichtung des Gesetzentwurfs begrüßt.
Der Auffangrechtserwerb des Staates ist richtig. Es ist
ein unerträglicher Zustand, wenn das aus Straftaten er-
langte Vermögen an den Täter zurückfällt, weil sich kein
Geschädigter gefunden hat, der entsprechende Ansprü-
che angemeldet hat. Es ist selbstverständlich, dass der
Rechtsstaat hier einen anderen Weg finden muss. Die
FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher die Regelung,
dass das eingezogene Vermögen an den Staat zurück-
fällt, wenn die Opfer ihre Ansprüche nicht binnen drei
Jahren nach der Verurteilung des Täters geltend machen.
Zu begrüßen ist auch, dass das Bundesjustizministe-
rium kurzfristig noch einige Änderungen vorgelegt hat,
die zur weiteren Verbesserung des Gesetzentwurfs füh-
ren. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeit, dass mit
einer weiteren Beschwerde der Rechtsschutz für die An-
ordnung des dinglichen Arrests erweitert wird. Auch die
Klarstellung, dass der Beginn der Dreijahresfrist, inner-
halb derer das Gericht die Beschlagnahme oder den Ar-
rest aufrechterhält, an die Rechtskraft des Strafurteils an-
knüpft, ist sachgerecht und entspricht einer Forderung
der Anwaltschaft.
Es gibt jedoch auch eine Reihe von kritikwürdigen
Punkten, die im Ergebnis dazu führen, dass die FDP-
Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf nicht zustimmen
kann. Seit vielen Jahren gibt es Bestrebungen, das Sys-
tem der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung zu re-
formieren mit dem Ziel, es einheitlicher, übersichtlicher
und damit für die Rechtspraxis handhabbarer zu machen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4173
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Dies wird mit dem Gesetzentwurf leider nicht erreicht.
Auf die Ansätze, die der Gesetzgeber in der 13. Wahl-
periode begonnen hat, wurde nicht zurückgegriffen. Be-
reits damals lag dem Bundestag ein Gesetz zur Beratung
vor, mit dem eine Vereinfachung der Verfalls- und Ein-
ziehungsregelungen angestrebt wurde. Es bleibt daher
dabei, dass das gesetzliche System der Vermögensab-
schöpfung, insbesondere das Verhältnis von Verfall und
Einziehung, auch weiterhin kompliziert bleibt. Das be-
daure ich außerordentlich.
Der Gesetzentwurf verzichtet zudem darauf, einige
Begrifflichkeiten im Gesetz klarzustellen. Eine gesetzli-
che Harmonisierung und eine in sich stimmige Gesamt-
lösung wäre insbesondere im Hinblick auf den interna-
tionalen Rechtsverkehr dringend geboten. Das Gesetz
hätte ein großer Wurf werden können. Das Ergebnis
bleibt jedoch weit hinter diesen Erwartungen zurück.
Problematisch ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfrak-
tion auch die Erweiterung der Frist für die Aufrechter-
haltung der vorläufigen Sicherungsmaßnahmen. Ich er-
kenne an, dass damit den Opfern von Straftaten die
Durchsetzung ihrer Ansprüche erleichtert wird. Unbe-
antwortet bleibt aber die Frage, wie mit den Rechten von
Dritten verantwortlich umgegangen werden soll. Die
Ausdehnung der Frist um weitere sechs Monate hat zur
Folge, dass allein aufgrund eines einfachen Verdachts-
grades Eingriffe in Rechte Beschuldigter und unbeteilig-
ter Dritter für insgesamt zwölf Monate ermöglicht wer-
den. Ein dringender Tatverdacht ist nicht erforderlich.
Im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bestehen hier
große Bedenken. Diese Regelungen sind, auch vor dem
Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts, nach wie vor problematisch. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat bereits in früheren Entscheidungen da-
rauf hingewiesen, dass es sich bei den verfallssichernden
Maßnahmen und dem damit verbundenen drohenden
Wertverlust vorläufig sichergestellter Vermögenswerte
um schwerwiegende Eingriffe in das Eigentumsrecht
handelt.
Die FDP hat im Gesetzgebungsverfahren vorgeschla-
gen, eine neue Regelung in das Gesetz einzuführen, wo-
nach die Gerichte im Rahmen des nachgelagerten Ver-
falls einen von ihnen zu bestimmenden Teil der vom
Staat erworbenen Vermögenswerte einer anerkannten
gemeinnützigen Einrichtung der Opferhilfe zuweisen
können. Diese Maßnahme wäre ein echter Gewinn für
den Opferschutz. Sie würde auch im Wesentlichen dem
Zweck der Wiedergutmachung dienen. Damit würde zu-
dem eine verlässliche finanzielle Grundlage für den Op-
ferschutz geschaffen.
Die Offenheit, mit der die Koalitionsfraktionen den
Änderungsantrag der FDP aufgenommen haben, hat
mich zunächst gefreut. Es ist daher enttäuschend, dass
unser Vorschlag letztlich keine Mehrheit gefunden hat.
Die von der Koalition vorgetragenen Gründe sind mehr
als vorgeschoben. In der letzten Wahlperiode hat die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Reform des
strafrechtlichen Sanktionensystems vorgelegt. Der Ent-
wurf sah die Verpflichtung der Gerichte vor, einen Teil-
betrag der gezahlten Geldstrafe Organisationen der Op-
ferhilfe zuzuweisen. Diese Anregung haben wir mit
unserem Änderungsantrag aufgegriffen. Im Gegensatz
zu der Regelung aus der 15. Wahlperiode haben wir uns
dafür ausgesprochen, die Entscheidung über die Zuwei-
sung in das Ermessen der Gerichte zu stellen. Es ist be-
dauerlich, dass die guten Vorsätze der Bundesregierung
aus dem Jahr 2004 heute bereits vergessen sind. Damit
wird leider deutlich, dass es immer wieder einer großen
Kraftanstrengung bedarf, die Rechte von Opfern gesetz-
lich zu verankern.
Insgesamt bleiben für die FDP viele offene Fragen
unbeantwortet und große Zweifel, ob das Gesetz wirk-
lich praxistauglich sein wird. Die große Chance, eine
Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung aus
einem Guss anzugehen, wurde leider vertagt.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE): Wie bereits bei der
esten Lesung deutlich gemacht: Wir stimmen der Ziel-
richtung des Gesetzes zu. Wer Opfer eines Vermögens-
oder Eigentumsdeliktes wurde, dem soll dabei geholfen
werden, sein Geld oder sein Hab und Gut wiederzuerlan-
gen. Insoweit ist der Entwurf ein Schritt in die richtige
Richtung.
Im Gegensatz zur allgemeinen Straßenkriminalität,
auf die der Staat allzu oft mit dem scharfen Schwert der
Vergeltung reagiert, obwohl gerade den Tätern dieser Ta-
ten auf die Stirn geschrieben steht, warum sie sich gegen
die Gesellschaft wendeten, von der sie sich ausgegrenzt
und verlassen fühlen, lohnen sich die Verbrechen der
Schlipsträger in diesem Land. Daran wird dieser Ent-
wurf nichts ändern. Dennoch ist er insoweit zu begrüßen,
als er die Selbstverständlichkeit fördert, dass die Beute
nicht auch noch bei den Tätern verbleibt.
Wir sind froh über die erfolgten Nachbesserungen,
vor allem über die Gewährung eines weiteren Rechtsmit-
tels zugunsten desjenigen, gegenüber dem vorläufige Si-
cherungsmaßnahmen ergehen. Dies halten wir aus
rechtsstaatlichen Gründen für unerlässlich, wie Sie auch
unserem im Rechtsausschuss eingebrachten Änderungs-
antrag hätten entnehmen können – wenn Sie ihn denn
gelesen hätten. Diesbezügliche Zweifel hege ich nicht
deshalb, weil unser Antrag ebenfalls die nun erfolgenden
Änderungen enthielt und dennoch von Ihnen einstimmig
abgelehnt wurde, sondern auch weil er über die Vor-
schläge des BMJ hinaus lediglich Anregungen der Sach-
verständigen aufnahm, die im Rechtsausschuss auch von
Vertretern der großen Koalition als durchaus beachtlich
angesehen wurden. Deshalb sehe ich mich gezwungen,
hier zumindest auf einen Punkt des Vorschlags der Bun-
desregierung einzugehen, bei dem wir in Übereinstim-
mung mit den angehörten Fachleuten dringenden Nach-
besserungsbedarf sehen.
Die Bundestagsfraktion Die Linke hält es für unver-
einbar mit unserer Verfassung, wenn nicht nur die wirt-
schaftliche Existenz von Unternehmen, sondern auch
diejenige von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
und abhängigen Kleinbetrieben dadurch gefährdet wird,
dass aufgrund eines bloßen Anfangsverdachts – der sich
gerade in komplexen Bereichen der Vermögenskrimina-
lität leicht als unbegründet erweist –, das gesamte Ver-
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mögen des Betroffenen ein Jahr lang sichergestellt wer-
den kann. Daher schlagen wir vor, zumindest nach sechs
Monaten die Aufrechterhaltung des Arrests oder der Be-
schlagnahme von Voraussetzungen abhängig zu machen,
die denjenigen der Anordnung der Untersuchungshaft
entsprechen.
Die Bundesregierung muss sich aber darüber hinaus
auch fragen lassen, ob sie es mit den von ihr angeführten
Zielen tatsächlich ernst meint. Wäre es denn nicht wirk-
licher Opferschutz, dem Verletzten einen direkten An-
spruch gegen den Staat zuzubilligen, wenn der Fiskus im
Falle des § 111 i Abs. 3 StPO nach drei Jahren von dem
Verfall profitiert?
Wäre nicht eine große Reform – ich erinnere an den
Entwurf aus dem Jahre 1998 –, die die Unterscheidung
Einziehung/Verfall auflöst, auch im Hinblick auf die not-
wendige europäische Harmonisierung der Vermögensab-
schöpfung eine tatsächliche Erleichterung der Justizar-
beit?
Und verlangt der Kampf gegen die Wirtschaftskrimi-
nalität in Wirklichkeit nicht etwas ganz anderes als Än-
derungen im normativen Bereich?
Der Bundesgerichtshof hat diese letzte Frage explizit
beantwortet und in einer fast schon Verzweiflung aus-
drückenden Form erklärt:
Dem in § 56 Abs. 3 StGB zum Ausdruck gekom-
menen Anliegen des Gesetzgebers, das Vertrauen
der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des
Rechts vor einer Erschütterung durch unangemes-
sen milde Sanktionen zu bewahren, kann im Be-
reich des überwiegend tatsächlich und rechtlich
schwierigen Wirtschafts- und Steuerstrafrechts
nach Eindruck des Senats nur durch eine spürbare
Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung
getragen werden. Nur auf diese Weise – nicht durch
bloße Gesetzesverschärfungen – wird es möglich
sein, dem drohenden Ungleichgewicht zwischen
der Strafpraxis bei der allgemeinen Kriminalität
und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstraf-
verfahren entgegenzutreten und dem berechtigten
besonderen öffentlichen Interesse an einer effekti-
ven Strafverfolgung schwerwiegender Wirtschafts-
kriminalität gerecht zu werden.
Es wird also deutlich: Die Bundesregierung hat gekle-
ckert und nicht geklotzt – sie ist allerdings in dem letzten
Punkt auch auf die Mithilfe der Länder angewiesen.
Um dem Flehen unserer obersten Strafrichter, die zu-
sammen mit dem Rest der dritten Gewalt mit einem Jus-
tizhaushalt in Höhe von 0,13 Prozent der Gesamtausga-
ben des Bundeshaushaltes und circa 3 Prozent der
Länderhaushalte abgespeist werden, wenigstens ein biss-
chen Gehör zu verschaffen, möchte ich zum Abschluss
folgenden Vorschlag unterbreiten: Der gute – von Ihnen
im Rechtsausschuss ebenfalls abgelehnte – Gedanke des
Kollegen van Essen, Opferschutzorganisationen an den
Gewinnen des Verfalls partizipieren zu lassen, sollte an-
genommen und dahin gehend ergänzt werden, dass
Schwerpunktstaatsanwaltschaften „Wirtschaftsstrafrecht“
und „Wirtschaftsstrafkammern“ durch die Gewinne aus
der Vermögensabschöpfung mit dem nötigen Personal
und Know-how ausgestattet werden.
Nur so kann verhindert werden, dass sich die Neure-
gelung, wegen des aus ihr erwachsenden Mehraufwan-
des für die Justiz letztlich kontraproduktiv auswirkt. Zu-
dem wäre ein ungleich größerer Gewinn für die
Bekämpfung der volkswirtschaftlich verheerenden Wirt-
schaftskriminalität und damit auch für die Strafgerech-
tigkeit in diesem Lande erzielt als durch den jetzigen
Entwurf.
Diesbezüglich appelliere ich an die Länder: Stattet die
Justiz im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts angemessen
aus; denn der Verzicht auf Gerechtigkeit ist weder recht
noch billig.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be-
reits aus den Beiträgen meiner Vorredner wurde deut-
lich, dass wir uns in einem vollkommen einig sind: Ein
überführter Täter soll nicht die Früchte seiner Tat behal-
ten dürfen.
Der heute zu debattierende Gesetzentwurf zielt des-
halb darauf ab, die Abschöpfung krimineller Gewinne zu
erleichtern und Lücken im Gesetz zu schließen. Der Ent-
wurf hat aber ein strukturelles Problem: Er betrifft die
Sicherstellung von Vermögen im laufenden Ermittlungs-
verfahren. Das bedeutet, dass das Vermögen eines
Beschuldigten beschlagnahmt wird, für den in vollem
Umfang die Unschuldsvermutung gilt. Wie uns die
Sachverständigen im Berichterstattergespräch bestätigt
haben, kann der dingliche Arrest für den Betroffenen er-
hebliche Folgen haben und bisweilen mit der Zerstörung
seiner wirtschaftlichen Existenz einhergehen. In diesem
Zusammenhang müssen wir uns deshalb fragen lassen:
Was sind die Hürden für den Einsatz repressiver Maß-
nahmen, wenn sie sich gegen einen noch nicht verurteil-
ten Täter, also möglicherweise Unschuldigen richten?
Deshalb ist die beschlossene Verlängerung des Zeit-
raums von drei auf sechs Monate, in dem das Vermögen
über die ersten sechs Monate hinaus sichergestellt wer-
den darf, bei einfachem Anfangsverdacht auch bedenk-
lich.
Aus zwei Gründen können wir diesen Vorschlag aber
im Ergebnis mittragen:
Erstens gibt es Ermittlungsverfahren, die so langwie-
rig sind, dass die Verlängerung um drei Monate hin-
nehmbar ist. Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht
in einer Entscheidung vom Mai diesen Jahres den Abwä-
gungsmaßstab im Fall der vorläufigen Sicherstellung des
gesamten oder nahezu gesamten Vermögens präzisiert:
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fordert nicht ledig-
lich eine Vermutung, dass es sich um strafrechtlich er-
langtes Vermögen handelt; vielmehr bedürfe dies einer
besonders sorgfältigen Prüfung und einer eingehenden
Darlegung der dabei maßgeblichen tatsächlichen und
rechtlichen Erwägungen in der Anordnung, damit der
Betroffene Rechtsschutz suchen kann.
Der Gesetzentwurf hat für den Beschuldigten auch
Verbesserungen erfahren; denn dieser hat jetzt die Mög-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4175
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lichkeit der weiteren Beschwerde gemäß § 310 StPO bei
der Anordnung des dinglichen Arrestes. Es ist richtig
und notwendig, dem Beschuldigten schon im Ermitt-
lungsverfahren ein effektives Rechtsmittel an die Hand
zu geben. Insoweit wird er mit einem Untersuchungs-
häftling gleichgestellt, dem ebenfalls die weitere Be-
schwerde zusteht. Wer noch als unschuldig gilt, der soll
sich gegen weitreichende Eingriffe in sein Vermögen an-
gemessen gerichtlich wehren können.
Die Verbesserungen des Entwurfs für das Opfer be-
stehen darin, dass der Zeitpunkt für den Beginn der Drei-
jahresfrist präzisiert worden ist. Nun ist klar: Der Ver-
letzte einer Straftat kann seine Ansprüche innerhalb von
drei Jahren ab Beginn der Rechtskraft des Urteils geltend
machen. Diese Präzisierung sorgt für mehr Rechtssicher-
heit.
Wir haben im Rechtsausschuss auch dem Änderungs-
antrag der FDP zugestimmt, der vorsieht, eindeutig von
Verletzten stammendes Vermögen Opferorganisationen
zukommen zu lassen; also Fälle, in denen das Opfer der
Straftat entweder unbekannt ist oder Ansprüche zur
Rückerlangung des Vermögens nicht geltend gemacht
hat. Dieser Vorschlag ist gut und vernünftig.
Die Argumentation der Koalitionsfraktionen hat mich
– gelinde gesagt – überrascht. In der ersten Plenardebatte
zu diesem Gesetzentwurf wurde noch lauthals für die
Stärkung des Opferschutzes geworben. Der Abgeordnete
van Essen hatte ausdrücklich den „Weißen Ring“ als Op-
fereinrichtung hierfür genannt. Kollege Kauder reagierte
euphorisch, der Vorschlag habe bei ihm „leuchtende Au-
gen“ entzündet.
Offenbar nur ein Strohfeuer, das leider schon erlo-
schen ist: Allen Ernstes haben CDU/CSU und SPD statt
dessen an die Länder appelliert, einen angemessenen
Teil der ihnen künftig zufallenden Vermögenswerte ge-
meinnützigen Einrichtungen der Opferhilfe zukommen
zu lassen. Man wolle nicht in deren Finanzhoheit ein-
greifen. Ich bitte Sie – angesichts der klammen Kassen
der Länder ist dieser Appell eine Farce und das wissen
Sie genau. Wenn die Damen und Herren von der so ge-
nannten großen Koalition die Arbeit von Opferorganisa-
tionen tatsächlich fördern wollen, täten sie gut daran,
dem FDP-Antrag zuzustimmen.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Justiz: Das Gesetz zur Stärkung der
Rückgewinnungshilfe und Vermögensabschöpfung bei
Straftaten schließt eine Gesetzeslücke.
Heute kann ein Straftäter trotz Verurteilung von sei-
nen Straftaten profitieren. Diese unbefriedigende Situa-
tion beruht auf einer Regelung im Strafgesetzbuch. Das
geltende Recht erlaubt es den Gerichten nicht ohne wei-
teres, Gewinne aus Straftaten für verfallen zu erklären,
also dem Täter „wegzunehmen“ und das Eigentum
hieran auf den Staat zu übertragen. Bislang können näm-
lich nur dann Vermögenswerte aus Straftaten für verfal-
len erklärt werden, wenn nicht zugleich die Geschädig-
ten Ansprüche haben.
Ein gutes Beispiel sind die Betrugsdelikte:
Das mit Betrügereien erschwindelte Vermögen unter-
liegt regelmäßig nicht dem Verfall: Denn hier haben die
Geschädigten, also die Betrogenen, Ersatzansprüche ge-
gen den Betrüger.
Das ist grundsätzlich auch gut so, weil der Staat sich
nicht auf Kosten der Opfer bereichern darf. Wenn die
Geschädigten aber Ihre Ansprüche nicht geltend machen
– etwa weil der Schaden ganz gering ist oder weil sie gar
nicht wissen, dass der Täter gefasst worden ist –, dann
gehen die sichergestellten Gewinne eben nicht an den
Staat, sondern sie sind an den Täter zurückzugeben. Wie
wir aus der Praxis wissen, ist das leider alles andere als
ein Ausnahmefall.
Die entsprechende Regelung im Strafgesetzbuch
– konkret geht es um § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB – wird
deswegen auch häufig als „Totengräber des Verfalls“ be-
zeichnet. Der vorliegende Entwurf wird all diese Pro-
bleme so weit wie möglich lösen. Er stellt sicher, dass
der Täter solche Vermögenswerte in keinem Fall mehr
zurückerhält.
Künftig sollen die sichergestellten Vermögenswerte
an den Staat fallen, wenn die Opfer ihre Ansprüche nicht
geltend machen.
Um den Geschädigten genügend Zeit zu geben, ihre
Rückgabeansprüche auch durchzusetzen, verlängert der
Entwurf außerdem die hierfür maßgebliche Frist. Derzeit
haben die Opfer drei Monate Zeit, ihre Ansprüche gel-
tend zu machen – gerechnet ab der Verurteilung des An-
geklagten. Künftig soll diese Frist drei Jahre betragen –
gerechnet ab der Rechtskraft der Verurteilung. Auf den
Fristbeginn erst mit Rechtskraft und nicht schon mit Ver-
urteilung haben wir uns in den Berichterstattergesprä-
chen geeinigt. Damit haben die Opfer noch einmal mehr
Zeit, ihre Ansprüche geltend zu machen, und sie können
im Streitfall auf das bereits rechtskräftige Strafurteil ver-
weisen. Auch bei längerer Verfahrensdauer vor den Zi-
vilgerichten ermöglichen wir damit den Opfern, einen
– notfalls vorläufigen – Titel gegen den Verurteilten zu
erwirken.
Verstreicht diese dreijährige Frist, ohne dass die Ge-
schädigten ihre Ansprüche hinreichend geltend gemacht
haben, dann fallen die gesicherten Vermögenswerte
künftig an den Staat und müssen nicht wieder an den
Verurteilten herausgegeben werden. Damit dient der Ge-
setzentwurf sowohl den Interessen der Opfer als auch
der Gerechtigkeit und damit dem Rechtsbewusstsein ins-
gesamt.
Der Gesetzentwurf ist das Ergebnis langer Beratun-
gen, die wir auf Initiative der Länder mit den Fachleuten
aus den Ländern, Verbänden und Ressorts geführt haben.
Wir haben gemeinsam um eine ausgewogene Lösung ge-
rungen und ich denke, wir können zufrieden sein. An
dieser Stelle möchte ich allen für die konstruktive Zu-
sammenarbeit danken.
Ich hoffe, dass wir damit der Praxis das nötige Instru-
mentarium an die Hand geben, um die volkswirtschaft-
lich schädliche, gewinnorientierte Kriminalität wirksam
zu bekämpfen und die Interessen der Opfer zu wahren.
Dabei hoffe ich, dass die von dem engagierten Opferan-
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walt Kauder initiierte weitere Beschwerde – ein No-
vum – nicht dazu führt, dass der Täter den Vorteil aus
diesem Stück „zusätzliche Rechtsstaatlichkeit“ zieht, das
Opfer aber leer ausgeht. Es ist nun an der Praxis, dieses
Instrumeritarium zu nutzen und dem Gesetzentwurf zu
dem gewünschten Erfolg zu verhelfen.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Demokratiebewe-
gung in Belarus unterstützen (Zusatztagesord-
nungspunkt 6)
Manfred Grund (CDU/CSU): Mit dem heute in ers-
ter Lesung zu beratenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen und der FDP befasst sich der Deutsche Bundes-
tag innerhalb kürzester Zeit zum dritten Mal mit der Ent-
wicklung in Belarus. So war Belarus vor den Parla-
mentswahlen vom 19. März 2006 und nochmals danach
Gegenstand einer Bundestagsdebatte. Mir ist kein ande-
res Land erinnerlich, welches in so kurzem Abstand de-
battiert wird. Derart neugierig geworden, hofft man, im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der Freien De-
mokraten neue und richtige Argumente für eine erneute
Bundestagsdebatte zu finden. Doch bei aller fraktions-
übergreifender Sympathie und freundlicher Zuneigung
zu den Antragstellern: Die Argumente mögen neu und
richtig sein, doch die richtigen Argumente sind nicht
wirklich neu und die neuen Argumente nicht wirklich
richtig.
Richtig ist, dass die Parlamentswahlen am 19. März
weder frei noch fair verlaufen sind und dass das Regime
Lukaschenko unverkennbar diktatorische Züge aufweist
und die demokratischen Rechte nicht akzeptiert. Neu ist
diese Erkenntnis nicht. Neu ist die Forderung nach ei-
nem Demokratiefonds, um die belarussische Zivilgesell-
schaft zu stärken und die Einrichtung eines EU-Sonder-
beauftragten für Belarus. Das sind neue Forderungen,
die aber nur bedingt richtig und klug sind. Die Einrich-
tung eines EU-Sonderbeauftragten und eines Demokra-
tiefonds werfen mehr Fragen als Antworten auf. So gibt
es bereits über Europa verteilt so viele Sonderbeauf-
tragte, die nirgendwo richtig eingebunden sind, dass de-
ren Aktivitäten bereits von einem eigenen EU-Sonderbe-
auftragten koordiniert werden müssten. Und was wäre
denn der Auftrag eines EU-Sonderbeauftragten? Mit
wem soll er Kontakt haben, mit wem reden? Nur mit der
Opposition, das würde Alexander Lukaschenko schnell
zu verhindern wissen. Oder soll ein EU-Sonderbeauf-
tragter auch mit dem Präsidenten, mit der Regierung, mit
dem Parlament reden? Dies widerspräche den angelaufe-
nen Isolationsbemühungen der westlichen Staaten ge-
genüber der nicht legitimierten Belarusführung. Die Ein-
richtung eines Demokratiefonds würde Lukaschenko
Argumente liefern, dass die belarussische Opposition
vom Westen ausgehalten wird. Niemand könnte an einer
solchen Verleumdung gelegen sein.
Sorge muss uns zweierlei machen: der Zustand der
Opposition in Belarus und der wirtschaftliche Druck aus
Russland. Die belarussische Opposition befindet sich
seit den Wahlen in einer Phase der Neudefinierung; Ale-
xander Milinkewitsch selbst spricht von einer Krise. So
gibt es Forderungen nach einer Verbreiterung der Basis
der Vereinigten Demokratischen Kräfte unter Einbezie-
hung der Sozialdemokraten unter Alexander Kozulin.
Die Führerschaft Milinkewitsch wird infrage gestellt und
über einen Boykott der anstehenden Kommunalwahlen
wird kontrovers debattiert.
Russland hat für 2007 die Vervierfachung des Gas-
preises von jetzt 47 Dollar auf 200 Dollar je 1 000 Ku-
bikmeter und die Streichung der Subventionen für den
Erdölexport angekündigt. Da der belarussische Landes-
haushalt zu ungefähr einem Drittel auf russische Unter-
stützung angewiesen ist, wäre die Kürzung der offenen
und verdeckten russischen Subventionen das Ende von
Lukaschenkos Staatssozialismus. Das müsste man nicht
besonders bedauern, wenn nicht zweierlei damit verbun-
den wäre: eine Massenverelendung der belarussischen
Bevölkerung mit anschließendem Modernisierungs-
schock und/oder die Einverleibung von Belarus in die
Russische Föderation. Daran hat wohl nicht mal mehr
Lukaschenko Interesse.
Wie dem auch sei, auch wenn der vorliegende Antrag
nicht so neu und ausschließlich richtig in seiner Argu-
mentation und den Forderungen ist, gibt es gleichwohl
gute Gelegenheit über die von mir aufgezeigten Ent-
wicklungen im Auswärtigen Ausschuss zu debattieren.
Darauf freue ich mich.
Uta Zapf (SPD): Dieses Haus hat bisher alle Belarus-
resolutionen mit großer Einstimmigkeit beschlossen.
Unsere letzte Resolution haben wir kurz vor den Präsi-
dentschaftswahlen in Belarus im März verabschiedet.
Dieser hier von den Grünen vorgelegte Antrag hat sei-
nen Ausgangspunkt in den Erlebnissen, die einige Parla-
mentarier dieses Hauses als Wahlbeobachter der Präsi-
dentschaftswahlen hatten. Erstens waren wir Zeugen,
dass diese Wahlen in einem ungeheuren Ausmaß und
ohne Scham manipuliert und gefälscht waren. Dies wer-
den insbesondere diejenigen bezeugen können, die wie
ich mehrfach an Wahlbeobachtungen in Belarus teilge-
nommen haben. Die Repression gegen die Opposition
war schikanös. Der Zugang zu den offiziellen Medien
auf ein absolut unzureichendes Minimum beschränkt
und die unabhängige Presse wurde extrem behindert.
Die Wahlkämpfe der oppositionellen Kandidaten wur-
den unzulässig behindert, immer wieder wurden Wahl-
kampfteams kurzfristig eingesperrt, ihre Materialien
konfisziert.
Wähler und Wählerinnen gerieten unter Druck, ihre
Stimme abzugeben. Drohungen mit beruflichen Konse-
quenzen waren gängige Praxis. Kollektive wurden zu
den Vorwahlen getrieben, die Urnen mit diesen Stimmen
sind nicht kontrollierbar, sie stehen ohne Kontrolle tage-
lang in den Wahllokalen. Hier ist das größte Einfallstor
für Fälschungen. Die Endauszählung war auch von den
internationalen Wahlbeobachtern nicht zu kontrollieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4177
(A) (C)
(B) (D)
Aber wir erhalten auch eine politisch gereifte Opposi-
tion und fröhlich-furchtlose Sympathisanten. Auf den
friedlichen Demonstrationen am Abend nach der Wahl,
die stattfanden trotz massiver Drohungen gegen diese
unerlaubten Versammlungen auf dem Moskauplatz,
zeigten Bürger und Bürgerinnen, die keine Angst mehr
hatten, ihr Bedürfnis nach Demokratie und Freiheit offen
zu artikulieren. Bei eisigen Temperaturen und Schnee-
sturm trotzten sie den Sicherheitskräften.
Ich denke, wir alle teilen die Analyse, die dieser An-
trag enthält.
Über Jahre hat es eine eskalierende Repression gegen
NGOs und die zivile Gesellschaft, gegen freie Gewerk-
schaften und gegen Gegner Lukaschenkos gegeben. Dies
hat sich nach den Wahlen fortgesetzt. Es ist vieles über
Dialog und über Sanktionen gesagt worden. Bei allem
Ärger und bei aller Wut, die uns angesichts dessen, was
dort passiert ist, erfüllen, müssen wir dennoch den Dia-
log weiterführen.
Die Parlamentarische Versammlung der OSZE hat
eine Arbeitsgruppe zu Belarus eingerichtet. Ich bin die
Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe. Deshalb bin ich häu-
fig in Belarus und rede mit den Menschen, und zwar mit
allen, auch mit Parlamentariern und Vertretern der Ad-
ministration. Ich halte dies für eine wichtige Ebene des
Dialoges. Ein wichtiger Bestandteil unserer Politik ist es,
die Zivilgesellschaft zu schützen und zu unterstützen.
Diese Zivilgesellschaft ist keine subversive Revolution,
wie Herr Lukaschenko befürchtet und in ziemlich gro-
ben Worten an die Wand malt. Diese Menschen klagen
vielmehr ihre Rechte ein, zu denen sich Belarus gegen-
über der OSZE verpflichtet hat, und wir unterstützen sie
darin.
Wir sind uns auch, glaube ich, weitgehend einig, dass
wir die Demokratiebewegung in Belarus unterstützen
wollen, ihre Rechte auf Vereinigungsfreiheit und politi-
sche Arbeit wahrnehmen zu können. Dass es bisher zu
keinem interfraktionellen Antrag gekommen ist, ist vor
allem den Bedenken der CDU/CSU geschuldet, dass wir
keine inflationäre Menge an Belarusanträgen im Bun-
destag einbringen sollten. Wir werden in den Ausschüs-
sen Gelegenheit haben, die Forderungen und Vorschläge
dieses Antrages zu beraten und möglicherweise zu ge-
meinsamen Beschlussempfehlungen zu kommen. Ei-
nige der vorgeschlagenen Maßnahmen sind ohnehin
schon eingeleitet oder umgesetzt, zum Beispiel Stipen-
dien für exmatrikulierte Studenten, die an den Demon-
strationen teilgenommen haben oder den Wahlkampf der
oppositionellen Kandidaten unterstützt haben. Auch die
Frage der Informationsmedien Radio/TV ist auf den
Weg gebracht, aber natürlich muss über eine Erweite-
rung dieser Informationsmedien nachgedacht werden.
Auch sind zusätzliche Maßnahmen, die hier nicht aufge-
griffen worden sind, zu diskutieren. Der Demokra-
tiefonds, über den schon lange geredet wird sollte noch-
mals intensiv betrachtet werden, um ihn handhabbar und
flexibel genug zu gestalten.
Gewisse Zweifel habe ich an der Frage eines nationa-
len Belarusbeauftragten. Es gibt auf Ebene der UN, der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates und
im Europäischen Parlament beauftragte Berichterstatter
und Ausschüsse, die OSZE hat eine „Working Group on
Belarus“, deren Vorsitzende ich bin. Möglicherweise
wäre es nützlich einen solchen Beauftragten bei der Eu-
ropäischen Kommission zu benennen. Die Handlungs-
und Wirkungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene sind
recht beschränkt. Die deutsch-belarussische Parlamen-
tariergruppe war sich einig, dass Handlungsbedarf be-
steht. Lassen Sie uns den Antrag sorgfältig in den Aus-
schüssen beraten.
Harald Leibrecht (FDP): Wir dürfen nicht nachlas-
sen in unserer Unterstützung für die Demokratiebewe-
gung in Weißrussland. Ich war auf den Demonstrationen
anlässlich des 20. Jahrestages der Katastrophe von
Tschernobyl in Minsk. Ich habe erlebt, wie Oppositio-
nelle vor und nach der Demonstration verhaftet wurden,
so auch Alexander Milinkewitsch. Diktator Lukaschenko
und seine Staatsmacht zeigen unerbittliche Härte gegen-
über den demokratischen Kräften. Letztendlich zeigen
sie jedoch, in welch erbärmlichem Zustand sich ihr Re-
gime befindet. Die Staatsmacht hat offensichtlich Angst
vor dem eigenen Volk und setzt darum weiter auf Unter-
drückung und Repression.
Die Menschen wurden mit dem Wahlbetrug bei der
Präsidentschaftswahl im März einmal mehr um ihre de-
mokratischen Grundrechte betrogen. Die Kandidaten der
Opposition hatten zu keinem Zeitpunkt die Chance auf
einen fairen Wahlkampf – nicht zuletzt wegen der staat-
lich kontrollierten Medien. Freie, unabhängige Zeitun-
gen gibt es in Weißrussland nicht mehr. Aber nicht nur
die wenigen couragierten, unabhängigen Journalisten
werden bedroht oder verhaftet, sondern auch viele Stu-
denten, die es wagen, sich öffentlich gegen das Regime
auszusprechen. Der Fall von Artur Finkewitsch ist da
nur einer von vielen. Dieser mutige junge Mann wurde
zu 17 000 Dollar Strafe und einer mehrjährigen Umer-
ziehungshaft verurteilt, nur weil er es wagte, auf eine
Hauswand die Worte „Wir möchten einen anderen“ zu
sprühen.
Ich bin nichtsdestotrotz aus tiefstem Herzen davon
überzeugt, dass das Streben der Menschen in Weißruss-
land nach politischer und persönlicher Freiheit vom Sys-
tem Lukaschenko nicht mehr lange aufgehalten und un-
terdrückt werden kann. Bei ihrem Kampf gegen das
Regime Lukaschenko bedürfen die couragierten Men-
schen in Weißrussland jedoch dringend unserer Unter-
stützung. Weißrussland ist direkter Nachbar der EU. Wir
dürfen die Augen vor Menschenrechtsverletzungen und
Unterdrückung in Weißrussland nicht verschließen.
Mit diesem Antrag senden wir ein klares Signal der
Solidarität und Unterstützung an die „Vereinigte Opposi-
tion“ in Weißrussland. Gleichzeitig appelliere ich an die
„Vereinigte Opposition“, wie bereits während des Präsi-
dentschaftswahlkampfes, ihrem Namen gerecht zu wer-
den und sich trotz zum Teil unterschiedlicher politischer
Auffassungen nicht von der Staatsmacht provozieren,
einschüchtern und auseinander dividieren zu lassen.
Auch die Bundesregierung kann hierzu ihren Beitrag
leisten, indem sie den weißrussischen Oppositionellen
4178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
die öffentliche Bühne bietet, die sie brauchen. Es ist
wichtig, dass sie bei allen Besuchen hier in Deutschland
auf ihre wichtigen Anliegen aufmerksam machen kön-
nen. Aber auch unsere politischen Stiftungen können ei-
nen wichtigen Beitrag zur Unterstützung leisten, indem
sie in dieser Sache eng zusammenarbeiten. Gerade weil
die Arbeit der politischen Stiftungen in Weißrussland
unter sehr erschwerten Umständen erfolgt, gilt es, die
Kräfte zu bündeln.
Zudem fordere ich die Bundeskanzlerin auf, auf dem
anstehenden G-8-Gipfel auch das Thema Weißrussland
anzusprechen und sich auf eine gemeinsame Vorgehens-
weise, zum Beispiel in Fragen der Visumverweigerung,
zu verständigen. Die bereits ausgesprochenen Einreise-
verbote für führende weißrussische Politiker sollten auch
auf andere Führungskader und zum Beispiel auf Univer-
sitätsrektoren, die demonstrierende Studenten exmatri-
kulieren, ausgedehnt werden.
Ich danke allen, die sich hier in Deutschland für die
Demokratiebewegung in Weißrussland engagieren. Dazu
gehören auch die Jungen Liberalen in Baden-Württem-
berg, die vor kurzer Zeit ein Benefizfußballturnier veran-
staltet haben – einerseits um auf die Lage der couragier-
ten Studenten, wie zum Beispiel Artur Finkewitsch
aufmerksam zu machen und andererseits um ganz kon-
kret Spenden für die Arbeit einer belarussischen Jugend-
organisation zu sammeln, welche trotz aller Hindernisse
weiter unermüdlich für die Demokratiebewegung in ih-
rem Land kämpft.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ich will zu Be-
ginn einige Selbstverständlichkeiten festhalten, damit
wir uns über diese nicht zu streiten brauchen.
Das Demonstrationsrecht muss verteidigt werden. Die
Verhaftung friedlicher Demonstranten kritisieren wir, in
Belarus und anderswo. Die Entfernung kritischer Stu-
denten von Universitäten und Schulen lehnen wir ab.
Wer wegen seiner demokratischen Gesinnung verfolgt
wird, braucht unsere Solidarität. Eine Auflösung und das
Verbot demokratischer Organisationen – in Belarus ist
zum Beispiel die Kommunistische Partei verboten –
schadet der Demokratie. Medienfreiheit muss verteidigt
werden, gegen Lukaschenko ebenso wie gegen
Berlusconi. Darüber braucht man sich mit uns nicht zu
streiten.
Streiten allerdings muss man sich über den Weg und
die Inhalte von Alternativen, wie man es in Belarus er-
reichen will. Die Grünen und die FDP schlagen eine Ver-
schärfung von Sanktionen vor. Das ist der Kern des hier
vorliegenden Antrages. Meine Erfahrungen sprechen da-
gegen: Nicht Sanktionen, sondern Dialoge wären ein
Weg. Dialoge müssen alle Fragen umfassen. Ist der Weg
der neoliberalen Umgestaltung, der Freiheit des Marktes
wirklich ein Weg der Demokratisierung oder nicht viel-
mehr ein Weg der Gesellschaftszerstörung? In zahlrei-
chen europäischen Ländern zeigen sich die Spuren die-
ser Zerstörung bereits heute.
Darf man so einfach die enge Verbindung Beloruss-
lands mit Russland „übersehen“, sowohl was die histori-
schen Wurzeln angeht als auch die Gegenwart. Wenn
man will, dass Russland im Sinne von Demokratisierung
auf Belarus Einfluss nimmt, muss man die Interessen
Russlands in Rechnung stellen – in Rechnung stellen,
nicht mehr! Kein Argument und keine Überlegungen
dazu im Antrag von Grünen und FDP!
Die „Orangen“ in der Ukraine und die „Rosen“ in Ge-
orgien haben für Russland aus seiner Sicht nur Dornen
gebracht. Russland hat widerstrebend hinnehmen müs-
sen, dass die NATO mit den baltischen Ländern direkt an
seine Grenzen herangerückt ist. Eine NATO-Mitglied-
schaft der Ukraine und Georgiens könnte jetzt „die rote
Linie“ überschreiten. Das hat die russische Duma mit ih-
rem Beschluss, der auch dem Bundestag zugeleitet
wurde, deutlich gemacht. Es ist kaum anzunehmen, dass
Russland das Risiko eingeht, diesen Weg mit Belarus
unwidersprochen fortschreiten zu lassen.
Die Interessen anderer in Rechnung zu stellen, heißt
nicht, dass man diese teilen muss. Aber mitdenken muss
man sie. All das geschieht nicht in dem uns vorgelegten
Antrag. Dieser Antrag ist nichts anderes als die Erset-
zung von Politik durch plakative Bekenntnisse. Und da-
mit zu wenig, um dafür die Zustimmung der Linken zu
erhalten.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS/90 DIE
GRÜNEN): Anfang März, als die Präsidentschaftswah-
len in Belarus bevorstanden, haben wir hier gemeinsam
eine Aufforderung an den Minsker Diktator zur Gewähr-
leistung freier und fairer Wahlen beschlossen. Schon da-
mals wussten wir, dass die mit vielfachen staatlichen Be-
hinderungen und Repressionen einhergehende Art der
Wahlvorbereitung diese Forderung bereits unerfüllbar
gemacht hatte. Aber wir wollten zeigen, dass wir von
hier aus nach Belarus sehen. Wir wollten zeigen, dass
dem Land und seinen Menschen unsere Aufmerksamkeit
gilt.
Ende März, als die Wahlfarce vorbei, die demokrati-
sche Opposition chancenlos geblieben war und der Dik-
tator trotzdem seinen Sieg noch zusätzlich in einen Tri-
umph umgefälscht hatte, gingen Tausende in Minsk auf
die Straße. Einige von uns waren dabei, um ihre und un-
ser aller Solidarität mit den Demonstrierenden zu zeigen.
Es folgten Verhaftungen, Verurteilungen und Verfolgun-
gen. Damals beschlossen wir hier gemeinsam einen wei-
teren Antrag, in dem wir den mutigen Menschen in Bela-
rus unseren Respekt erwiesen, die Freilassung der
Verhafteten forderten und Sanktionen gegen die ihre
Macht missbrauchenden Funktionäre in Belarus verlang-
ten. Wir wollten zeigen, dass wir uns für die Demokrati-
sierung des Landes einsetzen, für seine Zugehörigkeit
zur europäischen Wertegemeinschaft.
Damals waren wir uns auch einig, dass Belarus ein
langer Weg bevorsteht. Wir stimmten überein, dass wir
uns auf eine langfristige Unterstützung einstellen müs-
sen und auch einstellen wollen. Inzwischen ist, wie so
oft in solchen Fällen, die Entwicklung in Belarus nahezu
völlig aus der medialen Berichterstattung und damit aus
der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Belarus
ist aber nicht verschwunden. Die Situation dort hat sich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4179
(A) (C)
(B) (D)
nicht verbessert, eher im Gegenteil. Nach wie vor sitzen
zum Beispiel eine Reihe prominenter und vermutlich
viele weniger prominente Oppositionelle in Haft. In ei-
ner Woche soll der Prozess gegen einen der bekanntesten
von ihnen, Alexander Kosulin, beginnen. Ein rechts-
staatliches Verfahren nach unseren Maßstäben hat er
wohl kaum zu erwarten.
Unsere Aufgabe bleibt dieselbe, auch wenn es über
das Thema keine Schlagzeilen mehr gibt. Einiges ist
schon geschehen: Die EU hat ihre Sanktionen gegen
Funktionsträger des Regimes erweitert und verschärft.
Ähnliches wurde gerade in den USA beschlossen. Polen
und andere Länder, darunter Deutschland, haben Stipen-
dien für in Belarus wegen ihres demokratischen Engage-
ments relegierte Studierende bereitgestellt. Das sind
erste gute Anfänge, vieles aber bleibt zu tun.
Wichtiger noch als Sanktionen ist die Unterstützung
der demokratischen Opposition und der bedrängten Zi-
vilgesellschaft in Belarus. Unsere, des Deutschen Bun-
destages Aufgabe muss es sein, Vorschläge dafür aufzu-
nehmen oder selbst in die Debatte zu bringen, vor allem
aber, die politische Entscheidung zur Ermöglichung ih-
rer Umsetzung herbeizuführen. Das ist das Ziel unseres
Antrags, dem – das kann jetzt schon gesagt werden –
weitere werden folgen müssen.
Denn nicht nur die Repressionen in Belarus gehen
weiter, auch die Diskussion in Europa über den Umgang
mit dem Regime entwickelt sich. Sogar Russland verän-
dert seine Haltung gegenüber Lukaschenkos Politik – si-
cher weniger zur Unterstützung der Demokratisierung
als zur Steigerung seines ökonomischen Einflusses.
Aber die Ankündigung drastischer Energiepreiserhöhun-
gen in den nächsten drei Jahren ist dennoch ein schwerer
Schlag für Lukaschenko.
Über einige weitere Forderungen und Vorhaben muss
wohl nicht diskutiert werden. Natürlich müssen wir die
Forderung nach Freilassung der gewaltlosen politischen
Gefangenen aufrechterhalten. Ebenso müssen wir die
Einstellung von Ermittlungen des belarussischen Gene-
ralstaatsanwalts wegen Terrorakten im Zusammenhang
mit den Präsidentschaftswahlen fordern – es genügt we-
nig Phantasie, sowohl die Abwegigkeit dieses Vorwurfs
wie seine Bedrohlichkeit für die Betroffenen festzustel-
len.
Es gibt weitere Vorschlage, über die zu reden wäre.
Ich nenne stichwortartig nur einige Beispiele: die Ein-
richtung der Institution eines Belarus-Beauftragten der
EU; die Koordination und Zusammenführung von Sti-
pendien-Initiativen aus mehreren Ländern; Unterstüt-
zung für geschlossene oder behinderte unabhängige Me-
dien, für demokratische Parteien und Bewegungen und
für mit Berufsverbot belegte Oppositionelle; finanzielle
Unterstützung demokratiefördernder Stiftungen auf EU-
Ebene, die in und für Belarus aktiv werden können.
Entscheidend bleibt aus unserer Sicht die Entwick-
lung einer breiten und aktiven Zivilgesellschaft. Die da-
für vorhandenen Förderprogramme müssen aufrechter-
halten und gestärkt werden, und ein dieser Entwicklung
dienender kritischer Dialog verdient ebenfalls jede Un-
terstützung.
Solidaritätsbekundungen wie im März sind gut, dau-
erhafte Aufmerksamkeit, kontinuierliche Unterstützung
aber sind notwendig. Ich bin guter Hoffnung, dass Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sich dieser Erkenntnis
nicht verschließen werden.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– UN-Überprüfungskonferenz als Chance zur
wirksamen Kontrolle des Handels mit Klein-
waffen und leichten Waffen nutzen
– Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten
Nationen zum Erfolg führen
– Waffen unter Kontrolle – Für eine umfas-
sende Begrenzung und Kontrolle des Han-
dels mit Kleinwaffen und Munition
– Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten
Nationen intensiver unterstützen
(Tagesordnungspunkt 20 a und b und Zusatz-
tagesordnungspunkte 7 und 8)
Holger Haibach (CDU/CSU): „Neuer Anlauf für die
Menschenrechte“, „Chancen für die Menschenrechte“,
„Zweifel am Menschenrechtsrat“, „Tendenz zur Selbst-
zensur“, „Gedämpfte Erwartungen“, „Chance im Neube-
ginn“: So weit auseinander gehen die ersten Bewertun-
gen des neuen UN-Menschenrechtsrates, dessen erste
Sitzungsperiode in dieser Woche zu Ende geht. Wie auch
immer man die Aktionen des neuen Gremiums bewertet:
Deutschland hat durch seine Mitgliedschaft die Möglich-
keit und Verpflichtung, dabei mitzuhelfen, die Arbeit des
Rates zum Erfolg zu führen. Deshalb ist es richtig und
wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag mit der Ar-
beit des Menschenrechtsrats beschäftigt. Es bietet sich
auch eine gute Gelegenheit, noch einmal darauf hinzu-
weisen, dass Deutschland mit der größten Stimmenzahl
aller Länder der westlichen Ländergruppe in den neuen
Rat gewählt worden ist. Das ist sicherlich ein Zeichen
der Anerkennung deutscher Menschenrechtspolitik so-
wie der konstruktiven Rolle, die Deutschland bei dem
Zustandekommen der Resolution über den Menschen-
rechtsrat übernommen hat. In diesem Zusammenhang
gilt unser Dank der Bundesregierung, deren Anteil am
letztendlichen Kompromiss sehr hoch war.
Aus diesem Ergebnis und aus der Tatsache, dass
Deutschland aufgrund eines Losentscheids dem Rat zu-
mindest für die nächsten drei Jahre angehören wird, er-
wächst aber ebenso sehr die Verpflichtung, alles dafür zu
tun, dass die Arbeit des Rats erfolgreich verläuft und
dass der Rat sich zu einem effektiven und glaubwürdi-
gen Gremium beim weltweiten Menschenrechtsschutz
entwickelt.
4180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Bisher hat sich der Rat im Wesentlichen mit Verfah-
rensfragen beschäftigt, unter anderem mit der Frage,
welche der bisherigen Mechanismen der alten Men-
schenrechtskommission beibehalten werden sollen, oder
damit, wie die regelmäßige Überwachung der Men-
schenrechtssituation in den UN-Mitgliedstaaten und ins-
besondere den Mitgliedsländern des Rats überprüft wer-
den soll.
Diese prozeduralen Fragen sollten nicht unterschätzt
werden, entscheiden sie doch nicht zuletzt darüber, wo-
mit sich der Menschenrechtsrat beschäftigen soll und auf
welche Art. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist ein
großer Unterschied, ob zur Beurteilung der Menschen-
rechtslage in einem Land nur Regierungsdokumente he-
rangezogen werden dürfen oder ob auch Dokumente von
Nichtregierungsorganisationen Berücksichtigung finden.
Im Übrigen zeigen sich bei der Entstehung des Rats
Licht und Schatten: Es ist ein wirklicher Fortschritt, dass
es zum ersten Mal tatsächlich zu einer wirklichen Wahl
in der UN-Vollversammlung gekommen ist, dass es ei-
nige Staaten, die zu Recht als menschenrechtliche Pro-
blemfälle gelten, nicht in den Rat geschafft haben, weil
sie entweder gar nicht erst angetreten sind oder nicht die
notwendige Mehrheit erhalten haben. Es ist auch zu be-
grüßen, dass die Bewerberländer eine eigene Einschät-
zung ihrer Menschenrechtspolitik veröffentlicht haben.
Ferner gibt es nun erstmals die Möglichkeit, auch Län-
der mit einer Zweidrittelmehrheit wieder aus dem Rat zu
entfernen.
Zu beklagen bleibt allerdings, dass leider nicht alle
Kompetenzen, die der Rat ursprünglich erhalten sollte,
auch tatsächlich Eingang in die Resolution zur Einset-
zung des Gremiums gefunden haben, ebenso die Tatsa-
che, dass es auch Ländern mit erheblichen Menschen-
rechtsdefiziten gelungen ist, in den Rat gewählt zu
werden.
Die tatsächliche Bewährungsprobe des Rates wird
aber die alltägliche Arbeit sein. Hier wird sich zeigen, ob
der Rat glaubwürdig ist, ob er nicht die alten Fehler der
bisherigen Kommission wiederholt, ob nicht doch
wieder gegenseitige Blockaden und Opportunitätsüber-
legungen die wirkliche Aufgabenstellung des Rats kon-
terkarieren. Günter Nooke, der neue Menschenrechtsbe-
auftragte der Bundesregierung, hat dazu treffend
formuliert, dass der Rat sich nicht von Anfang an selbst
zensieren dürfe.
Positiv ist in diesem Zusammenhang zu bewerten,
dass die USA sich zwischenzeitlich bereit erklärt haben,
die Arbeit des Rates nachhaltig zu unterstützen, obwohl
sie derzeit dem Gremium nicht angehören.
So wohnt diesem Neuanfang vielleicht kein Zauber,
aber doch eine Chance auf einen tatsächlichen Neube-
ginn inne. Wir als Koalition von CDU/CSU und SPD
werden jedenfalls die Bundesregierung bei ihrer Arbeit
in dem neuen Rat nach Kräften unterstützen und sind der
Meinung, dass der von uns heute vorgelegte Antrag
hierzu die richtige Grundlage bietet.
Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag
spricht einige wichtige Aspekte an, ist aber weniger um-
fassend als der Koalitionsantrag und wird deshalb von
uns abgelehnt.
Insgesamt liegt bei dem neuen Menschenrechtsrat ein
weiter Weg vor uns, den wir wahrscheinlich nur in klei-
nen Schritten und manchmal auch in Umwegen gehen
können. Doch wie heißt es so schön in einem chinesi-
schen Sprichwort: Der längste Weg beginnt mit dem ers-
ten Schritt.
Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU): Meine
heutige Redezeit beträgt vier Minuten. In diesen vier Mi-
nuten werden in aller Welt 60 neue Klein- und Leicht-
waffen hergestellt. In der gleichen Zeit werden etwa vier
Menschen durch ebensolche Kleinwaffen getötet, darun-
ter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
Frauen und Kinder. Diese Zahlen verdeutlichen: Klein-
waffen sind ein großes Problem.
Seit den 90er-Jahren hat die internationale Kleinwaf-
fenproduktion rapide zugenommen. Dadurch sind Ge-
wehre, Pistolen, Granaten und Karabiner heute leichter
und vor allem billiger denn je zu bekommen. Dass damit
auch ihr Missbrauch stetig zunimmt, liegt auf der Hand.
Die internationale Gemeinschaft hat diese Entwicklung
erkannt und Konsequenzen daraus gezogen. Zahlreiche
beachtenswerte Abkommen und Initiativen auf interna-
tionaler, regionaler und nationaler Ebene sollen zur Ver-
besserung der Rüstungskontrolle in Sachen Kleinwaffen
führen. Um nur einige Beispiele zu nennen: In der EU
gilt für ihre Mitglieder der so genannte Verhaltenskodex
zu Waffenausfuhren. Demnach dürfen Waffen nur in
Länder exportiert werden, die bestimmte Kriterien erfül-
len. In diesen Ländern müssen beispielsweise Frieden,
Sicherheit und Stabilität gewährleistet sein. Die Bundes-
regierung ist dem EU-Verhaltenskodex nicht nur als EU-
Mitglied verpflichtet, sondern hat ihn zudem zu einem
ihrer „politischen Grundsätze für den Export von Kriegs-
waffen und sonstigen Rüstungsgütern“ gemacht.
In Afrika hat die Wirtschaftsgemeinschaft westafrika-
nischer Staaten bereits 1998 das Malimoratorium verab-
schiedet. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den Im-
und Export sowie die Produktion von Kleinwaffen ein-
zustellen.
Auch Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt
sind auf dem Gebiet der Kleinwaffen-Rüstungskontrolle
bemerkenswert engagiert. Exemplarisch sei hier das In-
ternational Network on Small Arms erwähnt. Dieses
Netzwerk besteht aus 500 NGOs, die im Dialog mit Re-
gierungen, Institutionen und Zivilgesellschaften Rüs-
tungskontrolle forcieren und den Missbrauch von Klein-
waffen bekämpfen.
Auch die Vereinten Nationen haben ein Instrument
entwickelt, das sich der Kleinwaffenproblematik an-
nimmt. Sie haben 2001 das UN-Aktionsprogramm zur
Bekämpfung des unerlaubten Handels mit Kleinwaffen
und leichten Waffen in allen Aspekten verabschiedet. Es
macht einen großen Schritt in die richtige Richtung. Es
schreibt die detaillierte Kennzeichnung der Waffen vor,
um deren Wege besser verfolgen zu können und gestattet
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4181
(A) (C)
(B) (D)
Waffenexporte nur, wenn diese im Einklang mit völker-
rechtlichen Verpflichtungen geschehen.
Besagtes Aktionsprogramm ist ein guter Ansatz und
hat Potenzial, dem Problem Kleinwaffen wirksam entge-
genzutreten. Wie zahlreiche andere Initiativen und Ab-
kommen weist das Programm momentan jedoch noch
einige Lücken auf. So halten sich aufgrund der mangeln-
den Rechtsverbindlichkeit zu wenige Staaten an die
Richtlinien. Zudem beschäftigt sich das Programm aus-
schließlich mit staatlichen Akteuren im Kleinwaffenhan-
del, obwohl sich 60 Prozent der 600 Millionen Klein-
waffen, die weltweit im Umlauf sind, in privatem Besitz
befinden.
Die derzeit in New York tagende UN-Konferenz zur
Überprüfung des Aktionsprogramms ist ein optimaler
Zeitpunkt, das Programm zu überarbeiten und die Lü-
cken zu schließen. Uns allen muss klar sein, dass eine
wirksame Bekämpfung des Missbrauchs von Kleinwaf-
fen Jahre dauern wird. Umso wichtiger ist es, das UN-
Aktionsprogramm umgehend weiterzuentwickeln und
die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Daher ermutigen
wir die Bundesregierung, sich weiterhin für eine transpa-
rente und vor allem wirksame Kontrolle des Handels mit
Kleinwaffen und leichten Waffen einzusetzen und aktiv
an der Umsetzung und Verbesserung des UN-Aktions-
programms sowie der EU-Strategie mitzuarbeiten.
Kleinwaffen sind – da stimme ich UN-Generalsekre-
tär Kofi Annan vollkommen zu – die Massenvernich-
tungswaffen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie töten
täglich Tausende von Menschen und versagen Millionen
von Kindern eine unbeschwerte Kindheit, weil sie sie zu
Mördern machen, die von skrupellosen Banden geför-
dert und von den eigenen Familien geächtet werden.
Kleinwaffen sind auch ein wesentlicher Grund dafür,
dass Kriege und bewaffnete Konflikte zunehmend in der
Zivilbevölkerung stattfinden.
Ich denke, der erhöhte Handlungsbedarf in Sachen
Kleinwaffen ist uns allen ersichtlich, und hoffe, dass Sie
mir zustimmen, wenn ich sage, dass wir an einem Strang
ziehen müssen, um den Teufelskreis von Gebrauch und
Handel mit diesen Waffen wirksam und dauerhaft zu
durchbrechen. Ich bitte Sie daher, den gemeinsamen An-
trag von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion zu un-
terstützen, indem Sie Ihrem Gewissen Vorrang vor mög-
lichen Fraktionszwängen geben.
Herta Däubler-Gmelin (SPD): Wir reden heute über
den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen,
der nach langen und zum Teil sehr mühsamen Diskus-
sionen im Zuge der UN-Reform beschlossen wurde. Er
soll die in den letzten Jahren nicht immer zu Recht in ih-
rer Arbeit sehr angegriffene Menschenrechtskommission
ablösen und – als Unterorgan der Vollversammlung der
Vereinten Nationen und mit Stärkung der UN-Hochkom-
missarin für Menschenrechte und ihren Befugnissen –
die unverzichtbare Bedeutung der Menschenrechte in al-
len Ländern der Welt unterstreichen und in der Durch-
führung voranbringen. Wir wollen seine Arbeit zum Er-
folg machen – das will unser Antrag, für den ich Sie um
Zustimmung bitte. Das will auch der Antrag einer Oppo-
sitionsfraktion – auch ihr geht es darum zu bekräftigen,
dass Bundesregierung und Europäische Union ihre be-
sondere Verantwortung für die Durchsetzung und Stär-
kung der Menschenrechte wahrnehmen und sie durch
ihre Politik zum tragenden Pfeiler der globalen Rechts-
ordnung machen.
Der Deutsche Bundestag stellt mit großer Freude fest,
dass die Bundesrepublik Deutschland mit einer beson-
ders hohen Stimmenzahl zum Mitglied des neuen Men-
schenrechtsrates gewählt worden ist. Das zeigt, dass uns
viele Staaten der Völkergemeinschaft ein hohes Maß an
Vertrauen entgegenbringen. Das neue Wahlverfahren in
der Generalversammlung der Vereinten Nationen setzt
die absolute Mehrheit aller Mitglieder für eine Wahl vo-
raus. Deutschland Wahlstimmen liegen bei drei Viertel
aller Mitglieder der General-Versammlung. Dieses groß-
artige Ergebnis beruht sicherlich auf mehreren Faktoren.
Zum einen auf der Anerkennung, dass die Menschen-
rechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland sich er-
folgreich darum bemüht, im Inneren unseres Landes
hohe Standards durchzusetzen. Das ist gut; daran hat
auch der Deutsche Bundestag einen entscheidenden An-
teil.
Allerdings legen wir Politikerinnen und Politiker der
SPD und, das darf ich wohl hinzufügen, auch der ande-
ren Fraktionen des Deutschen Bundestages, die wir uns
besonders um Menschenrechtsfragen kümmern, gerade
deshalb großen Wert darauf, dass wir auch erkennen, wo
wir im Innern noch große Defizite haben, die wir endlich
durch vernünftige und angemessene Lösungen überwin-
den müssen. Ich spreche jetzt von den Menschenrechten
für die vielen ohne Aufenthaltsstatus in der Bundesrepu-
blik lebenden Männer, Frauen und Kinder, also für die so
genannten Illegalen. Wir können ihre Zahl nur schätzen;
aber wir wissen, dass ihnen jede Garantie auch der mini-
malen Menschenrechte fehlt: Der Zugang zu Gesund-
heitsschutz, zu Schule und Bildung, zu Rechtsschutz vor
Ausbeutung und Gewalt, kurz auf das, was unbedingt zu
einem menschenwürdigen Leben ohne ständige, alltägli-
che Angst gehört, alles das fehlt ihnen. Hier müssen wir
endlich die Augen aufmachen und helfen. Das sind wir
uns, das sind wir diesen Menschen schuldig. Außerdem
hat es Signalwirkung, wie wir im eigenen Land mit
Menschenrechten umgehen. Wie wollen wir denn in den
wichtigen Menschenrechtsdialogen mit anderen Ländern
reden, wenn wir diesen Balken im eigenen Auge nicht
sehen? Ich bin ganz sicher, es wird auch unseren Ein-
fluss im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ver-
stärken, wenn wir nachweisen, dass es uns mit den Men-
schenrechten auch für diese Bevölkerungsgruppe Ernst
ist.
Das internationale Vertrauen in die Menschenrechts-
politik der Bundesrepublik Deutschland ist aber auch be-
rechtigt, weil diese eben, auch hier getragen von allen
Fraktionen des Deutschen Bundestages, nirgendwo zu
Menschenrechtsverletzungen schweigt oder sie gar tak-
tisch akzeptiert. Vielmehr greift sie Menschenrechtsver-
letzungen auf und versucht, bei ihrer Überwindung zu
helfen. Es geht uns darum, Menschenrechte als Grund-
lage jeder freien und friedlichen Gesellschaft zu stärken
und sie global durchzusetzen. Den anmaßend erhobenen
4182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
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Zeigefinger halten wir dabei für wesentlich weniger ge-
eignet als den Einsatz sehr erfolgreicher Instrumente wie
beispielsweise Menschenrechts- und Rechtsstaatsdia-
loge.
Der Deutsche Bundestag hat bei der Schaffung des
Römischen Statuts und der Bildung des Internationalen
Strafgerichtshofs sehr gut zusammengearbeitet. Wir alle
unterstützen seine wichtige Arbeit, verteidigen sie gegen
Angriffe etwa der US-Administration und werben für die
Unterstützung der Vereinigten Staaten für diesen Ge-
richtshof, aber auch für den Menschenrechtsrat der Ver-
einten Nationen. Der Deutsche Bundestag unterstützt
mit ebenso großem Nachdruck die deutsche Unterstüt-
zung für Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und
die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Peace-building
durch Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen in vie-
len Ländern der Welt. Das alles hat nicht nur das Ver-
trauen in die deutsche Menschenrechtspolitik gestärkt,
sondern auch die Erwartungen an Deutschland wachsen
lassen.
Es ist deshalb gut, dass Deutschland für drei Jahre
Mitglied des neuen Menschenrechtsrates sein wird, der
am 19. Juni 2006 seine Arbeit in Genf aufgenommen
hat. In diesen drei Jahren müssen viele schwierigen An-
fangsprobleme bewältigt und klare Standards gesetzt
werden. Deutschland wird 2007 die Präsidentschaft in der
Europäischen Union und in der Organisation der G 7/G 8
übernehmen und dort mit der Autorität dieses Amtes für
eine gute Menschenrechtspolitik werben können. Es
wird dieses politische Gewicht auch in die Arbeit des
Menschenrechtsrats einbringen. Da bisher die Politik für
Menschenrechte längst nicht aller 47 Mitglieder des
neuen Rates vorbildlich ist, weder im Hinblick auf die
Garantie der Menschenrechte im eigenen Land noch im
Umgang mit anderen Teilen der Welt oder im Bereich
der internationalen Völkergemeinschaft, wird es zu-
nächst einmal darum gehen müssen, die Länder mit
menschenrechtsfreundlicher Politik im Menschenrechts-
rat zusammenzuführen und ihr Votum im Rat durchset-
zungsfähig zu machen.
Unter den wichtigen Anfangsentscheidungen sind ei-
nige besonders wichtig. Sie sind in unserem Antrag ent-
halten; aber auch der Antrag der Oppositionsfraktion ist
lesenswert. Beide müssen nicht nur in der Arbeit des
Bundestages, sondern auch in der der Bundesregierung
berücksichtigt werden.
Wichtig ist, dass der neue Menschenrechtsrat die ho-
hen Standards und erfolgreichen Instrumente aufnimmt
und weiterführt, die die UN-Menschenrechtskommis-
sion in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat.
Diese Arbeit, diese Erfolge dürfen nicht verloren gehen.
Dabei muss von vorneherein klargestellt werden, dass
zwar die Art der Durchsetzung und Garantie der Men-
schenrechte von regionalen, kulturellen, religiösen und
traditionellen Prägungen beeinflusst sein kann und häu-
fig auch beeinflusst sein wird; die Existenz eines
Menschenrechts kann jedoch ebenso wenig von diesen
Faktoren abhängig sein wie sein Inhalt und seine Reich-
weite. Das klarzustellen gehört zur Anerkennung der Be-
deutung der Menschenrechte.
Wichtig ist auch, dass der Rat sicherstellt, dass seine
Mitglieder sich in ihrer Menschenrechtspolitik überprü-
fen und an den erreichten hohen Standards messen las-
sen. Erst wenn die Mitglieder des Menschenrechtsrats
die hohen Anforderungen erfüllen, können sie in der Ge-
neralversammlung der Vereinten Nationen die Autorität
beanspruchen, die den Menschenrechten und ihrer
Durchsetzung zukommt und die dann die Überprüfung
auch der Menschenrechtspolitik der übrigen Mitglieder
der Vereinten Nationen zu einem Erfolg werden lässt.
Wichtig ist des Weiteren, dass der Menschenrechtsrat
gut mit der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte
zusammenarbeitet und die Verbindungen zum UN-Gene-
ralsekretär und zum UN-Sicherheitsrat zur Durchsetzung
und Stärkung der Menschenrechtsgarantien nützt.
Schließlich ist es wichtig, dass der Menschenrechtsrat
die wichtige Rolle der Nichtregierungsorganisationen
anerkennt: Diese Organisationen sind es ja, die über die
Geltung und die Durchsetzung der Menschenrechte im
Alltagsleben der Menschen eines Landes häufig viel bes-
ser Bescheid wissen als Mitglieder von Ämtern oder Di-
plomatische Korps. Die global arbeitenden Menschen-
rechtsorganisationen können mit ihren aktualisierten
Meldungen und Vergleichen die Arbeit des Rates ent-
scheidend unterstützen. Sie müssen deshalb ihren Zu-
gang, ihren Einfluss und ihre wichtige Rolle im Men-
schenrechtsrat behalten.
Ich bitte um Zustimmung für unseren Antrag. Es be-
steht kein Zweifel daran, dass wir alle die Bundes-
regierung und insbesondere den Bundesaußenminister in
seiner Arbeit im Menschenrechtsrat und auch die Beauf-
tragten der Bundesministerien für Menschenrechtsfragen
in ihrer wichtigen Tätigkeit weiterhin aktiv unterstützen.
Im kommenden September werden wir aus Anlass der
zweiten Sitzungsperiode des UN-Menschenrechtsrates
mit einer Delegation des Menschenrechtsausschusses
des Deutschen Bundestages nach Genf fahren, um uns
vor Ort über die Bewältigung der anstehenden Fragen
und Probleme zu informieren. Wir alle wissen, dass mit
unserem möglichst breit zustimmenden Beschluss heute
ein wichtiger Schritt getan ist. Dem müssen noch viele
weitere folgen.
Christoph Strässer (SPD): Zurzeit findet eine
zweiwöchige Konferenz zur Überprüfung des UN-Ak-
tionsprogramms zum Kleinwaffenhandel bei den Verein-
ten Nationen in New York statt. Es gilt im Zuge dessen
vor allem mehr als deutlich hervorzuheben, wie katastro-
phal die Folgen der massenhaften Verbreitung von
Kleinwaffen und leichten Waffen tatsächlich sind. Denn
fälschlicherweise ist die Gefahr von Kleinwaffen und
leichter Rüstung auf nationaler, regionaler und globaler
Ebene gesellschaftlich nicht präsent genug und wird un-
terschätzt. Kleinwaffen und leichte Waffen sind eine be-
stimmte Kategorie von Kampfmitteln, die von einer oder
zwei Personen getragen, transportiert und ausgelöst wer-
den können. Zu ihnen zählen laut UNO-Definition unter
anderem Sturmgewehre, Revolver und Maschinenenge-
wehre sowie die dazugehörige Munition, aber auch
Handgranaten, tragbare Raketenwerfer, Mörser, Panzer-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4183
(A) (C)
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fäuste, Minen und schultergeschützte Flugabwehrrake-
ten. Die meisten Kleinwaffen sind leicht zu transportie-
ren und im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht zu
bedienen. Das Töten mit dem Gewehr vom Typ Kalasch-
nikow AK-47 kann man bereits einem Zehnjährigen bei-
bringen. Die Folge ist unter anderem, dass Kinder vor al-
lem in Afrika und Asien zu Tausenden zwangsweise als
Soldaten rekrutiert werden. In rund 40 Staaten der Erde
kämpfen nach Schätzungen von UNICEF immer noch
über 300 000 mit Kleinwaffen ausgerüstete Jungen und
Mädchen in Regierungsarmeen oder bewaffneten Grup-
pen. In weiten Teilen der Welt sind Kleinwaffen preis-
werter als zum Beispiel Nahrungsmittel oder Medizin. In
Uganda kostet nach UNICEF Angaben ein AK-47-Ge-
wehr soviel wie ein Huhn und in Angola soviel wie ein
Sack Mais – etwa 15 Dollar. In vielen Krisengebieten
sind sie daher auch außerhalb regulärer Streitkräfte weit
verbreitet.
Den Kleinwaffen sind in den letzten Jahrzehnten weit
mehr Menschen zum Opfer gefallen als allen anderen
Waffenarten zusammen. Mindestens eine halbe Million
Menschen verlieren alljährlich ihr kostbares Leben
durch Kleinwaffen, das heißt, jede Minute stirbt ein
Mensch durch diese Waffengattung, unter ihnen auch
viele Frauen und Kinder. Weltweit wird die Anzahl von
Kleinwaffen, die jahrzehntelang benutzt werden können
und immer wieder auf neuen Brandherden auftauchen,
von ai auf 650 Millionen geschätzt. Damit verfügt jeder
zehnte Mensch über eine Waffe. Jedes Jahr werden
14 Milliarden Schuss Munition produziert – das sind
weltweit mehr als zwei Geschosse für jeden Mann, jede
Frau und jedes Kind.
Diese unvorstellbare Menge an Kleinwaffen macht
sie zum meistverbreiteten Massenvernichtungsmittel un-
serer Zeit. Wie Helmut Schmidt bereits richtig fest-
stellte, handelt es sich im Fall der Kleinwaffenverbrei-
tung ausdrücklich um einen globalen Notstand, der
dringend der Abhilfe bedarf. Die massenhafte Streuung
solcher Waffen führt zudem zur Destabilisierung ganzer
Regionen und verhindert in Ländern wie Somalia, Sierra
Leone, Sudan, Kongo oder Angola über Jahre jede fried-
liche Entwicklung. Verschlimmernd kommt hinzu, dass
die Gefahr durch Kleinwaffen und leichte Rüstung mit
der Beilegung eines regionalen Konfliktes nicht zu Ende
ist. Denn diese Waffen bleiben nach der Beilegung von
Konflikten meist in den Händen der gewaltbereiten
Menschen und unterminieren so die Friedenskonsolidie-
rung und die angestrebte Stabilität in den betroffenen
Regionen. Die Mehrzahl der Menschen fällt somit nicht
den Kampfhandlungen selbst zum Opfer, sondern ver-
liert ihr Leben in der „Nachkriegszeit“. Das bedeutet:
Frieden, Sicherheit und die positive Entwicklung werden
in wachsendem Maße durch die destabilisierende Wir-
kung der Verbreitung von Kleinwaffen und leichten
Waffen bedroht.
Kleinwaffen und leichte Waffen tragen zudem zur
Verschärfung des Terrorismus und der organisierten Kri-
minalität bei. Wer den Terrorismus bekämpfen will,
sollte insofern als einen der ersten Schritte die Verbrei-
tung von Kleinwaffen und leichter Rüstung mit aller
Macht eindämmen. Eine wirksame Kontrolle dieser
Waffengattung ist für eine menschenrechtsorientierte,
aber auch für eine wirtschaftsfördernde Politik und da-
mit einhergehend für die Stärkung des humanitären Völ-
kerrechtes zwingend notwendig. Es gibt bereits viele in-
ternationale, regionale und nationale Vereinbarungen
gegen die Verbreitung von leichten und Kleinwaffen,
wie zum Beispiel das 2001 geschaffene „UN-Aktions-
programm zur Bekämpfung des unerlaubten Handels mit
Kleinwaffen und leichten Waffen in allen Aspekten“ und
das 2005 von der UN-Generalversammlung verabschie-
dete politisch verbindliche Abkommen über die Kenn-
zeichnung und Nachverfolgbarkeit von Kleinwaffen. Die
Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschie-
dete insgesamt mehr als 30 Resolutionen zu Kleinwaffen
und auch der Weltsicherheitsrat befasste sich auf Son-
dersitzungen mehrfach mit diesem Thema.
Es ist unumstritten, dass trotz dieser internationalen
Verträge und nationalen Rechtsvorschriften und dem
großen Engagement internationaler Nichtregierungsor-
ganisationen die Gefahr durch Kleinwaffen und leichte
Rüstung in den letzten Jahren nicht wirklich nachgelas-
sen hat. Aus humanitärer wie menschenrechtlicher Sicht
sollte die internationale Gemeinschaft deshalb die
Chance nutzen, sich im Schlussdokument der Überprü-
fungskonferenz mit klaren Kriterien und verbindlichen
Regelungen zur Bekämpfung des Missbrauchs von
Kleinwaffen und leichten Waffen zu verpflichten und
Lücken im Aktionsprogramm zu schließen. Die SPD-
Fraktion bekräftigt mit diesem Antrag insofern die un-
eingeschränkte Notwendigkeit eines Übereinkommens
aller Staaten zur Schaffung eines wirkungsvollen und
eindeutigen internationalen Kontrollsystems, das Waf-
fen- und Munitionstransfers in Gebiete unterbindet, in
denen diese Güter wahrscheinlich zu schwerwiegenden
Verletzungen der Menschenrechte oder des humanitären
Völkerrechtes verwendet werden. Wir bekunden damit
unseren grundsätzlichen Willen, alles dafür zu tun, dass
die zweite UN-Durchführungskonferenz zum Kleinwaf-
fen-Aktionsprogramm diesem Ziel eines internationalen
rechtskräftigen Kontrollsystems entscheidend näher
kommt. Wer das hehre Ziel verfolgt, Massenvernich-
tungswaffen weltweit zu bekämpfen, der sollte ein sol-
ches Kontrollsystem mit all seiner Kraft unterstützen.
Florian Toncar (FDP): Die Bundesregierung ver-
folgt eine Menschenrechtspolitik, die zwar sinnvolle An-
sätze aufweist, in ihrer Umsetzung jedoch zu wenig Biss
hat und keine echten Akzente setzt. Leider hat es die jet-
zige Bundesregierung noch nicht vermocht, ein eigenes
menschenrechtliches Profil herauszubilden. Dies wird
auch in den heute von den Regierungsfraktionen zur Be-
ratung vorgelegten Anträgen deutlich. Beiden Anträgen
ist gemeinsam, dass die darin erhobenen Forderungen
zwar an sich unterstützenswert sind. Jedoch lassen sie
wirkliche Akzente vermissen, eine kreative Bereiche-
rung sind sie nicht.
Der erste Antrag befasst sich mit der künftigen Arbeit
des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen. Die
FDP hat die Verhandlungen zur Schaffung dieses neuen
Gremiums genau verfolgt. Wir hatten den Eindruck, dass
das Auswärtige Amt in seiner Verhandlungsführung
4184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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umsichtig und geschickt agiert und die Koordination mit
den EU-Staaten sehr gut funktioniert hat. Man muss den
mit den Verhandlungen betrauten deutschen Diplomaten,
insbesondere dem Arbeitsstab Menschenrechte im Aus-
wärtigen Amt, an dieser Stelle Lob und Anerkennung
aussprechen. Die Aufgabe, einen möglichst umfangrei-
chen und effektiven Menschenrechtsschutz auszuhan-
deln, war angesichts des Widerstandes einiger Bremser-
staaten nicht leicht. Zeitweise schien es, dass es in den
Verhandlungen nur noch darum ging, das Schlimmste zu
verhindern.
Das Ergebnis lässt viele Wünsche offen. Die FDP
hätte es natürlich befürwortet, wenn eine Zweidrittel-
mehrheit sowie strengere Menschenrechtskriterien für
die Mitgliedschaft von Staaten im Menschenrechtsrat
notwendig gewesen wären. Leider war dies nicht mehr-
heitsfähig. Aber angesichts der schwierigen Verhandlun-
gen war offenbar nicht mehr drin.
Der Menschenrechtsrat hat sich nun konstituiert und
wird sich in der Anfangsphase damit befassen, seine ei-
gene Arbeitsweise zu definieren. Die Bundesregierung
ist in der Pflicht, ihre Mitgliedschaft in dem neuen Gre-
mium zu nutzen, um diese Methoden so effektiv wie
möglich zu gestalten. Dabei ist wichtig, dass ausreichend
Arbeitszeit für die Befassung mit aktuellen Krisensitua-
tionen und groben Menschenrechtsverletzungen bleibt.
Am Ende müssen Menschenrechtsverletzer damit rech-
nen, beim Namen genannt und öffentlich vom Men-
schenrechtsrat durch Länderresolutionen angeprangert
zu werden.
Ich verstehe den Antrag einerseits als eine Würdigung
des diplomatischen Verhandlungsergebnisses, das neben
vielen klaren Defiziten auch zahlreiche Chancen bein-
haltet. Andererseits – und ich denke, das ist der Schwer-
punkt – geben die Forderungen der Bundesregierung den
Auftrag, die Ärmel hochzukrempeln und die Arbeit des
neuen Menschenrechtsrates mit Inhalt zu füllen. Hier
hätte der Antrag konkreter sein können. Auch wenn wir
diesem Antrag der Regierungsfraktionen zustimmen
werden, bleibt für uns entscheidend, wie die Bundesre-
gierung im Menschenrechtsrat agiert. Wir werden genau
beobachten, ob die Bundesregierung die an sie gerichte-
ten Erwartungen erfüllt.
Auch wenn die FDP den Kern des Antrages unter-
stützt, ist die Schwammigkeit und die Vermeidung von
klaren, akzentuierten Positionen zu bemängeln. Die
Bundesregierung muss in Zukunft stärker Farbe beken-
nen, wie ihre eigene Position zu konkreten Menschen-
rechtsproblemen ist. Darum hat die FDP einen Antrag
eingebracht mit dem Ziel, dass die Bundesregierung in
künftigen Menschenrechtsberichten die eigene Bewer-
tung klar getrennt von allgemeinen politischen Hinter-
grundinformationen darlegt. Außerdem müssen mess-
bare Zielvorgaben für die Zukunft formuliert werden.
Wenn die Bundesregierung sich nicht traut, Position zu
beziehen, soll sie das vor der Öffentlichkeit zeigen müs-
sen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich im Bericht hin-
ter Allgemeinplätzen zu verstecken.
Der zweite Antrag greift ein Thema auf, welches in
den letzten Jahren große Bedeutung erlangt hat: die Be-
kämpfung des Handels mit Kleinwaffen und leichten
Waffen, mit denen die meisten Morde und Tötungen in
Kriegen begangen werden. Da diese Waffen technisch
sehr einfach und leider auch sehr robust und langlebig
sind, kommt es vor, dass mit ein und derselben Waffe in
mehreren Kriegen getötet wird. Der illegale Waffenhan-
del bewirkt, dass diese Waffen von einem Bürgerkrieg
zum nächsten verschoben werden. Es ist eine makabere
„Tournée der Bürgerkriege“, die diese Waffen durch-
wandern. Um dies zu erschweren, müssen die dunklen
Kanäle der illegalen Waffenschieber durch verbindliche
Regelungen sichtbar gemacht und unterbrochen werden.
Die jetzt anstehende UN-Überprüfungskonferenz ist eine
gute Gelegenheit, diesen internationalen Prozess voran-
zutreiben. Dabei sollte die deutsche Diplomatie die Ge-
legenheit nutzen, engagiert Akzente zu setzen.
Es ist zu erwarten, dass einige Staaten – wie in den
Verhandlungen vor fünf Jahren – versuchen werden, das
Abschlussdokument möglichst stark zu verwässern. Die
USA waren damals in die Kritik geraten, weil sie jegli-
che Einmischung in ihr nationales Waffenrecht vermei-
den wollten. Dies gab jedoch den größten Lieferanten
von Kleinwaffen in Bürgerkriegsgebiete die Gelegen-
heit, sich hinter den USA zu verstecken. So muss die
Bundesregierung bei den anstehenden Verhandlungen
auch Staaten wie China zu konkreten Zugeständnissen
bei der Eindämmung der Zirkulation von Waffen drän-
gen und klar Position beziehen.
Ein wichtiges Ziel ist es, die Staaten, die Kleinwaffen
in Konfliktherde liefern, dazu zu bringen, strengere Ex-
portrichtlinien zu beachten. Dabei müssen Deutschland
und die EU dafür sorgen, dass die Staaten in Ost- und
Südosteuropa, in denen große Mengen von Kleinwaffen
vorhanden sind und noch immer produziert werden, die
Ausfuhr dieser Waffen begrenzen. So lagern etwa in der
Ukraine, einem wichtigen Ausfuhrland, noch schät-
zungsweise 9 Millionen Kleinwaffen. Es wäre fatal,
wenn diese Waffen in den Umlauf des illegalen Waffen-
handels gelangten, um das Feuer zahlreicher Bürger-
kriege anzufachen. Staaten Ost- und Südosteuropas, die
Mitglied der EU werden wollen oder ihre Beziehungen
zur EU verbessern wollen, müssen hier ein klares Signal
aus Brüssel erhalten. Auch wenn der Antrag diese For-
derung erhebt, so hätte ich mir eine schärfere Formulie-
rung in diesem Punkt gewünscht, um ein klares Signal
an die ost- und südosteuropäischen Kleinwaffenprolife-
rateure zu senden.
Deutschland zählt trotz einer restriktiven Handhabe
von Exportgenehmigungen weiterhin zu den größten
Waffenexporteuren der Welt. In Zukunft sollten wir al-
lerdings zum Hauptexporteur von Geräten zum Abrüsten
und Zerschreddern von Kleinwaffen aufsteigen. Es
stünde der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung
gut an, wenn deutsche Technik maßgeblich dazu beitra-
gen könnte, diese unsäglichen Kleinwaffen wieder aus
der Welt zu schaffen. Großbritannien stellt solche Geräte
bereits als Teil seiner Entwicklungszusammenarbeit
Staaten zur Verfügung.
Leider ist der Inhalt des Antrages insgesamt so stark
in Watte verpackt, dass er lediglich die allgemeinen Er-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4185
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wartungen an die deutschen Diplomaten bei der anste-
henden UNO-Konferenz wiedergibt. Notwendig ist er in
dieser Form nicht.
Wir sind gespannt, ob die Bundesregierung es schaf-
fen wird, ein sichtbares Profil in der Menschenrechts-
politik zu entwickeln. Bald ist das erste Regierungsjahr
vorbei. Die Zeit läuft.
Michael Leutert (DIE LINKE): Erstens. Wir unter-
stützen den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD. Wir teilen mit den Antragstellern die Auffassung
Kofi Annans, dass es sich bei den Kleinwaffen um die
Massenvernichtungswaffen von heute handelt. Auch tei-
len wir die Auffassung, dass eine wirksame Kontrolle
dieser Waffengattung Konflikten vorbeugen, Frieden
konsolidieren und Menschenrechtsverletzungen meiden
helfen kann. Schließlich teilen wir die Auffassung, dass
eine restriktive Rüstungsexportpolitik notwendig ist. So-
weit stimmen wir mit den Antragstellern überein.
Zweitens hat die Fraktion Die Linke aber auch erheb-
liche Kritik an dem Antrag zu üben, eine Kritik aber, die
uns nicht hindern soll, diesem Antrag zuzustimmen. Der
Antragsteller ist nämlich der Auffassung, dass Kleinwaf-
fen an ihre Einsatzorte in bewaffneten Konflikten oft-
mals über illegale Vermittlungsgeschäfte gelangt sind.
Wenn das stimmt – daran haben auch wir keinen Zwei-
fel – dann fragen wir uns, warum der deutsche Beitrag
zu einer Kontrolle dieser Waffengattung nicht etwas
radikaler ausfallen könnte. Dazu drei Bemerkungen:
Erstens. Dass es sichere Empfängerstaaten für Kleinwaf-
fenexporte gibt, ist sehr zweifelhaft. Gerade der Waffen-
export an verbündete Staaten ist der Anfang des Wegs
der Weiterverbreitung der sehr langlebigen Kleinwaffen.
Auch Staaten mit einer menschenrechtlich immer noch
bedenklichen Lage wie etwa die Türkei und Indonesien
wissen deutsche Waffen zu schätzen. Hier sind wesent-
lich restriktivere Exportregelungen angesagt. Zweitens.
Die Unterscheidung zwischen Sport-, Freizeit- und
Kriegswaffen muss hinsichtlich der Exportbestimmun-
gen aufgehoben werden. Drittens. Die Bundesregierung
sollte sich dafür einsetzen, die bestehenden internationa-
len Abkommen auch auf Waffen wie tragbare Flugab-
wehrraketen und Mörser auszuweiten.
Eine Ankündigung solcher Schritte wäre ein guter
Beitrag für das Gelingen der UN-Kleinwaffenkonferenz.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem neuen Menschenrechtsrat hat eine neue und
wichtige Phase des internationalen Menschenrechts-
schutzes begonnen. Es besteht jetzt die historische
Chance, Menschenrechte zu einer tragenden Säule im
System der Vereinten Nationen werden zu lassen. Die
neue Institution löst die bisherige Menschenrechtskom-
mission ab, die aufgrund der Blockadehaltung zahlrei-
cher Staaten mit mangelhafter Menschenrechtsbilanz zu
Recht kritisiert worden war. Am 9. Mai diesen Jahres
sind 47 Mitgliedstaaten für drei Jahre gewählt worden,
darunter – mit überwältigender Mehrheit – auch
Deutschland. Dies zeigt, wie positiv die konsequente
Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik der letzten
Jahre auch international wahrgenommen wurde. Das
muss und wird hoffentlich auch für die neue Regierung
hinreichend Ansporn sein, hohe Standards einzuhalten
und weiter zu verbessern, im Übrigen auch und gerade
dort, wo Deutschland wie in der Flüchtlingspolitik noch
Nachholbedarf hat!
Der neue Rat ist unzweifelhaft ein positiver Neube-
ginn für eine weltweit effektive Menschenrechtspolitik,
obwohl auch im neuen Rat Länder Mitglieder sind, de-
ren menschenrechtliche Standards alles andere als zu-
frieden stellend sind. Aber: Alle Mitgliedstaaten werden
auf ihre Menschenrechtslage überprüft und es soll die
Möglichkeit einer Suspendierung der Mitgliedschaft für
Staaten bestehen, die massive Menschenrechtsverletzun-
gen begehen. Wir vertrauen darauf, dass dieser Mecha-
nismus notfalls konsequent angewandt wird!
Bündnis 90/Die Grünen sehen eine Reihe von Chan-
cen, die der neue Menschenrechtsrat für eine tatsächli-
che Verbesserung gegenüber der Arbeit der alten
Menschenrechtskommission bietet. Der Rat wird im
Vergleich zur MRK öfter und länger im Jahr tagen und
sich aktueller mit Menschenrechtsfragen befassen kön-
nen. Die Mitglieder des Rates müssen sich einer Prüfung
ihrer eigenen Menschenrechtsstandards unterziehen, und
es besteht die Möglichkeit der Aussetzung der Mitglied-
schaft im Falle schwerwiegender Menschenrechtsverlet-
zungen.
Darüber hinaus wird es ein so genanntes Universal
Periodic Review geben, das heißt ein Verfahren, mit dem
die Menschenrechtssituation in allen Staaten der VN ge-
prüft und Verletzungen von Menschenrechten öffentlich
gemacht werden können. Allerdings: Es müssen auch
noch eine Reihe von Herausforderungen zur effektiven
Ausgestaltung des Menschenrechtsrates bewältigt wer-
den:
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich mit Nach-
druck für den Erhalt der wichtigen und bewährten Son-
dermechanismen der MRK einzusetzen. Die Beteiligung
der Nichtregierungsorganisationen muss gewährleistet
bleiben! Und wir fordern die Bundesregierung auch auf,
wichtige menschenrechtliche Initiativen, die in der Ver-
gangenheit in der MRK nicht oder nicht umfassend
durchgesetzt werden konnten, zum Beispiel Zusatzpro-
tokoll zum VN-Sozialpakt, Resolution über die Men-
schenrechte von Lesben und Schwulen, Resolutionen zu
Guantanamo Bay und zu Darfur, zu unterstützen. Da-
rüber hinaus erwarten wir von der Bundesregierung,
dass sie im Rat darauf hinwirkt, dass die Informationen
zur Menschenrechtslage in den zu überprüfenden Län-
dern auch von opfernahen und staatsunabhängigen Insti-
tutionen berücksichtigt werden. Ob sich die Erwartun-
gen an den Menschenrechtsrat erfüllen, wird sich zeigen.
Bündnis 90/Die Grünen jedenfalls werden die Entwick-
lung dieser Institution mit größter Aufmerksamkeit und
konstruktiver Kritik verfolgen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein paar Worte
zu unserem Antrag „Waffen unter Kontrolle“ und dem
Problem der Kleinwaffen sagen. Schwerste Menschen-
rechtsverletzungen gehen eng mit dem Vorhandensein
und dem Einsatz von Kleinwaffen einher. Seit circa zehn
4186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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Jahren gibt es auf der internationalen Ebene Bemühun-
gen, zu einer Begrenzung des Kleinwaffenproblems zu
kommen. Die Bundesregierung hat sich hier mal mehr
und mal weniger, insgesamt aber durchaus positiv und
lobenswert engagiert. Dies gilt sowohl im Rahmen der
UN, OSZE, EU und bilateral. Auch die nationalen Ex-
portrichtlinien und Exportpolitik wurden ansatzweise
verändert.
Vor allem das UN-Aktionsprogramm von 2001 hat
– bei allen Defiziten – dazu beigetragen, dass es auf der
internationalen, regionalen und nationalen Ebene schritt-
weise Fortschritte gegeben hat. Das reicht jedoch bei
weitem nicht aus. Das Programm ist zu eng, zu unver-
bindlich und in vielen Bereichen nicht entschlossen ge-
nug umgesetzt worden. Wir erwarten, dass es bei der
Überprüfungskonferenz in New York deutliche Fort-
schritte gibt und sich Deutschland und die EU-Staaten
vehement dafür einsetzen, dass es zu Verbesserungen
und verbindlichen Weiterentwicklungen kommt. Dies
gilt zum Beispiel für die Bereiche Munition, Waffenver-
mittlungsgeschäfte und nichtstaatliche Endempfänger.
Es müssen in New York auch Schritte in die Wege gelei-
tet werden, um bald zu einem internationalen Waffen-
handelsabkommen zu kommen, das möglichst hohe
völkerrechtliche Mindeststandards festschreibt, um kon-
ventionelle Waffenexporte unter Kontrolle zu bringen.
Wir begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen das
Thema aufgreifen. Ihr Antrag bleibt jedoch leider in vie-
len Bereichen ein Schönwetterantrag. Dort, wo es weh
tut, also dort, wo auch die Bundesregierung und deut-
sche Industrieinteressen betroffen sind, wagen Sie sich
nicht ran!
Wir dürfen uns nicht auf illegale und militärische
Kleinwaffenexporte beschränken. Wir müssen auch die
zivil genutzten und legalen Exporte in den Blick neh-
men. Wir müssen vor allem auch unsere eigene Export-
gesetzgebung und Exportpolitik kritisch unter die Lupe
nehmen. Hier benennen wir entscheidende Lücken und
Defizite. Bündnis 90/Die Grünen hat das als Regierungs-
fraktion getan, und wir tun das auch heute. Vorausset-
zung ist, dass sich die Transparenz in diesem Bereich
weiter verbessert und die Fraktionen ihre Kontrollaufga-
ben ernst nehmen. Deutschland gehört immer noch zu
den weltweit führenden Exporteuren von zivilen und mi-
litärischen Kleinwaffen, darunter sind auch Exporte, die
mit den Rüstungsexportrichtlinien nicht vereinbar und
nicht nachvollziehbar sind.
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: REITs – Real Estate
Investment Trusts in Deutschland einführen
(Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die Fraktion der FDP
fordert den Bundestag auf, einen Gesetzentwurf zur Ein-
führung von REITs in Deutschland auf den Weg zu brin-
gen. Auch die Union hat heute per Pressemitteilung ver-
kündet, dass sie sich ebenfalls für die REITs-Einführung
ausspricht, sofern – ich zitiere – „die verlässliche Be-
steuerung beim Anleger sichergestellt ist und positive
Auswirkungen auf Immobilienmarkt und Standortbedin-
gungen zu erwarten sind“.
Die SPD-Fraktion diskutiert das Problem intensiver.
Die parlamentarische Linke kommt in einem interessan-
ten Papier zu der Aussage, die Bedingungen für die Ein-
führung von REITs seien nicht erfüllt, weil – Zitat – „die
steuerpolitischen, haushälterischen und gesellschaftspo-
litischen Schwierigkeiten und Gefahren nicht verlässlich
ausgeräumt werden können“. Das BMF seinerseits führt
in einem ausführlichen Papier lauter Argumente an, wa-
rum REITs eine gute Sache sind.
Eine interessante Konstellation: Für die FDP gibt es
keine Probleme; die Union ist zwar dafür, weiß aber
nicht, ob die Risiken unter Kontrolle sind und ob das
Ganze überhaupt etwas bringt; das Bundesministerium
der Finanzen gibt grünes Licht und die SPD ist sich nicht
einig.
Das sieht für mich danach aus, dass die Sache schon
gelaufen ist, das heißt, dass die absolut berechtigten Ein-
wände der SPD-Linken in den Wind geschlagen werden.
Für die Fraktion Die Linke gibt es keinen Zweifel: Wir
lehnen die REITs-Zulassung ab, sie schadet dem Finanz-
platz Deutschland, sie schadet den Interessen der Miete-
rinnen und Mietern und bietet ein weiteres Steuer-
schlupfloch für Finanzinvestoren.
Ich will dies begründen und Ihnen gleich zu Anfang
unser zentrales Gegenargument nennen. Es geht um ei-
nen Sachverhalt, der leider auch nicht in dem zitierten
Argumentationspapier der SPD-Linken ausgeführt wird.
Ich werde mich in der Auseinandersetzung auf dieses
Papier beschränken, weil in dem FDP-Antrag nur Be-
hauptungen zu lesen sind, während die Union nur das
Prinzip Hoffnung zu vermelden hat.
Worum geht es bei REITs? Es geht im Kern um die
Mobilisierung von in Immobilien gebundenem Kapital
von Unternehmen. Das sieht die FDP völlig richtig – Zi-
tat aus dem Ihrem Antrag –:
„REITs sind besonders für Versicherungen, Pen-
sionsfonds und Stiftungen interessant … Unterneh-
men aller Branchen ist es möglich, ihren Immobili-
enbestand in REITS zu überführen. Somit können
sie gebundenes Kapital heben.“
Ich bin der FDP-Fraktion dankbar für die Offenheit,
mit der sie den Kernpunkt benennt, allerdings ohne sei-
nen eigentlichen Hintergrund auszusprechen.
Es geht im Wesentlichen um die Allianz, es geht um
die großen Versicherungskonzerne. Bekanntlich haben
Allianz und Co. riesige, nicht aufgedeckte stille Reser-
ven in Form von Wohnungseigentum. Die Versicherun-
gen haben mit REITs ein dreifaches Interesse: Sie möch-
ten die Verwaltungskosten dieser Wohnungen
loswerden, sie möchten zum Zweiten das zum Einheits-
wert in den Bilanzen geführte Kapital zum Verkehrswert
liquidieren und sie möchten zum Dritten diesen gewalti-
gen Zugewinn auch noch steuerfrei realisieren. Bekannt-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4187
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lich sind nämlich die REITs von der Körperschaft- und
Gewerbe- und Grundsteuer befreit.
Es geht also um nichts anderes als eine Neuauflage
der berühmt-berüchtigten steuerfreien Veräußerung von
Kapital. Sie von der großen Koalition sind dabei, den ge-
radezu tragischen Fehler der rot-grünen Bundesregie-
rung aus dem Jahr 2000 zu wiederholen, der zu gewalti-
gen Ausfällen bei der Körperschaftsteuer geführt hat.
Das ist der Kern das Ganzen.
Die SPD-Linke hat völlig recht: REITs wären – Zitat –
„eine Rolle rückwärts in der Steuerpolitik der Großen
Koalition“. Die Rolle rückwärts ist nur viel dramati-
scher. Ich finde es bedauerlich, dass dieser Punkt in der
Diskussion leider auch in dem Papier der SPD-Linken,
nur am Rande angesprochen wird.
Für die FDP gibt es überhaupt keine Steuerausfallrisi-
ken. Voraussetzung sei die Übernahme der Regelungen
anderer Länder, heißt es im Antrag. Dass in Frankreich
die mit der REITs-Einführung eingetretenen Steuermin-
dereinahmen ein Problem waren, nehmen Sie einfach
nicht zur Kenntnis. Die Union hofft einfach nur, dass es
keine geben wird.
Aber die SPD und der Bundesfinanzminister sollten
eigentlich gebranntes Kind sein. Erinnern Sie sich nicht
mehr an Ihre katastrophalen Fehlprognosen bezüglich zu
erwartenden Steuermindereinnahmen aus dem Jahr
2000? Wollen Sie wirklich den Menschen im Lande klar
machen, der Allianz erneut ein Steuergeschenk in Mil-
liardenhöhe zu machen und zugleich den Menschen er-
neut bei den Ausgaben für Gesundheit und bei den So-
zialleistungen in die Tasche zu greifen? Ich kann es noch
nicht glauben, dass nach all den bereits durchgesetzten
Zumutungen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten so etwas noch mitmachen können!
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie bei diesem
Problem etwas mehr Gehirnschmalz verwenden würden,
damit wir im Ausschuss eine Diskussion mit hinreichen-
dem Sachverstand führen können.
Ich will zum Schluss nicht versäumen, ganz kurz wei-
tere Risiken aufzählen:
Erstens. Sie können und dürfen es nicht zulassen, dass
mit REITS faktisch ein in meinen Augen nicht zulässi-
ges Sonderrecht für Kapitalgesellschaften im Woh-
nungssektor geschaffen wird. Der Grundsatz des BMF
der rechtsformneutralen Unternehmensteuerreform wird
mit REITs unterlaufen.
Zweitens. Die Befreiung von Gewerbe- und Grund-
steuer führt zu Mindereinnahmen bei den Kommunen.
Drittens. Die SPD-Linke hat völlig recht: „Die Stand-
ortbindung deutscher Unternehmen würde gelockert.“
Trotz aller Kniefälle der deutschen Steuergesetzgebung:
REITs würden ihren Firmensitz – wie schon jetzt die
Hedgefonds – natürlich vornehmlich in Steueroasen le-
gen.
Viertens. Die Steuerflucht schaffen Sie auch nicht mit
der Höchstbeteiligungsgrenze von 10 Prozent nach dem
britischen Muster aus der Welt, Sie begrenzen Sie nur.
Fünftens. Ganz abgesehen von Auswirkungen auf den
Mietwohnungssektor, der bekanntlich in Deutschland in-
ternational betrachtet weit größeres Gewicht hat, ganz
abgesehen von dem deutlich schwächeren Mietrecht bei
Wegfall der Gemeinnützigkeit: Ich frage Sie: Wollen Sie
tatsächlich mit Hilfe der REITS diesen Sektor den
Pensionsfonds und insbesondere des US-Pensionsfonds
übereignen? Ich zitierte Norbert Blüm: Von
112 000 Pensionskassen in den USA existieren heute
noch 32 000! Sie kennen die Probleme mit den Pen-
sionsfonds bei GM, Ford usw. Wir sollten uns in diesem
Hause genauer mit den Risiken auf dem internationalen
Finanzmärkten beschäftigten, denen die Wohnungs-
märkte mit REITs ausgeliefert würden.
Sechstens. Vergessen Sie bitte nicht die weltweit
deutlich gestiegenen Gefahren von Immobilienblasen,
deren Konsequenzen bei einer massiven Einführung von
REITs überhaupt nicht geklärt sind.
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Stadtentwicklung ist moderne Struk-
tur- und Wirtschaftspolitik (Tagesordnungs-
punkt 22)
Peter Götz (CDU/CSU): Stadtentwicklung ist ein
dynamischer Prozess. Der wirtschaftliche und demogra-
fische Wandel, aber auch Wanderungsbewegungen stell-
ten die Städte schon immer vor neue Herausforderungen –
in Ost und West, in Nord und Süd. Wie wir unsere Städte
planen und organisieren, ist für die Lebensqualität vieler
Menschen entscheidend. Innovation, Wachstum und Be-
schäftigung sind der Motor für die Entwicklung unserer
Städte und Ballungsräume. Mit ihrer Wirtschaftskraft
– aber auch mit ihrem kulturellen Angebot – strahlen die
Städte auf den sie umgebenden ländlichen Raum aus.
Um diese für die Standortqualität und die Wettbewerbs-
position Deutschlands wichtige Funktion zu stärken, hat
sich das Leitbild einer nachhaltigen Stadt durchgesetzt.
Es verfolgt das Ziel, innovative, flexible und ausgewo-
gene Lösungen für die wirtschaftlichen, sozialen und
umweltbezogenen Herausforderungen zu schaffen. Die-
ser Dreiklang der lokalen Agenda 21, den die Vereinten
Nationen global unterstützen, und die vor zehn Jahren
auf dem Weltstädtegipfel der Vereinten Nationen verab-
schiedete Habitat-Agenda helfen, einseitige negative
Entwicklungen und Monostrukturen zu vermeiden.
Um auf Dauer eine gute Infrastruktur und ein qualitati-
ves Wohnumfeld vorhalten zu können, brauchen wir
starke Kommunen. Wir brauchen Städte und Gemeinden,
die eigenverantwortlich im Rahmen ihrer Planungshoheit
und Finanzautonomie ihre Aufgaben wahrnehmen. Ich
hoffe, dass es gelingt, im Rahmen der anstehenden Un-
ternehmensteuerreform die davon betroffenen Kommu-
nalfinanzen nachhaltig auf eine stabile und solide Basis
zu stellen.
4188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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Auch die Föderalismusreform wird die kommunale
Selbstverwaltung deutlich stärken. Die vielen kommuna-
len Amts- und Mandatsträger erhalten durch diese Re-
form eine noch größere Eigenverantwortung. Zusammen
mit bürgerschaftlichen Initiativen und regionalen Unter-
nehmen sind sie die wichtigen Akteure einer Stadt.
Wenn Bundespräsident Köhler beim Festakt aus An-
lass des hundertjährigen Bestehens des Deutschen Städ-
tetages vor einem Jahr in Berlin unter anderem sagte,
– ich zitiere –: „Und ich wünsche mir auch, dass in ihren
Parteien die Kommunalpolitiker ihre Stimme noch viel
stärker zur Geltung bringen“, so macht dies sehr deut-
lich, dass Politik für und nicht gegen Kommunen ein
starkes Glied in der Kette vieler notwendiger Entschei-
dungen ist. Deshalb ist es auch richtig, dass Bund, Län-
der und Gemeinden gemeinsam auf der Grundlage des
Subsidiaritätsprinzips wichtige Stadtentwicklungspro-
jekte fördern. Die Bund-Länder-Programme zur Städte-
bauförderung helfen den Kommunen zurzeit, in über
1 700 Stadtquartieren dringende Investitionen in die In-
frastruktur und die Modernisierung der Gebäude in Gang
zu bringen. Städte, die in besonderem Maße von wirt-
schaftlichem Strukturwandel, von Arbeitslosigkeit,
Wohnungsleerstand, Zu- oder Abwanderung betroffen
sind, können so stabilisiert und aktiviert werden.
Auch die Europäische Union tritt für eine Entwick-
lung integrierter Konzepte einer nachhaltigen Stadtent-
wicklung ein, damit die Städte ihren Beitrag zu Wachs-
tum und Beschäftigung leisten können. Deshalb greift
unser Antrag die mit der neuen EU-Förderperiode 2007
bis 2013 geschaffene Möglichkeit der Städtebauförde-
rung mit EU-Strukturfondsmittel ab 2007 auf. Die städti-
sche Dimension zu stärken, ist der richtige Ansatz. Be-
sonders wichtig ist uns dabei die Beachtung des
Subsidiaritätsprinzips.
Ziel muss sein, durch integrierte und partnerschaftli-
che Prozesse die Attraktivität der Städte zu verbessern
und dabei Innovationen, unternehmerische Initiativen
und die Wirtschaft zu unterstützen, um so mehr und bes-
sere Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Die Länder soll-
ten diese Ziele bei der Ausgestaltung ihrer Förderpro-
gramme in breitem Umfang berücksichtigen. Die
Stadtentwicklung als Querschnittsaufgabe zu profilieren
bietet die Chance, bisher unabhängig voneinander ange-
wandte Förderstrategien besser miteinander zu verzah-
nen. Unabhängig vom Förderaspekt können wir die
Innenentwicklung der Städte und Gemeinden auch da-
durch stärken, dass wir das Bau- und Planungsrecht wei-
ter vereinfachen und beschleunigen. Das hat sich die Ko-
alition vorgenommen und das wird sie auch realisieren.
Flächenpotenziale sind durch Wiedernutzung und Nach-
verdichtung besser auszuschöpfen. Die Nutzung von
Industrie-, Bahn- oder Konversionsbrachen ist anstren-
gender als das Bauen auf der grünen Wiese. Aus ökolo-
gischen und ökonomischen Gründen ist dies trotz der
größeren Anstrengung langfristig der bessere Weg. Wir
sollten alle verstärkt darauf hinwirken.
Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen, das
mit diesem Antrag verdeutlicht werden soll. Eine der
wichtigsten Säulen der nachhaltigen Stadtentwicklung
stellt zunehmend die soziale Integration dar, insbeson-
dere dann, wenn sich soziale Problemlagen in einzelnen
Stadtquartieren durch einen hohen Migrantenanteil oder
einen hohen Anteil an Langzeitarbeitslose und jugendli-
chen Arbeitslosen konzentrieren. Außerdem muss die
soziale Eingliederung von benachteiligten Personen so-
wie Schulabbrechern oder Schulverweigerern durch ge-
zielte Maßnahmen gefördert werden, um deren Chancen
auf Beschäftigung zu erhöhen. Das aus Mitteln des
Europäischen Sozialfonds, ESF, finanzierte Programm
„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ (LOS) hat sich da-
bei besonders bewährt. Wir wollen, dass das künftige
ESF-Bundesprogramm dort anknüpft und den Erforder-
nissen einer nachhaltigen europäischen Stadtentwick-
lung durch eine eigene Handlungspriorität im Programm
Rechnung trägt. Damit realisieren wir auch das Vorha-
ben der Koalition, den ressortübergreifenden Ansatz des
Programms „Soziale Stadt“ zu stärken.
Abschließend habe ich eine Bitte an die Bundesregie-
rung. Ich bitte Sie, die deutsche Ratspräsidentschaft in
der Europäischen Union im nächsten Jahr zu nutzen, um
das Thema Stadt als wichtiges Zukunftsthema national,
aber auch international prioritär auf die politische
Agenda zu setzen. Die in Deutschland entwickelten Lö-
sungen für eine nachhaltige, integrierte Stadtentwick-
lung können dazu ein guter Beitrag sein. Die Auseinan-
dersetzung mit der Entwicklung unserer Städte, ihren
großen Problemen, aber auch mit den dort liegenden
Potenzialen lohnt sich: Deutschland mit seinen Städten
und Regionen hat viel zu bieten. Die Erwartungshaltung
vieler Länder an uns ist sehr hoch. Wir sollten unser
Licht nicht unter den Scheffel stellen und dieser Erwar-
tung gerecht werden.
Petra Weis (SPD): Dass der Antrag „Stadtentwick-
lung ist moderne Struktur- und Wirtschaftspolitik“ erst
zu so später Stunde behandelt wird, hat hoffentlich nicht
zur Folge, dass die Bedeutung des Themas für die wirt-
schaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in unseren
Städten in den kommenden Jahren – und Jahrzehnten –
gering geschätzt wird. Das Gegenteil ist nämlich der
Fall: Die Stadtentwicklungspolitik, die seit dem Ende
der neunziger Jahre neu und zukunftsweisend zugleich
ausgerichtet worden ist, erhält im Zeichen der wirt-
schaftlichen, sozialen und technologischen Entwicklung
– ich könnte statt Entwicklung auch Wettbewerb, besser
noch Standortwettbewerb sagen – eine weitergehende
Qualität.
Mit dem Leitbild der nachhaltigen Stadtentwicklung
und dem Ziel der Erarbeitung und Umsetzung innovati-
ver und flexibler Lösungen für vielschichtige ökonomi-
sche, soziale und ökologische Problemlagen erfüllt die
deutsche Politik zur Stadtentwicklung einen herausra-
genden Beitrag im Rahmen der Lissabonstrategie. Ob
unsere Städte und Regionen für Investitionen und damit
für Arbeitsplätze attraktiv sind, darüber entscheiden
auch die Wachstumspotenziale in unseren Städten und
der politische Wille, diese Potenziale zur Entfaltung zu
bringen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4189
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Mit diesem Profil liegt die Politik der Bundesregie-
rung ganz auf der Linie der Europäischen Union, die in-
tegrierte Konzepte nachhaltiger Stadtentwicklungspoli-
tik unterstützt und einfordert. Sie liegt auch ganz auf der
Linie der strategischen Ausrichtung der Europäischen
Kommission, die die Stärkung der städtischen Dimen-
sion im Rahmen der Kohäsionspolitik und der Struktur-
fonds in der nächsten Förderperiode von 2007 bis 2013
auf ihrer Agenda ganz weit oben platziert hat.
Die im Rahmen des Europäischen Fonds für regionale
Entwicklung vorgesehenen Fördermöglichkeiten sind
dazu geeignet, von den Bundesländern im Zuge der Er-
arbeitung ihrer operationellen Programme im Rahmen
der Förderpolitik in den Städten offensiv und intensiv
genutzt zu werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft im
kommenden Jahr muss und wird also auch dazu dienen,
die Impulse nach und von Europa gegenseitig zu verstär-
ken.
Daneben müssen wir uns in der Fortentwicklung un-
serer Politik auf die Bewältigung der Herausforderungen
konzentrieren, denen sich die Städte im Zuge des demo-
grafischen Wandels ausgesetzt sehen. Es hat nichts mit
Schwarzmalerei zu tun, wenn wir zur Kenntnis nehmen,
dass Strukturwandel und Veränderung der Bevölke-
rungsstruktur in den Städten dazu führen, dass sich Pro-
blemlagen der modernen Gesellschaft in den Städten und
hier insbesondere in bestimmten Quartieren konzentrie-
ren. Die wohlbekannten Stichworte lauten brachliegende
Flächen, Wohnungsleerstand, wirtschaftliche und soziale
Benachteiligung, unzureichende Integration von Mig-
rantinnen und Migranten, um nur einige zu nennen.
Die Städte müssen in diesem schwierigen und gewiss
langwierigen, aber durchaus chancenreichen Prozess ge-
zielt unterstützt werden, bei der Anpassung der techni-
schen und sozialen Infrastruktur, bei der Attraktivierung
von Quartieren für junge Familien und ältere Menschen
gleichermaßen, beim Ansiedeln neuer Unternehmen, bei
der Nutzung von Brachflächen – auch als Beitrag zur
Reduzierung des Flächenverbrauchs – und bei vielem
anderen mehr.
Ein besonderes Augenmerk muss in den kommenden
Jahren auf die soziale Integration auch von Migrantinnen
und Migranten gelegt werden. Das sage ich nicht nur,
aber auch im Vorfeld des für den 14. Juli geplanten Inte-
grationsgipfels im Kanzleramt. Dass Stadtentwicklung
einen wichtigen Beitrag zur Integration leistet, ist unbe-
stritten. Ebenso unbestritten ist die Notwendigkeit der
stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit auf diesem
Feld.
Deshalb ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass
die Aufstockung der Mittel für das Programm „Soziale
Stadt“ um 40 Millionen auf 110 Millionen Euro ein
ebenso bedeutendes Zeichen ist wie die Möglichkeit, die
Mittel zukünftig auch für Zwecke verwenden zu können,
die sich auf die Stärkung der Kompetenzen der Betroffe-
nen in den Bereichen Bildung und Sprachförderung,
aber natürlich auch in den Bereichen Ausbildung und
Beschäftigung richten.
Ein wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung
ist es, Stadtentwicklungspolitik national wie europäisch
als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe zu be-
schreiben und zu betreiben. In den Stadtquartieren mani-
festieren sich die vielfältigen Problemlagen für die Be-
troffenen zuerst, aber hier werden die Erfolge der
Politik, die ohne ein entsprechendes bürgerschaftliches
Engagement nicht denkbar und vor allem nicht nachhal-
tig wären, auch zuerst erkennbar und erlebbar.
Bund, Länder und Kommunen sind also gemeinsam
aufgefordert, nachhaltige Konzepte zur Stadtentwick-
lung zu entwickeln und engagiert und konsequent umzu-
setzen. Das weist der städtebauliche Bericht der Bundes-
regierung aus dem Jahr 2004 unübersehbar aus. Es war
daher auch eine Motivation für diesen Antrag der Koali-
tionsfraktionen, den Gemeinschaftscharakter, der ideal-
wie realtypisch stets durch einen „gemeinschaftlichen
Geist“ ergänzt werden sollte, gerade auch in seiner
Struktur- und gesellschaftspolitischen Relevanz noch
einmal deutlich herauszustellen.
Die Städtebauförderung bleibt auch nach der Verab-
schiedung der Föderalismusreform eine gesamtstaatliche
Aufgabe. Das ist ausgesprochen gut so. Attraktive In-
nenstädte als Anziehungspunkt für Menschen aus allen
Generationen, eine stadtverträgliche Mobilität im Zei-
chen notwendiger Ressourceneffizienz, Stärkung der
zentralen Versorgungsbereiche, Stärkung neuer Formen
der Selbstorganisation wie Business Improvement Dis-
tricts, Housing Improvements Districts und Immobilien-
und Standortgemeinschaften, Verbesserung von Be-
schäftigungsmöglichkeiten auch durch Stärkung der lo-
kalen Ökonomie – unter Einbeziehung der Migranten-
ökonomie, deren Potenzial übrigens noch lange nicht
ausgeschöpft ist: All das wird nur gelingen, wenn die be-
teiligten Ebenen zielgerichtet und effizient zusammenar-
beiten. Stadtentwicklung ist in diesem Sinne voraus-
schauende und präventive Gesellschaftspolitik und nicht
allein Reparaturbetrieb für ökonomische, soziale und
kulturelle Verwerfungen.
Die bisher erzielten Erfolge sind beispielgebend auch
für vergleichbare Regionen in Europa. Daher gehen wir
mit Gewissheit davon aus, dass die Bundesregierung die
deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr des
kommenden Jahres dazu nutzt, unter Einbeziehung der
Habitat-Agenda die bei uns entwickelten Lösungsan-
sätze für eine nachhaltige und integrative Stadtentwick-
lung als Beitrag für die Lissabonstrategie in die Arbeit
der Europäischen Union einzubringen.
Im Mai des nächsten Jahres werden die zuständigen
Ministerinnen und Minister im Rahmen der deutschen
Ratspräsidentschaft in Leipzig tagen. Geplant ist eine
Leipzigcharta zur nachhaltigen europäischen Stadt als
Beitrag zur Lissabonstrategie. Im Rahmen der zu erwar-
tenden Beratungen werden die Forderungen unseres An-
trags hoffentlich eine Rolle spielen, wenn nicht gar
schon Früchte tragen.
Das Thema wird uns also so oder so erhalten bleiben.
Ich freue mich auf die kommenden Debatten im nationa-
len und europäischen Rahmen und hoffe auf eine mög-
lichst breite Zustimmung zu unserem Antrag.
4190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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Patrick Döring (FDP): In einem bin ich mit den Ab-
geordneten der Koalition vollkommen einig: Die Ent-
wicklung unserer Städte, vor allem die rechtzeitige Re-
aktion auf die demografische Entwicklung, ist eine
wichtige Zukunftsaufgabe. Vielleicht eine der wichtigs-
ten.
Denn Städte sind seit jeher Zentren der Entwicklung
unserer Gesellschaft – wirtschaftlich, sozial, wissen-
schaftlich und technologisch. Zugleich konzentrieren
sich in Städten und Metropolregionen auch die Probleme
unserer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit, Migration, demo-
grafischer Wandel – in unseren Städten sind das keine
Schlagworte, das ist die Wirklichkeit. Hier entscheidet
sich tagtäglich, in was für einer Gesellschaft wir in Zu-
kunft leben werden.
Eine liberale und demokratische Gesellschaft ist in
Gefahr, wenn ich einmal kurz grundsätzlich werden darf,
wenn zwischen gesellschaftlichen Gruppen Grenzen ge-
zogen werden. Das gilt für die Entwicklung unserer
Städte im wahrsten Sinne des Wortes: Die Meldungen
dieser Tage aus Neukölln und Kreuzberg führen uns nur
zu deutlich vor Augen, wohin Aus- und Abgrenzung
führt. Wo die Hoffnung stirbt, da stirbt auch die demo-
kratische Kultur – da fliegen bald nicht mehr die Worte
in einer hitzigen Debatte, sondern Molotowcocktails.
Schauen Sie nur nach Frankreich!
Das Thema Stadtentwicklung gehört daher in seiner
ganzen Breite auf die politische Agenda. Wirtschafts-,
Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, Bildung und For-
schung, Raumplanung, soziale Einrichtungen – um nur
einige zentrale Aspekte zu nennen.
In dieser Hinsicht geht die Koalition mit diesem An-
trag einen ersten Schritt eines langen Weges. Ich befür-
worte viele der einzelnen Forderungen, die von den ge-
schätzten Kollegen Götz und Weis erhoben werden.
Doch ich vermisse den Mut und die Entschlossenheit,
der Regierung mit einem integrierten und nachhaltigen
Gesamtkonzept entschieden die richtige Richtung zu
weisen. Zum Teil nehmen Sie hier bloß bekannte Vorha-
ben des Ministers vorweg. Wo klare Vorgaben gefragt
wären, etwa zur Bedeutung bereichsübergreifender Kon-
zepte, da scheuen Sie die Festlegung.
Um die Zukunft unserer Städte zu sichern, braucht es
jedoch mehr als punktuelle Maßnahmen; es braucht ein
integriertes Konzept, das die verschiedenen politischen
und thematischen Ebenen verknüpft. Insbesondere darf
Stadtentwicklung nicht isoliert, sondern muss auch im
regionalen und überregionalen Zusammenhang betrach-
tet werden. Um zu einer ausgewogenen Entwicklung zu
kommen, braucht es strategische Allianzen von Stadt
und Region und eine Vernetzung der Städte untereinan-
der. So aktivieren wir die Potenziale der Städte und des
Umlandes. Ohne die regionale Einbettung der Stadtent-
wicklung ist diese Politik unvollständig, ja womöglich
schädlich.
Durch den Stadtumbau Ost konnte der ostdeutsche
Wohnungsmarkt wieder stabilisiert werden. Aber Stabi-
lisierung ist nur das eine: Um eine positive Dynamik in
Gang zu setzen, müssen wir die Attraktivität der Zentren
erhöhen. Dafür gilt es, die vorhandenen Ressourcen
sinnvoll und kreativ einzusetzen. Aus dem Abrisspro-
gramm Ost muss tatsächlich ein Umbauprogramm wer-
den! Zum jetzigen Zeitpunkt aber werden über 60 Pro-
zent der Mittel nur in den so genannten Rückbau
investiert. Hier ist es an der Zeit, umzusteuern. Denn um
unsere Städte auf die Herausforderungen der Zukunft
vorzubereiten – eine alternde Bevölkerung, Integrations-
herausforderungen und eine wachsende Vielfalt der Le-
bensentwürfe – müssen wir jetzt handeln.
Und auch in den westdeutschen Städten müssen wir
wieder nachhaltig die Bedeutung einer gesunden Zentra-
lität in den Fokus unserer politischen Instrumente rü-
cken – einkaufen, arbeiten, wohnen und leben sollen die
Bürger auch wieder im Zentrum der Städte.
Die lebens- und liebenswerte Stadt werden wir ge-
meinsam politisch nicht per Beschluss schaffen können.
Aber die europäischen und bundespolitischen Instru-
mente müssen den Kommunalpolitikern und Handeln-
den in unseren Städten helfen, die bestehenden und auf-
kommenden Probleme zu lösen.
Die Entwicklung unserer Städte ist eben eine Heraus-
forderung, die sich nicht mit ein paar kleinen Drehungen
an zwei oder drei Stellschrauben bewältigen lässt. Das
ganze System muss überprüft und neu gedacht werden.
Vor diesem Hintergrund wird der Antrag der Regie-
rungsfraktionen wohl wenig schaden – die Forderungen
sind für sich genommen zumeist vollkommen richtig.
Doch Neues bewirken wird man mit diesem Papier ohne
Mut und Visionen ebenso wenig.
Ich biete für die FDP-Fraktion an, dass wir gemein-
sam die Schwerpunkte der weiteren Stadtentwicklungs-
politik festlegen, wir rechtzeitig mit dem Bundesminis-
ter die Schwerpunkte der Ratspräsidentschaft zu diesem
wichtigen europäischen Thema definieren und überle-
gen, unter welchen Bedingungen wir weitere und neue
Fördermittel einsetzen.
Der erste Bundespräsident Theodor Heuss hat einmal
gesagt: „Ohne Städte ist kein Staat zu machen“. In die-
sem Sinne können wir diesem Antrag unsere Unterstüt-
zung gewähren.
Heidrun Bluhm (Die LINKE): Stadtentwicklung ist
ein permanenter Prozess. Städte befinden sich ständig im
Wandel. Der demografische Wandel und der damit ein-
hergehende Strukturwandel kamen nicht über Nacht.
Dass der Koloss der großen Koalition in einem Akt der
Selbstmotivation nunmehr der Stadtentwicklung als mo-
derner Struktur- und Wirtschaftspolitik seine Aufmerk-
samkeit schenkt, ist also längst überfällig. Die Forderun-
gen an die Bundesregierung im Antrag enthalten dabei
keine Neuigkeiten, sondern empfehlen lediglich, zur
Kenntnis zu nehmen, was seit Jahren auf diesem Gebiet
im Angebot ist. Die Politik der Bundesregierung wirft
allerdings auch Fragen nach den Erfolgschancen der im
vorliegenden Antrag formulierten Ziele auf.
In ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,
innovative Modellvorhaben für den familien- und alten-
gerechten Umbau von Stadtquartieren und städtischer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4191
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Infrastruktur zu entwickeln, die zentralen Versorgungs-
bereiche der Städte und Gemeinden im Interesse einer
verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung zu stär-
ken und die Träger der technischen und sozialen Infra-
struktur in die Erstellung städtebaulicher Stadtentwick-
lungskonzepte einzubinden. Alles richtig.
Aber mit wem wollen Sie diese Aufgaben lösen? Eine
Ihrer Kernaussagen im Antrag bezieht sich auf die Auf-
gaben und die hohe Verantwortung der kommunalen
Amts- und Mandatsträger. Diese Sicht teilen wir. Dann
müssen allerdings auch die politischen Konsequenzen
klar sein. Und dieser Ansatz fehlt sowohl im Antrag als
auch in Ihrer bisherigen Politik. Die kommunalen Amts-
und Mandatsträger brauchen eine finanzielle Grundlage,
um die ihnen zugedachte Verantwortung wahrnehmen zu
können. Tatsächlich sind aber heute viele Kommunen
wegen fehlender Haushaltsmittel nicht mehr in der Lage,
Fördermittel wegen des fehlenden Eigenanteils abzuru-
fen oder integrierte Stadtentwicklungskonzepte zu finan-
zieren. Auch deshalb fordern wir an dieser Stelle erneut
die Einführung einer kommunalen Investitionspau-
schale.
Die kommunalen Amts- und Mandatsträger sollen
den Prozess des Strukturwandels steuern. Mit der
scheinbar zwanghaften Privatisierung kommunalen Ei-
gentums entziehen sie sich dafür selbst die Handlungs-
grundlage. Der Wandel der Eigentumsformen und die
damit eng in Zusammenhang stehende Diskussion um
die öffentliche Daseinsvorsorge geraten hier in einen
schwer auflösbaren Widerspruch. Der Bund selbst geht
in dieser Frage sogar mit schlechtem Beispiel voran und
verkauft seine Wohnungsbestände meistbietend, egal an
wen. Eine ehemals kommunale Wohnungsgesellschaft,
die gerade an einen transatlantischen REIT verkauft
wurde, wird mit Sicherheit nicht ernsthaft darüber nach-
denken, die Bestände im Rahmen des Stadtumbaupro-
gramms zurückzubauen, sondern wird nach reinen Kapi-
talverwertungskriterien mit ihrem Bestand verfahren.
Großen Handlungsbedarf gibt es nach wie vor in Ost-
deutschland – als Beispiel nenne ich die Altschulden-
hilfe.
CDU, CSU und FDP, haben die ostdeutschen Woh-
nungsunternehmen durch ihre Politik Anfang der 90er-
Jahre mit fiktiven Altschulden belastet, um sie anschlie-
ßend mit teuren Förderprogrammen wieder zu sanieren.
Deshalb wiederholen wir regelmäßig unsere Forderung:
Retten Sie die ostdeutschen Wohnungsunternehmen!
Streichen Sie den Wohnungsunternehmen die Altschul-
den! Mindestens diese Forderung gehört in Ihren Antrag.
Meine Damen und Herren Großkoalitionäre, ich
stimme Ihnen zu, dass die soziale Integration eine der
wichtigsten Säulen einer nachhaltigen Stadtentwick-
lungspolitik ist. Das Problem ist nur, dass soziale Inte-
gration diesen Stellenwert in Ihrer Politik gar nicht hat.
Wir sagen: Integration muss am Anfang stehen. In
Deutschland steht sie am Ende der Handlungskette. In
Deutschland begreift man Integration allzu oft als ein
notweniges Übel, dem man sich erst widmen muss,
wenn die Probleme in den Städten nicht mehr zu überse-
hen und das Kind sprichwörtlich schon in den Brunnen
gefallen ist.
Das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt konnte die
schwierigen Verhältnisse in den sozialen Brennpunkten
der Städte bisher nicht nachhaltig verändern. Die Förder-
programme zur Linderung von Fehlentwicklungen Ihrer
bisherigen Integrationspolitik wie zum Beispiel „Loka-
les Kapital für soziale Zwecke“ aus dem Europäischen
Sozialfond sind wichtig, eignen sich aber nur für Repa-
raturmaßnahmen. Soziale Probleme haben ihre Ursache
aber in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese gilt
es zu beleuchten!
Einen dritten Punkt möchte ich benennen: Der Antrag
ist in seiner Zielsetzung zu sehr auf die Stadt fixiert. Der
ländliche Raum wird kaum tangiert. Die Städte als Zen-
tren der Regionen werden zu wenig behandelt. Allein
darauf zu setzen, dass die Städte mit ihrer Wirtschafts-
kraft auf den sie umgebenden ländlichen Raum ausstrah-
len werden, reicht nicht aus. Da in dieser Frage offenbar
Clusterpolitik betrieben wird, müssen Sie sich fragen
lassen, wann Sie sich dem ländlichen Raum mit einer
ähnlichen Initiative widmen wollen. Wir sind sehr ge-
spannt.
Mit der Lissabon-Strategie will die EU im Rahmen
des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein
Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologi-
schen Fortschritt in der Welt sein. Wir stimmen dem An-
trag zu, um sie genau daran zu messen.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
freue mich durchaus, dass die Koalition und insbeson-
dere die CDU/CSU einen Antrag vorgelegt hat, der sich
für die Förderung der Städte ausspricht und nicht mehr
nur für das Eigenheim auf der grünen Wiese! Nach jah-
relangem Streit um die Eigenheimzulage, der ja glückli-
cherweise der Vergangenheit angehört, hat die CDU/
CSU endlich akzeptiert, dass Finanzmittel für die Stadt-
entwicklung sinnvolle Investitionen mit einem hohen
Multiplikatoreffekt sind.
Die Stadtentwicklung ist ein wichtiger Motor für die
Standortentwicklung und damit für die Wirtschaft vor
Ort. Bündnis 90/Die Grünen haben sich lange dafür ein-
gesetzt, dass die frei werdenden Mittel aus der Eigen-
heimzulage zu einem Teil in die Stadtentwicklung flie-
ßen sollten. Diese Chance wurde zwar von der großen
Koalition leider vertan, aber immerhin wurden die Städ-
tebaufördermittel nicht reduziert.
Bei der Stadtentwicklung gibt es eigentlich keinen be-
deutenden Dissens zwischen der großen Koalition und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag der großen Koali-
tion zielt auf das Leitbild einer nachhaltigen Stadtent-
wicklung. Dafür stehen wir selbstverständlich auch ein.
Ich begrüße ausdrücklich den gelungenen Antragsteil
bezüglich der Förderung der Städte. Er spricht ganz we-
sentliche Punkte an und macht sinnvolle Vorschläge.
Aber er geht uns insgesamt noch nicht weit genug. Wir
unterstützen die Forderung, dass im Rahmen der deut-
schen EU-Ratspräsidentschaft 2007 die in Deutschland
entwickelten Lösungen für eine nachhaltige, integrative
4192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Stadtentwicklung einzubringen seien. Ebenso unterstüt-
zen wir die Erprobung von Modellen, in denen arbeits-
marktpolitische Leistungen in Entwicklungsstrategien
für Stadtquartiere integriert werden können.
Wir fordern jedoch, dass neue Konzepte zur stadtver-
träglichen Mobilität entwickelt werden müssen. Hier
wird von Ihnen eines der urgrünen Themen aufgegriffen.
Und es besteht ganz konkreter Handlungsbedarf, zum
Beispiel was die Feinstaubproblematik in den Städten
anbelangt. Hier bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit
gerne an.
Das Ziel, die Lebensqualität in den großen Städten zu
verbessern, kommt uns aber zu kurz. Es fehlen Konzepte
für eine kinderfreundliche und gesunde und umweltbe-
wusste Stadtentwicklung.
Auch muss das Thema CO2-Reduzierung eine wichti-
gere Rolle einnehmen. Deshalb möchte ich meinen Un-
mut darüber kundtun, dass zu Beginn des Jahres zwar die
Mittel für die KfW-CO2-Programme erheblich aufge-
stockt wurden, aber seit dieser Zeit die Konditionen und
Anforderungen erheblich verschlechtert wurden. Das ist
nicht nur kurzatmige Politik, sondern beinahe schon un-
seriös und zudem kurzsichtig. Die Umweltbelastungen in
unseren Städten sind erheblich, die CO2-Reduzierung
wäre ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des Klimas.
Die hohe Nachfrage nach den Programmen zeigt doch,
dass dadurch eine positive Entwicklung in Gang gesetzt
werden konnte, die es nachhaltig zu unterstützen gilt. In
den nächsten Jahren muss ein großer Teil der Immmobi-
lien modernisiert werden. Daher wäre es sinnvoll, dass
dann gleichzeitig auch eine energetische Gebäudesanie-
rung durchgeführt wird. Sie verlangt Fachkompetenz und
sichert dadurch qualifizierte Arbeitsplätze gerade bei
klein- und mittelständischen Unternehmen. Ich fordere
daher die große Koalition auf, die Mittel für die CO2-Pro-
gramme gegebenenfalls noch weiter aufzustocken.
Und da wir schon beim Thema Energie sind, kann ich
es mir nicht verkneifen, noch ein paar Worte über den
Energieausweis zu verlieren. Ja, wann kommt er denn
endlich, der große Entwurf zur EnEV 2006? Im April
haben die Minister Tiefensee und Glos das Optionsrecht,
also die freie Wahl zwischen Verbrauchs- und Bedarfs-
ausweis, als ein tolles Ergebnis verkündet. Letzten Mo-
nat hat sich jedoch Minister Gabriel mit einer Absage an
den Verbrauchsausweis zu Wort gemeldet. Gerade vor
dem Hintergrund der energetischen Gebäudesanierung
ist die vorgeschlagene einseitige Empfehlung aus-
schließlich auf der Grundlage des Verbauchsausweises
nicht zu verantworten. Ich hoffe, dass der Entwurf zur
EnEV 2006 bald vorgelegt wird und wir endlich in einen
Diskussionsprozess eintreten können.
Zu guter Letzt nochmals zurück zu dem vorliegenden
Antrag. Auch in Bezug auf den demografischen Wandel
geht uns der Antrag nicht weit genug. Es müssen neue
Strategien zur nachhaltigen Raumentwicklung entwi-
ckelt werden und die Stadtumbauprogramme müssen da-
her schon jetzt weiterentwickelt werden. Dazu gehört,
dass Konzepte zur besseren Integration in den Städten
vorangetrieben werden. Auch das Thema „Reduzierung
des Flächenverbrauchs“ – auch und gerade vor dem Hin-
tergrund des demografischen Wandels – kommt zu kurz
bzw. fehlt ganz.
Und zu dem kürzlich vorgelegten Gesetzentwurf zur
„Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenent-
wicklung der Städte“ sei nur gesagt, dass damit ein wei-
teres Instrument geschaffen werden soll, mit dem die
Bürger aus der Planung herausgehalten und in ihren Mit-
wirkungsrechten eingeschränkt werden sollen. Und dann
schlägt der Gesetzentwurf auch noch eine Aussetzung
der Umweltprüfung vor. Sie schwächen damit zwei der
wichtigsten Punkte, mit denen die Innenstädte gestärkt
werden können: erstens aktive Stadtbürger, die durch ihr
Engagement die Potenziale der Städte steigern, zweitens
ein gesundes Umfeld, das das Lebensumfeld der Stadt-
bewohner nachhaltig verbessert.
Ihr Antrag geht durchaus in die richtige Richtung,
aber es fehlen jedoch noch wichtige Punkte. Darüber
werden wir auch in Zukunft zu diskutieren haben.
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset-
zes zur Änderung des Bundesnaturschutzgeset-
zes (Urwaldschutzgesetz) (Tagesordnungs-
punkt 21)
Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Ich freue
mich über Ihren Gesetzentwurf. Dieser Entwurf des so
genannten Urwaldschutzgesetzes ist ja – das dürfte hier
im Plenum allgemein bekannt sein – nicht neu. Daher ist
es nicht der Gesetzentwurf an sich, der mich freut – die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt ihn wie schon in
der letzten Legislaturperiode ab. Ich bin froh, dass wir
heute im Parlament Gelegenheit haben, uns mit einem
sehr wichtigen Thema zu beschäftigen: dem Schutz der
Wälder und Urwälder.
Urwälder sind komplexe Ökosysteme und wertvolle
Naturressourcen der Erde. Sie beeinflussen das Klima
und den Wasserhaushalt und sind wesentliche Kohlen-
stoffspeicher. Zwischen 50 und 90 Prozent aller weltweit
existierenden Arten sind Schätzungen zufolge alleine in
den Gebieten der tropischen Feucht- bzw. Regenwälder
beheimatet. Jährlich werden allein in den Tropen 15 Mil-
lionen Hektar Wald abgeholzt. Dies entspricht einer Flä-
che von der Gesamtgröße Bayerns, Baden-Württem-
bergs und Niedersachsens oder halb Italiens! Neben den
verheerenden Auswirkungen der weltweiten Brandro-
dungen gehen allein etwa 7,2 Millionen Hektar durch
Holzeinschlag verloren.
Wissenschaftliche Prognosen zeigen, dass ohne eine
deutliche Trendwende sämtliche tropischen Feuchtwäl-
der in den nächsten 50 bis 100 Jahren von der Erde ver-
schwunden sein werden – und mit ihnen eine bislang un-
erforschte Vielzahl an Tieren und Pflanzen. Aber auch
für die Menschen, die in und mit den Urwäldern leben,
sind die Folgen der Waldvernichtung verheerend. Trotz-
dem setzt sich der Waldverlust nahezu ungebremst fort.
Eine wesentliche Ursache ist der illegale Holzeinschlag.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4193
(A) (C)
(B) (D)
Ein wesentlicher Anteil der Einschläge und die an-
schließende Veräußerung des Holzes erfolgen illegal.
Insbesondere in armen Ländern sind Urwälder durch
illegalen Holzeinschlag gefährdet. Die Armut und Kor-
ruption in diesen Ländern leistet einer hohen Kriminali-
tätsrate beim Holzeinschlag Vorschub. Nach verschiede-
nen Schätzungen werden bei einem Zehntel des
gesamten weltweiten Holzhandels Rechtsvorschriften
verletzt. In vielen Ländern entspricht die Menge des ille-
gal eingeschlagenen Holzes dem legalen oder über-
schreitet sie sogar. Annahmen zufolge liegt der illegale
Holzeinschlag in Brasilien bei 80 Prozent, in Indonesien
bei 73 Prozent und in Russland bei 20 bis 30 Prozent.
Angesichts der dramatischen Situation der Urwälder
sind wirksame Maßnahmen auf internationaler, europäi-
scher und nationaler Ebene dringend erforderlich.
Die Bundesregierung setzt sich auf internationaler
Ebene und in der Europäischen Union – EU – intensiv
für Maßnahmen zum Schutz der Wälder und Urwälder
ein. Die nun beschlossene Importregelung der FLEGT-
Verordnung – Forest Law Enforcement, Governance and
Trade – Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Han-
del im Forstsektor – der EU ist ein wichtiges Instrument,
auch wenn ein weitergehender Ansatz auf EU-Ebene
wünschenswert gewesen wäre.
Die Fortschritte bei der Aushandlung der Abkommen
werden von der Bundesregierung aufmerksam verfolgt.
Es ist ganz klar: Gibt es hier keine hinreichenden Fort-
schritte, muss die FLEGT-Verordnung nachgebessert
werden. Die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundes-
tag werden sich weiterhin bei der Bundesregierung dafür
einsetzen, dass auf EU-Ebene schon jetzt überlegt wird,
welche weiteren Schritte in Frage kommen. Die Fortent-
wicklung der FLEGT-Richtlinie ist gerade im Interesse
der neuen Bundesregierung, die sich den planvollen und
effizienten Einsatz der vorhandenen Mittel zum Ziel ge-
setzt hat.
Zu dem von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen, erneut in die parlamentari-
sche Diskussion eingebrachten so genannten Urwald-
schutzgesetz, möchte ich Folgendes bemerken:
Erstens. In der letzten Legislaturperiode – vor einem
Jahr – hat es noch Sinn gemacht, diesen Entwurf zumin-
dest zu diskutieren. Heute aber hat sich mit der Verab-
schiedung der FLEGT-Verordnung die Lage grundlegend
geändert. Unabhängig davon, wie man zum FLEGT-An-
satz steht, gibt es durch die Regelung auf EU-Ebene
kaum Spielraum für wirksame nationale Maßnahmen.
Zweitens. Zudem wäre eine wirksame Kontrolle der
Besitz- und Vermarktungsverbote mit einem sehr hohen
bürokratischen Aufwand – Nachweissystem – für eine
große Zahl von Betrieben in Deutschland verbunden.
Drittens. Bei der Anwendung des Urwaldschutzgeset-
zes hätten, um illegal in Urwäldern geschlagenes Holz
zu sanktionieren, prinzipiell alle relevanten Holzpro-
dukte in ein Nachweissystem einbezogen werden müs-
sen, da den Produkten ja nicht anzusehen ist, ob das
Holz illegal eingeschlagen wurde. Erforderlich wäre ein
Nachweissystem über die gesamte Lieferkette. Dies
hätte auch Holz aus Ländern erfassen müssen, in denen
es gar keinen Urwald gibt, da sich sonst fast unbegrenzte
Umgehungsmöglichkeiten ergeben würden. Zu erwarten
wäre ein bürokratisches Monstrum. Dies aber steht unse-
rem Ziel einer Vereinfachung und Entbürokratisierung
von Verwaltung für Staat und Wirtschaft komplett entge-
gen.
Unbestritten ist: Wir müssen etwas für den Schutz der
Urwälder tun. Ich sehe jedoch andere Ansätze für eine
nachhaltige Politik als das Wiedereinbringen eines obso-
leten Entwurfs aus der vergangenen Legislaturperiode:
Neben dem schon angesprochenen Engagement bei der
Begleitung des FLEGT-Prozesses in der EU sind drin-
gend Fortschritte auf globaler Ebene notwendig.
Zunächst als Umweltpolitiker, dann als Vertreter des
Bereichs Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung begleite ich seit Jahren für Deutschland die Fort-
schritte der Verhandlungen der Vertragsparteien zur
Konvention über biologische Vielfalt – CBD-COP.
Auf der letzten Konferenz in Curitiba in Brasilien im
März dieses Jahres wurde vereinbart, dass die nächste
Vertragsstaatenkonferenz 2008 in Deutschland stattfin-
den wird. Dabei wird der Schutz der Wälder nicht ohne
Grund als Schwerpunkt thematisiert. Für uns bedeutet
dies eine großartige Chance, unsere Vorstellungen zum
Schutz der bedrohten Urwälder einbringen zu können.
Es liegt an uns, diese Konferenz sorgfältig vorzubreiten,
um tatsächlich Fortschritte für den Urwaldschutz zu er-
zielen.
Darüber hinaus können wir den Urwaldschutz stärker
als bisher bei den internationalen Klimaverhandlungen
berücksichtigen. Da etwa 20 Prozent der weltweiten
CO2-Emissionen aus Entwaldung stammen, lassen sich
durch die Bekämpfung der Abholzung positive Effekte
für den Klimaschutz sowie die Biodiversität erzielen. Es
gilt hier mehr als bisher, Synergien zu nutzen und der
Komplexität der Erscheinungen Rechnung zu tragen. So
ist die Entwicklungspolitik beispielsweise gefordert, im
Rahmen einer strategischen Partnerschaft unsere Zusam-
menarbeit mit Schwellenländern wie China und Indien
zu intensivieren und innovative Lösungen für den Kli-
maschutz zu entwickeln. Zu einer nachhaltigen Klima-
schutzpolitik, die industrielle Schadstoffemissionen zu
reduzierten sucht, gehört auch der Schutz der Tropen-
wälder. Die Wälder dieser Erde sind der Schlüssel zu ei-
ner wirkungsvollen Klimapolitik.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Deutschland
nach wie vor einer der größten Geldgeber für Wald-
schutzprojekte in Entwicklungsländern ist. Jedes Jahr
unterstützt Deutschland entsprechende Engagements mit
mehr als 125 Millionen Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, Sie haben es mit der Neuauflage des Gesetzent-
wurfs zum Urwaldschutzgesetz (Drucksache 16/961) aus
der letzten Legislaturperiode gut gemeint. Doch inzwi-
schen hat sich durch die FLEGT-Verordnung die Lage
verändert. Wir müssen unsere Strategie zum Urwald-
schutz diesen Gegebenheiten anpassen und diese nicht
ignorieren. Ich habe Ihnen Optionen aufgezeigt, die
4194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
sowohl die Fraktionen der Regierungskoalition als auch
die Bundesregierung engagiert verfolgen. Daher lehnen
wir Ihren Gesetzentwurf ab.
Es ist nicht an der Zeit, alten Initiativen nachzu-
schauen. Wir entwickeln neue Ideen und – das habe ich
Ihnen dargelegt – denken und handeln in neuen, globa-
len Zusammenhängen zum Schutz von Urwäldern,
Klima und biologischer Vielfalt auf unserer Erde.
Marko Mühlstein (SPD): Wälder sind ein unver-
zichtbarer Bestandteil der Lebensgrundlagen unserer
Erde: Sie regulieren das globale Klima, sie speichern
und reinigen Wasser, filtern die Luft, verhindern Erosion
und sind Lebensraum einer Vielzahl von Tier- und Pflan-
zenarten. Urwälder bedürfen unseres ganz besonderen
Schutzes: Sie sind Wildnis, Lebensraum für indigene
Völker und ihre Fläche verringert sich tagtäglich. Selten
besteht über einen Sachverhalt so viel Einigkeit, selten
ist die Dringlichkeit jedoch auch von so existenzieller
Bedeutung:
In den vergangenen Jahren ist die Fläche der so wich-
tigen primären Wälder um jährlich rund 16 Millionen
Hektar geschrumpft. Dies entspricht in etwa der einein-
halbfachen Waldfläche der Bundesrepublik Deutsch-
land!
Die Umwandlung in landwirtschaftliche Nutzflächen,
die Ausbeutung mineralischer Rohstoffvorkommen und
Infrastrukturprojekte sind eine große Gefahr für den
Fortbestand der Urwälder. Der illegale Holzeinschlag,
der sich entlang der neu gebauten Straßen vollzieht, ist
jedoch eine der Hauptursachen für den dramatischen
Waldverlust und für die Zerstörung der letzten Urwälder
zum Beispiel in Indonesien, Brasilien und Russland. In
geschätzten Zahlen ausgedrückt beträgt der illegale
Holzeinschlag in Brasilien 80 Prozent, in Indonesien
rund 70 Prozent und in Russland circa 25 Prozent! Es ist
daher richtig, sich hier und heute im Rahmen des Ge-
setzentwurfs unserer Kolleginnen und Kollegen von den
Bündnisgrünen über das weitere Vorgehen in dieser ent-
scheidenden Frage zu beraten.
Die Verantwortung für die Schädigung der Urwälder
durch illegalen Holzeinschlag liegt bei den Staaten, die
Holz und Holzprodukte exportieren, sowie bei den Staa-
ten, die diese importieren. Auch die Bundesrepublik
Deutschland ist ein wichtiger Importeur von Holzpro-
dukten – vor allem aus den drei oben genannten Län-
dern. Ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland nach
wie vor einer der größten Geldgeber für Waldschutzpro-
jekte in Entwicklungsländern ist und jedes Jahr entspre-
chende Projekte mit mehr als 125 Millionen Euro unter-
stützt, werden wir uns angesichts der eingangs
beschriebenen Tatsachen mit diesem Problem auseinan-
der setzen müssen. Die Koalitionsfraktionen sind sich
ihrer besonderen Verantwortung in dieser Frage selbst-
verständlich bewusst.
Ich möchte in aller Kürze auf die Vorgeschichte unse-
rer heutigen Debatte eingehen, denn schon in der letzten
Legislaturperiode haben wir uns mit diesem Thema be-
fasst. Die vorgezogenen Bundestagswahlen, aber auch
die geänderte Rechtslage auf europäischer Ebene haben
die Situation jedoch ganz erheblich beeinflusst.
Im Januar 2004 hatte Greenpeace den Entwurf eines
Urwaldschutzgesetzes vorgelegt. Der Anstoß wurde von
den damaligen Koalitionsfraktionen gegeben. Das Bun-
desumweltministerium hatte daraufhin den Entwurf ei-
nes Urwaldschutzgesetzes erarbeitet und in die Ressort-
abstimmung gegeben.
Das Ziel, das mit dem Gesetzentwurf verfolgt wurde,
war, im Rahmen des Naturschutzgesetzes ein Verbot des
Besitzes und der Vermarktung von illegal in Urwäldern
eingeschlagenem Holz zu verankern. Dazu gehören auch
die daraus hergestellten Holzprodukte. Als wesentlicher
Bestandteil sollte für den gewerblichen Holzhandel so-
wie bei gewerblicher Be- und Verarbeitung zum Zweck
des Verkaufs eine Beweislastumkehr eingeführt werden –
das heißt, die Beweislast, dass das Holz nicht illegal ein-
geschlagen wurde, sollte auf den Verkäufer verlagert
werden.
Dies hatte seinerzeit innerhalb der Ressortabstim-
mungen sowie bei einer Verbändeanhörung zu erhebli-
cher Kritik seitens der Holzwirtschaft wie auch der Län-
der geführt. Die vorgezogenen Bundestagswahlen in
2005 haben eine weitere Befassung mit dem Gesetzent-
wurf obsolet gemacht.
An der eingangs beschriebenen Situation hat sich in-
dessen auch im Jahre 2006 nichts geändert. Der Anlass
für ein Einschreiten gegen die Vermarktung von illegal
geschlagenem Holz und daraus hergestellten Holzpro-
dukten besteht unvermindert fort. Angesichts der drama-
tischen Situation der Urwälder sind wirksame Maßnah-
men auf internationaler, europäischer und nationaler
Ebene weiterhin dringend erforderlich.
Ich möchte dennoch auf zwei Themenkomplexe nä-
her eingehen, die aus meiner Sicht ein Verfahren, wie es
die Kolleginnen und Kollegen der Bündnisgrünen for-
dern wesentlich beeinträchtigen.
Dies ist zum einen eine „systemimmanente“ Schwie-
rigkeit, nämlich das Problem der Beweislast, welches ich
bereits kurz angesprochen hatte. Zum Zweiten betrifft
dies das übergeordnete europäische Recht: Eines der
größten praktischen Probleme in der Anwendung des
Gesetzes ist meines Erachtens die Beweislastumkehr:
Um illegal in Urwäldern geschlagenes Holz und die da-
raus hergestellten Holzprodukte wirkungsvoll zu sank-
tionieren, müssten prinzipiell alle relevanten Holzpro-
dukte in ein Nachweissystem einbezogen werden, da es
den Produkten nicht anzusehen ist, ob das Holz illegal
eingeschlagen wurde oder nicht. Erforderlich wäre hier
ein Nachweissystem über die gesamte Lieferkette, das
auch Holz aus Ländern erfasst, in denen es gar keinen
Urwald gibt, da sonst fast unbegrenzte Umgehungsmög-
lichkeiten geschaffen würden. Ein solches Verfahren
wäre für die Durchsetzung unserer Ziele zwingend erfor-
derlich. Andererseits ist eine wirksame Kontrolle der
Besitz- und Vermarktungsverbote mit einem gewaltigen
bürokratischen Aufwand für eine große Zahl von Betrie-
ben in Deutschland verbunden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4195
(A) (C)
(B) (D)
Wir müssen uns daher in der Tat fragen, ob der erfor-
derliche Aufwand für ein wirksames Nachweissystem
nicht dem wünschenswerten Ziel der Verwaltungsverein-
fachung für Staat und Wirtschaft diametral entgegen-
stünde.
Die zweite Schwierigkeit, die ich im Rahmen dieser
Debatte ganz klar sehe, ist die der mehr als unbefriedi-
genden europäischen Gesetzgebung. Bei Vorlage des da-
maligen Entwurfs gab es zwar noch kein einschlägiges
EU-Recht, jedoch arbeitete die Europäische Union an ei-
ner Importregelung, der so genannten Forrest Law
Enforcement, Governance and Trade-Verordnung – kurz
FLEGT. Anders als im Urwaldschutzgesetz wird in der
FLEGT-Verordnung die Ein- und Ausfuhr in die EU ge-
regelt und sie betrifft alle Wälder und nicht nur die Ur-
wälder. Die FLEGT-Verordnung beschränkt sich zudem
nur auf wenige Holzprodukte und gilt lediglich dann,
wenn zuvor Partnerschaftsabkommen mit den Export-
staaten abgeschlossen wurden.
Inzwischen hat die Europäische Union die FLEGT-
Verordnung beschlossen. Damit ist der rechtliche Spiel-
raum für wirksame nationale Maßnahmen verschwin-
dend gering. Ein erfolgreicher Abschluss des Gesetzge-
bungsvorhabens wäre also sehr unwahrscheinlich. Daher
ist es natürlich alles andere als zielführend, einen Ent-
wurf weiterzuverfolgen, der mit hoher Wahrscheinlich-
keit von der EU-Kommission blockiert werden würde
und mit dem wir bezüglich unseres gemeinsamen Anlie-
gens also nichts erreichen würden.
Lassen Sie uns überlegen, wie wir in dieser Angele-
genheit weiter vorgehen. Wir sollten die uns zu Gebote
stehenden Maßnahmen optimal nutzen. Die jetzt be-
schlossene FLEGT-Verordnung der EU ist dabei ein
wichtiges Instrument, auch wenn ein weitergehender
Ansatz auf EU-Ebene mit Sicherheit wünschenswert ge-
wesen wäre. Die Fortschritte bei der Aushandlung der
Abkommen müssen daher aufmerksam verfolgt und
sorgfältig ausgewertet werden. Gibt es keine eindeutig
spürbaren Fortschritte, muss die FLEGT-Verordnung
nachgebessert werden. Die Koalitionsfraktionen werden
sich weiterhin dafür einsetzen, dass auf EU-Ebene schon
jetzt überlegt wird, welche weiteren Schritte in Frage
kommen.
Neben den Bemühungen auf europäischer Ebene sind
darüber hinaus weitere Fortschritte auf globaler Ebene
zwingend notwendig. Selbstverständlich nutzen wir bei-
spielsweise in diesem Zusammenhang die internationa-
len Klimaverhandlungen, um gegen die Zerstörung der
Wälder vorzugehen. Da circa 20 Prozent der weltweiten
CO2-Emissionen aus Entwaldung stammen, lassen sich
durch die Bekämpfung der Entwaldung positive Effekte
für die Biodiversität und den Klimaschutz erzielen. Hier
gilt es ganz klar, diese wichtigen Synergien zu nutzen.
Die 2008 in Deutschland stattfindende Vertragsstaa-
tenkonferenz der Konvention über die biologische Viel-
falt wird das Thema „Schutz der Wälder“ schwerpunkt-
mäßig behandeln. Auf der Konferenz wollen und
müssen wir Fortschritte beim Schutz der Wälder und ins-
besondere beim Schutz der bedrohten Urwälder errei-
chen.
Angelika Brunkhorst (FDP): Dass weitere Anstren-
gungen zum Schutz der Urwälder vonnöten sind, wird
von Wissenschaftlern, Politikern und Nichtregierungsor-
ganisationen gleichermaßen beteuert. In regelmäßigen
Abständen können wir von dem sich weiter verschlech-
ternden Zustand der Wälder gerade in tropischen Regio-
nen hören und lesen. Dass wir gemeinsam weitere Initia-
tiven zum Schutz der Urwälder ergreifen müssen, liegt
also nahe.
Der vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen wurde in gleicher Form bereits in der letzten Le-
gislaturperiode als Regierungsentwurf eingebracht und
ist somit ein Erbe der rot-grünen Regierungszeit. Den
Grünen scheint dieser Gesetzentwurf sehr am Herzen zu
liegen. Es wird für uns alle interessant sein zu sehen, wie
sich der einstige Koalitionspartner, die SPD, jetzt zu die-
sem Vorhaben positioniert.
In einer Kleinen Anfrage (Drucksache 15/5386) zum
damaligen Regierungsentwurf hat die FDP erneut darauf
hingewiesen, dass bisher nicht einmal klar ist, was genau
wir unter „Urwäldern“ zu verstehen haben bzw. verste-
hen wollen. Der vorliegende Gesetzentwurf versucht,
eine Antwort darauf zu geben, welche vonseiten der
FDP kritisch betrachtet wird.
Bei der facettenreichen Diskussion um den Urwald-
schutz geht es um die Zerstörung von Ur- und Primär-
wäldern, illegalen Holzeinschlag, die Auswirkungen auf
die Menschen in den betroffenen Regionen, Verlust der
biologischen Vielfalt und direkte und indirekte Beein-
trächtigungen des regionalen und globalen Klimas. In
den meisten tropischen Ländern werden Wälder zerstört,
um landwirtschaftliche Nutzflächen zu gewinnen, die
dann oft nur kurzfristig Erträge bringen. Diese Entwick-
lung scheint weiterhin unaufhaltsam zu sein. Ein weite-
rer Grund ist illegaler Holzeinschlag, Feuer, aber auch
die Armut der Bevölkerung, die zu Übernutzungen führt.
Die FDP hat aktuell zwei Kleine Anfragen an die
Bundesregierung vorbereitet, die sich auch mit dem Ur-
waldschutz und der nachhaltigen Nutzung von Holz
befassen. Zum einen haben wir Fragen zur Nutzung bio-
logischer Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz for-
muliert. Hier geht es um die Aufforstung und Schaffung
neuer Werte zum Erhalt und zur Sicherung der Urwälder.
Auch die Fragen zum „Stand der Umsetzung der Charta
für Holz“ beschäftigen sich mit der nachhaltigen Nut-
zung von Holz und Holzprodukten, wenn auch bezogen
auf Deutschland. Allerdings sehen wir beim vorliegen-
den Gesetzentwurf und der Definition des Urwaldschut-
zes insgesamt auch Auswirkungen auf die Vermarktung
einheimischer Hölzer.
In Deutschland hat sich aufgrund der hohen Bedeu-
tung, die die Wälder seit Jahrhunderten für die Siche-
rung der Existenz der Menschen, die Entwicklung von
Wohlstand hatten, ein ausgeprägtes Bewusstsein für die
Bedeutung von Wald und den Schutz der Wälder entwi-
ckelt. Wir sind uns hier einig, dass die weitere Zerstö-
rung der Wälder gestoppt werden muss. Der Schutz der
letzten verbliebenen Urwälder ist eine wichtige globale
Aufgabe, der sich alle Fraktionen verpflichtet fühlen.
Die bisherigen Debatten haben gezeigt, dass alle
4196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Fraktionen im Deutschen Bundestag den Erhalt der ver-
bliebenen Urwälder als wichtige globale Aufgabe anse-
hen.
Die FDP unterstützt den Erhalt der Primär- und Ur-
wälder. Wir wollen, dass die Waldnutzung in Entwick-
lungsländern wesentlich der heimischen Bevölkerung
zugute kommt. Deutschland ist nach den USA und Japan
der weltweit drittgrößte Importeur von Holz und Holz-
produkten. Unsere besondere Verantwortung ist damit
deutlich genug ausgedrückt.
In der Vergangenheit ist es den Tropenholz exportie-
renden Ländern durchaus gelungen, die Wertschöp-
fungspotenziale im eigenen Land stärker auszuschöpfen.
Das heißt, Hilfe zur Selbsthilfe ist erfolgreich. Die ein-
seitige Förderung des FSC-Zertifikats durch die Bundes-
regierung, die immer auch mit der Eindämmung des ille-
galen Holzeinschlags begründet wurde, hat für den
Erhalt der Wälder nichts gebracht. Daher ist es folge-
richtig, eine gegenseitige Anerkennung der Zertifikate
umzusetzen.
Bei dem im Gesetzesentwurf formulierten Besitz- und
Vermarktungsverbot von Holz- und Holzprodukten haben
wir deutliche Zweifel, was die realistische Umsetzung an-
geht. Auch der Herkunfts- und Nachhaltigkeitsnachweis
als Voraussetzung für entsprechende Zertifizierungen
wird von der FDP hinterfragt.
Die FDP fordert, dass der Waldschutz als eine zen-
trale Aufgabe einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten
Politik angesehen wird. Die existenziellen Bedürfnisse
der Menschen in den betroffenen Ländern haben einen
höheren Stellenwert als Ansprüche der Wohlstandsge-
sellschaft. Das heißt, wirkliche Fortschritte beim Schutz
der Wälder können nur erzielt werden, wenn die Armut
erfolgreich bekämpft wird, die Menschen Möglichkeiten
erhalten, sich selbst zu versorgen. Wir brauchen den Er-
halt der Wälder der Erde für das Leben der Menschen
vor Ort, die biologische Vielfalt, die Sicherung der Was-
serressourcen und den Klimaschutz.
Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde
zu helfen, ihre Wälder in entsprechender Weise für die
Bekämpfung der Armut zu nutzen und gleichzeitig ein
Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihrer Wäl-
der zu entwickeln. Statt weiterer internationaler Verord-
nung ist Hilfe zur Selbsthilfe angesagt.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Dass die Ur-
wälder dieser Erde akut von Zerstörung gefährdet sind,
wurde heute schon mehrfach betont. Wir wissen auch
schon seit langem, dass der illegale Holzeinschlag dafür
einer der Hauptgründe ist. Den Herkunftsländern gelingt
es bisher nicht, ihn zu verhindern; manche Staaten haben
daran leider auch wenig Interesse.
Fakt ist, dass relevante Mengen des illegal in Urwäl-
dern eingeschlagenen Holzes sich in deutschen Bau- und
Holzmärkten wiederfinden. Deutschland trägt somit zur
Urwaldzerstörung bei. Völlig unverständlich ist, dass
diese Tropenholzdeals hierzulande bisher weder unter-
bunden noch geahndet werden können. Es ist erlaubt,
Holz und Holzprodukte aus illegalem Einschlag in Ur-
wäldern zu besitzen oder mit ihnen zu handeln.
Dieser unhaltbare Zustand muss schnellstens beendet
werden. Darum unterstützen wir das Grundanliegen des
Gesetzentwurfes der Grünen ausdrücklich: In der Kette
vom Holzeinschlag zum Händler muss lückenlos doku-
mentiert und nachgewiesen werden, dass das Holz nicht
aus illegalen Abholzungen stammt. Ein solches Gesetz
ist lange überfällig. Leider ist es ja in der letzten Legisla-
turperiode so lange auf die lange Bank geschoben wor-
den, bis der BMU-Entwurf durch die Neuwahlen beer-
digt wurde, und die CDU, die ja damals durch Herrn
Julius Caesar geschworen hatte, im Falle eines Wahl-
siegs ein Urwaldschutzgesetz einzubringen, leidet offen-
bar an Alzheimer.
Nun also der Vorschlag der Grünen. Er entspricht
weitgehend dem BMU-Entwurf aus der letzten Wahlpe-
riode. Vielleicht hätte man aber die eine oder andere Kri-
tik aus der damaligen Verbändeanhörung aufnehmen sol-
len; denn an einigen Stellen haben wir Zweifel an der
Wirksamkeit.
Das Gesetz verbietet die Vermarktung von Holz und
Holzprodukten aus illegalem Einschlag in Urwäldern. Es
muss ein Nachweis erbracht werden, dass nicht illegal
abgeholzt wurde. Erfasst sind zwar Rohholz, Bretter,
Sperrholz, Spanplatten, Holzkohle, Zellstoff, Papier und
Pappe sowie Holzmöbel und Holzspielzeug. Nicht er-
fasst aber werden Bücher, Zeitungen und andere Druck-
schriften. Das wäre an sich kein Problem, wenn die Zei-
tungen und Zeitschriften in Deutschland hergestellt
würden, weil ja dann die Papierherstellung kontrolliert
wäre. Doch viele deutsche Unternehmen lassen ihre Pu-
blikationen aus Kostengründen längst im Ausland dru-
cken, zum Beispiel in Tschechien, und manche „deut-
sche“ Bücher kommen direkt aus Südostasien. Somit
verschafft das Gesetz gerade osteuropäischen und asiati-
schen Druckereien, die sich weiterhin mit billigem Pa-
pier aus illegalem Einschlag bedienen können, einen zu-
sätzlichen Wettbewerbsvorteil.
Zweiter Kritikpunkt: Das Gesetz kontrolliert aus-
schließlich die großen Unternehmen im Holzgeschäft.
Privatpersonen sowie Händler und Holzverarbeiter mit
einem Jahresumsatz von weniger als 100 000 Euro sind
ausdrücklich von der Nachweispflicht für die Herkunft
des Holzes befreit. Uns scheint diese Formulierung ge-
fährlich. Schließlich eröffnet sie die Möglichkeit, dass
Holzhändler kritische Sparten, also beispielsweise ihr
Afrikageschäft, auslagern. Umgekehrt ist das vorgese-
hene maximale Bußgeld von 50 000 Euro für die Groß-
unternehmen im Holzgeschäft wenig abschreckend. Es
kommt natürlich darauf an, wie oft es verhängt wird.
Das Tropenwaldnetzwerk hat seinerzeit ausdrücklich
bemängelt, dass das Gesetz nur die Urwälder schätzt, die
auch in dem jeweiligen Herkunftsstaat unter Schutz ste-
hen. Holz aus staatlich genehmigtem Urwaldkahlschlag
darf also weiterhin in Deutschland in all seinen Formen
vermarktet werden, selbst wenn dabei der Holzeinschlag
in den betreffenden Staaten gegen Menschenrechte und
traditionelle Besitzrechte der Waldvölker verstößt. Wir
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4197
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wissen, dass dies juristisch anders kaum zu handhaben
ist. Ein Problem bleibt es doch.
Problematisch erscheint uns weiterhin das Verhältnis
zur FLEGT-Verordnung der EU, worin es um die Rechts-
durchsetzung, die Politikgestaltung und den Handel im
Forstsektor geht. Die Nachweispflicht soll ja nicht für
Länder gelten, die das FLEGT-Abkommen mit der EU
geschlossen haben. Die FLEGT-Verordnung umfasst je-
doch nur den Handel mit bestimmten Holzprodukten,
nämlich derzeit Rohhölzer, Holzschwellen, Spanplatten,
Furnier- und Sperrholz. Die Zellstoff-und Papierproduk-
tion ist ausgenommen. Eine Erweiterung der Produkt-
gruppe ist auf nicht absehbare Zeit verschoben. Somit
schlägt der Passus im Urwaldschutzgesetz für die
FLEGT-Länder eine unnötige Lücke.
Insgesamt ist das Gesetz aber trotz seiner Schwach-
stellen ein großer Schritt hin zu einem Importverbot für
illegal geschlagene Hölzer. Im Gesetzgebungsverfahren
und über die vorgesehenen Verordnungen kann auch ein
Teil unser Kritikpunkte beseitigt werden. Wir hoffen da-
rum, dass der Gesetzentwurf eine Mehrheit findet.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be-
reits seit Jahrzehnten diskutieren wir darüber, wie wir
die Zerstörung der Urwälder dieser Welt stoppen kön-
nen. Das Thema beschäftigt auch dieses Haus bereits seit
langem. So hat die Enquete-Kommission „Vorsorge zum
Schutz der Erdatmosphäre” des 11. Deutschen Bundesta-
ges 1990 einen Bericht vorgelegt, der sich umfassend
mit dem Schutz der tropischen Wälder befasste, der
Handlungsmöglichkeiten benannte und Handlungsemp-
fehlungen gab. Immer wieder wird seitdem von allen
Seiten darauf hingewiesen, dass es angesichts der Zer-
störung der Urwälder fünf vor zwölf ist.
Nichtsdestotrotz gehen laut FAO nach wie vor jähr-
lich 15 Millionen Hektar Urwald verloren. Auch illega-
ler Holzeinschlag trägt erheblich dazu bei. Schätzungen
aus dem Jahr 2002 zufolge beträgt der Anteil des illega-
len Einschlags am Gesamteinschlag in Brasilien 80 Pro-
zent, in Indonesien 73 Prozent und in Russland 20 bis
30 Prozent. Ein Teil dieses Holzes landet auch in
Deutschland: Deutschland importierte 2004 aus diesen
drei Ländern jeweils Holz im Wert von etwa 300 Millio-
nen Euro. Deutschland trägt so zur illegalen Urwaldzer-
störung bei. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, beim
Handel mit illegalem Holz anzusetzen und ihn so weit
wie möglich zu unterbinden. Auch wenn das nur eine
Maßnahme unter vielen ist. die erforderlich sind.
Illegal hergestellte Ware zu handeln, ist bei vielen
Produkten selbstverständlich verboten. Bei Holz aller-
dings ist das anders: Illegal geschlagenes Holz darf in
Deutschland ungestraft verkauft werden. Auch der Be-
sitz ist erlaubt. Diesen unhaltbaren Zustand wollen
Bündnis 90/Die Grünen ändern. Deshalb haben wir un-
seren Entwurf für ein Urwaldschutzgesetz in den Bun-
destag eingebracht. Dieses Gesetz soll den Besitz und
den Handel von illegalem Holz verbieten. Um Kontrol-
len zu ermöglichen, sollen Holzhändler und -verarbeiter
zukünftig einen Legalitätsnachweis für Holz und Holz-
produkte bereithalten.
Von interessierter Seite ist behauptet worden, dieses
Verbot würde nichts für den Urwaldschutz bringen. Aber
da haben wir eine andere Einschätzung. Das Verbot
brächte hierzulande den Durchbruch für die Holzzertifi-
zierungssysteme bei allen Holzimporten und in der ge-
samten Holzverarbeitungskette. Schließlich würde der
geforderte Legalitätsnachweis in der Praxis vor allem
durch die bestehenden Holzzertifizierungssysteme er-
bracht werden.
Von interessierter Seite ist außerdem eingewandt wor-
den, die FLEGT-Verordnung der EU mache ein nationa-
les Urwaldschutzgesetz überflüssig. Das ist leider nicht
der Fall, denn FLEGT wird keine schnellen und durch-
greifenden Erfolge zeitigen. Diese Verordnung sieht an-
stelle eines Importverbots für illegales Holz Verhandlun-
gen mit den Holzexportstaaten über den Abschluss
freiwilliger Partnerschaftsabkommen vor. Nach Ab-
schluss dieser Abkommen soll Holz in die EU nur noch
eingeführt werden dürfen, wenn für sie eine FLEGT-Ge-
nehmigung – im Wesentlichen ein Legalitätsnachweis –
vorliegt. Verhandelt wird aber nur mit einem Teil der
holzexportierenden Länder. Im Januar 2006 waren das
Kamerun, Ghana, Malaysia, Indonesien und Russland.
Abkommen werden voraussichtlich erst in einigen Jah-
ren abgeschlossen und wirksam. Sollten die Verhandlun-
gen aber scheitern, muss erst wieder in einem jahrelan-
gen Verfahren festgelegt werden. zu welchen
verschärften Maßnahmen die EU greift. Dies dauert an-
gesichts des rasant fortschreitenden Urwaldverlustes auf
jeden Fall zu lange. Deshalb ist die FLEGT-Verordnung
zwar nicht überflüssig, aber unzureichend. Deshalb ist
ein nationales Urwaldschutzgesetz nötig, das kurzfristig
greift.
Gegner eines Urwaldschutzgesetzes beklagen, die Re-
gelungen brächten zuviel Bürokratie. Ein zusätzlicher
Aufwand durch das Urwaldschutzgesetz für die Wirt-
schaft lässt sich in der Tat nicht bestreiten. Er entsteht
durch die Zertifizierung im Rahmen des Nachweissys-
tems. Allerdings hält sich dieser Aufwand durchaus in
einem vertretbaren Rahmen. Dies gilt, vor allem dann,
wenn – wie im Gesetzentwurf vorgesehen – die etablier-
ten Zertifikate als Legalitätsnachweise anerkannt wer-
den. Denn über zwei Drittel der Wälder in Deutschland
sind bereits nach FSC, PEFC oder durch Naturland
zertifiziert – ohne dass die deutsche Forstwirtschaft un-
ter dem Aufwand zusammengebrochen wäre. Nur bei
den Holzimporten ist das anders. Wie bei der Holzverar-
beitungskette gibt es bei Importen bisher nur in Ausnah-
mefällen entsprechende Nachhaltigkeitszertifikate. In
diesen Bereichen ist also mit zusätzlichem Zertifizie-
rungsaufwand zu rechnen. Allerdings sind die Kosten
der Holzkettenzertifizierung geringer als für die Zertifi-
zierung der Forstwirtschaft.
Dennoch: Es entstehen Kosten. Allerdings nicht
mehr, als ohnehin auf die Branche zukommen. Denn es
entspricht dem erklärten politischen Willen der meisten
politischen Akteure der Waldpolitik, die Zertifizierung
der nachhaltigen Produktionsweise in der Forst- und
Holzwirtschaft weiter auszubauen. Auch die FLEGT-
Verordnung fordert – wenn sie auf lange Sicht greift –
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die Vorlage eines Legalitätszertifikats bei der Einfuhr
von Holz und Holzprodukten.
Aus unserer Sicht treffen die Argumente der Gegner
eines Urwaldschutzgesetzes nicht zu. Vielmehr wird die
deutsche Forstwirtschaft vom Urwaldschutzgesetz profi-
tieren. Warum? Der illegale Holzeinschlag führt zu
Dumpingpreisen auf den globalen Holzmärkten. Nach
Schätzung der Weltbank verlieren die Waldländer durch
illegalen Holzeinschlag Einnahmen von etwa 15 Milliar-
den Euro pro Jahr. Deshalb werden die Holzpreise stei-
gen, wenn der illegale Holzeinschlag zurückgedrängt
wird. Hiervon werden alle gesetzestreuen Holzprodu-
zenten und damit selbstverständlich auch die einheimi-
schen Forstwirte profitieren. Die Kosten für den zusätz-
lichen Zertifizierungsaufwand für das restliche Drittel
der deutschen Wälder dürften daher mehr als ausgegli-
chen werden. Im Jahr 2004 brachten auch CDU und SPD
Anträge in den Bundestag ein, in denen sie sich für ein
Handels- und Besitzverbot mit und von illegalem Holz
ausgesprochen haben. Das grüne Umweltministerium
hatte daraufhin einen Urwaldschutzgesetz-Entwurf erar-
beitet. Aufgrund der vorgezogenen Bundestagswahl
konnte Rot-Grün ihn jedoch nicht mehr verabschieden.
Mittlerweile regiert die große Koalition. Das Thema
Urwaldzerstörung kommt im Koalitionsvertrag von
Union und SPD nicht vor. Auch die Themen illegaler
Holzeinschlag und Urwaldschutz kommen seither auf
der Agenda dieser Koalition nicht mehr vor. Vor diesem
Hintergrund war ich sehr gespannt darauf zu hören, wie
sich die große Koalition heute zu unserem Urwald-
schutzgesetz äußert. Wir wissen, dass es in diesem Haus
unüblich ist, Gesetzentwürfen der Opposition zuzustim-
men. Das wäre auch gar nicht schlimm, wenn Sie we-
nigstens hier und heute erklärt hätten, dass Sie unsere
Initiative aufgreifen und einen eigenen Gesetzentwurf
für ein Verbot des Handels und des Besitzes mit illega-
lem Holz vorlegen werden. Eigentlich müssten Union
und SPD dies tun, wenn sie zu ihren früheren Aussagen
stehen.
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge: Für ein Ende der
Gewalt in Norduganda (Tagesordnungspunkt 24
und Zusatztagesordnungspunkt 9)
Gabriele Groneberg (SPD): Es ist wohl durchaus
ungewöhnlich, dass ein Film zu einer Initiative mehrerer
Fraktionen im Bundestag führt. Vor einigen Wochen ha-
ben wir uns den international prämierten Film „Lost
Children“ angesehen. Dieser Film über die Kinder, die
zu Soldaten gemacht werden, hat uns alle tief berührt, ja
entsetzt. Besonders beeindruckt hat uns außerdem der
anschließende Besuch des Erzbischofs von Norduganda,
John Baptist Odama, der uns über die schwierige huma-
nitäre Situation der Flüchtlinge unterrichtet hat. Auch
wenn wir uns bereits in der Vergangenheit mit diesem
Thema befasst haben: Der Besuch von Erzbischof
Odama bestärkte uns darin, wie notwendig es ist, uns
noch intensiver mit Norduganda zu befassen. Was sind
das für Kriminelle, die die Zivilbevölkerung terrorisie-
ren, Dörfer und Felder niederbrennen, Menschen miss-
handeln und töten, die Frauen und Mädchen vergewalti-
gen? Kinder werden aus den Dörfern und Städten
entführt, als Sexsklaven missbraucht und mit unmensch-
lichen, brutalen Methoden dazu gezwungen, Soldaten
und Soldatinnen zu werden und dann selbst Gräueltaten
gegen die Zivilbevölkerung, gegen ihre Verwandten und
Familien zu begehen. Diese Kriminellen, die sich
„Lord’s Resistance Army“, LRA, nennen, befinden sich
seit 20 Jahren auf einem gnadenlosen Weg der Vernich-
tung einer ganzen Region. Und nicht nur in Norduganda,
nein, auch der Osten des Kongo und der Süden des Su-
dans werden von ihnen tyrannisiert.
Die große Region Nordugandas ist praktisch entvöl-
kert, die Menschen haben sich in die Städte geflüchtet,
an ihrem Rand. In ihrer unmittelbaren Nähe haben sich
große Flüchtlingslager gebildet. Eine ganze Region,
fruchtbar und in der Lage ihre Menschen zu ernähren,
liegt brach. Seit Jahren ist es zu gefährlich, die Felder zu
bestellen, das wenigste zum Leben anzubauen. Was die-
sen Kindern angetan wird, die von der LRA entführt
werden, das kann ein normaler Menschenverstand gar
nicht ermessen. Wir hatten Gelegenheit bei einem Auf-
enthalt in Uganda in einer Einrichtung der Caritas in der
Stadt Gulu, mit den Kindern und Jugendlichen zu reden,
die sich aus den Händen der Rebellen befreien konnten.
In dieser Einrichtung wird Hilfe angeboten, die ihnen
den Weg in ein normales Leben zurück ermöglichen soll.
Aber bei aller Hilfe, die wir leisten können – die schlim-
men Erlebnisse werden sie ein Leben lang verfolgen,
werden nie vergessen werden können.
In die Gesichter, in die Augen dieser jungen Men-
schen zu blicken und darin dieses unglaubliche Leid des
Erlebten zu sehen, ich kann das, denke ich, nie verges-
sen. Mit den Betroffenen zu reden, bestärkt in der Ab-
sicht, unsererseits alles mögliche zu tun, mitzuhelfen,
dass diese schlimmen Zustände beendet werden können.
Aber was können wir tun – über unser bisheriges poli-
tisches und finanzielles Engagement hinaus? Wir wollen
zuallererst die ugandische Regierung nicht aus der Ver-
antwortung entlassen. Sie muss entschieden mit allen
Mitteln gegen die LRA vorgehen. Wir erwarten, dass sie
mit aller Kraft und mit den zur Verfügung stehenden
Mitteln der eigenen Armee die Bevölkerung Nordugan-
das schützt. Wir erwarten, dass die Regierungen Ugan-
das, der DR Kongo und des Sudans bei der Bewältigung
der Situation zusammenarbeiten und die Verfolgung der
fünf Rädelsführer der LRA, gegen die der Internationale
Strafgerichtshof Haftbefehle erlassen hat, intensiv zu be-
treiben und für deren Verhaftung zu sorgen. Wir fordern
die ugandische Regierung aber auch auf, ebenso ent-
schieden die Verbrechen der eigenen Sicherheitskräfte
gegen die Bevölkerung zu verfolgen und zu ahnden.
Die kleinen sichtbaren Fortschritte, die darin beste-
hen, dass ein Teil der Menschen in den Flüchtlingslagern
ihre Felder im erreichbaren Umkreis bestellen und
abends wieder in Lager zurückzukehren – das ist ein
Hoffnungsschimmer und mehr nicht. Dass die Zahl der
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„nachtwandernden“ Kinder, die wir in Gulu besucht ha-
ben und die jede Nacht aus den näher an der Stadt gele-
genen Dörfern bis zu zwei Stunden laufen, um in die si-
chere Stadt zu kommen, um den Entführungen zu
entgehen und morgens ebenso die Strecke wieder zu-
rücklegen, um in den Dörfern die Schulen aufzusuchen,
dass die Zahl dieser Kinder stark rückläufig ist, auch das
nur ein Hoffnungsschimmer. Die Hilfe, die von der euro-
päischen und internationalen Gemeinschaft geleistet
wird, um die Menschen in den Flüchtlingslagern wenigs-
tens mit dem allernotwendigsten an Lebensmitteln zu
versorgen, darf nicht eine Zementierung dieser Zustände
bedeuten.
Es muss darauf gedrängt werden, dass die Auflösung
der Lager der ugandischen Flüchtlinge möglich wird,
dass die Menschen wieder in ihre Dörfer zurückkehren
können und ihnen dort auch ihr Land zurückgegeben
wird.
Wir können dabei helfen, dass die mit sieben weiteren
Gebern, unter andern Weltbank und afrikanische Ent-
wicklungsbank, vereinbarte Geberstrategie für Uganda,
Uganda Joint Assistance Strategy, umgesetzt wird und
klare Vorgaben für demokratische und rechtsstaatliche
Strukturen, für die Wahrung der Menschenrechte, die Si-
cherheit und die Reintegration der Flüchtlinge entwi-
ckelt und eingehalten werden. Es bleibt die Pflicht der
ugandischen Regierung, sich für einen Waffenstillstand
und Friedensverhandlungen einzusetzen. Wir werden sie
selbstverständlich gemeinsam mit den europäischen
Partnern dabei unterstützen, eine Roadmap-for-Peace
auszuarbeiten. Das heißt aber auch, dass wir an deren
überprüfbarer Umsetzung den Friedenswillen der ugan-
dischen Regierung festmachen werden. Wir können da-
bei helfen, dass Projekte und Initiativen, die sich für die
Demobilisierung von Soldaten, von Kindersoldaten, die
Aufarbeitung ihrer Traumata und ihre Wiedereingliede-
rung in die Gesellschaft einsetzen, unterstützt werden.
Wir können helfen und wir tun es und wir werden es
auch weiterhin tun.
Dr. Karl Addicks (FDP): „Berüchtigter Rebellen-
führer Kony bietet Uganda den Frieden an – LRA-Chef
bestreitet Gräueltaten an Zivilisten.“ So lautet der Titel
einer Meldung, die ich erst gestern wieder in den Hän-
den hielt. So wird wieder ein Hoffnungsschimmer, der
Gewalt in Norduganda ein Ende zu setzen, im Keim er-
stickt. Es handelt sich nämlich nicht um das erste Ange-
bot dieses Rebellenführers, Frieden zu stiften und wird
wahrscheinlich – bei der Betrachtung seiner zusätzlichen
Bemerkung – auch nicht das letzte sein.
Obwohl die Beendigung der Gewalt dringend nötig
ist; denn die Auswirkungen für die Zivilbevölkerung
sind verheerend. Schätzungen zufolge sind bereits min-
destens 100 000 Menschen getötet worden und fast
2 Millionen Menschen vor der Gewalt geflohen. Die
Lord’s Resistance Army kämpft gegen die ugandische
Regierung nun schon seit 20 Jahren und ist bekannt für
ihre Verbrechen an den Zivilisten und die Entführung
von Kindern, die sie als Soldaten oder Sexsklaven miss-
brauchen. Nicht ohne Grund wurden gegen Joseph
Kony, den Anführer der Lord’s Resistance Army, 2004
die Ermittlungen beim internationalen Gerichtshof ein-
geleitet. Der Haftbefehl gegen ihn nennt 33 Anklage-
punkte, darunter alleine zwölf wegen Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und 21 wegen Kriegsverbrechen.
Herr Kony selber, wie ich eingangs gesagt habe, bestrei-
tet diese Vorwürfe und ist sich keiner Schuld bewusst. Er
töte nur die Soldaten Musevenis, denn er handele im Na-
men der zehn Gebote, die zu ihm sprechen. Auf dieser
Basis scheint der Frieden in Norduganda noch in weiter
Ferne zu liegen. Aber das dürfen wir nicht zulassen!
Erschwerend kommt hinzu, dass die ugandische Ar-
mee, die Uganda People’s Defence Force, für die Zivil-
bevölkerung in den leicht angreifbaren Lagern keinen ef-
fektiven Schutz darstellt. Im Gegenteil, auch diese ist
verantwortlich für schwerwiegende Menschenrechtsver-
letzungen und von Korruption geprägt. Das wiederum
führt dazu, dass es an aufrichtigem Interesse, den Kon-
flikt zu beenden, mangelt. Das geht doch so nicht!
Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung haben wir uns eingehend mit diesem
Konflikt in Norduganda beschäftigt: Wir haben uns den
sehr eindrucksvollen Film „Lost Children“ angesehen,
der uns doch tief erschüttert hat. In diesem Film wird die
schwere Resozialisierung von Kindersoldaten, die von
der Lord’s Resistance Army dazu gezwungen wurden,
dokumentiert und die Kinder erzählen von ihren Erfah-
rungen, die sie in der Rebellengruppe machen mussten.
Der Ausschuss hat außerdem den Erzbischof John
Baptist Odama zu einer der Sitzungen eingeladen. Die-
ser hat uns eingehend über die Situation in Norduganda
informiert, denn Herr Odama, Vorsitzender einer konfes-
sionsübergreifenden ugandischen Friedensbewegung,
konnte uns seine Erfahrungen vor Ort beeindruckend
schildern.
Aus unseren Beratungen kann nur ein Schluss gezo-
gen werden: Der Gewalt in Norduganda muss ein Ende
gesetzt werden! Hier sprechen wir die deutsche, aber vor
allem die ugandische Regierung an. Sie werden in aller
Form aufgefordert, aktiv – oder sollte man sagen: aktiver –
zu werden.
Wir begrüßen sehr, wie auch bereits im Antrag er-
wähnt, dass Anfang April 2006 ein Joint Monitoring
Committee for Northern Uganda eingesetzt worden ist,
in dem vorerst die Vereinten Nationen, die USA, Groß-
britannien, Norwegen, die Niederlande und Uganda an
einer umfassenden Strategie für Norduganda arbeiten
können. Sobald diese abschließend formuliert ist, muss
sie aber auch verwirklicht werden.
Uganda ist ein Schwerpunktpartnerland der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit. Dem Land wurden seit
der Wiederaufnahme der EZ im Jahr 1986 bilateral ins-
gesamt über 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Diese Beziehungen zwischen Deutschland und Uganda
müssen wir nutzen, um durch politischen Einfluss zu ei-
ner Beendigung der grausamen Auseinandersetzungen in
Norduganda beizutragen. Das fordern wir mit diesem
Antrag. Die Bundesregierung muss dies im Dialog mit
der ugandischen Regierung eindeutig klarstellen und die
4200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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Ernsthaftigkeit in Bezug auf Waffenstillstands- und Frie-
densverhandlungen anmahnen. Ein wirksamer Schutz
der Zivilbevölkerung vor den Rebellen, aber auch vor
den eigenen Sicherheitskräften muss wiederhergestellt
werden. Wir können die dortigen Verhältnisse nicht län-
ger tolerieren! Dazu gehört auch, dass die ugandische
Regierung in ihren eigenen Reihen für Ordnung sorgt
und Verbrechen der eigenen Sicherheitskräfte verfolgt.
Es ist dringend erforderlich, dass die international
vereinbarte Geberstrategie für Uganda umgesetzt wird.
Darin werden klare Vorgaben für die Umsetzung von
demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen, die
Wahrung der Menschenrechte, die Sicherheit und Re-
integration der Flüchtlinge und konstruktive Friedens-
verhandlungen aufgestellt. Das ist die Grundlage für ein
Ende der Gewalt und die zukünftige Entwicklung Ugan-
das.
Wir sind uns einig, dass unsere genannten Forderun-
gen wichtig und richtig sind, und ich freue mich, dass
wir zu diesem gemeinsamen Antrag kommen konnten.
Es wird Zeit!
Anlage 26
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Gleiche Besoldung
für alle Soldaten (Tagesordnungspunkt 23)
Monika Brüning (CDU/CSU): Verteidigungspoliti-
ker aller Fraktionen sprechen sich seit längerem für die
Angleichung der Besoldung in Ost und West aus. Die
ungleiche Besoldung ist eine Belastung der inneren Ein-
heit der Bundeswehr, die ansonsten hervorragend gelun-
gen ist.
Dass die unterschiedliche Besoldung unserer Solda-
tinnen und Soldaten 15 Jahre nach der deutschen Einheit
überwunden werden muss, ist eine Forderung, bei der ich
Oberst Bernhard Gertz vom Deutschen Bundeswehrver-
band sowie dem Bundesverteidigungsminister Dr. Franz
Josef Jung nachdrücklich beipflichte. Ich danke auch
dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der
sich diesem Thema seit Jahren widmet.
Die unterschiedliche Besoldung ist auch durch nichts
gerechtfertigt, denn Soldatinnen und Soldaten leisten
qualitativ Vergleichbares – ob in München oder Dres-
den, ob in Mainz oder Neubrandenburg. Wie soll ich ei-
nem Soldaten in Thüringen erklären, dass sein bayeri-
scher Kamerad, der nur circa 20 Kilometer weiter
westlich stationiert ist, statt seiner 92,5 Prozent die vol-
len 100 Prozent Besoldung erhält, also 7,5 Prozent mehr
Sold, was je nach Alter bis zu 200 Euro monatlich aus-
machen kann.
Wäre nur das Thema Besoldung im Verteidigungsetat
zu bewältigen, könnte die Bundeswehr die Angleichung
der Besoldung durchaus aus ihrem Etat bezahlen, auch
wenn dies zweifellos einen Kraftakt bedeuten würde.
Wir sollten jedoch langfristig darüber nachdenken, das
gesamte Besoldungsgefüge, insbesondere im Hinblick
auf die Attraktivität des Soldatenberufs und die Situation
der Nachwuchsgewinnung weiterzuentwickeln. Wie
dem Bundeswehrplan 2007 zu entnehmen ist, sind im
Verteidigungshaushalt zudem umfangreiche Mittel für
den ausreichenden Schutz und die Weiterentwicklung
der notwendigen Ausrüstungs- und Einsatzkomponenten
für unsere Soldaten bereitzustellen.
Ein weiteres Problem liegt auf der Ebene der Länder
und Kommunen im Osten Deutschlands. Bei einer Be-
soldungsangleichung im Bereich der Bundeswehr könn-
ten die Angehörigen des öffentlichen Dienstes mit Recht
ähnliche Forderungen für sich reklamieren. Eine solche
Welle der Belastungen wäre von den ohnehin bis zum
Zerreißen angespannten Haushalten der Länder nicht zu
schultern.
Wir freuen uns darüber, dass wir uns mit den Ländern
auf eine Besoldungsangleichung in zwei Schritten eini-
gen konnten. Im Jahr 2007 werden die unteren Besol-
dungsgruppen bis A 9, ab dem Jahr 2009 die höheren
Besoldungsgruppen in Ost und West nach der gleichen
Besoldungstabelle bezahlt. Diese Perspektive ist im Inte-
resse unserer Soldatinnen und Soldaten erfreulich. Es ist
der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns eini-
gen konnten. Das kann uns nicht befriedigen, aber es ist
eine absehbare Perspektive, die wir auch dem Behar-
rungsvermögen der Verteidigungspolitiker zu verdanken
haben.
So sehr ich mir eine sofortige Besoldungsangleichung
auch gewünscht hätte, unser Ziel, eine nachhaltige Kon-
solidierung des Haushaltes, dürfen wir dabei nicht aus
den Augen verlieren.
Die Perspektive von 2007 bis 2009 ist absehbar und
unter den bestehenden Gegebenheiten auch hinnehmbar.
Deshalb stimmt die CDU/CSU dem Antrag der FDP
nicht zu.
Susanne Jaffke (CDU/CSU): Das Thema Besol-
dungsangleichung für alle Beschäftigten des Öffentlichen
Dienstes in den neuen Bundesländern beschäftigt uns seit
vielen Legislaturperioden. Bereits in der 13. Wahlperiode
gab es erste Anträge. Bedingt durch finanzielle Engpässe,
vor allem bei den neuen Bundesländern und noch nicht
erreichte vergleichbare Verwaltungsstrukturen, konnte
die Einkommens- und Besoldungsangleichung nicht rea-
lisiert werden.
Das Bundesbesoldungs- und versorgungsanpassungs-
gesetz 2003/2004 vom 10. September 2003 sieht nun die
stufenweise Angleichung der Besoldung vor. Das gilt
nicht nur für die Bundeswehr.
Allerdings, die Angleichung der Besoldung ist ein
weiterer wesentlicher Bestandteil der inneren Einheit der
Bundeswehr. Bundesminister Jung, der Bundeswehrver-
band und auch der Wehrbeauftragte haben die Anglei-
chung der Besoldung ebenfalls mehrfach gefordert, die
tariflichen Einigungen sind weitestgehend erreicht – die
FDP greift somit kein neues Thema auf.
Die Sachlage stellt sich folgendermaßen dar: Für die
unteren Besoldungsgruppen bis A 9 ist eine weitere An-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4201
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gleichung des Bemessungssatzes auf 100 Prozent bis
Ende 2007 festgeschrieben worden. Bis zum 31. Dezem-
ber 2009 ist die Anhebung der übrigen Besoldungsgrup-
pen zu realisieren.
Der Kollege Koppelin ist im Rahmen der Haushalts-
beratungen zum Einzelplan 14 bereits detailliert über die
Berechnung der Kosten infolge der stufenweisen Anglei-
chung der Ost- an die Westbesoldung informiert worden.
Auch die Größenordnung der Mehrausgaben ist in die-
sem Zusammenhang mitgeteilt worden. Sie beläuft sich
auf circa 25 Millionen Euro ab 2008.
Der Antrag der FDP, der hier zur Debatte steht, lässt
Solidität vermissen. In den Etatberatungen hat diese
Fraktion den Rotstift radikal an fast jedem Titel ange-
setzt, um ihrem eigenen Anspruch als Ausgabenmini-
mierungspartei gerecht zu werden. Nun fordern sie
Mehrausgaben, die sie selbst im regulären Haushaltsver-
fahren nicht eingebracht haben. Sie können nicht einer-
seits das Trennungsgeld und die Aus- und Fortbildung
für die Soldaten kürzen sowie die Nachwuchswerbung
zusammenstreichen – andererseits die Ost-West-Anglei-
chung einfordern; das passt nicht zusammen. Da bleibt
für mich nur festzustellen, dass es sich hiermit um einen
Schaufensterantrag handelt.
Im Übrigen möchte ich darauf verweisen, dass 1996
und 1997 durch eine Verfahrenspraxis im Zusammen-
hang mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf
dem Balkan die Gleichbesoldung weitestgehend durch-
gesetzt wurde. Der Rechnungshof hat diese Praxis in sei-
nen Bemerkungen 1997 zur Haushalts- und Wirtschafts-
führung kritisiert. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat
daraufhin im März 1998 das BMVg aufgefordert, die
„geltenden Besoldungs- und Versorgungsvorschriften
nicht weiterhin durch organisatorische Regelungen zu
umgehen“. Diese Beschlüsse sind selbstverständlich
durch das Verteidigungsministerium umgesetzt worden.
Festzustellen bleibt, dass es in Auslandseinsätzen
keine Besoldungsunterschiede gibt. Die Bundeswehr hat
also keine Sonderstellung, sondern ist in ihren Besol-
dungsstrukturen im öffentlichen Dienst eingebunden.
Petra Heß (SPD): Die FDP fordert in ihrem Antrag,
die Ungleichbehandlung bei den Angehörigen der Bun-
deswehr unverzüglich zu beenden und sie ausschließlich
nach der heute nur für die westlichen Bundesländer gül-
tigen Besoldungsordnung zu besolden.
Die Forderung der Soldaten ist sehr wohl berechtigt
und nachvollziehbar. Als ostdeutsche Abgeordnete, der
diese Problematik durch zahlreiche Truppenbesuche
sehr gut vertraut ist, finde ich es jedoch bedauerlich, dass
sich die FDP dieses Themas aus purer Effekthascherei
bedient und nicht aus Sorge um die Soldaten. Der Ver-
such, sich hiermit als Interessensvertreterin der Belange
der in Ostdeutschland stationierten Soldatinnen und Sol-
daten und darüber hinaus aller Ostdeutschen zu profilie-
ren, ist auf den ersten Blick durchschaubar. Schließlich
war die FDP nach der Wiedervereinigung viele Jahre
lang in Regierungsverantwortung. Aus dieser Zeit sind
mir keine Bemühungen hinsichtlich der Angleichung der
Ost-West-Besoldung bekannt.
Außerdem müsste auch die FDP wissen, dass es kein
eigenes Besoldungsrecht für Soldatinnen und Soldaten
gibt, wie ich es mir im Übrigen wünschen würde. Viel-
mehr gilt das Besoldungsrecht für Beamte, Richter und
Soldaten, also für alle drei Gruppen gleichermaßen. Eine
Sonderlösung für Soldaten ist zurzeit nicht realisierbar.
Mit sind auch keine Bemühungen der Bundesländer be-
kannt, in denen die FDP in Regierungsverantwortung
steht, den eingeschlagenen Weg der Anpassung zu ver-
kürzen.
Es war die rot-grüne Bundesregierung, die unter ihrer
Federführung mit dem Bundesbesoldungs- und -versor-
gungsanpassungsgesetz 2003/2004 einen Fahrplan für
die Ost-West-Angleichung auf den Weg gebracht hat.
Gegen Widerstände aus den Bundesländern wurde ver-
einbart, dass die weitere Angleichung der Ostbesoldung
an das Westniveau bis spätestens 31. Dezember 2007 für
die Besoldungsgruppen bis A 9 und für die übrigen Be-
soldungsgruppen bis zum 31. Dezember 2009 erfolgen
soll. Ich hätte mir gewünscht, die Angleichung in einer
kürzeren Phase zu realisieren. Aber dies war nun einmal
der damals ausgehandelte Kompromiss mit den Ländern.
Mit dieser Vereinbarung erhalten die Soldatinnen und
Soldaten sowie die Beamtinnen und Beamten der Bun-
deswehr in den östlichen Bundesländern eine verlässli-
che Perspektive zur Anpassung ihrer Besoldung und
Versorgung an das Westniveau.
Ich bitte Minister Jung, in den Gesprächen mit den
Ländern darauf hinzuwirken, die zeitlichen Fristen für
die Angleichung nicht bis zum Ende auszuschöpfen,
sondern zu versuchen, die Anpassung schon früher um-
zusetzen. Es ist aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar,
dass im Jahr 16 der deutschen Einheit gerade die Bun-
deswehr, die seit 1990 so erfolgreich wie kaum eine an-
dere Institution den Prozess der inneren Einheit vollzo-
gen hat, immer noch gezwungen ist, ihren Soldatinnen
und Soldaten unterschiedliche Löhne nach Ost-/West-
Zugehörigkeit zu zahlen. Meine Erfahrungen durch
Truppenbesuche und Wehrübungen zeigen mir, dass in-
nerhalb der Truppe die Ost-/West-Zugehörigkeit absolut
keine Rolle mehr spielt.
Gerade bei Auslandseinsätzen zeigt sich, dass es we-
der im Leistungswillen noch in der Leistungsfähigkeit
Unterschiede gibt. Die Soldaten und die zivilen Mitar-
beiter aus den neuen Bundesländern erfüllen ihren Auf-
trag genauso gut wie ihre Kameraden aus den alten Bun-
desländern. Deshalb ist diese Differenz beim Sold nicht
mehr gerechtfertigt. Dennoch wird den in Ostdeutsch-
land stationierten Soldatinnen und Soldaten bei ihrer
Rückkehr an ihre Standorte beim Blick auf ihren Lohn-
zettel jeden Monat aufs Neue vor Augen geführt, dass
ihre Leistung weniger wert ist, als die ihrer Kameraden
in den alten Bundesländern. Diese Ungleichbehandlung
muss endlich überwunden werden und zwar schnell.
Das geht aber nur im gütlichen Einvernehmen mit den
Ländern. Deshalb ist der FDP-Antrag schlicht und er-
greifend unfair gegenüber unseren Soldatinnen und Sol-
daten. Denn damit wird der – falsche – Eindruck
4202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
erweckt, es gäbe die Möglichkeit, durch Bundestagsbe-
schluss eine sofortige Angleichung hinzubekommen.
Wenn es der FDP wirklich ernst mit diesem Antrag
ist, sollte sie wirkungsvoll Druck auf die Länder aus-
üben, in denen sie mitregiert. Denn ohne die Bundeslän-
der im Boot zu haben, wird es keine schnellere Anglei-
chung geben, als vereinbart.
Birgit Homburger (FDP): Die Bundeswehr hat sich
seit der Wiedervereinigung gewandelt. Sie musste sich
auf vielfältige neue Aufgaben einstellen; denn mit der
Vereinigung 1990 ist auch die internationale Verantwor-
tung Deutschlands gewachsen. Deutschland braucht
weiterhin eine leistungsfähige Bundeswehr, die für unser
Land Frieden und Freiheit sichert. Darüber hinaus muss
die Bundeswehr aber auch im Bündnisrahmen zur Kri-
senreaktion im Ausland fähig sein und für die Völkerge-
meinschaft zur Verfügung stehen, wenn das politisch so
entschieden wird. Dies erfordert Anpassungen und Um-
gliederungen, die mitunter sehr schwierig sind. Sie ver-
langen von allen Beteiligten große Flexibilität und Op-
ferbereitschaft. Die Angehörigen der Bundeswehr haben
bisher alle ihnen gestellten Herausforderungen mit Er-
folg und großem Engagement bewältigt.
Seit dem 3. Oktober 1990 hat sich am Beispiel der
Bundeswehr gezeigt, was erreichbar ist, wenn Deutsche
aus Ost und West aufeinander zugehen und sich mit Tat-
kraft einer gemeinsamen Aufgabe stellen. Alle Soldatin-
nen und Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundes-
wehr haben eine großartige Leistung vollbracht, auch
diejenigen, die vormals in der Nationalen Volksarmee
ihren Dienst geleistet haben. In der Bundeswehr ist die
innere Einheit seit langer Zeit tatsächlich vollzogen. Aus
zwei Armeen ist eine Armee geworden.
Es gibt nicht den geringsten Leistungsunterschied
zwischen den Soldatinnen und Soldaten aus dem Westen
und dem Osten Deutschlands. Sowohl im Inland als auch
bei Auslandseinsätzen im Rahmen der Vereinten Natio-
nen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenar-
beit in Europa, der NATO oder der EU erfüllen Soldatin-
nen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiter aus den neuen
Bundesländern ihren Auftrag in gleicher Qualität wie die
aus den alten Bundesländern. Trotzdem gibt es in der
Bundeswehr aufgrund der gravierenden Unterschiede in
der Besoldung eine Zwei-Klassen-Armee, unterteilt in
„Ost- und Westsoldaten“.
Stellen sie sich folgendes fiktive Beispiel vor: Zwil-
lingsbrüder, geboren in Mecklenburg-Vorpommern, un-
mittelbar an der Grenze zu Niedersachsen, beide ausge-
bildet zum Kfz-Mechaniker, melden sich freiwillig zur
Bundeswehr. Sie werden wunschgemäß berufsbezogen
und heimatnah einberufen, einer zum Instandsetzungs-
bataillon 3 nach Lüneburg in Niedersachsen, der andere
zum Instandsetzungsbataillon 142 nach Hagenow in
Mecklenburg-Vorpommern. Der Lüneburger Soldat er-
hält Westgehalt, der Hagenower Soldat Ostgehalt. Beide
werden zum Unteroffizier ausgebildet. Der Lüneburger
Soldat wird danach nach Hagenow in das Bataillon sei-
nes Zwillingsbruders versetzt. Er leistet jetzt auch im
Osten Dienst, erhält jedoch weiterhin sein Westgehalt.
Sein Zwillingsbruder muss sich jedoch unverändert mit
Ostgehalt begnügen. Alles ist gleich: Alter, Ausbildung,
Leistungsfähigkeit, Dienstort, Wohnort, etc. Nur das Ge-
halt ist unterschiedlich.
Innerhalb derselben Einheit kann die Vergütung also
für die gleiche Arbeit unterschiedlich hoch sein, ohne
dass man dies begründen könnte. Die Regelung, die
solch unerträgliche Sachverhalte ermöglicht, ist zutiefst
ungerecht und muss umgehend geändert werden. Die
Ost-West-Besoldungsdifferenz bei den Angehörigen der
Bundeswehr ist schon seit Jahren durch nichts mehr ge-
rechtfertigt. Sie wirkt diskriminierend und demotivie-
rend. Deshalb fordert die FDP mit dem Antrag „Gleiche
Besoldung für alle Soldaten“ die Anhebung des Ostsol-
des auf das Westniveau.
Katrin Kunert (DIE LINKE): Für Die Linke steht
fest, eine Demokratie braucht keine Interventionsarmee,
sondern eine Berufsarmee mit 100 000 Soldatinnen und
Soldaten zur Landesverteidigung! Sehr geehrte Frau
Kollegin Homburger, Sie stellen in Ihrem Antrag fest,
dass die innere Einheit in der Bundeswehr seit langem
vollzogen ist. Wenn es denn so wäre, müssten wir heute
nicht zum x-ten Mal über gleichen Sold reden. Allen Ex-
perten ist klar, dass diese Unterschiede nicht mehr zu
rechtfertigen sind. Aber die Koalition lässt auch die Lö-
sung dieses Problems schleifen. Die Linke hat in der
letzten Haushaltsdebatte Anträge zur sofortigen Anglei-
chung gestellt, weil die vorgesehene Angleichung im
Jahr 2009 nicht akzeptabel ist!
Auch hier gilt das Sprichwort: Was Du heute kannst
besorgen, das verschiebe nie auf morgen! Hier geht es
um die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und
West. Die sofortige Angleichung würde für die Berufs-
soldaten und Soldaten auf Zeit 33 Millionen Euro und
für die zivilen Angestellten 36 Millionen Euro kosten,
also die Summe, die der Kongo-Einsatz verschlingen
wird. Frau Kollegin Schäfer, Sie haben in Ihrer Rede
zum Bericht des Wehrbeauftragten 2004 gesagt: Die Be-
soldungsstruktur muss auf den Prüfstand. Es ist eine
längst überfällige Entscheidung, die Soldatengehälter in
den neuen Bundesländern dem Westniveau anzupassen.
Das haben Sie im letzten Jahr festgestellt! Warum haben
Sie unseren Anträgen im Verteidigungsausschuss nicht
zugestimmt? Frau Kollegin Heß, Sie kommen in der
gleichen Debatte zu dem Schluss, dass eine Angleichung
so schnell wie möglich erfolgen muss. 2009 ist bei Ihnen
so schnell wie möglich? Schnell geht anders!
Wir fordern eine sofortige Angleichung und unterstüt-
zen den Antrag der FDP, weil wir grundsätzlich Anträge
nach inhaltlichen Kriterien bewerten. Es kann doch nicht
sein, dass Sie unseren vernünftigen Anträgen nicht zu-
stimmen, nur weil die aus der Opposition kommen.
Dann stellen Sie doch die Anträge zur sofortigen Anglei-
chung und Sie können sich unserer Unterstützung sicher
sein! Uns geht es um die Soldatinnen und Soldaten und
nicht um das Herkunftsprinzip von Anträgen in diesem
Haus!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4203
(A) (C)
(B) (D)
Innere Einheit in der Bundeswehr heißt aber auch:
Erstens: die Anerkennung von Vordienstzeiten in der
NVA.
Da nach wie vor die Dienstzeit in der NVA als „ge-
dient in fremden Streitkräften“ eingestuft wird, ergeben
sich daraus soziale Benachteiligungen für Angehörige
der NVA.
Während Bundeswehrsoldaten eine vollständige Pen-
sion auf Grundlage ihrer Dienstzeit erhalten, bekommen
Bundeswehr-NVA-Soldaten eine kleinere Pension auf-
grund ihrer kürzeren Dienstzeit in der Bundeswehr. Die
Dienstzeit in der NVA wird nicht anerkannt. Wir fordern
hier sofortiges Handeln!
Zweitens: die Unterschiede bei der Hinzuverdienst-
grenze. Bundeswehrangehörige haben das Recht, nach
Eintritt in den Ruhestand ihr Einkommen auf 120 Pro-
zent ihres letzten Bezuges durch Zuverdienst zu steigern.
Bundeswehr-NVA-Soldaten hingegen dürfen nur bis zu
320 Euro hinzuverdienen, ungeachtet der Höhe des letz-
ten Bezuges. Wir fordern auch hier eine schnelle Lö-
sung!
Drittens: Endgültige Klärung der Statusfrage. Ange-
hörige der NVA, die in die Bundeswehr übernommen
wurden, wurden in ihrem Dienstrang herabgestuft. An-
gehörige der NVA dürfen ihren erworbenen Dienstrang
auch nicht mit dem Zusatz „außer Dienst“ führen, anders
als Angehörige der Bundeswehr oder der Wehrmacht.
Begründet wird dies durch den Einigungsvertrag, in den
die Reservistenverordnung der DDR nicht übernommen
wurde. Legitimiert wird dies im § 8 des Wehrpflichtge-
setzes, demnach jeder Dienst in einer anderen Armee als
der Bundeswehr als Wehrdienst in fremden Streitkräften
angesehen wird.
Nur die Bundesrepublik Deutschland hat die DDR nie
als souveränen Staat anerkannt und den Alleinvertre-
tungsanspruch für das ganze deutsche Volk erhoben. Wie
ist es da möglich, dass der Dienst in der NVA als Dienst
in fremden Streitkräften gewertet wird?
Wir müssen schnellstens alle Ungleichbehandlungen
zwischen ost- und westdeutschen Soldatinnen und Sol-
daten klar benennen und beseitigen! Gleiche Besoldung
in Ost und West ist ein unabdingbarer erster Schritt!
Meine Damen und Herren der großen Koalition, wer es
ernst meint, wenn er den Soldatinnen und Soldaten für
ihre Arbeit dankt, sollte dabei immer im Hinterkopf ha-
ben, dass Lob und Anerkennung sich in Gleichbehand-
lung und angemessener Bezahlung ausdrücken muss!
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Angleichung der Besoldung von Bundeswehrange-
hörigen in Ost- und Westdeutschland ist überfällig. Aus
zwei Gründen halten wir jede Art der Differenzierung
nach Ost-West für überholt. Zum einen haben sich die
Lebenshaltungskosten in Ost- und Westdeutschland
inzwischen nahezu angeglichen. Zum anderen ist eine
Angleichung für die Menschen im Osten ein wichtiges
Signal, dass es die Politik auch Ernst meint mit der
Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Die Be-
soldung muss sich dabei am Allgemeinen Lebensstan-
dard orientieren.
Das ist auch für die Soldaten und Soldatinnen sowie
für die Zivilbeschäftigten der Bundeswehr ein ganz
wichtiger Punkt. Zu Recht wollen sie für gleiche Tätig-
keiten und gleiche Leistungen auch gleiches Geld. In
den vergangenen Jahren habe ich das Anliegen, eine
gleiche Besoldung innerhalb der Bundeswehr zu ermög-
lichen, stets unterstützt. Im Bereich der Bundeswehr sind
wir dabei zwar langsam, aber doch ein gutes Stück vo-
rangekommen. So erhalten alle im Auslandseinsatz be-
findlichen Soldaten und Soldatinnen für die Dauer ihres
Einsatzes die gleiche Besoldung. Um die Belastungen
der Transformation abzumildern, haben in den letzten
Jahren zudem fallspezifische Sonderregelungen dazu
beigetragen, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Be-
rufs- und Zeitsoldaten nach Westniveau bezahlt werden.
Wer – unabhängig von Wohn- oder Geburtsort – dauer-
haft im Westen stationiert und verwendet wird, erhält au-
ßerdem volle Westbezüge. Auch der Wehrsold der Wehr-
pflichtigen ist bundesweit einheitlich.
Dieser Weg muss konsequent weiter gegangen wer-
den. Deshalb ist es richtig, wenn die Bezüge von Bun-
deswehrangehörigen in Ostdeutschland stufenweise an
das Westniveau angeglichen werden. Für alle Gehalts-
stufen bis zum Leutnant ist die Anhebung bis zum Jahr
2007 geplant. Bis 2009 sollen die höheren Gehaltsstufen
folgen. Sonderregelungen für die Bundeswehr müssen
aber immer auch wohl begründet und vermittelbar sein.
Eine einheitliche Lösung für den öffentlichen Dienst ist
daher die bessere Variante.
Gerade unter den Aspekten Motivation und Rekrutie-
rung sind Besoldungsfragen besonders ernst zu nehmen.
Durchschnittlich sind derzeit knapp 7 000 Soldaten und
Soldatinnen weit außerhalb deutscher Grenzen mit Man-
dat der Vereinten Nationen in internationalen Krisenein-
sätzen eingesetzt. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur
multilateralen Krisenbewältigung und Kriegsverhütung
und schaffen in Krisengebieten die notwendigen Voraus-
setzungen zur Friedenskonsolidierung – auf dem Balkan
und in Afghanistan nimmt die Bundeswehr eine Schlüs-
selrolle ein. Ich erlebe es immer wieder vor Ort: Die
Bundeswehr erfüllt ihre Aufgaben professionell, klug
und verlässlich. Zu Recht wird der Einsatz ihrer Solda-
ten und Soldatinnen von der Bevölkerung in den Ein-
satzgebieten und ihren Verbündeten geschätzt und aner-
kannt.
Trotz dieser positiven Gesamtbilanz darf jedoch nicht
vergessen werden, dass die neuen Bundeswehraufgaben
auch eine ganze Reihe zusätzlicher Anforderungen an die
Soldaten und Soldatinnen stellen. In den internationalen
Kriseneinsätzen sind heute neben militärisch-handwerk-
lichen Fähigkeiten zusätzliche soziale und interkulturelle
Kompetenzen gefragt. Wer für die Bundeswehr hoch
qualifiziertes und motiviertes Personal gewinnen will,
muss daher sowohl in Ausbildung und Bildung als auch
in Ausrüstung, Ausstattung und in eine auf dem zivilen
Arbeitsmarkt konkurrenzfähige Besoldung investieren.
Alles andere würde Rekrutierungsschwierigkeiten, sin-
kender Leistung und Demotivation zuarbeiten.
4204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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Gert Winkelmeier (fraktionslos): Gleiche Besol-
dung der Soldatinnen und Soldaten in Ost und West
sollte normal sein, so wie gleicher Lohn für gleichwer-
tige Arbeit, die Angleichung der Lebensverhältnisse in
Ost und West und gleicher Lohn für alle Beschäftigten in
unserem Land, unabhängig davon, ob sie im Norden
oder Süden, im Osten oder Westen arbeiten.
Viele Politiker haben sich in den letzten 15 Jahren in
Sonntagsreden darin gefallen, von der stärkeren interna-
tionalen Verantwortung des zusammengewachsenen
Deutschlands zu sprechen. Beim näheren Hinsehen er-
schöpft sich diese Verantwortung bei der Bundeswehr in
internationalen – so genannten – Friedenseinsätzen. Wer
allerdings noch näher hinsieht, weiß, dass die Soldatin-
nen und Soldaten auch im Jahr 16 nach der deutschen
Einheit noch immer unterschiedlich besoldet werden.
Es gibt zwei verschiedene Soldstaffelungen in der
Bundeswehr; das ist durch nichts zu rechtfertigen. Es
können keine vernünftig nachvollziehbaren Argumente
beigebracht werden, warum die Besoldungsordnungen
nach westlichen und östlichen Bundesländern eingeteilt
sind. Danach erhalten die in den östlichen Bundeslän-
dern eingesetzten Bundeswehrangehörigen nur 92,5 Pro-
zent der Bezüge ihrer Kameraden im Westen. Das gilt
auch für alle Familien- und Amtzuschläge und überhaupt
für alle Stellenzulagen. Besonders beschämend finde
ich, dass noch immer auch der einfache Wehrsold der
Wehrpflichtigen so gering ist, dass ein normales Leben
von diesen Beträgen nicht möglich ist.
Die ursprüngliche und heute teilweise noch ver-
wandte Begründung für ein geringeres Lohnniveau im
Osten war bzw. ist die damals dort herrschende niedri-
gere Produktivität. Diese Begründung ist seit Jahren un-
haltbar. Trotzdem wird ständig versucht, im Osten ein
Niedriglohngebiet aufrecht zu erhalten. Damit soll letzt-
lich allen Menschen im Osten signalisiert werden, dass
sie weniger gut arbeiten als Menschen im Westen. Es ist
aber nicht einzusehen, dass Feuerwehrleute, Kranken-
schwestern und Wachschutzleute im Osten weniger ver-
dienen als im Westen. Sie alle haben das Recht auf glei-
chen Lohn für gleiche Arbeit. Ein Niedriglohngebiet im
Osten ist nicht hinnehmbar.
Als vor Jahren die Debatte um die Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ost und West geführt wurde, die
diese reiche Bundesrepublik noch immer nicht erreicht
hat, da sprach die damalige Oppositionspolitikerin
Merkel davon, dass die Löhne im Westen gesenkt und
dem niedrigeren Niveau im Osten angeglichen werden
müssen. Dieses Stichwort hatten ihr zuvor die Unterneh-
merverbände geliefert. Seither wird versucht, nach die-
sem Grundsatz zu verfahren. Was wir damals noch nicht
wussten, ist, dass die Löhne im Osten immer künstlich
auf Abstand zu denen im Westen gehalten werden. Dies
ist einfach nicht hinnehmbar und unserer Gesellschafts-
ordnung unwürdig.
Die Bundeswehr ist zweifellos nicht nach Kriterien
der Produktivität zu beurteilen. Ein Soldat, der in Mag-
deburg stationiert ist, riskiert beim Auslandseinsatz ge-
nauso sein Leben wie sein Kamerad in Koblenz. Deshalb
kann ich die Bundesregierung nur auffordern, diese fi-
nanziell unwürdige Behandlung zu beenden, ein Zeichen
für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West auf
Westniveau zu setzen und damit endlich auch bei der
Bundeswehr anzufangen.
Anlage 27
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Notschleppkonzept den veränderten Bedin-
gungen der Seeschifffahrt anpassen
– Notschleppkonzept an gestiegene Herausfor-
derungen anpassen
– Sicherheitskonzept für Nord- und Ostsee op-
timieren
(Tagesordnungspunkt 38 j)
Enak Ferlemann (CDU/CSU): Nach jahrelanger
Diskussion darüber, welche technischen Anforderungen
an die Notschlepper in Nord- und Ostsee zu stellen sind,
haben wir nun endlich ein gutes Ergebnis gefunden.
Das sieht konkret so aus:
Erstens. Für die Nordsee muss als Ersatz für den
Hochseeschlepper „Oceanic“ ein Notschlepper vorge-
halten werden, der bei einem auf 6 Meter reduzierbaren
Tiefgang die Leistung von 200 Tonnen Pfahlzug und
19,5 Knoten Geschwindigkeit erbringt und gemäß den
Richtlinien des Germanischen Lloyd für den Einsatz in
gefährlicher Atmosphäre geeignet ist.
Zweitens. Für die Ostsee muss ein Notschlepper vor-
gehalten werden, der 100 Tonnen Pfahlzug Leistung bei
einer Geschwindigkeit von 16,5 Knoten erbringt. Dieser
Schlepper muss nach den Richtlinien des Germanischen
Lloyd für den Einsatz in ölbedecktem Gewässer geeignet
sein und zusätzlich eine Gasspür- und Warnanlage zum
Aufspüren einer gefährlichen Atmosphäre haben.
Als Abgeordneter, dessen Wahlkreis an der Nordsee-
küste liegt, bin ich froh, wenn wir zukünftig Notschlep-
per mit höheren Leistungskriterien haben. Denn der Not-
schlepper muss gerade bei schlechtem Wetter innerhalb
von zwei Stunden an jedem Punkt seines vorgesehenen
Einsatzgebietes wirksam erste Hilfe leisten können.
Dazu gehört auch die Feuerlöschleistung. Er muss aber
auch schneller als ursprünglich geplant sein, weil heu-
tige Großcontainerschiffe eine deutlich höhere Drift-
geschwindigkeit haben. Die Kombination der Leistungs-
kriterien aus Pfahlzug, Tiefgang und Geschwindigkeit ist
notwendig, um so frühzeitig wie möglich, aber auch im
flacheren Küstengebiet noch einen leistungsstarken Ein-
satz zu gewährleisten. Die oftmals gefährliche Ladung
von Containerschiffen und Gastankern erfordert Einsatz-
fähigkeit in gefährlicher Atmosphäre.
Das Notschleppkonzept des Bundes hatte genau an
dieser Stelle seinen Schwachpunkt. Jetzt haben wir die-
sen Schwachpunkt beseitigt und damit das Konzept an
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4205
(A) (C)
(B) (D)
das angepasst, was vor unseren Küsten in der Seeschiff-
fahrt tatsächlich passiert.
Das aktuelle Szenario sieht so aus:
Erstens. Die Verkehrszahlen auf den Seeschifffahrts-
straßen nehmen generell zu.
Zweitens. Die Schiffe werden nicht nur größer, son-
dern führen auch einen höheren Anteil an Gefahrgutla-
dungen mit sich.
Drittens. Die Häfen haben Zuwachsraten und beste
Aussichten auf weiteres wirtschaftliches Wachstum.
Wenn der Jade–Weser–Port in Wilhelmshaven fertig ist,
werden dort Megacontainerschiffe ihre Fracht ebenso
umschlagen wie Gas- und Chemikalientanker.
Viertens. In der Ostsee werden vor allem die Tanker-
verkehre erheblich zunehmen. Die Entwicklung ist also
etwas anders zu beurteilen als an der Nordsee. Deshalb
ist es dort besonders wichtig, dass die Ausrüstung nach
den Richtlinien für den Einsatz in ölbedecktem Gewäs-
ser ausgerichtet ist.
Das heißt: Das Notschleppkonzept muss an die mit
diesen Schiffsverkehren verbundenen Gefahrenlagen oh-
nehin angepasst werden. Es muss sich an der Gegenwart
und der Zukunft ausrichten.
Wir dürfen aber auch die Vergangenheit nicht aus den
Augen verlieren. Es ist wichtig, dass wir Lehren aus der
Havarie der „Pallas“ 1998 und den zahlreichen anderen
Unfällen ziehen. Schließlich ist das Notschleppkonzept
eine Folge aus schmerzlichen Erfahrungen in den ver-
gangenen Jahren. Was passieren kann, wenn wir für den
Notfall unzureichend gerüstet sind, ist keine Versuchs-
reihe am Modell, sondern erlebte Wirklichkeit. Deshalb
ist es richtig und konsequent, die Sicherheit vor dem
Hintergrund der Erfahrungen zu erhöhen.
Ich möchte mich bei allen Beteiligten bedanken, die
hartnäckig dafür gekämpft haben, die Leistung der Not-
schlepper den tatsächlichen Erfordernissen anzupassen,
auch wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist. Mit
all denen, die heute zufrieden sein können, bin ich der
Meinung, dass die Sicherheit unserer Küsten Vorrang
haben muss vor Haushaltserwägungen. Mein besonderer
Dank gilt meinem Kollegen Ingbert Liebing, der mit mir
gemeinsam in vielen Arbeitsgruppensitzungen für den
heutigen Erfolg gestritten hat.
Ich weiß, dass mehrere Schlepper mit der Leistungs-
fähigkeit, wie wir sie für die Ausschreibungen jetzt vor-
gegeben haben, schon im Bau sind. Die technischen An-
forderungen zu erfüllen, ist also kein großes Problem.
Nachdem die Haushaltsmittel aufgestockt worden sind,
bin ich überzeugt, dass dieses Budget ausreichen wird,
um die höheren Kosten auch finanzieren zu können. Ich
bin den Haushältern dankbar, dass sie die notwendigen
Mittel in den Haushalt eingestellt haben. Denn die Ent-
scheidung kann nicht länger hinausgezögert werden. Wir
müssen für die Bauzeit eines Notschleppers nach der
Auftragserteilung mindestens 22 bis 24 Monate rechnen.
Der Schiffbauboom der letzten Jahre führt zu langen
Lieferzeiten für Motoren, Getriebe und Propeller. Man
muss da mit 18 und mehr Monaten rechnen.
Lassen Sie mich zum Schluss anmerken: Wer die
Küste kennt, weiß, dass wir dort einmalige Landschaften
wie zum Beispiel den Nationalpark Wattenmeer und
viele andere Schutzgebiete haben. Für diese Gebiete
müssen wir Vorsorge treffen. Havarien können aber auch
den Tourismus und die Fischerei bedrohen. Davon lebt
die Küste, davon leben viele Menschen dort. Ich bin des-
halb außerordentlich froh, dass wir uns in diesem Hause
auch wegen der Existenzen, die daran hängen, einig
sind, mit einer Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Not-
schlepper Gefahren sofort und wirkungsvoll abwenden
zu wollen.
Wollen wir hoffen, dass es trotz unserer Vorsorge nie
zu einem schwerwiegenden Unfall vor unseren Küsten
kommt.
Dr. Margrit Wetzel (SPD): 1994: 852 Menschen ver-
lieren ihr Leben, weil die Fähre „Estonia“ vor der finni-
schen Küste sinkt. 1998: Die „Pallas“ fängt bei schwe-
rem Sturm und hoher See südwestlich Esbjerg Feuer.
Versuche, das Schiff auf die offene See zu schleppen,
scheitern, die „Pallas“ verdriftet ins Wattenmeer und
läuft vor Amrum auf Grund. 1999: Der Produktentanker
„Erika“ bricht vor der bretonischen Küste auseinander.
2002: Der 26 Jahre alte Tanker „Prestige“ quert die Ost-
see, passiert die Kadetrinne, gerät im Atlantik in Seenot,
bricht auseinander und sinkt vor der Küste Spaniens.
2002: Wenige Wochen später sinkt der Autotransporter
„Tricolor“ nach einer Kollision binnen einer halben
Stunde im Ärmelkanal. Mehrere Schiffe kollidieren spä-
ter mit dem Wrack, das erst fast ein Jahr, später in Sek-
tionen zersägt, geborgen werden kann.
Dezember 1999: Über der Nordsee tobt der Orkan
„Anatol“ mit der Stärke drei auf der amerikanischen
Hurrikanskala. Der Massengutfrachter „Lucky Fortune“
meldet Maschinenausfall, wirft den Anker und driftet
trotzdem mit zeitweise über 5 Knoten auf Sylt zu. Welch
ein Glück, dass wir den Notschlepper „Oceanic“ haben,
der in 4,5 Stunden trotz des Orkans 52 Seemeilen bewäl-
tigt, den Havaristen 12 Meilen vor Sylt erreicht, eine
Schleppverbindung herstellen und die „Lucky Fortune“
kurz vor der Strandung stoppen kann!
Der Nationalpark Wattenmeer ist das größte Küsten-
feuchtgebiet Europas. Mehr als 100 000 Schiffe kreuzen
jährlich die Deutsche Bucht. Hamburg ist der achtgrößte
Hafen der Welt, Wilhelmshaven freut sich auf einen
Tiefwasserhafen, in dem die größten Containerschiffe
erwartet werden, die derzeit im Bau sind: Sie tragen bis
zu 13 000 TEU, allein die Reederei Maersk hat zehn sol-
cher Megaschiffe bestellt. Wilhelmshaven ist Deutsch-
lands größter Ölhafen, Eon plant dort einen LNS-Im-
port-Terminal. Die Zahl der LNS-Tanker ist von 1999
bis 2005 um 70 Prozent auf jetzt 191 gestiegen. Weitere
131 LNS-Tanker sind derzeit bei Werften in Auftrag ge-
geben. Ein riesiges Chemiewerk wird ebenfalls dort ent-
stehen.
An der Unterelbe haben wir mit Brunsbüttel und
Stade gleich zwei große Chemiestandorte. Keine Frage:
Die Gefahrguttransporte nehmen zu, die Zahl der
Schiffsbewegungen wächst mit den höchst erfreulichen
4206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Umschlagsteigerungen, die die deutschen Häfen, allen
voran Hamburg, vermelden. Der Zuwachs soll von heute
über acht Millionen TEU im Hamburger Hafen bis 2015
auf über 18 Millionen gesteigert werden. Die Container-
schiffe werden größer. Zugleich wird damit auch ihre
Windangriffsfläche größer und das heißt, dass sie erheb-
lich schneller verdriften. Das BSH hat in der Nordsee
jetzt bereits elf Offshorewindparks genehmigt, auf die
Havaristen gegebenenfalls zutreiben können. Was, wenn
die „Lucky Fortune“ auf der Drift gen Sylt in einem
Windpark gestrandet wäre?
Sie mögen sich vielleicht fragen, warum wir Ver-
kehrspolitiker mit unserem Antrag technische Details für
die Notschlepper der Zukunft vorgeben? Ist das unsere
Aufgabe? Ja, ja und noch einmal ja! Wer, wenn nicht
wir, die Parlamentarier der Deutschen Bundestages, ha-
ben die Verantwortung für die Qualität und Leistungsfä-
higkeit der Notschlepper in Nord- und Ostsee, die aus
Steuergeldern gechartert und zum effektiven Einsatz
vorgehalten werden? Wir haben die Verantwortung da-
für, dass die 50 Millionen Touristen, die jährlich in un-
sere Wattenmeerregion kommen, sicher sind, dass Küs-
tenbewohner und Wattenmeer wirksam geschützt
werden vor Ölverschmutzungen oder giftigen Gasen und
Chemikalien, die bei Havarien entstehen oder entwei-
chen können.
Das Notschleppkonzept der Bundesregierung, das
nach der „Pallas“-Katastrophe erarbeitet wurde, war un-
seren europäischen Nachbarn durchaus Vorbild. Es
wurde 2001 verabschiedet und nimmt zu Recht für sich
in Anspruch, wissenschaftlich korrekt erarbeitet worden
zu sein. Aber: Was für Lärmschutzwände gut sein mag
– nämlich von Durchschnittswerten auszugehen und sich
nicht auf Spitzenbelastungen zu konzentrieren – taugt
politisch nicht als Vorbild für große Schiffshavarien. Die
Entwicklung geht mit Riesenschritten weiter, keine Pro-
gnose konnte realistisch vorhersehen, dass in naher Zu-
kunft bis zu 13 000 TEU-Containerschiffe bei uns gela-
den und gelöscht werden. Der Umschlagzuwachs in den
Häfen wurde drastisch unterschätzt, die Offshorewind-
parks waren noch vage Utopien.
In den letzten Jahren gab es zahlreiche öffentlich ge-
führte Auseinandersetzungen um die Leistungskriterien
der Notschlepper, bei denen Vertreter der Behörden in
fachlichem Widerspruch zu Experten aus vielfältigster
maritimer Praxis standen: Wenn Experten sich streiten,
haben Politiker die Pflicht, zu zweifeln, zu prüfen und
genau abzuwägen, ob sie eingreifen und politisch ent-
scheiden, wie und mit welcher Leistung unsere Küsten
geschützt werden sollen.
Das haben wir getan, und zwar ganz bewusst und im
Fachausschuss einvernehmlich über alle Fraktionen: Wir
wollen für die Nordsee als Ersatz für den Schlepper
„Oceanic“ einen Bergungsschlepper, der bei 6 Meter
Tiefgang 19,5 Knoten Geschwindigkeit und einen Pfahl-
zug von 200 Tonnen bringt und damit auch in flacheren
Gewässern einen leistungsstarken Einsatz ermöglicht.
Der Notschlepper sollte die Schleppverbindung zum Ha-
varisten so früh wie möglich legen: Also muss er seinen
Tiefgang erhöhen können. Damit verbessert sich seine
Wirkleistung auch bei schwerem Wetter, er hat gewisse
Leistungsreserven. Der neue Schlepper muss 19,5 Kno-
ten Geschwindigkeit bringen, damit der deutlich höheren
Windangriffsfläche und der größeren Driftgeschwindig-
keit von Megacontainerschiffen wirksam begegnet wer-
den kann.
Ich betone ausdrücklich: Wir wollen einen richtigen
Bergungsschlepper mit hoher Schlechtwettergeschwin-
digkeit, keinen Ankerziehschlepper oder Bohrinselver-
sorger!
Unsere französischen Nachbarn haben gerade berich-
tet, dass nur aufgrund der Rumpfform und der Ge-
schwindigkeit von 19,5 Knoten der neue französische
Notschlepper mit einer Anfahrtszeit von 1,5 Stunden ei-
nen auf die bretonische Küste zutreibenden Frachter
circa 30 Minuten vor der Strandung erfolgreich abfangen
konnte. Der Nordseenotschlepper muss zusätzlich mit
Gas- und Explosionsschutz nach den Richtlinien des GL
für Chemikalienunfallbekämpfungsschiffe ausgerüstet
sein. Die Besatzung braucht wirksamen Eigenschutz und
optimale Zugriffsmöglichkeiten für jegliche Art von Ha-
varie.
Für die Ostsee unterstützen wir den Wunsch der Bun-
desregierung, den neuen Schlepper, der die Kadetrinne
absichern soll, nach den Leistungskriterien vorzuhalten,
die auch in Schweden zum Einsatz kommen: 100 Ton-
nen Pfahlzug bei 16,5 Knoten Geschwindigkeit und
6 Meter Tiefgang mit einer Ausrüstung nach den Bau-
vorschriften des GL für Ölfangschiffe.
Eine unserer wichtigen Forderungen ist, dass das
Schiffsführungspersonal über gute Kenntnisse der engli-
schen Sprache verfügen, die gesamte Besatzung aber
deutsch in Wort und Schrift beherrschen muss. Eine gute
Kommunikation der Einsatzkräfte sichert den Erfolg im
Ernstfall. Die gecharterten Notschlepper und ihre Besat-
zungen werden von der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung eingesetzt. Sie erstellt die Einsatzpläne, führt Übun-
gen durch und erteilt der Besatzung Anweisungen, die
verstanden werden müssen. Im Einsatz müssen die ge-
charterten Notschlepper mit bundeseigenen Schiffen un-
ter schwierigen Bedingungen zusammenarbeiten. Auch
unsere Nachbarn England, Frankreich, Niederlande,
Spanien, Italien fordern, dass ihre Notschlepperbesat-
zungen die Nationalsprache in Wort und Schrift beherr-
schen müssen. Dies ist also kein deutscher Alleingang,
sondern ein wichtiger Baustein für ein erfolgreiches na-
tionales Notschleppkonzept.
Unsere parlamentarische Initiative, die Leistungsda-
ten der neuen Notschlepper für Nord- und Ostsee vorzu-
geben, erfolgt einstimmig über alle Fraktionen und in
ausdrücklicher Übereinstimmung mit der politischen
Leitung des BMVBS. Mit Befremden haben wir Versu-
che der letzten Tage zur Kenntnis genommen, Stellung-
nahmen von behördenexternen Fachleuten öffentlich zu
diskreditieren. Wissenschaftliche Sorgfalt mag gut sein,
aber die politische Verantwortung für Entscheidungen
hat das Parlament: Wir übernehmen diese Verantwor-
tung im Wissen um die Gefahren, vor denen wir unsere
Küste, die Menschen hinter den Deichen und das Wat-
tenmeer wirksam schützen wollen. Wir erwarten jetzt,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4207
(A) (C)
(B) (D)
dass die Ausschreibung schnellstmöglich erfolgt, weil
die Lieferzeiten für Motoren, Propeller, Getriebe und an-
dere Großkomponenten über 18 Monate betragen und
aufgrund der erfreulichen Auslastung der Werften für
den Bau der Notschlepper zwei Jahre kalkuliert werden
müssen.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Die unendliche
Geschichte Notfallschlepper für Nord- und Ostsee nähert
sich endlich einem guten Ende, eine Geschichte, bei dem
sich das Bundesverkehrsministerium nicht gerade mit
Ruhm beklekkert hat. Nach dem Pallas-Unglück hatte
die Regierung die Projektgruppe „Notschleppen“ einge-
setzt und die FDP hat immer begrüßt, dass das flächen-
deckende Vorhalten ausreichender Notschleppkapazität
als staatliche Aufgabe zum Schutz der deutschen Küsten
anerkannt wurde.
Doch zunächst wurde jahrelang mit den Experten von
der Küste darüber gestritten, ob der geplante neue Not-
fallschlepper für die Nordsee eine Tiefgangsbeschrän-
kung von 6 Meter haben sollte oder nicht. Alle Verbände
an der Küste waren dagegen, doch das Ministerium war
nicht davon abzubringen. Auch ein von der Schutzge-
meinschaft Deutsche Nordseeküste, SDN, eingereichtes
Gutachten führte zu keiner Reaktion der Verwaltung.
Erst als die FDP 2003 eine Kleine Anfrage an die Bun-
desregierung richtete, bequemte sich das Verkehrsminis-
terium dazu, auf das Schreiben der SDN zu reagieren.
Nachdem dieser Streit endlich mit dem Kompromiss
eines variablen Tiefgangs beendet wurde und wir alle
dachten, nun geht es voran, vergaß das Ministerium für
den Haushalt 2005 die nötigen Haushaltsmittel zu bean-
tragen. Nun verging wiederum mehr als ein Jahr, in dem
wir uns über Geschwindigkeit, Pfahlzug und Gas- und
Explosionsschutz auseinander setzten. Noch in der Ant-
wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
FDP von diesem Frühjahr hieß es kategorisch, dass eine
Nachbesserung beim Notschleppkonzept nicht notwen-
dig sei.
All diese Auseinandersetzungen hätten wir uns erspa-
ren können, wenn das Ministerium nicht so gemauert
hätte, wenn das Ministerium sich einer offenen und ehr-
lichen Diskussion mit den Fachleuten von der Küste ge-
stellt hätte.
Die Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste, die
Insel- und Hallig-Konferenz und der Deutsche Nautische
Verein haben sich beim Ringen um den bestmöglichen
Schutz unserer Küstengewässer und unserer Küsten sehr
verdient gemacht und das Gutachten der SDN und die
Stellungnahme des Deutschen Nautischen Vereins zum
Notschleppkonzept der Bundesregierung haben dann
letztlich auch die Große Koalition überzeugt.
Die FDP begrüßt dies und deshalb gab es keinen ver-
nünftigen Grund mehr, unseren eigenen Antrag aufrecht-
zuerhalten. Ich freue mich, dass wir nach so vielen Jah-
ren endlich zu einer gemeinsamen Position gefunden
haben.
Ich schließe mich dem Dank der SDN an meine Kol-
legen von der SPD und der CDU an, dass sie nicht locker
gelassen und das Ministerium zur Einsicht bewegt ha-
ben. Aber ich möchte hier auch betonen, dass die FDP
seit Jahr und Tag immer wieder den Finger in die Wunde
gelegt und den Druck auf das Ministerium aufrechterhal-
ten. Wir haben diverse Kleine Anfragen und parlamenta-
rische Fragen zu diesem Komplex auf den Weg gebracht,
immer wieder auf die Widersprüche in der Haltung des
Ministeriums und auf Versäumnisse hingewiesen.
Allerdings wird die heutige Freude dadurch getrübt,
dass die Einigung im Verkehrsausschuss sich noch nicht
im Haushalt wiederfindet. Die erhöhten technischen An-
forderungen an die Schlepper werden nicht zum Nullta-
rif zu bekommen sein. Mehr Sicherheit kostet mehr
Geld. Auch wurde versäumt, die bisherigen Verzögerun-
gen bei der Ausschreibung durch eine längere Laufzeit
der Verpflichtungsermächtigung zu kompensieren. Da-
bei hat das PwC-Gutachten eindeutig festgestellt, dass
der Bau und Betrieb eines Schleppers durch ein privates
Unternehmen sich nur rechnet, wenn die Charterlaufzeit
zehn Jahre beträgt. Deshalb müssen wir bei den bald be-
ginnenden Beratungen zum Haushalt 2007 dafür sorgen,
dass die Verpflichtungsermächtigung von 2016 auf 2018
verlängert wird und dass überprüft wird, ob die Anforde-
rungen an die neuen Notfallschlepper mit dem alten
Haushaltsansatz wirklich zu realisieren sind. Durch die
entsprechende Mittelbereitstellung sollte auch deutlich
werden, dass bei den geforderten hohen Ansprüchen an
die neuen Notfallschlepper das überragende Know-how
deutscher Schiffsingenieurkunst zum Einsatz und die
Wertschöpfung der deutschen Küste zugute kommen
kann.
Mit einiger Verzögerung werden wir nun also leis-
tungsstarke Notfallschlepper bekommen, die auch der
Tatsache Rechnung tragen, dass der Schiffsverkehr mit
immer größeren Schiffen zunimmt. Das ist ein gutes Sig-
nal für die Küste.
Dorothee Menzner (DIE LINKE): Das, worum es
bei diesen Anträgen geht, ist ein Thema, bei dem wir lei-
der immer wieder geneigt sind, es zu verdrängen oder
auf die lange Bank zu schieben. Es geht um die Seenot-
konzepte in der Nordsee und in der Ostsee, um die Si-
cherheit von Menschen und um Lebensräume. Da freue
ich mich, dass es dem Verkehrsausschuss des Bundes-
tags in der letzten Sitzung gelungen ist, aus den Vorlagen
der Fraktionen einen gemeinsamen Beschluss zu zau-
bern. In Nord- und Ostsee brauchen wir die passenden
Schiffe, um für alle Notfälle gewappnet zu sein, nicht ir-
gendwelche, sondern die richtigen, die es im Notfall
auch wirklich schaffen, Gefahren abzuwenden.
In der Ostsee fehlt bislang ein kräftiges Schleppschiff,
zumal es dort die Kadettrinne gibt, die nördlich der deut-
schen Küste ihre Tücken hat. Dort nimmt bei größeren
Schiffen die nutzbare Fahrrinne auf wenige hundert Me-
ter ab. Da sollten wir handeln und für Schleppkraft sor-
gen, bevor es zu spät sein könnte.
Zwar hat die Parlamentarische Staatssekretärin in der
Ausschusssitzung auf die Haushaltszwänge hingewie-
sen. Wir sollten aber trotzdem aufpassen, dass der Pfahl-
zug – die Zugkraft bei Notschleppschiffen – nicht zu
4208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
sehr der Kassenlage angepasst wird. Wir sollten uns
auch nicht Trugschlüssen hingeben und uns jetzt sicherer
fühlen, nur weil die EU endlich Schritte in die Wege lei-
tet, um für den Seetransport schwerer Öle den Einsatz
von Schiffen mit doppelten Tankhüllen zu forcieren. Die
neue Regelung ist nämlich beileibe nicht für alle Schiffe
verbindlich. Sie lautet: Ölschiffe, die Schweröle beför-
dern, dürfen nur dann eine Flagge der Gemeinschaft füh-
ren, wenn es sich um Doppelhüllen-Öltankschiffe han-
delt.
Im Klartext heißt das: Öltanker, die nicht unter der
Flagge eines EU-Staates fahren, dürfen nach wie vor
Einhüllenschiffe sein und trotzdem schweres – hochgif-
tiges – Öl transportieren. Dies bedeutet weiterhin erheb-
liche Risiken und zwingt uns, weiterhin über mehr Si-
cherheit nachzudenken. Sicherheit ist stets das Resultat
technischer, organisatorischer und personeller Maßnah-
men.
Erinnern wir uns: Vor vier Jahren zerbrach der alters-
schwache Einhüllentanker „Prestige“ vor der spanischen
Küste. Er hatte von Estland aus die Ostsee durchfahren,
gehörte einer griechischen Reederei, fuhr aber unter der
Flagge der Bahamas. Spanische und portugiesische Be-
hörden entschieden falsch: Statt das Schweröl beizeiten
aus dem Schiff zu pumpen, begann eine folgenschwere
Odyssee.
Welche Konsequenzen sollten wir daraus ziehen?
Egal ob EU oder Nicht-EU: Die personelle Qualifikation
lässt sich an allen Küsten stets verbessern. Nur wenn es
möglich ist, die Zeichen einer Gefahr zu erkennen, sind
die zuständigen Stellen in der Lage, Havarien zu vermei-
den. Nur dann können sie die passende technische Hilfe
rechtzeitig organisieren.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Schiffsunfälle der letzten Jahre haben immer
wieder deutlich gemacht, welchen Gefahren die Küsten
ausgesetzt sind und wie wichtig Notschlepper zur unmit-
telbaren Gefahrenabwehr sind. Ein aktuelles, an die
Entwicklung des Seeverkehrs angepasstes Notschlepp-
konzept ist ein zentrales Element der maritimen Notfall-
vorsorge für die deutsche Nord- und Ostseeküste. Des-
halb hat die grüne Fraktion als erste Bundestagsfraktion
bereits im Februar dieses Jahres, die Bundesregierung
dazu aufgefordert, das derzeitige Notschleppkonzept zu
überprüfen und zu aktualisieren.
Wir freuen uns sehr, dass mittlerweile auch die anderen
Bundestagsfraktionen unserem Beispiel gefolgt sind und
fast identische Forderungen an die Bundesregierung ge-
stellt haben, die wir nun in einem interfraktionellen An-
trag gemeinsam an die Bundesregierung richten können.
Der Küstenschutz ist eine so wichtige Aufgabe, dass
wir hier dringend an einem Strang ziehen müssen.
Die deutschen Küsten liegen an den am stärksten fre-
quentierten Seeverkehrswegen der Welt. Allein Russland
will seine Ölexporte aus den Ostseehäfen bis 2010 ver-
doppeln. Damit steigt die Anzahl der Tanker, die mit der
in der Ostsee maximal möglichen Größe von 150 000 bis
160 000 tdw, tons deadweight, aus den baltischen Verla-
dehäfen kommen. Für Tanker dieser Größe reicht der
vom Bundesverkehrsministerium im Jahr 2001 empfoh-
lene Mindest-Pfahlzug von 80 Tonnen für den in Rostock-
Warnemünde stationierten Notschlepper nicht aus, er
muss über eine Schleppleistung von mindestens
100 Tonnen verfügen.
In Anbetracht der Entwicklung in der internationalen
Containerschifffahrt mit Schiffsgrößen über 9 000 TEU,
die die deutschen Nordseehäfen schon heute – 2001:
6 500 TEU – regelmäßig anlaufen, muss auch die
Schleppleistung des vor Norderney stationierten Not-
schleppers angepasst werden. Die Schleppleistung in der
Nordsee muss auf mindestens 200 Tonnen erhöht wer-
den. Ebenso erhöht werden muss die Geschwindigkeit in
der Nordsee auf mindestens 19 Knoten. Denn die Not-
schlepper müssen den dynamischen Auftrieb, den Con-
tainerschiffe, die in der Regel mit hoher Deckladung
fahren, erzeugen, zusätzlich noch überwinden und ihre
Zugkraft in Abhängigkeit von der Windstärke noch er-
heblich erhöhen.
Ein weiteres Problem ist, dass auf Containerschiffen
im umfangreichen Maße Gefahrengüter nach dem so ge-
nannten IMDG-Code – „International Maritime Dange-
rous Goods“ – transportiert werden. Im Falle einer Ha-
varie muss die Notschlepper-Besatzung dringend vor
gefährlichen Gasen geschützt werden. Deshalb müssen
die Notschlepper in Nord- und Ostsee mit einem Schutz
gegen gefährliche Gase nach der GL-Richtlinie für den
Bau von Chemikalienunfall-Bekämpfungsschiffen aus-
gerüstet werden.
Gemeinsam fordern alle Fraktionen des Deutschen
Bundestages die Bundesregierung dazu auf, künftige
Notschlepper nach diesen Kriterien zu verbessern. Denn
nur auf diese Weise können wir unsere Küsten ange-
sichts des massiv zugenommenen Seeverkehrs und der
Entwicklung zu immer größeren Schiffen schützen.
Anlage 28
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Selbstbestimmtes Leben in Würde
ermöglichen – Transsexuellenrecht umfas-
send reformieren
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Passgesetzes
(Tagesordnungspunkt 25 und Zusatztagesord-
nungspunkt 10)
Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir diskutieren heute
über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
die eine umfassende Novellierung des Transsexuellen-
rechtes fordern. Unterstützt wird die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen in ihren Forderungen zum Teil durch
ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. De-
zember 2005. Das Bundesverfassungsgericht hat in die-
sem Urteil eine Reform des Namensrechts für Transse-
xuelle verlangt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4209
(A) (C)
(B) (D)
Das Transsexuellengesetz ermöglicht einem trans-
sexuellen Menschen, seinen Vornamen zu ändern, ohne
eine geschlechtsanpassende Operation durchführen zu
müssen – so genannte kleine Lösung. Personenstands-
rechtlich wird er dabei weiterhin seinem im Geburtenre-
gister eingetragenen Geschlecht zugerechnet. § 7 Abs. 1
Satz 3 TSG entzieht ihm aber den gewählten Vornamen,
wenn er heiratet, um den Eindruck zu vermeiden, dass
gleichgeschlechtliche Partner eine Ehe eingegangen sein
könnten. Das Gericht entschied, dass der durch § 7
Abs. 1 Satz 3 TSG erzwungene Verlust des geänderten
Vornamens bei Heirat wissenschaftlich weitgehend über-
holt sei und das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Namensrecht eines homo-
sexuell orientierten Transsexuellen verletze, solange die-
sem eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht ohne
Verlust des geänderten, seinem empfundenen Geschlecht
entsprechenden Vornamens eröffnet ist. Das Bundesver-
fassungsgericht hat § 7 Abs. 1 Satz 3 TSG im Wege ei-
ner Anordnung nach § 35 BVerfGG für nicht anwendbar
erklärt und den Gesetzgeber aufgefordert, eine neue Lö-
sung zu finden.
Mit ihrem Antrag beabsichtigt die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen nunmehr die Beseitigung von
Regelungen im Transsexuellengesetz, die transsexuelle
Menschen daran hindert, ihrer Identität gemäß zu leben.
Es handelt sich jedoch bei der Novellierung des Trans-
sexuellengesetzes um eine juristisch äußerst komplexe
Materie. Bereits im Jahre 2000 wurden deshalb zur Er-
mittlung des tatsächlichen Änderungsbedarfs die Betrof-
fenen, die Innenministerien und Senatsverwaltungen der
Länder sowie verschiedene Verbände und Sachverstän-
dige gebeten, ihre Erfahrungen mit dem TSG und den
aus ihrer Sicht bestehenden Änderungsbedarf mitzutei-
len.
In Zusammenhang mit diesen Stellungnahmen sowie
insbesondere in Zusammenhang mit dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts in dieser Sache halten auch wir
es für erforderlich, verschiedene Regelungen des Trans-
sexuellenrechts zu modifizieren. Gerade bei den im vor-
liegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angesprochenen Regelungen handelt es sich jedoch in
der Mehrzahl um Fragen, zu denen sehr divergierende
Expertenmeinungen vorliegen. Wir kommen deshalb
nicht umhin, uns die einzelnen Forderungen in Hinblick
auf ihre Realisierbarkeit sehr genau anzuschauen und
uns mit ihnen im Einzelnen auseinander zu setzen.
Als relativ unproblematisch eingeschätzt wird dabei
die Forderung der Grünen nach Abschaffung der Beteili-
gung eines Vertreters des öffentlichen Interesses. Da die
Einwände des Vertreters des öffentlichen Interesses bis-
lang in kaum einem Fall Bestand hatten, kann nach
ziemlich einhelliger Expertenansicht auf seine Mitwir-
kung im Verfahren der Vornamensänderung nach § 3
Abs. 2 Nr. 2 TSG künftig verzichtet werden.
Aufgrund der mit einer Operation immer verbunde-
nen Risiken spricht – zumindest meiner Ansicht nach –
sicher auch einiges dafür, auf das Erfordernis einer ope-
rativen Annäherung an das Erscheinungsbild des ande-
ren Geschlechts zum Zwecke einer Änderung des Perso-
nenstands gemäß § 8 TSG zu verzichten. Es gibt
sicherlich beachtliche Motive, aus denen heraus ein
Transsexueller vor einer Operation zurückschreckt.
Auch in der Fachwissenschaft wird deshalb ein operati-
ver Eingriff als Voraussetzung für die Änderung der Ge-
schlechtszugehörigkeit zunehmend als problematisch
beziehungsweise für nicht mehr haltbar erachtet.
Für problematisch halte ich jedoch die Forderung von
Bündnis 90/Die Grünen, die Änderung des Vornamens
statt wie bisher von einer prognostisch sicheren Dia-
gnose künftig nur noch von der einfachen Feststellung
abhängig zu machen, dass sich eine Person aufgrund ih-
rer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Ge-
burtseintrag angegebenen, sondern dem anderen Ge-
schlecht als zugehörig empfindet. Dies ermöglicht einen
sehr schnellen Wechsel zu einem Vornamen des anderen
Geschlechts und ermöglicht meiner Meinung nach ein
leichtfertiges und missbräuchliches Verhalten.
Ebenfalls für juristisch sehr problematisch halte ich
die Bemühung der Grünen, das Verfahren nach dem
TSG hier lebenden Ausländern zu ermöglichen. Dies
könnte im Heimatland, in dem die betreffende Person
nur unter ihrem Geburtsnamen existiert, zu erheblichen
Problemen führen. Komplikationen ergäben sich über-
dies im internationalen Privatrecht.
Keinesfalls verzichten werden wir auf das Ledigkeits-
gebot des § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG als Voraussetzung für die
Änderung des Personenstands. Mit dem Wegfall dieser
Voraussetzung würde ermöglicht, dass zwei Menschen
des gleichen Geschlechts miteinander verheiratet wären.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit
mehrfach, zuletzt bei der Entscheidung zum Lebenspart-
nerschaftsgesetz, festgestellt, dass die Ehe nach Art. 6
Abs. 1 GG die Verbindung von Mann und Frau zur
grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemeinschaft dar-
stellt. Die Ehe von zwei Personen des gleichen Ge-
schlechts kommt deshalb aus verfassungsrechtlicher
Sicht nicht in Betracht. Eine Änderung von § 8 TSG mit
dem Ziel eines Verzichts auf die Ehelosigkeit als Voraus-
setzung für die Feststellung der Geschlechtszugehörig-
keit würde insoweit die Gefahr einer grundgesetzwidri-
gen Regelung beinhalten. Ob der in diesem
Zusammenhang geforderte so genannte „gleitende Über-
gang von Ehe in die Lebenspartnerschaft“ möglich ist,
bedarf aufgrund der unterschiedlichen Rechtsinstitute
und der unterschiedlichen Rechtsfolgen bei Auflösung
der Ehe oder Lebenspartnerschaft einer sehr genauen
Prüfung. Meiner Meinung nach ist ein gleitender Über-
gang jedoch nicht machbar.
Den im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
beschriebenen faktischen Beschränkungen bei der Reise-
freiheit von Transsexuellen im deutschen Passrecht wird
durch eine Änderung des Passgesetzes begegnet werden.
Der derzeitige Entwurf zur Novellierung des Passrechts
sieht hierzu vor, dass Transsexuelle bereits bei vorlie-
gender Vornamensänderung nach § 1 TSG eine von ihrer
personenstandsrechtlichen Geschlechtszugehörigkeit ab-
weichende Geschlechtsangabe auf Antrag im Pass erhal-
ten können.
4210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Angesichts der im Übrigen teilweise äußerst komple-
xen rechtlichen Problematik wird ein Reformgesetz zum
Transsexuellengesetz nicht mehr im Jahre 2006 vorge-
legt werden können. Auch erscheint es sinnvoll, eine Be-
arbeitung erst nach Abschluss der Personenstandsrechts-
reform zu ermöglichen.
Gabriele Fograscher (SPD): In der heutigen De-
batte geht es um das Transsexuellenrecht. Damit greifen
Bündnis 90/Die Grünen Forderungen des Lesben- und
Schwulenverbandes in Deutschland für eine Reform des
Gesetzes auf.
Auch wenn dieses Thema nur wenige betrifft, so ist
eine Novellierung des Transsexuellenrechts von 1980
für die Betroffenen von erheblicher Bedeutung. Festzu-
stellen ist, dass seit In-Kraft-Treten des Transsexuellen-
rechts im Jahr 1980 neue wissenschaftliche Erkenntnisse
gewonnen werden konnten. So wird zum Beispiel ein
operativer Eingriff für die Änderung der Geschlechtszu-
gehörigkeit in der Fachwissenschaft zunehmend als pro-
blematisch beziehungsweise nicht mehr für haltbar er-
achtet.
Viele Transsexuelle wollen die Identität des anderen
Geschlechts annehmen, scheuen aber die operative Ge-
schlechtsangleichung und somit den Eingriff in ihre kör-
perliche Unversehrtheit. Deshalb wählen sie die so ge-
nannte „Kleine Lösung“, das heißt, sie lassen ihren
Vornamen ändern und drücken damit die Zugehörigkeit
zu dem Geschlecht aus, mit dem sie sich identifizieren.
Damit beginnen die Probleme, denn eine Änderung
des Vornamens beinhaltet nach geltendem Recht keine
Personenstandsänderung. So findet sich zum Beispiel im
Reisepass ein weiblicher Vorname zu einem männlichen
Geschlecht. Das Problem ist deshalb akut, da zum Bei-
spiel die USA keine vorläufigen Reisepässe, in denen
das Geschlecht nicht angegeben war, nicht mehr aner-
kennen. Hinzu kommt, dass vorläufige Reisepässe ohne
Geschlechtsangabe seit dem 31. Dezember 2005 nicht
mehr ausgestellt werden. Damit ist den Transsexuellen
auch dieser Weg versperrt. Dieser Widerspruch in den
Reisedokumenten kann bei der Grenzabfertigung zu Dis-
kriminierungen und gegebenenfalls zu Einreiseverwei-
gerungen des Betroffenen führen. Die Reisefreiheit der
Transsexuellen, die die „Kleine Lösung“ für sich ge-
wählt haben, wird in unzulässigerweise eingeschränkt.
Aber auch in Hotels oder Banken, wo Ausweise vor-
gelegt werden müssen, kann der Widerspruch zwischen
Geschlecht, Vornamen und äußerem Erscheinungsbild
zu großen Schwierigkeiten führen. Deshalb unterstützt
die SPD-Bundestagsfraktion das Anliegen der Trans-
sexuellen auf Ausstellung widerspruchsfreier Pässe bei
der „Kleinen Lösung“.
Da das Bundesinnenministerium bereits eine zeitnahe
Änderung des Passgesetzes in Aussicht gestellt hat, in
dem auch weitere Fragen behandelt werden sollen, greift
der FDP-Gesetzentwurf zur Änderung des Passgesetzes
einem umfassenden Gesetzgebungsverfahren vor und ist
somit hinfällig.
Aber auch in Deutschland gibt es Probleme: Heiratet
ein Mann, der transsexuell ist und seinen Vornamen in ei-
nem weiblichen geändert hat, eine Frau, so wird ihm der
weibliche Vorname aberkannt, weil sonst eine gleichge-
schlechtliche Ehe, nicht Lebenspartnerschaft, zugestanden
würde. Damit werden seine Persönlichkeitsrechte verletzt.
Dieses hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss
vom 6. Dezember 2005 als verfassungswidrig eingestuft.
Deshalb besteht hier Handlungsbedarf.
Die weiteren Forderungen des Schwulen- und Les-
benverbandes Deutschlands und von Bündnis 90/Die
Grünen in dem vorliegenden Antrag sind unter anderen
die Absenkung der Anforderungen für die so genannte
„Kleine Lösung“, der Wegfall der Bedingung eines ope-
rativen Eingriffs als Voraussetzung für eine Personen-
standsänderung, die Anwendung des Transsexuellen-
rechts auch auf alle Ausländer, die ihren Wohnsitz oder
regelmäßigen Aufenthalt in Deutschland haben und die
Umwandlung einer Ehe in eine Lebenspartnerschaft auf
Wunsch der Eheleute bei einer Geschlechtsumwandlung.
Diese Anliegen der Transsexuellen sind in einem anste-
henden Gesetzgebungsverfahren eingehend zu prüfen.
Deshalb fordern meine Fraktion und ich die Bundes-
regierung auf, den notwendigen Gesetzentwurf zur
Überarbeitung des Transsexuellenrechts unverzüglich
vorzulegen, damit das geltende Transsexuellenrecht, das
in Teilen vom Bundesverfassungsgericht als verfas-
sungswidrig eingestuft wurde, an die neuen Anforderun-
gen angepasst wird. Des Weiteren fordern wir die Bun-
desregierung auf, die Ausstellung widerspruchsfreier
Reisedokumente für Transsexuelle sicherzustellen.
Da der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einem ge-
ordneten und umfassenden Gesetzgebungsverfahren vor-
greift, lehnen wir diesen Antrag ab.
Jörg van Essen (FDP): Es ist lange her, dass sich
der Deutsche Bundestag in einer Plenardebatte mit dem
Transsexuellenrecht befasst hat. Es wäre der Sache sehr
angemessen gewesen, wenn wir hierzu eine lebendige
Debatte im Plenum gehabt hätten. Ich bedaure daher au-
ßerordentlich, dass die Debatte an einem so ungünstigen
und späten Termin stattfindet.
Das Thema, mit dem wir uns heute zu befassen ha-
ben, ist für die FDP keineswegs ein Randthema. Die In-
teressen von transsexuellen Menschen sind für uns sehr
wichtig. Es war daher auch die FDP, die zum Trans-
sexuellenrecht in den vergangenen Jahren immer wieder
parlamentarische Initiativen und Anfragen an die Bun-
desregierung gestartet hat. Das Transsexuellengesetz ist
seit dem In-Kraft-Treten am 1. Januar 1981 nicht mehr
geändert worden. Es ist daher allgemeine Meinung, dass
das Gesetz nun nach 26 Jahren dringend der Reform be-
darf.
In den vergangenen Jahren hat sich aufgrund von wis-
senschaftlichen Untersuchungen und Erfahrungsberich-
ten der Kenntnisstand über das Leben transsexueller
Menschen wesentlich vergrößert. Das Transsexuellenge-
setz ist daher in der Vergangenheit von den Verbänden,
von Sachverständigen und Betroffenen oft kritisiert und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4211
(A) (C)
(B) (D)
Reformbedarf angemahnt worden. Insbesondere die
lange Verfahrensdauer, Anzahl und Qualität der zu er-
stellenden Sachverständigengutachten, aber auch die ge-
richtliche Feststellung der Zugehörigkeit zum anderen
Geschlecht und das Fehlen einer begleitenden psycho-
therapeutischen Behandlung werden von den Betroffe-
nen wiederholt als vorrangig reformbedürftig dargestellt.
Hoffnung kam auf, als das Bundesministerium des In-
nern im Jahr 2000 die Verbände der Betroffenen und
Sachverständige um Stellungnahme zu den Erfahrungen
mit dem Transsexuellengesetz gebeten hat. Mit Span-
nung wurde die Auswertung dieser Befragung erwartet.
Bis zum heutigen Tage liegt sie jedoch nicht vor.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat es immer außeror-
dentlich bedauert, dass die rot-grüne Bundesregierung in
den vergangenen sieben Jahren ihrer Regierungszeit un-
tätig geblieben ist und keinerlei Anstrengungen unter-
nommen hat, das Transsexuellengesetz zu reformieren
und damit die Situation der Betroffenen erträglicher zu
machen. Die Antworten der rot-grünen Bundesregierung
auf die Anfragen der FDP waren stets ernüchternd. Die
FDP-Bundestagsfraktion begrüßt es daher, dass bei
Bündnis 90/Die Grünen endlich ein Umdenken stattge-
funden hat, und sie mit ihrem Antrag zum Transsexuel-
lenrecht nun auch Reform- und Handlungsbedarf erken-
nen.
Die FDP-Bundestagsfraktion legt zur heutigen
Debatte einen Gesetzentwurf zur Änderung des Passge-
setzes vor. Damit wollen wir erreichen, dass künftig si-
chergestellt wird, dass bei Transsexuellen die Ge-
schlechtsangabe in Reisepässen dem Geschlecht des
Vornamens angepasst wird. Wir nehmen damit eine For-
derung auf, die von transsexuellen Männern und Frauen
in den vergangenen Jahren immer wieder erhoben wurde
und von den Betroffenen als prioritär bezeichnet wurde.
Transsexuelle, die sich für die so genannte kleine Lö-
sung entschieden und keine Veränderung ihrer äußeren
Geschlechtsmerkmale vorgenommen haben, können
eine personenstandsrechtliche Änderung ihres Ge-
schlechts nicht beantragen. Sie haben aber die Möglich-
keit, ihren Vornamen ändern zu lassen. Dies führt dazu,
dass Name und Geschlecht in Widerspruch zueinander
stehen. Eine Identität zwischen Name, Geschlecht und
äußerem Erscheinungsbild ist nicht gegeben. Dies führt
immer wieder dazu, dass insbesondere bei Auslandsrei-
sen Transsexuelle vielfältigen Diskriminierungen ausge-
setzt sind, da in ihrem Pass ein Geschlecht angegeben
ist, das nicht ihrer empfundenen Geschlechtszugehörig-
keit entspricht. Dieser Zustand muss umgehend beseitigt
werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem beach-
tenswerten Beschluss vom Dezember letzten Jahres ent-
scheidende Vorschriften des Transsexuellengesetzes für
verfassungswidrig erklärt und eine Reform des Trans-
sexuellengesetzes angemahnt. In dem Beschluss hat das
Gericht in beeindruckender Klarheit ausgeführt, dass
sich die in dem Transsexuellengesetz zugrunde liegen-
den Annahmen über die Transsexualität inzwischen in
wesentlichen Punkten als wissenschaftlich nicht mehr
haltbar erwiesen haben.
Das Gericht kommt insbesondere zu einer Neubewer-
tung der Situation von Transsexuellen, die sich für die
„kleine Lösung“ entschieden haben. Das Gericht erteilt
der These, wonach die „kleine Lösung“ für einen Trans-
sexuellen nur ein Durchgangsstadium zur „großen
Lösung“ sei, eine klare Absage. Das Bundesverfassungs-
gericht sieht daher für eine unterschiedliche personen-
standsrechtliche Behandlung von Transsexuellen mit
und ohne Geschlechtsumwandlung keine haltbaren
Gründe mehr.
Zur Lösung des Problems legt das Gericht dem Ge-
setzgeber ausdrücklich nahe, das Personenstandsrecht
dahin gehend zu ändern, dass ein bei einer nachgerichtli-
chen Prüfung gemäß den §§ 1 ff. des Transsexuellenge-
setzes anerkannter Transsexueller ohne Geschlechts-
umwandlung rechtlich dem von ihm empfundenen
Geschlecht zugeordnet wird. Dies wird mit der vorge-
schlagenen Änderung im Passgesetz erreicht. Auch die
Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Kleine
Anfrage erst kürzlich erklärt, dass Transsexuelle die
gleichen Möglichkeiten zu Auslandsreisen ohne Diskri-
minierungen erhalten müssen wie alle anderen Bürger
auch. Erst vor wenigen Tagen hat sich auch der Peti-
tionsausschuss des Deutschen Bundestages für eine ent-
sprechende Änderung des Passgesetzes ausgesprochen.
Wir möchten sicherstellen, dass Transsexuelle gesell-
schaftlich und rechtlich entsprechend der neuen ge-
schlechtlichen Identität behandelt werden. Die FDP
weist ausdrücklich darauf hin, dass eine isolierte Ände-
rung des Passgesetzes auf keinen Fall ausreichend ist. Pa-
rallel hierzu brauchen wir eine Gesamtreform des Trans-
sexuellengesetzes. Ich fordere die Bundesregierung auf,
den Handlungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts
ernst zu nehmen und dem Deutschen Bundestag umge-
hend einen Gesetzentwurf vorzulegen. Äußerungen aus
dem Bundesinnenministerium aus jüngster Zeit geben
wenig Anlass zur Hoffnung, dass dieses Problem dort
ernst genommen wird. Die Bundesregierung war bisher
nicht bereit, einen Zeitpunkt zu nennen, wann mit einem
solchen Gesetzentwurf zu rechnen ist. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion wird daher nicht nachlassen in ihrer Forde-
rung nach einer Reform des Transsexuellengesetzes.
Ich würde mich sehr freuen, wenn endlich auch die
Koalitionsfraktionen bereit wären, anzuerkennen, dass
der Gesetzgeber in dieser wichtigen Frage der Gesell-
schaftspolitik nicht weiter untätig bleiben darf. Ich ap-
pelliere an die anderen Fraktionen, dieses Thema nicht
zum Gegenstand von parteipolitischen Auseinanderset-
zungen zu machen. Das Thema und die berechtigten In-
teressen der Betroffenen sind dafür zu ernst. Es wäre der
Sache dienlich, wenn wir gemeinsam zu einer vernünfti-
gen, sachgerechten und vor allem zeitnahen Lösung
kommen würden.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Das Transsexuellenrecht muss grundlegend
reformiert werden. Ziel der Reform muss sein, trans-
sexuellen Menschen in Deutschland ein selbstbestimm-
tes Leben in Würde zu ermöglichen. Es geht um eine
kleine Gruppe von Menschen. Die Probleme, die ihnen
das geltende Recht bereitet, sind dagegen ziemlich groß.
4212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Bei seiner Einführung 1981 hatte das Transsexuellenge-
setz große Fortschritte gebracht. Viele seiner Regelungen
entsprechen aber nicht mehr dem heutigen sexualwissen-
schaftlichen Kenntnisstand. Auch das Bundesverfassungs-
gericht hat im Dezember 2005 festgestellt:
Die dem Transsexuellengesetz zugrunde liegenden
Annahmen über die Transsexualität haben sich in-
zwischen in wesentlichen Punkten als wissenschaft-
lich nicht mehr haltbar erwiesen.
Was ist zu tun? Die Zugangsvoraussetzungen für das
Transsexuellengesetz müssen deutlich liberalisiert wer-
den. Das gilt sowohl für die Annahme eines Vornamens
des anderen Geschlechts, die so genannte kleine Lösung,
als auch für die personenstandsrechtliche Änderung des
Geschlechts, die so genannte große Lösung. Das auf-
wendige Gutachterwesen muss reformiert, bürokratische
Hemmnisse müssen beseitigt werden. Der Gesetzgeber
darf transsexuelle Menschen für eine Personenstandsän-
derung nicht mehr auf den Operationstisch zwingen,
wenn sie darin für sich keine Notwendigkeit sehen. Das
Recht muss Menschen unterstützen, selbstbestimmt ihrer
Identität gemäß zu leben, anstatt sie in bürokratische
Raster zu pressen.
Ein weiterer wichtiger Bereich: Transsexuellen muss
es ermöglicht werden, eine rechtlich abgesicherte Part-
nerschaft mit der Partnerin bzw. dem Partner ihrer Wahl
zu führen. Das hat das Bundesverfassungsgericht klarge-
stellt. Es kann auch nicht sein, dass verheiratete Trans-
sexuelle, die sich für eine personenstandsrechtliche Än-
derung des Geschlechts entscheiden, von Staats wegen
zur Scheidung gezwungen werden, wenn die Partner zu-
sammenbleiben wollen. Uns müssen doch die Persön-
lichkeitsrechte, der Schutz des Privatlebens dieser Paare
wichtiger sein als Prinzipienreiterei.
Zudem müssen auch Transsexuelle mit der kleinen
Lösung die gleichen Möglichkeiten zu Auslandsreisen
ohne Diskriminierungsgefahr erhalten wie alle anderen
Bürgerinnen und Bürger. Das neuerdings geltende Pass-
recht zwingt Transsexuelle, die ihren Vornamen nach
dem Transsexuellengesetz geändert haben, mit einem
Geschlechtseintrag im Reisepass zu reisen, der weder ih-
rer Identität noch ihrem Erscheinungsbild entspricht.
Damit sind entwürdigende Diskriminierungen bei
Grenzkontrollen vorprogrammiert. Die Bundesregierung
hat auf unsere Anfrage hin vage in Aussicht gestellt, hier
irgendwann etwas im Passrecht zu tun. Übergangsrege-
lungen hat sie aber abgelehnt.
Aber was ist mit Menschen, die noch dieses Jahr eine
Geschäftsreise unternehmen müssen? Was ist mit Men-
schen, die in dringenden Familienangelegenheiten ins
Ausland reisen müssen? Sollen sie warten, bis sich die
Bundesregierung sich dazu bequemt, endlich die Hürden
für Transsexuelle zu beseitigen? Oder sollen sie Gefahr
laufen, bei der Einreise peinlich befragt oder gar am
Flughafen zurückgewiesen zu werden? Hier muss sofort
etwas geschehen.
Es gibt mittlerweile eine ganze Sammlung von Ver-
fassungsgerichtsurteilen, die für die Persönlichkeits-
rechte der Betroffenen und gegen Restriktionen im
Transsexuellengesetz Stellung bezogen haben. Eine wei-
tere Entscheidung zum Scheidungszwang für verheira-
tete Personen, die eine Personenstandsänderung vorneh-
men wollen, steht an. Wir sollten als Gesetzgeber nicht
immer auf das Verfassungsgericht warten, sondern nun
selbst eine grundlegende Überarbeitung in Angriff zu
nehmen.
Der frühere Innenminister konnte sich für dieses
Thema nie erwärmen und hat alle Reformvorstöße abge-
wimmelt. Wir Grüne konnten bei der Einführung des Le-
benspartnerschaftsgesetzes aber immerhin das Ansinnen
des Bundesinnenministers abwehren, die vom Verfas-
sungsgericht im Dezember 2005 hinsichtlich der Ehe für
verfassungswidrig erklärte Regelung zum geänderten
Vornamen auf das Lebenspartnerschaftsgesetz zu über-
tragen. Das hat dann zumindest für heterosexuelle Trans-
gender mit der kleinen Lösung einen gewissen Fort-
schritt gebracht. Jetzt muss ein großer Wurf folgen, die
umfassende Neugestaltung des Transsexuellenrechts.
Die jetzige Bundesregierung sah sich auf unsere An-
frage hin nicht in der Lage, einen Zeitpunkt für die Ein-
bringung eines Gesetzentwurfes zur Änderung des
Transsexuellengesetzes zu nennen. Begründet wurde
dies mit der Belastung des zuständigen Referats im Bun-
desministerium des Inneren mit der Reform des Perso-
nenstandsrechts.
Bei allem Verständnis für dessen Nöte: Es kann den
transsexuellen Bürgerinnen und Bürgern doch nicht zu-
gemutet werden, über die weitere Zukunft des Trans-
sexuellengesetzes möglicherweise über Jahre hinweg im
Unklaren gelassen zu werden. Es handelt sich hier
schließlich für die betroffenen Menschen um lebensprä-
gende Sachverhalte, die ihre Persönlichkeitsrechte im
Kern berühren. Verzögerungen können für sie verlorene
Lebensjahre bedeuten.
Auch im Petitionsausschuss gibt es zahlreiche Einga-
ben zum Transsexuellenrecht, die zeigen, wie notwendig
eine Reform ist. Erst letzte Woche hat der Petitionsaus-
schuss einstimmig zwei Eingaben von Transsexuellen
zur Partnerschaftsregelung und zum Passrecht unter-
stützt. Das ist ein wichtiges Signal. Ich hoffe sehr, dass
wir im Parlament einvernehmlich zu einer raschen Re-
form des Transsexuellengesetzes kommen. Mit unserem
Antrag wollen wir hierzu den Anstoß geben.
Anlage 29
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Entwürfe:
– Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts
– Erstes Gesetz zur Änderung des Unterhalts-
vorschussgesetzes
(Tagesordnungspunkt 26 a und b)
Ute Granold (CDU/CSU): Wir haben bereits in der
vergangenen Legislaturperiode über die Reform des Un-
terhaltsrechts diskutiert. Wegen der vorgezogenen Neu-
wahlen konnte aber der im Mai 2005 erstmals vorgelegte
Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums nicht
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4213
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(B) (D)
weiter verfolgt werden. Die Fraktionen von CDU/CSU
und SPD haben sich im Koalitionsvertrag dazu ver-
pflichtet, die Situation von Familien mit Kindern weiter
zu verbessern. Kinder sollen beim Unterhalt an erster
Stelle stehen. Die Eigenverantwortung nach der Ehe soll
gestärkt und eine Harmonisierung der Steuer- und so-
zialrechtlichen Bestimmungen angestrebt werden.
Auf der Grundlage des Referentenentwurfs ist unter
diesen Vorgaben der Entwurf für das Unterhaltsände-
rungsgesetz erarbeitet worden. Die gesellschaftliche Re-
alität von Ehe und Familie hat sich in den vergangenen
Jahren, vor allem im großstädtischen Milieu, wesentlich
verändert. Die Zahl der Scheidungen steigt von Jahr zu
Jahr. Viele dieser Ehen werden schon nach relativ kurzer
Dauer geschieden, etwa 50 Prozent davon sind kinder-
los. Außerdem hat sich die Rollenverteilung in der Ehe
mehr und mehr verändert. Immer häufiger bleiben beide
Partner – auch nach der Geburt der Kinder – berufstätig
oder nehmen ihren Job nach einer erziehungsbedingten
Pause wieder auf.
Doch neben dieser noch relativ „klassischen“ Famili-
enstruktur haben sich zunehmend neue Familienformen
herausgebildet. Immer mehr Kinder leben in nicht eheli-
chen Lebensgemeinschaften oder bei einem allein erzie-
henden Elternteil. So haben etwa ein Drittel der über
zwei Millionen „ohne Trauschein“ zusammenlebender
Paare Kinder. Da immer häufiger kurze Ehen geschieden
werden, kommt es nach der Scheidung zur Gründung
von „Zweitfamilien“, was durch die unzureichenden Re-
gelungen des derzeitigen Unterhaltsrechts oft soziale
Notlagen zur Folge hat.
Mit diesem gesellschaftlichen Wandel ist auch ein
Wertewandel verbunden: Der schon heute im Gesetz
verankerte Grundsatz der Eigenverantwortung nach der
Ehe stößt vor diesem Hintergrund auf eine immer grö-
ßere Akzeptanz. Es besteht Konsens, dass die Kinder als
„schwächstes Glied in der Kette“ eines besonderen
Schutzes bedürfen, da sie, anders als Erwachsene, nicht
selbst für ihren Unterhalt sorgen können.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich neue Herausfor-
derungen und Zielsetzungen für den Gesetzgeber. Eine
nachhaltige und verantwortungsvolle Familienrechtspo-
litik muss sich sowohl den gesellschaftlichen Verände-
rungen als auch den gewandelten Wertvorstellungen
stellen. Leitlinien einer solchen Politik müssen zum ei-
nen die verfassungsrechtlich gebotene Gleichberechti-
gung von ehelichen und nicht ehelichen Kindern und
zum anderen der durch unsere Verfassung garantierte be-
sondere Schutz der Ehe sein.
Zusätzlicher Handlungsdruck ergibt sich für den Ge-
setzgeber aus der Tatsache, dass die Gerichte die Ge-
setze bereits heute weit auslegen müssen, um in allen
Fällen sachgerechte Lösungen zu finden. Die Rechtspre-
chung, insbesondere auch die des Bundesverfassungsge-
richtes, hat uns inzwischen eingeholt und eine Reihe
wegweisender Urteile in Richtung der heute diskutierten
Reform gefällt. So wird auch in Kürze damit gerechnet,
dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber in
der Frage der Benachteiligung von nicht ehelichen Kin-
dern bei der Dauer des Betreuungsunterhalts zu Neure-
gelungen verpflichten wird, da die bisherige Regelung in
ihrer Reichweite wohl nicht verfassungskonform ist.
Der jetzige Gesetzentwurf zur Neuregelung des Un-
terhaltsrechts verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: die
Förderung des Kindeswohls, die Stärkung der Eigenver-
antwortung nach der Ehe und die Vereinfachung des Un-
terhaltsrechts.
Das Kindeswohl steht im Mittelpunkt der Reform und
ist der Grund für die rechtspolitisch wichtigste Änderung:
die Neuregelung der Rangfolge im Mangelfall. Künftig
konkurrieren im ersten Rang die minderjährigen und auch
die ihnen gleichgestellten, noch in der allgemeinen
Schulausbildung befindlichen volljährigen Kinder nicht
mehr mit den Ehegatten. Vielmehr hat der Kindesunter-
halt Vorrang vor allen anderen Unterhaltsansprüchen. Da
Kinder, anders als Erwachsene, keine Möglichkeit haben,
selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, ist ihnen am wenigs-
ten zuzumuten, auf ergänzende Sozialleistungen ange-
wiesen zu sein.
Im zweiten Rang finden sich dann alle Kinder betreu-
enden Elternteile – unabhängig davon, ob sie verheiratet
sind oder waren und ob sie das Kind alleine oder ge-
meinsam erziehen. Durch diese Neuregelung werden
demnach jeder Ehegatte und auch nicht verheiratete El-
tern hinsichtlich ihres Ranges gleichbehandelt, sofern sie
ein Kind betreuen.
Ebenso schutzbedürftig ist aber auch der Ehegatte bei
längerer Ehedauer im Hinblick auf seine weiteren Unter-
haltsansprüche. Auch er findet sich daher im zweiten
Rang. Dabei wird das Kriterium „Ehe von langer Dauer“
bewusst nicht näher konkretisiert, um den Gerichten in
kritischen Verteilungs- bzw. Konkurrenzfällen ein Kor-
rektiv zur Verfügung zu stellen und damit eine Grund-
lage für Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Weniger So-
lidarität kann dagegen der Ehegatte verlangen, der nur
kurz verheiratet war und keine Kinder zu betreuen hat.
Folglich steht dieser entsprechend im dritten Rang. Bei
der weiteren Rangfolge ergeben sich gegenüber dem gel-
tenden Recht im Wesentlichen keine Veränderungen.
Im Übrigen geht es bei der Neufassung auch darum,
die mit der geltenden Rechtslage verbundene Benachtei-
ligung der nicht ehelichen Kinder ein Stück weit abzu-
bauen. Das in diesem Zusammenhang in Kürze erwar-
tete Urteil des Bundesverfassungsgerichtes habe ich
bereits erwähnt. Bisher wird den nicht ehelichen Kin-
dern zugemutet, dass ihre Mütter bereits nach dem drit-
ten Lebensjahr wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen
müssen, während geschiedene Mütter ihre Kinder deut-
lich länger betreuen können. Unter dem Aspekt des Kin-
deswohls klafft hier die „Schere“ zwischen geschiede-
nen und nicht verheirateten Elternteilen zu weit
auseinander. Diese Schere gilt es im Interesse der Kinder
ein Stück weit zu schließen.
Eine weitere wesentliche Neuerung zum Wohl des
Kindes ist die gesetzliche Definition des Mindestunter-
halts minderjähriger Kinder. Durch die Bezugnahme auf
den Kinderfreibetrag aus dem Einkommensteuerrecht
wird nicht nur die dringend notwendige weitgehende
Harmonisierung mit dem Steuerrecht erreicht, sondern
4214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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(B) (D)
auch die von Bundestag und Bundesverfassungsgericht
geforderte Normenklarheit geschaffen. In einem paralle-
len Gesetzgebungsverfahren wird das Unterhaltsvor-
schussgesetz entsprechend angepasst werden. Die geän-
derte Rangfolge und die Normenklarheit beim
Mindestunterhalt sind zusammengenommen ein wichti-
ger Schritt, um die Akzeptanz von Unterhaltszahlungen
an die Kinder zu erhöhen und somit das zentrale Ziel der
Reform zu erreichen.
Die nacheheliche Eigenverantwortung wird durch den
Entwurf ebenfalls in mehrfacher Hinsicht gestärkt. Das
Unterhaltsrecht darf kein bestimmtes Ehebild vorgeben.
Die Ehegatten sind in der Ausgestaltung der Ehe und der
Wahl der Rollenverteilung frei und durch Art. 6 GG um-
fassend geschützt. Aus diesem Grundgesetzartikel ergibt
sich aber auch eine fortwirkende nacheheliche Solidari-
tät, die sich im Unterhaltsrecht des BGB widerspiegelt.
Dieser verfassungsrechtliche Rahmen lässt dem Gesetz-
geber durchaus Spielräume, um gesellschaftlichen Ver-
änderungen Rechnung zu tragen. In diesem Punkt sieht
der aktuelle Gesetzentwurf eine wichtige Neuerung vor,
der für die allgemeine Akzeptanz des Unterhaltsrechts in
der Bevölkerung von großer Bedeutung ist. So fasst der
Gesetzentwurf den Grundsatz der Eigenverantwortung
neu und eindeutiger. Dies wird sich insbesondere auf die
nun engere Auslegung der Unterhaltstatbestände und das
bisher pauschal angewendete „Altersphasenmodell“
beim Betreuungsunterhalt auswirken.
Flankiert wird diese Maßnahme durch eine ver-
schärfte Anforderung an die Wiederaufnahme einer Er-
werbstätigkeit. Nach der geltenden Rechtslage kann es
dem geschiedenen Ehegatten oft nicht zugemutet wer-
den, in eine früher ausgeübte Erwerbstätigkeit zurückzu-
kehren. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen
Wandels ist dies gerade bei kürzeren Ehen für den Unter-
haltspflichtigen nicht zumutbar. Trotzdem bleiben nach
dem Gesetzentwurf die ehelichen Lebensverhältnisse als
Korrektiv erhalten. Dem Richter bleibt also auch hier ein
Spielraum, im Einzelfall die Zumutbarkeitskriterien für
eine eigene Erwerbstätigkeit des geschiedenen Ehegat-
ten höher zu setzen. Die nacheheliche Eigenverantwor-
tung wird zusätzlich durch die Einführung einer neuen,
alle Unterhaltsansprüche erfassenden Billigkeitsrege-
lung gestärkt, nach der Unterhaltsansprüche in Bezug
auf Höhe und Dauer beschränkt werden können. Um
Härtefälle bei bereits geschiedenen Ehen zu vermeiden,
sind entsprechende Übergangsregelungen vorgesehen.
Der Grundsatz der Vereinfachung des Unterhalts-
rechts ist bei der vorgesehenen Vereinfachung der Anre-
chung des Kindergeldes besonders deutlich zu erkennen.
Die neue Regelung der Kindergeldverrechnung weist
das Kindergeld unterhaltsrechtlich dem Kind zu. Das
Kindergeld wird also von vornherein bedarfsmindernd
berücksichtigt. In der Folge erhöht sich dann durch das
Kindergeld der Betrag, der zur Bedarfsdeckung zur Ver-
fügung steht. Dies wird den künftig im zweiten Rang
Berechtigten zugute kommen. Auf diesem Weg gelingt
es uns, die negativen Auswirkungen auf das Realsplit-
ting zum größten Teil zu kompensieren, die sich sonst
aus der Neuordnung der Rangverhältnisse ergeben wür-
den.
Die weitere Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit
dem Steuer- und Sozialrecht, die auch vom Bundesver-
fassungsgericht eingefordert worden ist, muss nun in den
nächsten Schritten erfolgen. Wir sollten die jetzige Re-
form nicht überfrachten und zunächst das Wichtigste auf
den Weg bringen. Das ist mit diesem Gesetzentwurf ge-
währleistet.
Vor diesem Hintergrund hoffe ich auf konstruktive
Beratungen und vertraue darauf, dass es uns gelingen
wird, diese für die Betroffenen so wichtige Reform zü-
gig zu verabschieden.
Christine Lambrecht (SPD): Das Recht des nach-
ehelichen Unterhalts gilt seit 1977 fast unverändert. Es
steht nun vor einer grundlegenden Überarbeitung, die
vor dem Hintergrund sich seitdem rasant gewandelter
gesellschaftlicher Verhältnisse dringend notwendig ist;
denn es regelt einen zentralen Aspekt familiärer Verant-
wortung. Steigende Scheidungszahlen, die vermehrte
Gründung von Zweitfamilien nach einer gescheiterten
Ehe und die zunehmende Zahl von Kindern, deren Eltern
in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft leben oder
allein erziehend sind, zeigen ein verändertes Bild fami-
liärer Realität.
Des Weiteren zeigen auch das geänderte Rollenver-
ständnis und die steigende Zahl von Mangelfällen, in de-
nen das Einkommen des Unterhaltspflichtigen nicht
mehr für alle Unterhaltsberechtigten reicht, dass die Zeit
für eine Überarbeitung des Unterhaltsrechts gekommen
ist. Insbesondere ist dabei an die Situation der unter-
haltsbedürftigen minderjährigen Kinder angesichts der
alarmierenden Tatsache, dass heute fast 40 Prozent aller
Sozialhilfeempfänger Kinder sind, zu denken. Eine Re-
form des Unterhaltsrechts ist daher sehr zu begrüßen.
Das Unterhaltsrecht muss aus den gesellschaftlichen
Veränderungen Konsequenzen ziehen. Wir brauchen
mehr Verteilungsgerechtigkeit im Mangelfall. Wir müs-
sen die Abhängigkeit der Kinder von Sozialhilfe und an-
deren staatlichen Transferleistungen verringern.
Der Regierungsentwurf zur Änderung des Unterhalts-
rechts sieht vor allem drei Ziele vor: Förderung des Kin-
deswohls, Stärkung der nachehelichen Eigenverantwor-
tung und Vereinfachung des Unterhaltsrechts. Zur
Stärkung des Kindeswohls soll die unterhaltsrechtliche
Rangfolge geändert werden. Dahinter steht zu Recht der
Gedanke, dass die Akzeptanz der Unterhaltspflicht ge-
genüber eigenen Kindern höher ist als die Akzeptanz
von Zahlungen an den früheren Partner. So sieht das Ge-
setz vor, dass der Kindesunterhalt zukünftig Vorrang vor
allen anderen Unterhaltsansprüchen hat. Dies gilt für den
Unterhalt von minderjährigen Kindern und von volljäh-
rigen unverheirateten Kindern bis zu 21 Jahren, die im
elterlichen Haushalt leben und noch zur Schule gehen.
Im Interesse der Kinder stehen gleichfalls alle diejenigen
Personen im zweiten Rang gleichberechtigt nebeneinan-
der, die ein Kind betreuen und aus diesem Grunde unter-
haltsbedürftig sind. Nur dann, wenn die Ehe von langer
Dauer ist oder war, befindet sich auch der Ehegatte mit
seinen sonstigen Unterhaltsansprüchen im zweiten
Rang. Dies ist bedeutend, um Partner einer langjährigen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4215
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Ehe einen entsprechenden Unterhalt zu gewährleisten.
Der Gesetzentwurf trägt damit zugleich auch dem
Schutz der Ehe Rechnung. Die Zahl der Kinder, die so-
zialhilfebedürftig sind, weil Erwachsene vorrangig un-
terhaltsberechtigt sind, wird durch diese Neuregelung
künftig sinken.
Darüber hinaus soll auch die Situation der unter be-
sonderer Belastung stehenden allein erziehenden, nicht
verheirateten Eltern verbessert werden. Diese sollen den
Betreuungsunterhalt unter leichteren Voraussetzungen
auch noch über das dritte Lebensjahr des betreuten Kin-
des hinaus bekommen. Auch im Interesse der Kinder
würden damit nicht verheiratete Mütter besser als bis-
lang gestellt.
Der Mindestunterhalt soll zudem in Anlehnung an
den steuerlichen Freibetrag für das sächliche Existenz-
minimum eines Kindes gesetzlich definiert werden. Dies
bringt zum einen Klarheit für die betroffenen Familien
und führt zum anderen zu einer Harmonisierung von Un-
terhalts-, Steuer- und Sozialrecht bei der Bestimmung
des Mindestbedarfs von Kindern. Zusätzlich wird end-
lich die unterschiedliche Höhe der Unterhaltsansprüche
von Kindern in Ost und West abgeschafft. Die Neurege-
lung der Kindergeldverrechnung, wonach das Kinder-
geld bereits bei der Ermittlung des Bedarfs des Kindes
berücksichtigt wird, ordnet die Kindergeldleistung im
Ergebnis zweckentsprechend den Kindern zu und führt
ebenfalls zu einer wesentlichen Vereinfachung der Un-
terhaltsberechnung. Die Regelbetrag-Verordnung ent-
fällt völlig.
Der Entwurf stärkt schließlich die nacheheliche Ei-
genverantwortung und verankert diese im Gesetz durch
die Schaffung einer neuen, alle Unterhaltstatbestände er-
fassenden Möglichkeit, Unterhaltsansprüche in Bezug
auf die Höhe oder den Unterhaltszeitraum zu beschrän-
ken. Dies gilt etwa dann, wenn der Unterhaltsberechtigte
mit einem neuen Partner in einer verfestigten Lebens-
partnerschaft lebt. Zugleich werden die Anforderungen
an die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der
Scheidung verschärft. Für Geschiedene soll damit darauf
hingewirkt werden, dass sich diese nach der Scheidung
selbst wieder eine neue Perspektive verschaffen. Ge-
richte werden zugleich zur Abkehr vom starren Alters-
phasenmodell durch die stärkere Betonung der Eigenver-
antwortung im Hinblick auf den Betreuungsunterhalt des
geschiedenen Ehegatten angehalten. Hierbei ist jedoch
auch die konkrete Situation wie Ausbildung, Alter und
Möglichkeiten im Erwerbsleben zu berücksichtigen.
Um zu vermeiden, dass die notwendige Anpassung
des Unterhaltsvorschussgesetzes an die Unterhalts-
rechtsreform zu einem Absinken der Vorschüsse führt,
sieht der Gesetzentwurf Mindestbeträge auf dem Niveau
des bisherigen Unterhaltsvorschusses in den alten Bun-
desländen vor.
Ungeachtet aller Änderungen gilt aber: Das Unter-
haltsrecht muss in besonderem Maße dem Einzelfall ge-
recht werden und ein über Jahre gewachsenes Vertrauen
in die nacheheliche Solidarität schützen. In diesem Sinne
freue ich mich auf konstruktive Beratungen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Nicht nur aus Sicht der FDP, sondern auch nach den ei-
genen Worten der Bundesregierung und ihrer Vertreter
stellt die Reform des Unterhaltsrechts eine der wichtigs-
ten und dringendsten rechtspolitischen Reformen dieser
Wahlperiode dar. Nicht ohne Grund hat die FDP sowohl
in dieser, als auch bereits in der vergangenen Wahlperio-
de immer wieder auf diese wichtige Baustelle der
Rechts- und Gesellschaftspolitik aufmerksam gemacht.
Ich begrüße es, dass diese überfällige Reform nun
auch endlich dem Bundestag zu den Beratungen vorge-
legt wird. Umso enttäuschender und unverständlich ist
es jedoch, dass die Koalition dieser Reform so geringen
Stellenwert beimisst – oder wie erklären Sie sich die
Uhrzeit, zu der die erste Beratung angesetzt ist?
Hat nicht Herr Staatssekretär Hartenbach erst in der
Sitzung des Bundesrates am 19. Mai – also vor gut ei-
nem Monat – zu diesem Gesetzentwurf gesagt, dass
diese Reform nur akzeptiert werden kann, wenn das
neue Unterhaltsrecht von einer breiten Mehrheit getra-
gen wird? Wenn Ihnen die Reform und ihre gesellschaft-
liche Akzeptanz wichtig ist – warum scheuen Sie für die
erste Debatte der Unterhaltsreform das Tageslicht und
suchen die nachtschlafene Dunkelheit?
Die geplanten Änderungen im Unterhaltsrecht stellen
eine gute Grundlage für die parlamentarischen Beratun-
gen dar. Es hat jedoch lange gedauert, bis uns dieser Ent-
wurf nun zur Beratung vorgelegt wurde. Nach vielfachen
Ankündigungen und mehrfacher Vorlage von Eckpunk-
tepapieren aus dem Justizministerium zeigt sich, dass die
Bundesregierung immerhin einige der vielen Vorschläge
aufgegriffen hat, die wir als FDP bereits in der vergange-
nen und auch in dieser Legislaturperiode diesem Hohen
Hause vorgelegt haben:
Stärkung der Eigenverantwortung nach der Ehe und
das Kindeswohl in den Mittelpunkt der unterhaltsrechtli-
chen Reformüberlegungen zu stellen – dies hat die FDP
neben anderen Änderungen bereits 2004 vorgeschlagen!
Und erst ein halbes Jahr nach unserer Großen Anfrage
stellte Frau Zypries das erste Mal „ihre“ Eckpunkte zur
Reform vor. Teilweise Ähnlichkeiten der Vorlage von
Bundesjustizministerin Zypries zu unseren Initiativen
sind zu erkennen. Scheinbar hat die Regierung erkannt,
dass liberale Gedanken und Ansätze diese Reform ein
gutes Stück voranbringen. Leider fehlen noch einige
Punkte; dazu komme ich aber später.
Es geht bei dieser Reform aber nicht nur um Ände-
rungen, die an einigen Paragraphen des BGB vorgenom-
men werden. Es geht um sehr viel mehr. Es geht auch
um die Frage, wie der Gesetzgeber künftig seine Bilder
von Ehe und Familie, Solidarität und Eigenverantwor-
tung und dem Wohl von Kindern den gesellschaftlichen
Wandlungen anpassen und in familienrechtlichen und
gesellschaftspolitischen Entscheidungen Ausdruck ver-
leihen will.
Nehmen wir die Frage nach dem Bild der Ehe: Die
Gründe für die Eheschließung haben sich in den vergan-
genen Jahrzehnten gewandelt. Anfang des 20. Jahrhun-
derts musste kaum zwischen den verfassungsrechtlich
4216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
geschützten Institutionen der Ehe und der Familie unter-
schieden werden. Kinder wuchsen vornehmlich in der
Ehe auf. Der familiäre Verbund verschmolz in dieser
Zeit über die Beziehungen zwischen Vater, Mutter und
Kindern hinaus zu einer Erziehungs- und Wirtschaftsge-
meinschaft. Ehe und Familie standen im Zentrum der
Gesellschaft. Aus dieser Perspektive resultierte auch das
unter liberaler Hand Mitte der 90er-Jahre abgeschaffte
Stigma der Unehelichkeit. Vorher gab es nur schwarz
oder weiß, ehelich oder unehelich. Als bürgerlich ange-
sehen wurde nur, wer ehelich geboren war. Den außere-
helich Geborenen haftete die gesellschaftliche Missach-
tung an.
Eine entsprechende Konsequenz in der Anpassung
der Rechtslage an die tatsächliche gesellschaftliche und
gesellschaftspolitische Entwicklung erwarte ich jetzt von
der schwarz-roten Bundesregierung bei der Reform des
Unterhaltsrechts! Denn es hat sich einiges getan:
Die Ehe wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern
nur noch als eine der vielen möglichen Formen des Zu-
sammenlebens angesehen. Andere Lebensformen wie
ein Zusammenleben und Füreinander-Einstehen ohne
Trauschein in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft
oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft sind
heute gesellschaftlich akzeptiert. Fernbeziehungen über
mehrere hundert Kilometer gehören gerade in Zeiten der
Flexibilität am Arbeitsplatz zum Alltag vieler junger
Menschen.
Die Häufigkeit von anderen Lebensgemeinschaften
als der Ehe lässt sich auch mit Zahlen belegen: Seit 1996
ist die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften
um ein gutes Drittel angestiegen. In demselben Zeitraum
hat sich in den alten Bundesländern die Zahl der nicht-
ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern um fast
drei Viertel erhöht! Im März 2004 lebten in Deutschland
2,5 Millionen Alleinerziehende mit Kindern – und das
ist bereits jede fünfte Eltern-Kind-Gemeinschaft. Auch
Familien sind deutlich kleiner geworden; in der Mehr-
heit der jungen Familien leben ein oder maximal zwei
Kinder.
Das althergebrachte bürgerliche Modell der Ehe, bei
dem es primär um soziale und wirtschaftliche Faktoren
bei der Partnerwahl ging, hat ausgedient. Heute sind
emotionale Aspekte bei der Partnerwahl entscheidend.
Diese neue Partnerschaftlichkeit hat inzwischen auch
weitgehend das patriarchalische Ehe- und Familienbild
beseitigt. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist das
Bild des bestimmenden männlichen Oberhauptes der Fa-
milie überholt. Die vor allem von der Union häufig noch
wiederholten und empfohlenen Rollenmuster und Auf-
gabenverteilungen sind nicht mehr allgemeingültig!
Die schwarz-rote Koalition wird sich mit diesen ge-
sellschaftlichen Wandlungen auseinander setzen müs-
sen! Es hilft niemandem, wenn an dem alten Bild der
Ehe – wenn möglich auch noch der typischen Einverdie-
nerehe – festgehalten wird. Nicht nur die gesellschaftli-
che, sondern auch die Arbeitswelt ist mittlerweile eine
andere. Nicht selten arbeiten beide Ehepartner, wenn
auch zeitweise nur Teilzeit; Väter beginnen, sich um die
Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Auch die Hausar-
beit teilen sich bereits viele Paare – und das unabhängig
davon, ob sie verheiratet sind oder in so genannter wil-
der Ehe leben.
Aus liberaler Sicht müssen die gesetzlichen Rahmen-
bedingungen so ausgestaltet werden, dass jeder sein Le-
ben in Gemeinschaft mit anderen so ausgestalten kann,
wie er will. Kein Bürger darf in ein bestimmtes Modell
gezwungen werden.
Es ist zu begrüßen, dass sich in Parallelität zur Wand-
lung der Institution der Ehe auch das Familienbild wan-
delt. Denn Familie ist nicht nur in einer Ehe möglich.
Familie ist vielmehr überall dort, wo Kinder sind. Dies
muss auch der Schwerpunkt aller Überlegungen einer
Unterhaltsreform sein. Wir Liberale haben dies bereits
mit mehreren parlamentarischen Initiativen in der ver-
gangenen und der jetzigen Legislaturperiode immer wie-
der deutlich gemacht: Es darf in der anstehenden Reform
nicht darum gehen, Erwachsene in und nach einer ein-
mal „errungenen“ Ehe finanziell abzusichern. „Unterhalt
bis ins Grab“ darf in der heutigen Zeit nicht mehr Folge
des Jawortes bei der Eheschließung sein! In einer aufge-
klärten und selbstständigen Gesellschaft trägt jeder Er-
wachsene Verantwortung für sich und sein Tun. Dies be-
deutet für jeden Ehepartner, die eigenen Ziele und
Verantwortlichkeiten während einer Ehe nicht aus den
Augen zu verlieren.
Der Gesetzgeber ist nun gefordert, auf der einen Seite
die Eigenverantwortung in und nach der Ehe zu stärken
und auf der anderen Seite die Übernahme von Verant-
wortung bei der Erziehung und Betreuung von Kindern
zu fördern. Dies wird ein Schwerpunkt der Reform sein.
Wichtig ist aber auch, die familiären Verantwortlichkei-
ten von Alleinerziehenden, nicht miteinander verheirate-
ten Eltern und der Sandwichgeneration zu prüfen und
den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen anzu-
passen. Eltern muss es stets möglich sein, der Betreuung
von Kindern im erforderlichen Umfang einen wichtigen
Stellenwert beizumessen und trotzdem ihr eigenes Leben
weiterzuverfolgen. Hier werden wir insbesondere über
die Unterschiede bei den Unterhaltsansprüchen von be-
treuenden Elternteilen reden müssen; denn noch wird
sehr deutlich danach unterschieden, ob die Eltern verhei-
ratet waren oder ob das Kind aus einer nichtehelichen
Beziehung stammt.
Aus unserer Sicht ist die vorgeschlagene Gesetzesän-
derung ausgiebig zu diskutieren. Es ist in unser aller In-
teresse, und wir befürworten es, dass das Kindeswohl
und somit auch deren Anspruch auf Unterhalt, an erster
Stelle rangiert.
Aber schon im zweiten Rang, der den Unterhalt der
betreuenden Mutter sicherstellen soll, wird es unüber-
sichtlich. Zwar werden auch hier die Interessen des Kin-
des im Interesse einer erleichterten Betreuungsmöglich-
keit durch die Mutter in den Vordergrund gestellt. Diesen
gleichgestellt werden jedoch auch nur langjährig verhei-
ratete Ehefrauen. Mal abgesehen davon, dass der zu ver-
teilende Kuchen im zweiten Rang damit schon recht
dünn wird, wird der zu findende Ausgleich zwischen der
sich in Abhängigkeit befindlichen Ehefrau und dem Inte-
resse einer ausreichenden Kindererziehung an dieser
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(A) (C)
(B) (D)
Stelle durch den Gesetzgeber nur unzureichend gefun-
den. Denn auch der Gesetzesbegründung kann nicht hin-
reichend konkret entnommen werden, was denn unter
dem Gesetzeswortlaut einer „Ehe von langer Dauer“ zu
verstehen ist. Die Leittragenden sind die Betroffenen,
meistens Frauen, die zugunsten von Ehe und Familie
oder im Hinblick auf die Rollenverteilung Karriereein-
bußen hinnehmen mussten und deren Betreuungszeit
vorüber oder deren Ehe nicht „lang genug“ bestand, aber
auch die Rechtsprechung, welche diesen Konflikt jetzt
wieder einmal alleine lösen darf.
Auch wird es in der Praxis zu erheblichen Problemen
bei der Ermittlung der jeweiligen Unterhaltsansprüche,
vor allem im zweiten und dritten Rang kommen, da es
kein entsprechendes Auskunftsrecht der beispielsweise
unterhaltsberechtigten Exfrau gegen den neuen Ehepart-
ner des in Anspruch genommenen Ehegatten gibt. Da
der Unterhaltsverpflichtete jedoch daran interessiert sein
wird, gegenüber der neuen Partnerin möglichst hoch ver-
pflichtet zu sein, wäre ein Auskunftsanspruch des Be-
rechtigten oder auch des jeweiligen Gerichts dringend
notwendig.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Kinderarmut in
Deutschland hat viele Seiten: Sie manifestiert sich als
Mangel an Bildung, Gesundheit, Mobilität, Freizeitge-
staltungsmöglichkeiten, Kultur, ja sogar an gesunder Er-
nährung. Der entscheidende Faktor ist dabei das tatsäch-
lich verfügbare Einkommen.
Etwa 1,7 Millionen Kinder befinden sich im Bezug
von Sozialgeld und leben damit auf einem Einkommens-
niveau, das sie von einer angemessenen sozialen und ge-
sellschaftlichen Teilhabe ausschließt. Das Kinderhilfs-
werk der Vereinten Nationen UNICEF hat festgestellt,
dass die Kinderarmut in Deutschland seit 1990 im Ver-
gleich zu anderen Industrieländern überdurchschnittlich
stark angestiegen ist. Die sozialstaatlichen Antworten
darauf sind alles andere als ausreichend.
Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und
Unterhaltsvorschuss sind in der gegenwärtigen Form als
Leistungssystem zur Verhinderung von Kinderarmut
völlig ungeeignet. Die Bedarfsgemeinschaft bleibt eine
sozialpolitische Fehlkonstruktion, weil sie dem An-
spruch, das Existenzminimum von Kindern eigenständig
und unabhängig vom Familieneinkommen abzusichern,
nicht gerecht wird. Darüber hinaus wird ignoriert, dass
Kinder eine eigenständige Bevölkerungsgruppe mit ei-
nem eigenständigen Anspruch auf einen Anteil an den
gesellschaftlichen Ressourcen sind. Deshalb fordern wir
eine Kindergrundsicherung als soziales Recht für jedes
Kind, in Form eines individualisierten und existenzsi-
chernden Anspruchs unabhängig vom sozialen Status
der Eltern.
Zur Existenzsicherung von Kindern Alleinerziehen-
der gehören auch monatliche Unterhaltszahlungen. So-
weit die Theorie. Wie viele Kinder ihren Unterhalt tat-
sächlich erhalten, zeigen die Ergebnisse einer Studie zur
Zahlungsmoral unterhaltspflichtiger Eltern. Danach er-
halten etwa ein Drittel der Kinder den Unterhalt regel-
mäßig und in voller Höhe. Ein weiteres Drittel erhält ihn
unregelmäßig oder in zu geringer Höhe. Das letzte Drit-
tel bekommt ihn selten oder nie.
Wird der Unterhalt nicht gezahlt, geht der Staat aus
der Unterhaltsvorschusskasse zunächst in Vorleistung.
Hier wollen Sie Anpassungen vornehmen, vor allem
durch die Anknüpfung der Unterhaltsvorschussleistun-
gen an den gesetzlich definierten Mindestunterhalt. Wir
begrüßen die Abkehr von der Ost-West-Differenzierung
der Höhe des maximalen und minimalen Unterhaltsvor-
schusses. Trotzdem kommt es – und nicht nur nach unse-
ren Aussagen – zu keiner nennenswerten Erhöhung beim
Unterhaltsvorschuss. Der Grund hierfür liegt in der vol-
len Anrechung des Kindergeldes auf den Leistungsbe-
zug, der bisher nur hälftig stattfand. Als Begründung
stellen Sie fest, dass auch das Kindergeld eine Leistung
ist, die der Existenzsicherung des Kindes dient. Eine
Verbesserung für die Betroffenen bleibt damit jedenfalls
aus, denn im Ergebnis bleiben die Leistungsbeträge auf
dem gleichen niedrigen Niveau erhalten.
Schade ist, dass gegenwärtig die Chance vertan wird,
die zeitliche Befristung der Vorschussleistung auszudeh-
nen. Zwar ist die überwiegende Zahl der Fälle von Un-
terhaltsvorschussleistungen von kurzer Dauer, jedoch
die Zahl der „Wiederholungsfälle“ eklatant. Im Hinblick
auf die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation darf nicht
übersehen werden, dass die Kinder aufgrund entstehen-
der Arbeitslosigkeit des Barunterhaltsverpflichteten und
der zeitlichen Befristung, die Leidtragenden sind.
Wieder sind es die Kinder, die im Ergebnis die Zeche
für eine verfehlte Politik zahlen müssen. Das muss sich
ändern! Deshalb fordern wir die Aufhebung der Befris-
tung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.
Sie versprechen in der Öffentlichkeit, dass das Unter-
haltsgesetz im Interesse des Kindes und zur Stärkung des
Kindeswohls verändert wird. Tatsache ist: Sie zementie-
ren auch in der Reform zum Unterhaltsrecht soziale Un-
gerechtigkeiten und verfestigen das Armutsrisiko von
Kindern und Alleinerziehenden. Und dies wird auch
nicht durch die Änderung der Rangfolge im Unterhalts-
recht geändert. Unter Zugrundelegung des existierenden
Realsplittings, bei Berücksichtigung der steuerlichen
Abzugsfähigkeit nach § 10 Abs. I Nr. 1 EStG für den
Ehegattenunterhalt, wird nach dem Modell der Regie-
rung das monatliche Einkommen bei den betreuenden
Elternteil insgesamt geringer ausfallen, bei gleich blei-
bendem Selbstbehalt des Verpflichteten. Die Kinder be-
kommen vorrangig Unterhalt, die in der Regel betreu-
ende Mutter fällt durch den Rost, wobei insgesamt
wieder die Familie finanziell leidet. Die einzigen, wel-
che Vorteile daraus ziehen, sind unter dem Strich die Fi-
nanzämter. Hier wird wieder einmal den Familien in die
Tasche gegriffen. Deshalb müssen Sie sich fragen lassen,
wie ihre „Reförmchen“ zu einer nachhaltigen Bekämp-
fung nicht nur von Kinderarmut in Deutschland beitra-
gen können.
Und wie ist die Reform gleichstellungspolitisch zu
bewerten? Grundsätzlich ist der Aussage zuzustimmen,
dass Erwachsene zunächst selbst für ihren Lebensunter-
halt sorgen sollen, während Kinder dazu natürlich nicht
in der Lage sind. Auf den ersten Blick ist daher eine
4218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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Veränderung der Rangfolge im Mangelfall – und nur da-
rum geht es hier – zugunsten der Kinder überzeugend.
Die Folge wird sein, dass geschiedene Frauen, die ihre
Existenz nicht eigenständig sichern können, statt Unter-
halt stärker auf Sozialleistungen angewiesen sein wer-
den – wie der Gesetzentwurf auch einräumt. Wer aber
nacheheliche Eigenverantwortung einfordert, muss sich
allerdings fragen lassen, welchem Leitbild von ehelicher
Arbeitsteilung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf
gefolgt wird. Schlicht, Eigenverantwortung nach der Ehe
zu fordern und die Möglichkeiten für Beschränkung der
Unterhaltsansprüche zu schaffen, genügt unserer Ansicht
nach nicht. Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt,
schlechte Kinderbetreuungsinfrastruktur in vielen Bun-
desländern, Entgeltdiskriminierungen und auch das
Ehegattensplitting tragen nicht zu einem Leitbild der Ei-
genverantwortung für Ehefrauen bei. Dies gilt es zu än-
dern – aber nicht punktuell im Unterhaltsrecht!
Wir fordern in diesem Zusammenhang: ein umfassen-
des Konzept zur Bekämpfung der Kinderarmut in
Deutschland; einen konsequenten Ausbau einer eltern-
beitragsfreien flächendeckenden Kinderbetreuung, um
lückenlose Erwerbsbiografien beider Elternteile zu ge-
währleisten; eine Kindergrundsicherung in Form eines
individualisierten Anspruchs unabhängig vom sozialen
Status der Eltern.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu
nachtschlafender Zeit sollten wir nun eigentlich sehr auf-
merksam sein: Die Änderung des Unterhaltsrechts be-
trifft direkt oder indirekt alle: Schließlich sind wir alle
Kinder auch wenn viele bereits erwachsen sind; ein
Großteil der Bevölkerung sind Eltern – auch wenn die
Zahl der Eltern zunehmend kleiner wird und viele Paare
sind verheiratet. Was diese Rollen anbelangt, betrifft das
Unterhaltsrecht jeden Einzelnen; denn es geht um das fi-
nanzielle Einstehen füreinander.
In der Diskussion über die notwendigen Änderungen
im Unterhaltsrecht sind sich die meisten einig, dass die
Förderung des Kindeswohls im Vordergrund stehen
muss. Daran hat sich für mich auch nichts geändert. Was
sich aber weiterhin ändert, sind die Familienverhältnisse
in unserer Gesellschaft. Ich möchte nur einige Schlag-
worte erwähnen: die hohe Scheidungsrate, die aufbre-
chende Rollenverteilung, die neuen Familienformen und
die Zunahme von „Zweitfamilien“. Vor diesem Hinter-
grund muss man sich zu Recht die Frage stellen, ob das
Familienrecht diesen Wandel reflektiert. Ich meine, das
tut es in einem ganz wesentlichen Punkt, nämlich dem
Unterhaltsrecht, nicht.
Das Unterhaltsrecht geht davon aus, dass das Ein-
kommen einer Familie in der Regel so hoch ist, dass im
Fall einer Scheidung alle Familienmitglieder durch ei-
gene Unterhaltsansprüche versorgt werden können. Die
Realität ist aber leider eine andere. Immer mehr Unter-
haltsprozesse drehen sich um den Mangelfall. In vielen
Fällen werden die Zahlungen unregelmäßig oder gar
nicht getätigt. Kinder sind häufig die Leidtragenden sol-
cher Fälle, weil sie unter finanziellen Zwängen aufwach-
sen, die ihrer Entwicklung nicht förderlich sind. Hier fin-
den wir auch eine zentrale Ursache für die hohe Zahl der
minderjährigen Sozialhilfeempfänger. Daher ist die Än-
derung in der Rangstellung der Unterhaltsberechtigten
ein richtiger Schritt, damit Kinder nicht leer ausgehen.
Wenn Väter zudem das Gefühl haben, hauptsächlich
für ihre Kinder zu zahlen, kann man vielleicht auf eine
höhere Zahlungsmoral hoffen. Was diesen Punkt anbe-
langt, bin ich gespannt, wie sich dies auf die Anwendung
des Unterhaltsvorschussgesetzes auswirkt. Auch die An-
näherung der Unterhaltsansprüche geschiedener und
nichtehelicher Elternteile ist richtig. Besonders hart trifft
es doch heute die unverheirateten Mütter oder Väter, die
ihr Kind oder ihre Kinder betreuen. Nach geltender
Rangfolge gehen sie häufig leer aus und erhalten keinen
Betreuungsunterhalt. Die Schwelle für eine Verlänge-
rung des Betreuungsunterhalts über die ersten drei Jahre
hinaus sollte weiter abgesenkt werden, damit die Ge-
richte zukünftig mehr Entscheidungsspielraum bekom-
men, um dem Einzelfall gerecht werden zu können – im-
mer davon ausgehend, wie sich die Situation für das
Kind bzw. die Kinder darstellt.
Auch die Stärkung des Grundsatzes nachehelicher Ei-
genverantwortung finde ich grundsätzlich begrüßens-
wert.
Erfahrungsgemäß zahlen die Unterhaltspflichtigen
„ohne Murren“ für ihre Kinder, mit dem Ehegattenunter-
halt nach einer Scheidung ist dies aber tendenziell an-
ders. Bei Ehen, die nur einige Jahre gehalten haben, ist
dies auch irgendwie nachvollziehbar. Der oder die Ge-
schiedene sollte dann irgendwann wieder für sich verant-
wortlich sein. Allerdings sind in der heutigen Zeit der
Eigenverantwortung von geschiedenen Müttern und Vä-
tern Grenzen gesetzt. Ich möchte Sie nur daran erinnern,
wie schwierig es in manchen Regionen ist, ein Kinderbe-
treuungsangebot zu finden, das es einem ermöglicht, ar-
beiten zu gehen. Auch und gerade bei Ehen, die lange
gehalten haben, muss dem geschiedenen Partner ein Be-
standsschutz gewährt werden.
In seiner Grundrichtung entspricht der eingebrachte
Entwurf dem grünen Prinzip, Kinder in den Mittelpunkt
zu stellen. Dabei wissen wir sehr wohl, dass damit das
Geld der betroffenen Familien nicht mehr wird, aber es
wird transparenter, nach klareren Regeln und zeitgemä-
ßer verteilt.
Natürlich werden wir im weiteren Beratungsverlauf
kritisch prüfen, ob es hier zu Folgewirkungen in anderen
Rechtsgebieten kommt, die nicht in unserem Sinne sind.
Gerade in Mangelfällen sollte es nicht dazu kommen,
das der Mangel noch größer wird.
Vor allem im Interesse der vielen betroffenen Kinder
freue ich mich auf die weitere Beratung.
Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Vor
einer Woche wurde im Bundestag das Gesetz zur Ein-
führung des Elterngeldes auf den Weg gebracht. Es wird
dafür sorgen, dass junge Frauen und Männer ihren
Wunsch nach Kindern und ihren Wunsch nach einem er-
folgreichen Arbeitsleben künftig besser miteinander ver-
binden können. Heute leiten wir ein weiteres wichtiges
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4219
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Projekt unserer Familienpolitik ein: die Modernisierung
des Unterhaltsrechts.
Das Unterhaltsrecht entscheidet darüber, welches
Maß an finanzieller Solidarität Familienangehörige von-
einander erwarten können. Es regelt einen zentralen As-
pekt familiärer Verantwortung. Mit unserer Reform sor-
gen wir dafür, dass künftig das Wohl des Kindes im
Mittelpunkt des Unterhaltsrechts steht. Unser Ziel ist es,
die Situation der minderjährigen Kinder zu verbessern.
Auf sie nimmt das geltende Recht zu wenig Rücksicht.
26 Prozent aller Familien bestehen heute aus Alleiner-
ziehenden und nichtehelichen Lebensgemeinschaften
mit ihren Kindern. Dieser Tatsache müssen wir auch im
Unterhaltsrecht besser Rechung tragen. Es ist schließlich
ein erheblicher Unterschied, ob ein Kind in dem Be-
wusstsein, von seinen Eltern versorgt zu werden oder
aber von Sozialhilfe zu leben, aufwächst. Der Gesetzent-
wurf stellt deshalb klar: In Mangelfällen hat der Kindes-
unterhalt künftig Vorrang vor allen anderen Unterhalts-
ansprüchen.
Jeder weiß, dass die Kindererziehung häufig leidet,
wenn die elterliche Betreuung zu kurz kommt. Wir wer-
den deshalb auch die Unterhaltsansprüche von den El-
ternteilen aufwerten, die ein Kind betreuen. Sie sollen
künftig privilegiert im zweiten Rang stehen. Im Interesse
der Kinder verbessern wir dabei auch die Stellung der
Mutter, die nicht mit dem Vater verheiratet ist. Für die
Kinder ist es egal, ob zwischen Mutter und Vater eine
Ehe bestand oder nicht. Eine gute Betreuung brauchen
sie in jedem Fall
Ein dritter Aspekt des gesellschaftlichen Wandels auf
den wir reagieren, ist die Scheidungsquote. Sie ist in den
letzten Jahren beständig gestiegen. Andererseits gründen
immer häufiger Menschen nach einer gescheiterten Be-
ziehung eine neue Familie. Daraus entstehen die so ge-
nannten Patchworkfamilien, die heute keine Seltenheit
mehr sind. Auch diese neuen Familien brauchen finan-
ziell eine Chance; deshalb können wir beim Unterhalt
nach einer Scheidung nicht so weitermachen wie bisher.
Wir müssen die finanzielle Eigenverantwortung nach ei-
ner gescheiterten Ehe stärken und sie auch ausdrücklich
im Gesetz verankern. Ich meine, das ist auch im Sinne
der Betroffenen. Bei allen Schwierigkeiten, die es gibt:
Eine klare Perspektive für die Zukunft bekommen die
Betroffenen auch dadurch, dass sie so schnell wie mög-
lich wieder auf eigenen Beinen stehen und nicht mehr
von Unterhaltszahlungen abhängig sind. Durch eine Än-
derung des Gesetzes wollen wir den Richterinnen und
Richtern deshalb mehr Möglichkeiten geben, den Unter-
haltsanspruch zu begrenzen – zeitlich und in seiner
Höhe.
Wir haben in der Vergangenheit häufig – oft einver-
nehmlich – über die Notwendigkeit einer Reform des
Unterhaltsrechts diskutiert. Viele Menschen warten da-
rauf, dass der Gesetzgeber endlich handelt. Ich meine,
mit dem Gesetzentwurf liegt jetzt eine solide Grundlage
für die weiteren Beratungen vor. Ich würde mich freuen,
wenn wir hier zu einer gemeinsamen Lösung kommen
würden.
Anlage 30
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Regelung des Urheberrechts in der
Informationsgesellschaft (Tagesordnungspunkt 27)
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Dass das
Urheberrecht den veränderten Bedingungen der Infor-
mationsgesellschaft weiter angepasst werden muss, ist
unstrittig. Strittig aber ist, wie es dabei zu einem fairen
Ausgleich der Interessen von Kreativen, Verwertern und
Nutzern kommen kann. Der vorliegende Entwurf leistet
dies unserer Auffassung nach nicht. Wir können ihm in
der vorliegenden Fassung nicht zustimmen. Die Folgen
für die verschiedenen Gruppen der Betroffenen müssen
erneut bedacht und diskutiert werden. Darauf sind wir
durch eine Flut von Stellungnahmen aufmerksam ge-
macht worden. Besonders problematisch sind die Folgen
für die Urheber. Wir halten deshalb eine Anhörung für
dringend notwendig.
Die Urheber müssen nun auch bei diesem Gesetzent-
wurf, wie schon beim Folgerecht, gravierende Einbußen
hinnehmen. Das ist nicht zu akzeptieren. Die vorgesehe-
nen Neuregelungen zu den gesetzlichen Vergütungsan-
sprüchen – §§ 54, 54 a RegE – und zu den unbekannten
Nutzungsarten – § 31 Abs. 4 UrhG, §§ 31 a und 32 c
RegE – führen zweifelsfrei zu einer Schlechterstellung
der Kreativen. Wir erinnern daran, dass es ein Urheber-
recht ist und auch bleiben sollte, um das es hier geht.
Wir sehen in dem Entwurf einen enteignungsgleichen
Eingriff in die Rechte der Urheber und ein Geschenk an
die Geräteindustrie. Das Anliegen des Urheberrechtes,
die Kreativen an der multimedialen Nutzungsmöglich-
keit ihrer Werke zu beteiligen und ihnen eine angemes-
sene Vergütung ihrer Leistungen zu gewährleisten, wird
damit infrage gestellt.
Mit diesen Regelungen wird unserer Auffassung nach
ein „Systemwechsel“ im Urheberrecht eingeleitet. Das
Urheberrecht, dass das Recht der Kreativen schützen
soll, wird immer stärker den wirtschaftlichen Interessen
der Kulturindustrie angepasst. Der Schutzgedanke des
Urheberrechts wird aufgegeben und die Lösung des Inte-
ressenkonflikts zwischen Urhebern, Verwertern und Ver-
brauchern dem freien Spiel des Marktes überlassen.
Dass die ökonomisch Schwächeren, die Kreativen, dabei
verlieren müssen, liegt auf der Hand. Wir werden uns
deshalb mit unserer Kritik und unseren Änderungsvor-
schlägen insbesondere auf diese beiden Rechtskomplexe
konzentrieren.
Mit dieser Neuregelung zur Vergütungsabgabe wird
das verfassungsrechtliche Gebot einer angemessenen
Vergütung der Urheber und Leistungsberechtigten in
sein Gegenteil verkehrt. Bei jedem Speichermedium
muss zunächst nachgewiesen werden, dass zu mehr als
10 Prozent urheberrechtsrelevante Kopien angefertigt
werden, bevor eine Vergütungsabgabe überhaupt greift.
Außerdem sind jahrelange Rechtsstreitigkeiten program-
miert. Die Vergütung für eine zunehmende Zahl von
Vervielfältigungen wird an sinkende Gerätepreise
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(B) (D)
gekoppelt und damit beschränkt. Die Deckelung der
Pauschalvergütung auf fünf Prozent des Speichermedi-
umspreises führt zu einer deutlichen Schlechterstellung
der Urheber. Wir werden die Bundesregierung deshalb
auffordern, diese Regelung grundsätzlich zu verändern.
Ebenso wenig können wir akzeptieren, dass zukünftig
Verwertungsverträge über „unbekannte Nutzungsarten“
geschlossen werden können und damit Urheber gezwun-
gen sind, zu einer und derselben Vergütung auch neue
Nutzungsmöglichkeiten abzutreten. Die Aufhebung des
bislang in § 31 Abs. 4 UrhG geltenden generellen Ver-
bots für die Einräumung „unbekannter Nutzungsrechte“
ist ein schwerwiegender Eingriff in die ökonomische
Entscheidungsfreiheit des Urhebers. Wir lehnen sie des-
halb ab.
Bei der Festlegung der Vergütungshöhe sehen wir den
Staat nach wie vor in der Verantwortung, ein schnelles
und klares Verfahren vorzuschlagen, das Rechtssicher-
heit für die Rechteinhaber und Nutzer gewährleistet. Wir
plädieren dafür, die Vergütungshöhe durch Gesetz oder
Rechtsverordnung festzulegen. Die Höhe sollte jeweils
den veränderten Bedingungen angepasst werden. Im
zweiten Vergütungsbericht der Bundesregierung vom
11. Juli 2000 wurde ausdrücklich auf die Notwendigkeit
einer Anhebung der gesetzlichen Vergütungssätze hinge-
wiesen.
Zweifellos gibt es auch positive Punkte in diesem
Entwurf. Die Privatkopie bleibt erhalten. Das ist uns
wichtig. Allerdings nur bei nicht kopiergeschützten Wer-
ken. Das Umgehen des Kopierschutzes bleibt verboten
und strafbar.
Wir werden uns als Fraktion in der nächsten Zeit auch
intensiv mit den Folgen für die Nutzer und Nutzerinnen
im privaten Bereich wie im Bereich der Bildung, Wis-
senschaft und Kultur beschäftigen. Unser besonderes
Anliegen ist es, einen sozial gleichen Zugang zu den mo-
dernen Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien zu sichern. Gleicher Zugang und gleiche Teilhabe
aller an Bildung und Informationen sind ein Menschen-
recht. Sie sind auch Bedingung für Wissenschaftsent-
wicklung. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme
dazu eine Reihe von Empfehlungen gegeben, die wir in
unsere Überlegungen einbeziehen werden. So hat er auf
die Entfristung des § 52 a UrhG hingewiesen, die auch
aus unserer Sicht dringend notwendig ist. Mit dem nun
beschlossenen Folgerecht ist die Befristung bis 2008
verlängert worden. Dann wird neu zu diskutieren sein.
Wir sprechen uns mit Blick auf die wachsende Bedeu-
tung der neuen Informations- und Kommunikationstech-
nologien in den Schulen und Hochschulen für einen Er-
halt dieser Regelung aus – ohne Befristung. Erforderlich
aber ist auch, dass die zur Zahlung einer angemessenen
Vergütung Verpflichteten dieser Pflicht tatsächlich nach-
kommen.
Wir übersehen also die positiven Punkte des Entwurfs
nicht, können ihm aber vor allem wegen der gravieren-
den Schlechterstellung der Urheber in seiner Gesamtheit
nicht zustimmen.
Anlage 31
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts
(Tagesordnungspunkt 28)
Kai Wegner (CDU/CSU): Das Gesetz zur Neurege-
lung des Versicherungsvermittlungsrechts dient der Um-
setzung der entsprechenden Richtlinie des Europäischen
Parlaments. Das ist ein Thema, das die Bundesregierung
bereits seit geraumer Zeit beschäftigt.
Ziel dieser Richtlinie ist es, die Qualität der Beratung
zu verbessern und somit die Interessen der Verbraucher
durch eine Registrierpflicht der Vermittler und eine ein-
heitliche Normierung der Informations- und Dokumen-
tationspflichten zu stärken. Dies muss aber mit dem not-
wendigen Fingerspitzengefühl geschehen, da die
Vermittler für die Versicherungsbranche den bei weitem
größten Umsatz erzielen. Weit über 90 Prozent des Um-
satzes wird auf diese Art und Weise erzielt und das soll
auch in Zukunft so bleiben. Dennoch besteht Handlungs-
bedarf.
Zurzeit unterliegt die Versicherungsvermittlung kei-
ner Berufszugangsschranke. Sie ist lediglich eine ge-
werbliche Tätigkeit im Sinne der Gewerbeordnung. Dies
bedeutet, dass ein Versicherungsvertreter seine Tätigkeit
nur gegenüber der zuständigen Behörde vor Ort, dem
Gewerbeaufsichtsamt, melden muss. Ob er allerdings die
fachliche Qualifikation dazu besitzt, auch eine ordentli-
che Beratung durchzuführen, spielt dabei bislang leider
keine Rolle. Dies wird sich mit der Umsetzung der
Richtlinie ändern. Um zum Versicherungsvermittler zu-
gelassen zu werden, müssen zukünftig entsprechende
Fähigkeiten hierzu nachgewiesen werden.
Was beinhaltet dieses Gesetz eigentlich? Hier die
wichtigsten Punkte in Kürze:
Wie bereits angeklungen, wird die Versicherungsver-
mittlung in ein erlaubnispflichtiges Gewerbe umgewan-
delt. Es wird in Zukunft nicht mehr ausreichen, sich ein-
fach bei der zuständigen Behörde anzumelden. Die
Industrie- und Handelskammern sollen künftig über ent-
sprechende Anträge entscheiden müssen. Wer in Zukunft
Versicherungen vermitteln will, der muss eine entspre-
chende Qualifikation nachweisen. Dies wird zu einer hö-
heren Qualität der Beratungen und damit zu mehr Ver-
braucherfreundlichkeit führen.
Durch die Normierung der Informations- und Doku-
mentationspflicht des Vermittlers gegenüber dem Kun-
den sollen möglichst einheitliche Standards auf diesem
Sektor erreicht werden. Auch das wird in vielen Fällen
die Qualität der Beratung erhöhen.
Entscheidend für die Zulassung sind weiter geordnete
Vermögensverhältnisse und ein guter Leumund sowie
eine Berufshaftpflichtversicherung; denn gerade bei der
Vermittlung von Versicherungen, was ein sehr komple-
xes Thema ist, bei dem die meisten Verbraucher auf eine
gute Beratung angewiesen sind, kommt es darauf an,
dass man demjenigen, der einen berät, auch wirklich ver-
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trauen kann. Wie schnell ist ein Vertrag abgeschlossen,
den man hinterher bereut, da entweder der Preis zu hoch
oder die Leistung zu schlecht ist.
Das Gesetz sieht zudem vor, so genannte Schlich-
tungsstellen einzuberufen. Diese Stellen können vom zu-
ständigen Bundesministerium der Justiz bestellt werden
und dienen dazu, eventuelle Streitfälle zwischen Versi-
cherungsvermittlern und Versicherungsnehmern außer-
gerichtlich zu lösen. Dies beschleunigt die Verfahren un-
gemein und senkt gleichzeitig die Kosten eines solchen
Verfahrens.
Natürlich ist eine Normierung für die Berater mit ei-
nem höheren Aufwand verbunden. Allerdings muss auf
der anderen Seite auch berücksichtigt werden, dass zum
einen die Qualität der Beratungen und damit die Ver-
braucher- und Kundenfreundlichkeit steigt, zum anderen
Rechtsstreitigkeiten aufgrund der gestiegenen Qualität
tendenziell eher vermieden werden, was auch zur Kos-
tensenkung beiträgt. Von beidem wird letztlich die Bran-
che selbst profitieren und ihren, zumeist zu Unrecht,
ramponierten Ruf aufpolieren können.
Unser Ziel ist die Stärkung der beiden Seiten: der Ver-
sicherten und der Versicherer. In diesem Sinne ist es
nicht zielführend, die Versicherungsvermittlungsbranche
undifferenziert mit einer Erlaubnispflicht zu überziehen.
Deshalb werden die so genannten gebundenen Vertreter,
die mit einem Versicherungsunternehmen einen Agen-
turvertrag haben, von der Erlaubnispflicht befreit, sofern
das Versicherungsunternehmen die uneingeschränkte
Haftung für sie übernimmt. Dies betrifft mit immerhin
circa 400 000 Vertretern die weitaus größte Zahl der Be-
troffenen.
Um die mit jeder Erlaubnispflicht verbundene Büro-
kratie so gering wie möglich zu halten, wird für Vermitt-
ler von Versicherungen, die an ein bestimmtes Produkt
gebunden sind, ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
eingeführt. Dies gilt zum Beispiel für Kfz-Händler, die
mit dem Auto gleich eine entsprechende Versicherung
verkaufen. Hierdurch werden die Eingriffe in die beste-
henden Vermittlungsstrukturen so gering wie möglich
gehalten werden.
Ich halte es für eine gute Entscheidung, den Industrie-
und Handelskammern in Zukunft die Kompetenz über
die Erlaubnisanträge zu übertragen. Zum einen können
sie aufgrund ihrer dezentralen Struktur die Antragsstel-
lung direkt vor Ort vornehmen. Zum anderen besteht
eine erstklassige Vernetzung der einzelnen Stellen unter-
einander, sodass sie zu einer zentralen Registrierung pro-
blemlos in der Lage sind. Deshalb sind Überlegungen,
die Berufszulassung könnte von einem branchenübli-
chen Verein übernommen werden, verworfen worden.
Aufgrund der Vielzahl der Interessen betroffener Ver-
bände – Makler, Ausschließlichkeitsvertreter, Großban-
ken etc. – erscheint es wenig aussichtsreich, die notwen-
dige Neutralität einer solchen Fachaufsicht zu
gewährleisten. Darüber hinaus sprechen ordnungspoliti-
sche Bedenken dagegen.
Das Ziel dieser EU-Richtlinie ist, eine möglichst ein-
heitliche Reglung für die gesamte Europäische Union zu
schaffen. Die Harmonisierung der Standards soll den
grenzüberschreitenden Dienstleistungswettbewerb för-
dern und das ist zu begrüßen.
Ein Versicherungsvertreter, der in seinem Heimatland
registriert ist, wird zukünftig problemlos seine Dienste
in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
anbieten dürfen. Gleichzeitig wird zum Wohle des Kun-
den die Qualität und Kundenfreundlichkeit in Europa auf
einem hohen Niveau angeglichen. So wird ein Kunde in
Athen eine ähnliche Beratung erhalten wie einer in Ber-
lin oder Amsterdam.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der vorliegende
Gesetzentwurf bietet sowohl für Kunden als auch für
Anbieter Vorteile. Der Schlüssel dazu ist ein Zugewinn
an Verbraucher- und Kundenfreundlichkeit. Die stei-
gende Qualität der Beratungen wird nicht nur dem Kun-
den dienen, sondern auch dazu führen, teilweise verlore-
nes Vertrauen in die Branche wieder aufzubauen. Es
wird Zeit, dass sich die Versicherungsbranche von ih-
rem, in den meisten Fällen unverdienten, schlechten
Image erholt.
Durch die weitestgehende Angleichung in allen Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union erhalten die Versi-
cherungsvertreter die Möglichkeit, auch in anderen Staa-
ten ihre Dienste anzubieten. Dabei liegt es nicht in
unserem Interesse, die Branche durch Überregulierung
zu lahmen. Vielmehr sollten wir dieses Thema mit der
nötigen Sensibilität und mit Augenmaß behandeln. Da-
her halte ich es für sinnvoll, nach der Sommerpause eine
Expertenanhörung durchzuführen, um die Interessen der
Betroffenen entsprechend berücksichtigen zu können.
Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte
Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. De-
zember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die Richt-
linie, die den Verbraucherschutz und die Harmonisie-
rung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von
Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um-
gesetzt werden müssen, sodass nun Eile geboten ist. Zu
der Verzögerung kam es vor allem durch den anhalten-
den Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene
Konzept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zei-
gen sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte
Grundkonzept zu akzeptieren, sodass wir nun doch zu
einer hoffentlich zügigen Verabschiedung der Neurege-
lung kommen werden.
Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset-
zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um
Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die
Registrierungspflicht und die Normierung der Informa-
tions- und Dokumentationspflichten des Vermittlers ge-
schützt werden – und darum, die deutschen Versiche-
rungsvermittler fit zu machen gegen die europäische
Konkurrenz. Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers
in einem zusammenwachsenden Europa wird harmoni-
siert, und grenzüberschreitende Vermittlungen werden
vereinfacht.
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(A) (C)
(B) (D)
Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf-
liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher-
geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum
„schwarze Schafe“ aus diesem Gewerbe herauszufiltern.
Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö-
sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser
Branche.
Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der
bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsver-
mittlers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen,
dass die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und
Registrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragen-
den Versicherungsvermittler werden. Damit einher ge-
hen Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern,
eine Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufs-
haftpflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations-
und Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden.
Nach der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbe-
ratungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das
neu geschaffene System für Versicherungsvermittler zu
integrieren. Das heißt, Versicherungsberater müssen sich
ebenfalls registrieren lassen und bedürfen nun einer Er-
laubnis der IHK, wobei die Anforderungen denen für
Versicherungsvermittler entsprechen. Auch die für Ver-
sicherungsmakler geltenden Berufsausübungsvorschrif-
ten, insbesondere die Beratungs-, Dokumentations- und
Informationspflichten, gelten entsprechend für Versiche-
rungsberater. Bislang unterliegt die Versicherungsver-
mittlung keinerlei Berufszugangsbeschränkungen. Er ist
nur zur Anzeige seiner Tätigkeit gemäß § 14 Gewerbe-
ordnung verpflichtet.
Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor
allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche-
rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver-
sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden
bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be-
schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver-
braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft
wahrt. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelungen ist.
Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür-
fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d
der Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK
und müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch
für den Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung
zuständig. Die IHKs bedienen sich für die Registerfüh-
rung des DIHK als gemeinsamer Stelle.
Versicherungsvermittler sind unter Bußgeldbeweh-
rung verpflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen
zu lassen. Außerdem werden die Versicherungsunterneh-
men verpflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbei-
ten, die in das Register für Versicherungsvermittler
eingetragen sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuver-
lässigkeit, Abschluss einer Berufshaftpflichtversiche-
rung sowie Sachkundenachweis.
Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prü-
fung erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche
etablierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/-
frau des Berufsbildungswerks der Deutschen Versiche-
rungswirtschaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK
und BWV bereits einen Rahmenvertrag abgeschlossen.
Gleichwertige staatliche Abschlüsse werden anerkannt.
Versicherungsvermittler, die schon seit dem 31. August
2000 tätig waren, genießen Bestandsschutz. Jeder Ver-
mittler hat dafür zu sorgen, dass auch seine angestellten
Vermittler angemessen qualifiziert und zuverlässig sind.
Die circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich an
ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so ge-
nannte Ausschließlichkeitsvertreter –, können von der
Erlaubnis befreit werden, wenn sie über eine uneinge-
schränkte Haftungsübernahme des Versicherers verfü-
gen. Die Verantwortung für die Zuverlässigkeit und die
Qualifikation übernimmt dann der jeweilige Versicherer.
Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel
Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
vorgesehen.
Grundsätzlich muss ein Makler als Sachwalter des
Kunden seinen Rat auf eine hinreichende Zahl von auf
dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen und
Versicherern stützen, die er im Wege einer objektiv aus-
gewogenen Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Ver-
tragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Informa-
tions- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung
für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermitt-
ler, die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem
Kunden die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten
Versicherer anzugeben.
Der Vermittler muss dem Kunden noch vor Beginn
des Beratungsgespräches mitteilen, ob er als Versiche-
rungsmakler, als Versicherungsvertreter oder Versiche-
rungsberater tätig ist. Durch Normierung dieser statusbe-
zogenen Informationspflichten in der Verordnung über
die Versicherungsvermittlung soll dem Kunden schon
vor Beginn der Beratung größtmögliche Transparenz er-
möglicht werden. Grundsätzlich müssen Versicherungs-
vermittler, die Zahlungen der Kunden annehmen, ohne
dazu bevollmächtigt zu sein, in Anlehnung an die Mak-
ler- und Bauträgerverordnung eine Sicherheit stellen.
Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und
Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds-
leute schaffen, was ich sehr begrüße.
Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset-
zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches
Recht mit geringstmöglichen bürokratischen Aufwand
gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver-
braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher
unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die
Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche-
rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafen haben zu-
künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das
Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen
wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da-
mit die Versicherungswirtschaft europafest.
Martin Zeil (FDP): Bislang kann sich jeder, der sich
dafür interessiert und sich dies zutraut, in Deutschland
Versicherungsvermittler bzw. -makler werden. Die EU-
Richtlinie über Versicherungsvermittlung zielt darauf ab,
dies zu ändern. Sie will dadurch den Verbraucherschutz
stärken und eine Harmonisierung des EU-Vermittler-
marktes erreichen. So weit, so gut Die Umsetzung der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4223
(A) (C)
(B) (D)
Richtlinie durch die Bundesregierung bedarf jedoch
noch einiger Nachbesserungen,
Im Gesetzentwurf wird als Berufsvoraussetzung eine
Sachkundeprüfung, der Abschluss einer Berufshaft-
pflichtversicherung, eine Informations- und Dokumenta-
tionspflicht für Beratungsgespräche sowie die Registrie-
rung der Vermittler in einem zentralen Register
gefordert. Das ist auf den ersten Blick alles vernünftig
und einsehbar. Sieht man genauer hin, stellen sich aber
einige grundsätzliche Fragen.
Warum? Weil wichtige Vorschriften des Gesetzent-
wurfs nur für die ungebundenen Vermittler und Makler
gelten, die gebundenen aber aussparen. Das ist eine fak-
tische Ungleichbehandlung, die so nicht akzeptabel ist.
Dies würde den eigentlichen Zweck des Gesetzentwurfs,
nämlich die Verbesserung des Verbraucherschutzes, kon-
terkarieren. Es darf nicht sein, dass durch eine gesetzli-
che Regelung, die erklärtermaßen den Verbraucher-
schutz stärken will, gerade diejenigen benachteiligt und
in ihrer Marktposition geschwächt werden, die objektiv
sind bei der Versicherungsvermittlung, nämlich die
Makler und ungebundenen Vermittler.
Wenn der Bundesregierung tatsächlich an einer
durchgreifenden Qualitätsverbesserung gelegen ist, dann
sollte sie die geforderte Mindestqualifikation für alle
Versicherungsvermittler verbindlich machen und nicht
nur für die ungebundenen. Tut sie dies nicht, könnte sich
zum Beispiel ein bislang ungebundener Vermittler einer
Ausschließlichkeitsorganisation anschließen, um seine
Kunden fortan ohne Sachkundenachweis zu beraten.
Dieses Schlupfloch würde die angestrebte Qualitätssi-
cherung ad absurdum führen.
Ohne einheitliche Regeln kommt es darüber hinaus zu
einer klaren Wettbewerbsverzerrung zulasten derjenigen,
für die die Mindestqualität eine Markteintrittsbarriere
darstellt. Das aber kann die Bundesregierung nicht wol-
len! Zudem besteht die Gefahr, dass zahlreiche ungebun-
dene Vermittler und Makler aufgeben müssen. In Groß-
britannien sind nach der Umsetzung der Richtlinie rund
zwei Drittel aller Vermittler vom Markt verschwunden.
Eine derartige Ausdünnung des Angebots kann nicht im
Sinne des Verbrauchers sein!
Unverständlich ist zudem, dass sich die Inhalte der
Sachkundeprüfung nahezu ausschließlich an der Qualifi-
kation des Versicherungsfachmanns des Berufsbildungs-
werks der Deutschen Versicherungswirtschaft, aber
kaum an den Bedürfnissen der Makler orientieren, die ja
von der Neuregelung besonders betroffen sind und deren
Beratungsansatz zum Teil deutlich von dem der gebun-
denen Versicherungsvertreter abweicht.
Warum sich laut Gesetzentwurf die Prüfungskommis-
sion ausschließlich aus Vertretern der Versicherungswirt-
schaft zusammensetzt, bleibt ebenfalls ein Rätsel. Ange-
messener und gerechter wäre es, sie paritätisch auch mit
Versicherungsmaklern zu besetzen.
Ohne eine Veränderung des Gesetzes in diesen beiden
Punkten kommt es zu der absurden Situation, dass die
Inhalte von nicht gebundenen Vermittlern sich am Be-
rufsbild des gebundenen Versicherungsvertreters orien-
tieren, der aber qua Gesetz von der Prüfung ausgeschlos-
sen ist. Im Gesetz heißt es, dass ein erfolgreiches
Studium an einer Hochschule oder Berufsakademie einer
Sachkundeprüfung gleichkommt, wenn es von der IHK
anerkannt wird. Praktikabler und daher sinnvoller wäre
sicherlich eine bundesweit einheitliche Anerkennung al-
ler akademischer Titel mit wirtschaftlichem und juristi-
schem Hintergrund, weil eine Einzelfallentscheidung je-
der IHK zu einem hohen bürokratischen Aufwand sowie
zu großen regionalen Unterschieden führen würde.
Überlegenswert ist auch, ob die Sachkundeprüfung
statt über IHK bzw. DIHK nicht besser über ein unab-
hängiges Gütesiegel geregelt werden sollte. Durch diese
Art der Selbstverpflichtung, die sich im Immobilienbe-
reich bereits bewährt hat, ist für den Verbraucher klar er-
sichtlich, ob der Vermittler eine Sachkundeprüfung ab-
solviert, eine Berufshaftpflicht abgeschlossen und im
Auftrag des Kunden oder im Auftrag eines Versicherers
als gebundener Vermittler tätig ist. Wichtig erscheint mir
auch, eine flexible Regelung für die Anerkennung der
teilweise hohen Standards der Sachkundeprüfung, die es
heute schon gibt, zu finden.
Systemfremd und daher kritikwürdig ist an dem Ge-
setzentwurf die Einbeziehung des Berufs des Versiche-
rungsberaters. Da seine Dienstleistung einzig und allein
auf die Beratung und nicht, wie bei einem Vermittler, auf
den Abschluss eines Vertrages ausgerichtet ist, hat er in
einem Vermittlergesetz nichts zu suchen. Deshalb sollte
die berufsrechtliche Verankerung des Versicherungsbe-
raters auch künftig im Rechtsberatungsgesetz verblei-
ben.
Noch ein paar Worte zum Thema Registrierung, die
zu begrüßen ist, weil sie den Markt vor schwarzen Scha-
fen schützt. Nach den Plänen der Bundesregierung soll
täglich eine Liste mit gelöschten Registrierungsnum-
mern der Vermittler entstehen. Unverständlicherweise
soll sie aber ausschließlich Versicherungsunternehmen
zugänglich gemacht werden. Hier wird, wie bei der
Sachkundeprüfung, ebenfalls mit zweierlei Maß gemes-
sen und Makler sowie nicht gebundene Versicherungs-
vertreter deutlich benachteiligt. Genauso wie die Versi-
cherer können sie für die Qualität ihrer Vermittler nur
dann garantieren, wenn sie Zugang zu den Daten des Re-
gisters haben. Ich fordere daher die Bundesregierung
nachdrücklich auf, dies durch das Gesetz sicher zu stel-
len.
Auch bezüglich der Haftpflichtversicherung ist der
Gesetzentwurf nicht stimmig. So soll es gestattet sein,
dass das Versicherungsunternehmen die Haftung für ei-
nen Vertreter übernimmt. Kommt es tatsächlich zu einer
Schadensersatzforderung, wird es für den Kunden aber
unter Umständen schwierig, den Versicherer anstelle des
einzelnen Vermittlers und dessen Berufshaftpflichtversi-
cherung in Regress zu nehmen, zum Beispiel, wenn es
sich um kleine Versicherer handelt, die sich in wirt-
schaftlichen Schwierigkeiten befinden. Zudem stellt
diese Regelung eine Wettbewerbsverzerrung dar, weil
unabhängige Makler im Gegensatz zu einem Versicherer
für jeden Vermittler die Prämie zur Berufshaftpflichtver-
sicherung aufbringen müssen. Aus diesen Gründen wäre
4224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
es angebracht, die Pflicht zum Abschluss einer Berufs-
haftpflichtversicherung für jeden einzelnen Vermittler
verbindlich vorzuschreiben.
Zum Abschluss möchte ich noch auf das Thema Bera-
tung eingehen. Laut Gesetzentwurf besteht die Möglich-
keit, durch Vereinbarung auf die eigentlich vorgeschrie-
bene Beratung und Dokumentation zu verzichten. In
diesem Fall muss der Vermittler allerdings den Kunden
ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass sich ein
Verzicht nachteilig auf die Möglichkeit auswirken kann,
Schadenersatz geltend zu machen.
Die Intention des Gesetzgebers ist es, den Bürokratie-
aufwand in Grenzen zu halten. Um dies zu erreichen,
könnte die vorliegende gesetzliche Regelung noch etwas
verschlankt werden. Damit der Beratungsverzicht effizi-
ent und ohne großen Aufwand erfolgen kann, muss dies
auch auf elektronischem Wege und als Bestandteil des
Beratungsprotokolls möglich sein. Dass der Verzicht Ge-
genstand einer gesonderten Vereinbarung in einem eige-
nen Dokument sein muss, ist eindeutig überzogen.
Der Regierungsentwurf sieht vor, dass gewisse Ver-
mittlertätigkeiten aufgrund ihres unbeachtlichen Um-
fangs, ihres geringen Risikos sowie der geringen Höhe
der Versicherungsprämie, wie zum Beispiel durch Reise-
kaufleute vermittelte Reiserücktrittsversicherungen, von
der Berufszulassung ausgenommen sind. Nicht entbun-
den sind sie laut Gesetz allerdings von der Pflicht zur
Beratung und Dokumentation, also den zivilrechtlichen
Pflichten des Gesetzes. Das ist ebenso unverhältnismä-
ßig wie überflüssig und geht zudem auch klar über die
Vorgaben der Richtlinie hinaus. Hier besteht im Gesetz-
entwurf Änderungsbedarf.
Da die praktische Umsetzung des Gesetzes nicht
übers Knie gebrochen werden kann und viele bereits
jetzt tätige Vermittler noch keine Sachkundeprüfung ab-
gelegt haben und diese nachholen müssen, reicht die im
Entwurf vorgesehene einjährige Übergangsfrist für das
In-Kraft-Treten nicht aus und sollte auf zwei Jahre ver-
längert werden. Insgesamt gesehen zielt der Gesetzent-
wurf in die richtige Richtung, enthält aber eine ganze
Menge Punkte, die überarbeitet und verbessert werden
sollten.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Das entscheidende Manko
des durch die Bundesregierung vorgelegten Gesetzent-
wurfs besteht darin, dass im Titel zwar von Neuregelung
des Versicherungsvermittlerrechts die Rede ist, die Bun-
desregierung offenbar im Wesentlichen aber bemüht ist,
alles beim Alten zu lassen. An den bestehenden klein-
gliedrigen Vertriebsstrukturen im Versicherungswesen
soll im Kern nicht gerührt werden, obgleich diese Struk-
turen sich in verschiedener Hinsicht als ineffizient und
unwirtschaftlich darstellen. Sie sind maßgeblich dafür
verantwortlich, dass viele Menschen und viele Familien
erhebliche Schwierigkeiten haben, den für sie passenden
Versicherungsschutz zu finden und nicht angemessen
versichert sind. Für die betroffenen Verbraucher entste-
hen so Jahr für Jahr Verluste in Milliardenhöhe.
Es ist symptomatisch für die Politik der Bundesregie-
rung, dass sie einerseits oftmals mehr Markt dort fordert
und fördert, wo es weder im Interesse der gesellschaftli-
chen Mehrheit noch ein Gebot gesamtwirtschaftlicher
Vernunft ist, wie in der Bildung, der Daseinsvorsorge
oder im Gesundheitswesen, und andererseits dort, wo die
Schaffung von marktlichen Bedingungen tatsächlich ge-
boten wäre, um faire Verhältnisse zu schaffen, konse-
quent versagt. Aufgrund der hohen Intransparenz des
Marktes und der Informationsasymmetrien zwischen
Versicherungsanbietern und -nachfragern bestimmt bis
heute vor allem die Höhe der durch die Unternehmen an
die Vermittler gezahlte Provision die Beratung und den
Absatz von Versicherungen. Der tatsächliche Bedarf der
Kunden oder gar der Vergleich von Qualitäts- und Preis-
standards der Versicherungsprodukte spielen nur eine
unmaßgebliche Rolle. Die Verbraucherzentrale schätzt,
dass den rund 200 tatsächlich unabhängigen und auf Ho-
norarbasis arbeitenden Versicherungsberatern in
Deutschland rund eine halbe Million Versicherungsver-
mittler gegenüberstehen. Deren fachliche Qualifikation
ist oftmals gering, zumindest aber sehr uneinheitlich.
Vor allem aber berät und vermittelt ein großer Teil von
ihnen zu Bedingungen, die überwiegend durch die Versi-
cherungsunternehmen vorgegeben sind.
Es geht hier folglich um Geld, um viel Geld. Das
Geld, das die Verbraucherinnen und Verbraucher auf-
grund der falschen Anreizstruktur für überteuerte oder
unsachgerechte Versicherungsprodukte ausgeben, lan-
det schließlich in den Kassen der Versicherungskon-
zerne. So ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn
diese Gesetzesvorlage vor allem Beifall vonseiten der
Versicherungswirtschaft und ihrer offensichtlich ein-
flussreichen Lobby bekommt. Verbraucherschutz ist
aber durchaus auch eine Frage der Verlässlichkeit der
Qualifikation derer, die als Makler bzw. als Anlaufstel-
len für Kunden auf dem Markt agieren. Hier eine ange-
messene Qualifizierung und vergleichbarer Standards zu
gewährleisten, war eines der Kernziele der zugrunde lie-
genden EU-Richtlinie. Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf wird dieses Ziel jedoch in keiner Weise eingelöst.
Die Frage, was als angemessen gilt, wird weder wirklich
beantwortet, noch werden Regelungen getroffen, durch
die die Unternehmen, die Vermittler einsetzen oder sich
ihrer bedienen, eine der Verantwortung der Berufspraxis
gemäße Qualifikation sicherstellen müssen.
Während für die Ausübung vieler Berufe in Deutsch-
land aus guten Gründen eine mindestens dreijährige Aus-
bildung vorgeschrieben ist, sollen für die verantwortungs-
volle und mindestens für die Kunden unter Umständen
folgenreiche Tätigkeit der Versicherungsvermittlung
222 Unterrichtsstunden à 45 Minuten ausreichend sein.
Dies sind netto, auf einen Acht-Stunden-Tag gerechnet,
knapp 21 Tage, die als ausreichender Qualifizierungszeit-
raum gelten sollen. In die Hände einer solchen „Fach-
kraft“ würde freiwillig wohl kaum jemand auch nur einen
defekten Toaster legen. Die Chance, auf diesem Feld zu
verbesserten Bedingungen zu kommen und sachgerechte
Anforderungen an Qualifikation und entsprechende öko-
nomische Anreize zu setzen, wird ebenso vertan wie die
Chance zur Stärkung der anbieterunabhängigen Beratung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4225
(A) (C)
(B) (D)
Hier ist die Marktgläubigkeit der Bundesregierung
dann offenbar wieder grenzenlos. Stattdessen wäre sie
jedoch gefordert, erst einmal klare Rahmenbedingungen
und Vorgaben zu setzen, damit ein funktionierender
Markt überhaupt entstehen kann. Da er die mit dieser
Gesetzesvorlage nicht bekommt, bleibt also alles beim
Alten, zugunsten und zur Freude einiger weniger großer
Versicherungskonzerne, die davon profitieren und zulas-
ten der Privatkunden und Verbraucher. Einmal mehr
werden die Möglichkeiten nicht genutzt, Mindeststan-
dards im europäischen Rahmen zum volkswirtschaftli-
chen Nutzen und zum Wohle der Mehrheit der Men-
schen nach oben zu korrigieren.
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit den vom Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung der EG-Versicherungsvermittler-Richtlinie
hat das Kabinett versucht, die Brüsseler Richtlinie in
deutsches Recht zu gießen. Die Umsetzung war längst
überfällig, scheiterte aber stets an den Abstimmungen
mit den Ländern.
Bisher mussten sich Verbraucherinnen und Verbrau-
cher in Deutschland bei dem wichtigen Thema Versiche-
rungen damit abfinden, dass viele Versicherungsvermitt-
ler gar nicht ausreichend für eine Beratung qualifiziert
waren; denn der Beruf des Versicherungsvermittlers war
frei zugänglich und verlangte keine Qualifikationsnach-
weise.
Mit dem Gesetzentwurf soll nun der Beruf des Versi-
cherungsvermittlers neu geregelt werden. Der Gesetz-
entwurf sieht unter anderem vor, dass Versicherungsver-
mittler zukünftig angemessene Qualifikationen
nachweisen müssen, bevor sie den Verbraucherinnen
und Verbrauchern Versicherungen empfehlen und ver-
kaufen. Versicherungsvermittler müssen sich bei der In-
dustrie- und Handelskammer registrieren lassen und
über eine obligatorische Berufshaftpflichtversicherung
verfügen. Außerdem haben sie bestimmte Beratungs-,
Informations- und Dokumentationspflichten gegenüber
ihren Kunden.
Wir halten die Umsetzung der Versicherungsvermitt-
ler-Richtlinie für dringend geboten, denn das bisherige
Fehlen von Qualifikationsnachweisen, Beratungspflich-
ten und Berufsausübungsschranken in diesem Berufsfeld
hat dazu geführt, dass es unter den deutschen Versiche-
rungsvermittlern schwarze Schafe gab, die ihre Versi-
cherungskunden mangelhaft beraten und ihnen teure und
oft überflüssige Versicherungen verkauft haben.
Allerdings weist der deutsche Gesetzentwurf erhebli-
che Mängel auf, die nach wie vor zulasten der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher gehen. Im Vergleich zur
Brüsseler Vorgabe schränkt der deutsche Entwurf die
Beratungspflicht dem Kunden gegenüber bedauerlicher-
weise erheblich ein. Wichtige Fragen wie die Sachkun-
deprüfung, die Haftpflichtversicherung und die Informa-
tionspflichten werden gar nicht ausgeführt, sondern auf
weitere Rechtsverordnungen vertagt. Insgesamt entsteht
der Eindruck, hier wird eine EU-Richtlinie nur formal
umgesetzt, die Verbesserung der Verbraucherrechte aber
geschoben.
Es kann nicht im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher sein, dass sich die Beratungspflichten nach
einem angemessenen Verhältnis zwischen Beratungsauf-
wand und der vom Kunden zu zahlenden Versicherungs-
prämie richten. Denn für den Kunden bedeutet das letzt-
lich: Je niedriger die Versicherungsprämie, desto
weniger Beratung! Die Bundesregierung geht hier irr-
tümlicherweise davon aus, dass die größeren Risiken in
den höheren Prämien liegen und berücksichtigt das ab-
gesicherte Risiko nicht. Eine Privathaftpflichtversiche-
rung mit einer niedrigen Jahresprämie unter 100 Euro
versichert Schäden in Millionenhöhe. Wer hier die fal-
sche Wahl trifft, bleibt unter Umständen auf einem Rie-
senschaden sitzen.
Zu viele Bundesbürger sind fehl- bzw. unterversi-
chert. Deshalb müsste bei einer sinnvollen Beratung zu-
nächst der Versicherungsbedarf geklärt und festgehalten
werden. Anzustreben ist eine individualisierte Risiko-
analyse des Kunden. Auch diese allgemeine Regel sieht
der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Und
im Gegensatz zur EU-Vorgabe soll es in Deutschland
möglich sein, ganz auf den Schutzgedanken der Richtli-
nie zu verzichten und die vorgesehenen Auskünfte nicht
zu erteilen. Bei Falschberatungen hat der Kunde so
nichts in der Hand und wird Schadenersatzansprüche
kaum durchsetzen können.
Bezüglich der Qualifikationsanforderungen an den
Versicherungsvermittler gibt der Entwurf keine klare
Definition vor. Er spricht hier lediglich von einer „ange-
messenen“ Qualifikation, wie diese real auszusehen hat,
bleibt aber einer weiteren Rechtsverordnung überlassen.
Aus Verbrauchersicht besonders unerfreulich ist die feh-
lende Erkennbarkeit und Zuverlässigkeit der Qualifika-
tion. Je nachdem, ob der Vermittler angestellt, nebenbe-
ruflich tätig oder selbstständig ist, werden
unterschiedliche Anforderungen an seinen Sachkunde-
nachweis gestellt. Die Sachkundeanforderungen sollten
aber sowohl im Interesse der Vermittler als auch der Ver-
braucher für jeden gleich sein.
Auch die Haftpflichtschutzregelung der Versiche-
rungsvermittler ist noch nicht geregeft. Die Versiche-
rungsvermittler müssen zwar in Zukunft eine Berufshaft-
pflichtversicherung abschließen, aber auch hier wird die
genauere Ausgestaltung auf eine weitere Rechtsverord-
nung verschoben. Angesichts der bereits in der Diskus-
sion befindlichen und abzulehnenden marktüblichen Ri-
sikoausschlüsse hätte die Bundesregierung hier für
Klarheit sorgen müssen. Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf bleibt also weiterhin offen, ob eine Haftpflicht-
versicherung bei vorsätzlicher Falschberatung überhaupt
haftet.
Abschließend bleibt zu sagen, dass wir von dem Ge-
setzentwurf zur Neuregelung des Versicherungsver-
mittlerrechts mehr erwarten: Nämlich, dass er einerseits
die Verbraucherinteressen umfassend berücksichtigt und
andererseits den Versicherungsvermittlern ein einfaches
und verständliches Regelwerk an die Hand gibt.
4226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 32
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform des Personenstandsrechts (Personen-
standsrechtsreformgesetz – PStRG) (Tagesord-
nungspunkt 37 a)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Mit dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. August
2005 „Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Personen-
standsrechts“ soll das geltende Personenstandsgesetz von
1937 in der Fassung vom 8. August 1957 grundlegend re-
formiert werden. Obwohl das deutsche Personenstands-
wesen seit der Einführung der staatlichen Personen-
standsbuchführung vor etwa 130 Jahren seinen Zweck
vollauf erfüllt, wurde nunmehr von unterschiedlicher
Seite am geltenden Recht zunehmend Kritik hinsichtlich
des Beurkundungssystems, der Beurkundungsmedien,
des Beurkundungsinhalts und der Voraussetzungen für
Registerbenutzung geübt.
Gesichtspunkte wie Deregulierung, Verwaltungsver-
einfachung und Kostenreduzierung finden in dem Re-
formgesetz stärkere Berücksichtigung, ohne dass da-
durch die Personenstandsbuchführung an sich und ihre
Servicefunktion gegenüber dem Bürger beeinträchtigt
wird. So sieht der Gesetzentwurf vor, ein sehr kosten-
trächtiges Personenstandsbuch, das „Familienbuch“, ab-
zuschaffen und durch ein erheblich kostengünstigeres
Angebot inhaltsgleicher Leistungen, das zudem alle Bür-
ger erreicht, zu ersetzen. Die Schwerpunkte des Perso-
nenstandsreformgesetzes sind die Einführung elektroni-
scher Personenstandsregister anstelle der bisherigen
Personenstandsbücher, die Begrenzung der Fortführung
der Personenstandsregister durch das Standesamt und
die Abgabe der Register an die Archive, die Ersetzung
des Familienbuches durch Beurkundungen in den Perso-
nenstandsregistern, die Reduzierung der Beurkundungs-
daten auf das für die Dokumentation des Personenstan-
des erforderliche Maß sowie die Neuordnung der
Benutzung der Personenstandsbücher.
Alleine die Tatsache, dass jährlich etwa 400 000 Ehe-
schließungen einen Berg von Familienbüchern – die
nicht mit den so genannten Stammbüchern der Familie
zu verwechseln sind – ansteigen lässt, der auf 20 Millio-
nen geschätzt werden kann, und zudem die fortschrei-
tende Mobilität der Bevölkerung zur Folge hat, dass sich
ein großer Teil der Familienbücher ständig auf dem Post-
weg zu einem anderen, durch Wohnungswechsel zustän-
dig gewordenen Standesbeamten befindet, zeigt deut-
lich, dass dieses umständliche und kostenaufwendige
Verfahren nicht mehr den heutigen Anforderungen ge-
recht wird. Mit moderner Technik könnten die Abläufe
schneller und kostengünstiger bewerkstelligt werden.
Die Möglichkeiten der elektronischen Kommunika-
tion gestatten es, dass mit großem Verwaltungsaufwand
geführte Familienbuch abzuschaffen. Durch die Abschaf-
fung des Familienbuches, das im Wesentlichen Beurkun-
dungen enthält, die primär bereits in den Geburten-, Hei-
rats- und Sterbebüchern enthalten sind, wird zudem kein
Datenverlust eintreten.
Auch sind die Beurkundungsmediern seit der Einfüh-
rung der staatlichen Personenstandsregistrierung unver-
ändert geblieben und zwingend vorgeschrieben. Dies
beinhaltet, dass nur bestimmte Papiersorten und Schreib-
mittel für die Personenstandsbuchführung benutzt wer-
den dürfen, damit der vorgegebenen dauernden Aufbe-
wahrung und der damit verbundenen Haltbarkeit der
Personenstandsbücher Rechnung getragen wird. Nach-
dem die elektronische Datenverarbeitung Einzug in die
Standesämter gehalten hat, sind die Arbeiten im Zusam-
menhang mit der Beurkundung eines Personenstands-
falls so organisiert, dass alle erforderlichen Daten elek-
tronisch erfasst werden und der Datenbestand für den
Ausdruck des Eintrags, etwaiger Personenstandsurkun-
den und Folgearbeiten – wie beispielsweise Mitteilungen
an Behörden – genutzt wird. Da das geltende Recht ein
„drittes Personenstandsbuch“ nicht zulässt, muss der Da-
tenbestand, der bei weiterer Bereithaltung und Nutzung
einem solchen „Buch“ gleichkäme, unmittelbar nach der
Beurkundung gelöscht werden. Zu Recht wird diesem
Verfahren kritisch entgegengehalten, dass vorhandene
Datenbestände unnötig verloren gehen, also nicht ge-
pflegt und weiter genutzt werden können.
Beim Beurkundungsinhalt wurde seit längerer Zeit
bemängelt, dass die Eintragungen nicht auf das für die
Beurkundung erforderliche Maß reduziert seien. So sind
zum Beispiel Angaben zum Beruf und zur Religionszu-
gehörigkeit als nicht personenstandsrelevante Angaben
aus dem Angabenkatalog zu streichen. Der Gesetzent-
wurf sieht nunmehr vor, die Beurkundungsdaten auf das
für die Dokumentation des Personenstandes unbedingt
erforderliche Maß zu reduzieren. So wird künftig in al-
len Registern auf die Angabe des Berufs-, im Heirats-
und Geburtenregister auf die Angabe des Wohnortes der
Eheschließenden bzw. der Eltern und im Geburten- und
Sterberegister auf die Angaben zum Anzeigenden ver-
zichtet.
Der Gesetzentwurf sieht ferner vor, anstelle der bishe-
rigen Personenstandsbücher elektronische Personen-
standsregister einzuführen. Es wird somit eine Grund-
lage für die Einführung der IT-gestützten Beurkundung
von Personenstandsfällen geschaffen und der Verwal-
tungsaufwand wird in den deutschen Standesämtern dau-
erhaft reduziert. Dadurch können Personenstandsurkun-
den künftig schneller ausgestellt und Register leichter
eingesehen werden, auch der Service gegenüber dem
Bürger wird verbessert. Die Bürger sollen dadurch, dass
Urkunden nicht mehr nur von dem registerführenden
Standesamt ausgestellt werden können, schneller als bis-
her an benötige Personenstandsurkunden gelangen.
Besonders begrüße ich, dass die Bundesregierung
zwischenzeitlich die Gegenäußerung zur Stellungnahme
des Bundesrates zum Gesetzesentwurf beschlossen hat,
der unter anderem noch davon ausging, dass die Zustän-
digkeit für die Begründung und die Beurkundung von
eingetragenen Lebenspartnerschaften einheitlich beim
Standesbeamten bzw. beim Standesamt liegen und die
bisher unterschiedlichen landesrechtlichen Zuständig-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4227
(A) (C)
(B) (D)
keiten entfallen sollen. Diese Regelung wurde zugunsten
der landesrechtlichen Zuständigkeiten zurückgestellt, da
sich die landesrechtlichen Regelungen zum Beispiel in
Baden-Württemberg und in Bayern bewährt haben.
In Bayern beispielsweise, wo durch das Gesetz zur
Ausführung des Lebenspartnerschaftsgesetz die Zustän-
digkeit für die Mitwirkung bei der Begründung und die
Beurkundung von Lebenspartnerschaften auf die Notare
übertragen wurde, unterstreichen rund 1 500 im Lebens-
partnerschaftsbuch registrierte Lebenspartnerschaften
und die durchweg positive Resonanz der Beteiligten die
Akzeptanz und die Qualifikation der Notare. Die Kom-
petenz der Notare bei der Beratung über Möglichkeiten
und Folgen des Rechtsinstituts der Lebenspartnerschaft,
insbesondere im Familien- und Erbrecht, werden von
den künftigen Lebenspartnern besonders geschätzt, was
sich nicht zuletzt an den Paaren aus anderen Ländern
und auch aus dem Ausland zeigt, die die Begründung ih-
rer Partnerschaft vor einem bayerischen Notar wün-
schen. Viele Paare schätzen überdies die Diskretion der
Notarlösung.
Hinsichtlich der Kosten wird nach überschlägiger Be-
rechnung die Einführung der Informationstechnik nach
Abschluss der Umstellungsphase zu jährlichen Mehraus-
gaben von rund 14 Millionen Euro führen. Dem stehen
Einsparungen von ca. 18 Millionen Euro gegenüber, so-
dass sich per Saldo ein jährliches Einsparvolumen von
rund 4 Millionen Euro ergibt. Bei den Standesämtern ist
langfristig mit einem jährlichen Einsparvolumen von
rund 46 Millionen Euro zu rechnen.
Das Personenstandsreformgesetz ist somit eine längst
überfällige Maßnahme und ein weiterer wichtiger Schritt
auf dem Weg zum Bürokratieabbau und zum modernen
Staat.
Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte
Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. De-
zember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die Richt-
linie, die den Verbraucherschutz und die Harmonisie-
rung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von
Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um-
gesetzt werden müssen, sodass nun Eile geboten ist. Zu
der Verzögerung kam es vor allem durch den anhalten-
den Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene
Konzept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zei-
gen sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte
Grundkonzept zu akzeptieren, sodass wir nun doch zu
einer hoffentlich zügigen Verabschiedung der Neurege-
lung kommen werden.
Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset-
zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um
Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die
Registrierungspflicht und die Normierung der Informa-
tions- und Dokumentationspflichten des Vermittlers ge-
schützt werden – und darum, die deutschen Versiche-
rungsvermittler fit zu machen gegen die europäische
Konkurrenz. Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers
in einem zusammenwachsenden Europa wird harmoni-
siert, und grenzüberschreitende Vermittlungen werden
vereinfacht.
Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf-
liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher-
geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum
„schwarze Schafe“ aus diesem Gewerbe herauszufiltern.
Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö-
sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser
Branche.
Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der
bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsver-
mittlers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen,
dass die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und
Registrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragen-
den Versicherungsvermittler werden. Damit einher ge-
hen Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern,
eine Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufs-
haftpflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations-
und Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden.
Nach der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbe-
ratungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das
neu geschaffene System für Versicherungsvermittler zu
integrieren. Das heißt, Versicherungsberater müssen sich
ebenfalls registrieren lassen und bedürfen nun einer Er-
laubnis der IHK, wobei die Anforderungen denen für
Versicherungsvermittler entsprechen. Auch die für Ver-
sicherungsmakler geltenden Berufsausübungsvorschrif-
ten, insbesondere die Beratungs-, Dokumentations- und
Informationspflichten, gelten entsprechend für Versiche-
rungsberater. Bislang unterliegt die Versicherungsver-
mittlung keinerlei Berufszugangsbeschränkungen. Er ist
nur zur Anzeige seiner Tätigkeit gemäß § 14 Gewerbe-
ordnung verpflichtet.
Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor
allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche-
rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver-
sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden
bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be-
schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver-
braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft
wahrt. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelungen ist.
Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür-
fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d
der Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK
und müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch
für den Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung
zuständig. Die IHKs bedienen sich für die Registerfüh-
rung des DIHK als gemeinsamer Stelle.
Versicherungsvermittler sind unter Bußgeldbeweh-
rung verpflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen
zu lassen. Außerdem werden die Versicherungsunterneh-
men verpflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbei-
ten, die in das Register für Versicherungsvermittler
eingetragen sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuver-
lässigkeit, Abschluss einer Berufshaftpflichtversiche-
rung sowie Sachkundenachweis.
Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prü-
fung erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche
etablierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/-
4228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
frau des Berufsbildungswerks der Deutschen Versiche-
rungswirtschaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK
und BWV bereits einen Rahmenvertrag abgeschlossen.
Gleichwertige staatliche Abschlüsse werden anerkannt.
Versicherungsvermittler, die schon seit dem 31. August
2000 tätig waren, genießen Bestandsschutz. Jeder Ver-
mittler hat dafür zu sorgen, dass auch seine angestellten
Vermittler angemessen qualifiziert und zuverlässig sind.
Die circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich an
ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so ge-
nannte Ausschließlichkeitsvertreter –, können von der
Erlaubnis befreit werden, wenn sie über eine uneinge-
schränkte Haftungsübernahme des Versicherers verfü-
gen. Die Verantwortung für die Zuverlässigkeit und die
Qualifikation übernimmt dann der jeweilige Versicherer.
Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel
Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
vorgesehen.
Grundsätzlich muss ein Makler als Sachwalter des
Kunden seinen Rat auf eine hinreichende Zahl von auf
dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen und
Versicherern stützen, die er im Wege einer objektiv aus-
gewogenen Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Ver-
tragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Informa-
tions- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung
für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermitt-
ler, die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem
Kunden die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten
Versicherer anzugeben.
Der Vermittler muss dem Kunden noch vor Beginn
des Beratungsgespräches mitteilen, ob er als Versiche-
rungsmakler, als Versicherungsvertreter oder Versiche-
rungsberater tätig ist. Durch Normierung dieser statusbe-
zogenen Informationspflichten in der Verordnung über
die Versicherungsvermittlung soll dem Kunden schon
vor Beginn der Beratung größtmögliche Transparenz er-
möglicht werden. Grundsätzlich müssen Versicherungs-
vermittler, die Zahlungen der Kunden annehmen, ohne
dazu bevollmächtigt zu sein, in Anlehnung an die Mak-
ler- und Bauträgerverordnung eine Sicherheit stellen.
Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und
Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds-
leute schaffen, was ich sehr begrüße.
Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset-
zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches
Recht mit geringstmöglichen bürokratischen Aufwand
gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver-
braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher
unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die
Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche-
rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafen haben zu-
künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das
Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen
wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da-
mit die Versicherungswirtschaft europafest.
Gisela Piltz (FDP): Die Reform des Personenstands-
rechts ist ein Vorhaben, das schon seit langem in Angriff
genommen werden sollte. Bereits im Jahre 1996 bat das
Bundesministerium des Innern die obersten Landesbe-
hörden um eine Stellungnahme zu einem Vorentwurf.
Leider wurde das Vorhaben nach dem Regierungswech-
sel 1998 erst einmal auf Eis gelegt. Seit vorgestern wis-
sen wir nun, dass wir über einen Gesetzentwurf von über
250 Seiten Umfang in der Nacht von Donnerstag auf
Freitag debattieren dürfen.
Leider zeigt diese kurzfristige Terminierung der ers-
ten Lesung in der Nacht nur allzu deutlich, dass die
große Koalition der Reform entweder keine große Be-
deutung zumisst oder aber an einer breiten Diskussion
nicht interessiert ist. Darüber hinaus ist es auch eine
Missachtung der parlamentarischen Gepflogenheiten,
ein so umfangreiches Gesetz mit einer derart umfassen-
den Reform im Personenstandswesen erst zwei Tage vor
der Sitzung auf die Tagesordnung des Parlaments setzen
zu lassen.
Selbst bei Hausdurchsuchungen und Vollstreckungs-
handlungen wird dem Betroffenen eine Nachtzeit zuge-
billigt, in der keine Handlungen ohne weiteres vorge-
nommen werden dürfen. Dagegen soll der Deutschen
Bundestag zur Nachtzeit und damit letztlich zur Unzeit
wichtige Reformgesetze auf den Weg bringen. Wie passt
das zusammen? Jedenfalls dürfte die Änderung vorkon-
stitutionellen Rechts über Nacht – das Gesetz stammt im
Kern aus dem Jahre 1937 – ein Novum in der Geschichte
des deutschen Parlamentarismus sein. Frei nach dem
Motto: Nachts werden die Faulen fleißig.
Die Reform des Personenstandsrechts hätte wesent-
lich mehr Aufmerksamkeit verdient. Denn mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurfsoll das Personenstandswesen
nach über 50 Jahren bzw., bezogen auf den Zeitpunkt der
ersten Verkündung, nach fast 70 Jahren grundlegend
überarbeitet werden. Die FDP-Bundestagsfraktion be-
grüßt grundsätzlich eine Vereinfachung und Modernisie-
rung des Personenstandsrechts. Die technischen Mög-
lichkeiten haben sich grundlegend verändert und die
Anforderungen an die Aufbewahrung wichtiger Doku-
mente unterliegen anderen Maßstäben. Allerdings ist
fraglich, ob durch den vorliegenden Gesetzentwurf eine
grundsätzliche Modernisierung geschaffen werden kann.
Der Einzug der elektronischen Datenverarbeitung im
Personenstandswesen hat bereits heute die Arbeiten im
Zusammenhang mit der Beurkundung eines Personen-
standsfalls deutlich verändert. Für den weiterer Einsatz
und den Ausbau dieser Technik muss aber gelten: Der
Einsatz von technischen Systemen muss transparent und
unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Betrof-
fenen erfolgen. Gerade das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung darf nicht durch technisch schnellere
und vereinfachte Verfahren unverhältnismäßig einge-
schränkt werden. Maßstab für die Liberalen ist es des-
halb, Vereinfachungen und Verbesserungen für die Be-
hörden und den Bürger zu schaffen, die sich an den
Bürgerrechten orientieren und nicht umgekehrt.
Der vorliegende Gesetzentwurf geht davon aus, dass
die personenstandsrechtlichen Grundbeurkunden wie
Geburt, Eheschließungen und Tod sowie die damit zu-
sammenhängenden öffentlichen Beurkundungen und
Beglaubigungen von einer Behörde befasst werden sol-
len. Es muss aber auch sichergestellt werden, dass sen-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4229
(A) (C)
(B) (D)
sible Personendaten nicht an andere Behörden ohne wei-
teres weitergegeben werden dürfen. Mit der Erweiterung
im Rahmen des Personenstandsregisters um das Gebur-
tenregister sollen die technischen Voraussetzungen dafür
geschaffen werden, dass später einmal persönliche Iden-
tifikationsmerkmale an Neugeborene vergeben und ge-
speichert werden können. Die FDP hat immer deutlich
gemacht, dass sie dies ablehnt.
Am Schalter einer Behörde ist die Sicherheit persönli-
cher Informationen für den Bürger schnell feststellbar.
Durch einen Blick nach rechts und links ist einfach er-
kennbar, ob eine unberechtigte Person etwas hören oder
sehen kann. Bei der Kommunikation über das Internet ist
das nicht so. Gerade beim Umgang mit sensiblen Daten
ist daher der umfassende Schutz, beispielsweise durch
bestimmte Verschlüsselungstechniken, das A und O.
Hier sehe ich im vorliegenden Gesetzentwurf nur den
Hinweis, dass mit einer „dauerhaften überprüfbaren qua-
lifizierten elektronischen Signatur“ die Beurkundung
beispielsweise gesichert werden soll. Deshalb ist für
mich nicht einsichtig, warum Einzelheiten über den Ein-
satz und die Beschaffenheit der elektronischen Verfahren
zur Führung der Personenstandsregister in einer Rechts-
verordnung am Parlament vorbei geregelt werden sollen.
Darüber hinaus möchte ich die Frage stellen, ob durch
die Ermächtigungsgrundlage an die Landesregierungen,
ein zentrales elektronisches Personenstandsregister und
dessen Führung einzurichten, nicht die Gefahr besteht,
dass diese sensiblen Daten schneller und einfacher miss-
braucht werden können. Auch bei der dezentralen Ein-
richtung eines elektronischen Personenstandsregisters
können Daten in kürzester Zeit verschlüsselt übermittelt
werden, ohne dass ein Direktzugriff anderer Behörden
erforderlich ist. Bei einem zentralen Register ist auch der
Druck zur Einrichtung automatisierter Abrufverfahren
wesentlich größer als bei dezentralen Registern mit ei-
nem entsprechend geringerem Datenbestand. Wir Libe-
rale lehnen zentrale Auskunfteien ab. Auch die Diskus-
sion um den elektronischen Pass hat deutlich gemacht,
dass viele Fachleute ein zentrales Erfassen von Daten
nicht wollen. Deshalb ist die Einführung eines zentralen
Personenstandregisters durch die Hintertür für uns nicht
hinnehmbar.
Auch die Frage der einheitlichen Zuständigkeit der
Standesämter bei den Lebenspartnerschaften ist ein wei-
terer wichtiger Bereich, den die Bundesregierung offen-
bar jetzt wieder kippen will. Die Bundesjustizministerin
hat auf dem Verbandstag des Lesben- und Schwulenver-
bandes in diesem Jahr noch angekündigt, die Vereinheit-
lichung beibehalten zu wollen. Allerdings ist in der
Gegenäußerung der Bundesregierung von dieser Verein-
heitlichung nichts mehr zu lesen. Vielmehr soll einer
Länderöffnungsklausel zugestimmt werden, die diesem
widerspricht. Damit zeigt sich, dass es offenbar über-
haupt keine grundlegende Abstimmung gegeben hat. Die
FDP-Bundestagsfraktion hat eine Vereinheitlichung
mehrfach angemahnt und wird dieses auch im weiteren
Gesetzgebungsverfahren tun.
Die Neuordnung des Personenstandswesens wird für
die Standesämter der Kommunen einen großen organisa-
torischen und finanziellen Aufwand bedeuten. In dem
Gesetzentwurf sind diesbezüglich Angaben zu der Höhe
der Kosten gemacht worden. Nach mehreren Jahren sol-
len diese Kosten allerdings durch den Umbau des Sys-
tems eingespart werden können. Die dargelegten Be-
rechnungen bleiben aber das Geheimnis der Verfasser.
Das kritisieren die Kommunalvertreter und dieser Kritik
schließen wir uns an. Eine Berechung, die wir als Parla-
mentarier nicht nachvollziehen können ist nichts wert
und meistens wird es hinterher doch teurer. Alleine die
elektronische Führung der Personenstandsregister und
Personenstandszweitregister führt zu einem Kostenauf-
wand für die Einrichtung, Pflege und Sicherung der Re-
gister, der die kommunalen Haushalte in jedem Fall sehr
stark belasten wird. Nach Expertenschätzungen sind die
angegebenen Einsparungen in den kommenden 20 bis
25 Jahren nicht zu erwarten. Politik sollte zwar in län-
gerfristigen Zeiträumen denken, aber ob das in diesem
konkreten Fall der Kommunen hilft, wage ich zu be-
zweifeln.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Debatte über
die Reform des Personenstandswesens kritisch in den
Ausschüssen und im Plenum des Deutschen Bundesta-
ges begleiten und ich hoffe, dass das weitere parlamenta-
rische Verfahren so nicht weitergeführt wird, wie es ge-
rade begonnen hat.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke im Bundestag
begrüßt die Reform des derzeit geltenden Personen-
standsgesetzes. Auch die – wenigstens angedeutete – all-
gemeine Richtung der Reform – weg von einer Vor-
schrift für bürokratische Datensammelwut hin zu einem
bürgernahen und bürgerfreundlichen Gesetz – ist positiv
zu bewerten. Leider folgt das Gesetz in der konkreten
Ausgestaltung aber einer geradezu zur Mode geworde-
nen Tendenz, das Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung in ganz kleinen Münzen auszuzahlen. Zum
Beispiel werden das problematische Melderechtsrah-
mengesetz und das Justizmitteilungsgesetz zum Maßstab
für zwischenbehördliche Datenübermittlung genom-
men. Abzulehnen ist das Gesetz also, weil es unter dem
Strich den gläsernen Bürger zur Folge hat. Es eröffnet
die Möglichkeit der unkontrollierten Datenübermittlung
zwischen den Behörden.
Das bisherige Regelungswerk ist angefüllt mit Vor-
schriften und Regelungen, die der heutigen Zeit und den
heutigen Gegebenheiten schlicht und ergreifend nicht
mehr gerecht werden. Ich möchte das an einigen Bei-
spielen zeigen: Zum einen gibt es die Konstruktion des
Familienbuches. Der Öffentlichkeit ist das weitgehend
unbekannt. Nachfragen nach Urkunden aus diesem Fa-
milienbuch sind selten. Dennoch führt gerade dieses
Buch zu einem enormen Arbeitsaufwand in deutschen
Standesämtern denn, das Familienbuch ist ein „wandern-
des“ Buch. Das bedeutet, dass es bei einem Wohnort-
wechsel an den neuen, zuständigen Standesbeamten wei-
tergeleitet werden muss. Deshalb müssen, auch aufgrund
der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung, ständig
neue Verschickungen erfolgen. Eine Abschaffung dieses
aufwendigen Buches wäre wünschenswert.
4230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
(A) (C)
(B) (D)
Ein weiters Beispiel ist der Zwang, die Beurkundung
auf Papier durchzuführen. Gleichzeitig darf nach gelten-
dem Recht kein „drittes Personenstandsbuch“ geführt
werden. Wenn bei der Bearbeitung eines Personen-
standsfalls nun alle Daten elektronisch erfasst werden,
so müssen diese nach Beendigung der Bearbeitung wie-
der gelöscht werden, da eine Aufbewahrung einem drit-
ten Buche entspräche. Das ist einfach nicht mehr zeitge-
mäß. Eine ganze Reihe von Angaben in den
Personenstandsbüchern ist schlicht und ergreifend nicht
personenstandsbezogen, wie etwa Angaben über Beruf
und Religionszugehörigkeit. Sie haben deshalb darin
auch nichts zu suchen. Änderungen in diesen Punkten
könnten wir durchaus zustimmen. Die Umstellung der
Personenstandsregister vom papierenen auf das elektro-
nische Medium ist ein sinnvoller Ansatz. Positive Erfah-
rungen in benachbarten Staaten zeigen das. Auch die
Minimierung des Registrierungsaufwandes durch Erset-
zung des heutigen papiernen Zweitregisters durch ein
elektronisches, nur zu Sicherungszwecken extra aufzu-
bewahrendes, unterstreicht diesen Weg.
Der künftige Verzicht auf das wenig genutzte Fami-
lienbuch reduziert den Arbeitsaufwand genauso wie die
vorgesehene Beurkundungsmöglichkeit bei im Ausland
geschlossenen Ehen und die Beurkundung von Sterbe-
fällen im Ausland. Die Reduzierung der Personen-
standsurkunden um solche, die in Deutschland kaum
notwendig sind, keinen Nutzen bringen und im Ausland
zum größten Teil unbekannt sind, wird von uns ebenfalls
positiv gesehen.
Die wissenschaftsfreundliche Regelung eines erleich-
terten Zugangs zu nicht mehr geführten Personenstands-
registern ist zu begrüßen, sofern grundsätzliche daten-
schutzrechtliche Vorschriften und Verfahrensweisen und
die Rechte der Betroffenen eingehalten, angewendet und
geschützt werden.
Die Erweiterung der Möglichkeit zur elektronischen
Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern ei-
nerseits, Behörden und Gerichten andererseits ist eben-
falls ein Fortschritt, wenn technische und rechtliche Si-
cherungen vor unerlaubtem Zugriff gewährleistet
werden. Auf die Sicherheit der Übermittlung derartiger
sensibler Daten ist allerdings fortlaufend zu achten. Da
es sich hier um sehr sensible Informationen handelt, ist
ein hoher Schutz gegen unbefugten Eingriff ständig zu
gewährleisten und dieser regelmäßig zu überprüfen.
Die Datenübermittlung zwischen Behörden auf der
Grundlage einer schlichten Ermächtigungsformel wie
„soweit es zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig“ zu-
zulassen, wird dem Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung nicht gerecht. Im Zusammenhang mit der Vor-
bereitung auf eine neue Volkszählung wird schon
diskutiert, wie durch „Ertüchtigung“ der bei Behörden
vorhandenen Registerdaten die schon existierende ein-
heitliche Steuernummer erneut zu einer Personenkenn-
nummer ausgebaut werden könnte. Eine solche Perso-
nenkennziffer hatte das Bundesverfassungsgericht in
seinem Urteil zur Volkszählung eindeutig verboten.
Zusammenfassend: Maßstab für alle Gesetze müssen
die Standards des Rechts auf informationelle Selbstbe-
stimmung sein. Dazu gehören die Regelung von Aus-
kunftspflichten, Einwilligungsregeln, Widerspruchs-
rechte und ein Antragsrecht auf Löschung. Solche
einschlägigen datenschutzrechtlichen Forderungen se-
hen wir nicht eingelöst. Das Gesetz lehnen wir deshalb
ab.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Warum heute zur Geisterstunde dieser Ge-
setzentwurf von der Großen Koalition eingebracht wird,
erschließt sich mir aufgrund des Vorlaufes nicht. Es geht
hier um die grundlegende Reform des aus dem Jahre
1937 stammenden Personenstandsgesetzes in der Fas-
sung vom 8. August 1957. Seit 2003 verhandelt eine
Bund/Länder-Arbeitsgruppe über die Reform des Perso-
nenstandsrechts. Der bereits von der rot-grünen Bundes-
regierung in den Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf
wurde über Monate beraten; an die 50 Änderungsanträge
kamen aus den Ländern.
Das Gesetzgebungsverfahren finde ich außerordent-
lich interessant. Als Gesetzestext wird hier offensichtlich
die rot-grüne Fassung eingebracht. Als Anlage erhalten
wir die Änderungswünsche des Bundesrates und die
Stellungnahme der jetzigen Bundesregierung, die in ei-
nem entscheidenden Punkt das Gegenteil von dem for-
dert, was vernünftigerweise im Gesetz steht.
Der eingebrachte Entwurf eines Gesetzes der Bundes-
regierung zur Reform des Personenstandsrechts sieht für
eingetragene Lebenspartnerschaften bundeseinheitlich
das Standesamt als zuständige Behörde vor. Das begrü-
ßen wir; das ist eine sachgerechte und vernünftige Lö-
sung. Eine einheitliche Behördenzuständigkeit schafft
Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. In der Stellung-
nahme der Bundesregierung zu den Änderungswünschen
des Bundesrates stimmt die große Koalition einer Län-
deröffnungsklausel zu. Das ist Unsinn. Damit würde die
Zersplitterung der Zuständigkeit für die eingetragene Le-
benspartnerschaft weiter zementiert.
Fünf Jahre nach In-Kraft-Treten des Lebenspartner-
schaftsgesetzes ist es Zeit, endlich zu einer Vereinheitli-
chung zu kommen. Von der Standesamtslösung abwei-
chende Länderregelungen werden von den Betroffenen
zu Recht als Diskriminierung empfunden. Der Hinter-
grund ist klar: Ihnen soll signalisiert werden, dass ihre
Beziehung weniger wert ist als eine Ehe. Eine solche
Haltung ist einer weltoffenen Gesellschaft nicht würdig.
Die Zersplitterung hat sich, wie abzusehen war, auch
verwaltungstechnisch nicht bewährt. Es gibt keine zu-
verlässige Dokumentation der Lebenspartnerschaften in
den Personenstandsregistern. Zuständigkeitsregelungen
sind nicht aufeinander abgestimmt. Menschen, die sich
eintragen lassen wollen, treffen mitunter auf Kommunal-
beamte, die im Personenstandsrecht alles andere als
sachkundig sind. Nur weil einige Länderregierungen
weiter ideologische Vorbehalte gegen gleichgeschlecht-
liche Paare haben, soll verwaltungstechnischer Wirrwarr
fortgeschrieben werden. Dem viel beschworenen Büro-
kratieabbau läuft das diametral entgegen.
Die große Koalition veranstaltet hier ein nächtliches
Gesetzesmarathon. Zwischen 20 Uhr und 3 Uhr sollen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4231
(A) (C)
(B) (D)
nach ihrem Zeitplan zwölf Regierungsgesetze vom Bun-
destag behandelt werden. Offensichtlich scheuen Sie mit
Ihrer widersprüchlichen Politik das Tageslicht. Wenn die
Ziele der Gesetze im Dunkeln bleiben, kann man sie ja
auch im Dunkeln beraten.
Ich fordere die Regierungsfraktionen auf, dem vorlie-
genden Gesetzentwurf zuzustimmen und nicht dem An-
sinnen der Bundesregierung zu folgen, die Länderöff-
nungsklausel im Nachhinein durch Änderungsanträge
aufzunehmen. Dies wäre eine unsinnige Verschlechte-
rung des Gesetzes und stünde den Zielen der Moderni-
sierung und des Bürokratieabbaus diametral entgegen.
Es kann doch nicht ernsthaft am Ende des Gesetzesver-
fahrens ein elektronisches Personenstandsregister für die
Ehe geben und einen Rückfall in das Wirrwarr der
Kleinstaaterei für die eingetragene Lebenspartnerschaft.
Das Parlament ist der Gesetzgeber und ich habe die
Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Schmerz-
grenze der Regierungsfraktionen gegenüber dem Murks
der Bundesregierung irgendwann erreicht ist. In diesem
Sinne wünsche ich uns eine vernunftgeleitete Debatte in
den Fachausschüssen.
43. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26
Anlage 27
Anlage 28
Anlage 29
Anlage 30
Anlage 31
Anlage 32