1) Anlage 32
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4145
        (A) (C)
        (B) (D)
        eränderungsgesetz 2007 aus folgenden Gründen nicht
        zu: Die Absenkung der Altersgrenze für die Gewährung
        bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem
        Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung des Europarates
        Anlage 2
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
        wurf eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Ta-
        gesordnungspunkt 3 a)
        Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Ich stimme dem Steu-
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Adam, Ulrich CDU/CSU 29.06.2006*
        Bär, Dorothee CDU/CSU 29.06.2006
        Barnett, Doris SPD 29.06.2006*
        Bartsch, Dietmar DIE LINKE 29.06.2006
        Bollen, Clemens SPD 29.06.2006
        Deittert, Hubert CDU/CSU 29.06.2006*
        Fischbach, Ingrid CDU/CSU 29.06.2006
        Fischer (Karlsruhe-
        Land), Axel E.
        CDU/CSU 29.06.2006*
        Hilsberg, Stephan SPD 29.06.2006
        Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 29.06.2006
        Klug, Astrid SPD 29.06.2006
        Kolbow, Walter SPD 29.06.2006
        Link (Heilbronn),
        Michael
        FDP 29.06.2006
        Lintner, Eduard CDU/CSU 29.06.2006*
        Lopez, Helga SPD 29.06.2006
        Multhaupt, Gesine SPD 29.06.2006
        Niebel, Dirk FDP 29.06.2006
        Strothmann, Lena CDU/CSU 29.06.2006
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        von Kindergeld bzw. kindbedingten Steuerfreibeträgen
        auf die Zeit vor Vollendung des 25. Lebensjahres halte
        ich zwar grundsätzlich für vertretbar. Unzureichend sind
        jedoch die Übergangsfristen bei der Absenkung der Al-
        tersgrenze, die zu kurz bemessen sind.
        Die Beschränkung der Entfernungspauschale auf
        Fernpendler, Ausschluss von 20 Entfernungskilometern,
        halte ich für falsch und ungerecht. Alternativ hätte die
        Werbekostenpauschale abgesenkt und die Entfernungs-
        pauschale vom ersten Kilometer an beibehalten werden
        müssen.
        Siegmund Ehrmann (SPD): Die Beratungen zum
        Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es in
        sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachteili-
        gung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn die
        Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorgesehen
        kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade diese
        Berufsgruppe, die in den vergangen Jahren erhebliche
        Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen und zu-
        dem noch infolge der Verlagerung der Arbeitsplätze an
        weiter entfernte Zechenstandorte zusätzliche Aufwen-
        dungen hat, wird durch den Wegfall der bisher steuerfrei
        entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt.
        Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“
        der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung
        ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem ak-
        tuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu-
        mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren
        können, um den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit
        einer Kompensation einzuräumen. Die für Finanzen zu-
        ständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
        tion haben sich aber mit dem Argument des „fehlenden
        Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine Beibehaltung
        der Bergmannsprämie ausgesprochen und somit jedwede
        Änderung vereitelt.
        Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf-
        fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags-
        fraktion – und somit auch der Unterzeichner – erkennt
        den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen
        Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge-
        genüber der Streichung der Entfernungspauschale und
        der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem
        21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech-
        tere Modelle gegeben.
        Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für
        die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro
        Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent-
        fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu-
        zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit
        920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche
        Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt
        und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel
        abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können.
        Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer-
        4146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen
        müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem
        die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells
        ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti-
        ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung
        versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des
        Alternativmodells vereitelt.
        Gabriele Frechen (SPD): Das Steueränderungsge-
        setz 2007 verfolgt das Ziel, weitere Steuervergünstigun-
        gen und Ausnahmetatbestände abzubauen, den Finanzie-
        rungsbeitrag von Spitzenverdienern zumindest in
        geringem Umfang zu erhöhen und damit die öffentlichen
        Haushalte zu konsolidieren. Diese Zielsetzung halte ich
        für richtig. Deshalb stimme ich dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf der Regierungskoalition zu. Ich halte jedoch
        die Kürzung der Entfernungspauschale für falsch. Die
        Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Ar-
        beitsplatz sind berufsbedingte Kosten und müssen damit
        auch steuerlich als Werbungskosten anerkannt werden.
        Das nun zur Entscheidung stehende Modell, das die
        Wegekosten erst ab dem 21. Kilometer berücksichtigt, ist
        nicht sachgerecht. Es führt zu einer ungerechten Vertei-
        lung der zusätzlichen Belastungen. Im Lichte der Ergeb-
        nisse der Expertenanhörung haben wir deshalb versucht,
        diesen Punkt zu korrigieren und das vorgegebene Konso-
        lidierungsvolumen durch eine geringere lineare Kürzung
        der Pendlerpauschale sowie eine Absenkung des Arbeit-
        nehmerpauschbetrags zu erreichen. Diese Lösung hätte
        die Belastungen gerechter verteilt und die tatsächliche
        Subventionierung durch die Arbeitnehmerpauschale re-
        duziert. Obwohl Teile der Union außerhalb des Parla-
        ments vorgegeben haben, für eine sachgerechte Lösung
        offen zu sein, hat die CDU/CSU-Fraktion sich einer Ver-
        besserung des Gesetzentwurfs verweigert.
        Ich gehe auf Basis der juristischen Stellungnahme des
        Bundesfinanzministeriums davon aus, dass die Heraus-
        nahme der Pendlerpauschale aus den Werbungskosten
        keine negativen Auswirkungen für die Arbeitnehmerin-
        nen und Arbeitnehmer im Sozial- und Arbeitsrecht ha-
        ben wird.
        Für problematisch halte ich die komplette Streichung
        der Bergmannsprämie ab 2008. Der Koalitionsvertrag
        sah nur die Abschaffung der Steuerfreiheit vor. Das wäre
        zumindest kurz- und mittelfristig die bessere Lösung ge-
        wesen. Auch hier konnte keine Veränderung erreicht
        werden. Außerdem habe ich mich für eine Verlängerung
        der Übergangszeit bei der Absenkung der Bezugsdauer
        des Kindergeldbezuges eingesetzt. Ich hielte eine wei-
        tere Übergangsfrist von zwei Jahren für sachgerechter.
        Da ich den Grundsatz und die Notwendigkeit der
        Haushaltskonsolidierung für richtig halte, stimme ich
        trotz der gemachten Bedenken diesem Gesetzentwurf zu.
        Petra Hinz (Essen) (SPD): Die Beratungen zum
        Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es in
        sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachteili-
        gung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn die
        Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorgesehe-
        nen kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade
        diese Berufsgruppe, die in den vergangenen Jahren er-
        hebliche Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen
        und zudem noch infolge der Verlagerung der Arbeits-
        plätze an weiter entfernte Zechenstandort zusätzliche
        Aufwendungen hat, wird durch den Wegfall der bisher
        steuerfrei entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt.
        Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“
        der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung
        ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem
        aktuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu-
        mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren
        können, um den Tarifvertragsparteien die Möglich-
        keit einer Kompensation einzuräumen. Die für Finan-
        zen zuständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bundes-
        tagsfraktion haben sich aber mit dem Argument des
        „fehlenden Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine
        Beibehaltung der Bergmannsprämie ausgesprochen und
        somit jedwede Änderung vereitelt.
        Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf-
        fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags-
        fraktion – und somit auch die Unterzeichnerin – erkennt
        den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen
        Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge-
        genüber der Streichung der Entfernungspauschale und
        der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem
        21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech-
        tere Modelle gegeben.
        Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für
        die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro
        Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent-
        fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu-
        zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit
        920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche
        Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt
        und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel
        abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können.
        Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer-
        bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem
        Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von
        920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen
        müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem
        die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells
        ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti-
        ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung
        versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des
        Alternativmodells vereitelt.
        Dr. Bärbel Kofler (SPD): Aufgrund der Änderungen
        im Bereich der Entfernungspauschale sehe ich mich au-
        ßer Stande, dem Steueränderungsgesetz zuzustimmen.
        Nicht nur, dass es Arbeitnehmern insbesondere in ländli-
        chen Regionen nicht zu vermitteln ist, dass ihre real ent-
        stehenden Kosten zur Erhaltung ihres Arbeitsplatzes
        steuerlich anders behandelt werden als vergleichbare
        Aufwendungen Selbstständiger. Ich halte es auch für
        nicht richtig, steuerliche Tatbestände zu schaffen, die ge-
        gebenenfalls versicherungsrechtlich negative Folgen für
        Arbeitnehmer nach sich ziehen. Darüber hinaus bin ich
        der Meinung, die vorliegende Regelung ist verfassungs-
        widrig. Entsprechende Klagen vor dem Bundesverfas-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4147
        (A) (C)
        (B) (D)
        sungsgericht und daraus folgende Unsicherheiten für den
        Bundeshaushalt tragen meines Erachtens nicht in dem
        Maß zu der erhofften Konsolidierung des Haushaltes
        bei.
        Leider kann ich generell im Entwurf zum Steuerände-
        rungsgesetz 2007 keinen ausgewogenen und gerechten
        Beitrag aller Bevölkerungsteile zur Haushaltskonsolidie-
        rung erkennen. Das weitaus größte Einsparvolumen
        muss von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern er-
        bracht werden. Diese Tendenz der Steuergesetzgebung
        erfüllt mich mit großer Sorge.
        Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Die Beratungen
        zum Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es
        in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachtei-
        ligung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn
        die Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorge-
        sehenen kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade
        diese Berufsgruppe, die in den vergangen Jahren erhebli-
        che Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen und
        zudem noch infolge der Verlagerung der Arbeitsplätze
        an weiter entfernte Zechenstandorte zusätzliche Auf-
        wendungen hat, wird durch den Wegfall der bisher steu-
        erfrei entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt.
        Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“
        der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung
        ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem
        aktuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu-
        mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren
        können, um den Tarifvertragsparteien die Mög-
        lichkeit einer Kompensation einzuräumen. Die für Fi-
        nanzen zuständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bun-
        destagsfraktion haben sich aber mit dem Argument des
        „fehlenden Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine
        Beibehaltung der Bergmannsprämie ausgesprochen und
        somit jedwede Änderung vereitelt.
        Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf-
        fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags-
        fraktion – und somit auch den Unterzeichner – erkennt
        den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen
        Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge-
        genüber der Streichung der Entfernungspauschale und
        der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem
        21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech-
        tere Modelle gegeben.
        Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für
        die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro
        Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent-
        fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu-
        zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit
        920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche
        Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt
        und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel
        abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können.
        Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer-
        bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem
        Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von
        920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen
        müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem
        die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells
        ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti-
        ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung
        versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des
        Alternativmodells vereitelt.
        Hilde Mattheis (SPD): Heute wird über den Koali-
        tionsentwurf eines Steueränderungsgesetzes abgestimmt.
        Ich halte vor allem die vorgesehenen Kürzungen bei der
        Entfernungspauschale und die Absenkung der Alters-
        grenze beim Kindergeld für falsch. Gleichzeitig habe ich
        Verständnis für die Proteste der Lehrer und Lehrerinnen
        bezüglich der Streichung der steuerlichen Absetzbarkeit
        von häuslichen Arbeitszimmern. Daher werde ich gegen
        diesen Gesetzentwurf stimmen.
        Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Trotz mei-
        ner erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ge-
        genüber der im Gesetzentwurf enthaltenen Regelung zur
        Pendlerpauschale stimme ich diesem Gesetzentwurf,
        16/1545, zu. Ich vertraue hierbei den Aussagen des Bun-
        desfinanzministers, Herrn Peer Steinbrück, und den
        Fachleuten des Ministeriums für Finanzen, die wieder-
        holt und ausdrücklich auf die verfassungsmäßige Unbe-
        denklichkeit des Gesetzes hingewiesen haben.
        Auch bei der Notwendigkeit der Haushaltskonsolidie-
        rung und der dauerhaften Sanierung der öffentlichen
        Haushalte ist meine Zustimmung mit der Zusage des
        BMF verbunden, dass die Konsolidierungsmaßnahmen
        dem Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit entsprechen
        und diese nicht zulasten von ländlichen und struktur-
        schwachen Regionen erfolgen.
        Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Mit dem Steu-
        eränderungsgesetz 2007 werden insbesondere im Koali-
        tionsvertrag vorgesehene Maßnahmen umgesetzt. Geplant
        ist unter anderem die Beschränkung der Entfernungspau-
        schale auf Fernpendler, Ausschluss von 20 Entfernungski-
        lometern. Auch der Bundesrat hat um verfassungsrechtliche
        Überprüfung gebeten. Die Äußerung des Bundesfinanz-
        ministers zu diesem Sachverhalt überzeugt nicht. Man
        stellt Folgendes fest:
        Vor dem Hintergrund, dass von Beschäftigten heute
        eine erhöhte Mobilität und Flexibilität gefordert
        wird, hält die Bundesregierung Wahrung der sozia-
        len Ausgewogenheit der Regelung und im Hinblick
        auf Artikel 6 Abs. l des Grundgesetzes die vorge-
        schlagene Härtefallregelung für sachgerecht und im
        Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip für
        verfassungsrechtlich möglich.
        Die Feststellung, dass es „verfassungsrechtlich mög-
        lich“ ist, ist sehr vage. Deshalb ist zu befürchten, dass
        die Entscheidung des Parlaments einer verfassungsrecht-
        lichen Prüfung nicht standhält.
        Im Übrigen betrifft diese Entscheidung vor allem den
        ländlichen Raum. Da ausreichende ÖPNV-Angebote
        kaum vorhanden sind, werden Arbeitnehmerinnen und
        Arbeitnehmer hier besonders benachteiligt, obwohl die
        Politik eine immer größere Flexibilität von ihnen fordert.
        4148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Silvia Schmidt (SPD): Das Steueränderungsgesetz
        2007 ist ein wichtiger Baustein zur notwendigen Konso-
        lidierung des Haushaltes und damit auch zur Wiederer-
        langung staatlicher Gestaltungsspielräume. Beispiels-
        weise werden durch die 3-prozentige Erhöhung des
        Spitzensteuersatzes für jährliche Einkommen ab 250 000/
        500 000 Euro, ledig/verheiratet, Spitzenverdiener zu ei-
        nem solidarischen Konsolidierungsbeitrag verpflichtet.
        Neben einer Reihe von weiteren notwendigen Maßnah-
        men sieht das Gesetz eine schrittweise Streichung der
        Bergmannsprämie vor. Wir lehnen dies ab. Die 1956 zur
        Anerkennung der besonderen Leistungen des unter Tage
        tätigen Bergmanns geschaffene Prämie hat auch heute
        ihre Berechtigung nicht verloren. Die Arbeit der Berg-
        leute hat sich zwar verändert, findet aber nach wie vor un-
        ter erschwerten Bedingungen statt. Im Übrigen haben die
        Betroffenen in den vergangenen Jahren durch massiven
        Arbeitsplatzabbau, Umstrukurierungen und Rationalisie-
        rungsmaßnahmen teilweise schmerzliche Einkommens-
        einbußen erlitten. Ebenso sind viele Bergleute als Fern-
        pendler von der Kürzung der Entfernungspauschale be-
        troffen.
        Die betroffenen Standorte des Steinkohle- und Kali-
        bergbaus liegen ausnahmslos in strukturschwächeren
        Regionen. Ihnen droht ein weiterer massiver Kaufkraftver-
        lust, der mittelfristig durch entsprechende Tarifsteigerun-
        gen nicht kompensiert werden kann. Selbstverständlich
        müssen alle Bevölkerungsgruppen zur Konsolidierung
        des Haushaltes herangezogen werden. Im Vergleich zu
        anderen Berufsgruppen trifft es die Bergleute mit rund
        1 000 Euro netto jährlich in besonderer Härte.
        Vor dem Hintergrund des bescheidenen Einsparpoten-
        zials im Bundeshaushalt von rund 23 Millionen Euro
        missbilligen wir die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion,
        auf dem Verhandlungsweg eine stärker an den Interessen
        der Bergleute orientierte Kompromisslösung zu erzielen.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Klaus Hofbauer und Bartho-
        lomäus Kalb (beide CDU/CSU) zur namentli-
        chen Abstimmung über den Entwurf eines Steu-
        eränderungsgesetzes 2007
        (Tagesordnungspunkt 3 a)
        Mit dem Steueränderungsgesetz 2007 werden insbe-
        sondere im Koalitionsvertrag vorgesehene Maßnahmen
        umgesetzt. Geplant ist unter anderem die Beschränkung
        der Entfernungspauschale auf Fernpendler, Ausschluss
        von 20 Entfernungskilometern. Auch der Bundesrat hat
        um verfassungsrechtliche Überprüfung gebeten. Die Äu-
        ßerung des Bundesfinanzministers zu diesem Sachver-
        halt überzeugt nicht. Man stellt Folgendes fest:
        Vor dem Hintergrund, dass von Beschäftigten heute
        eine erhöhte Mobilität und Flexibilität gefordert
        wird, hält die Bundesregierung zur Wahrung der so-
        zialen Ausgewogenheit der Regelung und im Hin-
        blick auf Artikel 6 Abs. l des Grundgesetzes die
        vorgeschlagene Härtefallregelung für sachgerecht
        und im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprin-
        zip für verfassungsrechtlich möglich.
        Die Feststellung, dass es „verfassungsrechtlich mög-
        lich“ ist, ist sehr vage. Deshalb ist zu befürchten, dass
        die Entscheidung des Parlaments einer verfassungsrecht-
        lichen Prüfung nicht standhält.
        Im Übrigen betrifft diese Entscheidung vor allem den
        ländlichen Raum. Da ausreichende ÖPNV-Angebote
        kaum vorhanden sind, werden Arbeitnehmerinnen und
        Arbeitnehmer hier besonders benachteiligt, obwohl auch
        die Politik eine immer größere Flexibilität von ihnen for-
        dert.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Lothar Binding (Heidel-
        berg), Dr. Frank Schmidt und Gunter Weißger-
        ber (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung
        über den Entwurf eines Steueränderungsgeset-
        zes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a)
        Nach bisherigem Recht können für Fahrten zum
        Arbeitsplatz für jeden Entfernungskilometer 30 Cent als
        Werbungskosten von der Steuer abgesetzt werden, die so
        genannte Pendlerpauschale. Mit Wirkung zum 1. Januar
        2007 soll das so genannte Werkstorprinzip eingeführt
        werden. Aufwendungen für den Weg zum Arbeitsplatz
        gehören dann zum Privatbereich und können nicht mehr
        steuerlich geltend gemacht werden. Lediglich als „Här-
        tefallausgleich“ sollen ab 1. Januar 2007 für Fernpendler
        die Fahrtkosten ab dem 21. Entfernungskilometer mit
        30 Cent pro Kilometer von der Steuer als Werbungskos-
        ten anerkannt werden. Die Entfernungspauschale wird
        dabei mit der Werbungskostenpauschale von 920 Euro
        verrechnet. Durch diese Maßnahme werden Mehrein-
        nahmen von etwa 2,5 Milliarden Euro pro Jahr erwartet.
        In unserem Kulturkreis, anders als zum Beispiel in
        den USA, wohnt man zu Hause und fährt zum Zwecke
        der Einkommenserzielung an den Arbeitsplatz. Einem
        ähnlichen Denkansatz folgen auch die Regelungen bei
        der Wegeunfallversicherung. Die formalrechtliche Mög-
        lichkeit, hier zwischen Steuerecht und Versicherungs-
        recht zu unterscheiden, hebt den durch die Beschlussfas-
        sung erzeugten Widerspruch nicht auf. Gegen diese
        Veränderungen beim Werbungskostenabzug haben wir
        erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, denn mit
        der Unstetigkeitsstelle hinsichtlich der Behandlung der
        Pendlerpauschale bis 20 Kilometer und darüber besteht
        die Gefahr der Verfassungswidrigkeit.
        Hintergrund dieser vermuteten Verfassungswidrig-
        keit ist die Tatsache, dass es sich bei den Kosten für
        Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz um klassi-
        sche Werbungskosten handelt. Da derartige Aufwendun-
        gen dem Steuerpflichtigen zum Lebensunterhalt nicht
        zur Verfügung stehen, müssen sie steuerlich als Wer-
        bungskosten berücksichtigt werden. Durch diese Neure-
        gelung werden wie bisher pauschal auch jene Arbeitneh-
        mer begünstigt, die keine Kosten haben. Belastet werden
        hingegen jene, die „echte“ Kosten, Fahrtkosten haben.
        Zur Vermeidung dieses Verfassungsrisikos haben wir
        vorgeschlagen, die Arbeitnehmerpauschale auf 500 Euro
        zu senken, sie gleichzeitig nicht auf die Entfernungspau-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4149
        (A) (C)
        (B) (D)
        schale anzurechnen und die Entfernungspauschale auf
        20 Cent pro Kilometer für die ersten 20 Kilometer und
        auf 25 Cent pro Kilometer für die weiteren Kilometer
        festzulegen. Damit wären die fiskalpolitisch notwendi-
        gen 2,5 Milliarden Euro pro Jahr ebenso erreichbar, die
        Belastungswirkung für alle Arbeitnehmer wäre aber ge-
        rechter.
        Wir stimmen dem Gesetzentwurf in der geänderten
        Fassung trotzdem zu, weil das Ganze mehr ist als die
        Summe seiner Teile und der Entwurf des Steuerände-
        rungsgesetzes ein Maßnahmenpaket ist, das unabdingbar
        zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes notwendig ist.
        Und Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiger Schritt
        auf dem Weg den Sozialstaat zukunftsfest zu gestalten.
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Gerd Bollmann, Dieter Gra-
        sedieck, Christoph Pries und Axel Schäfer (Bo-
        chum) (alle SPD) zur namentlichen Abstim-
        mung über den Entwurf eines
        Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesordnungs-
        punkt 3 a)
        Das vorliegende Steueränderungsgesetz dient der zü-
        gigen und dauerhaften Konsolidierung der öffentlichen
        Haushalte. Der Entwurf sieht Regelungen vor, die einer-
        seits auf eine dauerhafte Sanierung der öffentlichen
        Haushalte zielen, andererseits aber den Grundsätzen der
        individuellen Leistungsfähigkeit und der Verteilungsge-
        rechtigkeit sowie der Steuervereinfachung dienen. Diese
        Ziele unterstützen auch die Unterzeichner. Mit unserer
        grundsätzlichen Zustimmung erkennen wir an, dass die-
        ser Gesetzentwurf grundsätzlich die angestrebten Ziele
        erreicht.
        Wir müssen jedoch verdeutlichen, dass wir die Ab-
        schaffung der Bergmannsprämie und deren Begründung
        ablehnen. Die Abschaffung der Bergmannsprämie be-
        deutet für die unter Tage Beschäftigten eine Lohnein-
        buße bis zu 1 000 Euro jährlich. Angesichts der Lohn-
        entwicklung gerade im Bergbau sind wir der Meinung,
        dass diese Einbußen sozial ungerecht sind. Die unter
        Tage Beschäftigten haben in den letzten Jahren auf
        Lohnzuwächse verzichtet und auch im Vergleich mit an-
        deren Berufsgruppen stärkere Einkommensverluste ak-
        zeptiert. Der Wegfall der Bergmannsprämie bedeutet
        eine überproportionale finanzielle Belastung für eine Be-
        rufsgruppe. Das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit wird
        hier verletzt.
        Anlage 6
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Michael Roth (Heringen),
        Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Joachim Poß,
        Ernst Kranz, Waltraud Lehn und Johannes
        Pflug (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung
        über den Entwurf eines Steueränderungsgeset-
        zes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a)
        Das Steueränderungsgesetz 2007 ist ein wichtiger
        Baustein zur notwendigen Konsolidierung des Haushal-
        tes und damit auch zur Wiedererlangung staatlicher Ge-
        staltungsspielräume. Beispielsweise werden durch die
        3-prozentige Erhöhung des Spitzensteuersatzes für jähr-
        liche Einkommen ab 250 000/500 000 Euro, ledig/ver-
        heiratet, Spitzenverdiener zu einem solidarischen Kon-
        solidierungsbeitrag verpflichtet. Neben einer Reihe von
        weiteren notwendigen Maßnahmen sieht das Gesetz eine
        schrittweise Streichung der Bergmannsprämie vor. Wir
        lehnen dies ab. Die 1956 zur Anerkennung der besonde-
        ren Leistungen des unter Tage tätigen Bergmanns ge-
        schaffene Prämie hat auch heute ihre Berechtigung nicht
        verloren. Die Arbeit der Bergleute hat sich zwar verän-
        dert, findet aber nach wie vor unter erschwerten Bedin-
        gungen statt. Im Übrigen haben die Betroffenen in den
        vergangenen Jahren durch massiven Arbeitsplatzabbau,
        Umstrukturierungen und Rationalisierungsmaßnahmen
        teilweise schmerzliche Einkommenseinbußen erlitten.
        Ebenso sind viele Bergleute als Fernpendler von der
        Kürzung der Entfernungspauschale betroffen.
        Die betroffenen Standorte des Steinkohle- und Kali-
        bergbaus liegen ausnahmslos in strukturschwächeren
        Regionen. Ihnen droht ein weiterer massiver Kaufkraftver-
        lust, der mittelfristig durch entsprechende Tarifsteigerun-
        gen nicht kompensiert werden kann. Selbstverständlich
        müssen alle Bevölkerungsgruppen zur Konsolidierung
        des Haushaltes herangezogen werden. Im Vergleich zu
        anderen Berufsgruppen trifft es die Bergleute mit rund
        1 000 Euro netto jährlich in besonderer Härte.
        Vor dem Hintergrund des bescheidenen Einsparpoten-
        zials im Bundeshaushalt von rund 23 Millionen Euro
        missbilligen wir die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion,
        auf dem Verhandlungsweg eine stärker an den Interessen
        der Bergleute orientierte Kompromisslösung zu erzielen.
        Anlage 7
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Florian Pronold, Marco
        Bülow, Ulla Burchardt, Martin Burkert,
        Dr. Carl-Christian Dressel, Petra Ernstberger,
        Gabriele Fograscher, Peter Friedrich, Angelika
        Graf (Rosenheim), Gabriele Groneberg, Bettina
        Hagedorn, Reinhold Hemker, Frank Hofmann
        (Volkach), Lothar Ibrügger, Brunhilde Irber,
        Christian Kleiminger, Rolf Kramer, Anette
        Kramme, Jürgen Kucharczyk, Dirk Man-
        zewski, Lothar Mark, Detlef Müller (Chem-
        nitz), Heinz Paula, Maik Reichel, Gerold Rei-
        chenbach, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Renate
        Schmidt (Nürnberg), Heinz Schmitt (Landau),
        Ewald Schurer, Dr. Angelica Schwall-Düren,
        Christoph Strässer, Jella Teuchner, Rüdiger
        Veit und Dr. Wolfgang Wodarg (alle SPD) zur
        namentlichen Abstimmung über den Entwurf
        eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesord-
        nungspunkt 3 a)
        Das Steueränderungsgesetz 2007 verfolgt das Ziel,
        weitere Steuervergünstigungen und Ausnahmetatbe-
        4150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        stände abzubauen, den Finanzierungsbeitrag von Spitzen-
        verdienern zumindest in geringem Umfang zu erhöhen
        und damit die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.
        Diese Zielsetzung halten wir für richtig. Deshalb stim-
        men wir dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regie-
        rungskoalition zu.
        Wir halten jedoch die Kürzung der Entfernungspau-
        schale für falsch. Die Aufwendungen für Fahrten zwi-
        schen Wohnung und Arbeitsplatz sind eindeutig berufs-
        bedingte Kosten und müssen damit auch steuerlich als
        Werbungskosten anerkannt werden. Die dabei vorge-
        nommene Pauschalierung darf nicht willkürlich vorge-
        nommen werden, sondern muss zumindest annähernd
        den realen Kosten entsprechen. Angesichts der steigen-
        den Mobilitätserwartungen an Arbeitnehmerinnen und
        Arbeitnehmer, der in ländlichen Regionen unvermeidbar
        weiteren Arbeitswege und der steigenden Kosten für den
        Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz ist eine Kür-
        zung nicht angemessen.
        Das nun zur Entscheidung stehende Modell, das die
        Wegekosten erst ab dem 21. Kilometer berücksichtigt,
        ist nicht sachgerecht. Es führt zu einer ungerechten Ver-
        teilung der zusätzlichen Belastungen und ist verfas-
        sungsrechtlich höchst bedenklich. Im Lichte der Ergeb-
        nisse der Expertenanhörung haben wir deshalb versucht,
        diesen Punkt zu korrigieren und das vorgegebene Kon-
        solidierungsvolumen durch eine geringere lineare Kür-
        zung der Pendlerpauschale sowie eine Absenkung des
        Arbeitnehmerpauschbetrags zu erreichen. Diese Lösung
        hätte zumindest die Belastungen gerechter verteilt, ver-
        fassungsrechtliche Bedenken ausgeräumt und die tat-
        sächliche Subventionierung durch die Arbeitnehmerpau-
        schale reduziert. Obwohl Teile der Union außerhalb des
        Parlaments vorgegeben haben, für eine sachgerechte Lö-
        sung offen zu sein, hat die CDU/CSU-Fraktion sich ei-
        ner Verbesserung des Regierungsentwurfs verweigert.
        Wir gehen auf Basis der juristischen Stellungnahme
        des Bundesfinanzministeriums davon aus, dass die He-
        rausnahme der Pendlerpauschale aus den Werbungskos-
        ten keine negativen Auswirkungen für die Arbeitnehme-
        rinnen und Arbeitnehmer im Sozial- und Arbeitsrecht
        haben wird.
        Anlage 8
        Erkärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Renate Blank (CDU/CSU) zur
        namentlichen Abstimmung über den Entwurf
        eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Bu-
        ches Sozialgesetzbuch (Tagesordnungspunkt 4 b)
        In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt.
        Mein Votum lautet „Nein“.
        Anlage 9
        Erklärung
        des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) zur
        Abstimmung über die Beschlussempfehlung:
        Sammelübersichten 79 zu Petitionen (Zusatzta-
        gesordnungspunkt 4 k)
        Namens der Fraktion der FDP erkläre ich, dass das
        Votum „Ablehnung“ lautet.
        Anlage 10
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäi-
        scher Richtlinien zur Verwirklichung des
        Grundsatzes der Gleichbehandlung
        Klaus Brähmig (CDU/CSU): Aufgrund der Nach-
        verhandlungen zwischen den Koalitionsfraktionen und
        den daraus resultierenden Verbesserungen des AGG
        werde ich im Sinne der Fraktion heute zustimmen. Den-
        noch bleiben mir erhebliche Bedenken zum Gesetz über-
        haupt. Nach meiner Überzeugung ist dieses Gesetz über-
        flüssig und alle EU-Vorgaben sind bereits ausreichend in
        deutschen Gesetzen verankert, so zum Beispiel in Art. 1
        des Grundgesetzes. Auch passt dieses Gesetz nicht in die
        Landschaft der beabsichtigten Entbürokratisierung.
        Daher fordere ich die Bundesregierung auf, solche
        und ähnliche Vorhaben aus Brüssel bereits im Vorfeld
        bei deren Entstehung zu verhindern und die deutsche
        EU-Ratspräsidentschaft 2007 dazu zu nutzen, den
        Kampf gegen die Bürokratie zu forcieren.
        Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich kann dem Ge-
        setzentwurf der Bundesregierung aus folgenden Grün-
        den nicht zustimmen: Erstens. Zwar sind die Änderun-
        gen am ursprünglichen Entwurf zu begrüßen, sie reichen
        aber nicht aus. So gilt das Allgemeine Gleichbehand-
        lungsgesetz, AGG, nicht, wenn in Betrieben weniger als
        fünf Arbeitnehmer beschäftigt sind. Dies mag Hand-
        werksbetriebe entlasten, das Gros der kleinen und mittel-
        ständischen Unternehmen, die in der Regel mehr als fünf
        Arbeitnehmer beschäftigen, profitiert von dieser Entlas-
        tung nicht. Gleiches gilt für die Entlastung hinsichtlich
        Vermietungen. Dort gilt das AGG erst dann, wenn ein
        Vermieter mehr als 50 Wohnungen vermietet. Die Masse
        der Wohnungsbaugesellschaften insbesondere in Ost-
        deutschland vermietet mehr als 50 Wohnungen.
        Zweitens. Es bleibt das ungerechtfertigte Aufstocken
        auf die durch die ehemalige rot-grüne Bundesregierung
        maßgeblich beeinflusste Richtlinie der EU um vier bzw.
        fünf Diskriminierungsmerkmale. Mit dieser Erweiterung
        ist eine Ideologisierung des Zivilrechts durch eine
        Expansion von Schadenersatzansprüchen im Sinne des
        Übergangs von materiellen auf immaterielle Schäden zu
        befürchten.
        Drittens. Das Vertragsrecht im Sinne von Vertrags-
        freiheit wird in unangemessener Art und Weise beein-
        trächtigt.
        Viertens. Die Schaffung der Antidiskriminierungsbe-
        hörde mit einer lediglich vertraglichen Bindung an das
        Familienministerium, das heißt ohne jegliche Fach- oder
        Rechtsaufsicht, wird früher oder später zu einer Ver-
        selbstständigung dieser Behörde hin zu einer Art morali-
        scher Instanz führen. Abgesehen davon werden die er-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4151
        (A) (C)
        (B) (D)
        weiterten Aufgabenbereiche zu weiterer Bürokratie auch
        bei den Behörden führen.
        Fünftens. Die Beweislast bleibt trotz des Versuches
        der redaktionellen Klärung in der Begrifflichkeit unklar.
        Insgesamt ist damit zu rechnen, dass das AGG den
        Grundstein für eine Prozessflut legen könnte, betriebli-
        che und privatrechtliche Abläufe erheblich stört oder zu-
        mindest zeitlich verzögert sowie mit entsprechenden
        Kosten und zusätzlichem Verwaltungsaufwand belastet.
        Dies alles widerspricht der Grundaussage der Union,
        insbesondere zum Thema Bürokratieabbau, sowie mei-
        ner in meinem Wahlkreis allgemein bekannten eigenen
        Grundüberzeugung, dass die Gleichheit vor dem Gesetz
        bzw. die Diskriminierungsverbote sowohl im Grundge-
        setz, Art. 3, den Verfassungen der Bundesländer und in
        entsprechenden Ausführungsgesetzen hinreichend gere-
        gelt sind. Deshalb kann ich dem Gesetz nicht zustim-
        men.
        Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Ich stimme die-
        sem Gesetzentwurf in der Fassung des Beschlusses des
        Rechtsausschusses, Drucksache 16/2022, zu. Zwar setzt
        die in der jetzt zur Abstimmung vorliegenden Fassung,
        insbesondere durch § 2 Abs. 4 – Herausnahme des Kün-
        digungsschutzes –, die verbindlich umzusetzenden vier
        EU-Richtlinien nicht oder nicht voll um. Da deren Inhalt
        zusammen mit dem EG-rechtlichen allgemeinen Diskri-
        minierungsverbot jedoch auch in Deutschland unmittel-
        bar geltendes Recht ist, haben die deutschen Gerichte,
        insbesondere die Arbeitsgerichte, entsprechend zu ver-
        fahren, also das deutsche Recht richtlinienkonform aus-
        zulegen bzw. außer Anwendung zu lassen.
        Henry Nitzsche (CDU/CSU): Mein Abstimmverhal-
        ten begründe ich wie folgt: Das Allgemeine Gleichbe-
        handlungsgesetz verletzt bisherige Rechtstraditionen,
        schafft zusätzliche Rechtsunsicherheit, greift in zentrale
        Freiheitsrechte ein und produziert ausufernde Bürokra-
        tie. Deswegen stimme ich in namentlicher Abstimmung
        gegen den Gesetzentwurf.
        Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Trotz erkennba-
        rer positiver Nachbesserungen bei dem von der Bundes-
        regierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
        Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung
        des Grundsatzes der Gleichbehandlung, AGG, Drucksa-
        che 16/1780, sehe ich nach wie vor zu große Eingriffe
        in die Vertragsfreiheit, sodass ich diesem Gesetzent-
        wurf nicht zustimmen kann.
        Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Ich stimme
        dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, da die Not-
        wendigkeit besteht, die zugrunde liegende EU-Richtlinie
        umgehend in nationales Recht umzusetzen, da eine zu-
        sätzliche Belastung des Haushalts vermieden werden
        muss. Trotzdem bleiben Bedenken gegen den vorliegen-
        den Entwurf. Das Gesetz enthält unnötige bürokratische
        und detaillierte Regelungen, die das Ziel des Bürokratie-
        abbaus konterkarieren. Zwar sind die Änderungen am
        ursprünglichen Entwurf zu begrüßen, sie reichen aber
        nicht aus. So werden durch die nicht ausreichende
        Rechtssicherheit Gerichte, öffentlicher Dienst und Be-
        triebe belastet. Diese Belastungen sind nicht vorherseh-
        bar und stellen deswegen ein Risiko für Betriebe dar.
        Diese müssen ihre Geschäftsplanungen verändern und
        geplante Investitionen können unter Umständen nicht
        durchgeführt werden. Es entstehen höhere Kosten für
        Betriebe, unabhängig ob sie einen Diskriminierungstat-
        bestand erfüllt haben oder nicht.
        Zudem habe ich Bedenken gegen die Ausweitung der
        EU-Richtlinie um weitere vier bzw. fünf Diskriminie-
        rungsmerkmale. Mit dieser Erweiterung werden die Pri-
        vatautonomie und die Vertragsfreiheit eingeschränkt. Es
        muss Arbeitgebern möglich sein, bei der Einstellung
        nicht nur objektive Kriterien wie die berufliche Qualifi-
        kation, sondern auch subjektive Kriterien wie Vertrau-
        enswürdigkeit, Sympathie und Kommunikationsverhal-
        ten auf Basis von Erfahrung und Menschenkenntnis für
        eine Einstellung bzw. Nichteinstellung anwenden zu
        dürfen.
        Die Beweislast bleibt unklar. Für Arbeitgeber, für die
        es eine riskante Investition darstellt, einen neuen Mitar-
        beiter einzustellen, setzt dieses Gesetz einen Anreiz,
        keine neuen Stellen auszuschreiben und Arbeitsplätze zu
        schaffen.
        Durch die zu erwartenden Prozesse wird in den Be-
        trieben, in den Gerichten und im öffentlichen Dienst Per-
        sonal gebunden, das seine eigentlichen Aufgaben dann
        nicht mehr im gleichen Maße ausführen kann. Dies hat
        zur Folge, dass Personal- und Geschäftsplanungen obso-
        let werden können. Die betrieblichen Prozesse können
        nicht in gleichem Maße fortgeführt werden, was die be-
        trieblichen Abläufe empfindlich stören kann.
        Dies alles sind meines Erachtens schwerwiegende
        Nachteile des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
        europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grund-
        satzes der Gleichbehandlung, die ich nur vor dem Hin-
        tergrund der staatlichen Verpflichtungen im Rahmen der
        EU zu tragen bereit bin.
        Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der vorliegende
        Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt einen wichti-
        gen Schritt zur Verwirklichung der Rechte behinderter
        Menschen dar. Er ist aber noch nicht weitreichend ge-
        nug. Ich werde diesem Gesetzentwurf trotz der hier for-
        mulierten Bedenken im Interesse behinderter Menschen
        und ihrer Angehörigen zustimmen.
        Denn der Entwurf bleibt leider in einigen Punkten
        hinter den Bedürfnissen behinderter Menschen zurück.
        Immer noch wird das Recht zur freien Diskriminierung
        über das Recht zur Freiheit von Diskriminierung gestellt.
        Diskriminierung ist kein Kavaliersdelikt, vergleichbar
        mit Falschparken. Wer diskriminiert, verweigert dem
        Opfer grundlegende Menschenrechte. Deshalb hätte ich
        zum Beispiel einem ausdrücklichen Kontrahierungs-
        zwang bei Versicherungsunternehmen positiv gegen-
        übergestanden, obwohl ich der Ansicht bin, dass dieser
        implizit im Gesetzentwurf enthalten ist.
        4152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Der Entwurf des Allgemeinen Gleichbehandlungsge-
        setzes, AGG, ist erneut geändert worden. Wer diskrimi-
        niert wird, muss jetzt innerhalb von zwei Monaten
        schriftlich Ansprüche erheben, §§ 15 IV, 21 V l AGG.
        Ursprünglich waren sechs Monate vorgesehen. Im Ent-
        wurf vom Mai war die Frist auf drei Monate halbiert
        worden. Diese Änderung ist europarechtlich bedenklich,
        da sie die bisherige Regelung bei Diskriminierung we-
        gen des Geschlechts, § 611 a Abs. 4 BGB, verschlech-
        tert. Dies verstößt gegen das EU-Verbot, den bisherigen
        Schutz vor Behinderung durch die Neuregelung abzu-
        senken. Zudem verstößt es gegen die Forderung der EU
        Richtlinien, nach einem effektiven Schutz vor Diskrimi-
        nierung. Wahrscheinlich wird diese Regelung vom Euro-
        päischen Gerichtshof aufgehoben.
        Die Beweislast ist ebenfalls geändert worden. Der
        Diskriminierte muss Indizien beweisen, die eine Be-
        nachteiligung wegen eines Diskriminierungsgrundes
        vermuten lassen, § 22 AGG. Ursprünglich musste der
        Diskriminierte Tatsachen glaubhaft machen, die eine Be-
        nachteiligung wegen eines Diskriminierungsgrundes
        vermuten lassen. Allerdings stellt die Begründung des
        Entwurfs fest, diese Neuformulierung solle nur klarstel-
        len, dass eine eidesstattliche Versicherung des Diskrimi-
        nierten allein nicht ausreicht, um eine Benachteiligung
        glaubhaft zu machen.
        Im Arbeitsrecht sollen bei Kündigungen ausschließ-
        lich die Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes gel-
        ten, § 2 Abs. 4 AGG. Bislang sollten diese „vorrangig“
        gelten. Allerdings können durch die Vorschriften des
        Kündigungsschutzgesetzes nicht die zwingenden EU
        Vorgaben zum Diskriminierungsschutz ausgehebelt wer-
        den. Damit ändert diese Änderung an der Rechtslage
        nichts. Gewerkschaften und Betriebsräte dürfen weiter-
        hin Arbeitgeber verklagen, die grob gegen die Vorschrif-
        ten des AGG verstoßen, § 17 AGG. Diese Regelung ist
        bei der CDU/CSU besonders umstritten. Daher wurde
        das Klagerecht jetzt ausdrücklich auf grobe Verstöße be-
        schränkt.
        Ein Diskriminierungsverbot gilt bei Wohnungsver-
        mietung nur für Vermieter, die mehr als 50 Wohnungen
        vermieten, § 19 V AGG. Durch diese Regelung bleibt
        der größte Teil des Wohnungsmarktes offen für Diskri-
        minierung. Auch größere Wohnungsgesellschaften kön-
        nen sich durch passende Gesellschaftskonstrukte auf
        diese Ausnahmeregel berufen. Allerdings ändert diese
        Regelung wenig, da bereits nach dem bisherigen Ent-
        wurf nur bei „Massengeschäften“ Diskriminierung ver-
        boten ist.
        Ebenso ist der § 20 des Gesetzentwurfes meiner An-
        sicht nach änderungsbedürftig. Die bisherige Formulie-
        rung in § 20 Abs. l Satz l, „der Vermeidung von Gefah-
        ren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken
        vergleichbarer Art dient ist viel zu unkonkret gefasst und
        öffnet weiteren Diskriminierungen Tür und Tor. Besser
        wäre gewesen: Das kann insbesondere der Fall sein,
        wenn die unterschiedliche Behandlung notwendig ist,
        um eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit oder des
        Lebens der Person oder Dritter zu vermeiden, gesetzli-
        che Unfallverhütungsvorschriften es erfordern oder nur
        so voraussichtliche Schäden vermieden werden können.
        Zudem schlage ich die Einfügung des folgenden Sat-
        zes in § 20 vor: Derjenige, der sich auf einen sachlichen
        Grund für eine unterschiedliche Behandlung beruft, hat
        die Nachweise hierfür auf Verlangen vorzulegen oder
        auf andere Weise glaubhaft zu machen.
        Aber dieser Gesetzesentwurf ist die Umsetzung meh-
        rerer EU-Richtlinien. Schließlich dient das AGG dem
        wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Gerade
        Länder, in denen seit Jahrzehnten Diskriminierungsver-
        bote bestehen, wie die USA und Großbritannien, sind
        wirtschaftlich wesentlich dynamischer als Deutschland.
        Die Vorteile werden besonders im Arbeitsleben deutlich:
        Weniger Diskriminierung heißt mehr sachliche Entschei-
        dung. Je sachlicher die Entscheidung, desto effizienter
        die Auswahl. Diskriminierungsfreie Auswahl heißt da-
        mit: Der Beste erhält die Stelle. Damit ist Diskriminie-
        rungsfreiheit wirtschaftlich effizienter.
        Zudem können wir es uns vor dem Hintergrund der
        demografischen Entwicklung nicht länger leisten, be-
        stimmte Gruppen weitgehend von Arbeit und berufli-
        chen Aufstieg auszuschließen. Derzeit sind zum Beispiel
        Ältere, Behinderte und Frauen im Arbeitsleben erheblich
        benachteiligt. Diesen Luxus, nur die Fähigkeiten deut-
        scher, nicht behinderter Männer bis 40 Jahre effizient zu
        nutzen, können wir uns heute nicht mehr leisten. Gerade
        die deutsche Wirtschaft müsste ein vitales Interesse da-
        ran haben, die vorhandenen Arbeitnehmer möglichst
        effizient und nicht möglichst vorurteilskonform einzu-
        setzen. Jede Untersuchung hat bestätigt: Antidiskrimi-
        nierung erhöht den wirtschaftlichen Erfolg eines Unter-
        nehmers.
        Beim Entwurf des AGG gibt es leider noch erhebliche
        Missverständnisse. Immer wieder wird behauptet, an-
        gebliche Diskriminierer müssten ihre „Unschuld“ bewei-
        sen. Tatsächlich muss das Opfer glaubhaft machen, dis-
        kriminiert zu werden. Dafür muss es Indizien vortragen,
        wie zum Beispiel diskriminierende Ausschreibungen,
        Statistiken, diskriminierende Äußerungen und Fragen.
        Ausreichend ist auch die Glaubhaftmachung einer dis-
        kriminierenden Grundeinstellung. Diese liegt vor, wenn
        der Täter durch sein allgemeines Verhalten klar macht,
        dass er bestimmte Gruppen ablehnt, zum Beispiel frau-
        enfeindliche Werbung oder behindertendiskriminie-
        rende Ausschreibungen für andere Stellen. Verfügt allein
        eine Seite über die erforderlichen Informationen, muss
        sie diese nach den Grundsätzen der angestellten Darle-
        gung – und Beweislast einbringen. Nur wenn auf diese
        Weise eine Diskriminierung glaubhaft gemacht ist, trägt
        der angebliche Diskriminierer die Beweislast. Diese Re-
        gelung entspricht in Wortlaut und Auslegung den zwin-
        genden Vorgaben der EU Richtlinien.
        Auch bei der Höhe des Schadens bestehen Missver-
        ständnisse. Es geht nicht darum, in Deutschland Scha-
        denersatzforderungen zu ermöglichen, wie sie in den
        USA üblich sind. Dort haben Großkonzerne mehrere
        Hundert Millionen Dollar wegen Diskriminierung zah-
        len müssen. Die EU verlangt zwar ein abschreckend ho-
        hes Schmerzensgeld, doch liegt dies nach allgemeiner
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4153
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ansicht in den europäischen Staaten im Arbeitsrecht bei
        einem Jahresgehalt, mindestens aber 30 000 Euro. Nur
        in schweren Fällen kann dieser Betrag überschritten wer-
        den. Im Zivilrecht liegt das Schmerzensgeld noch darun-
        ter. Das Schmerzensgeld beträgt das Doppelte des mate-
        riellen Schadenersatzes, wenigstens aber 10 000 Euro.
        Beim materiellen Schadensersatz bei Verlust des Ar-
        beitsplatzes hat sich in den EU-Staaten ebenfalls eine ge-
        genüber den USA zurückhaltendere Rechtsprechung he-
        rausgebildet. In Europa wird allgemein abgestellt, wie
        lange der Diskriminierte üblicherweise auf der Stelle
        verblieben wäre. So wurde dies zum Beispiel in der
        „Vento Entscheidung“ in England geregelt. Diese
        Grundsätze unterscheiden Europa deutlich von den USA
        und beschränken die Schadenersatzsummen. Sie orien-
        tieren sich an dem unteren Ende des durch die Richtli-
        nien vorgegebenen Abschreckungsgebotes bei der Scha-
        densersatzhöhe. Die Höhe des Schadenersatzes wird sich
        also an der europäischen Rechtsprechung orientieren.
        Abgesehen von der Höhe des Schadenersatzes sind
        die Rechtsprechung und Gesetzgebung der USA Vorbild
        der EU-Richtlinien und sind für die Auslegung des AGG
        heranzuziehen. Für eine erfreuliche Rechtssicherheit
        sorgt die Zertifizierung der Antidiskriminierungsvor-
        schriften durch den Europäischen Anti-Diskriminie-
        rungsrat, insbesondere im Arbeitsleben. Die Unterneh-
        men erhalten erhöhte Rechtssicherheit und die
        Effizienzvorteile eines diskriminierungsfreien Unterneh-
        mens. Gleichzeitig wird in Deutschland der Diskriminie-
        rungsschutz konsequent umgesetzt. Dies entspricht auch
        der allgemeinen Entwicklung auf EU-Ebene sowie den
        Vorstellungen der EU Kommission, Subventionen und
        öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben,
        die soziale Mindeststandards nachweisbar einhalten.
        Rolf Stöckel (SPD): Ich stimme dem Gesetzentwurf
        zu, weil ich die überfällige Umsetzung der europäischen
        Richtlinien zur „Antidiskriminierung“ in nationales
        Recht grundsätzlich begrüße und unterstützen will. Die
        im Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD vorgenommene Streichung des Merkmals „Weltan-
        schauung“ im Bereich des zivilrechtlichen Diskriminie-
        rungsschutzes halte ich allerdings für verfassungswidrig.
        Ich kann nur zustimmen, weil ich überzeugt bin, dass
        diese Streichung keine Rechtswirksamkeit entfalten
        kann, weil sie nicht nur gegen das Ziel der Verwirkli-
        chung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, sondern
        auch gegen unveränderbare Verfassungsgrundsätze ver-
        stößt. Nach Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundes-
        republik Deutschland sind „die Freiheit des Glaubens,
        des Gewissens und die Freiheit des religiösen und welt-
        anschaulichen Bekenntnisses unverletzlich“.
        Da ich mich ausdrücklich zu einer nichtreligiösen
        Weltanschauung, nämlich dem weltlichen Humanismus,
        bekenne und Mitglied einer Weltanschauungsgemein-
        schaft bin, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts
        anerkannt ist, lehne ich insbesondere die diskriminie-
        rende Begründung der Streichung durch den Rechtsaus-
        schuss des Deutschen Bundestages ab. Aus der Begrün-
        dung des Rechtsausschusses „Gleichwohl besteht die
        Gefahr, dass zum Beispiel Anhänger rechtsradikalen Ge-
        dankengutes aufgrund der Vorschrift versuchen, sich Zu-
        gang zu Geschäften zu verschaffen, die ihnen aus aner-
        kennenswerten Gründen verweigert wurden“ ließe sich
        meines Erachtesn fordern, das Merkmal „Religion“ sei
        zu streichen, weil zum Beispiel Terroristen und andere
        Straftäter ihre Taten religiös begründen.
        Anlage 11
        Erklärungen nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Michaela
        Noll, Michael Hennrich, Karl-Georg Wellmann,
        Kai Wegner, Joachim Hörster, Ernst Hinsken,
        Norbert Königshofen, Andreas G. Lämmel,
        Gerhard Wächter, Stefan Müller (Erlangen),
        Maria Michalk, Dr. Karl Lamers (Heidelberg),
        Bernward Müller (Gera), Volkmar Uwe Vogel,
        Dr. Rolf Koschorrek, Bernhard Schulte-Drüg-
        gelte, Andreas Schmidt (Mülheim), Gunther
        Krichbaum, Georg Fahrenschon, Hans Michel-
        bach, Georg Schirmbeck, Steffen Kampeter,
        Laurenz Meyer (Hamm), Anke Eymer (Lü-
        beck), Albert Rupprecht (Weiden), Karl-Theo-
        dor Freiherr zu Guttenberg, Dr. Joachim Pfeif-
        fer, Clemens Binninger, Daniela Raab, Dr.
        Günter Krings, Klaus-Peter Willsch, Carsten
        Müller (Braunschweig), Klaus-Peter Flosbach,
        Marco Wanderwitz, Kurt Segner, Markus Grü-
        bel, Jochen Borchert, Philipp Mißfelder, Sibylle
        Pfeiffer, Gitta Connemann, Jens Koeppen, Pa-
        tricia Lips, Stephan Mayer (Altötting), Susanne
        Jaffke, Andrea Astrid Voßhoff, Bernd Heyne-
        mann, Olav Gutting, Bernd Schmidbauer, Rita
        Pawelski, Franz Obermeier, Erika Steinbach,
        Monika Grütters, Andreas Jung (Konstanz), In-
        gbert Liebing, Marie-Luise Dött, Julia Klöck-
        ner, Ute Granold, Michael Brand, Dr. Heinz
        Riesenhuber, Katharina Landgraf, Dr. Georg
        Nüßlein, Thomas Strobl (Heilbronn), Renate
        Blank und Dr. Ole Schröder (alle CDU/CSU)
        zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäi-
        scher Richtlinien zur Verwirklichung des
        Grundsatzes der Gleichbehandlung (Tagesord-
        nungspunkt 5 a)
        Wir begrüßen alle geeigneten Initiativen gegen Dis-
        kriminierung aufgrund von Rasse, ethnischer Herkunft,
        Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter und sexueller
        Identität. Derartige Diskriminierungen haben in einer
        aufgeklärten und toleranten Gesellschaft keinen Platz.
        Dies ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild,
        welches von der Unverletzbarkeit der Würde jedes Ein-
        zelnen ausgeht. Es ist daher selbstverständlich, dass sich
        eine Gesellschaft Regeln gibt, die deutlich machen, dass
        Diskriminierungen gegen die Würde eines jeden Men-
        schen verstoßen und geahndet werden müssen. Es ist be-
        dauerlich, dass die zugrunde liegenden EU-Richtlinien
        unnötige, zu detaillierte und bürokratische Regelungen
        enthalten. Gleichwohl ist die Umsetzung in deutsches
        Recht europarechtlich geboten. Jeder weitere Verzug
        4154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        hätte hohe Strafzahlungen für die Bundesrepublik
        Deutschland zur Folge gehabt.
        Der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ist
        es gelungen, im Vorfeld und während der parlamentari-
        schen Beratungen deutliche Verbesserungen gegenüber
        dem ursprünglichen Gesetzentwurf zu erreichen. Dies ist
        ausdrücklich zu begrüßen. Damit konnte dem Ziel der
        Bundesregierung, auch für die innerstaatliche Umset-
        zung europäische Gesetzgebung auf das tatsächlich Not-
        wendige zu beschränken, ein bedeutendes Stück näher
        gekommen werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf greift dennoch unver-
        hältnismäßig in das hohe Gut der Vertragsautonomie von
        Bürgern und Unternehmen ein, die ein wichtiges Funda-
        ment einer freiheitlichen Rechts-, Wirtschafts- und Ge-
        sellschaftsordnung ist. Er ist mit Belastungen für das
        Wirtschafts- und Rechtsleben verbunden, die nicht zwin-
        gend durch die zugrunde liegenden europäischen Richt-
        linien vorgegeben wurden. Mit diesem Gesetz können
        trotz seiner richtigen Ziele und der erreichten Verbesse-
        rungen falsche Impulse in der Arbeitswelt gesetzt wer-
        den.
        Wir bedauern, dass die Fraktion der SPD nicht bereit
        war, sich während der parlamentarischen Beratungen ei-
        ner noch besseren Rechtssetzung zu öffnen. Umso wich-
        tiger bleibt es, mögliche negative Auswirkungen im Hin-
        blick auf bürokratische Belastungen, Rechtssicherheit
        und Privatautonomie sowie den Arbeitsmarkt nach In-
        Kraft-Treten dieses Gesetzes genau zu beobachten und
        erforderlichenfalls schnellstmöglich zu korrigieren.
        Nur unter Zurückstellung größter persönlicher Beden-
        ken stimmen wir deshalb heute diesem Gesetzentwurf
        zu.
        Anlage 12
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Be-
        steuerung von Energieerzeugnissen und zur
        Änderung des Stromsteueregesetzes (Tagesord-
        nungspunkt 8 a)
        Dr. Axel Berg (SPD): Ich habe dem Gesetz zur Neu-
        regelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und
        zur Änderung des Stromsteuergesetzes entgegen dem
        Votum meiner Fraktion meine Zustimmung verweigert
        und mit „Nein“ gestimmt. Mit diesem Gesetz wird der
        Reinbiokraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl von
        Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine volle
        Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Diesel-
        kraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu
        rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge-
        stellt werden. Nur wenn die Rohölpreise für fossile
        Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese
        Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden.
        Damit wird eine Entwicklung politisch eingeleitet, in
        der die auf Pflanzenöl basierenden Biokraftstoffe über
        die geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermono-
        pol der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese
        Entwicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei-
        chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe
        erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon-
        zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli-
        chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat
        der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die
        neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als
        Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden, die
        Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduk-
        tionen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke
        und damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und
        Beschäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunk-
        turellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi-
        tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und
        Pflanzenöl umgestiegen sind, entweder gefährdet wer-
        den oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken.
        Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer-
        den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu-
        ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg-
        lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse
        aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent-
        standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen-
        öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die
        Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft-
        stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur bleibt das
        nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft-
        stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange-
        tastet. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgaskraft-
        stoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf Flüssiggas
        ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und ist nicht legiti-
        mierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff politisch ge-
        genüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird.
        Ich bin der Überzeugung, dass das vorliegende Gesetz
        keinen Bestand haben wird und noch vor Ende der Le-
        gislaturperiode ein weniger kurzsichtiges und wider-
        sprüchliches Gesetz erforderlich ist. Eine diesbezügliche
        Initiative kündige ich hiermit an.
        Gabriele Groneberg (SPD): Ich stimme dem vorlie-
        genden Gesetzentwurf in der heute zu verabschiedenden
        Fassung zu. Erhebliche Bedenken habe ich gegen den
        Teil des Gesetzes, der die Besteuerung von Reinbiokraft-
        stoffen regelt.
        Den nach langen Verhandlungen gefundenen Kom-
        promiss kritisiere ich insofern, weil davon auszugehen
        ist, dass die generelle Strategie der vollen Besteuerung
        dieser Kraftstoffe den Reinbiokraftstoffmarkt gefährden
        wird. Gleichzeitig werden die Investitionen in diesen
        Markt, welche vor allem von kleinen und mittelständi-
        schen Unternehmen aufgrund von steuerlichen Anreizen
        vorgenommen wurden, infrage gestellt.
        Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Ich halte
        die im Gesetzentwurf enthaltene Regelung zur Besteue-
        rung von Biodiesel aus industriepolitischer Sicht für
        falsch. Das Ergebnis wird sein, dass die Produktion von
        Biodiesel in Deutschland keine Zukunftsperspektive hat.
        Die im Gesetz vorgesehen Vollbesteuerung ab 2012 hat
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4155
        (A) (C)
        (B) (D)
        schon jetzt erhebliche negative Auswirkungen auf die
        Investitionstätigkeit in der Biodieselbranche. Investitio-
        nen etwa in Biodieselkraftanlagen amortisieren sich
        nach circa acht Jahren. Die Vollbesteuerung ab 2012 be-
        deutet, dass für in diesem Jahr gebaute Anlagen eine
        komplette Amortisierung nicht mehr möglich ist, was
        somit einer Fehlinvestition gleich käme. Neue Investitio-
        nen machen betriebswirtschaftlich keinen Sinn und es ist
        zu erwarten, dass sie schon dieses Jahr nicht mehr getä-
        tigt werden. Nach 2012 wird die Produktion von Biodie-
        sel sich in Deutschland nicht mehr rentieren. Dies wird
        eine Standortverlagerung der Produktion ins Ausland zur
        Folge haben.
        Zudem greift die nach wochenlanger Diskussion der
        Fachleute vom Bundesfinanzministerium erzwungene
        Lösung einer Vollbesteuerung industriepolitisch zu kurz
        und ist nicht konsistent durchdacht. Erst wird die Bio-
        branche mit Milliardenbeträgen gefördert, um ihr an-
        schließend mit der Vollbesteuerung jede Zukunftsper-
        spektive zu nehmen. Man hätte sich diese Steuerausfälle,
        für die nun der Bundesfinanzminister verantwortlich ist,
        gleich sparen können.
        Trotz meiner Einwände gegenüber der Besteuerung
        von Biodiesel stimme ich dem Gesamtpaket zu.
        Dr. Hermann Scheer (SPD): Ich stimme dem Ge-
        setz zur Neuregelung der Besteuerung von Energieer-
        zeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes
        entgegen dem Votum meiner Fraktion nicht zu und
        werde mit Nein stimmen. Mit diesem Gesetz wird der
        Reinbiokraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl von
        Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine volle
        Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Diesel-
        kraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu
        rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge-
        stellt werden. Nur wenn die Rohölpreise für fossile
        Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese
        Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden.
        Damit wird eine Entwicklung politisch eingeleitet, in
        der die auf Pflanzenöl basierenden Biokraftstoffe über
        die geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermono-
        pol der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese
        Entwicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei-
        chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe
        erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon-
        zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli-
        chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat
        der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die
        neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als
        Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden, die
        Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduktio-
        nen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke und
        damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und Be-
        schäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunktu-
        rellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi-
        tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und
        Pflanzenöl umgestiegen sind, entweder gefährdet wer-
        den oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken.
        Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer-
        den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu-
        ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg-
        lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse
        aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent-
        standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen-
        öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die
        Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft-
        stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur bleibt das
        nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft-
        stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange-
        tastet. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgaskraft-
        stoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf Flüssiggas
        ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und ist nicht legiti-
        mierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff politisch ge-
        genüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird.
        Ich bin der Überzeugung, dass das vorliegende Gesetz
        keinen Bestand haben wird und noch vor Ende der Le-
        gislaturperiode ein weniger kurzsichtiges und wider-
        sprüchliches Gesetz erforderlich ist. Eine diesbezügliche
        Initiative kündige ich hiermit an.
        Wolfgang Wodarg (SPD): Ich habe dem Gesetz zur
        Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen
        und zur Änderung des Stromsteuergesetzes entgegen
        dem Votum meiner Fraktion meine Zustimmung verwei-
        gert und mit „Nein“ gestimmt. Mit diesem Gesetz wird
        der Reinbiokrafftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzöl
        von Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine
        volle Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Die-
        selkraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu
        rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge-
        stellt werden. Nur wenn die Rapsölpreise für fossile
        Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese
        Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden.
        Damit wir eine Entwicklung politisch eingeleitet, in
        der die auf Pflanzöl basierenden Biokraftstoffe über die
        geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermonopol
        der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese Ent-
        wicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei-
        chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe
        erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon-
        zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli-
        chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat
        der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die
        neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als
        Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden; die
        Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduktio-
        nen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke,
        und damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und
        Beschäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunk-
        turellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi-
        tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und
        Pflanzöl umgestiegen sind, entweder gefährdet werden
        oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken.
        Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer-
        den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu-
        ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg-
        lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse
        aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent-
        standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen-
        öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die
        4156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft-
        stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur besteht das
        nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft-
        stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange-
        tastet fort. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgas-
        kraftstoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf
        Flüssiggas ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und es ist
        nicht legitimierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff po-
        litisch gegenüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird.
        Anlage 13
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
        die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: In-
        nere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeits-
        kampfrecht gewährleisten (Tagesordnungs-
        punkt 9 b)
        Namens der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
        erkläre ich, dass das Votum „Ja“ lautet.
        Anlage 14
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg zur
        Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        den Anträgen:
        – Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba ein-
        fordern
        – Menschenrechte in Kuba einfordern und die
        kubanische Zivilgesellschaft fördern
        (Tagesordnungspunkt 36)
        In Kuba und anderen Ländern des karibischen Rau-
        mes werden Menschenrechte verletzt; auf der Insel Kuba
        am heftigsten derzeit in Guantanamo. Ich halte es für
        richtig, diese alle anzuprangern und für die Durchset-
        zung der Menschenrechte zu kämpfen – wie überall in
        der Welt.
        Die Entschließung heute halte ich für politische
        Selbstbefriedigung! Sie ist angesichts politischer Alter-
        nativen möglicherweise kontraproduktiv.
        Ich werde mich deshalb der Stimme enthalten.
        Anlage 15
        Zu Protokolle gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie
        und der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtli-
        nie (Tagesordnungspunkt 12)
        Nina Hauer (SPD): Die SPD-Fraktion hat sich bei
        der Umsetzung des Basel-II-Regelwerkes für die Inte-
        ressen des Mittelstandes eingesetzt. Zuletzt konnte noch
        eine weitere wichtige Änderung für mittelständische
        Kreditnehmer erreicht werden, indem die Kreditinstitute
        aufgefordert werden, Ratingentscheidungen gegenüber
        den Unternehmen offen zu legen. Jetzt steht fest: Basel
        II verbessert die Kreditversorgung des Mittelstandes.
        Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht begann im
        Jahr 1999 mit der Überarbeitung des alten Regelwerkes
        Basel I, das einen pauschalen Anrechnungswert von
        8 Prozent für Kreditrisiken in Eigenkapital vorsah. Als
        Folge dieser Regelung orientierten die Banken ihre Kre-
        ditkonditionen nicht an der Bonität des Kunden, sondern
        allein an der Kundengruppe, in die der Kunde eingeord-
        net wurde. Basel I führte zu der verheerenden Entwick-
        lung für Banken und Unternehmen, weil Unternehmen
        mit schlechter Bonität und daher höheren Kreditzinsen
        bevorzugt wurden.
        Das neue Basel II korrigiert die Defizite von Basel I,
        indem die Unterlegung von Krediten mit Eigenkapital an
        das Ausfallrisiko und damit an die Bonität des Kredit-
        nehmers gebunden wird. Diese neue Regelung wird sich
        positiv auf die Stabilität der Banken selbst und auf die
        des ganzen Finanzmarktes auswirken. Die neuen Regeln
        verpflichten die Banken dazu, Risiken bei der Kreditver-
        gabe stärker zu unterscheiden und zu bestimmen. Damit
        werden die Banken, besonders die kleinen Institute, von
        zu hohen Eigenkapitalanforderungen befreit.
        Wichtig ist aber, dass das Regelwerk nicht nur unse-
        rem Bankensystem gerecht wird, sondern auch die spe-
        zielle deutsche Situation der mittelständischen Wirt-
        schaft berücksichtigt. Unsere Wirtschaft ist in hohem
        Grade abhängig von Krediten und es muss vermieden
        werden, dass Unternehmen Schwierigkeiten haben, Ka-
        pital zu erhalten.
        Die Gefahr, dass Basel II zu einem Problem für die
        kleineren und mittelständischen Unternehmen bei der
        Kreditvergabe werden könnte, wurde von der alten Bun-
        desregierung und dem damaligen Verhandlungsführer
        Jochen Sanio frühzeitig erkannt und beseitigt. Die in den
        zwei Entschließungen des Bundestages geäußerten
        Bedenken und Wünsche konnten im internationalen Ba-
        seler Ausschuss erfolgreich durchgesetzt werden. Bei-
        spielsweise sieht Basel II vor, Kredite an kleine Unter-
        nehmen bis 1 Million Euro mit einem um 25 Prozent
        niedrigeren Risikogewicht zu belegen. Unter diese Be-
        günstigung fallen 90 Prozent aller Kredite an mittelstän-
        dische Unternehmen. Für den Mittelstand bedeuten diese
        Verhandlungserfolge bessere Kreditbedingungen als un-
        ter dem vorherigen Regelwerk Basel I.
        Das Verhandlungsergebnis des Baseler Ausschusses,
        Basel II, wurde zunächst in eine EU-Richtlinie gegossen.
        Diese wird nun in nationales Recht umgesetzt. Wichtig
        war für meine Fraktion bei dieser Umsetzung, dass die
        Banken zu einem verantwortungsvollen und transparen-
        ten Verhalten gegenüber ihren Kunden verpflichtet wer-
        den. Die Banken müssen die Bonität und die Risiken
        einer Kreditvergabe einschätzen und stehen hier vor gro-
        ßen Herausforderungen. Mehr als zuvor wird durch
        Basel II den Banken auch eine Beraterrolle gegenüber
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4157
        (A) (C)
        (B) (D)
        mittelständischen Unternehmen zukommen, die ihre
        Kreditkonditionen verbessern möchten. Gerade kleine
        und mittlere Unternehmen ohne eigene Finanzabteilung
        oder Ressourcen für einen Unternehmensberater müssen
        von ihrer Bank Hilfestellungen bekommen, um ihre Bo-
        nität und ihr Ratingergebnis für Bankkredite zu verbes-
        sern.
        Die SPD-Fraktion hat sich daher dafür eingesetzt,
        dass der Deutsche Bundestag die Kreditwirtschaft
        auffordert, den Kreditnehmern die sie betreffenden
        Ratingergebnisse offen zu legen und die wesentlichen
        Parameter für ihr Zustandekommen zu erläutern. Die
        Kreditwirtschaft wird in der Beschlussempfehlung des
        Finanzausschusses aufgefordert, eine Selbstverpflich-
        tung vorzulegen, die diese Transparenz sicherstellt. Es
        gibt also genügend gute Gründe, dem Gesetzentwurf in
        der Ausschussfassung zuzustimmen. Die SPD-Fraktion
        wird dies tun.
        Abschließend möchte ich mich bei den Berichterstat-
        terkollegen der anderen Fraktionen und beim Bundes-
        ministerium der Finanzen für die konstruktive und gute
        Zusammenarbeit bedanken.
        Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Wir haben ja heute
        schon einige Stunden hier zusammen hinter uns; es ist
        jetzt eigentlich Zeit fürs Abendessen und ein kaltes Bier
        und etwas Fußball. Da lässt bei einigen die Konzentra-
        tion schon etwas nach. Deswegen will ich mit einem
        ganz einfachen Gedanken anfangen. Basel II soll die
        Finanzmärkte stabilisieren und Finanzcrashs verhindern.
        Und wenn wir Finanzcrashs verhindern wollen, müssen
        wir fragen: Was kann Finanzcrashs auslösen? Schauen
        wir in die Finanzpresse der letzten Wochen und Monate.
        Da wird durchaus über Finanzcrashs diskutiert. Da fin-
        den Sie Überschriften wie „Hedge-Fonds leiden unter
        Marktturbulenzen“ – „FTD“ vom 19. Juni –, „Bundes-
        bank geht Hedge-Fonds an – Warnung vor Risiken durch
        aggressive Investoren“ – „FTD“ vom 17. Mai –, „Noten-
        bank warnt vor Finanzcrash – EZB fürchtet Kollaps eines
        großen Hedge-Fonds“ – „FTD“ vom 18. Mai –, „Banken-
        verband warnt vor Hedge-Fonds“ – „FTD“ vom 13. Juni.
        Wenn sich die Finanzpresse da nicht gewaltig irrt,
        scheinen Hedgefonds – unregulierte, intransparente und
        hochriskante Hedgefonds – doch in einem gewissen Zu-
        sammenhang mit Finanzcrashs zu stehen. Und wenn
        dem so ist, muss man doch fragen: Wie geht Basel II das
        Problem Hedgefonds an? Und da muss ich sagen: mit
        Samthandschuhen. Wo ist ein Mindestkapitalzuschlag
        für Banken, die Kredite an hochriskante Hedgefonds
        vergeben, die mit hochriskanten Hedgefonds Geld ver-
        dienen? Und die oft gar nicht genau wissen – oder wis-
        sen wollen –, welche Risiken sie dabei eingehen? Selbst
        die Bundesbank schreibt doch mittlerweile, dass es ein
        Problem ist, dass Banken oft nicht genau wissen, welche
        Risiken sie bei ihren Geschäften mit Hedgefonds einge-
        hen.
        Basel II hätte grundsätzlich eine Möglichkeit geboten,
        dem Einhalt zu gebieten. Mit Basel II werden auch die
        Regeln geändert, nach denen ermittelt wird, wie viel
        Mindestkapital eine Bank vorzuhalten hat. Hier hätte
        eine indirekte Regulierung ansetzen können und für For-
        derungen von Banken gegenüber Hedgefonds einen
        deutlich erhöhten Mindestkapitalfaktor vorschreiben
        können. So würde dem besonderen Risikocharakter die-
        ser Forderungen Rechnung getragen und eine Krisen-
        übertragung von Hedgefonds auf das Bankensystem er-
        schwert.
        Zudem träte ein Lenkungseffekt zugunsten transpa-
        renter, weniger riskanter Anlagealternativen ein. Mit den
        Mindestkapitalanforderungen steigen die Kosten einer
        Bank, und die davon betroffenen Geschäfte werden für
        Banken und/oder Hedgefonds unattraktiver.
        Natürlich hätte man für eine wirksame internationale
        Kontrolle das alles in Basel vereinbaren müssen oder zu-
        mindest in Brüssel. Ich will mit alledem hauptsächlich
        auf eines hinweisen: Eine andere Politik ist grundsätz-
        lich möglich. Es ist möglich, internationale Finanz-
        märkte zu regulieren. Die Instrumente sind vorhanden,
        sie werden aber nicht genutzt. Und da müssen wir anset-
        zen. Wir müssen – zusammen mit Gewerkschaften, zu-
        sammen mit sozialen Bewegungen – den entsprechenden
        gesellschaftlichen Druck entwickeln. Wir müssen zei-
        gen: Eine andere Politik ist nicht nur möglich, wir wol-
        len eine andere Politik auch durchsetzen.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmt dem Ge-
        setzentwurf zur Umsetzung der Banken- und der Kapi-
        taladäquanzrichtlinie in deutsches Recht zu. Wir haben
        ja auch bereits in der letzten Legislaturperiode intensiv
        an seinem Entstehen mitgewirkt und die Verhandlungen
        auf internationaler und europäischer Ebene gemeinsam
        mit den anderen Fraktionen konstruktiv begleitet. Vor al-
        lem ging es uns Grünen darum, dass die neu gefasste
        Bankenrichtlinie kleinen und mittleren Unternehmen
        keine zusätzlichen Schwierigkeiten bei der Finanzierung
        aufbürdet.
        Das vorliegende Gesetz, eher bekannt unter dem
        Stichwort Basel II, weil es auf die Vereinbarung im Bas-
        ler Bankenausschuss zurückgeht, gibt Anreize zur Mo-
        dernisierung des Risikomanagements der Banken und
        sorgt dafür, dass die Eigenkapitalunterlegung sich künf-
        tig nach der Bonität des Kreditnehmers richtet. Notwen-
        dig sind dafür unter anderem Änderungen der internen
        Bankprozesse zu Forderungen, Sicherheiten und Ra-
        tings. Nicht alle Kreditinstitute haben diese Änderungen
        bereits vollständig vorgenommen. Da ist noch einiges zu
        tun.
        Ich möchte auf ein paar einzelne Aspekte dieser um-
        fangreichen neuen Regulierung eingehen.
        Erstens begrüßen wir ausdrücklich, dass die Bundes-
        regierung eine Reihe von Wahlrechten so genutzt hat,
        dass die Umsetzung der Bankenrichtlinie der deutschen
        Bankenstruktur angemessen ist. An erster Stelle ist hier
        das Thema Intragruppenforderungen zu nennen, also die
        Frage, wie Forderungen innerhalb der Haftungsverbünde
        von Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu bewer-
        ten sind. Weil Sparkassen und Genossenschaftsbanken
        gerade bei der Kreditversorgung kleiner und mittlerer
        4158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Unternehmen eine besondere Rolle spielen, ist das für
        uns wirtschaftspolitisch von großer Bedeutung.
        Zweitens – das ist in der Anhörung deutlich gewor-
        den – muten wir den Marktteilnehmern mit diesem um-
        fangreichen Gesetzeswerk, zu dem dann auch noch die
        überarbeitete Solvabilitätsverordnung und die Groß- und
        Millionenkreditverordnung hinzukommen werden, eini-
        ges zu. Gerade für kleine Banken ist das eine große ad-
        ministrative Belastung. Zumindest den Vorschlag, mit
        einer Neufassung des Kreditwesengesetzes dazu beizu-
        tragen, dass dieses wieder lesbar wird, sollten wir nicht
        in den Anhörungsunterlagen verstauben lassen.
        Drittens ist uns wichtig – das ist einer der Gründe für
        unseren Entschließungsantrag, den wir zu diesem Gesetz
        einbringen –, dass bei den Fragen des Datenschutzes
        eine klare Abgrenzung zwischen dem Bundesdaten-
        schutzgesetz und dem Kreditwesengesetz als Spezial-
        norm vorgenommen wird. Diese Anregung aus der An-
        hörung hätte aufgegriffen werden sollen.
        Schließlich: Uns reicht der Entschließungsantrag der
        großen Koalition und der FDP, der die Wirtschaft zu ei-
        ner Selbstverpflichtungserklärung auffordert, nicht aus.
        Wir befürchten, dass wir mit dem Verfahren von Selbst-
        verpflichtungserklärung und Bericht für lange Zeit eine
        unbefriedigende Situation haben werden. Kreditsu-
        chende Unternehmen und Verbraucherinnen und Ver-
        braucher sollten das Recht dazu haben, dass ihnen die
        Ratingentscheidungen der Banken in nachvollziehbarer
        Weise schriftlich offen gelegt werden. Nur so kann si-
        chergestellt werden, dass offensichtliche Unrichtigkeiten
        im Ratingprozess entdeckt werden und die Kreditnehmer
        ihre Ratingfaktoren, soweit möglich, so beeinflussen
        können, dass sie ihr Risiko vermindern. Diese Rechte
        von Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbrau-
        chern durchzusetzen und damit eine Abwägung zwi-
        schen den Rechten von Anbietern und Nachfragern auf
        dem Kreditmarkt vorzunehmen, ist Aufgabe des Gesetz-
        gebers. Dies bringen wir in unserem Entschließungsan-
        trag zum Ausdruck.
        Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister
        der Finanzen: Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der
        neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten
        Kapitaladäquanzrichtlinie liegt Ihnen heute zur abschlie-
        ßenden Beratung vor. Er ist Teil der Umsetzung der
        neuen bankaufsichtlichen Eigenkapitalvorschriften – Ih-
        nen sicher besser bekannt unter dem Stichwort
        „Basel II“.
        In der heutigen Sitzung wird eine der grundlegenden
        Modernisierungen unseres Bankenaufsichtsrechts ab-
        schließend beraten. Sowohl für die Kreditwirtschaft als
        auch für die Bankenaufsicht beinhaltet der Gesetzent-
        wurf ohne Zweifel die bedeutendsten Änderungen seit
        den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
        Hinter uns liegt ein langer, aber erfolgreicher inter-
        nationaler Verhandlungsprozess. Die Bundesregierung
        – unterstützt durch den Deutschen Bundestag – hat die-
        sen knapp siebenjährigen Prozess in enger Abstimmung
        mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
        und der Deutschen Bundesbank begleitet. So ist es uns
        gelungen, insbesondere eine faire Behandlung von Mit-
        telstandskrediten durchzusetzen. Die in den Baseler und
        Brüsseler Verhandlungen erzielten Erfolge sollen mit
        diesem Gesetzentwurf im deutschen Bankenaufsichts-
        recht verankert werden.
        Dieses moderne Regelwerk ist dadurch gekennzeich-
        net, dass sämtlichen Instituten wahlweise sowohl stan-
        dardisierte Verfahren als auch bankeigene Modelle zur
        Risikomessung und Berechnung der Eigenkapitalunter-
        legung zur Verfügung stehen. Alle Verfahren haben ei-
        nes gemeinsam: Sie knüpfen die Eigenkapitalunterle-
        gung stärker als bisher an das Risiko eines Kredites.
        Damit werden den Banken Anreize gegeben, die Risiken
        genauer zu bestimmen und die benötigten Systeme kon-
        tinuierlich fortzuentwickeln. Die Stabilität unseres Fi-
        nanzsystems wird davon profitieren.
        Die geplanten Änderungen des Kreditwesengesetzes
        basieren im Wesentlichen auf Vorgaben der beiden EU-
        Richtlinien. Der Gesetzentwurf ist strikt an den Min-
        destanforderungen der Richtlinien ausgerichtet. Aller-
        dings weisen allein die Vorgaben aus Brüssel einen be-
        trächtlichen Umfang auf.
        Nationale Wahlrechte, die die EU-Richtlinien bieten,
        haben wir zugunsten der Kredit gebenden und Kredit
        nehmenden Wirtschaft genutzt. Zu diesen Wahlrechten
        gehören auch sämtliche Regelungen zugunsten von Mit-
        telstandskrediten. Das so genannte Mittelstandspaket
        von Basel II beinhaltet eine niedrigere Eigenkapitalun-
        terlegung für kleinvolumige Kredite und eine stärkere
        Berücksichtigung von Kreditsicherheiten. Dadurch wer-
        den auch Kredite an Handwerker, Freiberufler und Land-
        wirte entlastet. Geringere Eigenkapitalanforderungen für
        Wohnimmobilienfinanzierungen werden privaten Haus-
        halten nützen.
        Zur Umsetzung der neuen Eigenkapitalregelungen in
        das deutsche Bankenaufsichtsrecht sind neben dem vor-
        liegenden Gesetzentwurf zwei Rechtsverordnungen mit
        eher technischen Bestimmungen vorgesehen. Die not-
        wendigen Ermächtigungsgrundlagen hierzu sind im Ge-
        setzentwurf enthalten.
        Die Sorge vor allem kleinerer Institute, die neuen
        Vorschriften könnten unverhältnismäßig hohe Hürden
        darstellen, wurde von der Bundesregierung sehr ernst
        genommen. Mittlerweile lässt sich aber sagen, dass das
        deutsche Bankensystem insgesamt von den neuen Vor-
        schriften profitieren wird. Eine aktuelle Studie zeigt,
        dass die Eigenkapitalanforderungen des deutschen Ban-
        kensektors um 6,7 Prozent sinken würden, wenn die
        neuen Regelungen bereits jetzt in Kraft wären. Beson-
        ders hervorzuheben ist, dass Banken mit einem höheren
        Anteil am Geschäft mit privaten Haushalten sowie klei-
        nen und mittleren Unternehmen noch stärker profitieren.
        Die notwendige Eigenkapitalunterlegung dieser Banken
        würde sogar um 8,4 Prozent sinken.
        Die neuen Vorschriften sollen erstmals ab dem 1. Ja-
        nuar 2007 gelten. Kreditwirtschaft und Bankenaufsicht
        bereiten sich seit Monaten intensiv auf dieses Datum
        vor. Die enormen Anstrengungen werden unternommen,
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4159
        (A) (C)
        (B) (D)
        weil die rechtzeitige und sachgerechte Umsetzung von
        Basel II zum Nutzen des Finanzplatzes Deutschland sein
        wird.
        Mit der heutigen abschließenden Beratung im Deut-
        schen Bundestag ist die Umsetzung von Basel II in
        Deutschland unaufhaltsam vorangeschritten. Länder, die
        mit der Umsetzung der Baseler Vereinbarung bisher
        noch zögern, werden sich von der erfolgreichen Umset-
        zung in Deutschland und ganz Europa überzeugen kön-
        nen.
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Patientenverfügun-
        gen neu regeln – Selbstbestimmungsrecht und
        Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Pati-
        enten stärken (Tagesordnungspunkt 13)
        Ute Granold (CDU/CSU): Bereits in der vergange-
        nen Legislaturperiode haben wir in diesem Haus über die
        notwendige dritte Änderung des Betreuungsrechts debat-
        tiert, allerdings haben sich durch den Regierungswechsel
        die weiteren Beratungen in dieser Frage verzögert. Die
        Fraktionen von CDU/CSU und SPD haben dann im Ko-
        alitionsvertrag festgeschrieben, die Diskussion über die
        gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzu-
        führen und abzuschließen.
        Schon damals, im März 2005, bestand bei den Frak-
        tionen Konsens, zügig den rechtlichen Rahmen der Pati-
        entenverfügung verbindlich festzulegen, um in dieser
        Frage die notwendige Rechtssicherheit bereitzustellen.
        Dies wird bereits seit Jahren auch von den verschiedens-
        ten Seiten angemahnt. So hat der BGH in seinem Urteil
        vom 12. März 2003 einige zentrale Kriterien der Patien-
        tenverfügung festgelegt und die Bedeutung der Patien-
        tenverfügung an sich deutlich aufgewertet.
        Die höchstrichterliche Entscheidung hat jedoch viele
        Fragen offen gelassen, auf die wir seitdem nach befriedi-
        genden Antworten suchen. In diese Diskussion sind mit-
        tlerweile auch die Ergebnisse des Zwischenberichts der
        Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen
        Medizin und der interdisziplinären Arbeitsgruppe des
        BMJ eingeflossen. Die zahlreichen Eingaben von Bür-
        gern und Verbänden, von denen ich stellvertretend für
        viele die der Deutschen Hospizstiftung und der beiden
        Kirchen nenne, haben die Politik zusätzlich zum Han-
        deln gemahnt und weitere konstruktive Diskussionsbei-
        träge geleistet.
        Dabei waren wir uns einig, dass die Initiative zu
        einem Gesetzentwurf aus der Mitte des Parlaments kom-
        men sollte. Die diesbezüglichen Beratungen in den Frak-
        tionen sind noch nicht abgeschlossen. In der Unionsfrak-
        tion liegt bereits ein internes Diskussionspapier vor, das
        nach der Sommerpause abschließend beraten werden
        wird. Wir gehen davon aus, dass es dann aus der Mitte
        des Parlamentes durchaus mehrere konkurrierende über-
        und auch interfraktionelle Gruppenanträge geben wird.
        Da es bei der rechtlichen Ausgestaltung der Patien-
        tenverfügung um eine Frage geht, die unterschiedliche
        Überzeugungen berührt und deshalb unterschiedliche
        Konsequenzen zur Folge hat, wird die Abstimmung da-
        rüber letztendlich freizugegeben sein. Aufgrund der Be-
        deutung des Themas ist es unserer Meinung nach besser,
        in der beschriebenen Form aus der Mitte des Parlamen-
        tes aktiv zu werden, statt dass eine Fraktion die Regie-
        rung zum Handeln auffordert.
        Darüber hinaus können wir die von der FDP-Fraktion
        aufgestellten Forderungen an einen Gesetzentwurf auch
        inhaltlich nicht in allen Punkten mittragen, da diese in
        den zentralen Punkten des Lebensschutzes zu vage blei-
        ben und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ab-
        solut setzen.
        In den anstehenden Beratungen kann zu Recht von
        den Menschen erwartet werden, dass ihre Unsicherhei-
        ten und Ängste in die Beratungen in vollem Umfang mit
        aufgenommen werden müssen. Im Spannungsfeld zwi-
        schen dem grundgesetzlich verankerten Schutz des Le-
        bens und dem dort ebenso verankerten Recht auf Selbst-
        bestimmung müssen in diesem Haus auf breiter Basis
        tragbare Regelungen gefunden werden. Dabei geht es
        auch um die Frage nach dem weitgebundenen Maßstab
        von Politik, um die Frage nach dem Menschenbild.
        Aus dem Antragstext der FDP-Fraktion ist zu entneh-
        men, dass unseren Überlegungen gegensätzliche Vorstel-
        lungen zum Menschenbild zugrunde liegen. Ausgangs-
        punkt unserer Argumentation ist ein Menschenbild, das
        auch unserer Verfassung zugrunde liegt und antike, jüdi-
        sche und vor allem christliche Quellen hat. Dieses Men-
        schenbild bestimmt sich über dem Begriff der Würde,
        die absolut ist. Wer diesen Absolutheitsanspruch versagt,
        muss wissen, dass er damit Dritten eine Verfügungsvoll-
        macht zubilligt, die das Ende der Selbstbestimmung ei-
        nes Menschen bedeutet.
        Die Würde des Menschen ist vor jeder Einschränkung
        zu schützen, und zwar unabhängig von seiner augen-
        blicklichen Verfassung. Sie ist unantastbar. Damit sind
        auch der eigenen Gestaltungsmacht Grenzen gesetzt. In
        diesem Punkt unterscheiden sich unsere Vorstellungen
        also fundamental von denen, die in dem hier vorliegen-
        den Antrag zutage treten.
        Der Natur ihr Recht zu belassen, verlangt den Ver-
        zicht auf sterbebeschleunigende Maßnahmen und gebie-
        tet umgekehrt nicht den Einsatz einer lebensverlängern-
        den Maßnahme um jeden Preis. Wenn aus Lebensschutz
        Lebenspflicht wird, ist eine Radikalisierung der Forde-
        rungen hin zu einer Zulassung der aktiven Sterbehilfe
        Tür und Tor geöffnet.
        Die Schlussfolgerung hieraus ist unter einem christli-
        chen Menschenbild ein unmissverständliches Verbot der
        aktiven Sterbehilfe. Passive Sterbehilfe hingegen, die
        hinzielt auf ein menschenwürdiges Sterbenlassen, ist er-
        laubt und vielleicht sogar in einer größeren Zahl von Fäl-
        len geboten.
        Wenn nun die Frage gestellt wird, wer entscheidet,
        was zu tun oder zu lassen ist, dann steht sicherlich der
        Wille des Patienten im Vordergrund, begleitet von dem
        4160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Arzt. Gesetzgebung und Rechtssprechung haben hierbei
        einen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen eine Entschei-
        dung zu treffen ist. Letztendlich fließen jedoch zahllose
        Einzelgesichtspunkte in die Entscheidungen ein, die ein
        kluges und bedachtes Urteil erfordern.
        Eine komplette Verrechtlichung dort vorzunehmen,
        wo der Mensch dem Gang der Natur folgend die Grenze
        zwischen Leben und Tod überschreitet, bringt uns keiner
        Lösung näher. Es ist nicht Aufgabe des Staates und der
        Politik, Antworten auf die letzten Fragen menschlicher
        Existenz zu geben. Krankheit, Sterben und Tod sind für
        jede menschliche Ordnung unverfügbar. Aufgabe des
        Staates ist es aber, die Bedingungen und Chancen für ein
        menschenwürdiges Leben und Sterben zu schaffen: für
        ein Gesundheitssystem, das alle Fortschritte der Medizin
        bis hin zur Minimierung des Schmerzes allen Mitglie-
        dern der Gesellschaft öffnet, sowie eine Ordnung, die
        den Schutz auch der hilflosen Mitglieder der Gesell-
        schaft bis zuletzt garantiert.
        Die Erfahrungen in der Palliativmedizin und der Hos-
        pizbewegung sind in dieser Situation gleich; kein
        Schwerkranker will sterben, wenn seine Schmerzen und
        andere Symptome kontrolliert sind und er als Mensch
        angenommen ist. Der elementare Lebenswunsch der
        Schwerkranken muss Wegweiser für die flächende-
        ckende Ausweitung der Palliativmedizin und Hospizbe-
        wegung wie auch der qualifizierten Aus- und Weiterbil-
        dung der dort tätigen Menschen sein.
        Wenn der Wille des Patienten – ich denke, darüber
        sind wir uns einig – Maßstab des Handelns sein soll,
        dann findet er in der so genannten Patientenverfügung in
        Fällen fehlender Entscheidungsfähigkeit seine Rechtfer-
        tigung in unserer Verfassung als Ausdruck der Selbstbe-
        stimmung.
        Da noch keine verbindlichen Fraktionsmeinungen
        vorliegen, erscheint es mir sinnvoll, im Folgenden noch
        einmal die Problemfelder zu umreißen und die noch of-
        fenen Fragen ansprechen, die grundsätzlich hinsichtlich
        der Verbindlichkeit, der Wirksamkeitsvoraussetzungen,
        der Umsetzung und der Beteiligung des Vormund-
        schaftsgerichts bestehen.
        Im Konsens, dass die Basisversorgung – Ernährung
        und Körperpflege – nicht zur Disposition stehen darf,
        findet die Verbindlichkeit der Patientenverfügung ihre
        Grenze im geltenden Recht, das durch das schon ange-
        sprochene BGH-Urteil präzisiert worden ist: Der BGH
        hat in seiner Entscheidung vom 12. März 2003 deutlich
        gemacht, dass lebenserhaltende oder -verlängernde
        Maßnahmen bei einem Patienten unterbleiben müssen,
        wenn dieser einwilligungsunfähig ist, sein Grundleiden
        einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat
        und er zuvor seinen entsprechenden Willen – etwa in
        Form einer Patientenverfügung – deutlich geäußert hat.
        In diesem Zusammenhang ist genau zu prüfen, wie mit
        weiteren Krankheitsbildern wie zum Beispiel der fortge-
        schrittenen Demenz und mit Wachkomapatienten umzu-
        gehen ist.
        Möglichen Missbrauchsgefahren kann durch erhöhte
        Qualitätskriterien, also Schriftform der Patientenverfü-
        gung und Informationspflichten einerseits sowie entspre-
        chende Verfahrensvorschriften andererseits – obligatori-
        sche Beteiligung des Vormundschaftsgerichts und des
        Konsils – begegnet werden. Es ist erfreulich, dass bezüg-
        lich des Schriftformerfordernisses der Patientenverfü-
        gung inzwischen allgemeiner Konsens besteht. Wün-
        schenswert wäre auch, eine vorgeschaltete
        Beratungspflicht und eine regelmäßige Aktualisierung
        als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung festzuschrei-
        ben.
        Ein Konsil sollte in allen Fällen verbindlich festge-
        schrieben werden, wobei in diesem Zusammenhang das
        Erfordernis der weiteren Einschaltung des Vormund-
        schaftsgerichts im Einzelnen geprüft werden sollte. Eine
        vormundschaftsgerichtliche Entscheidung sollte nur
        dann erforderlich sein, wenn eine verbindliche Patien-
        tenverfügung nicht vorliegt und ein Konsens im Konsil
        nicht erzielt werden kann. Diese Differenzierung ist ge-
        rechtfertigt, wenn für die Patientenverfügung ein hoher
        Qualitätsstandard gefordert wird, was zu begrüßen wäre.
        Es ist unsere Aufgabe – ebenso wie bei der Vorsorge-
        vollmacht –, bei den Menschen dafür zu werben, dass sie
        sich für eine qualifizierte Patientenverfügung entschei-
        den und damit selbst bestimmen, wie sie für sich die
        Phase ihres Lebensendes gestalten wollen. Die Tatsache,
        dass nach Schätzung der Deutschen Hospizstiftung
        schon 2003 circa 7 Millionen Menschen eine Patienten-
        verfügung verfasst hatten und die Diskussion der ver-
        gangenen Jahre die Menschen zusätzlich für dieses
        Thema sensibilisiert hat, unterstreicht, dass wir die dazu
        notwendigen rechtlichen Kriterien dringend verbindlich
        regeln müssen.
        Zum Leben gehört das Sterben in Würde im Kreis der
        Familie. Der fortschreitenden Entsozialisierung des Ster-
        bens muss entgegen getreten werden. Sterben ist nicht
        nur ein körperlicher Prozess, er hat auch eine seelische,
        soziale, familiäre und geschichtliche Dimension. Der
        Fortschritt der Medizin ist dankenswerterweise rasant,
        kann und darf aber nicht zu einem unwürdigen Sterben
        führen. Hoffen wir also, dass dieses Haus schon bald in
        einem breiten Konsens die Rechtsgrundlage hierfür
        schafft.
        Markus Grübel (CDU/CSU): Lassen sie mich zwei
        Gesichtspunkte zum Antrag der FDP „Patientenverfü-
        gungen neu regeln“ ansprechen: erstens eine formale Be-
        trachtung, zweitens eine inhaltliche Betrachtung.
        Zur formalen Seite: Der Antrag ist gestellt von einzel-
        nen Abgeordneten der FDP und der Fraktion der FDP.
        Bei ethisch-rechtlichen Fragestellungen kann man aus
        unterschiedlicher Überzeugung und unterschiedlichen
        Werteordnungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kom-
        men. Für unterschiedliche Auffassungen gibt es auch bei
        der Frage der Patientenverfügung durchaus gute Gründe.
        Jeder Abgeordnete soll dann frei nach seinem Gewissen
        entscheiden. So haben wir es beim § 218 StGB, beim
        Transplantationsgesetz und beim Stammzellengesetz
        gemacht. So wollen wir es auch bei den Patientenverfü-
        gungen machen. Bei der FDP gibt es offensichtlich ein
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4161
        (A) (C)
        (B) (D)
        kollektives Fraktionsgewissen. Das halte ich für bemer-
        kenswert und sehr bedenklich.
        Der Antrag der FDP ist darauf gerichtet, dass die
        Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Dies ist
        aber überhaupt nicht der Wunsch der Mehrheit des Hau-
        ses. Mit dem Entwurf für ein 3. Betreuungsrechtsände-
        rungsgesetz wurde vom BMJ ein solcher Gesetzentwurf
        erarbeitet und nach massiver Kritik wieder zurückgezo-
        gen. Eine Mehrheit in diesem Hause ist der Ansicht, dass
        es Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlaments geben
        sollte. Dies werden wohl fraktionsübergreifende Grup-
        penanträge sein. Und das ist auch richtig so. Im Herbst
        2006 soll in den Fraktionen dazu der Abstimmungspro-
        zess erfolgen. Eine Neuregelung könnte dann im Som-
        mer 2007 in Kraft treten.
        Zur inhaltlichen Seite: Die FDP macht das Selbstbe-
        stimmungsrecht zum alleinigen Maßstab der Entschei-
        dung. Sie wägt dabei die verschiedenen Verfassungs-
        werte: – Selbstbestimmung, Lebensschutz und ein
        Tötungstabu und die Menschenwürde – nicht angemes-
        sen gegeneinander ab. Für den Widerstreit dieser ver-
        schiedenen Verfassungswerte ist vom Gesetzgeber ein
        möglichst schonender Ausgleich zu finden. Die FDP hat
        auch nicht richtig abgewogen, wie sich der aktuelle vom
        vorausverfügten Willen, der konkrete vom abstrakten
        Willen und die reale Entscheidung von einer theoreti-
        schen Entscheidung voneinander unterscheiden.
        Jedenfalls komme ich für meinen Teil zum Ergebnis,
        dass eine Abwägung zu einer Patientenverfügung führt,
        deren Reichweite begrenzt ist – wie von der Enquete-
        Kommission des Bundestages vorgeschlagen – und die
        möglicherweise eine besondere Regelung für das über
        sehr lange Zeit stabile Wachkoma, wenn trotz Ausschöp-
        fung aller medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein
        niemals wiedererlangt werden kann, vorsieht, und zwar
        wie in den Überlegungen der EKD unter dem Titel „Ster-
        ben hat seine Zeit“ dargestellt. Darüber werden wir noch
        ausführlich diskutieren.
        Es gibt auch große Übereinstimmung im Parlament:
        Wir wollen die bestehende Rechtsunsicherheit durch
        eine Änderung im Zivilrecht beenden, den Menschen die
        Sorge vor einer Übertherapie nehmen und Verbesserun-
        gen im Bereich der Hospizarbeit und palliativmedizini-
        schen Versorgung erreichen. Daran wollen wir gemein-
        sam arbeiten.
        Christoph Strässer (SPD): In diesem Monat ist bei
        unseren Nachbarn in Österreich das neue Gesetz zur Pa-
        tientenverfügung in Kraft getreten. Mit den Stimmen der
        Regierungskoalition sowie der Grünen beschloss der Na-
        tionalrat im März, dass Patienten schriftlich festlegen
        können, welche medizinischen Maßnahmen sie am Le-
        bensende wünschen. Lebensverkürzende Maßnahmen
        im Sinne dessen, was wir als aktive Sterbehilfe bezeich-
        nen, bleiben verboten. Die Sozialdemokraten dort
        stimmten gegen das Gesetz, weil es für sie zu strenge
        Formvorschriften enthalte.
        Das Gesetz verlangt nämlich zur Wirksamkeit der Pa-
        tientenverfügung unter anderem: eine medizinische
        Pflichtberatung, eine schriftliche Abfassung beim Notar
        oder Rechtsanwalt und eine Erneuerung der Willenser-
        klärung alle fünf Jahre.
        Auch in Deutschland findet bereits seit einiger Zeit
        eine breite gesellschaftliche Diskussion statt. Am Ende
        der letzten Legislaturperiode waren interfraktionelle
        Verhandlungen für einen Gesetzentwurf schon weit fort-
        geschritten, konnten aber aus den bekannten Gründen
        nicht mehr zum Abschluss gebracht werden. Vorberei-
        tungen für einen geordneten und verantwortungsbewuss-
        ten Diskussions- und Entscheidungsprozess sind, wie
        Sie wissen, im Gange. Das ist auch wichtig, denn das
        Thema bewegt die Menschen. Das habe ich nicht zuletzt
        in zahlreichen Veranstaltungen in meinem Wahlkreis
        Münster und darüber hinaus festgestellt. Diskussionen
        zur Patientenverfügung gehörten immer nicht nur zu den
        am besten besuchten Veranstaltungen, sie ergaben auch
        immer leidenschaftliche, aber auch sehr sachliche Ausei-
        nandersetzungen um dieses hochsensible Thema.
        In den letzten Jahren ist in diese Frage große Bewe-
        gung gekommen. Demografische und gesellschaftliche
        Veränderungen auf der einen sowie der medizinische
        Fortschritt auf der anderen Seite haben dazu geführt,
        dass viele ältere, aber zunehmend auch junge Menschen
        sich mit dem Thema beschäftigen. Man schätzt, dass be-
        reits mehrere Millionen Menschen eine Patientenverfü-
        gung abgeschlossen haben.
        Im Zuge dieser Entwicklung hat auch der BGH die
        Patientenrechte in den letzten Jahren immer wieder ge-
        stärkt. Im Jahr 2003 hat er die Bedeutung der Patienten-
        verfügung hervorgehoben und als unmittelbar rechtsver-
        bindliche Willenserklärung gewertet. Im Jahr 2005 gab
        es einen weiteren Beschluss, in dem sich das Gericht ge-
        gen Zwangsbehandlungen ausgesprochen hat. Letztlich
        sind aber auch in all diesen Entscheidungen wichtige
        Fragen offen geblieben, so die zentrale Frage nach der
        Reichweite einer Verfügung auch für den Fall, dass es
        sich nicht um einen Krankheitsverlauf handelt, der „in-
        faust“ ist, also irreversibel zum Tod führt.
        Es ist in der Gesellschaft ein Paradigmenwechsel zu
        beobachten: weg von einem medizinischen Paternalis-
        mus hin zu mehr Autonomie des Patienten. Es wächst
        das Bedürfnis der Menschen nach mehr Selbstbestim-
        mung – gerade auch nach Selbstbestimmung zum Ende
        des Lebens.
        Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Be-
        treuungsverfügungen können dabei wirksame Wege sein
        und – eine entsprechende rechtliche Absicherung vo-
        rausgesetzt – auch wertvolle Hilfestellung leisten.
        Das Interesse bei den Bürgerinnen und Bürgern da-
        nach ist groß. Die Unwissenheit und Unsicherheit aber
        auch. Viele Betroffene sind zu Recht verunsichert, weil
        sie nicht wissen, inwieweit ihre Verfügungen rechtsver-
        bindlich sind. Über 200 Leitfäden und Musterverfügun-
        gen tragen eher zur Verwirrung als zur Übersichtlichkeit
        und Klarheit bei. Viele haben die Befürchtung, dass sich
        Ärzte nicht an die Verfügung halten. Viele erliegen dem
        Glauben, Angehörige könnten ohne weiteres für sie ent-
        scheiden.
        4162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Im Hinblick auf die wachsende Zahl an Patientenver-
        fügungen besteht daher ein gesetzgeberischer Hand-
        lungsbedarf. Eine im Betreuungsrecht gesetzlich gere-
        gelte Patientenverfügung ist daher zu begrüßen. Sie
        stärkt die Rechte der Patienten und sorgt für ein größeres
        Maß an Rechtklarheit und Rechtssicherheit bei allen Be-
        teiligten. Ich denke, das ist das, was die Betroffenen von
        uns, dem Gesetzgeber, erwarten. Das sollten wir ihnen
        auch geben.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, insofern
        bieten Ansätze aus Ihrem Antrag eine Diskussionsgrund-
        lage. Sie sind aber nicht neu und insbesondere meiner
        Meinung nach an den falschen Adressaten gerichtet. Wir
        haben uns in der letzten Legislaturperiode darauf ver-
        ständigt, dass nicht die Bundesregierung einen Gesetz-
        entwurf in das Gesetzgebungsverfahren einbringen wird,
        sondern aus den Fraktionen heraus eigene Gruppenan-
        träge in den Bundestag eingebracht werden sollten. Ich
        halte das für die richtige Vorgehensweise, richtig des-
        halb, weil sich die ethischen Grundlagen, um dies es
        geht, nicht an Partei- oder Fraktionsgrenzen festmachen
        lassen. Hier sind im wahrsten Sinne des Wortes „Gewis-
        sensentscheidungen“ erforderlich. Ansatzpunkte für der-
        artige Anträge bieten der Zwischenbericht der Enquete-
        kommission „Ethik und Recht in der modernen
        Medizin“ des Deutschen Bundestages aus dem Jahr
        2004, die Stellungnahmen des Nationalen Ethikrates aus
        dem Jahr 2005 und die Vorarbeiten unserer Fraktionen,
        warum nicht auch die eine oder andere Entwicklung aus
        Österreich oder anderen Ländern die gesetzliche Rege-
        lungen gefunden haben.
        Inhaltlich möchte ich schon an dieser Stelle vorweg-
        nehmen, dass ich der Auffassung bin, dass die Patienten-
        verfügung erstens unbedingt schriftlich abgefasst sein
        muss. Der Schriftform kommt eine wichtige Beweis-
        und Schutzfunktion zu – für den Verfasser und für den
        behandelnden Arzt.
        Zweitens sollte auf weitere Wirksamkeitsvorausset-
        zungen verzichtet werden. Zahlreiche formale Hürden
        wie in Österreich schränken meiner Ansicht nach das
        Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen zu sehr ein,
        in jeder und für jede Phase des menschlichen Lebens
        steht das Prinzip der Menschenwürde und das Recht auf
        Selbstbestimmung, abgeleitet aus den Art. l und 2 unse-
        res Grundgesetzes, absolut im Vordergrund.
        Drittens. Die Reichweite der Verfügung sollte deshalb
        auch nicht beschränkt und damit dem Selbstbestim-
        mungsrecht aus Art. 2 GG keine Grenzen gesetzt wer-
        den.
        Viertens. Die Zuständigkeit des Vormundschaftsge-
        richtes sollte auf Konfliktfälle begrenzt werden.
        Fünftens. Neben diesen gesetzlich zu regelnden Punk-
        ten empfehle ich jedem Betroffenen gleichwohl, vor
        dem Aufsetzen einer Patientenverfügung, ein ärztliches
        Aufklärungsgespräch zu suchen sowie die Patientenver-
        fügung möglichst umfassend und konkret abzufassen
        und regelmäßig zu aktualisieren.
        Ich weise aber ausdrücklich daraufhin, dass dies mei-
        ner Meinung nach keine Wirksamkeitsvoraussetzungen
        sein sollten.
        Zum Abschluss ist es mir wichtig, darauf hinzuwei-
        sen, dass die Patientenverfugung aber nicht nur isoliert
        unter dem Aspekt der Lebensverkürzung betrachtet wer-
        den sollte. Das erlebe ich immer wieder. Wir wollen kei-
        nen Beitrag zu einer Gesellschaft leisten, die den Alten
        und Kranken suggeriert, auf Behandlung verzichten zu
        müssen.
        Selbstverständlich kann eine Patientenverfügung
        auch dazu genutzt werden, festzulegen, dass alles medi-
        zinisch Mögliche für einen Patienten getan werden soll.
        Ohnehin ist die Patientenverfügung nur ein – wenn auch
        wichtiger – Baustein zur Sicherung der Würde und
        Selbstbestimmung der Patienten. Sie muss als Rechtsin-
        stitut eingebunden werden in Maßnahmen zur Sterbebe-
        gleitung und in ein stärker ausgebautes Netz von pallia-
        tivmedizinischen und hospizlichen Maßnahmen.
        Vor allem müssen diese Möglichkeiten durch Aufklä-
        rungskampagnen einer breiten Öffentlichkeit näher ge-
        bracht werden. Nur so können die verschiedenen Bau-
        steine auch ihre gewünschte Wirkung entfalten. Das
        sollten wir bei unseren Beratungen in dem demnächst
        anstehenden Gesetzgebungsprozess nicht vergessen.
        Joachim Stünker (SPD): Die FDP will mit ihrem
        Antrag eine Diskussion anstoßen, die längst im Gange
        ist. Das Thema steht auf unserer Agenda weit oben.
        Schon in den Koalitionsverhandlungen haben wir uns
        hiermit befasst und vereinbart, die Diskussion über eine
        gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzu-
        führen und abzuschließen. In der SPD-Fraktion haben
        wir kürzlich verabredet, dass Thema Patientenverfügung
        auf der Klausursitzung im Sommer dieses Jahres inten-
        siv zu behandeln.
        Am Antrag der FDP missfällt mir die Aufforderung
        an die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzule-
        gen. Der Weg über einen Regierungsentwurf ist meiner
        Ansicht nach nicht der richtige. Die Thematik ist mit ei-
        ner Vielzahl von ethischen Fragen verbunden, die vertre-
        tenen Positionen orientieren sich nicht an parteipoliti-
        schen Linien. In solchen Fällen sollten Gesetzentwürfe
        aus der Mitte des Bundestags eingebracht werden. Bei
        den vergleichbaren Diskussionen um § 218 StGB oder
        den Import embryonaler Stammzellen haben wir hiermit
        sehr gute Erfahrungen gemacht.
        In der Sache gehen die Vorstellungen der FDP in die
        richtige Richtung. Der Antrag entspricht in weiten Tei-
        len der Position der Arbeitsgruppe Rechtspolitik der
        SPD-Bundestagfraktion. Auch wir sind der Ansicht, dass
        eine Patientenverfügung nur bindend sein kann, wenn
        sie schriftlich abgefasst und unterschrieben ist. Auch die
        formfreie Widerrufbarkeit ist zweifelsohne geboten.
        Besonders begrüße ich, dass sich auch die FDP in der
        zentralen und übergeordneten Frage dagegen ausspricht,
        Patientenverfügungen nur für bestimmte Erkrankungen
        und Krankheitsstadien zuzulassen. Eine solche Reich-
        weitenbegrenzung wäre mit dem in Art. 2 Abs. 2 GG ge-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4163
        (A) (C)
        (B) (D)
        schützten Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und
        dem in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG
        verankerten allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht ver-
        einbar. Die geforderte „infauste Prognose“ würde zum
        Beispiel bedeuten, dass für den Fall eines dauerhaften,
        stabilen Wachkomas nicht vorab wirksam erklärt werden
        kann, dass eine künstliche Ernährung oder Beatmung
        einzustellen ist. Dies widerspräche dem Selbstbestim-
        mungsrecht.
        Zudem habe ich große Zweifel, ob es überhaupt mög-
        lich ist, einen tödlichen, nicht aufhaltbaren Verlauf mit
        hinreichender Sicherheit zu prognostizieren.
        Michael Kauch (FDP): In der letzten Wahlperiode
        hat sich die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der
        modernen Medizin“ ebenso wie der Nationale Ethikrat
        intensiv mit der Frage beschäftigt, wie durch Patienten-
        verfügungen die Selbstbestimmung nicht mehr einwilli-
        gungsfähiger Patienten bei der Entscheidung über Ein-
        leitung oder Abbruch medizinischer Maßnahmen
        gestärkt werden kann. Es wurde deutlich, dass hier sehr
        unterschiedliche Auffassungen im Parlament bestehen.
        Die FDP-Bundestagsfraktion hatte bereits in der letz-
        ten Wahlperiode einen Antrag in den Deutschen Bundes-
        tag eingebracht, um mehr Rechtssicherheit bei Patien-
        tenverfügungen zu schaffen. Diesen Antrag bringen wir
        jetzt erneut ins Parlament ein.
        Unser Ziel ist es, mit dieser ersten Lesung den Dis-
        kussionsprozess in dieser Wahlperiode zu eröffnen, um
        ausgehend von unserem Antrag in Gespräche mit Kolle-
        ginnen und Kollegen der anderen Fraktionen einzutre-
        ten. Am Ende dieser Gespräche soll ein Gesetzentwurf
        stehen, der von einer fraktionsübergreifenden Gruppe
        eingebracht wird.
        Um eines vorweg klarzustellen: Wir reden bei Patien-
        tenverfügungen eben nicht über aktive Sterbehilfe oder
        assistierten Suizid, wir reden nicht über das gezielte Tö-
        ten eines Menschen. Es geht auch nicht um die Verwei-
        gerung indizierter und gewünschter Behandlungen. Es
        geht nicht um Töten, sondern um Sterbenlassen. Es geht
        darum, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn der Patient
        das wünscht.
        Leitbild unseres Antrages ist das Bild eines Men-
        schen, der über sein Leben auch in existenziellen Fragen
        so weit wie möglich selbst entscheiden kann und soll,
        ein Menschenbild, das der Selbstbestimmung Vorrang
        vor anderen Überlegungen Dritter gibt, und seien sie
        noch so fürsorglich motiviert. Das ist die eigentliche po-
        litische Trennlinie zwischen den Lagern in dieser Dis-
        kussion: die Trennlinie zwischen fürsorglichem Paterna-
        lismus, der Zwangsbehandlungen in Kauf nimmt, und
        dem Vertrauen auf die Kraft und die Urteilsfähigkeit des
        einzelnen Menschen.
        Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstel-
        lung von einem autonomen Individuum. Natürlich ist der
        Mensch eingebunden in Beziehungen und auch in innere
        Zwänge. Gerade bei Patientenverfügungen kommt ein
        anderer Aspekt hinzu: Man trifft Entscheidungen für
        Szenarien in der Zukunft, die man nur bedingt abschät-
        zen kann. Der vorausverfügte Wille ist immer schwächer
        als der aktuell verfügte. Aber was ist die Alternative?
        Die Alternative ist Fremdbestimmung durch andere
        Menschen. Bei aller Relativierung des autonom handeln-
        den Menschen: Wir Liberale entscheiden uns dann – im
        Leben wie im Sterben – für die Selbstbestimmung.
        Die moderne Intensivmedizin hat bedeutende Mög-
        lichkeiten geschaffen, Leben zu retten und zu verlän-
        gern. Manche Menschen erleben das als Chance, andere
        lehnen bestimmte Behandlungen ab, weil sie diese als zu
        belastend erleben oder für unwürdig halten. Die Frage,
        ob eine lebensverlängernde Maßnahme als Geschenk
        oder als Qual empfunden wird, kann nur der einzelne
        Mensch für sich entscheiden.
        Jede medizinische Maßnahme – nicht der Verzicht
        darauf! – ist durch Einwilligung des Patienten zu recht-
        fertigen. Eine Zwangsbehandlung ist Körperverletzung,
        dem Arzt drohen strafrechtliche Konsequenzen. Dies gilt
        im Grundsatz auch für den nichteinwilligungsfähigen
        Patienten. Hier entscheidet der gesetzliche Vertreter.
        Eine Patientenverfügung kann ein Instrument sein, in ge-
        sunden Tagen zu formulieren, welche Therapien man in
        solchen Fällen wünscht oder ablehnt. Niemand muss
        eine Patientenverfügung abfassen. Jeder hat das Recht,
        auch existenzielle Entscheidungen seinem gesetzlichen
        Vertreter zu überlassen. Doch wer klar weiß, was er
        wann wünscht, ablehnt oder begrenzt sehen will, dessen
        Verfügung muss geachtet werden.
        Die FDP will deshalb die rechtliche Verbindlichkeit
        von Patientenverfügungen stärken. Patienten brauchen
        Rechtssicherheit darüber, dass sich Ärzte und Betreuer
        nicht über ihren im Voraus verfassten Willen hinwegset-
        zen können, wenn sie am schwächsten sind, weil sie
        kommunikationsunfähig sind und sich nicht mehr gegen
        nicht gewünschte Behandlungen wehren können.
        Das Recht zur Selbstbestimmung über den eigenen
        Körper gehört zum Kernbereich der durch das Grundge-
        setz geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Für
        die FDP kommt daher eine Begrenzung der Reichweite
        von Patientenverfügungen nicht infrage. Eine strikte Be-
        grenzung der Reichweite auf einen „trotz Behandlung ir-
        reversibel tödlichen Verlauf“, wie sie die Mehrheit der
        Enquete-Kommission in der letzten Wahlperiode vorge-
        schlagen hatte, liefert Patientinnen und Patienten
        Zwangsbehandlungen gegen deren erklärten Willen aus.
        Denn diese Rechtsfigur macht Patientenrechte von einer
        ärztlichen Prognose abhängig, deren Verlässlichkeit
        nicht in allen Fällen garantiert werden kann.
        Vertreter einer strikten Reichweitenbegrenzung wie
        die Mehrheit der früheren Enquete-Kommission gehen
        für den Anwendungsfall des Wachkomas im Blick auf
        die Selbstbestimmung noch hinter die Rechtslage zu-
        rück. In den Behandlungsgrundsätzen der Bundesärzte-
        kammer wird erklärt, dass es sich nicht um Sterbende
        handelt und sie deshalb auch künstlich ernährt werden
        müssen. Allerdings schränkt die Bundesärztekammer
        ein: unter Beachtung ihres Willens. Diese Einschrän-
        kung ist wichtig.
        4164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Auch über religiös motivierte Behandlungsbeschrän-
        kungen setzen sich Vertreter einer strikten Reichweiten-
        begrenzung locker hinweg. Wenn ein Zeuge Jehovas
        verfügt, niemals eine Bluttransfusion zu wollen, auch
        wenn er deshalb sterben müsste, dann ist auch das zu
        achten. Man mag es persönlich für falsch oder tragisch
        halten, doch niemand hat das Recht, Menschenwürde,
        Selbstbestimmungsrecht und Religionsfreiheit durch
        Zwangsbehandlungen mit Füßen zu treten.
        Kernforderung der FDP ist es dagegen, dass Thera-
        piewünsche, Therapiebegrenzungen und Therapiever-
        bote durch eine Patientenverfügung für jeden Zeitpunkt
        eines Krankheitsverlaufes möglich sein müssen. Ledig-
        lich eine Basispflege darf aus Gründen der Menschen-
        würde nicht ausgeschlossen werden. Voraussetzung ist,
        dass die Patientenverfügung hinreichend klar formuliert
        und anwendbar ist, keine offenkundige, etwa nonverbale
        Willensänderung erkennbar ist und die Verfügung dem
        Patienten noch personal zurechenbar ist. Hieran wird
        man bei manchen Formen der Demenz Zweifel haben
        müssen. Hier ist dann – wie immer in Zweifelsfällen –
        pro vita zu entscheiden.
        Die FDP fordert darüber hinaus, dass eine Patienten-
        verfügung aus Gründen der Rechtssicherheit und Be-
        weiskraft schriftlich verfasst werden muss. Eine Ver-
        pflichtung zur regelmäßigen Aktualisierung der
        Patientenverfügung fordern wir nicht, da dabei die Ge-
        fahr besteht, dass Patienten infolge des Alters, fortge-
        schrittener Krankheit oder reiner Vergesslichkeit die Ak-
        tualisierung versäumen und ihr niedergelegter Wille
        unwirksam würde. Auch eine generelle Beratungspflicht
        würde unnötige Bürokratien und Hürden aufbauen.
        Dagegen setzen wir uns auch dafür ein, Angebote zur
        Beratung und Aufklärung über Heilungsmöglichkeiten
        und den Fortschritt der Leid mindernden Palliativmedi-
        zin flächendeckend auszubauen. Denn je aufgeklärter
        ein Mensch ist, desto selbstbestimmter kann er handeln.
        Darüber hinaus spricht sich die FDP dafür aus, die
        Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts einzuschrän-
        ken. Nur im Konfliktfall zwischen dem behandelnden
        Arzt und dem gesetzlichen Vertreter ist das Vormund-
        schaftsgericht einzuschalten, wenn zuvor das behan-
        delnde Pflegepersonal und die nächsten Angehörigen an-
        gehört wurden. Eine Zuständigkeit des Gerichts ist
        regelmäßig dann gegeben, wenn keine schriftliche Pa-
        tientenverfügung vorliegt. Die regelmäßige Anrufung
        des Vormundschaftsgerichtes schafft nur vordergründig
        Rechtssicherheit. In Wahrheit werden durch die regelmä-
        ßige Einschaltung der Gerichte wichtige Entscheidungen
        unnötig hinausgezögert und an für diese Fragen oft nicht
        qualifizierte Richter delegiert.
        Die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von
        Patientenverfügungen müssen in dieser Wahlperiode
        endlich neu geregelt werden. Deshalb muss jetzt das Par-
        lament handeln. Die FDP hat als einzige Fraktion einen
        Antrag zur Patientenverfügung eingebracht. Auf dieser
        Grundlage werden wir uns nun aktiv daran beteiligen,
        mit gleich gesinnten Kolleginnen und Kollegen einen
        Gruppen-Gesetzentwurf einzubringen.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Über die Notwendigkeit einer rechtlichen
        Absicherung von Patientenverfügungen haben wir be-
        reits im letzten Jahr anlässlich des Zwischenberichts der
        Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
        Medizin“ diskutiert. In der damaligen Debatte wurde
        klar, dass es in jeder Fraktion mindestens zwei unter-
        schiedliche Auffassungen bezüglich der rechtlichen
        Ausgestaltung gibt, einige sich sogar ganz gegen eine
        rechtliche Normierung aussprechen. Wenn ich also heute
        meine Auffassung vortrage, so spreche ich zwar für ei-
        nen großen Teil meiner Fraktion, nicht aber für alle.
        Ich bin der Meinung, dass es trotz des BGH-Urteils
        von 2003, wonach Patientenverfügungen eine Verbind-
        lichkeit besitzen, einen rechtlichen Regelungsbedarf
        gibt, weil es zum einen eine große Unwissenheit und
        Unsicherheit unter den Ärzten über die derzeitige
        Rechtslage gibt. So glaubt nach einer Umfrage die
        Hälfte der befragten Ärzte, es sei aktive Sterbehilfe,
        wenn sie aufgrund des geäußerten Willens des Patienten
        oder der Patientin die künstliche Beatmung einstellen.
        Ein weiterer Grund: Dieses sensible Gebiet sollte
        nicht allein einer Klärung durch die Rechtsprechung vor-
        behalten bleiben, zumal diese in den letzten Jahren kei-
        neswegs einheitlich war. Denn: Auf der Strecke bleibt
        dabei das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen über
        den eigenen Körper. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist
        jedoch der Kern der Menschenwürde. Es ist das höchste
        unverletzliche und unveräußerliche Menschenrecht im
        Grundrechtskatalog und findet seine Grenze ausschließ-
        lich in den Rechten anderer.
        Es ist die Aufgabe des Staates, die Selbstbestimmung
        jedes Bürgers und jeder Bürgerin vor den Eingriffen an-
        derer zu schützen. Ein staatlicher Paternalismus, der den
        Menschen vor sich selbst schützen will, ist nur dann ge-
        rechtfertigt, wenn der Einzelne zur Selbstbestimmung
        nicht in der Lage ist. Das heißt aber auch, dass das
        Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Kör-
        per höher steht als die – sicherlich oft gut gemeinte –
        Schutzpflicht anderer für sein Leben. Darum hat auch
        niemand das Recht, gegen den Willen eines Menschen
        eine Behandlung durchzusetzen.
        Dabei ist klar: Durch die moderne Medizintechnik ist
        der Zeitpunkt und die Art des Sterbens zunehmend von
        medizinischen Entscheidungen bestimmt. Häufig kön-
        nen Menschen nur sterben, wenn auf Maßnahmen ver-
        zichtet, wenn eine Behandlung abgebrochen wird, wie es
        in 50 Prozent aller Todesfälle passiert. Durch diese Ent-
        scheidung entstehen viele ethische Probleme. Patienten-
        verfügungen und Vorsorgevollmachten sind eine wich-
        tige Hilfe für alle Beteiligten, die Entscheidung zu
        treffen, die dem Willen der Patientin oder des Patienten
        entsprechen. So weit herrschte schon vor einem Jahr Ei-
        nigkeit.
        Alle einwilligungsfähigen Menschen müssen also
        eine Patientenverfügung abschließen können. Natürlich
        kann sie nur dann umgesetzt werden, wenn die beschrie-
        bene Situation mit der konkreten übereinstimmt, wenn
        es keine Anzeichen einer Willensänderung gibt, wenn
        keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie unter äu-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4165
        (A) (C)
        (B) (D)
        ßerem Druck entstanden ist und wenn keine aktive Ster-
        behilfe verlangt wird.
        Von einigen Kolleginnen und Kolleginnen wird nun
        gefordert, dass die Bindungswirkung einer solchen Ver-
        fügung begrenzt werden müsse. Sie plädieren dafür, dass
        die Patientenverfügung nur im Falle eines irreversibel
        tödlichen Verlaufs des Grundleidens Gültigkeit habe.
        Die Begrenzung der Reichweite auf Personen mit einer
        irreversibel tödlichen Krankheit lässt sich jedoch meines
        Erachtens nicht rechtfertigen. Sie wäre medizinisch pro-
        blematisch, weil es diesen medizinischen Begriff nicht
        gibt. Man müsste ansonsten eine Lebenserwartung fest-
        legen. Diese Begrenzung wäre aber auch ethisch unbe-
        gründet und verfassungsrechtlich unhaltbar. Denn: Wenn
        ein aktuell einwilligungsfähiger Mensch lebensverlän-
        gernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille
        auch geachtet werden, wenn er im Voraus für eine be-
        stimmte Situation geäußert wurde, in der keine Äuße-
        rungsfähigkeit mehr gegeben ist. Würde der Wille nur
        im Falle eines tödlichen Verlaufs des Leidens geachtet,
        bedeutete das im Umkehrschluss eine Zwangsbehand-
        lung. Und die ist verboten.
        Wir werden in den nächsten Monaten diese Debatte
        intensiv zu führen haben. Der Antrag der FDP bietet
        hierzu eine gute Grundlage.
        Anlage 17
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur
        Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den
        Europäischen Haftbefehl und die Übergabever-
        fahren zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-
        päischen Union (Europäisches Haftbefehlsge-
        setz – EuHbG) (Tagesordnungspunkt 14)
        Wolfgang Nešković (Die LINKE): Als das Bundes-
        verfassungsgericht am 18. Juli des vergangenen Jahres
        feststellte, dass der Patient „Europäisches Haftbefehls-
        gesetz“ an schweren Verfassungsmängeln krankte, da
        hat man das Gesetz rasch in den Operationssaal gescho-
        ben, um sich seiner Krankheit anzunehmen. Seitdem
        wurde der Teint des Patienten aufgefrischt, es wurden
        Vitaminspritzen verabreicht und eine Sauerstoffkur
        durchgeführt. Jetzt hat der Patient wieder einigermaßen
        rosige Wangen, aber die Ursache des Leidens wurde
        nicht behoben. Die Ursache des Leidens war dem Pa-
        tienten nämlich bereits mitgegeben, als er auf die Welt
        kam.
        Bereits der dem Europäischen Haftbefehlsgesetz zu-
        grunde liegende Rahmenbeschluss des Rates ist eine
        ernste Bedrohung für die Prinzipien der Würde und der
        Freiheit des Menschen. Es ist hoch fraglich, ob dieser
        Rahmenbeschluss überhaupt auf einer rechtmäßigen
        Legitimationsgrundlage erlassen wurde. Anstelle eines
        Rahmenbeschlusses wäre nämlich ein europäisches
        Übereinkommen erforderlich gewesen.
        Es ist weiterhin äußerst fraglich, ob die mit dem Rah-
        menbeschluss geschaffenen Eingriffe in die Freiheits-
        rechte der Bürger mit dem Legalitätsprinzip in Strafsa-
        chen vereinbar sind. Hier wird ein europäisches
        Strafrecht durch die Hintertür des Prozessrechtes einge-
        führt. Wer ein europäisches Strafrecht will, muss es so
        nennen und dafür Mehrheiten gewinnen.
        Eben diese ernsten Bedenken hatten auch die Richter
        des belgischen Verfassungsgerichtes, als sie sich am
        13. Juli 2005 entschlossen, den EuGH im Vorabentschei-
        dungsverfahren zu ersuchen, den Rahmenbeschluss auf
        seine Nichtigkeit hin zu überprüfen. Ich meine, wir dür-
        fen ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Richter am
        belgischen Verfassungsgericht kein Stück weniger juris-
        tisch gebildet und begabt sind als die Juristenmannschaft
        im Ministerium von Frau Zypries. Es wäre daher ange-
        bracht gewesen, vor der Erstellung endgültiger Neufas-
        sungsentwürfe zunächst einmal die Entscheidung des
        Europäischen Gerichtshofes abzuwarten. So aber wird
        der Deutsche Bundestag mit der Beratung eines Gesetzes
        befasst, dem schon in kurzer Zeit die Grundlage abhan-
        den kommen wird. Erteilen Sie diesen Gesetzesentwür-
        fen eine Absage! Lassen Sie die Heilbemühungen am
        Patienten „Haftbefehlsgesetz“ nicht zum Totentanz gera-
        ten!
        Doch nicht nur durch die europäische Brille betrach-
        tet sind die Entwürfe hoch bedenklich. Sie sind es – auch
        in ihrer aufgefrischten Form – mit Blick auf das deutsche
        Grundgesetz. Die für den neuen § 80 vorgesehene Ab-
        grenzung von Taten mit maßgeblichem Auslandbezug,
        maßgeblichem Innlandsbezug und Mischfällen ist kaum
        mehr als eine Ansammlung von Unbestimmtheiten.
        Im deutschen Verfassungsrecht haben wir eine sehr
        klare Formel: Je intensiver eine Maßnahme des Gesetz-
        gebers in Grundrechte eingreift, umso strenger sind die
        Anforderungen an die Bestimmtheit der Norm.
        Diesem einfachen Grundsatz wird der Entwurf nicht
        gerecht.
        Vielleicht liegt das daran, dass man sich für die
        Neufassungen darauf beschränkt hatte, die Empfehlun-
        gen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Urteil trot-
        zig abzuschreiben, anstatt für die inhaltliche Umsetzung
        dieser Empfehlungen Sorge zu tragen.
        Und wenn man sich schon aufs Abschreiben verlegt,
        sollte man es sorgfältig tun:
        Das Bundesverfassungsgericht hatte zum Problem der
        gesicherten Rücküberstellung ausgeführt:
        Die bloße Zusage einer Rücküberstellung ist inso-
        weit unzureichend, weil damit noch nichts über die
        Möglichkeit der Strafverbüßung in Deutschland ge-
        sagt ist.
        Dennoch findet sich in den Neufassungen dieselbe
        ungenügende Formulierung wie schon im gerügten ers-
        ten Gesetz. In der Begründung der Gesetzesentwürfe
        werden wir dazu auf einen in der Zukunft erwarteten
        Rahmenbeschluss zur Vollstreckungshilfe auf europäi-
        scher Ebene verwiesen. Der soll dann klären, was heute
        ungeklärt bleibt. Das ist befristeter Verfassungsbruch mit
        unsicherem Fristablauf und keine Behebung des vom
        Verfassungsgericht gerügten Misstandes. Des Weiteren
        4166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        verschlechtern die Neufassungen die Rechtslage der in
        Deutschland lebenden Ausländer, ohne dass es dafür
        überhaupt eine Aufforderung vom Verfassungsgericht
        gab.
        Während der alte § 80 Abs. 3 für alle Ausländer, die
        sich in Deutschland rechtmäßig aufhalten, dieselben
        Schutzkriterien wie für Deutsche bereithielt, beschränkte
        der neuere § 80 Abs. 4 diesen Schutz auf die sehr viel
        kleinere Gruppe der Ausländer, die in familiärer oder in
        Lebensgemeinschaft mit Deutschen leben. Im neuesten
        Änderungsvorschlag des Justizministeriums ist dann
        selbst dieser zwingende Schutz gestrichen und durch
        eine fakultative Regelung ersetzt worden. Ich finde es
        unerträglich, dass Menschen, die Sitte und Recht dieses
        Landes achten, die hier Steuern zahlen, nicht auch in den
        Genuss des üblichen Auslieferungsschutzes hinein ge-
        nommen werden sollen. Schließlich ist der vom Bundes-
        verfassungsgericht geforderte Rechtsschutz nicht verwirk-
        licht worden. Das Festhalten am zweistufigen Verfahren
        und die nur eingeschränkt übertragene Ermessenskon-
        trolle an die Oberlandesgerichte sind den Maßstäben ei-
        nes Rechtstaates schlicht unwürdig.
        Ich bin ohne Mitleid für den sprichwörtlichen Patien-
        ten „Haftbefehlsgesetz“, denn ich sorge mich um die
        wirklichen Menschen, die dieses Gesetz betreffen soll.
        Ich meine, dass die Menschen im Land sicher sein, müs-
        sen, dass die Prinzipien des Rechtsstaates auch auf euro-
        päischer Ebene gewahrt werden. Ich hoffe daher, dass
        der Europäische Gerichtshof den zugrunde liegenden
        Rahmenbeschluss samt seiner Ausführungsgesetze end-
        lich beerdigen wird.
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Einbürgerung er-
        leichtern – Ausgrenzungen ausschließen (Tages-
        ordnungspunkt 15)
        Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Die Linke for-
        dert in ihrem Antrag unter anderem: Menschen, die seit
        mindestens fünf Jahren in Deutschland sind, die deut-
        sche Staatsangehörigkeit zu verleihen; die doppelte
        Staatsbürgerschaft wieder einzuführen; auf das Bekennt-
        nis zu unserer Verfassung und ausreichende Sprach-
        kenntnisse als Voraussetzungen für den Erwerb der
        Staatsbürgerschaft zu verzichten; die Pflichtteilnahme an
        entsprechenden Kursen abzuschaffen.
        Dieser Antrag ist ein weiterer Beleg für den Realitäts-
        verlust der sozialistischen Linken in Deutschland. Allein
        schon einen Einbürgerungsanspruch nach fünfjährigem
        Aufenthalt in Deutschland, unabhängig vom Aufent-
        haltstitel, zu fordern, geht an der Realität vorbei. Sie ha-
        ben wohl das WM-Motto: „Die Welt zu Gast bei Freun-
        den“ fehlinterpretiert. Nach Ihrem Antrag soll es in
        Zukunft ausreichen, dass Menschen, die sich in Deutsch-
        land möglicherweise illegal aufhalten und damit auch
        den Lebensmittelpunkt hier haben, nur noch fünf Jahre
        aussitzen müssen, um Deutsche zu werden. Die An-
        nahme, dass jeder, dem wir einen deutschen Pass geben,
        sich automatisch integriert, ist ein Trugschluss. Die Ein-
        bürgerung eines ausländischen Mitbürgers kann nur das
        Ergebnis einer erfolgreichen Integration sein und nicht
        der Anstoß. Die Einbürgerungsurkunde muss doch die
        Perspektive, ja der Anreiz sein, auf die sich alle Integra-
        tionsbemühungen der hier lebenden Ausländer richten.
        Wenn wir diesen Anreiz wegnehmen, dann können wir
        keinen Integrationswillen mehr erwarten. Dies hat nichts
        mit Diskriminierung zu tun.
        Dieses sehen auch die deutschen Landkreise und
        Kommunen so, welche vor Ort mit der gesellschaftli-
        chen Aufgabe Integration zu tun haben. Und ich möchte
        Frau Pau sehen, wie sie ihren Kommunalpolitikern in
        Marzahn erklärt, dass in Zukunft nur noch Abwarten
        reicht, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen.
        Zumal doch gerade dort, wo die Linkspartei stark ist, die
        Äußerung des Kollegen Lafontaine „Deutscher ist nach
        meinem Verständnis nur, wer sich an der Gemeinschaft
        beteiligt“ auf großen Zuspruch gestoßen ist. Von jedem
        Bürger in unserem Land erwarten wir, dass er sich zur
        freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt,
        deshalb ist es nur recht, dass wir dies auch von den Men-
        schen einfordern, die Deutsche werden wollen. Mir ist
        jedoch klar, dass eine Partei, welche in Teilen vom Ver-
        fassungsschutz beobachtet wird, natürlich ein grundsätz-
        liches Problem mit unserer Verfassung hat.
        Es muss gestattet sein, die Ernsthaftigkeit eines Be-
        kenntnisses zu unseren Werten und dem Grundgesetz zu
        prüfen. Auf die Einführung von Mehrfachstaatsbürger-
        schaften möchte ich in diesem Zusammenhang nicht nä-
        her eingehen. Die Linke fordert in ihrem Antrag die Ab-
        schaffung von verpflichtenden Integrationskursen und
        von Mindeststandards bei den sprachlichen Fähigkeiten.
        So erschweren sie es nicht nur unserer Gesellschaft,
        ihre Integrationsleistung gegenüber den Migranten zu er-
        bringen. Sie behindern auch die Anstrengungen der aus-
        ländischen Mitbürger, die sich redlich bemühen, sich in
        die Gesellschaft zu integrieren, indem Sie auf eine Stufe
        mit denen stellen, die sich der Integration bisher erfolg-
        reich verweigern.
        Wie in der Sozialpolitik muss auch in der Integra-
        tionspolitik „Fördern und fordern“ die Maxime sein. Es
        besteht kein Zweifel daran, dass ausländische Mitbürger
        in Deutschland willkommen sind, dazu gehört aber auch,
        dass jeder seinen Beitrag zu einer erfolgreichen Integra-
        tion leistet. Ziel muss es sein, zu einer Vereinbarung zwi-
        schen Gesellschaft und Migranten zu kommen: Die Mi-
        granten bemühen sich ihrerseits um eine Integration und
        halten sich an die Spielregeln, Politik und Gesellschaft
        setzen dafür die Rahmenbedingungen. Integration ist
        eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der alle Betei-
        ligten ihren Beitrag zu leisten haben.
        Mit Schaffung vernünftiger Rahmenbedingungen
        müssen wir den hier lebenden Ausländern vernünftige
        Wege in unsere Gesellschaft eröffnen. Dazu werden wir
        die bestehenden Angebote kontinuierlich erweitern und
        verbessern müssen. Voraussetzung für die Teilhabe an
        dem gesellschaftlichen Leben ist vor allem die Beherr-
        schung der deutschen Sprache, aber nicht, wie von der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4167
        (A) (C)
        (B) (D)
        Linken gefordert, auf dem Niveau der einfachen mündli-
        chen Verständigung. Der Weg aus der sozialen Isolation
        in Deutschland erfordert mehr als nur ein paar Brocken
        Deutsch. Migranten dürfen sich den Integrationskursen
        in Deutschland nicht verschließen. Erfolgreiche Integra-
        tion ist auch der Schlüssel für den sozialen Erfolg der
        hier lebenden Ausländer. Dazu gehört eine umfassende
        Bildung und Ausbildung, die neben den notwendigen
        Sprachkenntnissen den Betroffenen auch Kenntnisse
        über unseren Wertekanon, welcher seine Wurzeln in
        Christentum, Aufklärung und Humanismus hat, vermit-
        teln. Einbürgerungskurse können das am besten leisten.
        Deshalb müssen sie Pflicht für jeden Integrationswilli-
        gen sein. Verweigerungshaltungen sind diesbezüglich
        ganz klar und konsequent zu sanktionieren.
        Die Unionsfraktion wird nach dem Integrationsgipfel
        bei der Bundeskanzlerin am 14. Juli 2006, welcher unter
        Beteiligung von Migrantenvertretern stattfindet, einen
        nationalen Aktionsplan „Integration“ vorlegen. Durch
        die Festlegung gemeinsamer Ziele und eines Zeitplanes
        sollen sich nach der Vorstellung meiner Fraktion Bund,
        Länder, Kommunen und die gesellschaftlich relevanten
        Gruppen über einheitliche Maßnahmen und Zuständig-
        keiten bei dieser gesellschaftlichen Mammutaufgabe
        verständigen. Die Grundlage dafür kann nur lauten:
        Deutschland setzt die Rahmenbedingungen und die Ein-
        bürgerungswilligen bemühen sich um die Integration.
        Wir brauchen eine Zuwanderungs- und Integrations-
        politik, welche auch an den Interessen unserer Bevölke-
        rung ausgerichtet ist und vor allem der Situation unserer
        sozialen Sicherungssysteme Rechnung trägt. Zuwande-
        rung in einem sozial verträglichen Maße schützt letzten
        Endes auch die Migrantinnen und Migranten, die sich er-
        folgreich in unsere Gesellschaft integrieren oder sich be-
        reits integriert haben. Die CDU/CSU-Fraktion stellt sich
        der Herausforderung Integration und wird die entspre-
        chenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. Dies darf
        aber keine Einbahnstraße sein. Wenn wir keine Pariser
        Verhältnisse wollen, sind wir auf die Mithilfe und die
        Bereitschaft der hier lebenden Migrantinnen und Mi-
        granten, sich zu integrieren, angewiesen.
        Rüdiger Veit (SPD): Auch wenn in den zugrunde
        liegenden Feststellungen und in der Begründung des An-
        trags aus meiner Sicht einige durchaus richtige Elemente
        enthalten sind, kann ich für die SPD-Fraktion weder jetzt
        noch nach den zu erwartenden Beratungen im Innenaus-
        schuss die Zustimmung in Aussicht stellen.
        In der Tat ist es leider richtig, dass die Anzahl der
        Einbürgerungen – sicherlich aufgrund ganz unterschied-
        licher Ursachen – im Ergebnis in den letzten Jahren wie-
        der deutlich zurückgegangen ist auf einen Wert, wie wir
        ihn Anfang der 90er-Jahre, also vor In-Kraft-Treten der
        Staatsangehörigkeitsreform am 1. Januar 2000, verzeich-
        net haben. Völlig richtig hat der Bundestagspräsident
        Norbert Lammert ausweislich der „Frankfurter Allge-
        meinen Zeitung“ vom 28. Juni 2006 und damit ganz ak-
        tuell, am Tag zuvor bei der Verleihung des Nationalprei-
        ses 2006 an die Herbert-Hoover-Realschule in Berlin
        Folgendes festgestellt: ,,Deutschland hat nicht zu viel
        Einwanderung, sondern zu wenig Einbürgerung“. We-
        nige Länder seien so sehr auf Einwanderung angewiesen
        wie Deutschland, dessen vitales Interesse es sein müsse,
        dass die begabten türkischen Kinder von heute zur Elite
        von morgen heranwachsen könnten.
        In einer Zeit, in der wir das Ge- oder Misslingen von
        Integration bei uns intensiv diskutieren, setze ich aus
        meiner Sicht gerne hinzu: In aller Regel – die bekannt-
        lich natürlich auch Ausnahmen kennt – ist jede Einbür-
        gerung ein Erfolg der Integration in unsere Gesellschaft.
        Im Lichte dessen wird die SPD-Fraktion auch Koali-
        tionsverhandlungen zu den laufenden Gesetzgebungsver-
        fahren führen. Auch der Komplex des Staatsangehörig-
        keitsrechtes ist Teil der Beratungen zum Entwurf eines
        Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
        Richtlinien der Europäischen Union, auch wenn – wie
        die Antragssteller völlig richtig erkennen – eine etwaige
        Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechtes mit der Um-
        setzung dieser Richtlinien nichts zu tun hat. So scheint
        es mir aber sachgerecht, die gesamte Materie des Auf-
        enthaltsgesetzes, des Staatsangehörigkeitsgesetzes und
        aller damit zusammenhängenden Gesetze zusammen mit
        der in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen
        Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes vorzunehmen
        und – wie ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung nieder-
        gelegt – hierbei auch drei weitere aus der Sicht der SPD-
        Fraktion notwendige Sachverhalte zu regeln: Ich meine
        eine Altfall-Bleiberechtsregelung für sich bereits lange
        Jahre in Deutschland aufhaltende ausländische Mitbür-
        gerinnen und Mitbürger, eine deutliche Verbesserung
        beim Übergang von Duldung, – insbesondere Kettendul-
        dung – hin zu Aufenthaltserlaubnissen, und den Kom-
        plex der Überprüfung einiger Rechtsvorschriften, die die
        rein humanitär motivierte Hilfe für in Deutschland ille-
        gal sich aufhaltende Menschen betreffen.
        Wir werden dabei auch die Anregungen und Vor-
        schläge der letzten Konferenz der Innenminister der
        Länder und des Bundes am 4. und 5. Mai dieses Jahres
        zum Thema der Einbürgerung in unsere Beratungen ein-
        beziehen; denn schließlich sind wir der Gesetzgeber und
        als solcher auch zu diesem Thema gefordert. Dabei muss
        allen klar sein, dass wir im Ergebnis einen tragfähigen
        Kompromiss zwischen den beiden die große Koalition
        tragenden Parteien finden müssen, und dies möglichst
        mit Wirkung auf die Länderseite, damit das entspre-
        chende Gesetz noch im Jahr 2006 im Bundesgesetzblatt
        veröffentlicht werden kann, ohne dass auch noch ein
        langwieriges Vermittlungsverfahren mit dem Bundesrat
        benötigt wird.
        Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und
        Herren, auch auf der Seite der Antragsteller: Der Ge-
        samtkomplex ist ebenso umfangreich wie vor dem
        Hintergrund manchmal durchaus unterschiedlicher
        Grundsatzvorstellungen zwischen den beiden Koalitions-
        parteien auch schwierig, aber wir wollen ihn gemeinsam
        bewältigen. Von daher versteht sich von selbst, dass wir
        – wie das auch schon bei anderen, auf das gleiche Thema
        abzielenden Anträgen der Oppositionsfraktionen der Fall
        war – nicht isolierte Regelungen hier im Parlament
        beschließen werden. Die Antragsteller sollten ihre
        4168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Überlegungen dann zum geeigneten Zeitpunkt in die Be-
        ratungen auch des Innenausschusses mit einfließen las-
        sen. Bestehen sie dagegen auf einer sofortigen Behand-
        lung und Abstimmung, werden wir vor dem Hintergrund
        der soeben angesprochenen Verhandlungen der Koali-
        tion zum Gesamtkomplex den Antrag ablehnen müssen.
        Lassen Sie mich aber abschließend in der Sache noch
        folgende Klarstellungen zu den Beschlüssen der letzten
        Innenministerkonferenz anbringen, zumal die Be-
        schlüsse nach ihrem Zustandekommen unterschiedlich
        interpretiert werden:
        Was die Frage der Sprachkenntnisse der Einbürge-
        rungsbewerber angeht, so sollen sie sich am Sprachni-
        veau B l lediglich orientieren, müssen aber nicht etwa in
        vollem Umfange, auch bis hin zum schriftlichen Test,
        nachgewiesen werden. Erreicht jemand allerdings dieses
        Sprachniveau B l in vollem Umfang, kann er nach den
        Vorstellungen auch der Innenminister bereits nach sechs
        Jahren – bisher zum Beispiel sieben statt acht Jahren –
        eingebürgert werden. Klar ist, dass zum Beispiel Einbür-
        gerungsbewerber, deren Behinderung, deren Alter oder
        auch deren Bildungsniveau einen derartigen Spracher-
        werb unmöglich machen, nicht allein deswegen an ei-
        nem Sprachtest in ihrem Einbürgerungsbegehren schei-
        tern dürfen.
        Mit dem Vorschlag der Innenministerkonferenz, Inte-
        grationskurse durch das BAMF ausarbeiten zu lassen
        und für Einbürgerungsbewerber anzubieten – mit der
        Notwendigkeit der Bestätigung erfolgreicher Teilnehmer
        durch die Kursträger – sind meines Erachtens die im
        Vorfeld der Konferenz nicht nur öffentlich, sondern auch
        schon im Parlament erörterten Tests wie der so genannte
        baden-württembergische Muslimtest oder der Wissens-
        und Wertetest aus Hessen – jedenfalls gegenwärtig –
        vom Tisch und bedürfen deswegen auch keiner weiteren
        Behandlung.
        Was die Grenze von Tagessätzen bzw. Freiheitsstrafe
        angeht – sind und bleiben Ausnahmen bei Überschrei-
        tungen im Einzelfall möglich –, ist zu beachten, dass
        diese Hürde nach den Vorstellungen der Innenminister
        auch für die so genannte Ermessenseinbürgerung gelten
        soll, wo bisher selbst die Verhängung einer wirklichen
        Bagatellstrafe oder eines Bußgeldes die Anwendung der
        Ermessensvorschrift zugunsten des Betroffenen hindert.
        Seien Sie der Tatsache versichert, dass wir gerade die-
        sem Punkt in den Koalitionsverhandlungen besondere
        Aufmerksamkeit schenken werden und dass es hier und
        heute nicht mein Anliegen ist, den Beschluss der Innen-
        ministerkonferenz in jedem Punkt zu verteidigen. Klar-
        heit über seinen möglichen Inhalt und seine Intension
        sollte damit aber trotzdem geschaffen sein.
        Was schließlich die Anregung bzw. das Begehren des
        Antrages der Fraktion Die Linke angeht, das gesamte
        Optionsmodell im Staatsbürgerschaftsrecht zu kippen,
        bevor es erstmals richtig angewandt wird, sind die Un-
        terschiede – hier brauchen wir gar nicht lange herumzu-
        reden – zwischen den Koalitionsfraktionen so erheblich,
        dass ich mir heute nicht vorstellen kann, wie dieser im
        Jahre 1999 schwer zustande gekommene Kompromiss
        unter Einbeziehung auch der Wünsche der FDP-beteilig-
        ten Landesregierungen heute schon wieder aufgekündigt
        werden könnte. Darum sollten wir hierauf auch nicht un-
        nötig Kraft verwenden, sondern uns auf die Dinge kon-
        zentrieren, die aktuell bewegt werden können.
        Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die FDP unter-
        stützt die Forderung nach einem modernisierten Einbür-
        gerungsverfahren, aber nicht in der Art, die der Fraktion
        der Linken vorschwebt. Alle Menschen mit Lebensmit-
        telpunkt in Deutschland sollen nach Auffassung der Lin-
        ken alle sozialen und politischen Rechte in Anspruch
        nehmen können, einschließlich des Wahlrechts. Der
        Aufenthaltstitel ersetzt demnach das Einbürgerungsver-
        fahren. Selbstverständlich muss nach Auffassung der
        Linksfraktion keiner der so Eingebürgerten seinen Le-
        bensunterhalt selbst bestreiten; der Bezug von Sozial-
        leistungen soll die Einbürgerung nicht mehr behindern.
        Selbst Karl Marx wusste noch, dass ein Mehrwert, der
        verteilt werden soll, erst einmal verdient werden muss.
        Ich empfehle der Linkspartei diesbezüglich das Studium
        der Werke von Marx und Engels, die sicherlich mehr
        wirtschaftlichen Sachverstand besaßen als offenkundig
        die Vertreter der SED-Nachfolgepartei in diesem Hause.
        Ein darüber hinausgehender Blick in die Haushaltslage
        des Bundes, der Länder und Kommunen ist offensicht-
        lich ohnehin zu viel verlangt.
        Anspruch auf Sozialleistungen sollen nach Vorstel-
        lung der Linken alle Menschen erhalten, die einen Auf-
        enthalt in Deutschland erreichen können. Das soll aber
        nicht mehr so schwer sein, denn es muss nicht legal pas-
        sieren: der Linkspartei erscheint das Verweigern der
        deutschen Staatsangehörigkeit für Straftäter als unzu-
        mutbar. Nach dem Wunsch der Linken sollen auch Kri-
        minelle eingebürgert werden, die zu mehr als 180 Tages-
        sätzen verurteilt worden sind.
        Die Linke fordert die Einbürgerung jedes in Deutsch-
        land geborenen Menschen. Ich frage mich, ob damit
        jedes Kind von Eltern, die sich nur temporär in Deutsch-
        land aufhalten, automatisch eine von den Eltern viel-
        leicht gar nicht erwünschte Staatsangehörigkeit aufgenö-
        tigt werden soll. Die Linke scheint jedenfalls in der
        deutschen Staatsangehörigkeit kein wertvolles Gut zu
        sehen, wenn sie es möglichst ohne Hürden und Kosten
        zugänglich machen und sogar regelrecht aufnötigen will.
        Um den innergesellschaftlichen Zusammenhalt ma-
        chen sich die Linken keine Gedanken; deshalb reicht es
        ihnen, dass sich die Neubürger nur rudimentär mündlich
        verständigen können. Schon einigermaßen fließendes
        Deutsch oder gar schriftliches Sprachvermögen ist aus
        Sicht der Linken zu viel verlangt. Für eine sprachliche
        Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, etwa durch die
        Lektüre von Zeitungen, ist eine solche Sprachkompetenz
        aber Voraussetzung. Die Demokratie lebt von solcher
        Teilhabe und damit vom Beherrschen der Landesspra-
        che. Es passt, dass die Linken den Einzubürgernden auch
        keine Teilnahme an Staatbürgerschaftskursen vorschrei-
        ben wollen.
        Die Frage nach der Einstellung zu unserer Verfas-
        sungsordnung erscheint den Linken konsequent als un-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4169
        (A) (C)
        (B) (D)
        zumutbare Gesinnungsschnüffelei. Offenbar ist jeder
        Test und jede Frage für die Linken verknüpft mit einem
        Generalverdacht mangelnder Verfassungstreue. Warum
        fordern die Linken dann eigentlich nicht auch die Ab-
        schaffung aller auf die Vermittlung von Grundkenntnis-
        sen ausgerichteten Schul- und Universitätsprüfungen,
        weil dahinter der bösartige Generalverdacht stehe, jeder
        Prüfling sei dumm? Wir Liberalen haben uns gegenüber
        Fangfragen hinsichtlich der Gesinnung ausdrücklich ab-
        lehnend positioniert. Aber diese Logik der Linken kön-
        nen wir uns nicht zueigen machen.
        Die Linken legen in ihrer Antragsbegründung die
        Meinung dar, die gegenwärtige, dringend notwendige
        Integrationsdebatte in Deutschland sei „mit rassistischen
        Zügen“ behaftet, und unterstellen, der politisch grund-
        sätzlich legitimen Forderung nach Überprüfung des
        deutschen Ausländerrechts liege ein – Zitat Antragsbe-
        gründung – „völkisch“ fundiertes Staatsbürgerschafts-
        verständnis zugrunde. Das ist eine unglaubliche Wort-
        wahl. Der bei uns Liberalen nicht übermäßig beliebte
        CSU-Generalsekretär Söder wird mit dem Terminus
        „völkisch“ in den Verdacht von Rassismus gebracht.
        Diese Art der Verunglimpfung des politischen Gegners
        finde ich unerträglich.
        Die Linken zeigen mit ihrem Antrag deutlich, wes
        Geistes Kind sie sind. Seine Ziele sind klar: Sie wollen
        möglichst ungehemmte Einwanderung ohne Qualifizie-
        rung, sie wollen keinen gesellschaftlichen Diskurs, sie
        wollen möglichst massive gesellschaftliche Konflikte
        durch unbegrenzte Einbürgerung von Kriminellen.
        Die Linken wollen die komplette Aushöhlung des So-
        zialsystems durch uneingeschränkte Einbürgerung von
        Menschen, die nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt
        nicht selbst bestreiten können, sondern auch nicht in der
        Lage sind, einen Beitrag zum solidarischen Sozialsystem
        zu leisten. Sie wollen, dass möglichst viele Menschen
        von staatlichen Alimenten abhängig sind.
        Sie wollen die Einbürgerung von Menschen, die in
        keiner Weise in dieser Gesellschaft Chancen haben kön-
        nen, nicht nur, weil sie mental, sprachlich und wirt-
        schaftlich auf diese Gesellschaft nicht vorbereitet sind,
        sondern weil sie möglichst auch nicht vorbereitet werden
        sollen. Das ist geradezu unmenschlich.
        Diesen Menschen wollen die Linken keine Jobs und
        keine Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, wozu das
        Beherrschen der deutschen Sprache notwendig ist, ein-
        räumen. Dafür aber sollen sie das Wahlrecht erhalten:
        ein tolles Angebot!
        Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Linken tatsäch-
        lich so naiv sind, zu glauben, dass alle Probleme bei der
        Integration von Zuwanderern dadurch gelöst werden,
        dass man ihnen Wahlrecht und Staatsangehörigkeit ein-
        räumt und ansonsten so tut, als gäbe es keine Probleme.
        Ich bin sicher, dass ein Großteil der Menschen in die-
        sem Land etwas anderes will. Ich danke der Linken aus-
        drücklich, dass sie einen so offenherzigen Einblick in
        ihre Gesinnung gestattet hat, die im Hinblick auf ihre
        Verfassungstreue ganz offensichtlich problematisch ist.
        Sevim Dagdelan (DIE LINKE): In unserem Land le-
        ben heute über 15 Millionen Menschen, die einen Migra-
        tionshintergrund haben. Und ein Großteil von ihnen
        kann grundlegende Rechte nicht beanspruchen, weil sie
        keine Staatsbürger sind. Mit unserem Antrag wollen wir
        dieses Demokratiedefizit beseitigen. Wir wollen deutlich
        machen, dass der Schlüssel zur politischen Integration
        und Chancengleichheit in der rechtlichen Gleichstellung
        liegt. Diese Gleichberechtigung wiederum schaffen wir
        mit einem radikal vereinfachten und erleichterten Ein-
        bürgerungsverfahren. So gesehen ist die Einbürgerung
        nicht der krönende Abschluss des Integrationsprozesses,
        sondern gehört zu dessen Grundvoraussetzungen.
        Wir wissen, dass nicht alle diesen Leitgedanken fol-
        gen, sondern eher einer Abwehrhaltung. Stellvertretend
        dafür möchte ich Herrn Stoiber hinsichtlich der Kon-
        zepte von Einbürgerungstests zitieren:
        „Bayern will hier Druck machen, weil wir uns ge-
        nau anschauen und überprüfen sollten, wer dauer-
        haft zu uns kommt und Deutscher wird.“
        Mit anderen Worten soll wieder unterschieden werden
        zwischen denen, die uns nützen, und denen, die uns aus-
        nützen. Ein Arbeiter, der nach 30 Jahren am Fließband
        arbeitslos wurde, wird samt seiner Familie nicht einge-
        bürgert. Aber wir diskutieren heute wieder über Neure-
        gelungen für die Zuwanderung von Hochqualifizierten,
        weil der Arbeitgeberverband den Bedarf anmeldet. Aus
        Afrika stammende Topstürmer sollen für die deutsche
        Nationalmannschaft die Tore schießen. Aber afrikani-
        sche Straßenfußballer bekommen nicht einmal das Vi-
        sum für ein Fußballturnier. Dieses Nützlichkeitsprinzip
        ist unmoralisch, verwerflich und inakzeptabel.
        Sind Sie nicht auch der Ansicht, dass wir im Jahre
        2006, also im fünften Jahrzehnt der Migration in die
        Bundesrepublik, anders argumentieren sollten? Auch aus
        Ihren Reihen wird diese Frage nämlich bejaht. Der Inte-
        grationsminister in NRW, Herr Laschet, sagt zum Bei-
        spiel, dass wir mehr Einbürgerung brauchen, dass jede
        Einbürgerung ein Erfolg ist. Auch der Bundestagspräsi-
        dent, Herr Lammert, sagte noch vorgestern, dass wir zu
        wenige Einbürgerungen haben, und er hat dazu aufgeru-
        fen, verstärkt für Einbürgerungen zu werben.
        Doch Sie können so viel werben, wie Sie wollen. Mit
        der derzeitigen Einbürgerungsverhinderungspolitik wer-
        den Sie Einbürgerungen nicht fördern. Es kommt nicht
        von ungefähr, dass die Einbürgerungsquote in Schweden
        oder den Niederlanden fast fünfmal höher ist als in Bay-
        ern oder Baden-Württemberg. Seit der Reform des
        Staatsangehörigkeitsgesetzes zum 1. Januar 2000 haben
        wir einen deutlichen Rückgang bei Einbürgerungen.
        Wenn wir die Voraussetzungen dafür weiter verschärfen,
        wie das auch von der IMK vor wenigen Wochen be-
        schlossen wurde, wird sich nichts daran ändern. Im Ge-
        genteil. Die soziale Situation wie zum Beispiel die Ar-
        beitsmarktlage, fehlende Angebote zum Spracherwerb
        werden in der Debatte ausgeblendet. Als wären ver-
        pflichtende Sprachkurse das Allheilmittel, werden fast
        alle Probleme auf Sprachdefizite verkürzt. Wer ange-
        sichts der stigmatisierenden Debatte heute noch den Mut
        aufbringt, die Einbürgerung zu beantragen, müsste nicht
        4170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        nur den deutschen Pass erhalten, sondern auch das Bun-
        desverdienstkreuz. Und der Integrationsgipfel lässt in
        dieser Hinsicht auch nichts Positives erwarten.
        Mit unserem Antrag wollen wir dagegensteuern und
        den Menschen in unserem Land signalisieren, dass Mi-
        grantinnen und Migranten gleichberechtigter Teil dieser
        Gesellschaft sind. Unsägliche Schuldzuweisungen von
        angeblicher Integrationsunwilligkeit oder fehlender Inte-
        grationsbereitschaft sind da nur Störsignale. Mit Ihren
        Generalverdächtigungen haben Sie in letzter Zeit großen
        Schaden angerichtet. Wir müssen wieder dafür sorgen,
        dass das Vertrauen in ein Zusammenleben in Frieden,
        Freundschaft und Solidarität stärker wird. Informations-
        kampagnen für Einbürgerungen, wie sie in Berlin bereits
        laufen und von der Landesregierung in Nordrhein-West-
        falen angekündigt wurden, sind unseres Erachtens
        Schritte in die richtige Richtung und deshalb Teil unse-
        res Antrages. Das ist der Weg, den wir gehen müssen,
        um die von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
        der Regierungsfraktionen, immer wieder beklagten Defi-
        zite bei der Integration wettzumachen.
        Abschließend ein paar Worte an Sie: Liebe Kollegin-
        nen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
        nen, in Ihrem Fraktionsbeschluss vom 30. Mai, den ich
        in mancher Hinsicht kritisiere, fordern Sie im Rahmen
        des Integrations-Fahrplans die Weiterentwicklung der
        einbürgerungsrechtlichen Politik. Ich konnte mit Freude
        einige Übereinstimmungen in dieser Hinsicht feststellen.
        Sollten Sie unseren Antrag nicht unterstützen, könnte ich
        das jedenfalls nicht auf inhaltliche Bedenken zurückfüh-
        ren.
        Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Eine demokratisch verfasste Gesellschaft kann
        auf Dauer nur funktionieren, wenn nicht große Bevölke-
        rungsteile von einer vollen Partizipation ausgeschlossen
        werden. Eine volle politische Teilhabe der Eingewander-
        ten bzw. hier geborenen Inländer mit ausländischem
        Pass ist aber nur über den Erwerb der deutschen Staats-
        angehörigkeit möglich.
        Einige Zahlen – nach Angaben des jüngsten Migra-
        tionsberichtes –, um die tatsächliche Größe des Pro-
        blems zu verdeutlichen:
        Erstens. In Deutschland leben rund 6,7 Millionen
        Ausländer.
        Zweitens. Ungefähr die Hälfte aller Migrantinnen und
        Migranten lebt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland.
        30 Prozent von diesen leben sogar schon 20 Jahre oder
        länger hier, 40 Prozent von ihnen seit mehr als 15 Jah-
        ren. Bei Ausländern aus den klassischen Anwerbestaa-
        ten, zum Beispiel Türkei, sind die Aufenthaltszeiten
        durchschnittlich noch länger.
        Drittens. Jährlich werden circa 100 000 ausländische
        Kinder geboren, bei deren Geburt in der Mehrzahl fest-
        steht, dass sie hier aufwachsen, zur Schule gehen, heira-
        ten und arbeiten werden. Dennoch sind sie rechtlich
        Ausländer.
        Diese Zahlen lassen nur einen Schluss zu: Der Erwerb
        der Staatsangehörigkeit muss weiter erleichtert werden.
        Zwar konnten wir 1999 ein neues Staatsangehörigkeits-
        recht verabschieden, dessen gefundener Kompromiss
        durch ein Vermittlungsausschussverfahren allerdings
        hinter den Zielen der grünen Bundestagsfraktion zurück-
        blieb.
        Insbesondere für die erste Einwanderergeneration hat-
        ten wir uns ein großzügigeres Angebot erhofft. Zumin-
        dest für diese Generation hätten wir uns die regelmäßige
        Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft gewünscht.
        Es blieb aber beim Grundsatz der Vermeidung von
        Mehrstaatigkeit. Wir konnten zwar die Ausnahmen er-
        weitern, aber ein wirklicher Brückenschlag zur ersten
        Generation ist das noch nicht. Dies ist damals an der
        FDP gescheitert.
        Die Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
        nen hat im Mai 2006 ein umfassendes Integrationskon-
        zept verabschiedet. Mit dem neuen Grundsatzpapier ent-
        wickeln wir unsere Integrationspolitik weiter. In diesem
        Papier plädieren wir für einen gesellschaftlichen Integra-
        tionsvertrag: Die aufnehmende Gesellschaft und die Mi-
        grantinnen und Migranten müssen sich unserer Überzeu-
        gung nach gemeinsam der großen Herausforderung der
        Integration stellen.
        Ein gesellschaftlicher Integrationsvertrag macht auch
        eine Weiterentwicklung in der Einbürgerungspolitik un-
        seres Landes notwendig.
        Erstens. Im Rahmen des Integrationsvertrages müssen
        die Fristen für Einbürgerungen verkürzt werden.
        Zweitens. Das Angebot an staatsbürgerlichen Kursen,
        in denen man sich auf eine Einbürgerung vorbereiten
        kann, muss ausgebaut werden. Diese Kurse sollten frei-
        willig sein. Sie sollten sowohl in die rechtliche und poli-
        tische Ordnung unserer Gesellschaft einführen, aber
        auch Hilfestellungen im täglichen Leben anbieten und
        auf Beratungsstellen verweisen, wie zum Beispiel für
        Frauen. Gesinnungsprüfungen bei Einbürgerungsverfah-
        ren sind nicht nur untauglich, sondern auch verfassungs-
        rechtlich unzulässig.
        Drittens. Einbürgerungsverfahren sollen zu einem re-
        präsentativen, dem Anlass angemessenen freudigen Er-
        eignis werden. Ein feierliches Gelöbnis oder ein Eid auf
        die Verfassung – wie von Teilen der Union gefordert –
        tragen aber dazu nichts bei. Ein solcher Akt könnte auch
        kaum rechtliche Folgen haben: Wann wäre ein solcher
        Eid gebrochen? Welche Konsequenzen sollten drohen,
        wenn – auch grundgesetzlich – niemand aufgrund eines
        staatlichen Akts durch Entzug der Staatsangehörigkeit in
        die Staatenlosigkeit geworfen werden darf? Auch wird
        Deutschen nicht abverlangt, einmal in ihrem Leben ei-
        nen Treueeid auf die Verfassung abzulegen.
        Viertens. Die Hinnahme von Mehrstaatigkeit wollen
        wir zumindest für Angehörige der ersten Generation der
        zugewanderten Migrantinnen und Migranten generell er-
        möglichen.
        Fünftens. Im Hinblick auf in Deutschland geborene
        deutsche Kinder, die neben ihrer deutschen Staatsange-
        hörigkeit eine zweite besitzen, widerspricht es dem An-
        satz des Integrationsvertrages, wenn sie später dazu ge-
        zwungen werden, gegebenenfalls ihren deutschen Pass
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4171
        (A) (C)
        (B) (D)
        wieder abzugeben. Nach Ansicht von Bündnis 90/Die
        Grünen soll der Optionszwang für heranwachsende Mi-
        grantenkinder entfallen.
        Wir wollen, dass sich mehr Menschen für die Einbür-
        gerung entscheiden, weil sie sich mit dieser Gesellschaft
        und diesem Staat identifizieren. Wir wollen, dass der
        Tatsache Rechnung getragen wird, dass viele Migrantin-
        nen und Migranten hier seit Jahren leben und ihren Le-
        bensmittelpunkt haben.
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der
        Vermögensabschöpfung bei Straftaten (Tages-
        ordnungspunkt 18)
        Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
        CSU): Der Gesetzentwurf zur Stärkung der Rückgewin-
        nungshilfe und Vermögensabschöpfung bei Straftaten
        nimmt nicht für sich in Anspruch, ein großartiges Re-
        formwerk zu sein. Nein. Dieser Gesetzentwurf ist aber
        auch mehr als die Umsetzung einer Entscheidung des
        Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Januar 2004.
        Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
        zwar beim einfachen Verfall § 73 StGB, nicht aber beim
        so genannten erweiterten Verfall § 73 d StGB Schaden-
        sersatzansprüche von Tatopfern Vorrang vor der straf-
        rechtlichen Gewinnabschöpfung haben. Vorgabe des
        Bundesverfassungsgerichtes war, die strafprozessualen
        Vorschriften zur Rückgewinnungshilfe in §§ 111 b ff.
        StPO opferfreundlicher auszugestalten. Die Bundesre-
        gierung hätte sich somit mit einer geringfügigen Ergän-
        zung des § 73 d Abs. 1 StGB zufrieden geben können,
        um dem Prüfauftrag des Bundesverfassungsgerichtes ge-
        recht zu werden. Dabei darf man nicht verkennen, dass
        die Bundesregierung sich seit dem Jahr 1998 mit einer
        Änderung des Rechts der Vermögensabschöpfung und
        Rückgewinnungshilfe beschäftigt. Auch elegante Lösun-
        gen, die teilweise bei der Sachverständigenanhörung zur
        Änderung dieses Gesetzes angesprochen wurden, wur-
        den überlegt. Bis zu Ende gedacht wäre auch eine im
        materiellen Recht angesiedelte elegante Lösung in der
        gewünschten Kargheit kaum möglich gewesen.
        Dankenswerterweise hat das BMJ die für den Fach-
        mann schwer und für den Laien gar nicht verständlichen
        Vorschriften der StPO zur Rückgewinnungshilfe durch-
        forstet. So sind jetzt einige Verbesserungen für die Opfer
        von Straftaten vorgesehen. Zum Beispiel soll die Frist
        zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen für
        Opfer von drei Monaten auf drei Jahre verlängert werden
        (§ 111 i Abs. 3 StPO). Zusammen mit weiteren sinnvol-
        len Änderungen ist der § 111 i StPO allerdings zu einem
        juristischen Monstrum mit acht Absätzen mutiert. Und
        dennoch haben wir bei der Beratung des Gesetzentwur-
        fes weder die Geduld noch den Überblick verloren.
        In der Debatte wurden erwägenswerte Änderungs-
        wünsche vorgebracht. Kollege Dr. Danckert wollte die
        verlängerte Frist zur Geltendmachung von Schadener-
        satzansprüchen der Opfer an der Rechtskraft des Urteils
        festgemacht wissen. Das stieß bei Regierungsvertretern
        auf wenig Gegenliebe. Nicht anders war es bei meinem
        Ansinnen, für die Vermögenshaft die weitere Be-
        schwerde zuzulassen. Doch getreu dem Motto: „Wir sind
        der Gesetzgeber“ (Art. 77 Abs. 1 GG), haben Kollege
        Dr. Danckert und ich eine Phalanx gebildet und wir hat-
        ten Erfolg. Ihnen liegt ein überarbeiteter Entwurf vor:
        Fristbeginn ab Rechtskraft des Urteils! Weitere Be-
        schwerde gegen einen existenzbedrohenden Arrest in
        das Vermögen eines Beschuldigten!
        Insgesamt führt dieser Gesetzentwurf zu einer Stär-
        kung von Opferinteressen und einer Berücksichtigung
        von Belangen eines Beschuldigten, der nach Art. 6
        Abs. 2 MRK als unschuldig zu gelten hat. Ein gutes Er-
        gebnis.
        Gern wären wir auch der Anregung der FDP nachge-
        kommen, beschlagnahmte Gelder, die Opfer nicht abrufen,
        statt im Wege des nachgelagerten Verfalls – Auffang-
        rechtserwerb – dem Staat zuzuweisen, opferschützenden
        Organisationen zur Verfügung zu stellen. Das stieß aber
        auf gesetzestechnische und fiskalische Bedenken. Hier
        haben wir uns – vorerst – auf einen Appell an die Länder
        beschränkt, einen angemessenen Teil der den Ländern
        aus dem Auffangrechtserwerb zufließenden Gelder Op-
        fer schützenden Organisationen zur Verfügung zu stel-
        len.
        Offen geblieben ist die ersatzlose Streichung der
        §§ 111 o und p StPO. Diese Vorschriften werden nicht
        mehr benötigt, seit das Bundesverfassungsgericht mit
        Urteil vom 20. März 2002 die Vermögensstrafe nach
        § 43 a StGB für verfassungswidrig erklärt hat. Das soll-
        ten wir gelegentlich nachholen.
        Sie sehen also, alle Mitglieder des Rechtsausschusses
        haben sich redlich Mühe gegeben. Wir bitten diese Mühe
        mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf zu ho-
        norieren.
        Dr. Peter Danckert (SPD): Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf verfolgt der Gesetzgeber zwei Ziele: Zum
        einen sollen finanziell geschädigte Opfer von Straftaten
        bei der Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche im Ver-
        gleich zur bestehenden Rechtslage besser gestellt wer-
        den. Zum anderen soll das durch eine Straftat erlangte
        Vermögen dem Staat zufallen, wenn der durch eine
        Straftat Geschädigte seine Ansprüche nicht innerhalb ei-
        ner Dreijahresfrist verfolgt. Damit wollen wir das Signal
        geben: Straftaten lohnen sich nicht!
        Bereits die bisher einschlägigen Vorschriften des
        Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung sahen
        die Möglichkeit der Geltendmachung von Ansprüchen
        auf aus Straftaten erlangtes Vermögen durch die Geschä-
        digten vor. Es hat sich aber herausgestellt, dass noch ei-
        nige Regelungsdefizite bei der Umsetzung der Vorschrif-
        ten über die Rückgewinnungshilfe beim Verfall von
        Wertersatz bestehen. So kann nach geltendem Recht
        letztlich nicht ausgeschlossen werden, dass der durch
        eine Straftat erlangte Vermögensvorteil wieder an den
        Täter zurückfällt und Opfer bzw. der Staat leer ausgehen.
        4172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir
        dahin kommen, dass sich Straftaten nicht lohnen. Wir
        wollen die bestehenden Regelungslücken beseitigen und
        die strafrechtliche Vermögensabschöpfung verbessern –
        ohne das bisherige gesetzliche Regelungskonzept im
        Grundsatz zu verändern und bei möglichst geringem
        Aufwand für die Praxis. Dies erfordert punktuelle Ände-
        rungen bzw. Ergänzungen des geltenden Prozessrechts,
        die wir jetzt vorgenommen haben. Dies betrifft insbeson-
        dere § 73 Abs. l Satz 2 Strafgesetzbuch. Zur Diskussion
        stand hierbei eine materiell-rechtliche Lösung eines Auf-
        fangrechtserwerbs des Staates. Wir haben uns letztend-
        lich aber auf einen prozessualen Auffangrechtserwerb
        nach § 111 i StPO-E verständigt, die in unseren Augen
        die geeignetere Variante ist. Allenfalls kritisch anzumer-
        ken ist, dass die vorgeschlagenen Regelungen in § 111 i
        StPO-E ein wenig lang und umständlich geraten sind.
        Aber die komplexe Materie lässt leider keine andere Re-
        gelung zu.
        Als wir den Gesetzentwurf in erster Lesung am
        10. März 2006 hier an dieser Stelle im Plenum beraten
        haben, habe ich mich bereits im Großen und Ganzen zu-
        frieden mit dem Entwurf gezeigt. Ich habe allerdings auf
        einen Punkt aufmerksam gemacht, den ich für verbesse-
        rungswürdig erachte, nämlich, dass der Beginn der Drei-
        jahresfrist an die Rechtskraft des Strafurteils anknüpft
        und nicht wie bisher an den Zeitpunkt der Verurteilung
        des Täters. Diese Notwendigkeit wurde auch von zahl-
        reichen Praktikern erkannt und gefordert. Ich freue mich
        daher, dass es uns im Laufe der Ausschussberatungen
        und in zahlreichen Gesprächen gelungen ist, in diesem
        Punkt eine Verbesserung herbeizuführen.
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, die
        Frist zur Geltendmachung von Ansprüchen auf be-
        schlagnahmtes Vermögen auf drei Jahre auszudehnen.
        Das gibt den Geschädigten ausreichend Zeit, ihre An-
        sprüche geltend zu machen und Zwangsvollstreckungs-
        maßnahmen in das sichergestellte Vermögen zu betrei-
        ben.
        Allerdings habe ich mich von Anfang an dafür ausge-
        sprochen, dass die Rechtskraft der Zeitpunkt sein
        müsste, an dem für den Beginn der Frist angesetzt wird.
        Für den Geschädigten entstünde daraus kein Nachteil.
        Im Gegenteil: Es entsteht sogar ein Vorteil. Das Problem
        ist doch, dass es sehr häufig passiert, dass Urteile erster
        Instanz in Revision gehen, aufgehoben werden und wie-
        derverhandelt werden.
        Die Änderung trägt dem Aspekt Rechnung, dass erst
        mit der Rechtskraft des letzten tatrichterlichen Urteils
        das Erlangte verbindlich bezeichnet ist. Für den Geschä-
        digten ergibt sich daraus ein hohes Maß an Rechtssicher-
        heit.
        Ich bin sicher, dass wir mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf jetzt das erreicht haben, was wir erreichen woll-
        ten, nämlich eine Verbesserung der Rechtslage der Ge-
        schädigten. Wir haben ferner sichergestellt, dass die
        Täter im Nachhinein nicht von ihren Straftaten profitie-
        ren.
        Auf einen Aspekt möchte ich an dieser Stelle aller-
        dings noch gerne hinweisen: auf das nach geltendem
        Recht bestehende Instrumentarium der vorläufigen Si-
        cherung von Vermögenswerten. In der Praxis führt dies
        häufig zu unbilligen und unangemessenen Folgen. Das
        Bundesverfassungsgericht hat sich in zahlreichen Ent-
        scheidungen mit der Frage der vorläufigen Sicherungs-
        maßnahmen befasst, zuletzt am 29. Mai 2006. Denn im-
        mer wieder kommt es bei solchen Sicherstellungen zu
        Kontensperrungen oder Auszahlungsverboten, die die
        wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Betroffenen stark
        einschränken und den Ruf des betroffenen Unterneh-
        mens schädigen. Bei Arbeitnehmern drohen sogar ar-
        beitsrechtliche Konsequenzen. Der Schaden, der daraus
        entsteht, ist kaum wiedergutzumachen, sollte sich später
        der Verdacht als unbegründet erweisen.
        In der Entscheidung vom 29. Mai 2006 folgert das
        Bundesverfassungsgericht daher, dass es einer besonders
        sorgfaltigen Prüfung und einer eingehenden Darlegung
        der dabei maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen
        Erwägungen in der Anordnung bedarf, wenn im Wege
        vorläufiger Sicherungsmaßnahmen das gesamte oder na-
        hezu das gesamte Vermögen dem Betroffenen entzogen
        wird.
        Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung muss ver-
        schärft darauf geachtet werden, dass die Amts- und
        Landgerichte dieser Rechtsprechung Folge leisten. Im
        Falle einer Nichtbefolgung ist dann der Gesetzgeber auf-
        gefordert, hier nachzubessern.
        Jörg van Essen (FDP): Die FDP hat immer betont,
        dass sie die Grundrichtung des Gesetzentwurfs begrüßt.
        Der Auffangrechtserwerb des Staates ist richtig. Es ist
        ein unerträglicher Zustand, wenn das aus Straftaten er-
        langte Vermögen an den Täter zurückfällt, weil sich kein
        Geschädigter gefunden hat, der entsprechende Ansprü-
        che angemeldet hat. Es ist selbstverständlich, dass der
        Rechtsstaat hier einen anderen Weg finden muss. Die
        FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher die Regelung,
        dass das eingezogene Vermögen an den Staat zurück-
        fällt, wenn die Opfer ihre Ansprüche nicht binnen drei
        Jahren nach der Verurteilung des Täters geltend machen.
        Zu begrüßen ist auch, dass das Bundesjustizministe-
        rium kurzfristig noch einige Änderungen vorgelegt hat,
        die zur weiteren Verbesserung des Gesetzentwurfs füh-
        ren. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeit, dass mit
        einer weiteren Beschwerde der Rechtsschutz für die An-
        ordnung des dinglichen Arrests erweitert wird. Auch die
        Klarstellung, dass der Beginn der Dreijahresfrist, inner-
        halb derer das Gericht die Beschlagnahme oder den Ar-
        rest aufrechterhält, an die Rechtskraft des Strafurteils an-
        knüpft, ist sachgerecht und entspricht einer Forderung
        der Anwaltschaft.
        Es gibt jedoch auch eine Reihe von kritikwürdigen
        Punkten, die im Ergebnis dazu führen, dass die FDP-
        Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf nicht zustimmen
        kann. Seit vielen Jahren gibt es Bestrebungen, das Sys-
        tem der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung zu re-
        formieren mit dem Ziel, es einheitlicher, übersichtlicher
        und damit für die Rechtspraxis handhabbarer zu machen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4173
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dies wird mit dem Gesetzentwurf leider nicht erreicht.
        Auf die Ansätze, die der Gesetzgeber in der 13. Wahl-
        periode begonnen hat, wurde nicht zurückgegriffen. Be-
        reits damals lag dem Bundestag ein Gesetz zur Beratung
        vor, mit dem eine Vereinfachung der Verfalls- und Ein-
        ziehungsregelungen angestrebt wurde. Es bleibt daher
        dabei, dass das gesetzliche System der Vermögensab-
        schöpfung, insbesondere das Verhältnis von Verfall und
        Einziehung, auch weiterhin kompliziert bleibt. Das be-
        daure ich außerordentlich.
        Der Gesetzentwurf verzichtet zudem darauf, einige
        Begrifflichkeiten im Gesetz klarzustellen. Eine gesetzli-
        che Harmonisierung und eine in sich stimmige Gesamt-
        lösung wäre insbesondere im Hinblick auf den interna-
        tionalen Rechtsverkehr dringend geboten. Das Gesetz
        hätte ein großer Wurf werden können. Das Ergebnis
        bleibt jedoch weit hinter diesen Erwartungen zurück.
        Problematisch ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfrak-
        tion auch die Erweiterung der Frist für die Aufrechter-
        haltung der vorläufigen Sicherungsmaßnahmen. Ich er-
        kenne an, dass damit den Opfern von Straftaten die
        Durchsetzung ihrer Ansprüche erleichtert wird. Unbe-
        antwortet bleibt aber die Frage, wie mit den Rechten von
        Dritten verantwortlich umgegangen werden soll. Die
        Ausdehnung der Frist um weitere sechs Monate hat zur
        Folge, dass allein aufgrund eines einfachen Verdachts-
        grades Eingriffe in Rechte Beschuldigter und unbeteilig-
        ter Dritter für insgesamt zwölf Monate ermöglicht wer-
        den. Ein dringender Tatverdacht ist nicht erforderlich.
        Im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bestehen hier
        große Bedenken. Diese Regelungen sind, auch vor dem
        Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
        gerichts, nach wie vor problematisch. Das Bundesverfas-
        sungsgericht hat bereits in früheren Entscheidungen da-
        rauf hingewiesen, dass es sich bei den verfallssichernden
        Maßnahmen und dem damit verbundenen drohenden
        Wertverlust vorläufig sichergestellter Vermögenswerte
        um schwerwiegende Eingriffe in das Eigentumsrecht
        handelt.
        Die FDP hat im Gesetzgebungsverfahren vorgeschla-
        gen, eine neue Regelung in das Gesetz einzuführen, wo-
        nach die Gerichte im Rahmen des nachgelagerten Ver-
        falls einen von ihnen zu bestimmenden Teil der vom
        Staat erworbenen Vermögenswerte einer anerkannten
        gemeinnützigen Einrichtung der Opferhilfe zuweisen
        können. Diese Maßnahme wäre ein echter Gewinn für
        den Opferschutz. Sie würde auch im Wesentlichen dem
        Zweck der Wiedergutmachung dienen. Damit würde zu-
        dem eine verlässliche finanzielle Grundlage für den Op-
        ferschutz geschaffen.
        Die Offenheit, mit der die Koalitionsfraktionen den
        Änderungsantrag der FDP aufgenommen haben, hat
        mich zunächst gefreut. Es ist daher enttäuschend, dass
        unser Vorschlag letztlich keine Mehrheit gefunden hat.
        Die von der Koalition vorgetragenen Gründe sind mehr
        als vorgeschoben. In der letzten Wahlperiode hat die
        Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Reform des
        strafrechtlichen Sanktionensystems vorgelegt. Der Ent-
        wurf sah die Verpflichtung der Gerichte vor, einen Teil-
        betrag der gezahlten Geldstrafe Organisationen der Op-
        ferhilfe zuzuweisen. Diese Anregung haben wir mit
        unserem Änderungsantrag aufgegriffen. Im Gegensatz
        zu der Regelung aus der 15. Wahlperiode haben wir uns
        dafür ausgesprochen, die Entscheidung über die Zuwei-
        sung in das Ermessen der Gerichte zu stellen. Es ist be-
        dauerlich, dass die guten Vorsätze der Bundesregierung
        aus dem Jahr 2004 heute bereits vergessen sind. Damit
        wird leider deutlich, dass es immer wieder einer großen
        Kraftanstrengung bedarf, die Rechte von Opfern gesetz-
        lich zu verankern.
        Insgesamt bleiben für die FDP viele offene Fragen
        unbeantwortet und große Zweifel, ob das Gesetz wirk-
        lich praxistauglich sein wird. Die große Chance, eine
        Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung aus
        einem Guss anzugehen, wurde leider vertagt.
        Sevim Dagdelen (DIE LINKE): Wie bereits bei der
        esten Lesung deutlich gemacht: Wir stimmen der Ziel-
        richtung des Gesetzes zu. Wer Opfer eines Vermögens-
        oder Eigentumsdeliktes wurde, dem soll dabei geholfen
        werden, sein Geld oder sein Hab und Gut wiederzuerlan-
        gen. Insoweit ist der Entwurf ein Schritt in die richtige
        Richtung.
        Im Gegensatz zur allgemeinen Straßenkriminalität,
        auf die der Staat allzu oft mit dem scharfen Schwert der
        Vergeltung reagiert, obwohl gerade den Tätern dieser Ta-
        ten auf die Stirn geschrieben steht, warum sie sich gegen
        die Gesellschaft wendeten, von der sie sich ausgegrenzt
        und verlassen fühlen, lohnen sich die Verbrechen der
        Schlipsträger in diesem Land. Daran wird dieser Ent-
        wurf nichts ändern. Dennoch ist er insoweit zu begrüßen,
        als er die Selbstverständlichkeit fördert, dass die Beute
        nicht auch noch bei den Tätern verbleibt.
        Wir sind froh über die erfolgten Nachbesserungen,
        vor allem über die Gewährung eines weiteren Rechtsmit-
        tels zugunsten desjenigen, gegenüber dem vorläufige Si-
        cherungsmaßnahmen ergehen. Dies halten wir aus
        rechtsstaatlichen Gründen für unerlässlich, wie Sie auch
        unserem im Rechtsausschuss eingebrachten Änderungs-
        antrag hätten entnehmen können – wenn Sie ihn denn
        gelesen hätten. Diesbezügliche Zweifel hege ich nicht
        deshalb, weil unser Antrag ebenfalls die nun erfolgenden
        Änderungen enthielt und dennoch von Ihnen einstimmig
        abgelehnt wurde, sondern auch weil er über die Vor-
        schläge des BMJ hinaus lediglich Anregungen der Sach-
        verständigen aufnahm, die im Rechtsausschuss auch von
        Vertretern der großen Koalition als durchaus beachtlich
        angesehen wurden. Deshalb sehe ich mich gezwungen,
        hier zumindest auf einen Punkt des Vorschlags der Bun-
        desregierung einzugehen, bei dem wir in Übereinstim-
        mung mit den angehörten Fachleuten dringenden Nach-
        besserungsbedarf sehen.
        Die Bundestagsfraktion Die Linke hält es für unver-
        einbar mit unserer Verfassung, wenn nicht nur die wirt-
        schaftliche Existenz von Unternehmen, sondern auch
        diejenige von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
        und abhängigen Kleinbetrieben dadurch gefährdet wird,
        dass aufgrund eines bloßen Anfangsverdachts – der sich
        gerade in komplexen Bereichen der Vermögenskrimina-
        lität leicht als unbegründet erweist –, das gesamte Ver-
        4174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        mögen des Betroffenen ein Jahr lang sichergestellt wer-
        den kann. Daher schlagen wir vor, zumindest nach sechs
        Monaten die Aufrechterhaltung des Arrests oder der Be-
        schlagnahme von Voraussetzungen abhängig zu machen,
        die denjenigen der Anordnung der Untersuchungshaft
        entsprechen.
        Die Bundesregierung muss sich aber darüber hinaus
        auch fragen lassen, ob sie es mit den von ihr angeführten
        Zielen tatsächlich ernst meint. Wäre es denn nicht wirk-
        licher Opferschutz, dem Verletzten einen direkten An-
        spruch gegen den Staat zuzubilligen, wenn der Fiskus im
        Falle des § 111 i Abs. 3 StPO nach drei Jahren von dem
        Verfall profitiert?
        Wäre nicht eine große Reform – ich erinnere an den
        Entwurf aus dem Jahre 1998 –, die die Unterscheidung
        Einziehung/Verfall auflöst, auch im Hinblick auf die not-
        wendige europäische Harmonisierung der Vermögensab-
        schöpfung eine tatsächliche Erleichterung der Justizar-
        beit?
        Und verlangt der Kampf gegen die Wirtschaftskrimi-
        nalität in Wirklichkeit nicht etwas ganz anderes als Än-
        derungen im normativen Bereich?
        Der Bundesgerichtshof hat diese letzte Frage explizit
        beantwortet und in einer fast schon Verzweiflung aus-
        drückenden Form erklärt:
        Dem in § 56 Abs. 3 StGB zum Ausdruck gekom-
        menen Anliegen des Gesetzgebers, das Vertrauen
        der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des
        Rechts vor einer Erschütterung durch unangemes-
        sen milde Sanktionen zu bewahren, kann im Be-
        reich des überwiegend tatsächlich und rechtlich
        schwierigen Wirtschafts- und Steuerstrafrechts
        nach Eindruck des Senats nur durch eine spürbare
        Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung
        getragen werden. Nur auf diese Weise – nicht durch
        bloße Gesetzesverschärfungen – wird es möglich
        sein, dem drohenden Ungleichgewicht zwischen
        der Strafpraxis bei der allgemeinen Kriminalität
        und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstraf-
        verfahren entgegenzutreten und dem berechtigten
        besonderen öffentlichen Interesse an einer effekti-
        ven Strafverfolgung schwerwiegender Wirtschafts-
        kriminalität gerecht zu werden.
        Es wird also deutlich: Die Bundesregierung hat gekle-
        ckert und nicht geklotzt – sie ist allerdings in dem letzten
        Punkt auch auf die Mithilfe der Länder angewiesen.
        Um dem Flehen unserer obersten Strafrichter, die zu-
        sammen mit dem Rest der dritten Gewalt mit einem Jus-
        tizhaushalt in Höhe von 0,13 Prozent der Gesamtausga-
        ben des Bundeshaushaltes und circa 3 Prozent der
        Länderhaushalte abgespeist werden, wenigstens ein biss-
        chen Gehör zu verschaffen, möchte ich zum Abschluss
        folgenden Vorschlag unterbreiten: Der gute – von Ihnen
        im Rechtsausschuss ebenfalls abgelehnte – Gedanke des
        Kollegen van Essen, Opferschutzorganisationen an den
        Gewinnen des Verfalls partizipieren zu lassen, sollte an-
        genommen und dahin gehend ergänzt werden, dass
        Schwerpunktstaatsanwaltschaften „Wirtschaftsstrafrecht“
        und „Wirtschaftsstrafkammern“ durch die Gewinne aus
        der Vermögensabschöpfung mit dem nötigen Personal
        und Know-how ausgestattet werden.
        Nur so kann verhindert werden, dass sich die Neure-
        gelung, wegen des aus ihr erwachsenden Mehraufwan-
        des für die Justiz letztlich kontraproduktiv auswirkt. Zu-
        dem wäre ein ungleich größerer Gewinn für die
        Bekämpfung der volkswirtschaftlich verheerenden Wirt-
        schaftskriminalität und damit auch für die Strafgerech-
        tigkeit in diesem Lande erzielt als durch den jetzigen
        Entwurf.
        Diesbezüglich appelliere ich an die Länder: Stattet die
        Justiz im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts angemessen
        aus; denn der Verzicht auf Gerechtigkeit ist weder recht
        noch billig.
        Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be-
        reits aus den Beiträgen meiner Vorredner wurde deut-
        lich, dass wir uns in einem vollkommen einig sind: Ein
        überführter Täter soll nicht die Früchte seiner Tat behal-
        ten dürfen.
        Der heute zu debattierende Gesetzentwurf zielt des-
        halb darauf ab, die Abschöpfung krimineller Gewinne zu
        erleichtern und Lücken im Gesetz zu schließen. Der Ent-
        wurf hat aber ein strukturelles Problem: Er betrifft die
        Sicherstellung von Vermögen im laufenden Ermittlungs-
        verfahren. Das bedeutet, dass das Vermögen eines
        Beschuldigten beschlagnahmt wird, für den in vollem
        Umfang die Unschuldsvermutung gilt. Wie uns die
        Sachverständigen im Berichterstattergespräch bestätigt
        haben, kann der dingliche Arrest für den Betroffenen er-
        hebliche Folgen haben und bisweilen mit der Zerstörung
        seiner wirtschaftlichen Existenz einhergehen. In diesem
        Zusammenhang müssen wir uns deshalb fragen lassen:
        Was sind die Hürden für den Einsatz repressiver Maß-
        nahmen, wenn sie sich gegen einen noch nicht verurteil-
        ten Täter, also möglicherweise Unschuldigen richten?
        Deshalb ist die beschlossene Verlängerung des Zeit-
        raums von drei auf sechs Monate, in dem das Vermögen
        über die ersten sechs Monate hinaus sichergestellt wer-
        den darf, bei einfachem Anfangsverdacht auch bedenk-
        lich.
        Aus zwei Gründen können wir diesen Vorschlag aber
        im Ergebnis mittragen:
        Erstens gibt es Ermittlungsverfahren, die so langwie-
        rig sind, dass die Verlängerung um drei Monate hin-
        nehmbar ist. Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht
        in einer Entscheidung vom Mai diesen Jahres den Abwä-
        gungsmaßstab im Fall der vorläufigen Sicherstellung des
        gesamten oder nahezu gesamten Vermögens präzisiert:
        Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fordert nicht ledig-
        lich eine Vermutung, dass es sich um strafrechtlich er-
        langtes Vermögen handelt; vielmehr bedürfe dies einer
        besonders sorgfältigen Prüfung und einer eingehenden
        Darlegung der dabei maßgeblichen tatsächlichen und
        rechtlichen Erwägungen in der Anordnung, damit der
        Betroffene Rechtsschutz suchen kann.
        Der Gesetzentwurf hat für den Beschuldigten auch
        Verbesserungen erfahren; denn dieser hat jetzt die Mög-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4175
        (A) (C)
        (B) (D)
        lichkeit der weiteren Beschwerde gemäß § 310 StPO bei
        der Anordnung des dinglichen Arrestes. Es ist richtig
        und notwendig, dem Beschuldigten schon im Ermitt-
        lungsverfahren ein effektives Rechtsmittel an die Hand
        zu geben. Insoweit wird er mit einem Untersuchungs-
        häftling gleichgestellt, dem ebenfalls die weitere Be-
        schwerde zusteht. Wer noch als unschuldig gilt, der soll
        sich gegen weitreichende Eingriffe in sein Vermögen an-
        gemessen gerichtlich wehren können.
        Die Verbesserungen des Entwurfs für das Opfer be-
        stehen darin, dass der Zeitpunkt für den Beginn der Drei-
        jahresfrist präzisiert worden ist. Nun ist klar: Der Ver-
        letzte einer Straftat kann seine Ansprüche innerhalb von
        drei Jahren ab Beginn der Rechtskraft des Urteils geltend
        machen. Diese Präzisierung sorgt für mehr Rechtssicher-
        heit.
        Wir haben im Rechtsausschuss auch dem Änderungs-
        antrag der FDP zugestimmt, der vorsieht, eindeutig von
        Verletzten stammendes Vermögen Opferorganisationen
        zukommen zu lassen; also Fälle, in denen das Opfer der
        Straftat entweder unbekannt ist oder Ansprüche zur
        Rückerlangung des Vermögens nicht geltend gemacht
        hat. Dieser Vorschlag ist gut und vernünftig.
        Die Argumentation der Koalitionsfraktionen hat mich
        – gelinde gesagt – überrascht. In der ersten Plenardebatte
        zu diesem Gesetzentwurf wurde noch lauthals für die
        Stärkung des Opferschutzes geworben. Der Abgeordnete
        van Essen hatte ausdrücklich den „Weißen Ring“ als Op-
        fereinrichtung hierfür genannt. Kollege Kauder reagierte
        euphorisch, der Vorschlag habe bei ihm „leuchtende Au-
        gen“ entzündet.
        Offenbar nur ein Strohfeuer, das leider schon erlo-
        schen ist: Allen Ernstes haben CDU/CSU und SPD statt
        dessen an die Länder appelliert, einen angemessenen
        Teil der ihnen künftig zufallenden Vermögenswerte ge-
        meinnützigen Einrichtungen der Opferhilfe zukommen
        zu lassen. Man wolle nicht in deren Finanzhoheit ein-
        greifen. Ich bitte Sie – angesichts der klammen Kassen
        der Länder ist dieser Appell eine Farce und das wissen
        Sie genau. Wenn die Damen und Herren von der so ge-
        nannten großen Koalition die Arbeit von Opferorganisa-
        tionen tatsächlich fördern wollen, täten sie gut daran,
        dem FDP-Antrag zuzustimmen.
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Justiz: Das Gesetz zur Stärkung der
        Rückgewinnungshilfe und Vermögensabschöpfung bei
        Straftaten schließt eine Gesetzeslücke.
        Heute kann ein Straftäter trotz Verurteilung von sei-
        nen Straftaten profitieren. Diese unbefriedigende Situa-
        tion beruht auf einer Regelung im Strafgesetzbuch. Das
        geltende Recht erlaubt es den Gerichten nicht ohne wei-
        teres, Gewinne aus Straftaten für verfallen zu erklären,
        also dem Täter „wegzunehmen“ und das Eigentum
        hieran auf den Staat zu übertragen. Bislang können näm-
        lich nur dann Vermögenswerte aus Straftaten für verfal-
        len erklärt werden, wenn nicht zugleich die Geschädig-
        ten Ansprüche haben.
        Ein gutes Beispiel sind die Betrugsdelikte:
        Das mit Betrügereien erschwindelte Vermögen unter-
        liegt regelmäßig nicht dem Verfall: Denn hier haben die
        Geschädigten, also die Betrogenen, Ersatzansprüche ge-
        gen den Betrüger.
        Das ist grundsätzlich auch gut so, weil der Staat sich
        nicht auf Kosten der Opfer bereichern darf. Wenn die
        Geschädigten aber Ihre Ansprüche nicht geltend machen
        – etwa weil der Schaden ganz gering ist oder weil sie gar
        nicht wissen, dass der Täter gefasst worden ist –, dann
        gehen die sichergestellten Gewinne eben nicht an den
        Staat, sondern sie sind an den Täter zurückzugeben. Wie
        wir aus der Praxis wissen, ist das leider alles andere als
        ein Ausnahmefall.
        Die entsprechende Regelung im Strafgesetzbuch
        – konkret geht es um § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB – wird
        deswegen auch häufig als „Totengräber des Verfalls“ be-
        zeichnet. Der vorliegende Entwurf wird all diese Pro-
        bleme so weit wie möglich lösen. Er stellt sicher, dass
        der Täter solche Vermögenswerte in keinem Fall mehr
        zurückerhält.
        Künftig sollen die sichergestellten Vermögenswerte
        an den Staat fallen, wenn die Opfer ihre Ansprüche nicht
        geltend machen.
        Um den Geschädigten genügend Zeit zu geben, ihre
        Rückgabeansprüche auch durchzusetzen, verlängert der
        Entwurf außerdem die hierfür maßgebliche Frist. Derzeit
        haben die Opfer drei Monate Zeit, ihre Ansprüche gel-
        tend zu machen – gerechnet ab der Verurteilung des An-
        geklagten. Künftig soll diese Frist drei Jahre betragen –
        gerechnet ab der Rechtskraft der Verurteilung. Auf den
        Fristbeginn erst mit Rechtskraft und nicht schon mit Ver-
        urteilung haben wir uns in den Berichterstattergesprä-
        chen geeinigt. Damit haben die Opfer noch einmal mehr
        Zeit, ihre Ansprüche geltend zu machen, und sie können
        im Streitfall auf das bereits rechtskräftige Strafurteil ver-
        weisen. Auch bei längerer Verfahrensdauer vor den Zi-
        vilgerichten ermöglichen wir damit den Opfern, einen
        – notfalls vorläufigen – Titel gegen den Verurteilten zu
        erwirken.
        Verstreicht diese dreijährige Frist, ohne dass die Ge-
        schädigten ihre Ansprüche hinreichend geltend gemacht
        haben, dann fallen die gesicherten Vermögenswerte
        künftig an den Staat und müssen nicht wieder an den
        Verurteilten herausgegeben werden. Damit dient der Ge-
        setzentwurf sowohl den Interessen der Opfer als auch
        der Gerechtigkeit und damit dem Rechtsbewusstsein ins-
        gesamt.
        Der Gesetzentwurf ist das Ergebnis langer Beratun-
        gen, die wir auf Initiative der Länder mit den Fachleuten
        aus den Ländern, Verbänden und Ressorts geführt haben.
        Wir haben gemeinsam um eine ausgewogene Lösung ge-
        rungen und ich denke, wir können zufrieden sein. An
        dieser Stelle möchte ich allen für die konstruktive Zu-
        sammenarbeit danken.
        Ich hoffe, dass wir damit der Praxis das nötige Instru-
        mentarium an die Hand geben, um die volkswirtschaft-
        lich schädliche, gewinnorientierte Kriminalität wirksam
        zu bekämpfen und die Interessen der Opfer zu wahren.
        Dabei hoffe ich, dass die von dem engagierten Opferan-
        4176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        walt Kauder initiierte weitere Beschwerde – ein No-
        vum – nicht dazu führt, dass der Täter den Vorteil aus
        diesem Stück „zusätzliche Rechtsstaatlichkeit“ zieht, das
        Opfer aber leer ausgeht. Es ist nun an der Praxis, dieses
        Instrumeritarium zu nutzen und dem Gesetzentwurf zu
        dem gewünschten Erfolg zu verhelfen.
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Demokratiebewe-
        gung in Belarus unterstützen (Zusatztagesord-
        nungspunkt 6)
        Manfred Grund (CDU/CSU): Mit dem heute in ers-
        ter Lesung zu beratenden Antrag von Bündnis 90/Die
        Grünen und der FDP befasst sich der Deutsche Bundes-
        tag innerhalb kürzester Zeit zum dritten Mal mit der Ent-
        wicklung in Belarus. So war Belarus vor den Parla-
        mentswahlen vom 19. März 2006 und nochmals danach
        Gegenstand einer Bundestagsdebatte. Mir ist kein ande-
        res Land erinnerlich, welches in so kurzem Abstand de-
        battiert wird. Derart neugierig geworden, hofft man, im
        Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der Freien De-
        mokraten neue und richtige Argumente für eine erneute
        Bundestagsdebatte zu finden. Doch bei aller fraktions-
        übergreifender Sympathie und freundlicher Zuneigung
        zu den Antragstellern: Die Argumente mögen neu und
        richtig sein, doch die richtigen Argumente sind nicht
        wirklich neu und die neuen Argumente nicht wirklich
        richtig.
        Richtig ist, dass die Parlamentswahlen am 19. März
        weder frei noch fair verlaufen sind und dass das Regime
        Lukaschenko unverkennbar diktatorische Züge aufweist
        und die demokratischen Rechte nicht akzeptiert. Neu ist
        diese Erkenntnis nicht. Neu ist die Forderung nach ei-
        nem Demokratiefonds, um die belarussische Zivilgesell-
        schaft zu stärken und die Einrichtung eines EU-Sonder-
        beauftragten für Belarus. Das sind neue Forderungen,
        die aber nur bedingt richtig und klug sind. Die Einrich-
        tung eines EU-Sonderbeauftragten und eines Demokra-
        tiefonds werfen mehr Fragen als Antworten auf. So gibt
        es bereits über Europa verteilt so viele Sonderbeauf-
        tragte, die nirgendwo richtig eingebunden sind, dass de-
        ren Aktivitäten bereits von einem eigenen EU-Sonderbe-
        auftragten koordiniert werden müssten. Und was wäre
        denn der Auftrag eines EU-Sonderbeauftragten? Mit
        wem soll er Kontakt haben, mit wem reden? Nur mit der
        Opposition, das würde Alexander Lukaschenko schnell
        zu verhindern wissen. Oder soll ein EU-Sonderbeauf-
        tragter auch mit dem Präsidenten, mit der Regierung, mit
        dem Parlament reden? Dies widerspräche den angelaufe-
        nen Isolationsbemühungen der westlichen Staaten ge-
        genüber der nicht legitimierten Belarusführung. Die Ein-
        richtung eines Demokratiefonds würde Lukaschenko
        Argumente liefern, dass die belarussische Opposition
        vom Westen ausgehalten wird. Niemand könnte an einer
        solchen Verleumdung gelegen sein.
        Sorge muss uns zweierlei machen: der Zustand der
        Opposition in Belarus und der wirtschaftliche Druck aus
        Russland. Die belarussische Opposition befindet sich
        seit den Wahlen in einer Phase der Neudefinierung; Ale-
        xander Milinkewitsch selbst spricht von einer Krise. So
        gibt es Forderungen nach einer Verbreiterung der Basis
        der Vereinigten Demokratischen Kräfte unter Einbezie-
        hung der Sozialdemokraten unter Alexander Kozulin.
        Die Führerschaft Milinkewitsch wird infrage gestellt und
        über einen Boykott der anstehenden Kommunalwahlen
        wird kontrovers debattiert.
        Russland hat für 2007 die Vervierfachung des Gas-
        preises von jetzt 47 Dollar auf 200 Dollar je 1 000 Ku-
        bikmeter und die Streichung der Subventionen für den
        Erdölexport angekündigt. Da der belarussische Landes-
        haushalt zu ungefähr einem Drittel auf russische Unter-
        stützung angewiesen ist, wäre die Kürzung der offenen
        und verdeckten russischen Subventionen das Ende von
        Lukaschenkos Staatssozialismus. Das müsste man nicht
        besonders bedauern, wenn nicht zweierlei damit verbun-
        den wäre: eine Massenverelendung der belarussischen
        Bevölkerung mit anschließendem Modernisierungs-
        schock und/oder die Einverleibung von Belarus in die
        Russische Föderation. Daran hat wohl nicht mal mehr
        Lukaschenko Interesse.
        Wie dem auch sei, auch wenn der vorliegende Antrag
        nicht so neu und ausschließlich richtig in seiner Argu-
        mentation und den Forderungen ist, gibt es gleichwohl
        gute Gelegenheit über die von mir aufgezeigten Ent-
        wicklungen im Auswärtigen Ausschuss zu debattieren.
        Darauf freue ich mich.
        Uta Zapf (SPD): Dieses Haus hat bisher alle Belarus-
        resolutionen mit großer Einstimmigkeit beschlossen.
        Unsere letzte Resolution haben wir kurz vor den Präsi-
        dentschaftswahlen in Belarus im März verabschiedet.
        Dieser hier von den Grünen vorgelegte Antrag hat sei-
        nen Ausgangspunkt in den Erlebnissen, die einige Parla-
        mentarier dieses Hauses als Wahlbeobachter der Präsi-
        dentschaftswahlen hatten. Erstens waren wir Zeugen,
        dass diese Wahlen in einem ungeheuren Ausmaß und
        ohne Scham manipuliert und gefälscht waren. Dies wer-
        den insbesondere diejenigen bezeugen können, die wie
        ich mehrfach an Wahlbeobachtungen in Belarus teilge-
        nommen haben. Die Repression gegen die Opposition
        war schikanös. Der Zugang zu den offiziellen Medien
        auf ein absolut unzureichendes Minimum beschränkt
        und die unabhängige Presse wurde extrem behindert.
        Die Wahlkämpfe der oppositionellen Kandidaten wur-
        den unzulässig behindert, immer wieder wurden Wahl-
        kampfteams kurzfristig eingesperrt, ihre Materialien
        konfisziert.
        Wähler und Wählerinnen gerieten unter Druck, ihre
        Stimme abzugeben. Drohungen mit beruflichen Konse-
        quenzen waren gängige Praxis. Kollektive wurden zu
        den Vorwahlen getrieben, die Urnen mit diesen Stimmen
        sind nicht kontrollierbar, sie stehen ohne Kontrolle tage-
        lang in den Wahllokalen. Hier ist das größte Einfallstor
        für Fälschungen. Die Endauszählung war auch von den
        internationalen Wahlbeobachtern nicht zu kontrollieren.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4177
        (A) (C)
        (B) (D)
        Aber wir erhalten auch eine politisch gereifte Opposi-
        tion und fröhlich-furchtlose Sympathisanten. Auf den
        friedlichen Demonstrationen am Abend nach der Wahl,
        die stattfanden trotz massiver Drohungen gegen diese
        unerlaubten Versammlungen auf dem Moskauplatz,
        zeigten Bürger und Bürgerinnen, die keine Angst mehr
        hatten, ihr Bedürfnis nach Demokratie und Freiheit offen
        zu artikulieren. Bei eisigen Temperaturen und Schnee-
        sturm trotzten sie den Sicherheitskräften.
        Ich denke, wir alle teilen die Analyse, die dieser An-
        trag enthält.
        Über Jahre hat es eine eskalierende Repression gegen
        NGOs und die zivile Gesellschaft, gegen freie Gewerk-
        schaften und gegen Gegner Lukaschenkos gegeben. Dies
        hat sich nach den Wahlen fortgesetzt. Es ist vieles über
        Dialog und über Sanktionen gesagt worden. Bei allem
        Ärger und bei aller Wut, die uns angesichts dessen, was
        dort passiert ist, erfüllen, müssen wir dennoch den Dia-
        log weiterführen.
        Die Parlamentarische Versammlung der OSZE hat
        eine Arbeitsgruppe zu Belarus eingerichtet. Ich bin die
        Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe. Deshalb bin ich häu-
        fig in Belarus und rede mit den Menschen, und zwar mit
        allen, auch mit Parlamentariern und Vertretern der Ad-
        ministration. Ich halte dies für eine wichtige Ebene des
        Dialoges. Ein wichtiger Bestandteil unserer Politik ist es,
        die Zivilgesellschaft zu schützen und zu unterstützen.
        Diese Zivilgesellschaft ist keine subversive Revolution,
        wie Herr Lukaschenko befürchtet und in ziemlich gro-
        ben Worten an die Wand malt. Diese Menschen klagen
        vielmehr ihre Rechte ein, zu denen sich Belarus gegen-
        über der OSZE verpflichtet hat, und wir unterstützen sie
        darin.
        Wir sind uns auch, glaube ich, weitgehend einig, dass
        wir die Demokratiebewegung in Belarus unterstützen
        wollen, ihre Rechte auf Vereinigungsfreiheit und politi-
        sche Arbeit wahrnehmen zu können. Dass es bisher zu
        keinem interfraktionellen Antrag gekommen ist, ist vor
        allem den Bedenken der CDU/CSU geschuldet, dass wir
        keine inflationäre Menge an Belarusanträgen im Bun-
        destag einbringen sollten. Wir werden in den Ausschüs-
        sen Gelegenheit haben, die Forderungen und Vorschläge
        dieses Antrages zu beraten und möglicherweise zu ge-
        meinsamen Beschlussempfehlungen zu kommen. Ei-
        nige der vorgeschlagenen Maßnahmen sind ohnehin
        schon eingeleitet oder umgesetzt, zum Beispiel Stipen-
        dien für exmatrikulierte Studenten, die an den Demon-
        strationen teilgenommen haben oder den Wahlkampf der
        oppositionellen Kandidaten unterstützt haben. Auch die
        Frage der Informationsmedien Radio/TV ist auf den
        Weg gebracht, aber natürlich muss über eine Erweite-
        rung dieser Informationsmedien nachgedacht werden.
        Auch sind zusätzliche Maßnahmen, die hier nicht aufge-
        griffen worden sind, zu diskutieren. Der Demokra-
        tiefonds, über den schon lange geredet wird sollte noch-
        mals intensiv betrachtet werden, um ihn handhabbar und
        flexibel genug zu gestalten.
        Gewisse Zweifel habe ich an der Frage eines nationa-
        len Belarusbeauftragten. Es gibt auf Ebene der UN, der
        Parlamentarischen Versammlung des Europarates und
        im Europäischen Parlament beauftragte Berichterstatter
        und Ausschüsse, die OSZE hat eine „Working Group on
        Belarus“, deren Vorsitzende ich bin. Möglicherweise
        wäre es nützlich einen solchen Beauftragten bei der Eu-
        ropäischen Kommission zu benennen. Die Handlungs-
        und Wirkungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene sind
        recht beschränkt. Die deutsch-belarussische Parlamen-
        tariergruppe war sich einig, dass Handlungsbedarf be-
        steht. Lassen Sie uns den Antrag sorgfältig in den Aus-
        schüssen beraten.
        Harald Leibrecht (FDP): Wir dürfen nicht nachlas-
        sen in unserer Unterstützung für die Demokratiebewe-
        gung in Weißrussland. Ich war auf den Demonstrationen
        anlässlich des 20. Jahrestages der Katastrophe von
        Tschernobyl in Minsk. Ich habe erlebt, wie Oppositio-
        nelle vor und nach der Demonstration verhaftet wurden,
        so auch Alexander Milinkewitsch. Diktator Lukaschenko
        und seine Staatsmacht zeigen unerbittliche Härte gegen-
        über den demokratischen Kräften. Letztendlich zeigen
        sie jedoch, in welch erbärmlichem Zustand sich ihr Re-
        gime befindet. Die Staatsmacht hat offensichtlich Angst
        vor dem eigenen Volk und setzt darum weiter auf Unter-
        drückung und Repression.
        Die Menschen wurden mit dem Wahlbetrug bei der
        Präsidentschaftswahl im März einmal mehr um ihre de-
        mokratischen Grundrechte betrogen. Die Kandidaten der
        Opposition hatten zu keinem Zeitpunkt die Chance auf
        einen fairen Wahlkampf – nicht zuletzt wegen der staat-
        lich kontrollierten Medien. Freie, unabhängige Zeitun-
        gen gibt es in Weißrussland nicht mehr. Aber nicht nur
        die wenigen couragierten, unabhängigen Journalisten
        werden bedroht oder verhaftet, sondern auch viele Stu-
        denten, die es wagen, sich öffentlich gegen das Regime
        auszusprechen. Der Fall von Artur Finkewitsch ist da
        nur einer von vielen. Dieser mutige junge Mann wurde
        zu 17 000 Dollar Strafe und einer mehrjährigen Umer-
        ziehungshaft verurteilt, nur weil er es wagte, auf eine
        Hauswand die Worte „Wir möchten einen anderen“ zu
        sprühen.
        Ich bin nichtsdestotrotz aus tiefstem Herzen davon
        überzeugt, dass das Streben der Menschen in Weißruss-
        land nach politischer und persönlicher Freiheit vom Sys-
        tem Lukaschenko nicht mehr lange aufgehalten und un-
        terdrückt werden kann. Bei ihrem Kampf gegen das
        Regime Lukaschenko bedürfen die couragierten Men-
        schen in Weißrussland jedoch dringend unserer Unter-
        stützung. Weißrussland ist direkter Nachbar der EU. Wir
        dürfen die Augen vor Menschenrechtsverletzungen und
        Unterdrückung in Weißrussland nicht verschließen.
        Mit diesem Antrag senden wir ein klares Signal der
        Solidarität und Unterstützung an die „Vereinigte Opposi-
        tion“ in Weißrussland. Gleichzeitig appelliere ich an die
        „Vereinigte Opposition“, wie bereits während des Präsi-
        dentschaftswahlkampfes, ihrem Namen gerecht zu wer-
        den und sich trotz zum Teil unterschiedlicher politischer
        Auffassungen nicht von der Staatsmacht provozieren,
        einschüchtern und auseinander dividieren zu lassen.
        Auch die Bundesregierung kann hierzu ihren Beitrag
        leisten, indem sie den weißrussischen Oppositionellen
        4178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        die öffentliche Bühne bietet, die sie brauchen. Es ist
        wichtig, dass sie bei allen Besuchen hier in Deutschland
        auf ihre wichtigen Anliegen aufmerksam machen kön-
        nen. Aber auch unsere politischen Stiftungen können ei-
        nen wichtigen Beitrag zur Unterstützung leisten, indem
        sie in dieser Sache eng zusammenarbeiten. Gerade weil
        die Arbeit der politischen Stiftungen in Weißrussland
        unter sehr erschwerten Umständen erfolgt, gilt es, die
        Kräfte zu bündeln.
        Zudem fordere ich die Bundeskanzlerin auf, auf dem
        anstehenden G-8-Gipfel auch das Thema Weißrussland
        anzusprechen und sich auf eine gemeinsame Vorgehens-
        weise, zum Beispiel in Fragen der Visumverweigerung,
        zu verständigen. Die bereits ausgesprochenen Einreise-
        verbote für führende weißrussische Politiker sollten auch
        auf andere Führungskader und zum Beispiel auf Univer-
        sitätsrektoren, die demonstrierende Studenten exmatri-
        kulieren, ausgedehnt werden.
        Ich danke allen, die sich hier in Deutschland für die
        Demokratiebewegung in Weißrussland engagieren. Dazu
        gehören auch die Jungen Liberalen in Baden-Württem-
        berg, die vor kurzer Zeit ein Benefizfußballturnier veran-
        staltet haben – einerseits um auf die Lage der couragier-
        ten Studenten, wie zum Beispiel Artur Finkewitsch
        aufmerksam zu machen und andererseits um ganz kon-
        kret Spenden für die Arbeit einer belarussischen Jugend-
        organisation zu sammeln, welche trotz aller Hindernisse
        weiter unermüdlich für die Demokratiebewegung in ih-
        rem Land kämpft.
        Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ich will zu Be-
        ginn einige Selbstverständlichkeiten festhalten, damit
        wir uns über diese nicht zu streiten brauchen.
        Das Demonstrationsrecht muss verteidigt werden. Die
        Verhaftung friedlicher Demonstranten kritisieren wir, in
        Belarus und anderswo. Die Entfernung kritischer Stu-
        denten von Universitäten und Schulen lehnen wir ab.
        Wer wegen seiner demokratischen Gesinnung verfolgt
        wird, braucht unsere Solidarität. Eine Auflösung und das
        Verbot demokratischer Organisationen – in Belarus ist
        zum Beispiel die Kommunistische Partei verboten –
        schadet der Demokratie. Medienfreiheit muss verteidigt
        werden, gegen Lukaschenko ebenso wie gegen
        Berlusconi. Darüber braucht man sich mit uns nicht zu
        streiten.
        Streiten allerdings muss man sich über den Weg und
        die Inhalte von Alternativen, wie man es in Belarus er-
        reichen will. Die Grünen und die FDP schlagen eine Ver-
        schärfung von Sanktionen vor. Das ist der Kern des hier
        vorliegenden Antrages. Meine Erfahrungen sprechen da-
        gegen: Nicht Sanktionen, sondern Dialoge wären ein
        Weg. Dialoge müssen alle Fragen umfassen. Ist der Weg
        der neoliberalen Umgestaltung, der Freiheit des Marktes
        wirklich ein Weg der Demokratisierung oder nicht viel-
        mehr ein Weg der Gesellschaftszerstörung? In zahlrei-
        chen europäischen Ländern zeigen sich die Spuren die-
        ser Zerstörung bereits heute.
        Darf man so einfach die enge Verbindung Beloruss-
        lands mit Russland „übersehen“, sowohl was die histori-
        schen Wurzeln angeht als auch die Gegenwart. Wenn
        man will, dass Russland im Sinne von Demokratisierung
        auf Belarus Einfluss nimmt, muss man die Interessen
        Russlands in Rechnung stellen – in Rechnung stellen,
        nicht mehr! Kein Argument und keine Überlegungen
        dazu im Antrag von Grünen und FDP!
        Die „Orangen“ in der Ukraine und die „Rosen“ in Ge-
        orgien haben für Russland aus seiner Sicht nur Dornen
        gebracht. Russland hat widerstrebend hinnehmen müs-
        sen, dass die NATO mit den baltischen Ländern direkt an
        seine Grenzen herangerückt ist. Eine NATO-Mitglied-
        schaft der Ukraine und Georgiens könnte jetzt „die rote
        Linie“ überschreiten. Das hat die russische Duma mit ih-
        rem Beschluss, der auch dem Bundestag zugeleitet
        wurde, deutlich gemacht. Es ist kaum anzunehmen, dass
        Russland das Risiko eingeht, diesen Weg mit Belarus
        unwidersprochen fortschreiten zu lassen.
        Die Interessen anderer in Rechnung zu stellen, heißt
        nicht, dass man diese teilen muss. Aber mitdenken muss
        man sie. All das geschieht nicht in dem uns vorgelegten
        Antrag. Dieser Antrag ist nichts anderes als die Erset-
        zung von Politik durch plakative Bekenntnisse. Und da-
        mit zu wenig, um dafür die Zustimmung der Linken zu
        erhalten.
        Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS/90 DIE
        GRÜNEN): Anfang März, als die Präsidentschaftswah-
        len in Belarus bevorstanden, haben wir hier gemeinsam
        eine Aufforderung an den Minsker Diktator zur Gewähr-
        leistung freier und fairer Wahlen beschlossen. Schon da-
        mals wussten wir, dass die mit vielfachen staatlichen Be-
        hinderungen und Repressionen einhergehende Art der
        Wahlvorbereitung diese Forderung bereits unerfüllbar
        gemacht hatte. Aber wir wollten zeigen, dass wir von
        hier aus nach Belarus sehen. Wir wollten zeigen, dass
        dem Land und seinen Menschen unsere Aufmerksamkeit
        gilt.
        Ende März, als die Wahlfarce vorbei, die demokrati-
        sche Opposition chancenlos geblieben war und der Dik-
        tator trotzdem seinen Sieg noch zusätzlich in einen Tri-
        umph umgefälscht hatte, gingen Tausende in Minsk auf
        die Straße. Einige von uns waren dabei, um ihre und un-
        ser aller Solidarität mit den Demonstrierenden zu zeigen.
        Es folgten Verhaftungen, Verurteilungen und Verfolgun-
        gen. Damals beschlossen wir hier gemeinsam einen wei-
        teren Antrag, in dem wir den mutigen Menschen in Bela-
        rus unseren Respekt erwiesen, die Freilassung der
        Verhafteten forderten und Sanktionen gegen die ihre
        Macht missbrauchenden Funktionäre in Belarus verlang-
        ten. Wir wollten zeigen, dass wir uns für die Demokrati-
        sierung des Landes einsetzen, für seine Zugehörigkeit
        zur europäischen Wertegemeinschaft.
        Damals waren wir uns auch einig, dass Belarus ein
        langer Weg bevorsteht. Wir stimmten überein, dass wir
        uns auf eine langfristige Unterstützung einstellen müs-
        sen und auch einstellen wollen. Inzwischen ist, wie so
        oft in solchen Fällen, die Entwicklung in Belarus nahezu
        völlig aus der medialen Berichterstattung und damit aus
        der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Belarus
        ist aber nicht verschwunden. Die Situation dort hat sich
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4179
        (A) (C)
        (B) (D)
        nicht verbessert, eher im Gegenteil. Nach wie vor sitzen
        zum Beispiel eine Reihe prominenter und vermutlich
        viele weniger prominente Oppositionelle in Haft. In ei-
        ner Woche soll der Prozess gegen einen der bekanntesten
        von ihnen, Alexander Kosulin, beginnen. Ein rechts-
        staatliches Verfahren nach unseren Maßstäben hat er
        wohl kaum zu erwarten.
        Unsere Aufgabe bleibt dieselbe, auch wenn es über
        das Thema keine Schlagzeilen mehr gibt. Einiges ist
        schon geschehen: Die EU hat ihre Sanktionen gegen
        Funktionsträger des Regimes erweitert und verschärft.
        Ähnliches wurde gerade in den USA beschlossen. Polen
        und andere Länder, darunter Deutschland, haben Stipen-
        dien für in Belarus wegen ihres demokratischen Engage-
        ments relegierte Studierende bereitgestellt. Das sind
        erste gute Anfänge, vieles aber bleibt zu tun.
        Wichtiger noch als Sanktionen ist die Unterstützung
        der demokratischen Opposition und der bedrängten Zi-
        vilgesellschaft in Belarus. Unsere, des Deutschen Bun-
        destages Aufgabe muss es sein, Vorschläge dafür aufzu-
        nehmen oder selbst in die Debatte zu bringen, vor allem
        aber, die politische Entscheidung zur Ermöglichung ih-
        rer Umsetzung herbeizuführen. Das ist das Ziel unseres
        Antrags, dem – das kann jetzt schon gesagt werden –
        weitere werden folgen müssen.
        Denn nicht nur die Repressionen in Belarus gehen
        weiter, auch die Diskussion in Europa über den Umgang
        mit dem Regime entwickelt sich. Sogar Russland verän-
        dert seine Haltung gegenüber Lukaschenkos Politik – si-
        cher weniger zur Unterstützung der Demokratisierung
        als zur Steigerung seines ökonomischen Einflusses.
        Aber die Ankündigung drastischer Energiepreiserhöhun-
        gen in den nächsten drei Jahren ist dennoch ein schwerer
        Schlag für Lukaschenko.
        Über einige weitere Forderungen und Vorhaben muss
        wohl nicht diskutiert werden. Natürlich müssen wir die
        Forderung nach Freilassung der gewaltlosen politischen
        Gefangenen aufrechterhalten. Ebenso müssen wir die
        Einstellung von Ermittlungen des belarussischen Gene-
        ralstaatsanwalts wegen Terrorakten im Zusammenhang
        mit den Präsidentschaftswahlen fordern – es genügt we-
        nig Phantasie, sowohl die Abwegigkeit dieses Vorwurfs
        wie seine Bedrohlichkeit für die Betroffenen festzustel-
        len.
        Es gibt weitere Vorschlage, über die zu reden wäre.
        Ich nenne stichwortartig nur einige Beispiele: die Ein-
        richtung der Institution eines Belarus-Beauftragten der
        EU; die Koordination und Zusammenführung von Sti-
        pendien-Initiativen aus mehreren Ländern; Unterstüt-
        zung für geschlossene oder behinderte unabhängige Me-
        dien, für demokratische Parteien und Bewegungen und
        für mit Berufsverbot belegte Oppositionelle; finanzielle
        Unterstützung demokratiefördernder Stiftungen auf EU-
        Ebene, die in und für Belarus aktiv werden können.
        Entscheidend bleibt aus unserer Sicht die Entwick-
        lung einer breiten und aktiven Zivilgesellschaft. Die da-
        für vorhandenen Förderprogramme müssen aufrechter-
        halten und gestärkt werden, und ein dieser Entwicklung
        dienender kritischer Dialog verdient ebenfalls jede Un-
        terstützung.
        Solidaritätsbekundungen wie im März sind gut, dau-
        erhafte Aufmerksamkeit, kontinuierliche Unterstützung
        aber sind notwendig. Ich bin guter Hoffnung, dass Sie,
        liebe Kolleginnen und Kollegen, sich dieser Erkenntnis
        nicht verschließen werden.
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – UN-Überprüfungskonferenz als Chance zur
        wirksamen Kontrolle des Handels mit Klein-
        waffen und leichten Waffen nutzen
        – Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten
        Nationen zum Erfolg führen
        – Waffen unter Kontrolle – Für eine umfas-
        sende Begrenzung und Kontrolle des Han-
        dels mit Kleinwaffen und Munition
        – Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten
        Nationen intensiver unterstützen
        (Tagesordnungspunkt 20 a und b und Zusatz-
        tagesordnungspunkte 7 und 8)
        Holger Haibach (CDU/CSU): „Neuer Anlauf für die
        Menschenrechte“, „Chancen für die Menschenrechte“,
        „Zweifel am Menschenrechtsrat“, „Tendenz zur Selbst-
        zensur“, „Gedämpfte Erwartungen“, „Chance im Neube-
        ginn“: So weit auseinander gehen die ersten Bewertun-
        gen des neuen UN-Menschenrechtsrates, dessen erste
        Sitzungsperiode in dieser Woche zu Ende geht. Wie auch
        immer man die Aktionen des neuen Gremiums bewertet:
        Deutschland hat durch seine Mitgliedschaft die Möglich-
        keit und Verpflichtung, dabei mitzuhelfen, die Arbeit des
        Rates zum Erfolg zu führen. Deshalb ist es richtig und
        wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag mit der Ar-
        beit des Menschenrechtsrats beschäftigt. Es bietet sich
        auch eine gute Gelegenheit, noch einmal darauf hinzu-
        weisen, dass Deutschland mit der größten Stimmenzahl
        aller Länder der westlichen Ländergruppe in den neuen
        Rat gewählt worden ist. Das ist sicherlich ein Zeichen
        der Anerkennung deutscher Menschenrechtspolitik so-
        wie der konstruktiven Rolle, die Deutschland bei dem
        Zustandekommen der Resolution über den Menschen-
        rechtsrat übernommen hat. In diesem Zusammenhang
        gilt unser Dank der Bundesregierung, deren Anteil am
        letztendlichen Kompromiss sehr hoch war.
        Aus diesem Ergebnis und aus der Tatsache, dass
        Deutschland aufgrund eines Losentscheids dem Rat zu-
        mindest für die nächsten drei Jahre angehören wird, er-
        wächst aber ebenso sehr die Verpflichtung, alles dafür zu
        tun, dass die Arbeit des Rats erfolgreich verläuft und
        dass der Rat sich zu einem effektiven und glaubwürdi-
        gen Gremium beim weltweiten Menschenrechtsschutz
        entwickelt.
        4180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bisher hat sich der Rat im Wesentlichen mit Verfah-
        rensfragen beschäftigt, unter anderem mit der Frage,
        welche der bisherigen Mechanismen der alten Men-
        schenrechtskommission beibehalten werden sollen, oder
        damit, wie die regelmäßige Überwachung der Men-
        schenrechtssituation in den UN-Mitgliedstaaten und ins-
        besondere den Mitgliedsländern des Rats überprüft wer-
        den soll.
        Diese prozeduralen Fragen sollten nicht unterschätzt
        werden, entscheiden sie doch nicht zuletzt darüber, wo-
        mit sich der Menschenrechtsrat beschäftigen soll und auf
        welche Art. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist ein
        großer Unterschied, ob zur Beurteilung der Menschen-
        rechtslage in einem Land nur Regierungsdokumente he-
        rangezogen werden dürfen oder ob auch Dokumente von
        Nichtregierungsorganisationen Berücksichtigung finden.
        Im Übrigen zeigen sich bei der Entstehung des Rats
        Licht und Schatten: Es ist ein wirklicher Fortschritt, dass
        es zum ersten Mal tatsächlich zu einer wirklichen Wahl
        in der UN-Vollversammlung gekommen ist, dass es ei-
        nige Staaten, die zu Recht als menschenrechtliche Pro-
        blemfälle gelten, nicht in den Rat geschafft haben, weil
        sie entweder gar nicht erst angetreten sind oder nicht die
        notwendige Mehrheit erhalten haben. Es ist auch zu be-
        grüßen, dass die Bewerberländer eine eigene Einschät-
        zung ihrer Menschenrechtspolitik veröffentlicht haben.
        Ferner gibt es nun erstmals die Möglichkeit, auch Län-
        der mit einer Zweidrittelmehrheit wieder aus dem Rat zu
        entfernen.
        Zu beklagen bleibt allerdings, dass leider nicht alle
        Kompetenzen, die der Rat ursprünglich erhalten sollte,
        auch tatsächlich Eingang in die Resolution zur Einset-
        zung des Gremiums gefunden haben, ebenso die Tatsa-
        che, dass es auch Ländern mit erheblichen Menschen-
        rechtsdefiziten gelungen ist, in den Rat gewählt zu
        werden.
        Die tatsächliche Bewährungsprobe des Rates wird
        aber die alltägliche Arbeit sein. Hier wird sich zeigen, ob
        der Rat glaubwürdig ist, ob er nicht die alten Fehler der
        bisherigen Kommission wiederholt, ob nicht doch
        wieder gegenseitige Blockaden und Opportunitätsüber-
        legungen die wirkliche Aufgabenstellung des Rats kon-
        terkarieren. Günter Nooke, der neue Menschenrechtsbe-
        auftragte der Bundesregierung, hat dazu treffend
        formuliert, dass der Rat sich nicht von Anfang an selbst
        zensieren dürfe.
        Positiv ist in diesem Zusammenhang zu bewerten,
        dass die USA sich zwischenzeitlich bereit erklärt haben,
        die Arbeit des Rates nachhaltig zu unterstützen, obwohl
        sie derzeit dem Gremium nicht angehören.
        So wohnt diesem Neuanfang vielleicht kein Zauber,
        aber doch eine Chance auf einen tatsächlichen Neube-
        ginn inne. Wir als Koalition von CDU/CSU und SPD
        werden jedenfalls die Bundesregierung bei ihrer Arbeit
        in dem neuen Rat nach Kräften unterstützen und sind der
        Meinung, dass der von uns heute vorgelegte Antrag
        hierzu die richtige Grundlage bietet.
        Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag
        spricht einige wichtige Aspekte an, ist aber weniger um-
        fassend als der Koalitionsantrag und wird deshalb von
        uns abgelehnt.
        Insgesamt liegt bei dem neuen Menschenrechtsrat ein
        weiter Weg vor uns, den wir wahrscheinlich nur in klei-
        nen Schritten und manchmal auch in Umwegen gehen
        können. Doch wie heißt es so schön in einem chinesi-
        schen Sprichwort: Der längste Weg beginnt mit dem ers-
        ten Schritt.
        Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU): Meine
        heutige Redezeit beträgt vier Minuten. In diesen vier Mi-
        nuten werden in aller Welt 60 neue Klein- und Leicht-
        waffen hergestellt. In der gleichen Zeit werden etwa vier
        Menschen durch ebensolche Kleinwaffen getötet, darun-
        ter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
        Frauen und Kinder. Diese Zahlen verdeutlichen: Klein-
        waffen sind ein großes Problem.
        Seit den 90er-Jahren hat die internationale Kleinwaf-
        fenproduktion rapide zugenommen. Dadurch sind Ge-
        wehre, Pistolen, Granaten und Karabiner heute leichter
        und vor allem billiger denn je zu bekommen. Dass damit
        auch ihr Missbrauch stetig zunimmt, liegt auf der Hand.
        Die internationale Gemeinschaft hat diese Entwicklung
        erkannt und Konsequenzen daraus gezogen. Zahlreiche
        beachtenswerte Abkommen und Initiativen auf interna-
        tionaler, regionaler und nationaler Ebene sollen zur Ver-
        besserung der Rüstungskontrolle in Sachen Kleinwaffen
        führen. Um nur einige Beispiele zu nennen: In der EU
        gilt für ihre Mitglieder der so genannte Verhaltenskodex
        zu Waffenausfuhren. Demnach dürfen Waffen nur in
        Länder exportiert werden, die bestimmte Kriterien erfül-
        len. In diesen Ländern müssen beispielsweise Frieden,
        Sicherheit und Stabilität gewährleistet sein. Die Bundes-
        regierung ist dem EU-Verhaltenskodex nicht nur als EU-
        Mitglied verpflichtet, sondern hat ihn zudem zu einem
        ihrer „politischen Grundsätze für den Export von Kriegs-
        waffen und sonstigen Rüstungsgütern“ gemacht.
        In Afrika hat die Wirtschaftsgemeinschaft westafrika-
        nischer Staaten bereits 1998 das Malimoratorium verab-
        schiedet. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den Im-
        und Export sowie die Produktion von Kleinwaffen ein-
        zustellen.
        Auch Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt
        sind auf dem Gebiet der Kleinwaffen-Rüstungskontrolle
        bemerkenswert engagiert. Exemplarisch sei hier das In-
        ternational Network on Small Arms erwähnt. Dieses
        Netzwerk besteht aus 500 NGOs, die im Dialog mit Re-
        gierungen, Institutionen und Zivilgesellschaften Rüs-
        tungskontrolle forcieren und den Missbrauch von Klein-
        waffen bekämpfen.
        Auch die Vereinten Nationen haben ein Instrument
        entwickelt, das sich der Kleinwaffenproblematik an-
        nimmt. Sie haben 2001 das UN-Aktionsprogramm zur
        Bekämpfung des unerlaubten Handels mit Kleinwaffen
        und leichten Waffen in allen Aspekten verabschiedet. Es
        macht einen großen Schritt in die richtige Richtung. Es
        schreibt die detaillierte Kennzeichnung der Waffen vor,
        um deren Wege besser verfolgen zu können und gestattet
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4181
        (A) (C)
        (B) (D)
        Waffenexporte nur, wenn diese im Einklang mit völker-
        rechtlichen Verpflichtungen geschehen.
        Besagtes Aktionsprogramm ist ein guter Ansatz und
        hat Potenzial, dem Problem Kleinwaffen wirksam entge-
        genzutreten. Wie zahlreiche andere Initiativen und Ab-
        kommen weist das Programm momentan jedoch noch
        einige Lücken auf. So halten sich aufgrund der mangeln-
        den Rechtsverbindlichkeit zu wenige Staaten an die
        Richtlinien. Zudem beschäftigt sich das Programm aus-
        schließlich mit staatlichen Akteuren im Kleinwaffenhan-
        del, obwohl sich 60 Prozent der 600 Millionen Klein-
        waffen, die weltweit im Umlauf sind, in privatem Besitz
        befinden.
        Die derzeit in New York tagende UN-Konferenz zur
        Überprüfung des Aktionsprogramms ist ein optimaler
        Zeitpunkt, das Programm zu überarbeiten und die Lü-
        cken zu schließen. Uns allen muss klar sein, dass eine
        wirksame Bekämpfung des Missbrauchs von Kleinwaf-
        fen Jahre dauern wird. Umso wichtiger ist es, das UN-
        Aktionsprogramm umgehend weiterzuentwickeln und
        die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Daher ermutigen
        wir die Bundesregierung, sich weiterhin für eine transpa-
        rente und vor allem wirksame Kontrolle des Handels mit
        Kleinwaffen und leichten Waffen einzusetzen und aktiv
        an der Umsetzung und Verbesserung des UN-Aktions-
        programms sowie der EU-Strategie mitzuarbeiten.
        Kleinwaffen sind – da stimme ich UN-Generalsekre-
        tär Kofi Annan vollkommen zu – die Massenvernich-
        tungswaffen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie töten
        täglich Tausende von Menschen und versagen Millionen
        von Kindern eine unbeschwerte Kindheit, weil sie sie zu
        Mördern machen, die von skrupellosen Banden geför-
        dert und von den eigenen Familien geächtet werden.
        Kleinwaffen sind auch ein wesentlicher Grund dafür,
        dass Kriege und bewaffnete Konflikte zunehmend in der
        Zivilbevölkerung stattfinden.
        Ich denke, der erhöhte Handlungsbedarf in Sachen
        Kleinwaffen ist uns allen ersichtlich, und hoffe, dass Sie
        mir zustimmen, wenn ich sage, dass wir an einem Strang
        ziehen müssen, um den Teufelskreis von Gebrauch und
        Handel mit diesen Waffen wirksam und dauerhaft zu
        durchbrechen. Ich bitte Sie daher, den gemeinsamen An-
        trag von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion zu un-
        terstützen, indem Sie Ihrem Gewissen Vorrang vor mög-
        lichen Fraktionszwängen geben.
        Herta Däubler-Gmelin (SPD): Wir reden heute über
        den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen,
        der nach langen und zum Teil sehr mühsamen Diskus-
        sionen im Zuge der UN-Reform beschlossen wurde. Er
        soll die in den letzten Jahren nicht immer zu Recht in ih-
        rer Arbeit sehr angegriffene Menschenrechtskommission
        ablösen und – als Unterorgan der Vollversammlung der
        Vereinten Nationen und mit Stärkung der UN-Hochkom-
        missarin für Menschenrechte und ihren Befugnissen –
        die unverzichtbare Bedeutung der Menschenrechte in al-
        len Ländern der Welt unterstreichen und in der Durch-
        führung voranbringen. Wir wollen seine Arbeit zum Er-
        folg machen – das will unser Antrag, für den ich Sie um
        Zustimmung bitte. Das will auch der Antrag einer Oppo-
        sitionsfraktion – auch ihr geht es darum zu bekräftigen,
        dass Bundesregierung und Europäische Union ihre be-
        sondere Verantwortung für die Durchsetzung und Stär-
        kung der Menschenrechte wahrnehmen und sie durch
        ihre Politik zum tragenden Pfeiler der globalen Rechts-
        ordnung machen.
        Der Deutsche Bundestag stellt mit großer Freude fest,
        dass die Bundesrepublik Deutschland mit einer beson-
        ders hohen Stimmenzahl zum Mitglied des neuen Men-
        schenrechtsrates gewählt worden ist. Das zeigt, dass uns
        viele Staaten der Völkergemeinschaft ein hohes Maß an
        Vertrauen entgegenbringen. Das neue Wahlverfahren in
        der Generalversammlung der Vereinten Nationen setzt
        die absolute Mehrheit aller Mitglieder für eine Wahl vo-
        raus. Deutschland Wahlstimmen liegen bei drei Viertel
        aller Mitglieder der General-Versammlung. Dieses groß-
        artige Ergebnis beruht sicherlich auf mehreren Faktoren.
        Zum einen auf der Anerkennung, dass die Menschen-
        rechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland sich er-
        folgreich darum bemüht, im Inneren unseres Landes
        hohe Standards durchzusetzen. Das ist gut; daran hat
        auch der Deutsche Bundestag einen entscheidenden An-
        teil.
        Allerdings legen wir Politikerinnen und Politiker der
        SPD und, das darf ich wohl hinzufügen, auch der ande-
        ren Fraktionen des Deutschen Bundestages, die wir uns
        besonders um Menschenrechtsfragen kümmern, gerade
        deshalb großen Wert darauf, dass wir auch erkennen, wo
        wir im Innern noch große Defizite haben, die wir endlich
        durch vernünftige und angemessene Lösungen überwin-
        den müssen. Ich spreche jetzt von den Menschenrechten
        für die vielen ohne Aufenthaltsstatus in der Bundesrepu-
        blik lebenden Männer, Frauen und Kinder, also für die so
        genannten Illegalen. Wir können ihre Zahl nur schätzen;
        aber wir wissen, dass ihnen jede Garantie auch der mini-
        malen Menschenrechte fehlt: Der Zugang zu Gesund-
        heitsschutz, zu Schule und Bildung, zu Rechtsschutz vor
        Ausbeutung und Gewalt, kurz auf das, was unbedingt zu
        einem menschenwürdigen Leben ohne ständige, alltägli-
        che Angst gehört, alles das fehlt ihnen. Hier müssen wir
        endlich die Augen aufmachen und helfen. Das sind wir
        uns, das sind wir diesen Menschen schuldig. Außerdem
        hat es Signalwirkung, wie wir im eigenen Land mit
        Menschenrechten umgehen. Wie wollen wir denn in den
        wichtigen Menschenrechtsdialogen mit anderen Ländern
        reden, wenn wir diesen Balken im eigenen Auge nicht
        sehen? Ich bin ganz sicher, es wird auch unseren Ein-
        fluss im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ver-
        stärken, wenn wir nachweisen, dass es uns mit den Men-
        schenrechten auch für diese Bevölkerungsgruppe Ernst
        ist.
        Das internationale Vertrauen in die Menschenrechts-
        politik der Bundesrepublik Deutschland ist aber auch be-
        rechtigt, weil diese eben, auch hier getragen von allen
        Fraktionen des Deutschen Bundestages, nirgendwo zu
        Menschenrechtsverletzungen schweigt oder sie gar tak-
        tisch akzeptiert. Vielmehr greift sie Menschenrechtsver-
        letzungen auf und versucht, bei ihrer Überwindung zu
        helfen. Es geht uns darum, Menschenrechte als Grund-
        lage jeder freien und friedlichen Gesellschaft zu stärken
        und sie global durchzusetzen. Den anmaßend erhobenen
        4182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zeigefinger halten wir dabei für wesentlich weniger ge-
        eignet als den Einsatz sehr erfolgreicher Instrumente wie
        beispielsweise Menschenrechts- und Rechtsstaatsdia-
        loge.
        Der Deutsche Bundestag hat bei der Schaffung des
        Römischen Statuts und der Bildung des Internationalen
        Strafgerichtshofs sehr gut zusammengearbeitet. Wir alle
        unterstützen seine wichtige Arbeit, verteidigen sie gegen
        Angriffe etwa der US-Administration und werben für die
        Unterstützung der Vereinigten Staaten für diesen Ge-
        richtshof, aber auch für den Menschenrechtsrat der Ver-
        einten Nationen. Der Deutsche Bundestag unterstützt
        mit ebenso großem Nachdruck die deutsche Unterstüt-
        zung für Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und
        die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Peace-building
        durch Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen in vie-
        len Ländern der Welt. Das alles hat nicht nur das Ver-
        trauen in die deutsche Menschenrechtspolitik gestärkt,
        sondern auch die Erwartungen an Deutschland wachsen
        lassen.
        Es ist deshalb gut, dass Deutschland für drei Jahre
        Mitglied des neuen Menschenrechtsrates sein wird, der
        am 19. Juni 2006 seine Arbeit in Genf aufgenommen
        hat. In diesen drei Jahren müssen viele schwierigen An-
        fangsprobleme bewältigt und klare Standards gesetzt
        werden. Deutschland wird 2007 die Präsidentschaft in der
        Europäischen Union und in der Organisation der G 7/G 8
        übernehmen und dort mit der Autorität dieses Amtes für
        eine gute Menschenrechtspolitik werben können. Es
        wird dieses politische Gewicht auch in die Arbeit des
        Menschenrechtsrats einbringen. Da bisher die Politik für
        Menschenrechte längst nicht aller 47 Mitglieder des
        neuen Rates vorbildlich ist, weder im Hinblick auf die
        Garantie der Menschenrechte im eigenen Land noch im
        Umgang mit anderen Teilen der Welt oder im Bereich
        der internationalen Völkergemeinschaft, wird es zu-
        nächst einmal darum gehen müssen, die Länder mit
        menschenrechtsfreundlicher Politik im Menschenrechts-
        rat zusammenzuführen und ihr Votum im Rat durchset-
        zungsfähig zu machen.
        Unter den wichtigen Anfangsentscheidungen sind ei-
        nige besonders wichtig. Sie sind in unserem Antrag ent-
        halten; aber auch der Antrag der Oppositionsfraktion ist
        lesenswert. Beide müssen nicht nur in der Arbeit des
        Bundestages, sondern auch in der der Bundesregierung
        berücksichtigt werden.
        Wichtig ist, dass der neue Menschenrechtsrat die ho-
        hen Standards und erfolgreichen Instrumente aufnimmt
        und weiterführt, die die UN-Menschenrechtskommis-
        sion in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat.
        Diese Arbeit, diese Erfolge dürfen nicht verloren gehen.
        Dabei muss von vorneherein klargestellt werden, dass
        zwar die Art der Durchsetzung und Garantie der Men-
        schenrechte von regionalen, kulturellen, religiösen und
        traditionellen Prägungen beeinflusst sein kann und häu-
        fig auch beeinflusst sein wird; die Existenz eines
        Menschenrechts kann jedoch ebenso wenig von diesen
        Faktoren abhängig sein wie sein Inhalt und seine Reich-
        weite. Das klarzustellen gehört zur Anerkennung der Be-
        deutung der Menschenrechte.
        Wichtig ist auch, dass der Rat sicherstellt, dass seine
        Mitglieder sich in ihrer Menschenrechtspolitik überprü-
        fen und an den erreichten hohen Standards messen las-
        sen. Erst wenn die Mitglieder des Menschenrechtsrats
        die hohen Anforderungen erfüllen, können sie in der Ge-
        neralversammlung der Vereinten Nationen die Autorität
        beanspruchen, die den Menschenrechten und ihrer
        Durchsetzung zukommt und die dann die Überprüfung
        auch der Menschenrechtspolitik der übrigen Mitglieder
        der Vereinten Nationen zu einem Erfolg werden lässt.
        Wichtig ist des Weiteren, dass der Menschenrechtsrat
        gut mit der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte
        zusammenarbeitet und die Verbindungen zum UN-Gene-
        ralsekretär und zum UN-Sicherheitsrat zur Durchsetzung
        und Stärkung der Menschenrechtsgarantien nützt.
        Schließlich ist es wichtig, dass der Menschenrechtsrat
        die wichtige Rolle der Nichtregierungsorganisationen
        anerkennt: Diese Organisationen sind es ja, die über die
        Geltung und die Durchsetzung der Menschenrechte im
        Alltagsleben der Menschen eines Landes häufig viel bes-
        ser Bescheid wissen als Mitglieder von Ämtern oder Di-
        plomatische Korps. Die global arbeitenden Menschen-
        rechtsorganisationen können mit ihren aktualisierten
        Meldungen und Vergleichen die Arbeit des Rates ent-
        scheidend unterstützen. Sie müssen deshalb ihren Zu-
        gang, ihren Einfluss und ihre wichtige Rolle im Men-
        schenrechtsrat behalten.
        Ich bitte um Zustimmung für unseren Antrag. Es be-
        steht kein Zweifel daran, dass wir alle die Bundes-
        regierung und insbesondere den Bundesaußenminister in
        seiner Arbeit im Menschenrechtsrat und auch die Beauf-
        tragten der Bundesministerien für Menschenrechtsfragen
        in ihrer wichtigen Tätigkeit weiterhin aktiv unterstützen.
        Im kommenden September werden wir aus Anlass der
        zweiten Sitzungsperiode des UN-Menschenrechtsrates
        mit einer Delegation des Menschenrechtsausschusses
        des Deutschen Bundestages nach Genf fahren, um uns
        vor Ort über die Bewältigung der anstehenden Fragen
        und Probleme zu informieren. Wir alle wissen, dass mit
        unserem möglichst breit zustimmenden Beschluss heute
        ein wichtiger Schritt getan ist. Dem müssen noch viele
        weitere folgen.
        Christoph Strässer (SPD): Zurzeit findet eine
        zweiwöchige Konferenz zur Überprüfung des UN-Ak-
        tionsprogramms zum Kleinwaffenhandel bei den Verein-
        ten Nationen in New York statt. Es gilt im Zuge dessen
        vor allem mehr als deutlich hervorzuheben, wie katastro-
        phal die Folgen der massenhaften Verbreitung von
        Kleinwaffen und leichten Waffen tatsächlich sind. Denn
        fälschlicherweise ist die Gefahr von Kleinwaffen und
        leichter Rüstung auf nationaler, regionaler und globaler
        Ebene gesellschaftlich nicht präsent genug und wird un-
        terschätzt. Kleinwaffen und leichte Waffen sind eine be-
        stimmte Kategorie von Kampfmitteln, die von einer oder
        zwei Personen getragen, transportiert und ausgelöst wer-
        den können. Zu ihnen zählen laut UNO-Definition unter
        anderem Sturmgewehre, Revolver und Maschinenenge-
        wehre sowie die dazugehörige Munition, aber auch
        Handgranaten, tragbare Raketenwerfer, Mörser, Panzer-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4183
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        fäuste, Minen und schultergeschützte Flugabwehrrake-
        ten. Die meisten Kleinwaffen sind leicht zu transportie-
        ren und im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht zu
        bedienen. Das Töten mit dem Gewehr vom Typ Kalasch-
        nikow AK-47 kann man bereits einem Zehnjährigen bei-
        bringen. Die Folge ist unter anderem, dass Kinder vor al-
        lem in Afrika und Asien zu Tausenden zwangsweise als
        Soldaten rekrutiert werden. In rund 40 Staaten der Erde
        kämpfen nach Schätzungen von UNICEF immer noch
        über 300 000 mit Kleinwaffen ausgerüstete Jungen und
        Mädchen in Regierungsarmeen oder bewaffneten Grup-
        pen. In weiten Teilen der Welt sind Kleinwaffen preis-
        werter als zum Beispiel Nahrungsmittel oder Medizin. In
        Uganda kostet nach UNICEF Angaben ein AK-47-Ge-
        wehr soviel wie ein Huhn und in Angola soviel wie ein
        Sack Mais – etwa 15 Dollar. In vielen Krisengebieten
        sind sie daher auch außerhalb regulärer Streitkräfte weit
        verbreitet.
        Den Kleinwaffen sind in den letzten Jahrzehnten weit
        mehr Menschen zum Opfer gefallen als allen anderen
        Waffenarten zusammen. Mindestens eine halbe Million
        Menschen verlieren alljährlich ihr kostbares Leben
        durch Kleinwaffen, das heißt, jede Minute stirbt ein
        Mensch durch diese Waffengattung, unter ihnen auch
        viele Frauen und Kinder. Weltweit wird die Anzahl von
        Kleinwaffen, die jahrzehntelang benutzt werden können
        und immer wieder auf neuen Brandherden auftauchen,
        von ai auf 650 Millionen geschätzt. Damit verfügt jeder
        zehnte Mensch über eine Waffe. Jedes Jahr werden
        14 Milliarden Schuss Munition produziert – das sind
        weltweit mehr als zwei Geschosse für jeden Mann, jede
        Frau und jedes Kind.
        Diese unvorstellbare Menge an Kleinwaffen macht
        sie zum meistverbreiteten Massenvernichtungsmittel un-
        serer Zeit. Wie Helmut Schmidt bereits richtig fest-
        stellte, handelt es sich im Fall der Kleinwaffenverbrei-
        tung ausdrücklich um einen globalen Notstand, der
        dringend der Abhilfe bedarf. Die massenhafte Streuung
        solcher Waffen führt zudem zur Destabilisierung ganzer
        Regionen und verhindert in Ländern wie Somalia, Sierra
        Leone, Sudan, Kongo oder Angola über Jahre jede fried-
        liche Entwicklung. Verschlimmernd kommt hinzu, dass
        die Gefahr durch Kleinwaffen und leichte Rüstung mit
        der Beilegung eines regionalen Konfliktes nicht zu Ende
        ist. Denn diese Waffen bleiben nach der Beilegung von
        Konflikten meist in den Händen der gewaltbereiten
        Menschen und unterminieren so die Friedenskonsolidie-
        rung und die angestrebte Stabilität in den betroffenen
        Regionen. Die Mehrzahl der Menschen fällt somit nicht
        den Kampfhandlungen selbst zum Opfer, sondern ver-
        liert ihr Leben in der „Nachkriegszeit“. Das bedeutet:
        Frieden, Sicherheit und die positive Entwicklung werden
        in wachsendem Maße durch die destabilisierende Wir-
        kung der Verbreitung von Kleinwaffen und leichten
        Waffen bedroht.
        Kleinwaffen und leichte Waffen tragen zudem zur
        Verschärfung des Terrorismus und der organisierten Kri-
        minalität bei. Wer den Terrorismus bekämpfen will,
        sollte insofern als einen der ersten Schritte die Verbrei-
        tung von Kleinwaffen und leichter Rüstung mit aller
        Macht eindämmen. Eine wirksame Kontrolle dieser
        Waffengattung ist für eine menschenrechtsorientierte,
        aber auch für eine wirtschaftsfördernde Politik und da-
        mit einhergehend für die Stärkung des humanitären Völ-
        kerrechtes zwingend notwendig. Es gibt bereits viele in-
        ternationale, regionale und nationale Vereinbarungen
        gegen die Verbreitung von leichten und Kleinwaffen,
        wie zum Beispiel das 2001 geschaffene „UN-Aktions-
        programm zur Bekämpfung des unerlaubten Handels mit
        Kleinwaffen und leichten Waffen in allen Aspekten“ und
        das 2005 von der UN-Generalversammlung verabschie-
        dete politisch verbindliche Abkommen über die Kenn-
        zeichnung und Nachverfolgbarkeit von Kleinwaffen. Die
        Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschie-
        dete insgesamt mehr als 30 Resolutionen zu Kleinwaffen
        und auch der Weltsicherheitsrat befasste sich auf Son-
        dersitzungen mehrfach mit diesem Thema.
        Es ist unumstritten, dass trotz dieser internationalen
        Verträge und nationalen Rechtsvorschriften und dem
        großen Engagement internationaler Nichtregierungsor-
        ganisationen die Gefahr durch Kleinwaffen und leichte
        Rüstung in den letzten Jahren nicht wirklich nachgelas-
        sen hat. Aus humanitärer wie menschenrechtlicher Sicht
        sollte die internationale Gemeinschaft deshalb die
        Chance nutzen, sich im Schlussdokument der Überprü-
        fungskonferenz mit klaren Kriterien und verbindlichen
        Regelungen zur Bekämpfung des Missbrauchs von
        Kleinwaffen und leichten Waffen zu verpflichten und
        Lücken im Aktionsprogramm zu schließen. Die SPD-
        Fraktion bekräftigt mit diesem Antrag insofern die un-
        eingeschränkte Notwendigkeit eines Übereinkommens
        aller Staaten zur Schaffung eines wirkungsvollen und
        eindeutigen internationalen Kontrollsystems, das Waf-
        fen- und Munitionstransfers in Gebiete unterbindet, in
        denen diese Güter wahrscheinlich zu schwerwiegenden
        Verletzungen der Menschenrechte oder des humanitären
        Völkerrechtes verwendet werden. Wir bekunden damit
        unseren grundsätzlichen Willen, alles dafür zu tun, dass
        die zweite UN-Durchführungskonferenz zum Kleinwaf-
        fen-Aktionsprogramm diesem Ziel eines internationalen
        rechtskräftigen Kontrollsystems entscheidend näher
        kommt. Wer das hehre Ziel verfolgt, Massenvernich-
        tungswaffen weltweit zu bekämpfen, der sollte ein sol-
        ches Kontrollsystem mit all seiner Kraft unterstützen.
        Florian Toncar (FDP): Die Bundesregierung ver-
        folgt eine Menschenrechtspolitik, die zwar sinnvolle An-
        sätze aufweist, in ihrer Umsetzung jedoch zu wenig Biss
        hat und keine echten Akzente setzt. Leider hat es die jet-
        zige Bundesregierung noch nicht vermocht, ein eigenes
        menschenrechtliches Profil herauszubilden. Dies wird
        auch in den heute von den Regierungsfraktionen zur Be-
        ratung vorgelegten Anträgen deutlich. Beiden Anträgen
        ist gemeinsam, dass die darin erhobenen Forderungen
        zwar an sich unterstützenswert sind. Jedoch lassen sie
        wirkliche Akzente vermissen, eine kreative Bereiche-
        rung sind sie nicht.
        Der erste Antrag befasst sich mit der künftigen Arbeit
        des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen. Die
        FDP hat die Verhandlungen zur Schaffung dieses neuen
        Gremiums genau verfolgt. Wir hatten den Eindruck, dass
        das Auswärtige Amt in seiner Verhandlungsführung
        4184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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        umsichtig und geschickt agiert und die Koordination mit
        den EU-Staaten sehr gut funktioniert hat. Man muss den
        mit den Verhandlungen betrauten deutschen Diplomaten,
        insbesondere dem Arbeitsstab Menschenrechte im Aus-
        wärtigen Amt, an dieser Stelle Lob und Anerkennung
        aussprechen. Die Aufgabe, einen möglichst umfangrei-
        chen und effektiven Menschenrechtsschutz auszuhan-
        deln, war angesichts des Widerstandes einiger Bremser-
        staaten nicht leicht. Zeitweise schien es, dass es in den
        Verhandlungen nur noch darum ging, das Schlimmste zu
        verhindern.
        Das Ergebnis lässt viele Wünsche offen. Die FDP
        hätte es natürlich befürwortet, wenn eine Zweidrittel-
        mehrheit sowie strengere Menschenrechtskriterien für
        die Mitgliedschaft von Staaten im Menschenrechtsrat
        notwendig gewesen wären. Leider war dies nicht mehr-
        heitsfähig. Aber angesichts der schwierigen Verhandlun-
        gen war offenbar nicht mehr drin.
        Der Menschenrechtsrat hat sich nun konstituiert und
        wird sich in der Anfangsphase damit befassen, seine ei-
        gene Arbeitsweise zu definieren. Die Bundesregierung
        ist in der Pflicht, ihre Mitgliedschaft in dem neuen Gre-
        mium zu nutzen, um diese Methoden so effektiv wie
        möglich zu gestalten. Dabei ist wichtig, dass ausreichend
        Arbeitszeit für die Befassung mit aktuellen Krisensitua-
        tionen und groben Menschenrechtsverletzungen bleibt.
        Am Ende müssen Menschenrechtsverletzer damit rech-
        nen, beim Namen genannt und öffentlich vom Men-
        schenrechtsrat durch Länderresolutionen angeprangert
        zu werden.
        Ich verstehe den Antrag einerseits als eine Würdigung
        des diplomatischen Verhandlungsergebnisses, das neben
        vielen klaren Defiziten auch zahlreiche Chancen bein-
        haltet. Andererseits – und ich denke, das ist der Schwer-
        punkt – geben die Forderungen der Bundesregierung den
        Auftrag, die Ärmel hochzukrempeln und die Arbeit des
        neuen Menschenrechtsrates mit Inhalt zu füllen. Hier
        hätte der Antrag konkreter sein können. Auch wenn wir
        diesem Antrag der Regierungsfraktionen zustimmen
        werden, bleibt für uns entscheidend, wie die Bundesre-
        gierung im Menschenrechtsrat agiert. Wir werden genau
        beobachten, ob die Bundesregierung die an sie gerichte-
        ten Erwartungen erfüllt.
        Auch wenn die FDP den Kern des Antrages unter-
        stützt, ist die Schwammigkeit und die Vermeidung von
        klaren, akzentuierten Positionen zu bemängeln. Die
        Bundesregierung muss in Zukunft stärker Farbe beken-
        nen, wie ihre eigene Position zu konkreten Menschen-
        rechtsproblemen ist. Darum hat die FDP einen Antrag
        eingebracht mit dem Ziel, dass die Bundesregierung in
        künftigen Menschenrechtsberichten die eigene Bewer-
        tung klar getrennt von allgemeinen politischen Hinter-
        grundinformationen darlegt. Außerdem müssen mess-
        bare Zielvorgaben für die Zukunft formuliert werden.
        Wenn die Bundesregierung sich nicht traut, Position zu
        beziehen, soll sie das vor der Öffentlichkeit zeigen müs-
        sen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich im Bericht hin-
        ter Allgemeinplätzen zu verstecken.
        Der zweite Antrag greift ein Thema auf, welches in
        den letzten Jahren große Bedeutung erlangt hat: die Be-
        kämpfung des Handels mit Kleinwaffen und leichten
        Waffen, mit denen die meisten Morde und Tötungen in
        Kriegen begangen werden. Da diese Waffen technisch
        sehr einfach und leider auch sehr robust und langlebig
        sind, kommt es vor, dass mit ein und derselben Waffe in
        mehreren Kriegen getötet wird. Der illegale Waffenhan-
        del bewirkt, dass diese Waffen von einem Bürgerkrieg
        zum nächsten verschoben werden. Es ist eine makabere
        „Tournée der Bürgerkriege“, die diese Waffen durch-
        wandern. Um dies zu erschweren, müssen die dunklen
        Kanäle der illegalen Waffenschieber durch verbindliche
        Regelungen sichtbar gemacht und unterbrochen werden.
        Die jetzt anstehende UN-Überprüfungskonferenz ist eine
        gute Gelegenheit, diesen internationalen Prozess voran-
        zutreiben. Dabei sollte die deutsche Diplomatie die Ge-
        legenheit nutzen, engagiert Akzente zu setzen.
        Es ist zu erwarten, dass einige Staaten – wie in den
        Verhandlungen vor fünf Jahren – versuchen werden, das
        Abschlussdokument möglichst stark zu verwässern. Die
        USA waren damals in die Kritik geraten, weil sie jegli-
        che Einmischung in ihr nationales Waffenrecht vermei-
        den wollten. Dies gab jedoch den größten Lieferanten
        von Kleinwaffen in Bürgerkriegsgebiete die Gelegen-
        heit, sich hinter den USA zu verstecken. So muss die
        Bundesregierung bei den anstehenden Verhandlungen
        auch Staaten wie China zu konkreten Zugeständnissen
        bei der Eindämmung der Zirkulation von Waffen drän-
        gen und klar Position beziehen.
        Ein wichtiges Ziel ist es, die Staaten, die Kleinwaffen
        in Konfliktherde liefern, dazu zu bringen, strengere Ex-
        portrichtlinien zu beachten. Dabei müssen Deutschland
        und die EU dafür sorgen, dass die Staaten in Ost- und
        Südosteuropa, in denen große Mengen von Kleinwaffen
        vorhanden sind und noch immer produziert werden, die
        Ausfuhr dieser Waffen begrenzen. So lagern etwa in der
        Ukraine, einem wichtigen Ausfuhrland, noch schät-
        zungsweise 9 Millionen Kleinwaffen. Es wäre fatal,
        wenn diese Waffen in den Umlauf des illegalen Waffen-
        handels gelangten, um das Feuer zahlreicher Bürger-
        kriege anzufachen. Staaten Ost- und Südosteuropas, die
        Mitglied der EU werden wollen oder ihre Beziehungen
        zur EU verbessern wollen, müssen hier ein klares Signal
        aus Brüssel erhalten. Auch wenn der Antrag diese For-
        derung erhebt, so hätte ich mir eine schärfere Formulie-
        rung in diesem Punkt gewünscht, um ein klares Signal
        an die ost- und südosteuropäischen Kleinwaffenprolife-
        rateure zu senden.
        Deutschland zählt trotz einer restriktiven Handhabe
        von Exportgenehmigungen weiterhin zu den größten
        Waffenexporteuren der Welt. In Zukunft sollten wir al-
        lerdings zum Hauptexporteur von Geräten zum Abrüsten
        und Zerschreddern von Kleinwaffen aufsteigen. Es
        stünde der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung
        gut an, wenn deutsche Technik maßgeblich dazu beitra-
        gen könnte, diese unsäglichen Kleinwaffen wieder aus
        der Welt zu schaffen. Großbritannien stellt solche Geräte
        bereits als Teil seiner Entwicklungszusammenarbeit
        Staaten zur Verfügung.
        Leider ist der Inhalt des Antrages insgesamt so stark
        in Watte verpackt, dass er lediglich die allgemeinen Er-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4185
        (A) (C)
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        wartungen an die deutschen Diplomaten bei der anste-
        henden UNO-Konferenz wiedergibt. Notwendig ist er in
        dieser Form nicht.
        Wir sind gespannt, ob die Bundesregierung es schaf-
        fen wird, ein sichtbares Profil in der Menschenrechts-
        politik zu entwickeln. Bald ist das erste Regierungsjahr
        vorbei. Die Zeit läuft.
        Michael Leutert (DIE LINKE): Erstens. Wir unter-
        stützen den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD. Wir teilen mit den Antragstellern die Auffassung
        Kofi Annans, dass es sich bei den Kleinwaffen um die
        Massenvernichtungswaffen von heute handelt. Auch tei-
        len wir die Auffassung, dass eine wirksame Kontrolle
        dieser Waffengattung Konflikten vorbeugen, Frieden
        konsolidieren und Menschenrechtsverletzungen meiden
        helfen kann. Schließlich teilen wir die Auffassung, dass
        eine restriktive Rüstungsexportpolitik notwendig ist. So-
        weit stimmen wir mit den Antragstellern überein.
        Zweitens hat die Fraktion Die Linke aber auch erheb-
        liche Kritik an dem Antrag zu üben, eine Kritik aber, die
        uns nicht hindern soll, diesem Antrag zuzustimmen. Der
        Antragsteller ist nämlich der Auffassung, dass Kleinwaf-
        fen an ihre Einsatzorte in bewaffneten Konflikten oft-
        mals über illegale Vermittlungsgeschäfte gelangt sind.
        Wenn das stimmt – daran haben auch wir keinen Zwei-
        fel – dann fragen wir uns, warum der deutsche Beitrag
        zu einer Kontrolle dieser Waffengattung nicht etwas
        radikaler ausfallen könnte. Dazu drei Bemerkungen:
        Erstens. Dass es sichere Empfängerstaaten für Kleinwaf-
        fenexporte gibt, ist sehr zweifelhaft. Gerade der Waffen-
        export an verbündete Staaten ist der Anfang des Wegs
        der Weiterverbreitung der sehr langlebigen Kleinwaffen.
        Auch Staaten mit einer menschenrechtlich immer noch
        bedenklichen Lage wie etwa die Türkei und Indonesien
        wissen deutsche Waffen zu schätzen. Hier sind wesent-
        lich restriktivere Exportregelungen angesagt. Zweitens.
        Die Unterscheidung zwischen Sport-, Freizeit- und
        Kriegswaffen muss hinsichtlich der Exportbestimmun-
        gen aufgehoben werden. Drittens. Die Bundesregierung
        sollte sich dafür einsetzen, die bestehenden internationa-
        len Abkommen auch auf Waffen wie tragbare Flugab-
        wehrraketen und Mörser auszuweiten.
        Eine Ankündigung solcher Schritte wäre ein guter
        Beitrag für das Gelingen der UN-Kleinwaffenkonferenz.
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Mit dem neuen Menschenrechtsrat hat eine neue und
        wichtige Phase des internationalen Menschenrechts-
        schutzes begonnen. Es besteht jetzt die historische
        Chance, Menschenrechte zu einer tragenden Säule im
        System der Vereinten Nationen werden zu lassen. Die
        neue Institution löst die bisherige Menschenrechtskom-
        mission ab, die aufgrund der Blockadehaltung zahlrei-
        cher Staaten mit mangelhafter Menschenrechtsbilanz zu
        Recht kritisiert worden war. Am 9. Mai diesen Jahres
        sind 47 Mitgliedstaaten für drei Jahre gewählt worden,
        darunter – mit überwältigender Mehrheit – auch
        Deutschland. Dies zeigt, wie positiv die konsequente
        Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik der letzten
        Jahre auch international wahrgenommen wurde. Das
        muss und wird hoffentlich auch für die neue Regierung
        hinreichend Ansporn sein, hohe Standards einzuhalten
        und weiter zu verbessern, im Übrigen auch und gerade
        dort, wo Deutschland wie in der Flüchtlingspolitik noch
        Nachholbedarf hat!
        Der neue Rat ist unzweifelhaft ein positiver Neube-
        ginn für eine weltweit effektive Menschenrechtspolitik,
        obwohl auch im neuen Rat Länder Mitglieder sind, de-
        ren menschenrechtliche Standards alles andere als zu-
        frieden stellend sind. Aber: Alle Mitgliedstaaten werden
        auf ihre Menschenrechtslage überprüft und es soll die
        Möglichkeit einer Suspendierung der Mitgliedschaft für
        Staaten bestehen, die massive Menschenrechtsverletzun-
        gen begehen. Wir vertrauen darauf, dass dieser Mecha-
        nismus notfalls konsequent angewandt wird!
        Bündnis 90/Die Grünen sehen eine Reihe von Chan-
        cen, die der neue Menschenrechtsrat für eine tatsächli-
        che Verbesserung gegenüber der Arbeit der alten
        Menschenrechtskommission bietet. Der Rat wird im
        Vergleich zur MRK öfter und länger im Jahr tagen und
        sich aktueller mit Menschenrechtsfragen befassen kön-
        nen. Die Mitglieder des Rates müssen sich einer Prüfung
        ihrer eigenen Menschenrechtsstandards unterziehen, und
        es besteht die Möglichkeit der Aussetzung der Mitglied-
        schaft im Falle schwerwiegender Menschenrechtsverlet-
        zungen.
        Darüber hinaus wird es ein so genanntes Universal
        Periodic Review geben, das heißt ein Verfahren, mit dem
        die Menschenrechtssituation in allen Staaten der VN ge-
        prüft und Verletzungen von Menschenrechten öffentlich
        gemacht werden können. Allerdings: Es müssen auch
        noch eine Reihe von Herausforderungen zur effektiven
        Ausgestaltung des Menschenrechtsrates bewältigt wer-
        den:
        Wir fordern die Bundesregierung auf, sich mit Nach-
        druck für den Erhalt der wichtigen und bewährten Son-
        dermechanismen der MRK einzusetzen. Die Beteiligung
        der Nichtregierungsorganisationen muss gewährleistet
        bleiben! Und wir fordern die Bundesregierung auch auf,
        wichtige menschenrechtliche Initiativen, die in der Ver-
        gangenheit in der MRK nicht oder nicht umfassend
        durchgesetzt werden konnten, zum Beispiel Zusatzpro-
        tokoll zum VN-Sozialpakt, Resolution über die Men-
        schenrechte von Lesben und Schwulen, Resolutionen zu
        Guantanamo Bay und zu Darfur, zu unterstützen. Da-
        rüber hinaus erwarten wir von der Bundesregierung,
        dass sie im Rat darauf hinwirkt, dass die Informationen
        zur Menschenrechtslage in den zu überprüfenden Län-
        dern auch von opfernahen und staatsunabhängigen Insti-
        tutionen berücksichtigt werden. Ob sich die Erwartun-
        gen an den Menschenrechtsrat erfüllen, wird sich zeigen.
        Bündnis 90/Die Grünen jedenfalls werden die Entwick-
        lung dieser Institution mit größter Aufmerksamkeit und
        konstruktiver Kritik verfolgen.
        Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein paar Worte
        zu unserem Antrag „Waffen unter Kontrolle“ und dem
        Problem der Kleinwaffen sagen. Schwerste Menschen-
        rechtsverletzungen gehen eng mit dem Vorhandensein
        und dem Einsatz von Kleinwaffen einher. Seit circa zehn
        4186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Jahren gibt es auf der internationalen Ebene Bemühun-
        gen, zu einer Begrenzung des Kleinwaffenproblems zu
        kommen. Die Bundesregierung hat sich hier mal mehr
        und mal weniger, insgesamt aber durchaus positiv und
        lobenswert engagiert. Dies gilt sowohl im Rahmen der
        UN, OSZE, EU und bilateral. Auch die nationalen Ex-
        portrichtlinien und Exportpolitik wurden ansatzweise
        verändert.
        Vor allem das UN-Aktionsprogramm von 2001 hat
        – bei allen Defiziten – dazu beigetragen, dass es auf der
        internationalen, regionalen und nationalen Ebene schritt-
        weise Fortschritte gegeben hat. Das reicht jedoch bei
        weitem nicht aus. Das Programm ist zu eng, zu unver-
        bindlich und in vielen Bereichen nicht entschlossen ge-
        nug umgesetzt worden. Wir erwarten, dass es bei der
        Überprüfungskonferenz in New York deutliche Fort-
        schritte gibt und sich Deutschland und die EU-Staaten
        vehement dafür einsetzen, dass es zu Verbesserungen
        und verbindlichen Weiterentwicklungen kommt. Dies
        gilt zum Beispiel für die Bereiche Munition, Waffenver-
        mittlungsgeschäfte und nichtstaatliche Endempfänger.
        Es müssen in New York auch Schritte in die Wege gelei-
        tet werden, um bald zu einem internationalen Waffen-
        handelsabkommen zu kommen, das möglichst hohe
        völkerrechtliche Mindeststandards festschreibt, um kon-
        ventionelle Waffenexporte unter Kontrolle zu bringen.
        Wir begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen das
        Thema aufgreifen. Ihr Antrag bleibt jedoch leider in vie-
        len Bereichen ein Schönwetterantrag. Dort, wo es weh
        tut, also dort, wo auch die Bundesregierung und deut-
        sche Industrieinteressen betroffen sind, wagen Sie sich
        nicht ran!
        Wir dürfen uns nicht auf illegale und militärische
        Kleinwaffenexporte beschränken. Wir müssen auch die
        zivil genutzten und legalen Exporte in den Blick neh-
        men. Wir müssen vor allem auch unsere eigene Export-
        gesetzgebung und Exportpolitik kritisch unter die Lupe
        nehmen. Hier benennen wir entscheidende Lücken und
        Defizite. Bündnis 90/Die Grünen hat das als Regierungs-
        fraktion getan, und wir tun das auch heute. Vorausset-
        zung ist, dass sich die Transparenz in diesem Bereich
        weiter verbessert und die Fraktionen ihre Kontrollaufga-
        ben ernst nehmen. Deutschland gehört immer noch zu
        den weltweit führenden Exporteuren von zivilen und mi-
        litärischen Kleinwaffen, darunter sind auch Exporte, die
        mit den Rüstungsexportrichtlinien nicht vereinbar und
        nicht nachvollziehbar sind.
        Anlage 22
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: REITs – Real Estate
        Investment Trusts in Deutschland einführen
        (Tagesordnungspunkt 19)
        Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die Fraktion der FDP
        fordert den Bundestag auf, einen Gesetzentwurf zur Ein-
        führung von REITs in Deutschland auf den Weg zu brin-
        gen. Auch die Union hat heute per Pressemitteilung ver-
        kündet, dass sie sich ebenfalls für die REITs-Einführung
        ausspricht, sofern – ich zitiere – „die verlässliche Be-
        steuerung beim Anleger sichergestellt ist und positive
        Auswirkungen auf Immobilienmarkt und Standortbedin-
        gungen zu erwarten sind“.
        Die SPD-Fraktion diskutiert das Problem intensiver.
        Die parlamentarische Linke kommt in einem interessan-
        ten Papier zu der Aussage, die Bedingungen für die Ein-
        führung von REITs seien nicht erfüllt, weil – Zitat – „die
        steuerpolitischen, haushälterischen und gesellschaftspo-
        litischen Schwierigkeiten und Gefahren nicht verlässlich
        ausgeräumt werden können“. Das BMF seinerseits führt
        in einem ausführlichen Papier lauter Argumente an, wa-
        rum REITs eine gute Sache sind.
        Eine interessante Konstellation: Für die FDP gibt es
        keine Probleme; die Union ist zwar dafür, weiß aber
        nicht, ob die Risiken unter Kontrolle sind und ob das
        Ganze überhaupt etwas bringt; das Bundesministerium
        der Finanzen gibt grünes Licht und die SPD ist sich nicht
        einig.
        Das sieht für mich danach aus, dass die Sache schon
        gelaufen ist, das heißt, dass die absolut berechtigten Ein-
        wände der SPD-Linken in den Wind geschlagen werden.
        Für die Fraktion Die Linke gibt es keinen Zweifel: Wir
        lehnen die REITs-Zulassung ab, sie schadet dem Finanz-
        platz Deutschland, sie schadet den Interessen der Miete-
        rinnen und Mietern und bietet ein weiteres Steuer-
        schlupfloch für Finanzinvestoren.
        Ich will dies begründen und Ihnen gleich zu Anfang
        unser zentrales Gegenargument nennen. Es geht um ei-
        nen Sachverhalt, der leider auch nicht in dem zitierten
        Argumentationspapier der SPD-Linken ausgeführt wird.
        Ich werde mich in der Auseinandersetzung auf dieses
        Papier beschränken, weil in dem FDP-Antrag nur Be-
        hauptungen zu lesen sind, während die Union nur das
        Prinzip Hoffnung zu vermelden hat.
        Worum geht es bei REITs? Es geht im Kern um die
        Mobilisierung von in Immobilien gebundenem Kapital
        von Unternehmen. Das sieht die FDP völlig richtig – Zi-
        tat aus dem Ihrem Antrag –:
        „REITs sind besonders für Versicherungen, Pen-
        sionsfonds und Stiftungen interessant … Unterneh-
        men aller Branchen ist es möglich, ihren Immobili-
        enbestand in REITS zu überführen. Somit können
        sie gebundenes Kapital heben.“
        Ich bin der FDP-Fraktion dankbar für die Offenheit,
        mit der sie den Kernpunkt benennt, allerdings ohne sei-
        nen eigentlichen Hintergrund auszusprechen.
        Es geht im Wesentlichen um die Allianz, es geht um
        die großen Versicherungskonzerne. Bekanntlich haben
        Allianz und Co. riesige, nicht aufgedeckte stille Reser-
        ven in Form von Wohnungseigentum. Die Versicherun-
        gen haben mit REITs ein dreifaches Interesse: Sie möch-
        ten die Verwaltungskosten dieser Wohnungen
        loswerden, sie möchten zum Zweiten das zum Einheits-
        wert in den Bilanzen geführte Kapital zum Verkehrswert
        liquidieren und sie möchten zum Dritten diesen gewalti-
        gen Zugewinn auch noch steuerfrei realisieren. Bekannt-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4187
        (A) (C)
        (B) (D)
        lich sind nämlich die REITs von der Körperschaft- und
        Gewerbe- und Grundsteuer befreit.
        Es geht also um nichts anderes als eine Neuauflage
        der berühmt-berüchtigten steuerfreien Veräußerung von
        Kapital. Sie von der großen Koalition sind dabei, den ge-
        radezu tragischen Fehler der rot-grünen Bundesregie-
        rung aus dem Jahr 2000 zu wiederholen, der zu gewalti-
        gen Ausfällen bei der Körperschaftsteuer geführt hat.
        Das ist der Kern das Ganzen.
        Die SPD-Linke hat völlig recht: REITs wären – Zitat –
        „eine Rolle rückwärts in der Steuerpolitik der Großen
        Koalition“. Die Rolle rückwärts ist nur viel dramati-
        scher. Ich finde es bedauerlich, dass dieser Punkt in der
        Diskussion leider auch in dem Papier der SPD-Linken,
        nur am Rande angesprochen wird.
        Für die FDP gibt es überhaupt keine Steuerausfallrisi-
        ken. Voraussetzung sei die Übernahme der Regelungen
        anderer Länder, heißt es im Antrag. Dass in Frankreich
        die mit der REITs-Einführung eingetretenen Steuermin-
        dereinahmen ein Problem waren, nehmen Sie einfach
        nicht zur Kenntnis. Die Union hofft einfach nur, dass es
        keine geben wird.
        Aber die SPD und der Bundesfinanzminister sollten
        eigentlich gebranntes Kind sein. Erinnern Sie sich nicht
        mehr an Ihre katastrophalen Fehlprognosen bezüglich zu
        erwartenden Steuermindereinnahmen aus dem Jahr
        2000? Wollen Sie wirklich den Menschen im Lande klar
        machen, der Allianz erneut ein Steuergeschenk in Mil-
        liardenhöhe zu machen und zugleich den Menschen er-
        neut bei den Ausgaben für Gesundheit und bei den So-
        zialleistungen in die Tasche zu greifen? Ich kann es noch
        nicht glauben, dass nach all den bereits durchgesetzten
        Zumutungen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
        ten so etwas noch mitmachen können!
        Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie bei diesem
        Problem etwas mehr Gehirnschmalz verwenden würden,
        damit wir im Ausschuss eine Diskussion mit hinreichen-
        dem Sachverstand führen können.
        Ich will zum Schluss nicht versäumen, ganz kurz wei-
        tere Risiken aufzählen:
        Erstens. Sie können und dürfen es nicht zulassen, dass
        mit REITS faktisch ein in meinen Augen nicht zulässi-
        ges Sonderrecht für Kapitalgesellschaften im Woh-
        nungssektor geschaffen wird. Der Grundsatz des BMF
        der rechtsformneutralen Unternehmensteuerreform wird
        mit REITs unterlaufen.
        Zweitens. Die Befreiung von Gewerbe- und Grund-
        steuer führt zu Mindereinnahmen bei den Kommunen.
        Drittens. Die SPD-Linke hat völlig recht: „Die Stand-
        ortbindung deutscher Unternehmen würde gelockert.“
        Trotz aller Kniefälle der deutschen Steuergesetzgebung:
        REITs würden ihren Firmensitz – wie schon jetzt die
        Hedgefonds – natürlich vornehmlich in Steueroasen le-
        gen.
        Viertens. Die Steuerflucht schaffen Sie auch nicht mit
        der Höchstbeteiligungsgrenze von 10 Prozent nach dem
        britischen Muster aus der Welt, Sie begrenzen Sie nur.
        Fünftens. Ganz abgesehen von Auswirkungen auf den
        Mietwohnungssektor, der bekanntlich in Deutschland in-
        ternational betrachtet weit größeres Gewicht hat, ganz
        abgesehen von dem deutlich schwächeren Mietrecht bei
        Wegfall der Gemeinnützigkeit: Ich frage Sie: Wollen Sie
        tatsächlich mit Hilfe der REITS diesen Sektor den
        Pensionsfonds und insbesondere des US-Pensionsfonds
        übereignen? Ich zitierte Norbert Blüm: Von
        112 000 Pensionskassen in den USA existieren heute
        noch 32 000! Sie kennen die Probleme mit den Pen-
        sionsfonds bei GM, Ford usw. Wir sollten uns in diesem
        Hause genauer mit den Risiken auf dem internationalen
        Finanzmärkten beschäftigten, denen die Wohnungs-
        märkte mit REITs ausgeliefert würden.
        Sechstens. Vergessen Sie bitte nicht die weltweit
        deutlich gestiegenen Gefahren von Immobilienblasen,
        deren Konsequenzen bei einer massiven Einführung von
        REITs überhaupt nicht geklärt sind.
        Anlage 23
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Stadtentwicklung ist moderne Struk-
        tur- und Wirtschaftspolitik (Tagesordnungs-
        punkt 22)
        Peter Götz (CDU/CSU): Stadtentwicklung ist ein
        dynamischer Prozess. Der wirtschaftliche und demogra-
        fische Wandel, aber auch Wanderungsbewegungen stell-
        ten die Städte schon immer vor neue Herausforderungen –
        in Ost und West, in Nord und Süd. Wie wir unsere Städte
        planen und organisieren, ist für die Lebensqualität vieler
        Menschen entscheidend. Innovation, Wachstum und Be-
        schäftigung sind der Motor für die Entwicklung unserer
        Städte und Ballungsräume. Mit ihrer Wirtschaftskraft
        – aber auch mit ihrem kulturellen Angebot – strahlen die
        Städte auf den sie umgebenden ländlichen Raum aus.
        Um diese für die Standortqualität und die Wettbewerbs-
        position Deutschlands wichtige Funktion zu stärken, hat
        sich das Leitbild einer nachhaltigen Stadt durchgesetzt.
        Es verfolgt das Ziel, innovative, flexible und ausgewo-
        gene Lösungen für die wirtschaftlichen, sozialen und
        umweltbezogenen Herausforderungen zu schaffen. Die-
        ser Dreiklang der lokalen Agenda 21, den die Vereinten
        Nationen global unterstützen, und die vor zehn Jahren
        auf dem Weltstädtegipfel der Vereinten Nationen verab-
        schiedete Habitat-Agenda helfen, einseitige negative
        Entwicklungen und Monostrukturen zu vermeiden.
        Um auf Dauer eine gute Infrastruktur und ein qualitati-
        ves Wohnumfeld vorhalten zu können, brauchen wir
        starke Kommunen. Wir brauchen Städte und Gemeinden,
        die eigenverantwortlich im Rahmen ihrer Planungshoheit
        und Finanzautonomie ihre Aufgaben wahrnehmen. Ich
        hoffe, dass es gelingt, im Rahmen der anstehenden Un-
        ternehmensteuerreform die davon betroffenen Kommu-
        nalfinanzen nachhaltig auf eine stabile und solide Basis
        zu stellen.
        4188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Auch die Föderalismusreform wird die kommunale
        Selbstverwaltung deutlich stärken. Die vielen kommuna-
        len Amts- und Mandatsträger erhalten durch diese Re-
        form eine noch größere Eigenverantwortung. Zusammen
        mit bürgerschaftlichen Initiativen und regionalen Unter-
        nehmen sind sie die wichtigen Akteure einer Stadt.
        Wenn Bundespräsident Köhler beim Festakt aus An-
        lass des hundertjährigen Bestehens des Deutschen Städ-
        tetages vor einem Jahr in Berlin unter anderem sagte,
        – ich zitiere –: „Und ich wünsche mir auch, dass in ihren
        Parteien die Kommunalpolitiker ihre Stimme noch viel
        stärker zur Geltung bringen“, so macht dies sehr deut-
        lich, dass Politik für und nicht gegen Kommunen ein
        starkes Glied in der Kette vieler notwendiger Entschei-
        dungen ist. Deshalb ist es auch richtig, dass Bund, Län-
        der und Gemeinden gemeinsam auf der Grundlage des
        Subsidiaritätsprinzips wichtige Stadtentwicklungspro-
        jekte fördern. Die Bund-Länder-Programme zur Städte-
        bauförderung helfen den Kommunen zurzeit, in über
        1 700 Stadtquartieren dringende Investitionen in die In-
        frastruktur und die Modernisierung der Gebäude in Gang
        zu bringen. Städte, die in besonderem Maße von wirt-
        schaftlichem Strukturwandel, von Arbeitslosigkeit,
        Wohnungsleerstand, Zu- oder Abwanderung betroffen
        sind, können so stabilisiert und aktiviert werden.
        Auch die Europäische Union tritt für eine Entwick-
        lung integrierter Konzepte einer nachhaltigen Stadtent-
        wicklung ein, damit die Städte ihren Beitrag zu Wachs-
        tum und Beschäftigung leisten können. Deshalb greift
        unser Antrag die mit der neuen EU-Förderperiode 2007
        bis 2013 geschaffene Möglichkeit der Städtebauförde-
        rung mit EU-Strukturfondsmittel ab 2007 auf. Die städti-
        sche Dimension zu stärken, ist der richtige Ansatz. Be-
        sonders wichtig ist uns dabei die Beachtung des
        Subsidiaritätsprinzips.
        Ziel muss sein, durch integrierte und partnerschaftli-
        che Prozesse die Attraktivität der Städte zu verbessern
        und dabei Innovationen, unternehmerische Initiativen
        und die Wirtschaft zu unterstützen, um so mehr und bes-
        sere Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Die Länder soll-
        ten diese Ziele bei der Ausgestaltung ihrer Förderpro-
        gramme in breitem Umfang berücksichtigen. Die
        Stadtentwicklung als Querschnittsaufgabe zu profilieren
        bietet die Chance, bisher unabhängig voneinander ange-
        wandte Förderstrategien besser miteinander zu verzah-
        nen. Unabhängig vom Förderaspekt können wir die
        Innenentwicklung der Städte und Gemeinden auch da-
        durch stärken, dass wir das Bau- und Planungsrecht wei-
        ter vereinfachen und beschleunigen. Das hat sich die Ko-
        alition vorgenommen und das wird sie auch realisieren.
        Flächenpotenziale sind durch Wiedernutzung und Nach-
        verdichtung besser auszuschöpfen. Die Nutzung von
        Industrie-, Bahn- oder Konversionsbrachen ist anstren-
        gender als das Bauen auf der grünen Wiese. Aus ökolo-
        gischen und ökonomischen Gründen ist dies trotz der
        größeren Anstrengung langfristig der bessere Weg. Wir
        sollten alle verstärkt darauf hinwirken.
        Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen, das
        mit diesem Antrag verdeutlicht werden soll. Eine der
        wichtigsten Säulen der nachhaltigen Stadtentwicklung
        stellt zunehmend die soziale Integration dar, insbeson-
        dere dann, wenn sich soziale Problemlagen in einzelnen
        Stadtquartieren durch einen hohen Migrantenanteil oder
        einen hohen Anteil an Langzeitarbeitslose und jugendli-
        chen Arbeitslosen konzentrieren. Außerdem muss die
        soziale Eingliederung von benachteiligten Personen so-
        wie Schulabbrechern oder Schulverweigerern durch ge-
        zielte Maßnahmen gefördert werden, um deren Chancen
        auf Beschäftigung zu erhöhen. Das aus Mitteln des
        Europäischen Sozialfonds, ESF, finanzierte Programm
        „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ (LOS) hat sich da-
        bei besonders bewährt. Wir wollen, dass das künftige
        ESF-Bundesprogramm dort anknüpft und den Erforder-
        nissen einer nachhaltigen europäischen Stadtentwick-
        lung durch eine eigene Handlungspriorität im Programm
        Rechnung trägt. Damit realisieren wir auch das Vorha-
        ben der Koalition, den ressortübergreifenden Ansatz des
        Programms „Soziale Stadt“ zu stärken.
        Abschließend habe ich eine Bitte an die Bundesregie-
        rung. Ich bitte Sie, die deutsche Ratspräsidentschaft in
        der Europäischen Union im nächsten Jahr zu nutzen, um
        das Thema Stadt als wichtiges Zukunftsthema national,
        aber auch international prioritär auf die politische
        Agenda zu setzen. Die in Deutschland entwickelten Lö-
        sungen für eine nachhaltige, integrierte Stadtentwick-
        lung können dazu ein guter Beitrag sein. Die Auseinan-
        dersetzung mit der Entwicklung unserer Städte, ihren
        großen Problemen, aber auch mit den dort liegenden
        Potenzialen lohnt sich: Deutschland mit seinen Städten
        und Regionen hat viel zu bieten. Die Erwartungshaltung
        vieler Länder an uns ist sehr hoch. Wir sollten unser
        Licht nicht unter den Scheffel stellen und dieser Erwar-
        tung gerecht werden.
        Petra Weis (SPD): Dass der Antrag „Stadtentwick-
        lung ist moderne Struktur- und Wirtschaftspolitik“ erst
        zu so später Stunde behandelt wird, hat hoffentlich nicht
        zur Folge, dass die Bedeutung des Themas für die wirt-
        schaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in unseren
        Städten in den kommenden Jahren – und Jahrzehnten –
        gering geschätzt wird. Das Gegenteil ist nämlich der
        Fall: Die Stadtentwicklungspolitik, die seit dem Ende
        der neunziger Jahre neu und zukunftsweisend zugleich
        ausgerichtet worden ist, erhält im Zeichen der wirt-
        schaftlichen, sozialen und technologischen Entwicklung
        – ich könnte statt Entwicklung auch Wettbewerb, besser
        noch Standortwettbewerb sagen – eine weitergehende
        Qualität.
        Mit dem Leitbild der nachhaltigen Stadtentwicklung
        und dem Ziel der Erarbeitung und Umsetzung innovati-
        ver und flexibler Lösungen für vielschichtige ökonomi-
        sche, soziale und ökologische Problemlagen erfüllt die
        deutsche Politik zur Stadtentwicklung einen herausra-
        genden Beitrag im Rahmen der Lissabonstrategie. Ob
        unsere Städte und Regionen für Investitionen und damit
        für Arbeitsplätze attraktiv sind, darüber entscheiden
        auch die Wachstumspotenziale in unseren Städten und
        der politische Wille, diese Potenziale zur Entfaltung zu
        bringen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4189
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mit diesem Profil liegt die Politik der Bundesregie-
        rung ganz auf der Linie der Europäischen Union, die in-
        tegrierte Konzepte nachhaltiger Stadtentwicklungspoli-
        tik unterstützt und einfordert. Sie liegt auch ganz auf der
        Linie der strategischen Ausrichtung der Europäischen
        Kommission, die die Stärkung der städtischen Dimen-
        sion im Rahmen der Kohäsionspolitik und der Struktur-
        fonds in der nächsten Förderperiode von 2007 bis 2013
        auf ihrer Agenda ganz weit oben platziert hat.
        Die im Rahmen des Europäischen Fonds für regionale
        Entwicklung vorgesehenen Fördermöglichkeiten sind
        dazu geeignet, von den Bundesländern im Zuge der Er-
        arbeitung ihrer operationellen Programme im Rahmen
        der Förderpolitik in den Städten offensiv und intensiv
        genutzt zu werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft im
        kommenden Jahr muss und wird also auch dazu dienen,
        die Impulse nach und von Europa gegenseitig zu verstär-
        ken.
        Daneben müssen wir uns in der Fortentwicklung un-
        serer Politik auf die Bewältigung der Herausforderungen
        konzentrieren, denen sich die Städte im Zuge des demo-
        grafischen Wandels ausgesetzt sehen. Es hat nichts mit
        Schwarzmalerei zu tun, wenn wir zur Kenntnis nehmen,
        dass Strukturwandel und Veränderung der Bevölke-
        rungsstruktur in den Städten dazu führen, dass sich Pro-
        blemlagen der modernen Gesellschaft in den Städten und
        hier insbesondere in bestimmten Quartieren konzentrie-
        ren. Die wohlbekannten Stichworte lauten brachliegende
        Flächen, Wohnungsleerstand, wirtschaftliche und soziale
        Benachteiligung, unzureichende Integration von Mig-
        rantinnen und Migranten, um nur einige zu nennen.
        Die Städte müssen in diesem schwierigen und gewiss
        langwierigen, aber durchaus chancenreichen Prozess ge-
        zielt unterstützt werden, bei der Anpassung der techni-
        schen und sozialen Infrastruktur, bei der Attraktivierung
        von Quartieren für junge Familien und ältere Menschen
        gleichermaßen, beim Ansiedeln neuer Unternehmen, bei
        der Nutzung von Brachflächen – auch als Beitrag zur
        Reduzierung des Flächenverbrauchs – und bei vielem
        anderen mehr.
        Ein besonderes Augenmerk muss in den kommenden
        Jahren auf die soziale Integration auch von Migrantinnen
        und Migranten gelegt werden. Das sage ich nicht nur,
        aber auch im Vorfeld des für den 14. Juli geplanten Inte-
        grationsgipfels im Kanzleramt. Dass Stadtentwicklung
        einen wichtigen Beitrag zur Integration leistet, ist unbe-
        stritten. Ebenso unbestritten ist die Notwendigkeit der
        stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit auf diesem
        Feld.
        Deshalb ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass
        die Aufstockung der Mittel für das Programm „Soziale
        Stadt“ um 40 Millionen auf 110 Millionen Euro ein
        ebenso bedeutendes Zeichen ist wie die Möglichkeit, die
        Mittel zukünftig auch für Zwecke verwenden zu können,
        die sich auf die Stärkung der Kompetenzen der Betroffe-
        nen in den Bereichen Bildung und Sprachförderung,
        aber natürlich auch in den Bereichen Ausbildung und
        Beschäftigung richten.
        Ein wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung
        ist es, Stadtentwicklungspolitik national wie europäisch
        als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe zu be-
        schreiben und zu betreiben. In den Stadtquartieren mani-
        festieren sich die vielfältigen Problemlagen für die Be-
        troffenen zuerst, aber hier werden die Erfolge der
        Politik, die ohne ein entsprechendes bürgerschaftliches
        Engagement nicht denkbar und vor allem nicht nachhal-
        tig wären, auch zuerst erkennbar und erlebbar.
        Bund, Länder und Kommunen sind also gemeinsam
        aufgefordert, nachhaltige Konzepte zur Stadtentwick-
        lung zu entwickeln und engagiert und konsequent umzu-
        setzen. Das weist der städtebauliche Bericht der Bundes-
        regierung aus dem Jahr 2004 unübersehbar aus. Es war
        daher auch eine Motivation für diesen Antrag der Koali-
        tionsfraktionen, den Gemeinschaftscharakter, der ideal-
        wie realtypisch stets durch einen „gemeinschaftlichen
        Geist“ ergänzt werden sollte, gerade auch in seiner
        Struktur- und gesellschaftspolitischen Relevanz noch
        einmal deutlich herauszustellen.
        Die Städtebauförderung bleibt auch nach der Verab-
        schiedung der Föderalismusreform eine gesamtstaatliche
        Aufgabe. Das ist ausgesprochen gut so. Attraktive In-
        nenstädte als Anziehungspunkt für Menschen aus allen
        Generationen, eine stadtverträgliche Mobilität im Zei-
        chen notwendiger Ressourceneffizienz, Stärkung der
        zentralen Versorgungsbereiche, Stärkung neuer Formen
        der Selbstorganisation wie Business Improvement Dis-
        tricts, Housing Improvements Districts und Immobilien-
        und Standortgemeinschaften, Verbesserung von Be-
        schäftigungsmöglichkeiten auch durch Stärkung der lo-
        kalen Ökonomie – unter Einbeziehung der Migranten-
        ökonomie, deren Potenzial übrigens noch lange nicht
        ausgeschöpft ist: All das wird nur gelingen, wenn die be-
        teiligten Ebenen zielgerichtet und effizient zusammenar-
        beiten. Stadtentwicklung ist in diesem Sinne voraus-
        schauende und präventive Gesellschaftspolitik und nicht
        allein Reparaturbetrieb für ökonomische, soziale und
        kulturelle Verwerfungen.
        Die bisher erzielten Erfolge sind beispielgebend auch
        für vergleichbare Regionen in Europa. Daher gehen wir
        mit Gewissheit davon aus, dass die Bundesregierung die
        deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr des
        kommenden Jahres dazu nutzt, unter Einbeziehung der
        Habitat-Agenda die bei uns entwickelten Lösungsan-
        sätze für eine nachhaltige und integrative Stadtentwick-
        lung als Beitrag für die Lissabonstrategie in die Arbeit
        der Europäischen Union einzubringen.
        Im Mai des nächsten Jahres werden die zuständigen
        Ministerinnen und Minister im Rahmen der deutschen
        Ratspräsidentschaft in Leipzig tagen. Geplant ist eine
        Leipzigcharta zur nachhaltigen europäischen Stadt als
        Beitrag zur Lissabonstrategie. Im Rahmen der zu erwar-
        tenden Beratungen werden die Forderungen unseres An-
        trags hoffentlich eine Rolle spielen, wenn nicht gar
        schon Früchte tragen.
        Das Thema wird uns also so oder so erhalten bleiben.
        Ich freue mich auf die kommenden Debatten im nationa-
        len und europäischen Rahmen und hoffe auf eine mög-
        lichst breite Zustimmung zu unserem Antrag.
        4190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Patrick Döring (FDP): In einem bin ich mit den Ab-
        geordneten der Koalition vollkommen einig: Die Ent-
        wicklung unserer Städte, vor allem die rechtzeitige Re-
        aktion auf die demografische Entwicklung, ist eine
        wichtige Zukunftsaufgabe. Vielleicht eine der wichtigs-
        ten.
        Denn Städte sind seit jeher Zentren der Entwicklung
        unserer Gesellschaft – wirtschaftlich, sozial, wissen-
        schaftlich und technologisch. Zugleich konzentrieren
        sich in Städten und Metropolregionen auch die Probleme
        unserer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit, Migration, demo-
        grafischer Wandel – in unseren Städten sind das keine
        Schlagworte, das ist die Wirklichkeit. Hier entscheidet
        sich tagtäglich, in was für einer Gesellschaft wir in Zu-
        kunft leben werden.
        Eine liberale und demokratische Gesellschaft ist in
        Gefahr, wenn ich einmal kurz grundsätzlich werden darf,
        wenn zwischen gesellschaftlichen Gruppen Grenzen ge-
        zogen werden. Das gilt für die Entwicklung unserer
        Städte im wahrsten Sinne des Wortes: Die Meldungen
        dieser Tage aus Neukölln und Kreuzberg führen uns nur
        zu deutlich vor Augen, wohin Aus- und Abgrenzung
        führt. Wo die Hoffnung stirbt, da stirbt auch die demo-
        kratische Kultur – da fliegen bald nicht mehr die Worte
        in einer hitzigen Debatte, sondern Molotowcocktails.
        Schauen Sie nur nach Frankreich!
        Das Thema Stadtentwicklung gehört daher in seiner
        ganzen Breite auf die politische Agenda. Wirtschafts-,
        Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, Bildung und For-
        schung, Raumplanung, soziale Einrichtungen – um nur
        einige zentrale Aspekte zu nennen.
        In dieser Hinsicht geht die Koalition mit diesem An-
        trag einen ersten Schritt eines langen Weges. Ich befür-
        worte viele der einzelnen Forderungen, die von den ge-
        schätzten Kollegen Götz und Weis erhoben werden.
        Doch ich vermisse den Mut und die Entschlossenheit,
        der Regierung mit einem integrierten und nachhaltigen
        Gesamtkonzept entschieden die richtige Richtung zu
        weisen. Zum Teil nehmen Sie hier bloß bekannte Vorha-
        ben des Ministers vorweg. Wo klare Vorgaben gefragt
        wären, etwa zur Bedeutung bereichsübergreifender Kon-
        zepte, da scheuen Sie die Festlegung.
        Um die Zukunft unserer Städte zu sichern, braucht es
        jedoch mehr als punktuelle Maßnahmen; es braucht ein
        integriertes Konzept, das die verschiedenen politischen
        und thematischen Ebenen verknüpft. Insbesondere darf
        Stadtentwicklung nicht isoliert, sondern muss auch im
        regionalen und überregionalen Zusammenhang betrach-
        tet werden. Um zu einer ausgewogenen Entwicklung zu
        kommen, braucht es strategische Allianzen von Stadt
        und Region und eine Vernetzung der Städte untereinan-
        der. So aktivieren wir die Potenziale der Städte und des
        Umlandes. Ohne die regionale Einbettung der Stadtent-
        wicklung ist diese Politik unvollständig, ja womöglich
        schädlich.
        Durch den Stadtumbau Ost konnte der ostdeutsche
        Wohnungsmarkt wieder stabilisiert werden. Aber Stabi-
        lisierung ist nur das eine: Um eine positive Dynamik in
        Gang zu setzen, müssen wir die Attraktivität der Zentren
        erhöhen. Dafür gilt es, die vorhandenen Ressourcen
        sinnvoll und kreativ einzusetzen. Aus dem Abrisspro-
        gramm Ost muss tatsächlich ein Umbauprogramm wer-
        den! Zum jetzigen Zeitpunkt aber werden über 60 Pro-
        zent der Mittel nur in den so genannten Rückbau
        investiert. Hier ist es an der Zeit, umzusteuern. Denn um
        unsere Städte auf die Herausforderungen der Zukunft
        vorzubereiten – eine alternde Bevölkerung, Integrations-
        herausforderungen und eine wachsende Vielfalt der Le-
        bensentwürfe – müssen wir jetzt handeln.
        Und auch in den westdeutschen Städten müssen wir
        wieder nachhaltig die Bedeutung einer gesunden Zentra-
        lität in den Fokus unserer politischen Instrumente rü-
        cken – einkaufen, arbeiten, wohnen und leben sollen die
        Bürger auch wieder im Zentrum der Städte.
        Die lebens- und liebenswerte Stadt werden wir ge-
        meinsam politisch nicht per Beschluss schaffen können.
        Aber die europäischen und bundespolitischen Instru-
        mente müssen den Kommunalpolitikern und Handeln-
        den in unseren Städten helfen, die bestehenden und auf-
        kommenden Probleme zu lösen.
        Die Entwicklung unserer Städte ist eben eine Heraus-
        forderung, die sich nicht mit ein paar kleinen Drehungen
        an zwei oder drei Stellschrauben bewältigen lässt. Das
        ganze System muss überprüft und neu gedacht werden.
        Vor diesem Hintergrund wird der Antrag der Regie-
        rungsfraktionen wohl wenig schaden – die Forderungen
        sind für sich genommen zumeist vollkommen richtig.
        Doch Neues bewirken wird man mit diesem Papier ohne
        Mut und Visionen ebenso wenig.
        Ich biete für die FDP-Fraktion an, dass wir gemein-
        sam die Schwerpunkte der weiteren Stadtentwicklungs-
        politik festlegen, wir rechtzeitig mit dem Bundesminis-
        ter die Schwerpunkte der Ratspräsidentschaft zu diesem
        wichtigen europäischen Thema definieren und überle-
        gen, unter welchen Bedingungen wir weitere und neue
        Fördermittel einsetzen.
        Der erste Bundespräsident Theodor Heuss hat einmal
        gesagt: „Ohne Städte ist kein Staat zu machen“. In die-
        sem Sinne können wir diesem Antrag unsere Unterstüt-
        zung gewähren.
        Heidrun Bluhm (Die LINKE): Stadtentwicklung ist
        ein permanenter Prozess. Städte befinden sich ständig im
        Wandel. Der demografische Wandel und der damit ein-
        hergehende Strukturwandel kamen nicht über Nacht.
        Dass der Koloss der großen Koalition in einem Akt der
        Selbstmotivation nunmehr der Stadtentwicklung als mo-
        derner Struktur- und Wirtschaftspolitik seine Aufmerk-
        samkeit schenkt, ist also längst überfällig. Die Forderun-
        gen an die Bundesregierung im Antrag enthalten dabei
        keine Neuigkeiten, sondern empfehlen lediglich, zur
        Kenntnis zu nehmen, was seit Jahren auf diesem Gebiet
        im Angebot ist. Die Politik der Bundesregierung wirft
        allerdings auch Fragen nach den Erfolgschancen der im
        vorliegenden Antrag formulierten Ziele auf.
        In ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,
        innovative Modellvorhaben für den familien- und alten-
        gerechten Umbau von Stadtquartieren und städtischer
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4191
        (A) (C)
        (B) (D)
        Infrastruktur zu entwickeln, die zentralen Versorgungs-
        bereiche der Städte und Gemeinden im Interesse einer
        verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung zu stär-
        ken und die Träger der technischen und sozialen Infra-
        struktur in die Erstellung städtebaulicher Stadtentwick-
        lungskonzepte einzubinden. Alles richtig.
        Aber mit wem wollen Sie diese Aufgaben lösen? Eine
        Ihrer Kernaussagen im Antrag bezieht sich auf die Auf-
        gaben und die hohe Verantwortung der kommunalen
        Amts- und Mandatsträger. Diese Sicht teilen wir. Dann
        müssen allerdings auch die politischen Konsequenzen
        klar sein. Und dieser Ansatz fehlt sowohl im Antrag als
        auch in Ihrer bisherigen Politik. Die kommunalen Amts-
        und Mandatsträger brauchen eine finanzielle Grundlage,
        um die ihnen zugedachte Verantwortung wahrnehmen zu
        können. Tatsächlich sind aber heute viele Kommunen
        wegen fehlender Haushaltsmittel nicht mehr in der Lage,
        Fördermittel wegen des fehlenden Eigenanteils abzuru-
        fen oder integrierte Stadtentwicklungskonzepte zu finan-
        zieren. Auch deshalb fordern wir an dieser Stelle erneut
        die Einführung einer kommunalen Investitionspau-
        schale.
        Die kommunalen Amts- und Mandatsträger sollen
        den Prozess des Strukturwandels steuern. Mit der
        scheinbar zwanghaften Privatisierung kommunalen Ei-
        gentums entziehen sie sich dafür selbst die Handlungs-
        grundlage. Der Wandel der Eigentumsformen und die
        damit eng in Zusammenhang stehende Diskussion um
        die öffentliche Daseinsvorsorge geraten hier in einen
        schwer auflösbaren Widerspruch. Der Bund selbst geht
        in dieser Frage sogar mit schlechtem Beispiel voran und
        verkauft seine Wohnungsbestände meistbietend, egal an
        wen. Eine ehemals kommunale Wohnungsgesellschaft,
        die gerade an einen transatlantischen REIT verkauft
        wurde, wird mit Sicherheit nicht ernsthaft darüber nach-
        denken, die Bestände im Rahmen des Stadtumbaupro-
        gramms zurückzubauen, sondern wird nach reinen Kapi-
        talverwertungskriterien mit ihrem Bestand verfahren.
        Großen Handlungsbedarf gibt es nach wie vor in Ost-
        deutschland – als Beispiel nenne ich die Altschulden-
        hilfe.
        CDU, CSU und FDP, haben die ostdeutschen Woh-
        nungsunternehmen durch ihre Politik Anfang der 90er-
        Jahre mit fiktiven Altschulden belastet, um sie anschlie-
        ßend mit teuren Förderprogrammen wieder zu sanieren.
        Deshalb wiederholen wir regelmäßig unsere Forderung:
        Retten Sie die ostdeutschen Wohnungsunternehmen!
        Streichen Sie den Wohnungsunternehmen die Altschul-
        den! Mindestens diese Forderung gehört in Ihren Antrag.
        Meine Damen und Herren Großkoalitionäre, ich
        stimme Ihnen zu, dass die soziale Integration eine der
        wichtigsten Säulen einer nachhaltigen Stadtentwick-
        lungspolitik ist. Das Problem ist nur, dass soziale Inte-
        gration diesen Stellenwert in Ihrer Politik gar nicht hat.
        Wir sagen: Integration muss am Anfang stehen. In
        Deutschland steht sie am Ende der Handlungskette. In
        Deutschland begreift man Integration allzu oft als ein
        notweniges Übel, dem man sich erst widmen muss,
        wenn die Probleme in den Städten nicht mehr zu überse-
        hen und das Kind sprichwörtlich schon in den Brunnen
        gefallen ist.
        Das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt konnte die
        schwierigen Verhältnisse in den sozialen Brennpunkten
        der Städte bisher nicht nachhaltig verändern. Die Förder-
        programme zur Linderung von Fehlentwicklungen Ihrer
        bisherigen Integrationspolitik wie zum Beispiel „Loka-
        les Kapital für soziale Zwecke“ aus dem Europäischen
        Sozialfond sind wichtig, eignen sich aber nur für Repa-
        raturmaßnahmen. Soziale Probleme haben ihre Ursache
        aber in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese gilt
        es zu beleuchten!
        Einen dritten Punkt möchte ich benennen: Der Antrag
        ist in seiner Zielsetzung zu sehr auf die Stadt fixiert. Der
        ländliche Raum wird kaum tangiert. Die Städte als Zen-
        tren der Regionen werden zu wenig behandelt. Allein
        darauf zu setzen, dass die Städte mit ihrer Wirtschafts-
        kraft auf den sie umgebenden ländlichen Raum ausstrah-
        len werden, reicht nicht aus. Da in dieser Frage offenbar
        Clusterpolitik betrieben wird, müssen Sie sich fragen
        lassen, wann Sie sich dem ländlichen Raum mit einer
        ähnlichen Initiative widmen wollen. Wir sind sehr ge-
        spannt.
        Mit der Lissabon-Strategie will die EU im Rahmen
        des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein
        Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologi-
        schen Fortschritt in der Welt sein. Wir stimmen dem An-
        trag zu, um sie genau daran zu messen.
        Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        freue mich durchaus, dass die Koalition und insbeson-
        dere die CDU/CSU einen Antrag vorgelegt hat, der sich
        für die Förderung der Städte ausspricht und nicht mehr
        nur für das Eigenheim auf der grünen Wiese! Nach jah-
        relangem Streit um die Eigenheimzulage, der ja glückli-
        cherweise der Vergangenheit angehört, hat die CDU/
        CSU endlich akzeptiert, dass Finanzmittel für die Stadt-
        entwicklung sinnvolle Investitionen mit einem hohen
        Multiplikatoreffekt sind.
        Die Stadtentwicklung ist ein wichtiger Motor für die
        Standortentwicklung und damit für die Wirtschaft vor
        Ort. Bündnis 90/Die Grünen haben sich lange dafür ein-
        gesetzt, dass die frei werdenden Mittel aus der Eigen-
        heimzulage zu einem Teil in die Stadtentwicklung flie-
        ßen sollten. Diese Chance wurde zwar von der großen
        Koalition leider vertan, aber immerhin wurden die Städ-
        tebaufördermittel nicht reduziert.
        Bei der Stadtentwicklung gibt es eigentlich keinen be-
        deutenden Dissens zwischen der großen Koalition und
        Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag der großen Koali-
        tion zielt auf das Leitbild einer nachhaltigen Stadtent-
        wicklung. Dafür stehen wir selbstverständlich auch ein.
        Ich begrüße ausdrücklich den gelungenen Antragsteil
        bezüglich der Förderung der Städte. Er spricht ganz we-
        sentliche Punkte an und macht sinnvolle Vorschläge.
        Aber er geht uns insgesamt noch nicht weit genug. Wir
        unterstützen die Forderung, dass im Rahmen der deut-
        schen EU-Ratspräsidentschaft 2007 die in Deutschland
        entwickelten Lösungen für eine nachhaltige, integrative
        4192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Stadtentwicklung einzubringen seien. Ebenso unterstüt-
        zen wir die Erprobung von Modellen, in denen arbeits-
        marktpolitische Leistungen in Entwicklungsstrategien
        für Stadtquartiere integriert werden können.
        Wir fordern jedoch, dass neue Konzepte zur stadtver-
        träglichen Mobilität entwickelt werden müssen. Hier
        wird von Ihnen eines der urgrünen Themen aufgegriffen.
        Und es besteht ganz konkreter Handlungsbedarf, zum
        Beispiel was die Feinstaubproblematik in den Städten
        anbelangt. Hier bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit
        gerne an.
        Das Ziel, die Lebensqualität in den großen Städten zu
        verbessern, kommt uns aber zu kurz. Es fehlen Konzepte
        für eine kinderfreundliche und gesunde und umweltbe-
        wusste Stadtentwicklung.
        Auch muss das Thema CO2-Reduzierung eine wichti-
        gere Rolle einnehmen. Deshalb möchte ich meinen Un-
        mut darüber kundtun, dass zu Beginn des Jahres zwar die
        Mittel für die KfW-CO2-Programme erheblich aufge-
        stockt wurden, aber seit dieser Zeit die Konditionen und
        Anforderungen erheblich verschlechtert wurden. Das ist
        nicht nur kurzatmige Politik, sondern beinahe schon un-
        seriös und zudem kurzsichtig. Die Umweltbelastungen in
        unseren Städten sind erheblich, die CO2-Reduzierung
        wäre ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des Klimas.
        Die hohe Nachfrage nach den Programmen zeigt doch,
        dass dadurch eine positive Entwicklung in Gang gesetzt
        werden konnte, die es nachhaltig zu unterstützen gilt. In
        den nächsten Jahren muss ein großer Teil der Immmobi-
        lien modernisiert werden. Daher wäre es sinnvoll, dass
        dann gleichzeitig auch eine energetische Gebäudesanie-
        rung durchgeführt wird. Sie verlangt Fachkompetenz und
        sichert dadurch qualifizierte Arbeitsplätze gerade bei
        klein- und mittelständischen Unternehmen. Ich fordere
        daher die große Koalition auf, die Mittel für die CO2-Pro-
        gramme gegebenenfalls noch weiter aufzustocken.
        Und da wir schon beim Thema Energie sind, kann ich
        es mir nicht verkneifen, noch ein paar Worte über den
        Energieausweis zu verlieren. Ja, wann kommt er denn
        endlich, der große Entwurf zur EnEV 2006? Im April
        haben die Minister Tiefensee und Glos das Optionsrecht,
        also die freie Wahl zwischen Verbrauchs- und Bedarfs-
        ausweis, als ein tolles Ergebnis verkündet. Letzten Mo-
        nat hat sich jedoch Minister Gabriel mit einer Absage an
        den Verbrauchsausweis zu Wort gemeldet. Gerade vor
        dem Hintergrund der energetischen Gebäudesanierung
        ist die vorgeschlagene einseitige Empfehlung aus-
        schließlich auf der Grundlage des Verbauchsausweises
        nicht zu verantworten. Ich hoffe, dass der Entwurf zur
        EnEV 2006 bald vorgelegt wird und wir endlich in einen
        Diskussionsprozess eintreten können.
        Zu guter Letzt nochmals zurück zu dem vorliegenden
        Antrag. Auch in Bezug auf den demografischen Wandel
        geht uns der Antrag nicht weit genug. Es müssen neue
        Strategien zur nachhaltigen Raumentwicklung entwi-
        ckelt werden und die Stadtumbauprogramme müssen da-
        her schon jetzt weiterentwickelt werden. Dazu gehört,
        dass Konzepte zur besseren Integration in den Städten
        vorangetrieben werden. Auch das Thema „Reduzierung
        des Flächenverbrauchs“ – auch und gerade vor dem Hin-
        tergrund des demografischen Wandels – kommt zu kurz
        bzw. fehlt ganz.
        Und zu dem kürzlich vorgelegten Gesetzentwurf zur
        „Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenent-
        wicklung der Städte“ sei nur gesagt, dass damit ein wei-
        teres Instrument geschaffen werden soll, mit dem die
        Bürger aus der Planung herausgehalten und in ihren Mit-
        wirkungsrechten eingeschränkt werden sollen. Und dann
        schlägt der Gesetzentwurf auch noch eine Aussetzung
        der Umweltprüfung vor. Sie schwächen damit zwei der
        wichtigsten Punkte, mit denen die Innenstädte gestärkt
        werden können: erstens aktive Stadtbürger, die durch ihr
        Engagement die Potenziale der Städte steigern, zweitens
        ein gesundes Umfeld, das das Lebensumfeld der Stadt-
        bewohner nachhaltig verbessert.
        Ihr Antrag geht durchaus in die richtige Richtung,
        aber es fehlen jedoch noch wichtige Punkte. Darüber
        werden wir auch in Zukunft zu diskutieren haben.
        Anlage 24
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset-
        zes zur Änderung des Bundesnaturschutzgeset-
        zes (Urwaldschutzgesetz) (Tagesordnungs-
        punkt 21)
        Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Ich freue
        mich über Ihren Gesetzentwurf. Dieser Entwurf des so
        genannten Urwaldschutzgesetzes ist ja – das dürfte hier
        im Plenum allgemein bekannt sein – nicht neu. Daher ist
        es nicht der Gesetzentwurf an sich, der mich freut – die
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt ihn wie schon in
        der letzten Legislaturperiode ab. Ich bin froh, dass wir
        heute im Parlament Gelegenheit haben, uns mit einem
        sehr wichtigen Thema zu beschäftigen: dem Schutz der
        Wälder und Urwälder.
        Urwälder sind komplexe Ökosysteme und wertvolle
        Naturressourcen der Erde. Sie beeinflussen das Klima
        und den Wasserhaushalt und sind wesentliche Kohlen-
        stoffspeicher. Zwischen 50 und 90 Prozent aller weltweit
        existierenden Arten sind Schätzungen zufolge alleine in
        den Gebieten der tropischen Feucht- bzw. Regenwälder
        beheimatet. Jährlich werden allein in den Tropen 15 Mil-
        lionen Hektar Wald abgeholzt. Dies entspricht einer Flä-
        che von der Gesamtgröße Bayerns, Baden-Württem-
        bergs und Niedersachsens oder halb Italiens! Neben den
        verheerenden Auswirkungen der weltweiten Brandro-
        dungen gehen allein etwa 7,2 Millionen Hektar durch
        Holzeinschlag verloren.
        Wissenschaftliche Prognosen zeigen, dass ohne eine
        deutliche Trendwende sämtliche tropischen Feuchtwäl-
        der in den nächsten 50 bis 100 Jahren von der Erde ver-
        schwunden sein werden – und mit ihnen eine bislang un-
        erforschte Vielzahl an Tieren und Pflanzen. Aber auch
        für die Menschen, die in und mit den Urwäldern leben,
        sind die Folgen der Waldvernichtung verheerend. Trotz-
        dem setzt sich der Waldverlust nahezu ungebremst fort.
        Eine wesentliche Ursache ist der illegale Holzeinschlag.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4193
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ein wesentlicher Anteil der Einschläge und die an-
        schließende Veräußerung des Holzes erfolgen illegal.
        Insbesondere in armen Ländern sind Urwälder durch
        illegalen Holzeinschlag gefährdet. Die Armut und Kor-
        ruption in diesen Ländern leistet einer hohen Kriminali-
        tätsrate beim Holzeinschlag Vorschub. Nach verschiede-
        nen Schätzungen werden bei einem Zehntel des
        gesamten weltweiten Holzhandels Rechtsvorschriften
        verletzt. In vielen Ländern entspricht die Menge des ille-
        gal eingeschlagenen Holzes dem legalen oder über-
        schreitet sie sogar. Annahmen zufolge liegt der illegale
        Holzeinschlag in Brasilien bei 80 Prozent, in Indonesien
        bei 73 Prozent und in Russland bei 20 bis 30 Prozent.
        Angesichts der dramatischen Situation der Urwälder
        sind wirksame Maßnahmen auf internationaler, europäi-
        scher und nationaler Ebene dringend erforderlich.
        Die Bundesregierung setzt sich auf internationaler
        Ebene und in der Europäischen Union – EU – intensiv
        für Maßnahmen zum Schutz der Wälder und Urwälder
        ein. Die nun beschlossene Importregelung der FLEGT-
        Verordnung – Forest Law Enforcement, Governance and
        Trade – Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Han-
        del im Forstsektor – der EU ist ein wichtiges Instrument,
        auch wenn ein weitergehender Ansatz auf EU-Ebene
        wünschenswert gewesen wäre.
        Die Fortschritte bei der Aushandlung der Abkommen
        werden von der Bundesregierung aufmerksam verfolgt.
        Es ist ganz klar: Gibt es hier keine hinreichenden Fort-
        schritte, muss die FLEGT-Verordnung nachgebessert
        werden. Die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundes-
        tag werden sich weiterhin bei der Bundesregierung dafür
        einsetzen, dass auf EU-Ebene schon jetzt überlegt wird,
        welche weiteren Schritte in Frage kommen. Die Fortent-
        wicklung der FLEGT-Richtlinie ist gerade im Interesse
        der neuen Bundesregierung, die sich den planvollen und
        effizienten Einsatz der vorhandenen Mittel zum Ziel ge-
        setzt hat.
        Zu dem von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
        von Bündnis 90/Die Grünen, erneut in die parlamentari-
        sche Diskussion eingebrachten so genannten Urwald-
        schutzgesetz, möchte ich Folgendes bemerken:
        Erstens. In der letzten Legislaturperiode – vor einem
        Jahr – hat es noch Sinn gemacht, diesen Entwurf zumin-
        dest zu diskutieren. Heute aber hat sich mit der Verab-
        schiedung der FLEGT-Verordnung die Lage grundlegend
        geändert. Unabhängig davon, wie man zum FLEGT-An-
        satz steht, gibt es durch die Regelung auf EU-Ebene
        kaum Spielraum für wirksame nationale Maßnahmen.
        Zweitens. Zudem wäre eine wirksame Kontrolle der
        Besitz- und Vermarktungsverbote mit einem sehr hohen
        bürokratischen Aufwand – Nachweissystem – für eine
        große Zahl von Betrieben in Deutschland verbunden.
        Drittens. Bei der Anwendung des Urwaldschutzgeset-
        zes hätten, um illegal in Urwäldern geschlagenes Holz
        zu sanktionieren, prinzipiell alle relevanten Holzpro-
        dukte in ein Nachweissystem einbezogen werden müs-
        sen, da den Produkten ja nicht anzusehen ist, ob das
        Holz illegal eingeschlagen wurde. Erforderlich wäre ein
        Nachweissystem über die gesamte Lieferkette. Dies
        hätte auch Holz aus Ländern erfassen müssen, in denen
        es gar keinen Urwald gibt, da sich sonst fast unbegrenzte
        Umgehungsmöglichkeiten ergeben würden. Zu erwarten
        wäre ein bürokratisches Monstrum. Dies aber steht unse-
        rem Ziel einer Vereinfachung und Entbürokratisierung
        von Verwaltung für Staat und Wirtschaft komplett entge-
        gen.
        Unbestritten ist: Wir müssen etwas für den Schutz der
        Urwälder tun. Ich sehe jedoch andere Ansätze für eine
        nachhaltige Politik als das Wiedereinbringen eines obso-
        leten Entwurfs aus der vergangenen Legislaturperiode:
        Neben dem schon angesprochenen Engagement bei der
        Begleitung des FLEGT-Prozesses in der EU sind drin-
        gend Fortschritte auf globaler Ebene notwendig.
        Zunächst als Umweltpolitiker, dann als Vertreter des
        Bereichs Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
        lung begleite ich seit Jahren für Deutschland die Fort-
        schritte der Verhandlungen der Vertragsparteien zur
        Konvention über biologische Vielfalt – CBD-COP.
        Auf der letzten Konferenz in Curitiba in Brasilien im
        März dieses Jahres wurde vereinbart, dass die nächste
        Vertragsstaatenkonferenz 2008 in Deutschland stattfin-
        den wird. Dabei wird der Schutz der Wälder nicht ohne
        Grund als Schwerpunkt thematisiert. Für uns bedeutet
        dies eine großartige Chance, unsere Vorstellungen zum
        Schutz der bedrohten Urwälder einbringen zu können.
        Es liegt an uns, diese Konferenz sorgfältig vorzubreiten,
        um tatsächlich Fortschritte für den Urwaldschutz zu er-
        zielen.
        Darüber hinaus können wir den Urwaldschutz stärker
        als bisher bei den internationalen Klimaverhandlungen
        berücksichtigen. Da etwa 20 Prozent der weltweiten
        CO2-Emissionen aus Entwaldung stammen, lassen sich
        durch die Bekämpfung der Abholzung positive Effekte
        für den Klimaschutz sowie die Biodiversität erzielen. Es
        gilt hier mehr als bisher, Synergien zu nutzen und der
        Komplexität der Erscheinungen Rechnung zu tragen. So
        ist die Entwicklungspolitik beispielsweise gefordert, im
        Rahmen einer strategischen Partnerschaft unsere Zusam-
        menarbeit mit Schwellenländern wie China und Indien
        zu intensivieren und innovative Lösungen für den Kli-
        maschutz zu entwickeln. Zu einer nachhaltigen Klima-
        schutzpolitik, die industrielle Schadstoffemissionen zu
        reduzierten sucht, gehört auch der Schutz der Tropen-
        wälder. Die Wälder dieser Erde sind der Schlüssel zu ei-
        ner wirkungsvollen Klimapolitik.
        Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Deutschland
        nach wie vor einer der größten Geldgeber für Wald-
        schutzprojekte in Entwicklungsländern ist. Jedes Jahr
        unterstützt Deutschland entsprechende Engagements mit
        mehr als 125 Millionen Euro.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
        Grünen, Sie haben es mit der Neuauflage des Gesetzent-
        wurfs zum Urwaldschutzgesetz (Drucksache 16/961) aus
        der letzten Legislaturperiode gut gemeint. Doch inzwi-
        schen hat sich durch die FLEGT-Verordnung die Lage
        verändert. Wir müssen unsere Strategie zum Urwald-
        schutz diesen Gegebenheiten anpassen und diese nicht
        ignorieren. Ich habe Ihnen Optionen aufgezeigt, die
        4194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        sowohl die Fraktionen der Regierungskoalition als auch
        die Bundesregierung engagiert verfolgen. Daher lehnen
        wir Ihren Gesetzentwurf ab.
        Es ist nicht an der Zeit, alten Initiativen nachzu-
        schauen. Wir entwickeln neue Ideen und – das habe ich
        Ihnen dargelegt – denken und handeln in neuen, globa-
        len Zusammenhängen zum Schutz von Urwäldern,
        Klima und biologischer Vielfalt auf unserer Erde.
        Marko Mühlstein (SPD): Wälder sind ein unver-
        zichtbarer Bestandteil der Lebensgrundlagen unserer
        Erde: Sie regulieren das globale Klima, sie speichern
        und reinigen Wasser, filtern die Luft, verhindern Erosion
        und sind Lebensraum einer Vielzahl von Tier- und Pflan-
        zenarten. Urwälder bedürfen unseres ganz besonderen
        Schutzes: Sie sind Wildnis, Lebensraum für indigene
        Völker und ihre Fläche verringert sich tagtäglich. Selten
        besteht über einen Sachverhalt so viel Einigkeit, selten
        ist die Dringlichkeit jedoch auch von so existenzieller
        Bedeutung:
        In den vergangenen Jahren ist die Fläche der so wich-
        tigen primären Wälder um jährlich rund 16 Millionen
        Hektar geschrumpft. Dies entspricht in etwa der einein-
        halbfachen Waldfläche der Bundesrepublik Deutsch-
        land!
        Die Umwandlung in landwirtschaftliche Nutzflächen,
        die Ausbeutung mineralischer Rohstoffvorkommen und
        Infrastrukturprojekte sind eine große Gefahr für den
        Fortbestand der Urwälder. Der illegale Holzeinschlag,
        der sich entlang der neu gebauten Straßen vollzieht, ist
        jedoch eine der Hauptursachen für den dramatischen
        Waldverlust und für die Zerstörung der letzten Urwälder
        zum Beispiel in Indonesien, Brasilien und Russland. In
        geschätzten Zahlen ausgedrückt beträgt der illegale
        Holzeinschlag in Brasilien 80 Prozent, in Indonesien
        rund 70 Prozent und in Russland circa 25 Prozent! Es ist
        daher richtig, sich hier und heute im Rahmen des Ge-
        setzentwurfs unserer Kolleginnen und Kollegen von den
        Bündnisgrünen über das weitere Vorgehen in dieser ent-
        scheidenden Frage zu beraten.
        Die Verantwortung für die Schädigung der Urwälder
        durch illegalen Holzeinschlag liegt bei den Staaten, die
        Holz und Holzprodukte exportieren, sowie bei den Staa-
        ten, die diese importieren. Auch die Bundesrepublik
        Deutschland ist ein wichtiger Importeur von Holzpro-
        dukten – vor allem aus den drei oben genannten Län-
        dern. Ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland nach
        wie vor einer der größten Geldgeber für Waldschutzpro-
        jekte in Entwicklungsländern ist und jedes Jahr entspre-
        chende Projekte mit mehr als 125 Millionen Euro unter-
        stützt, werden wir uns angesichts der eingangs
        beschriebenen Tatsachen mit diesem Problem auseinan-
        der setzen müssen. Die Koalitionsfraktionen sind sich
        ihrer besonderen Verantwortung in dieser Frage selbst-
        verständlich bewusst.
        Ich möchte in aller Kürze auf die Vorgeschichte unse-
        rer heutigen Debatte eingehen, denn schon in der letzten
        Legislaturperiode haben wir uns mit diesem Thema be-
        fasst. Die vorgezogenen Bundestagswahlen, aber auch
        die geänderte Rechtslage auf europäischer Ebene haben
        die Situation jedoch ganz erheblich beeinflusst.
        Im Januar 2004 hatte Greenpeace den Entwurf eines
        Urwaldschutzgesetzes vorgelegt. Der Anstoß wurde von
        den damaligen Koalitionsfraktionen gegeben. Das Bun-
        desumweltministerium hatte daraufhin den Entwurf ei-
        nes Urwaldschutzgesetzes erarbeitet und in die Ressort-
        abstimmung gegeben.
        Das Ziel, das mit dem Gesetzentwurf verfolgt wurde,
        war, im Rahmen des Naturschutzgesetzes ein Verbot des
        Besitzes und der Vermarktung von illegal in Urwäldern
        eingeschlagenem Holz zu verankern. Dazu gehören auch
        die daraus hergestellten Holzprodukte. Als wesentlicher
        Bestandteil sollte für den gewerblichen Holzhandel so-
        wie bei gewerblicher Be- und Verarbeitung zum Zweck
        des Verkaufs eine Beweislastumkehr eingeführt werden –
        das heißt, die Beweislast, dass das Holz nicht illegal ein-
        geschlagen wurde, sollte auf den Verkäufer verlagert
        werden.
        Dies hatte seinerzeit innerhalb der Ressortabstim-
        mungen sowie bei einer Verbändeanhörung zu erhebli-
        cher Kritik seitens der Holzwirtschaft wie auch der Län-
        der geführt. Die vorgezogenen Bundestagswahlen in
        2005 haben eine weitere Befassung mit dem Gesetzent-
        wurf obsolet gemacht.
        An der eingangs beschriebenen Situation hat sich in-
        dessen auch im Jahre 2006 nichts geändert. Der Anlass
        für ein Einschreiten gegen die Vermarktung von illegal
        geschlagenem Holz und daraus hergestellten Holzpro-
        dukten besteht unvermindert fort. Angesichts der drama-
        tischen Situation der Urwälder sind wirksame Maßnah-
        men auf internationaler, europäischer und nationaler
        Ebene weiterhin dringend erforderlich.
        Ich möchte dennoch auf zwei Themenkomplexe nä-
        her eingehen, die aus meiner Sicht ein Verfahren, wie es
        die Kolleginnen und Kollegen der Bündnisgrünen for-
        dern wesentlich beeinträchtigen.
        Dies ist zum einen eine „systemimmanente“ Schwie-
        rigkeit, nämlich das Problem der Beweislast, welches ich
        bereits kurz angesprochen hatte. Zum Zweiten betrifft
        dies das übergeordnete europäische Recht: Eines der
        größten praktischen Probleme in der Anwendung des
        Gesetzes ist meines Erachtens die Beweislastumkehr:
        Um illegal in Urwäldern geschlagenes Holz und die da-
        raus hergestellten Holzprodukte wirkungsvoll zu sank-
        tionieren, müssten prinzipiell alle relevanten Holzpro-
        dukte in ein Nachweissystem einbezogen werden, da es
        den Produkten nicht anzusehen ist, ob das Holz illegal
        eingeschlagen wurde oder nicht. Erforderlich wäre hier
        ein Nachweissystem über die gesamte Lieferkette, das
        auch Holz aus Ländern erfasst, in denen es gar keinen
        Urwald gibt, da sonst fast unbegrenzte Umgehungsmög-
        lichkeiten geschaffen würden. Ein solches Verfahren
        wäre für die Durchsetzung unserer Ziele zwingend erfor-
        derlich. Andererseits ist eine wirksame Kontrolle der
        Besitz- und Vermarktungsverbote mit einem gewaltigen
        bürokratischen Aufwand für eine große Zahl von Betrie-
        ben in Deutschland verbunden.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4195
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wir müssen uns daher in der Tat fragen, ob der erfor-
        derliche Aufwand für ein wirksames Nachweissystem
        nicht dem wünschenswerten Ziel der Verwaltungsverein-
        fachung für Staat und Wirtschaft diametral entgegen-
        stünde.
        Die zweite Schwierigkeit, die ich im Rahmen dieser
        Debatte ganz klar sehe, ist die der mehr als unbefriedi-
        genden europäischen Gesetzgebung. Bei Vorlage des da-
        maligen Entwurfs gab es zwar noch kein einschlägiges
        EU-Recht, jedoch arbeitete die Europäische Union an ei-
        ner Importregelung, der so genannten Forrest Law
        Enforcement, Governance and Trade-Verordnung – kurz
        FLEGT. Anders als im Urwaldschutzgesetz wird in der
        FLEGT-Verordnung die Ein- und Ausfuhr in die EU ge-
        regelt und sie betrifft alle Wälder und nicht nur die Ur-
        wälder. Die FLEGT-Verordnung beschränkt sich zudem
        nur auf wenige Holzprodukte und gilt lediglich dann,
        wenn zuvor Partnerschaftsabkommen mit den Export-
        staaten abgeschlossen wurden.
        Inzwischen hat die Europäische Union die FLEGT-
        Verordnung beschlossen. Damit ist der rechtliche Spiel-
        raum für wirksame nationale Maßnahmen verschwin-
        dend gering. Ein erfolgreicher Abschluss des Gesetzge-
        bungsvorhabens wäre also sehr unwahrscheinlich. Daher
        ist es natürlich alles andere als zielführend, einen Ent-
        wurf weiterzuverfolgen, der mit hoher Wahrscheinlich-
        keit von der EU-Kommission blockiert werden würde
        und mit dem wir bezüglich unseres gemeinsamen Anlie-
        gens also nichts erreichen würden.
        Lassen Sie uns überlegen, wie wir in dieser Angele-
        genheit weiter vorgehen. Wir sollten die uns zu Gebote
        stehenden Maßnahmen optimal nutzen. Die jetzt be-
        schlossene FLEGT-Verordnung der EU ist dabei ein
        wichtiges Instrument, auch wenn ein weitergehender
        Ansatz auf EU-Ebene mit Sicherheit wünschenswert ge-
        wesen wäre. Die Fortschritte bei der Aushandlung der
        Abkommen müssen daher aufmerksam verfolgt und
        sorgfältig ausgewertet werden. Gibt es keine eindeutig
        spürbaren Fortschritte, muss die FLEGT-Verordnung
        nachgebessert werden. Die Koalitionsfraktionen werden
        sich weiterhin dafür einsetzen, dass auf EU-Ebene schon
        jetzt überlegt wird, welche weiteren Schritte in Frage
        kommen.
        Neben den Bemühungen auf europäischer Ebene sind
        darüber hinaus weitere Fortschritte auf globaler Ebene
        zwingend notwendig. Selbstverständlich nutzen wir bei-
        spielsweise in diesem Zusammenhang die internationa-
        len Klimaverhandlungen, um gegen die Zerstörung der
        Wälder vorzugehen. Da circa 20 Prozent der weltweiten
        CO2-Emissionen aus Entwaldung stammen, lassen sich
        durch die Bekämpfung der Entwaldung positive Effekte
        für die Biodiversität und den Klimaschutz erzielen. Hier
        gilt es ganz klar, diese wichtigen Synergien zu nutzen.
        Die 2008 in Deutschland stattfindende Vertragsstaa-
        tenkonferenz der Konvention über die biologische Viel-
        falt wird das Thema „Schutz der Wälder“ schwerpunkt-
        mäßig behandeln. Auf der Konferenz wollen und
        müssen wir Fortschritte beim Schutz der Wälder und ins-
        besondere beim Schutz der bedrohten Urwälder errei-
        chen.
        Angelika Brunkhorst (FDP): Dass weitere Anstren-
        gungen zum Schutz der Urwälder vonnöten sind, wird
        von Wissenschaftlern, Politikern und Nichtregierungsor-
        ganisationen gleichermaßen beteuert. In regelmäßigen
        Abständen können wir von dem sich weiter verschlech-
        ternden Zustand der Wälder gerade in tropischen Regio-
        nen hören und lesen. Dass wir gemeinsam weitere Initia-
        tiven zum Schutz der Urwälder ergreifen müssen, liegt
        also nahe.
        Der vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
        Grünen wurde in gleicher Form bereits in der letzten Le-
        gislaturperiode als Regierungsentwurf eingebracht und
        ist somit ein Erbe der rot-grünen Regierungszeit. Den
        Grünen scheint dieser Gesetzentwurf sehr am Herzen zu
        liegen. Es wird für uns alle interessant sein zu sehen, wie
        sich der einstige Koalitionspartner, die SPD, jetzt zu die-
        sem Vorhaben positioniert.
        In einer Kleinen Anfrage (Drucksache 15/5386) zum
        damaligen Regierungsentwurf hat die FDP erneut darauf
        hingewiesen, dass bisher nicht einmal klar ist, was genau
        wir unter „Urwäldern“ zu verstehen haben bzw. verste-
        hen wollen. Der vorliegende Gesetzentwurf versucht,
        eine Antwort darauf zu geben, welche vonseiten der
        FDP kritisch betrachtet wird.
        Bei der facettenreichen Diskussion um den Urwald-
        schutz geht es um die Zerstörung von Ur- und Primär-
        wäldern, illegalen Holzeinschlag, die Auswirkungen auf
        die Menschen in den betroffenen Regionen, Verlust der
        biologischen Vielfalt und direkte und indirekte Beein-
        trächtigungen des regionalen und globalen Klimas. In
        den meisten tropischen Ländern werden Wälder zerstört,
        um landwirtschaftliche Nutzflächen zu gewinnen, die
        dann oft nur kurzfristig Erträge bringen. Diese Entwick-
        lung scheint weiterhin unaufhaltsam zu sein. Ein weite-
        rer Grund ist illegaler Holzeinschlag, Feuer, aber auch
        die Armut der Bevölkerung, die zu Übernutzungen führt.
        Die FDP hat aktuell zwei Kleine Anfragen an die
        Bundesregierung vorbereitet, die sich auch mit dem Ur-
        waldschutz und der nachhaltigen Nutzung von Holz
        befassen. Zum einen haben wir Fragen zur Nutzung bio-
        logischer Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz for-
        muliert. Hier geht es um die Aufforstung und Schaffung
        neuer Werte zum Erhalt und zur Sicherung der Urwälder.
        Auch die Fragen zum „Stand der Umsetzung der Charta
        für Holz“ beschäftigen sich mit der nachhaltigen Nut-
        zung von Holz und Holzprodukten, wenn auch bezogen
        auf Deutschland. Allerdings sehen wir beim vorliegen-
        den Gesetzentwurf und der Definition des Urwaldschut-
        zes insgesamt auch Auswirkungen auf die Vermarktung
        einheimischer Hölzer.
        In Deutschland hat sich aufgrund der hohen Bedeu-
        tung, die die Wälder seit Jahrhunderten für die Siche-
        rung der Existenz der Menschen, die Entwicklung von
        Wohlstand hatten, ein ausgeprägtes Bewusstsein für die
        Bedeutung von Wald und den Schutz der Wälder entwi-
        ckelt. Wir sind uns hier einig, dass die weitere Zerstö-
        rung der Wälder gestoppt werden muss. Der Schutz der
        letzten verbliebenen Urwälder ist eine wichtige globale
        Aufgabe, der sich alle Fraktionen verpflichtet fühlen.
        Die bisherigen Debatten haben gezeigt, dass alle
        4196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Fraktionen im Deutschen Bundestag den Erhalt der ver-
        bliebenen Urwälder als wichtige globale Aufgabe anse-
        hen.
        Die FDP unterstützt den Erhalt der Primär- und Ur-
        wälder. Wir wollen, dass die Waldnutzung in Entwick-
        lungsländern wesentlich der heimischen Bevölkerung
        zugute kommt. Deutschland ist nach den USA und Japan
        der weltweit drittgrößte Importeur von Holz und Holz-
        produkten. Unsere besondere Verantwortung ist damit
        deutlich genug ausgedrückt.
        In der Vergangenheit ist es den Tropenholz exportie-
        renden Ländern durchaus gelungen, die Wertschöp-
        fungspotenziale im eigenen Land stärker auszuschöpfen.
        Das heißt, Hilfe zur Selbsthilfe ist erfolgreich. Die ein-
        seitige Förderung des FSC-Zertifikats durch die Bundes-
        regierung, die immer auch mit der Eindämmung des ille-
        galen Holzeinschlags begründet wurde, hat für den
        Erhalt der Wälder nichts gebracht. Daher ist es folge-
        richtig, eine gegenseitige Anerkennung der Zertifikate
        umzusetzen.
        Bei dem im Gesetzesentwurf formulierten Besitz- und
        Vermarktungsverbot von Holz- und Holzprodukten haben
        wir deutliche Zweifel, was die realistische Umsetzung an-
        geht. Auch der Herkunfts- und Nachhaltigkeitsnachweis
        als Voraussetzung für entsprechende Zertifizierungen
        wird von der FDP hinterfragt.
        Die FDP fordert, dass der Waldschutz als eine zen-
        trale Aufgabe einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten
        Politik angesehen wird. Die existenziellen Bedürfnisse
        der Menschen in den betroffenen Ländern haben einen
        höheren Stellenwert als Ansprüche der Wohlstandsge-
        sellschaft. Das heißt, wirkliche Fortschritte beim Schutz
        der Wälder können nur erzielt werden, wenn die Armut
        erfolgreich bekämpft wird, die Menschen Möglichkeiten
        erhalten, sich selbst zu versorgen. Wir brauchen den Er-
        halt der Wälder der Erde für das Leben der Menschen
        vor Ort, die biologische Vielfalt, die Sicherung der Was-
        serressourcen und den Klimaschutz.
        Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde
        zu helfen, ihre Wälder in entsprechender Weise für die
        Bekämpfung der Armut zu nutzen und gleichzeitig ein
        Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihrer Wäl-
        der zu entwickeln. Statt weiterer internationaler Verord-
        nung ist Hilfe zur Selbsthilfe angesagt.
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Dass die Ur-
        wälder dieser Erde akut von Zerstörung gefährdet sind,
        wurde heute schon mehrfach betont. Wir wissen auch
        schon seit langem, dass der illegale Holzeinschlag dafür
        einer der Hauptgründe ist. Den Herkunftsländern gelingt
        es bisher nicht, ihn zu verhindern; manche Staaten haben
        daran leider auch wenig Interesse.
        Fakt ist, dass relevante Mengen des illegal in Urwäl-
        dern eingeschlagenen Holzes sich in deutschen Bau- und
        Holzmärkten wiederfinden. Deutschland trägt somit zur
        Urwaldzerstörung bei. Völlig unverständlich ist, dass
        diese Tropenholzdeals hierzulande bisher weder unter-
        bunden noch geahndet werden können. Es ist erlaubt,
        Holz und Holzprodukte aus illegalem Einschlag in Ur-
        wäldern zu besitzen oder mit ihnen zu handeln.
        Dieser unhaltbare Zustand muss schnellstens beendet
        werden. Darum unterstützen wir das Grundanliegen des
        Gesetzentwurfes der Grünen ausdrücklich: In der Kette
        vom Holzeinschlag zum Händler muss lückenlos doku-
        mentiert und nachgewiesen werden, dass das Holz nicht
        aus illegalen Abholzungen stammt. Ein solches Gesetz
        ist lange überfällig. Leider ist es ja in der letzten Legisla-
        turperiode so lange auf die lange Bank geschoben wor-
        den, bis der BMU-Entwurf durch die Neuwahlen beer-
        digt wurde, und die CDU, die ja damals durch Herrn
        Julius Caesar geschworen hatte, im Falle eines Wahl-
        siegs ein Urwaldschutzgesetz einzubringen, leidet offen-
        bar an Alzheimer.
        Nun also der Vorschlag der Grünen. Er entspricht
        weitgehend dem BMU-Entwurf aus der letzten Wahlpe-
        riode. Vielleicht hätte man aber die eine oder andere Kri-
        tik aus der damaligen Verbändeanhörung aufnehmen sol-
        len; denn an einigen Stellen haben wir Zweifel an der
        Wirksamkeit.
        Das Gesetz verbietet die Vermarktung von Holz und
        Holzprodukten aus illegalem Einschlag in Urwäldern. Es
        muss ein Nachweis erbracht werden, dass nicht illegal
        abgeholzt wurde. Erfasst sind zwar Rohholz, Bretter,
        Sperrholz, Spanplatten, Holzkohle, Zellstoff, Papier und
        Pappe sowie Holzmöbel und Holzspielzeug. Nicht er-
        fasst aber werden Bücher, Zeitungen und andere Druck-
        schriften. Das wäre an sich kein Problem, wenn die Zei-
        tungen und Zeitschriften in Deutschland hergestellt
        würden, weil ja dann die Papierherstellung kontrolliert
        wäre. Doch viele deutsche Unternehmen lassen ihre Pu-
        blikationen aus Kostengründen längst im Ausland dru-
        cken, zum Beispiel in Tschechien, und manche „deut-
        sche“ Bücher kommen direkt aus Südostasien. Somit
        verschafft das Gesetz gerade osteuropäischen und asiati-
        schen Druckereien, die sich weiterhin mit billigem Pa-
        pier aus illegalem Einschlag bedienen können, einen zu-
        sätzlichen Wettbewerbsvorteil.
        Zweiter Kritikpunkt: Das Gesetz kontrolliert aus-
        schließlich die großen Unternehmen im Holzgeschäft.
        Privatpersonen sowie Händler und Holzverarbeiter mit
        einem Jahresumsatz von weniger als 100 000 Euro sind
        ausdrücklich von der Nachweispflicht für die Herkunft
        des Holzes befreit. Uns scheint diese Formulierung ge-
        fährlich. Schließlich eröffnet sie die Möglichkeit, dass
        Holzhändler kritische Sparten, also beispielsweise ihr
        Afrikageschäft, auslagern. Umgekehrt ist das vorgese-
        hene maximale Bußgeld von 50 000 Euro für die Groß-
        unternehmen im Holzgeschäft wenig abschreckend. Es
        kommt natürlich darauf an, wie oft es verhängt wird.
        Das Tropenwaldnetzwerk hat seinerzeit ausdrücklich
        bemängelt, dass das Gesetz nur die Urwälder schätzt, die
        auch in dem jeweiligen Herkunftsstaat unter Schutz ste-
        hen. Holz aus staatlich genehmigtem Urwaldkahlschlag
        darf also weiterhin in Deutschland in all seinen Formen
        vermarktet werden, selbst wenn dabei der Holzeinschlag
        in den betreffenden Staaten gegen Menschenrechte und
        traditionelle Besitzrechte der Waldvölker verstößt. Wir
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4197
        (A) (C)
        (B) (D)
        wissen, dass dies juristisch anders kaum zu handhaben
        ist. Ein Problem bleibt es doch.
        Problematisch erscheint uns weiterhin das Verhältnis
        zur FLEGT-Verordnung der EU, worin es um die Rechts-
        durchsetzung, die Politikgestaltung und den Handel im
        Forstsektor geht. Die Nachweispflicht soll ja nicht für
        Länder gelten, die das FLEGT-Abkommen mit der EU
        geschlossen haben. Die FLEGT-Verordnung umfasst je-
        doch nur den Handel mit bestimmten Holzprodukten,
        nämlich derzeit Rohhölzer, Holzschwellen, Spanplatten,
        Furnier- und Sperrholz. Die Zellstoff-und Papierproduk-
        tion ist ausgenommen. Eine Erweiterung der Produkt-
        gruppe ist auf nicht absehbare Zeit verschoben. Somit
        schlägt der Passus im Urwaldschutzgesetz für die
        FLEGT-Länder eine unnötige Lücke.
        Insgesamt ist das Gesetz aber trotz seiner Schwach-
        stellen ein großer Schritt hin zu einem Importverbot für
        illegal geschlagene Hölzer. Im Gesetzgebungsverfahren
        und über die vorgesehenen Verordnungen kann auch ein
        Teil unser Kritikpunkte beseitigt werden. Wir hoffen da-
        rum, dass der Gesetzentwurf eine Mehrheit findet.
        Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be-
        reits seit Jahrzehnten diskutieren wir darüber, wie wir
        die Zerstörung der Urwälder dieser Welt stoppen kön-
        nen. Das Thema beschäftigt auch dieses Haus bereits seit
        langem. So hat die Enquete-Kommission „Vorsorge zum
        Schutz der Erdatmosphäre” des 11. Deutschen Bundesta-
        ges 1990 einen Bericht vorgelegt, der sich umfassend
        mit dem Schutz der tropischen Wälder befasste, der
        Handlungsmöglichkeiten benannte und Handlungsemp-
        fehlungen gab. Immer wieder wird seitdem von allen
        Seiten darauf hingewiesen, dass es angesichts der Zer-
        störung der Urwälder fünf vor zwölf ist.
        Nichtsdestotrotz gehen laut FAO nach wie vor jähr-
        lich 15 Millionen Hektar Urwald verloren. Auch illega-
        ler Holzeinschlag trägt erheblich dazu bei. Schätzungen
        aus dem Jahr 2002 zufolge beträgt der Anteil des illega-
        len Einschlags am Gesamteinschlag in Brasilien 80 Pro-
        zent, in Indonesien 73 Prozent und in Russland 20 bis
        30 Prozent. Ein Teil dieses Holzes landet auch in
        Deutschland: Deutschland importierte 2004 aus diesen
        drei Ländern jeweils Holz im Wert von etwa 300 Millio-
        nen Euro. Deutschland trägt so zur illegalen Urwaldzer-
        störung bei. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, beim
        Handel mit illegalem Holz anzusetzen und ihn so weit
        wie möglich zu unterbinden. Auch wenn das nur eine
        Maßnahme unter vielen ist. die erforderlich sind.
        Illegal hergestellte Ware zu handeln, ist bei vielen
        Produkten selbstverständlich verboten. Bei Holz aller-
        dings ist das anders: Illegal geschlagenes Holz darf in
        Deutschland ungestraft verkauft werden. Auch der Be-
        sitz ist erlaubt. Diesen unhaltbaren Zustand wollen
        Bündnis 90/Die Grünen ändern. Deshalb haben wir un-
        seren Entwurf für ein Urwaldschutzgesetz in den Bun-
        destag eingebracht. Dieses Gesetz soll den Besitz und
        den Handel von illegalem Holz verbieten. Um Kontrol-
        len zu ermöglichen, sollen Holzhändler und -verarbeiter
        zukünftig einen Legalitätsnachweis für Holz und Holz-
        produkte bereithalten.
        Von interessierter Seite ist behauptet worden, dieses
        Verbot würde nichts für den Urwaldschutz bringen. Aber
        da haben wir eine andere Einschätzung. Das Verbot
        brächte hierzulande den Durchbruch für die Holzzertifi-
        zierungssysteme bei allen Holzimporten und in der ge-
        samten Holzverarbeitungskette. Schließlich würde der
        geforderte Legalitätsnachweis in der Praxis vor allem
        durch die bestehenden Holzzertifizierungssysteme er-
        bracht werden.
        Von interessierter Seite ist außerdem eingewandt wor-
        den, die FLEGT-Verordnung der EU mache ein nationa-
        les Urwaldschutzgesetz überflüssig. Das ist leider nicht
        der Fall, denn FLEGT wird keine schnellen und durch-
        greifenden Erfolge zeitigen. Diese Verordnung sieht an-
        stelle eines Importverbots für illegales Holz Verhandlun-
        gen mit den Holzexportstaaten über den Abschluss
        freiwilliger Partnerschaftsabkommen vor. Nach Ab-
        schluss dieser Abkommen soll Holz in die EU nur noch
        eingeführt werden dürfen, wenn für sie eine FLEGT-Ge-
        nehmigung – im Wesentlichen ein Legalitätsnachweis –
        vorliegt. Verhandelt wird aber nur mit einem Teil der
        holzexportierenden Länder. Im Januar 2006 waren das
        Kamerun, Ghana, Malaysia, Indonesien und Russland.
        Abkommen werden voraussichtlich erst in einigen Jah-
        ren abgeschlossen und wirksam. Sollten die Verhandlun-
        gen aber scheitern, muss erst wieder in einem jahrelan-
        gen Verfahren festgelegt werden. zu welchen
        verschärften Maßnahmen die EU greift. Dies dauert an-
        gesichts des rasant fortschreitenden Urwaldverlustes auf
        jeden Fall zu lange. Deshalb ist die FLEGT-Verordnung
        zwar nicht überflüssig, aber unzureichend. Deshalb ist
        ein nationales Urwaldschutzgesetz nötig, das kurzfristig
        greift.
        Gegner eines Urwaldschutzgesetzes beklagen, die Re-
        gelungen brächten zuviel Bürokratie. Ein zusätzlicher
        Aufwand durch das Urwaldschutzgesetz für die Wirt-
        schaft lässt sich in der Tat nicht bestreiten. Er entsteht
        durch die Zertifizierung im Rahmen des Nachweissys-
        tems. Allerdings hält sich dieser Aufwand durchaus in
        einem vertretbaren Rahmen. Dies gilt, vor allem dann,
        wenn – wie im Gesetzentwurf vorgesehen – die etablier-
        ten Zertifikate als Legalitätsnachweise anerkannt wer-
        den. Denn über zwei Drittel der Wälder in Deutschland
        sind bereits nach FSC, PEFC oder durch Naturland
        zertifiziert – ohne dass die deutsche Forstwirtschaft un-
        ter dem Aufwand zusammengebrochen wäre. Nur bei
        den Holzimporten ist das anders. Wie bei der Holzverar-
        beitungskette gibt es bei Importen bisher nur in Ausnah-
        mefällen entsprechende Nachhaltigkeitszertifikate. In
        diesen Bereichen ist also mit zusätzlichem Zertifizie-
        rungsaufwand zu rechnen. Allerdings sind die Kosten
        der Holzkettenzertifizierung geringer als für die Zertifi-
        zierung der Forstwirtschaft.
        Dennoch: Es entstehen Kosten. Allerdings nicht
        mehr, als ohnehin auf die Branche zukommen. Denn es
        entspricht dem erklärten politischen Willen der meisten
        politischen Akteure der Waldpolitik, die Zertifizierung
        der nachhaltigen Produktionsweise in der Forst- und
        Holzwirtschaft weiter auszubauen. Auch die FLEGT-
        Verordnung fordert – wenn sie auf lange Sicht greift –
        4198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        die Vorlage eines Legalitätszertifikats bei der Einfuhr
        von Holz und Holzprodukten.
        Aus unserer Sicht treffen die Argumente der Gegner
        eines Urwaldschutzgesetzes nicht zu. Vielmehr wird die
        deutsche Forstwirtschaft vom Urwaldschutzgesetz profi-
        tieren. Warum? Der illegale Holzeinschlag führt zu
        Dumpingpreisen auf den globalen Holzmärkten. Nach
        Schätzung der Weltbank verlieren die Waldländer durch
        illegalen Holzeinschlag Einnahmen von etwa 15 Milliar-
        den Euro pro Jahr. Deshalb werden die Holzpreise stei-
        gen, wenn der illegale Holzeinschlag zurückgedrängt
        wird. Hiervon werden alle gesetzestreuen Holzprodu-
        zenten und damit selbstverständlich auch die einheimi-
        schen Forstwirte profitieren. Die Kosten für den zusätz-
        lichen Zertifizierungsaufwand für das restliche Drittel
        der deutschen Wälder dürften daher mehr als ausgegli-
        chen werden. Im Jahr 2004 brachten auch CDU und SPD
        Anträge in den Bundestag ein, in denen sie sich für ein
        Handels- und Besitzverbot mit und von illegalem Holz
        ausgesprochen haben. Das grüne Umweltministerium
        hatte daraufhin einen Urwaldschutzgesetz-Entwurf erar-
        beitet. Aufgrund der vorgezogenen Bundestagswahl
        konnte Rot-Grün ihn jedoch nicht mehr verabschieden.
        Mittlerweile regiert die große Koalition. Das Thema
        Urwaldzerstörung kommt im Koalitionsvertrag von
        Union und SPD nicht vor. Auch die Themen illegaler
        Holzeinschlag und Urwaldschutz kommen seither auf
        der Agenda dieser Koalition nicht mehr vor. Vor diesem
        Hintergrund war ich sehr gespannt darauf zu hören, wie
        sich die große Koalition heute zu unserem Urwald-
        schutzgesetz äußert. Wir wissen, dass es in diesem Haus
        unüblich ist, Gesetzentwürfen der Opposition zuzustim-
        men. Das wäre auch gar nicht schlimm, wenn Sie we-
        nigstens hier und heute erklärt hätten, dass Sie unsere
        Initiative aufgreifen und einen eigenen Gesetzentwurf
        für ein Verbot des Handels und des Besitzes mit illega-
        lem Holz vorlegen werden. Eigentlich müssten Union
        und SPD dies tun, wenn sie zu ihren früheren Aussagen
        stehen.
        Anlage 25
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge: Für ein Ende der
        Gewalt in Norduganda (Tagesordnungspunkt 24
        und Zusatztagesordnungspunkt 9)
        Gabriele Groneberg (SPD): Es ist wohl durchaus
        ungewöhnlich, dass ein Film zu einer Initiative mehrerer
        Fraktionen im Bundestag führt. Vor einigen Wochen ha-
        ben wir uns den international prämierten Film „Lost
        Children“ angesehen. Dieser Film über die Kinder, die
        zu Soldaten gemacht werden, hat uns alle tief berührt, ja
        entsetzt. Besonders beeindruckt hat uns außerdem der
        anschließende Besuch des Erzbischofs von Norduganda,
        John Baptist Odama, der uns über die schwierige huma-
        nitäre Situation der Flüchtlinge unterrichtet hat. Auch
        wenn wir uns bereits in der Vergangenheit mit diesem
        Thema befasst haben: Der Besuch von Erzbischof
        Odama bestärkte uns darin, wie notwendig es ist, uns
        noch intensiver mit Norduganda zu befassen. Was sind
        das für Kriminelle, die die Zivilbevölkerung terrorisie-
        ren, Dörfer und Felder niederbrennen, Menschen miss-
        handeln und töten, die Frauen und Mädchen vergewalti-
        gen? Kinder werden aus den Dörfern und Städten
        entführt, als Sexsklaven missbraucht und mit unmensch-
        lichen, brutalen Methoden dazu gezwungen, Soldaten
        und Soldatinnen zu werden und dann selbst Gräueltaten
        gegen die Zivilbevölkerung, gegen ihre Verwandten und
        Familien zu begehen. Diese Kriminellen, die sich
        „Lord’s Resistance Army“, LRA, nennen, befinden sich
        seit 20 Jahren auf einem gnadenlosen Weg der Vernich-
        tung einer ganzen Region. Und nicht nur in Norduganda,
        nein, auch der Osten des Kongo und der Süden des Su-
        dans werden von ihnen tyrannisiert.
        Die große Region Nordugandas ist praktisch entvöl-
        kert, die Menschen haben sich in die Städte geflüchtet,
        an ihrem Rand. In ihrer unmittelbaren Nähe haben sich
        große Flüchtlingslager gebildet. Eine ganze Region,
        fruchtbar und in der Lage ihre Menschen zu ernähren,
        liegt brach. Seit Jahren ist es zu gefährlich, die Felder zu
        bestellen, das wenigste zum Leben anzubauen. Was die-
        sen Kindern angetan wird, die von der LRA entführt
        werden, das kann ein normaler Menschenverstand gar
        nicht ermessen. Wir hatten Gelegenheit bei einem Auf-
        enthalt in Uganda in einer Einrichtung der Caritas in der
        Stadt Gulu, mit den Kindern und Jugendlichen zu reden,
        die sich aus den Händen der Rebellen befreien konnten.
        In dieser Einrichtung wird Hilfe angeboten, die ihnen
        den Weg in ein normales Leben zurück ermöglichen soll.
        Aber bei aller Hilfe, die wir leisten können – die schlim-
        men Erlebnisse werden sie ein Leben lang verfolgen,
        werden nie vergessen werden können.
        In die Gesichter, in die Augen dieser jungen Men-
        schen zu blicken und darin dieses unglaubliche Leid des
        Erlebten zu sehen, ich kann das, denke ich, nie verges-
        sen. Mit den Betroffenen zu reden, bestärkt in der Ab-
        sicht, unsererseits alles mögliche zu tun, mitzuhelfen,
        dass diese schlimmen Zustände beendet werden können.
        Aber was können wir tun – über unser bisheriges poli-
        tisches und finanzielles Engagement hinaus? Wir wollen
        zuallererst die ugandische Regierung nicht aus der Ver-
        antwortung entlassen. Sie muss entschieden mit allen
        Mitteln gegen die LRA vorgehen. Wir erwarten, dass sie
        mit aller Kraft und mit den zur Verfügung stehenden
        Mitteln der eigenen Armee die Bevölkerung Nordugan-
        das schützt. Wir erwarten, dass die Regierungen Ugan-
        das, der DR Kongo und des Sudans bei der Bewältigung
        der Situation zusammenarbeiten und die Verfolgung der
        fünf Rädelsführer der LRA, gegen die der Internationale
        Strafgerichtshof Haftbefehle erlassen hat, intensiv zu be-
        treiben und für deren Verhaftung zu sorgen. Wir fordern
        die ugandische Regierung aber auch auf, ebenso ent-
        schieden die Verbrechen der eigenen Sicherheitskräfte
        gegen die Bevölkerung zu verfolgen und zu ahnden.
        Die kleinen sichtbaren Fortschritte, die darin beste-
        hen, dass ein Teil der Menschen in den Flüchtlingslagern
        ihre Felder im erreichbaren Umkreis bestellen und
        abends wieder in Lager zurückzukehren – das ist ein
        Hoffnungsschimmer und mehr nicht. Dass die Zahl der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4199
        (A) (C)
        (B) (D)
        „nachtwandernden“ Kinder, die wir in Gulu besucht ha-
        ben und die jede Nacht aus den näher an der Stadt gele-
        genen Dörfern bis zu zwei Stunden laufen, um in die si-
        chere Stadt zu kommen, um den Entführungen zu
        entgehen und morgens ebenso die Strecke wieder zu-
        rücklegen, um in den Dörfern die Schulen aufzusuchen,
        dass die Zahl dieser Kinder stark rückläufig ist, auch das
        nur ein Hoffnungsschimmer. Die Hilfe, die von der euro-
        päischen und internationalen Gemeinschaft geleistet
        wird, um die Menschen in den Flüchtlingslagern wenigs-
        tens mit dem allernotwendigsten an Lebensmitteln zu
        versorgen, darf nicht eine Zementierung dieser Zustände
        bedeuten.
        Es muss darauf gedrängt werden, dass die Auflösung
        der Lager der ugandischen Flüchtlinge möglich wird,
        dass die Menschen wieder in ihre Dörfer zurückkehren
        können und ihnen dort auch ihr Land zurückgegeben
        wird.
        Wir können dabei helfen, dass die mit sieben weiteren
        Gebern, unter andern Weltbank und afrikanische Ent-
        wicklungsbank, vereinbarte Geberstrategie für Uganda,
        Uganda Joint Assistance Strategy, umgesetzt wird und
        klare Vorgaben für demokratische und rechtsstaatliche
        Strukturen, für die Wahrung der Menschenrechte, die Si-
        cherheit und die Reintegration der Flüchtlinge entwi-
        ckelt und eingehalten werden. Es bleibt die Pflicht der
        ugandischen Regierung, sich für einen Waffenstillstand
        und Friedensverhandlungen einzusetzen. Wir werden sie
        selbstverständlich gemeinsam mit den europäischen
        Partnern dabei unterstützen, eine Roadmap-for-Peace
        auszuarbeiten. Das heißt aber auch, dass wir an deren
        überprüfbarer Umsetzung den Friedenswillen der ugan-
        dischen Regierung festmachen werden. Wir können da-
        bei helfen, dass Projekte und Initiativen, die sich für die
        Demobilisierung von Soldaten, von Kindersoldaten, die
        Aufarbeitung ihrer Traumata und ihre Wiedereingliede-
        rung in die Gesellschaft einsetzen, unterstützt werden.
        Wir können helfen und wir tun es und wir werden es
        auch weiterhin tun.
        Dr. Karl Addicks (FDP): „Berüchtigter Rebellen-
        führer Kony bietet Uganda den Frieden an – LRA-Chef
        bestreitet Gräueltaten an Zivilisten.“ So lautet der Titel
        einer Meldung, die ich erst gestern wieder in den Hän-
        den hielt. So wird wieder ein Hoffnungsschimmer, der
        Gewalt in Norduganda ein Ende zu setzen, im Keim er-
        stickt. Es handelt sich nämlich nicht um das erste Ange-
        bot dieses Rebellenführers, Frieden zu stiften und wird
        wahrscheinlich – bei der Betrachtung seiner zusätzlichen
        Bemerkung – auch nicht das letzte sein.
        Obwohl die Beendigung der Gewalt dringend nötig
        ist; denn die Auswirkungen für die Zivilbevölkerung
        sind verheerend. Schätzungen zufolge sind bereits min-
        destens 100 000 Menschen getötet worden und fast
        2 Millionen Menschen vor der Gewalt geflohen. Die
        Lord’s Resistance Army kämpft gegen die ugandische
        Regierung nun schon seit 20 Jahren und ist bekannt für
        ihre Verbrechen an den Zivilisten und die Entführung
        von Kindern, die sie als Soldaten oder Sexsklaven miss-
        brauchen. Nicht ohne Grund wurden gegen Joseph
        Kony, den Anführer der Lord’s Resistance Army, 2004
        die Ermittlungen beim internationalen Gerichtshof ein-
        geleitet. Der Haftbefehl gegen ihn nennt 33 Anklage-
        punkte, darunter alleine zwölf wegen Verbrechen gegen
        die Menschlichkeit und 21 wegen Kriegsverbrechen.
        Herr Kony selber, wie ich eingangs gesagt habe, bestrei-
        tet diese Vorwürfe und ist sich keiner Schuld bewusst. Er
        töte nur die Soldaten Musevenis, denn er handele im Na-
        men der zehn Gebote, die zu ihm sprechen. Auf dieser
        Basis scheint der Frieden in Norduganda noch in weiter
        Ferne zu liegen. Aber das dürfen wir nicht zulassen!
        Erschwerend kommt hinzu, dass die ugandische Ar-
        mee, die Uganda People’s Defence Force, für die Zivil-
        bevölkerung in den leicht angreifbaren Lagern keinen ef-
        fektiven Schutz darstellt. Im Gegenteil, auch diese ist
        verantwortlich für schwerwiegende Menschenrechtsver-
        letzungen und von Korruption geprägt. Das wiederum
        führt dazu, dass es an aufrichtigem Interesse, den Kon-
        flikt zu beenden, mangelt. Das geht doch so nicht!
        Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
        und Entwicklung haben wir uns eingehend mit diesem
        Konflikt in Norduganda beschäftigt: Wir haben uns den
        sehr eindrucksvollen Film „Lost Children“ angesehen,
        der uns doch tief erschüttert hat. In diesem Film wird die
        schwere Resozialisierung von Kindersoldaten, die von
        der Lord’s Resistance Army dazu gezwungen wurden,
        dokumentiert und die Kinder erzählen von ihren Erfah-
        rungen, die sie in der Rebellengruppe machen mussten.
        Der Ausschuss hat außerdem den Erzbischof John
        Baptist Odama zu einer der Sitzungen eingeladen. Die-
        ser hat uns eingehend über die Situation in Norduganda
        informiert, denn Herr Odama, Vorsitzender einer konfes-
        sionsübergreifenden ugandischen Friedensbewegung,
        konnte uns seine Erfahrungen vor Ort beeindruckend
        schildern.
        Aus unseren Beratungen kann nur ein Schluss gezo-
        gen werden: Der Gewalt in Norduganda muss ein Ende
        gesetzt werden! Hier sprechen wir die deutsche, aber vor
        allem die ugandische Regierung an. Sie werden in aller
        Form aufgefordert, aktiv – oder sollte man sagen: aktiver –
        zu werden.
        Wir begrüßen sehr, wie auch bereits im Antrag er-
        wähnt, dass Anfang April 2006 ein Joint Monitoring
        Committee for Northern Uganda eingesetzt worden ist,
        in dem vorerst die Vereinten Nationen, die USA, Groß-
        britannien, Norwegen, die Niederlande und Uganda an
        einer umfassenden Strategie für Norduganda arbeiten
        können. Sobald diese abschließend formuliert ist, muss
        sie aber auch verwirklicht werden.
        Uganda ist ein Schwerpunktpartnerland der deutschen
        Entwicklungszusammenarbeit. Dem Land wurden seit
        der Wiederaufnahme der EZ im Jahr 1986 bilateral ins-
        gesamt über 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
        Diese Beziehungen zwischen Deutschland und Uganda
        müssen wir nutzen, um durch politischen Einfluss zu ei-
        ner Beendigung der grausamen Auseinandersetzungen in
        Norduganda beizutragen. Das fordern wir mit diesem
        Antrag. Die Bundesregierung muss dies im Dialog mit
        der ugandischen Regierung eindeutig klarstellen und die
        4200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ernsthaftigkeit in Bezug auf Waffenstillstands- und Frie-
        densverhandlungen anmahnen. Ein wirksamer Schutz
        der Zivilbevölkerung vor den Rebellen, aber auch vor
        den eigenen Sicherheitskräften muss wiederhergestellt
        werden. Wir können die dortigen Verhältnisse nicht län-
        ger tolerieren! Dazu gehört auch, dass die ugandische
        Regierung in ihren eigenen Reihen für Ordnung sorgt
        und Verbrechen der eigenen Sicherheitskräfte verfolgt.
        Es ist dringend erforderlich, dass die international
        vereinbarte Geberstrategie für Uganda umgesetzt wird.
        Darin werden klare Vorgaben für die Umsetzung von
        demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen, die
        Wahrung der Menschenrechte, die Sicherheit und Re-
        integration der Flüchtlinge und konstruktive Friedens-
        verhandlungen aufgestellt. Das ist die Grundlage für ein
        Ende der Gewalt und die zukünftige Entwicklung Ugan-
        das.
        Wir sind uns einig, dass unsere genannten Forderun-
        gen wichtig und richtig sind, und ich freue mich, dass
        wir zu diesem gemeinsamen Antrag kommen konnten.
        Es wird Zeit!
        Anlage 26
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Gleiche Besoldung
        für alle Soldaten (Tagesordnungspunkt 23)
        Monika Brüning (CDU/CSU): Verteidigungspoliti-
        ker aller Fraktionen sprechen sich seit längerem für die
        Angleichung der Besoldung in Ost und West aus. Die
        ungleiche Besoldung ist eine Belastung der inneren Ein-
        heit der Bundeswehr, die ansonsten hervorragend gelun-
        gen ist.
        Dass die unterschiedliche Besoldung unserer Solda-
        tinnen und Soldaten 15 Jahre nach der deutschen Einheit
        überwunden werden muss, ist eine Forderung, bei der ich
        Oberst Bernhard Gertz vom Deutschen Bundeswehrver-
        band sowie dem Bundesverteidigungsminister Dr. Franz
        Josef Jung nachdrücklich beipflichte. Ich danke auch
        dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der
        sich diesem Thema seit Jahren widmet.
        Die unterschiedliche Besoldung ist auch durch nichts
        gerechtfertigt, denn Soldatinnen und Soldaten leisten
        qualitativ Vergleichbares – ob in München oder Dres-
        den, ob in Mainz oder Neubrandenburg. Wie soll ich ei-
        nem Soldaten in Thüringen erklären, dass sein bayeri-
        scher Kamerad, der nur circa 20 Kilometer weiter
        westlich stationiert ist, statt seiner 92,5 Prozent die vol-
        len 100 Prozent Besoldung erhält, also 7,5 Prozent mehr
        Sold, was je nach Alter bis zu 200 Euro monatlich aus-
        machen kann.
        Wäre nur das Thema Besoldung im Verteidigungsetat
        zu bewältigen, könnte die Bundeswehr die Angleichung
        der Besoldung durchaus aus ihrem Etat bezahlen, auch
        wenn dies zweifellos einen Kraftakt bedeuten würde.
        Wir sollten jedoch langfristig darüber nachdenken, das
        gesamte Besoldungsgefüge, insbesondere im Hinblick
        auf die Attraktivität des Soldatenberufs und die Situation
        der Nachwuchsgewinnung weiterzuentwickeln. Wie
        dem Bundeswehrplan 2007 zu entnehmen ist, sind im
        Verteidigungshaushalt zudem umfangreiche Mittel für
        den ausreichenden Schutz und die Weiterentwicklung
        der notwendigen Ausrüstungs- und Einsatzkomponenten
        für unsere Soldaten bereitzustellen.
        Ein weiteres Problem liegt auf der Ebene der Länder
        und Kommunen im Osten Deutschlands. Bei einer Be-
        soldungsangleichung im Bereich der Bundeswehr könn-
        ten die Angehörigen des öffentlichen Dienstes mit Recht
        ähnliche Forderungen für sich reklamieren. Eine solche
        Welle der Belastungen wäre von den ohnehin bis zum
        Zerreißen angespannten Haushalten der Länder nicht zu
        schultern.
        Wir freuen uns darüber, dass wir uns mit den Ländern
        auf eine Besoldungsangleichung in zwei Schritten eini-
        gen konnten. Im Jahr 2007 werden die unteren Besol-
        dungsgruppen bis A 9, ab dem Jahr 2009 die höheren
        Besoldungsgruppen in Ost und West nach der gleichen
        Besoldungstabelle bezahlt. Diese Perspektive ist im Inte-
        resse unserer Soldatinnen und Soldaten erfreulich. Es ist
        der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns eini-
        gen konnten. Das kann uns nicht befriedigen, aber es ist
        eine absehbare Perspektive, die wir auch dem Behar-
        rungsvermögen der Verteidigungspolitiker zu verdanken
        haben.
        So sehr ich mir eine sofortige Besoldungsangleichung
        auch gewünscht hätte, unser Ziel, eine nachhaltige Kon-
        solidierung des Haushaltes, dürfen wir dabei nicht aus
        den Augen verlieren.
        Die Perspektive von 2007 bis 2009 ist absehbar und
        unter den bestehenden Gegebenheiten auch hinnehmbar.
        Deshalb stimmt die CDU/CSU dem Antrag der FDP
        nicht zu.
        Susanne Jaffke (CDU/CSU): Das Thema Besol-
        dungsangleichung für alle Beschäftigten des Öffentlichen
        Dienstes in den neuen Bundesländern beschäftigt uns seit
        vielen Legislaturperioden. Bereits in der 13. Wahlperiode
        gab es erste Anträge. Bedingt durch finanzielle Engpässe,
        vor allem bei den neuen Bundesländern und noch nicht
        erreichte vergleichbare Verwaltungsstrukturen, konnte
        die Einkommens- und Besoldungsangleichung nicht rea-
        lisiert werden.
        Das Bundesbesoldungs- und versorgungsanpassungs-
        gesetz 2003/2004 vom 10. September 2003 sieht nun die
        stufenweise Angleichung der Besoldung vor. Das gilt
        nicht nur für die Bundeswehr.
        Allerdings, die Angleichung der Besoldung ist ein
        weiterer wesentlicher Bestandteil der inneren Einheit der
        Bundeswehr. Bundesminister Jung, der Bundeswehrver-
        band und auch der Wehrbeauftragte haben die Anglei-
        chung der Besoldung ebenfalls mehrfach gefordert, die
        tariflichen Einigungen sind weitestgehend erreicht – die
        FDP greift somit kein neues Thema auf.
        Die Sachlage stellt sich folgendermaßen dar: Für die
        unteren Besoldungsgruppen bis A 9 ist eine weitere An-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4201
        (A) (C)
        (B) (D)
        gleichung des Bemessungssatzes auf 100 Prozent bis
        Ende 2007 festgeschrieben worden. Bis zum 31. Dezem-
        ber 2009 ist die Anhebung der übrigen Besoldungsgrup-
        pen zu realisieren.
        Der Kollege Koppelin ist im Rahmen der Haushalts-
        beratungen zum Einzelplan 14 bereits detailliert über die
        Berechnung der Kosten infolge der stufenweisen Anglei-
        chung der Ost- an die Westbesoldung informiert worden.
        Auch die Größenordnung der Mehrausgaben ist in die-
        sem Zusammenhang mitgeteilt worden. Sie beläuft sich
        auf circa 25 Millionen Euro ab 2008.
        Der Antrag der FDP, der hier zur Debatte steht, lässt
        Solidität vermissen. In den Etatberatungen hat diese
        Fraktion den Rotstift radikal an fast jedem Titel ange-
        setzt, um ihrem eigenen Anspruch als Ausgabenmini-
        mierungspartei gerecht zu werden. Nun fordern sie
        Mehrausgaben, die sie selbst im regulären Haushaltsver-
        fahren nicht eingebracht haben. Sie können nicht einer-
        seits das Trennungsgeld und die Aus- und Fortbildung
        für die Soldaten kürzen sowie die Nachwuchswerbung
        zusammenstreichen – andererseits die Ost-West-Anglei-
        chung einfordern; das passt nicht zusammen. Da bleibt
        für mich nur festzustellen, dass es sich hiermit um einen
        Schaufensterantrag handelt.
        Im Übrigen möchte ich darauf verweisen, dass 1996
        und 1997 durch eine Verfahrenspraxis im Zusammen-
        hang mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf
        dem Balkan die Gleichbesoldung weitestgehend durch-
        gesetzt wurde. Der Rechnungshof hat diese Praxis in sei-
        nen Bemerkungen 1997 zur Haushalts- und Wirtschafts-
        führung kritisiert. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat
        daraufhin im März 1998 das BMVg aufgefordert, die
        „geltenden Besoldungs- und Versorgungsvorschriften
        nicht weiterhin durch organisatorische Regelungen zu
        umgehen“. Diese Beschlüsse sind selbstverständlich
        durch das Verteidigungsministerium umgesetzt worden.
        Festzustellen bleibt, dass es in Auslandseinsätzen
        keine Besoldungsunterschiede gibt. Die Bundeswehr hat
        also keine Sonderstellung, sondern ist in ihren Besol-
        dungsstrukturen im öffentlichen Dienst eingebunden.
        Petra Heß (SPD): Die FDP fordert in ihrem Antrag,
        die Ungleichbehandlung bei den Angehörigen der Bun-
        deswehr unverzüglich zu beenden und sie ausschließlich
        nach der heute nur für die westlichen Bundesländer gül-
        tigen Besoldungsordnung zu besolden.
        Die Forderung der Soldaten ist sehr wohl berechtigt
        und nachvollziehbar. Als ostdeutsche Abgeordnete, der
        diese Problematik durch zahlreiche Truppenbesuche
        sehr gut vertraut ist, finde ich es jedoch bedauerlich, dass
        sich die FDP dieses Themas aus purer Effekthascherei
        bedient und nicht aus Sorge um die Soldaten. Der Ver-
        such, sich hiermit als Interessensvertreterin der Belange
        der in Ostdeutschland stationierten Soldatinnen und Sol-
        daten und darüber hinaus aller Ostdeutschen zu profilie-
        ren, ist auf den ersten Blick durchschaubar. Schließlich
        war die FDP nach der Wiedervereinigung viele Jahre
        lang in Regierungsverantwortung. Aus dieser Zeit sind
        mir keine Bemühungen hinsichtlich der Angleichung der
        Ost-West-Besoldung bekannt.
        Außerdem müsste auch die FDP wissen, dass es kein
        eigenes Besoldungsrecht für Soldatinnen und Soldaten
        gibt, wie ich es mir im Übrigen wünschen würde. Viel-
        mehr gilt das Besoldungsrecht für Beamte, Richter und
        Soldaten, also für alle drei Gruppen gleichermaßen. Eine
        Sonderlösung für Soldaten ist zurzeit nicht realisierbar.
        Mit sind auch keine Bemühungen der Bundesländer be-
        kannt, in denen die FDP in Regierungsverantwortung
        steht, den eingeschlagenen Weg der Anpassung zu ver-
        kürzen.
        Es war die rot-grüne Bundesregierung, die unter ihrer
        Federführung mit dem Bundesbesoldungs- und -versor-
        gungsanpassungsgesetz 2003/2004 einen Fahrplan für
        die Ost-West-Angleichung auf den Weg gebracht hat.
        Gegen Widerstände aus den Bundesländern wurde ver-
        einbart, dass die weitere Angleichung der Ostbesoldung
        an das Westniveau bis spätestens 31. Dezember 2007 für
        die Besoldungsgruppen bis A 9 und für die übrigen Be-
        soldungsgruppen bis zum 31. Dezember 2009 erfolgen
        soll. Ich hätte mir gewünscht, die Angleichung in einer
        kürzeren Phase zu realisieren. Aber dies war nun einmal
        der damals ausgehandelte Kompromiss mit den Ländern.
        Mit dieser Vereinbarung erhalten die Soldatinnen und
        Soldaten sowie die Beamtinnen und Beamten der Bun-
        deswehr in den östlichen Bundesländern eine verlässli-
        che Perspektive zur Anpassung ihrer Besoldung und
        Versorgung an das Westniveau.
        Ich bitte Minister Jung, in den Gesprächen mit den
        Ländern darauf hinzuwirken, die zeitlichen Fristen für
        die Angleichung nicht bis zum Ende auszuschöpfen,
        sondern zu versuchen, die Anpassung schon früher um-
        zusetzen. Es ist aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar,
        dass im Jahr 16 der deutschen Einheit gerade die Bun-
        deswehr, die seit 1990 so erfolgreich wie kaum eine an-
        dere Institution den Prozess der inneren Einheit vollzo-
        gen hat, immer noch gezwungen ist, ihren Soldatinnen
        und Soldaten unterschiedliche Löhne nach Ost-/West-
        Zugehörigkeit zu zahlen. Meine Erfahrungen durch
        Truppenbesuche und Wehrübungen zeigen mir, dass in-
        nerhalb der Truppe die Ost-/West-Zugehörigkeit absolut
        keine Rolle mehr spielt.
        Gerade bei Auslandseinsätzen zeigt sich, dass es we-
        der im Leistungswillen noch in der Leistungsfähigkeit
        Unterschiede gibt. Die Soldaten und die zivilen Mitar-
        beiter aus den neuen Bundesländern erfüllen ihren Auf-
        trag genauso gut wie ihre Kameraden aus den alten Bun-
        desländern. Deshalb ist diese Differenz beim Sold nicht
        mehr gerechtfertigt. Dennoch wird den in Ostdeutsch-
        land stationierten Soldatinnen und Soldaten bei ihrer
        Rückkehr an ihre Standorte beim Blick auf ihren Lohn-
        zettel jeden Monat aufs Neue vor Augen geführt, dass
        ihre Leistung weniger wert ist, als die ihrer Kameraden
        in den alten Bundesländern. Diese Ungleichbehandlung
        muss endlich überwunden werden und zwar schnell.
        Das geht aber nur im gütlichen Einvernehmen mit den
        Ländern. Deshalb ist der FDP-Antrag schlicht und er-
        greifend unfair gegenüber unseren Soldatinnen und Sol-
        daten. Denn damit wird der – falsche – Eindruck
        4202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        erweckt, es gäbe die Möglichkeit, durch Bundestagsbe-
        schluss eine sofortige Angleichung hinzubekommen.
        Wenn es der FDP wirklich ernst mit diesem Antrag
        ist, sollte sie wirkungsvoll Druck auf die Länder aus-
        üben, in denen sie mitregiert. Denn ohne die Bundeslän-
        der im Boot zu haben, wird es keine schnellere Anglei-
        chung geben, als vereinbart.
        Birgit Homburger (FDP): Die Bundeswehr hat sich
        seit der Wiedervereinigung gewandelt. Sie musste sich
        auf vielfältige neue Aufgaben einstellen; denn mit der
        Vereinigung 1990 ist auch die internationale Verantwor-
        tung Deutschlands gewachsen. Deutschland braucht
        weiterhin eine leistungsfähige Bundeswehr, die für unser
        Land Frieden und Freiheit sichert. Darüber hinaus muss
        die Bundeswehr aber auch im Bündnisrahmen zur Kri-
        senreaktion im Ausland fähig sein und für die Völkerge-
        meinschaft zur Verfügung stehen, wenn das politisch so
        entschieden wird. Dies erfordert Anpassungen und Um-
        gliederungen, die mitunter sehr schwierig sind. Sie ver-
        langen von allen Beteiligten große Flexibilität und Op-
        ferbereitschaft. Die Angehörigen der Bundeswehr haben
        bisher alle ihnen gestellten Herausforderungen mit Er-
        folg und großem Engagement bewältigt.
        Seit dem 3. Oktober 1990 hat sich am Beispiel der
        Bundeswehr gezeigt, was erreichbar ist, wenn Deutsche
        aus Ost und West aufeinander zugehen und sich mit Tat-
        kraft einer gemeinsamen Aufgabe stellen. Alle Soldatin-
        nen und Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundes-
        wehr haben eine großartige Leistung vollbracht, auch
        diejenigen, die vormals in der Nationalen Volksarmee
        ihren Dienst geleistet haben. In der Bundeswehr ist die
        innere Einheit seit langer Zeit tatsächlich vollzogen. Aus
        zwei Armeen ist eine Armee geworden.
        Es gibt nicht den geringsten Leistungsunterschied
        zwischen den Soldatinnen und Soldaten aus dem Westen
        und dem Osten Deutschlands. Sowohl im Inland als auch
        bei Auslandseinsätzen im Rahmen der Vereinten Natio-
        nen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenar-
        beit in Europa, der NATO oder der EU erfüllen Soldatin-
        nen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiter aus den neuen
        Bundesländern ihren Auftrag in gleicher Qualität wie die
        aus den alten Bundesländern. Trotzdem gibt es in der
        Bundeswehr aufgrund der gravierenden Unterschiede in
        der Besoldung eine Zwei-Klassen-Armee, unterteilt in
        „Ost- und Westsoldaten“.
        Stellen sie sich folgendes fiktive Beispiel vor: Zwil-
        lingsbrüder, geboren in Mecklenburg-Vorpommern, un-
        mittelbar an der Grenze zu Niedersachsen, beide ausge-
        bildet zum Kfz-Mechaniker, melden sich freiwillig zur
        Bundeswehr. Sie werden wunschgemäß berufsbezogen
        und heimatnah einberufen, einer zum Instandsetzungs-
        bataillon 3 nach Lüneburg in Niedersachsen, der andere
        zum Instandsetzungsbataillon 142 nach Hagenow in
        Mecklenburg-Vorpommern. Der Lüneburger Soldat er-
        hält Westgehalt, der Hagenower Soldat Ostgehalt. Beide
        werden zum Unteroffizier ausgebildet. Der Lüneburger
        Soldat wird danach nach Hagenow in das Bataillon sei-
        nes Zwillingsbruders versetzt. Er leistet jetzt auch im
        Osten Dienst, erhält jedoch weiterhin sein Westgehalt.
        Sein Zwillingsbruder muss sich jedoch unverändert mit
        Ostgehalt begnügen. Alles ist gleich: Alter, Ausbildung,
        Leistungsfähigkeit, Dienstort, Wohnort, etc. Nur das Ge-
        halt ist unterschiedlich.
        Innerhalb derselben Einheit kann die Vergütung also
        für die gleiche Arbeit unterschiedlich hoch sein, ohne
        dass man dies begründen könnte. Die Regelung, die
        solch unerträgliche Sachverhalte ermöglicht, ist zutiefst
        ungerecht und muss umgehend geändert werden. Die
        Ost-West-Besoldungsdifferenz bei den Angehörigen der
        Bundeswehr ist schon seit Jahren durch nichts mehr ge-
        rechtfertigt. Sie wirkt diskriminierend und demotivie-
        rend. Deshalb fordert die FDP mit dem Antrag „Gleiche
        Besoldung für alle Soldaten“ die Anhebung des Ostsol-
        des auf das Westniveau.
        Katrin Kunert (DIE LINKE): Für Die Linke steht
        fest, eine Demokratie braucht keine Interventionsarmee,
        sondern eine Berufsarmee mit 100 000 Soldatinnen und
        Soldaten zur Landesverteidigung! Sehr geehrte Frau
        Kollegin Homburger, Sie stellen in Ihrem Antrag fest,
        dass die innere Einheit in der Bundeswehr seit langem
        vollzogen ist. Wenn es denn so wäre, müssten wir heute
        nicht zum x-ten Mal über gleichen Sold reden. Allen Ex-
        perten ist klar, dass diese Unterschiede nicht mehr zu
        rechtfertigen sind. Aber die Koalition lässt auch die Lö-
        sung dieses Problems schleifen. Die Linke hat in der
        letzten Haushaltsdebatte Anträge zur sofortigen Anglei-
        chung gestellt, weil die vorgesehene Angleichung im
        Jahr 2009 nicht akzeptabel ist!
        Auch hier gilt das Sprichwort: Was Du heute kannst
        besorgen, das verschiebe nie auf morgen! Hier geht es
        um die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und
        West. Die sofortige Angleichung würde für die Berufs-
        soldaten und Soldaten auf Zeit 33 Millionen Euro und
        für die zivilen Angestellten 36 Millionen Euro kosten,
        also die Summe, die der Kongo-Einsatz verschlingen
        wird. Frau Kollegin Schäfer, Sie haben in Ihrer Rede
        zum Bericht des Wehrbeauftragten 2004 gesagt: Die Be-
        soldungsstruktur muss auf den Prüfstand. Es ist eine
        längst überfällige Entscheidung, die Soldatengehälter in
        den neuen Bundesländern dem Westniveau anzupassen.
        Das haben Sie im letzten Jahr festgestellt! Warum haben
        Sie unseren Anträgen im Verteidigungsausschuss nicht
        zugestimmt? Frau Kollegin Heß, Sie kommen in der
        gleichen Debatte zu dem Schluss, dass eine Angleichung
        so schnell wie möglich erfolgen muss. 2009 ist bei Ihnen
        so schnell wie möglich? Schnell geht anders!
        Wir fordern eine sofortige Angleichung und unterstüt-
        zen den Antrag der FDP, weil wir grundsätzlich Anträge
        nach inhaltlichen Kriterien bewerten. Es kann doch nicht
        sein, dass Sie unseren vernünftigen Anträgen nicht zu-
        stimmen, nur weil die aus der Opposition kommen.
        Dann stellen Sie doch die Anträge zur sofortigen Anglei-
        chung und Sie können sich unserer Unterstützung sicher
        sein! Uns geht es um die Soldatinnen und Soldaten und
        nicht um das Herkunftsprinzip von Anträgen in diesem
        Haus!
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4203
        (A) (C)
        (B) (D)
        Innere Einheit in der Bundeswehr heißt aber auch:
        Erstens: die Anerkennung von Vordienstzeiten in der
        NVA.
        Da nach wie vor die Dienstzeit in der NVA als „ge-
        dient in fremden Streitkräften“ eingestuft wird, ergeben
        sich daraus soziale Benachteiligungen für Angehörige
        der NVA.
        Während Bundeswehrsoldaten eine vollständige Pen-
        sion auf Grundlage ihrer Dienstzeit erhalten, bekommen
        Bundeswehr-NVA-Soldaten eine kleinere Pension auf-
        grund ihrer kürzeren Dienstzeit in der Bundeswehr. Die
        Dienstzeit in der NVA wird nicht anerkannt. Wir fordern
        hier sofortiges Handeln!
        Zweitens: die Unterschiede bei der Hinzuverdienst-
        grenze. Bundeswehrangehörige haben das Recht, nach
        Eintritt in den Ruhestand ihr Einkommen auf 120 Pro-
        zent ihres letzten Bezuges durch Zuverdienst zu steigern.
        Bundeswehr-NVA-Soldaten hingegen dürfen nur bis zu
        320 Euro hinzuverdienen, ungeachtet der Höhe des letz-
        ten Bezuges. Wir fordern auch hier eine schnelle Lö-
        sung!
        Drittens: Endgültige Klärung der Statusfrage. Ange-
        hörige der NVA, die in die Bundeswehr übernommen
        wurden, wurden in ihrem Dienstrang herabgestuft. An-
        gehörige der NVA dürfen ihren erworbenen Dienstrang
        auch nicht mit dem Zusatz „außer Dienst“ führen, anders
        als Angehörige der Bundeswehr oder der Wehrmacht.
        Begründet wird dies durch den Einigungsvertrag, in den
        die Reservistenverordnung der DDR nicht übernommen
        wurde. Legitimiert wird dies im § 8 des Wehrpflichtge-
        setzes, demnach jeder Dienst in einer anderen Armee als
        der Bundeswehr als Wehrdienst in fremden Streitkräften
        angesehen wird.
        Nur die Bundesrepublik Deutschland hat die DDR nie
        als souveränen Staat anerkannt und den Alleinvertre-
        tungsanspruch für das ganze deutsche Volk erhoben. Wie
        ist es da möglich, dass der Dienst in der NVA als Dienst
        in fremden Streitkräften gewertet wird?
        Wir müssen schnellstens alle Ungleichbehandlungen
        zwischen ost- und westdeutschen Soldatinnen und Sol-
        daten klar benennen und beseitigen! Gleiche Besoldung
        in Ost und West ist ein unabdingbarer erster Schritt!
        Meine Damen und Herren der großen Koalition, wer es
        ernst meint, wenn er den Soldatinnen und Soldaten für
        ihre Arbeit dankt, sollte dabei immer im Hinterkopf ha-
        ben, dass Lob und Anerkennung sich in Gleichbehand-
        lung und angemessener Bezahlung ausdrücken muss!
        Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Angleichung der Besoldung von Bundeswehrange-
        hörigen in Ost- und Westdeutschland ist überfällig. Aus
        zwei Gründen halten wir jede Art der Differenzierung
        nach Ost-West für überholt. Zum einen haben sich die
        Lebenshaltungskosten in Ost- und Westdeutschland
        inzwischen nahezu angeglichen. Zum anderen ist eine
        Angleichung für die Menschen im Osten ein wichtiges
        Signal, dass es die Politik auch Ernst meint mit der
        Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Die Be-
        soldung muss sich dabei am Allgemeinen Lebensstan-
        dard orientieren.
        Das ist auch für die Soldaten und Soldatinnen sowie
        für die Zivilbeschäftigten der Bundeswehr ein ganz
        wichtiger Punkt. Zu Recht wollen sie für gleiche Tätig-
        keiten und gleiche Leistungen auch gleiches Geld. In
        den vergangenen Jahren habe ich das Anliegen, eine
        gleiche Besoldung innerhalb der Bundeswehr zu ermög-
        lichen, stets unterstützt. Im Bereich der Bundeswehr sind
        wir dabei zwar langsam, aber doch ein gutes Stück vo-
        rangekommen. So erhalten alle im Auslandseinsatz be-
        findlichen Soldaten und Soldatinnen für die Dauer ihres
        Einsatzes die gleiche Besoldung. Um die Belastungen
        der Transformation abzumildern, haben in den letzten
        Jahren zudem fallspezifische Sonderregelungen dazu
        beigetragen, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Be-
        rufs- und Zeitsoldaten nach Westniveau bezahlt werden.
        Wer – unabhängig von Wohn- oder Geburtsort – dauer-
        haft im Westen stationiert und verwendet wird, erhält au-
        ßerdem volle Westbezüge. Auch der Wehrsold der Wehr-
        pflichtigen ist bundesweit einheitlich.
        Dieser Weg muss konsequent weiter gegangen wer-
        den. Deshalb ist es richtig, wenn die Bezüge von Bun-
        deswehrangehörigen in Ostdeutschland stufenweise an
        das Westniveau angeglichen werden. Für alle Gehalts-
        stufen bis zum Leutnant ist die Anhebung bis zum Jahr
        2007 geplant. Bis 2009 sollen die höheren Gehaltsstufen
        folgen. Sonderregelungen für die Bundeswehr müssen
        aber immer auch wohl begründet und vermittelbar sein.
        Eine einheitliche Lösung für den öffentlichen Dienst ist
        daher die bessere Variante.
        Gerade unter den Aspekten Motivation und Rekrutie-
        rung sind Besoldungsfragen besonders ernst zu nehmen.
        Durchschnittlich sind derzeit knapp 7 000 Soldaten und
        Soldatinnen weit außerhalb deutscher Grenzen mit Man-
        dat der Vereinten Nationen in internationalen Krisenein-
        sätzen eingesetzt. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur
        multilateralen Krisenbewältigung und Kriegsverhütung
        und schaffen in Krisengebieten die notwendigen Voraus-
        setzungen zur Friedenskonsolidierung – auf dem Balkan
        und in Afghanistan nimmt die Bundeswehr eine Schlüs-
        selrolle ein. Ich erlebe es immer wieder vor Ort: Die
        Bundeswehr erfüllt ihre Aufgaben professionell, klug
        und verlässlich. Zu Recht wird der Einsatz ihrer Solda-
        ten und Soldatinnen von der Bevölkerung in den Ein-
        satzgebieten und ihren Verbündeten geschätzt und aner-
        kannt.
        Trotz dieser positiven Gesamtbilanz darf jedoch nicht
        vergessen werden, dass die neuen Bundeswehraufgaben
        auch eine ganze Reihe zusätzlicher Anforderungen an die
        Soldaten und Soldatinnen stellen. In den internationalen
        Kriseneinsätzen sind heute neben militärisch-handwerk-
        lichen Fähigkeiten zusätzliche soziale und interkulturelle
        Kompetenzen gefragt. Wer für die Bundeswehr hoch
        qualifiziertes und motiviertes Personal gewinnen will,
        muss daher sowohl in Ausbildung und Bildung als auch
        in Ausrüstung, Ausstattung und in eine auf dem zivilen
        Arbeitsmarkt konkurrenzfähige Besoldung investieren.
        Alles andere würde Rekrutierungsschwierigkeiten, sin-
        kender Leistung und Demotivation zuarbeiten.
        4204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Gert Winkelmeier (fraktionslos): Gleiche Besol-
        dung der Soldatinnen und Soldaten in Ost und West
        sollte normal sein, so wie gleicher Lohn für gleichwer-
        tige Arbeit, die Angleichung der Lebensverhältnisse in
        Ost und West und gleicher Lohn für alle Beschäftigten in
        unserem Land, unabhängig davon, ob sie im Norden
        oder Süden, im Osten oder Westen arbeiten.
        Viele Politiker haben sich in den letzten 15 Jahren in
        Sonntagsreden darin gefallen, von der stärkeren interna-
        tionalen Verantwortung des zusammengewachsenen
        Deutschlands zu sprechen. Beim näheren Hinsehen er-
        schöpft sich diese Verantwortung bei der Bundeswehr in
        internationalen – so genannten – Friedenseinsätzen. Wer
        allerdings noch näher hinsieht, weiß, dass die Soldatin-
        nen und Soldaten auch im Jahr 16 nach der deutschen
        Einheit noch immer unterschiedlich besoldet werden.
        Es gibt zwei verschiedene Soldstaffelungen in der
        Bundeswehr; das ist durch nichts zu rechtfertigen. Es
        können keine vernünftig nachvollziehbaren Argumente
        beigebracht werden, warum die Besoldungsordnungen
        nach westlichen und östlichen Bundesländern eingeteilt
        sind. Danach erhalten die in den östlichen Bundeslän-
        dern eingesetzten Bundeswehrangehörigen nur 92,5 Pro-
        zent der Bezüge ihrer Kameraden im Westen. Das gilt
        auch für alle Familien- und Amtzuschläge und überhaupt
        für alle Stellenzulagen. Besonders beschämend finde
        ich, dass noch immer auch der einfache Wehrsold der
        Wehrpflichtigen so gering ist, dass ein normales Leben
        von diesen Beträgen nicht möglich ist.
        Die ursprüngliche und heute teilweise noch ver-
        wandte Begründung für ein geringeres Lohnniveau im
        Osten war bzw. ist die damals dort herrschende niedri-
        gere Produktivität. Diese Begründung ist seit Jahren un-
        haltbar. Trotzdem wird ständig versucht, im Osten ein
        Niedriglohngebiet aufrecht zu erhalten. Damit soll letzt-
        lich allen Menschen im Osten signalisiert werden, dass
        sie weniger gut arbeiten als Menschen im Westen. Es ist
        aber nicht einzusehen, dass Feuerwehrleute, Kranken-
        schwestern und Wachschutzleute im Osten weniger ver-
        dienen als im Westen. Sie alle haben das Recht auf glei-
        chen Lohn für gleiche Arbeit. Ein Niedriglohngebiet im
        Osten ist nicht hinnehmbar.
        Als vor Jahren die Debatte um die Angleichung der
        Lebensverhältnisse in Ost und West geführt wurde, die
        diese reiche Bundesrepublik noch immer nicht erreicht
        hat, da sprach die damalige Oppositionspolitikerin
        Merkel davon, dass die Löhne im Westen gesenkt und
        dem niedrigeren Niveau im Osten angeglichen werden
        müssen. Dieses Stichwort hatten ihr zuvor die Unterneh-
        merverbände geliefert. Seither wird versucht, nach die-
        sem Grundsatz zu verfahren. Was wir damals noch nicht
        wussten, ist, dass die Löhne im Osten immer künstlich
        auf Abstand zu denen im Westen gehalten werden. Dies
        ist einfach nicht hinnehmbar und unserer Gesellschafts-
        ordnung unwürdig.
        Die Bundeswehr ist zweifellos nicht nach Kriterien
        der Produktivität zu beurteilen. Ein Soldat, der in Mag-
        deburg stationiert ist, riskiert beim Auslandseinsatz ge-
        nauso sein Leben wie sein Kamerad in Koblenz. Deshalb
        kann ich die Bundesregierung nur auffordern, diese fi-
        nanziell unwürdige Behandlung zu beenden, ein Zeichen
        für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West auf
        Westniveau zu setzen und damit endlich auch bei der
        Bundeswehr anzufangen.
        Anlage 27
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Notschleppkonzept den veränderten Bedin-
        gungen der Seeschifffahrt anpassen
        – Notschleppkonzept an gestiegene Herausfor-
        derungen anpassen
        – Sicherheitskonzept für Nord- und Ostsee op-
        timieren
        (Tagesordnungspunkt 38 j)
        Enak Ferlemann (CDU/CSU): Nach jahrelanger
        Diskussion darüber, welche technischen Anforderungen
        an die Notschlepper in Nord- und Ostsee zu stellen sind,
        haben wir nun endlich ein gutes Ergebnis gefunden.
        Das sieht konkret so aus:
        Erstens. Für die Nordsee muss als Ersatz für den
        Hochseeschlepper „Oceanic“ ein Notschlepper vorge-
        halten werden, der bei einem auf 6 Meter reduzierbaren
        Tiefgang die Leistung von 200 Tonnen Pfahlzug und
        19,5 Knoten Geschwindigkeit erbringt und gemäß den
        Richtlinien des Germanischen Lloyd für den Einsatz in
        gefährlicher Atmosphäre geeignet ist.
        Zweitens. Für die Ostsee muss ein Notschlepper vor-
        gehalten werden, der 100 Tonnen Pfahlzug Leistung bei
        einer Geschwindigkeit von 16,5 Knoten erbringt. Dieser
        Schlepper muss nach den Richtlinien des Germanischen
        Lloyd für den Einsatz in ölbedecktem Gewässer geeignet
        sein und zusätzlich eine Gasspür- und Warnanlage zum
        Aufspüren einer gefährlichen Atmosphäre haben.
        Als Abgeordneter, dessen Wahlkreis an der Nordsee-
        küste liegt, bin ich froh, wenn wir zukünftig Notschlep-
        per mit höheren Leistungskriterien haben. Denn der Not-
        schlepper muss gerade bei schlechtem Wetter innerhalb
        von zwei Stunden an jedem Punkt seines vorgesehenen
        Einsatzgebietes wirksam erste Hilfe leisten können.
        Dazu gehört auch die Feuerlöschleistung. Er muss aber
        auch schneller als ursprünglich geplant sein, weil heu-
        tige Großcontainerschiffe eine deutlich höhere Drift-
        geschwindigkeit haben. Die Kombination der Leistungs-
        kriterien aus Pfahlzug, Tiefgang und Geschwindigkeit ist
        notwendig, um so frühzeitig wie möglich, aber auch im
        flacheren Küstengebiet noch einen leistungsstarken Ein-
        satz zu gewährleisten. Die oftmals gefährliche Ladung
        von Containerschiffen und Gastankern erfordert Einsatz-
        fähigkeit in gefährlicher Atmosphäre.
        Das Notschleppkonzept des Bundes hatte genau an
        dieser Stelle seinen Schwachpunkt. Jetzt haben wir die-
        sen Schwachpunkt beseitigt und damit das Konzept an
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4205
        (A) (C)
        (B) (D)
        das angepasst, was vor unseren Küsten in der Seeschiff-
        fahrt tatsächlich passiert.
        Das aktuelle Szenario sieht so aus:
        Erstens. Die Verkehrszahlen auf den Seeschifffahrts-
        straßen nehmen generell zu.
        Zweitens. Die Schiffe werden nicht nur größer, son-
        dern führen auch einen höheren Anteil an Gefahrgutla-
        dungen mit sich.
        Drittens. Die Häfen haben Zuwachsraten und beste
        Aussichten auf weiteres wirtschaftliches Wachstum.
        Wenn der Jade–Weser–Port in Wilhelmshaven fertig ist,
        werden dort Megacontainerschiffe ihre Fracht ebenso
        umschlagen wie Gas- und Chemikalientanker.
        Viertens. In der Ostsee werden vor allem die Tanker-
        verkehre erheblich zunehmen. Die Entwicklung ist also
        etwas anders zu beurteilen als an der Nordsee. Deshalb
        ist es dort besonders wichtig, dass die Ausrüstung nach
        den Richtlinien für den Einsatz in ölbedecktem Gewäs-
        ser ausgerichtet ist.
        Das heißt: Das Notschleppkonzept muss an die mit
        diesen Schiffsverkehren verbundenen Gefahrenlagen oh-
        nehin angepasst werden. Es muss sich an der Gegenwart
        und der Zukunft ausrichten.
        Wir dürfen aber auch die Vergangenheit nicht aus den
        Augen verlieren. Es ist wichtig, dass wir Lehren aus der
        Havarie der „Pallas“ 1998 und den zahlreichen anderen
        Unfällen ziehen. Schließlich ist das Notschleppkonzept
        eine Folge aus schmerzlichen Erfahrungen in den ver-
        gangenen Jahren. Was passieren kann, wenn wir für den
        Notfall unzureichend gerüstet sind, ist keine Versuchs-
        reihe am Modell, sondern erlebte Wirklichkeit. Deshalb
        ist es richtig und konsequent, die Sicherheit vor dem
        Hintergrund der Erfahrungen zu erhöhen.
        Ich möchte mich bei allen Beteiligten bedanken, die
        hartnäckig dafür gekämpft haben, die Leistung der Not-
        schlepper den tatsächlichen Erfordernissen anzupassen,
        auch wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist. Mit
        all denen, die heute zufrieden sein können, bin ich der
        Meinung, dass die Sicherheit unserer Küsten Vorrang
        haben muss vor Haushaltserwägungen. Mein besonderer
        Dank gilt meinem Kollegen Ingbert Liebing, der mit mir
        gemeinsam in vielen Arbeitsgruppensitzungen für den
        heutigen Erfolg gestritten hat.
        Ich weiß, dass mehrere Schlepper mit der Leistungs-
        fähigkeit, wie wir sie für die Ausschreibungen jetzt vor-
        gegeben haben, schon im Bau sind. Die technischen An-
        forderungen zu erfüllen, ist also kein großes Problem.
        Nachdem die Haushaltsmittel aufgestockt worden sind,
        bin ich überzeugt, dass dieses Budget ausreichen wird,
        um die höheren Kosten auch finanzieren zu können. Ich
        bin den Haushältern dankbar, dass sie die notwendigen
        Mittel in den Haushalt eingestellt haben. Denn die Ent-
        scheidung kann nicht länger hinausgezögert werden. Wir
        müssen für die Bauzeit eines Notschleppers nach der
        Auftragserteilung mindestens 22 bis 24 Monate rechnen.
        Der Schiffbauboom der letzten Jahre führt zu langen
        Lieferzeiten für Motoren, Getriebe und Propeller. Man
        muss da mit 18 und mehr Monaten rechnen.
        Lassen Sie mich zum Schluss anmerken: Wer die
        Küste kennt, weiß, dass wir dort einmalige Landschaften
        wie zum Beispiel den Nationalpark Wattenmeer und
        viele andere Schutzgebiete haben. Für diese Gebiete
        müssen wir Vorsorge treffen. Havarien können aber auch
        den Tourismus und die Fischerei bedrohen. Davon lebt
        die Küste, davon leben viele Menschen dort. Ich bin des-
        halb außerordentlich froh, dass wir uns in diesem Hause
        auch wegen der Existenzen, die daran hängen, einig
        sind, mit einer Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Not-
        schlepper Gefahren sofort und wirkungsvoll abwenden
        zu wollen.
        Wollen wir hoffen, dass es trotz unserer Vorsorge nie
        zu einem schwerwiegenden Unfall vor unseren Küsten
        kommt.
        Dr. Margrit Wetzel (SPD): 1994: 852 Menschen ver-
        lieren ihr Leben, weil die Fähre „Estonia“ vor der finni-
        schen Küste sinkt. 1998: Die „Pallas“ fängt bei schwe-
        rem Sturm und hoher See südwestlich Esbjerg Feuer.
        Versuche, das Schiff auf die offene See zu schleppen,
        scheitern, die „Pallas“ verdriftet ins Wattenmeer und
        läuft vor Amrum auf Grund. 1999: Der Produktentanker
        „Erika“ bricht vor der bretonischen Küste auseinander.
        2002: Der 26 Jahre alte Tanker „Prestige“ quert die Ost-
        see, passiert die Kadetrinne, gerät im Atlantik in Seenot,
        bricht auseinander und sinkt vor der Küste Spaniens.
        2002: Wenige Wochen später sinkt der Autotransporter
        „Tricolor“ nach einer Kollision binnen einer halben
        Stunde im Ärmelkanal. Mehrere Schiffe kollidieren spä-
        ter mit dem Wrack, das erst fast ein Jahr, später in Sek-
        tionen zersägt, geborgen werden kann.
        Dezember 1999: Über der Nordsee tobt der Orkan
        „Anatol“ mit der Stärke drei auf der amerikanischen
        Hurrikanskala. Der Massengutfrachter „Lucky Fortune“
        meldet Maschinenausfall, wirft den Anker und driftet
        trotzdem mit zeitweise über 5 Knoten auf Sylt zu. Welch
        ein Glück, dass wir den Notschlepper „Oceanic“ haben,
        der in 4,5 Stunden trotz des Orkans 52 Seemeilen bewäl-
        tigt, den Havaristen 12 Meilen vor Sylt erreicht, eine
        Schleppverbindung herstellen und die „Lucky Fortune“
        kurz vor der Strandung stoppen kann!
        Der Nationalpark Wattenmeer ist das größte Küsten-
        feuchtgebiet Europas. Mehr als 100 000 Schiffe kreuzen
        jährlich die Deutsche Bucht. Hamburg ist der achtgrößte
        Hafen der Welt, Wilhelmshaven freut sich auf einen
        Tiefwasserhafen, in dem die größten Containerschiffe
        erwartet werden, die derzeit im Bau sind: Sie tragen bis
        zu 13 000 TEU, allein die Reederei Maersk hat zehn sol-
        cher Megaschiffe bestellt. Wilhelmshaven ist Deutsch-
        lands größter Ölhafen, Eon plant dort einen LNS-Im-
        port-Terminal. Die Zahl der LNS-Tanker ist von 1999
        bis 2005 um 70 Prozent auf jetzt 191 gestiegen. Weitere
        131 LNS-Tanker sind derzeit bei Werften in Auftrag ge-
        geben. Ein riesiges Chemiewerk wird ebenfalls dort ent-
        stehen.
        An der Unterelbe haben wir mit Brunsbüttel und
        Stade gleich zwei große Chemiestandorte. Keine Frage:
        Die Gefahrguttransporte nehmen zu, die Zahl der
        Schiffsbewegungen wächst mit den höchst erfreulichen
        4206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Umschlagsteigerungen, die die deutschen Häfen, allen
        voran Hamburg, vermelden. Der Zuwachs soll von heute
        über acht Millionen TEU im Hamburger Hafen bis 2015
        auf über 18 Millionen gesteigert werden. Die Container-
        schiffe werden größer. Zugleich wird damit auch ihre
        Windangriffsfläche größer und das heißt, dass sie erheb-
        lich schneller verdriften. Das BSH hat in der Nordsee
        jetzt bereits elf Offshorewindparks genehmigt, auf die
        Havaristen gegebenenfalls zutreiben können. Was, wenn
        die „Lucky Fortune“ auf der Drift gen Sylt in einem
        Windpark gestrandet wäre?
        Sie mögen sich vielleicht fragen, warum wir Ver-
        kehrspolitiker mit unserem Antrag technische Details für
        die Notschlepper der Zukunft vorgeben? Ist das unsere
        Aufgabe? Ja, ja und noch einmal ja! Wer, wenn nicht
        wir, die Parlamentarier der Deutschen Bundestages, ha-
        ben die Verantwortung für die Qualität und Leistungsfä-
        higkeit der Notschlepper in Nord- und Ostsee, die aus
        Steuergeldern gechartert und zum effektiven Einsatz
        vorgehalten werden? Wir haben die Verantwortung da-
        für, dass die 50 Millionen Touristen, die jährlich in un-
        sere Wattenmeerregion kommen, sicher sind, dass Küs-
        tenbewohner und Wattenmeer wirksam geschützt
        werden vor Ölverschmutzungen oder giftigen Gasen und
        Chemikalien, die bei Havarien entstehen oder entwei-
        chen können.
        Das Notschleppkonzept der Bundesregierung, das
        nach der „Pallas“-Katastrophe erarbeitet wurde, war un-
        seren europäischen Nachbarn durchaus Vorbild. Es
        wurde 2001 verabschiedet und nimmt zu Recht für sich
        in Anspruch, wissenschaftlich korrekt erarbeitet worden
        zu sein. Aber: Was für Lärmschutzwände gut sein mag
        – nämlich von Durchschnittswerten auszugehen und sich
        nicht auf Spitzenbelastungen zu konzentrieren – taugt
        politisch nicht als Vorbild für große Schiffshavarien. Die
        Entwicklung geht mit Riesenschritten weiter, keine Pro-
        gnose konnte realistisch vorhersehen, dass in naher Zu-
        kunft bis zu 13 000 TEU-Containerschiffe bei uns gela-
        den und gelöscht werden. Der Umschlagzuwachs in den
        Häfen wurde drastisch unterschätzt, die Offshorewind-
        parks waren noch vage Utopien.
        In den letzten Jahren gab es zahlreiche öffentlich ge-
        führte Auseinandersetzungen um die Leistungskriterien
        der Notschlepper, bei denen Vertreter der Behörden in
        fachlichem Widerspruch zu Experten aus vielfältigster
        maritimer Praxis standen: Wenn Experten sich streiten,
        haben Politiker die Pflicht, zu zweifeln, zu prüfen und
        genau abzuwägen, ob sie eingreifen und politisch ent-
        scheiden, wie und mit welcher Leistung unsere Küsten
        geschützt werden sollen.
        Das haben wir getan, und zwar ganz bewusst und im
        Fachausschuss einvernehmlich über alle Fraktionen: Wir
        wollen für die Nordsee als Ersatz für den Schlepper
        „Oceanic“ einen Bergungsschlepper, der bei 6 Meter
        Tiefgang 19,5 Knoten Geschwindigkeit und einen Pfahl-
        zug von 200 Tonnen bringt und damit auch in flacheren
        Gewässern einen leistungsstarken Einsatz ermöglicht.
        Der Notschlepper sollte die Schleppverbindung zum Ha-
        varisten so früh wie möglich legen: Also muss er seinen
        Tiefgang erhöhen können. Damit verbessert sich seine
        Wirkleistung auch bei schwerem Wetter, er hat gewisse
        Leistungsreserven. Der neue Schlepper muss 19,5 Kno-
        ten Geschwindigkeit bringen, damit der deutlich höheren
        Windangriffsfläche und der größeren Driftgeschwindig-
        keit von Megacontainerschiffen wirksam begegnet wer-
        den kann.
        Ich betone ausdrücklich: Wir wollen einen richtigen
        Bergungsschlepper mit hoher Schlechtwettergeschwin-
        digkeit, keinen Ankerziehschlepper oder Bohrinselver-
        sorger!
        Unsere französischen Nachbarn haben gerade berich-
        tet, dass nur aufgrund der Rumpfform und der Ge-
        schwindigkeit von 19,5 Knoten der neue französische
        Notschlepper mit einer Anfahrtszeit von 1,5 Stunden ei-
        nen auf die bretonische Küste zutreibenden Frachter
        circa 30 Minuten vor der Strandung erfolgreich abfangen
        konnte. Der Nordseenotschlepper muss zusätzlich mit
        Gas- und Explosionsschutz nach den Richtlinien des GL
        für Chemikalienunfallbekämpfungsschiffe ausgerüstet
        sein. Die Besatzung braucht wirksamen Eigenschutz und
        optimale Zugriffsmöglichkeiten für jegliche Art von Ha-
        varie.
        Für die Ostsee unterstützen wir den Wunsch der Bun-
        desregierung, den neuen Schlepper, der die Kadetrinne
        absichern soll, nach den Leistungskriterien vorzuhalten,
        die auch in Schweden zum Einsatz kommen: 100 Ton-
        nen Pfahlzug bei 16,5 Knoten Geschwindigkeit und
        6 Meter Tiefgang mit einer Ausrüstung nach den Bau-
        vorschriften des GL für Ölfangschiffe.
        Eine unserer wichtigen Forderungen ist, dass das
        Schiffsführungspersonal über gute Kenntnisse der engli-
        schen Sprache verfügen, die gesamte Besatzung aber
        deutsch in Wort und Schrift beherrschen muss. Eine gute
        Kommunikation der Einsatzkräfte sichert den Erfolg im
        Ernstfall. Die gecharterten Notschlepper und ihre Besat-
        zungen werden von der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
        tung eingesetzt. Sie erstellt die Einsatzpläne, führt Übun-
        gen durch und erteilt der Besatzung Anweisungen, die
        verstanden werden müssen. Im Einsatz müssen die ge-
        charterten Notschlepper mit bundeseigenen Schiffen un-
        ter schwierigen Bedingungen zusammenarbeiten. Auch
        unsere Nachbarn England, Frankreich, Niederlande,
        Spanien, Italien fordern, dass ihre Notschlepperbesat-
        zungen die Nationalsprache in Wort und Schrift beherr-
        schen müssen. Dies ist also kein deutscher Alleingang,
        sondern ein wichtiger Baustein für ein erfolgreiches na-
        tionales Notschleppkonzept.
        Unsere parlamentarische Initiative, die Leistungsda-
        ten der neuen Notschlepper für Nord- und Ostsee vorzu-
        geben, erfolgt einstimmig über alle Fraktionen und in
        ausdrücklicher Übereinstimmung mit der politischen
        Leitung des BMVBS. Mit Befremden haben wir Versu-
        che der letzten Tage zur Kenntnis genommen, Stellung-
        nahmen von behördenexternen Fachleuten öffentlich zu
        diskreditieren. Wissenschaftliche Sorgfalt mag gut sein,
        aber die politische Verantwortung für Entscheidungen
        hat das Parlament: Wir übernehmen diese Verantwor-
        tung im Wissen um die Gefahren, vor denen wir unsere
        Küste, die Menschen hinter den Deichen und das Wat-
        tenmeer wirksam schützen wollen. Wir erwarten jetzt,
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4207
        (A) (C)
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        dass die Ausschreibung schnellstmöglich erfolgt, weil
        die Lieferzeiten für Motoren, Propeller, Getriebe und an-
        dere Großkomponenten über 18 Monate betragen und
        aufgrund der erfreulichen Auslastung der Werften für
        den Bau der Notschlepper zwei Jahre kalkuliert werden
        müssen.
        Hans-Michael Goldmann (FDP): Die unendliche
        Geschichte Notfallschlepper für Nord- und Ostsee nähert
        sich endlich einem guten Ende, eine Geschichte, bei dem
        sich das Bundesverkehrsministerium nicht gerade mit
        Ruhm beklekkert hat. Nach dem Pallas-Unglück hatte
        die Regierung die Projektgruppe „Notschleppen“ einge-
        setzt und die FDP hat immer begrüßt, dass das flächen-
        deckende Vorhalten ausreichender Notschleppkapazität
        als staatliche Aufgabe zum Schutz der deutschen Küsten
        anerkannt wurde.
        Doch zunächst wurde jahrelang mit den Experten von
        der Küste darüber gestritten, ob der geplante neue Not-
        fallschlepper für die Nordsee eine Tiefgangsbeschrän-
        kung von 6 Meter haben sollte oder nicht. Alle Verbände
        an der Küste waren dagegen, doch das Ministerium war
        nicht davon abzubringen. Auch ein von der Schutzge-
        meinschaft Deutsche Nordseeküste, SDN, eingereichtes
        Gutachten führte zu keiner Reaktion der Verwaltung.
        Erst als die FDP 2003 eine Kleine Anfrage an die Bun-
        desregierung richtete, bequemte sich das Verkehrsminis-
        terium dazu, auf das Schreiben der SDN zu reagieren.
        Nachdem dieser Streit endlich mit dem Kompromiss
        eines variablen Tiefgangs beendet wurde und wir alle
        dachten, nun geht es voran, vergaß das Ministerium für
        den Haushalt 2005 die nötigen Haushaltsmittel zu bean-
        tragen. Nun verging wiederum mehr als ein Jahr, in dem
        wir uns über Geschwindigkeit, Pfahlzug und Gas- und
        Explosionsschutz auseinander setzten. Noch in der Ant-
        wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
        FDP von diesem Frühjahr hieß es kategorisch, dass eine
        Nachbesserung beim Notschleppkonzept nicht notwen-
        dig sei.
        All diese Auseinandersetzungen hätten wir uns erspa-
        ren können, wenn das Ministerium nicht so gemauert
        hätte, wenn das Ministerium sich einer offenen und ehr-
        lichen Diskussion mit den Fachleuten von der Küste ge-
        stellt hätte.
        Die Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste, die
        Insel- und Hallig-Konferenz und der Deutsche Nautische
        Verein haben sich beim Ringen um den bestmöglichen
        Schutz unserer Küstengewässer und unserer Küsten sehr
        verdient gemacht und das Gutachten der SDN und die
        Stellungnahme des Deutschen Nautischen Vereins zum
        Notschleppkonzept der Bundesregierung haben dann
        letztlich auch die Große Koalition überzeugt.
        Die FDP begrüßt dies und deshalb gab es keinen ver-
        nünftigen Grund mehr, unseren eigenen Antrag aufrecht-
        zuerhalten. Ich freue mich, dass wir nach so vielen Jah-
        ren endlich zu einer gemeinsamen Position gefunden
        haben.
        Ich schließe mich dem Dank der SDN an meine Kol-
        legen von der SPD und der CDU an, dass sie nicht locker
        gelassen und das Ministerium zur Einsicht bewegt ha-
        ben. Aber ich möchte hier auch betonen, dass die FDP
        seit Jahr und Tag immer wieder den Finger in die Wunde
        gelegt und den Druck auf das Ministerium aufrechterhal-
        ten. Wir haben diverse Kleine Anfragen und parlamenta-
        rische Fragen zu diesem Komplex auf den Weg gebracht,
        immer wieder auf die Widersprüche in der Haltung des
        Ministeriums und auf Versäumnisse hingewiesen.
        Allerdings wird die heutige Freude dadurch getrübt,
        dass die Einigung im Verkehrsausschuss sich noch nicht
        im Haushalt wiederfindet. Die erhöhten technischen An-
        forderungen an die Schlepper werden nicht zum Nullta-
        rif zu bekommen sein. Mehr Sicherheit kostet mehr
        Geld. Auch wurde versäumt, die bisherigen Verzögerun-
        gen bei der Ausschreibung durch eine längere Laufzeit
        der Verpflichtungsermächtigung zu kompensieren. Da-
        bei hat das PwC-Gutachten eindeutig festgestellt, dass
        der Bau und Betrieb eines Schleppers durch ein privates
        Unternehmen sich nur rechnet, wenn die Charterlaufzeit
        zehn Jahre beträgt. Deshalb müssen wir bei den bald be-
        ginnenden Beratungen zum Haushalt 2007 dafür sorgen,
        dass die Verpflichtungsermächtigung von 2016 auf 2018
        verlängert wird und dass überprüft wird, ob die Anforde-
        rungen an die neuen Notfallschlepper mit dem alten
        Haushaltsansatz wirklich zu realisieren sind. Durch die
        entsprechende Mittelbereitstellung sollte auch deutlich
        werden, dass bei den geforderten hohen Ansprüchen an
        die neuen Notfallschlepper das überragende Know-how
        deutscher Schiffsingenieurkunst zum Einsatz und die
        Wertschöpfung der deutschen Küste zugute kommen
        kann.
        Mit einiger Verzögerung werden wir nun also leis-
        tungsstarke Notfallschlepper bekommen, die auch der
        Tatsache Rechnung tragen, dass der Schiffsverkehr mit
        immer größeren Schiffen zunimmt. Das ist ein gutes Sig-
        nal für die Küste.
        Dorothee Menzner (DIE LINKE): Das, worum es
        bei diesen Anträgen geht, ist ein Thema, bei dem wir lei-
        der immer wieder geneigt sind, es zu verdrängen oder
        auf die lange Bank zu schieben. Es geht um die Seenot-
        konzepte in der Nordsee und in der Ostsee, um die Si-
        cherheit von Menschen und um Lebensräume. Da freue
        ich mich, dass es dem Verkehrsausschuss des Bundes-
        tags in der letzten Sitzung gelungen ist, aus den Vorlagen
        der Fraktionen einen gemeinsamen Beschluss zu zau-
        bern. In Nord- und Ostsee brauchen wir die passenden
        Schiffe, um für alle Notfälle gewappnet zu sein, nicht ir-
        gendwelche, sondern die richtigen, die es im Notfall
        auch wirklich schaffen, Gefahren abzuwenden.
        In der Ostsee fehlt bislang ein kräftiges Schleppschiff,
        zumal es dort die Kadettrinne gibt, die nördlich der deut-
        schen Küste ihre Tücken hat. Dort nimmt bei größeren
        Schiffen die nutzbare Fahrrinne auf wenige hundert Me-
        ter ab. Da sollten wir handeln und für Schleppkraft sor-
        gen, bevor es zu spät sein könnte.
        Zwar hat die Parlamentarische Staatssekretärin in der
        Ausschusssitzung auf die Haushaltszwänge hingewie-
        sen. Wir sollten aber trotzdem aufpassen, dass der Pfahl-
        zug – die Zugkraft bei Notschleppschiffen – nicht zu
        4208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        sehr der Kassenlage angepasst wird. Wir sollten uns
        auch nicht Trugschlüssen hingeben und uns jetzt sicherer
        fühlen, nur weil die EU endlich Schritte in die Wege lei-
        tet, um für den Seetransport schwerer Öle den Einsatz
        von Schiffen mit doppelten Tankhüllen zu forcieren. Die
        neue Regelung ist nämlich beileibe nicht für alle Schiffe
        verbindlich. Sie lautet: Ölschiffe, die Schweröle beför-
        dern, dürfen nur dann eine Flagge der Gemeinschaft füh-
        ren, wenn es sich um Doppelhüllen-Öltankschiffe han-
        delt.
        Im Klartext heißt das: Öltanker, die nicht unter der
        Flagge eines EU-Staates fahren, dürfen nach wie vor
        Einhüllenschiffe sein und trotzdem schweres – hochgif-
        tiges – Öl transportieren. Dies bedeutet weiterhin erheb-
        liche Risiken und zwingt uns, weiterhin über mehr Si-
        cherheit nachzudenken. Sicherheit ist stets das Resultat
        technischer, organisatorischer und personeller Maßnah-
        men.
        Erinnern wir uns: Vor vier Jahren zerbrach der alters-
        schwache Einhüllentanker „Prestige“ vor der spanischen
        Küste. Er hatte von Estland aus die Ostsee durchfahren,
        gehörte einer griechischen Reederei, fuhr aber unter der
        Flagge der Bahamas. Spanische und portugiesische Be-
        hörden entschieden falsch: Statt das Schweröl beizeiten
        aus dem Schiff zu pumpen, begann eine folgenschwere
        Odyssee.
        Welche Konsequenzen sollten wir daraus ziehen?
        Egal ob EU oder Nicht-EU: Die personelle Qualifikation
        lässt sich an allen Küsten stets verbessern. Nur wenn es
        möglich ist, die Zeichen einer Gefahr zu erkennen, sind
        die zuständigen Stellen in der Lage, Havarien zu vermei-
        den. Nur dann können sie die passende technische Hilfe
        rechtzeitig organisieren.
        Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Schiffsunfälle der letzten Jahre haben immer
        wieder deutlich gemacht, welchen Gefahren die Küsten
        ausgesetzt sind und wie wichtig Notschlepper zur unmit-
        telbaren Gefahrenabwehr sind. Ein aktuelles, an die
        Entwicklung des Seeverkehrs angepasstes Notschlepp-
        konzept ist ein zentrales Element der maritimen Notfall-
        vorsorge für die deutsche Nord- und Ostseeküste. Des-
        halb hat die grüne Fraktion als erste Bundestagsfraktion
        bereits im Februar dieses Jahres, die Bundesregierung
        dazu aufgefordert, das derzeitige Notschleppkonzept zu
        überprüfen und zu aktualisieren.
        Wir freuen uns sehr, dass mittlerweile auch die anderen
        Bundestagsfraktionen unserem Beispiel gefolgt sind und
        fast identische Forderungen an die Bundesregierung ge-
        stellt haben, die wir nun in einem interfraktionellen An-
        trag gemeinsam an die Bundesregierung richten können.
        Der Küstenschutz ist eine so wichtige Aufgabe, dass
        wir hier dringend an einem Strang ziehen müssen.
        Die deutschen Küsten liegen an den am stärksten fre-
        quentierten Seeverkehrswegen der Welt. Allein Russland
        will seine Ölexporte aus den Ostseehäfen bis 2010 ver-
        doppeln. Damit steigt die Anzahl der Tanker, die mit der
        in der Ostsee maximal möglichen Größe von 150 000 bis
        160 000 tdw, tons deadweight, aus den baltischen Verla-
        dehäfen kommen. Für Tanker dieser Größe reicht der
        vom Bundesverkehrsministerium im Jahr 2001 empfoh-
        lene Mindest-Pfahlzug von 80 Tonnen für den in Rostock-
        Warnemünde stationierten Notschlepper nicht aus, er
        muss über eine Schleppleistung von mindestens
        100 Tonnen verfügen.
        In Anbetracht der Entwicklung in der internationalen
        Containerschifffahrt mit Schiffsgrößen über 9 000 TEU,
        die die deutschen Nordseehäfen schon heute – 2001:
        6 500 TEU – regelmäßig anlaufen, muss auch die
        Schleppleistung des vor Norderney stationierten Not-
        schleppers angepasst werden. Die Schleppleistung in der
        Nordsee muss auf mindestens 200 Tonnen erhöht wer-
        den. Ebenso erhöht werden muss die Geschwindigkeit in
        der Nordsee auf mindestens 19 Knoten. Denn die Not-
        schlepper müssen den dynamischen Auftrieb, den Con-
        tainerschiffe, die in der Regel mit hoher Deckladung
        fahren, erzeugen, zusätzlich noch überwinden und ihre
        Zugkraft in Abhängigkeit von der Windstärke noch er-
        heblich erhöhen.
        Ein weiteres Problem ist, dass auf Containerschiffen
        im umfangreichen Maße Gefahrengüter nach dem so ge-
        nannten IMDG-Code – „International Maritime Dange-
        rous Goods“ – transportiert werden. Im Falle einer Ha-
        varie muss die Notschlepper-Besatzung dringend vor
        gefährlichen Gasen geschützt werden. Deshalb müssen
        die Notschlepper in Nord- und Ostsee mit einem Schutz
        gegen gefährliche Gase nach der GL-Richtlinie für den
        Bau von Chemikalienunfall-Bekämpfungsschiffen aus-
        gerüstet werden.
        Gemeinsam fordern alle Fraktionen des Deutschen
        Bundestages die Bundesregierung dazu auf, künftige
        Notschlepper nach diesen Kriterien zu verbessern. Denn
        nur auf diese Weise können wir unsere Küsten ange-
        sichts des massiv zugenommenen Seeverkehrs und der
        Entwicklung zu immer größeren Schiffen schützen.
        Anlage 28
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Antrag: Selbstbestimmtes Leben in Würde
        ermöglichen – Transsexuellenrecht umfas-
        send reformieren
        – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Passgesetzes
        (Tagesordnungspunkt 25 und Zusatztagesord-
        nungspunkt 10)
        Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir diskutieren heute
        über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
        die eine umfassende Novellierung des Transsexuellen-
        rechtes fordern. Unterstützt wird die Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen in ihren Forderungen zum Teil durch
        ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. De-
        zember 2005. Das Bundesverfassungsgericht hat in die-
        sem Urteil eine Reform des Namensrechts für Transse-
        xuelle verlangt.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4209
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das Transsexuellengesetz ermöglicht einem trans-
        sexuellen Menschen, seinen Vornamen zu ändern, ohne
        eine geschlechtsanpassende Operation durchführen zu
        müssen – so genannte kleine Lösung. Personenstands-
        rechtlich wird er dabei weiterhin seinem im Geburtenre-
        gister eingetragenen Geschlecht zugerechnet. § 7 Abs. 1
        Satz 3 TSG entzieht ihm aber den gewählten Vornamen,
        wenn er heiratet, um den Eindruck zu vermeiden, dass
        gleichgeschlechtliche Partner eine Ehe eingegangen sein
        könnten. Das Gericht entschied, dass der durch § 7
        Abs. 1 Satz 3 TSG erzwungene Verlust des geänderten
        Vornamens bei Heirat wissenschaftlich weitgehend über-
        holt sei und das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
        Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Namensrecht eines homo-
        sexuell orientierten Transsexuellen verletze, solange die-
        sem eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht ohne
        Verlust des geänderten, seinem empfundenen Geschlecht
        entsprechenden Vornamens eröffnet ist. Das Bundesver-
        fassungsgericht hat § 7 Abs. 1 Satz 3 TSG im Wege ei-
        ner Anordnung nach § 35 BVerfGG für nicht anwendbar
        erklärt und den Gesetzgeber aufgefordert, eine neue Lö-
        sung zu finden.
        Mit ihrem Antrag beabsichtigt die Fraktion
        Bündnis 90/Die Grünen nunmehr die Beseitigung von
        Regelungen im Transsexuellengesetz, die transsexuelle
        Menschen daran hindert, ihrer Identität gemäß zu leben.
        Es handelt sich jedoch bei der Novellierung des Trans-
        sexuellengesetzes um eine juristisch äußerst komplexe
        Materie. Bereits im Jahre 2000 wurden deshalb zur Er-
        mittlung des tatsächlichen Änderungsbedarfs die Betrof-
        fenen, die Innenministerien und Senatsverwaltungen der
        Länder sowie verschiedene Verbände und Sachverstän-
        dige gebeten, ihre Erfahrungen mit dem TSG und den
        aus ihrer Sicht bestehenden Änderungsbedarf mitzutei-
        len.
        In Zusammenhang mit diesen Stellungnahmen sowie
        insbesondere in Zusammenhang mit dem Urteil des Bun-
        desverfassungsgerichts in dieser Sache halten auch wir
        es für erforderlich, verschiedene Regelungen des Trans-
        sexuellenrechts zu modifizieren. Gerade bei den im vor-
        liegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
        angesprochenen Regelungen handelt es sich jedoch in
        der Mehrzahl um Fragen, zu denen sehr divergierende
        Expertenmeinungen vorliegen. Wir kommen deshalb
        nicht umhin, uns die einzelnen Forderungen in Hinblick
        auf ihre Realisierbarkeit sehr genau anzuschauen und
        uns mit ihnen im Einzelnen auseinander zu setzen.
        Als relativ unproblematisch eingeschätzt wird dabei
        die Forderung der Grünen nach Abschaffung der Beteili-
        gung eines Vertreters des öffentlichen Interesses. Da die
        Einwände des Vertreters des öffentlichen Interesses bis-
        lang in kaum einem Fall Bestand hatten, kann nach
        ziemlich einhelliger Expertenansicht auf seine Mitwir-
        kung im Verfahren der Vornamensänderung nach § 3
        Abs. 2 Nr. 2 TSG künftig verzichtet werden.
        Aufgrund der mit einer Operation immer verbunde-
        nen Risiken spricht – zumindest meiner Ansicht nach –
        sicher auch einiges dafür, auf das Erfordernis einer ope-
        rativen Annäherung an das Erscheinungsbild des ande-
        ren Geschlechts zum Zwecke einer Änderung des Perso-
        nenstands gemäß § 8 TSG zu verzichten. Es gibt
        sicherlich beachtliche Motive, aus denen heraus ein
        Transsexueller vor einer Operation zurückschreckt.
        Auch in der Fachwissenschaft wird deshalb ein operati-
        ver Eingriff als Voraussetzung für die Änderung der Ge-
        schlechtszugehörigkeit zunehmend als problematisch
        beziehungsweise für nicht mehr haltbar erachtet.
        Für problematisch halte ich jedoch die Forderung von
        Bündnis 90/Die Grünen, die Änderung des Vornamens
        statt wie bisher von einer prognostisch sicheren Dia-
        gnose künftig nur noch von der einfachen Feststellung
        abhängig zu machen, dass sich eine Person aufgrund ih-
        rer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Ge-
        burtseintrag angegebenen, sondern dem anderen Ge-
        schlecht als zugehörig empfindet. Dies ermöglicht einen
        sehr schnellen Wechsel zu einem Vornamen des anderen
        Geschlechts und ermöglicht meiner Meinung nach ein
        leichtfertiges und missbräuchliches Verhalten.
        Ebenfalls für juristisch sehr problematisch halte ich
        die Bemühung der Grünen, das Verfahren nach dem
        TSG hier lebenden Ausländern zu ermöglichen. Dies
        könnte im Heimatland, in dem die betreffende Person
        nur unter ihrem Geburtsnamen existiert, zu erheblichen
        Problemen führen. Komplikationen ergäben sich über-
        dies im internationalen Privatrecht.
        Keinesfalls verzichten werden wir auf das Ledigkeits-
        gebot des § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG als Voraussetzung für die
        Änderung des Personenstands. Mit dem Wegfall dieser
        Voraussetzung würde ermöglicht, dass zwei Menschen
        des gleichen Geschlechts miteinander verheiratet wären.
        Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit
        mehrfach, zuletzt bei der Entscheidung zum Lebenspart-
        nerschaftsgesetz, festgestellt, dass die Ehe nach Art. 6
        Abs. 1 GG die Verbindung von Mann und Frau zur
        grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemeinschaft dar-
        stellt. Die Ehe von zwei Personen des gleichen Ge-
        schlechts kommt deshalb aus verfassungsrechtlicher
        Sicht nicht in Betracht. Eine Änderung von § 8 TSG mit
        dem Ziel eines Verzichts auf die Ehelosigkeit als Voraus-
        setzung für die Feststellung der Geschlechtszugehörig-
        keit würde insoweit die Gefahr einer grundgesetzwidri-
        gen Regelung beinhalten. Ob der in diesem
        Zusammenhang geforderte so genannte „gleitende Über-
        gang von Ehe in die Lebenspartnerschaft“ möglich ist,
        bedarf aufgrund der unterschiedlichen Rechtsinstitute
        und der unterschiedlichen Rechtsfolgen bei Auflösung
        der Ehe oder Lebenspartnerschaft einer sehr genauen
        Prüfung. Meiner Meinung nach ist ein gleitender Über-
        gang jedoch nicht machbar.
        Den im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
        beschriebenen faktischen Beschränkungen bei der Reise-
        freiheit von Transsexuellen im deutschen Passrecht wird
        durch eine Änderung des Passgesetzes begegnet werden.
        Der derzeitige Entwurf zur Novellierung des Passrechts
        sieht hierzu vor, dass Transsexuelle bereits bei vorlie-
        gender Vornamensänderung nach § 1 TSG eine von ihrer
        personenstandsrechtlichen Geschlechtszugehörigkeit ab-
        weichende Geschlechtsangabe auf Antrag im Pass erhal-
        ten können.
        4210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Angesichts der im Übrigen teilweise äußerst komple-
        xen rechtlichen Problematik wird ein Reformgesetz zum
        Transsexuellengesetz nicht mehr im Jahre 2006 vorge-
        legt werden können. Auch erscheint es sinnvoll, eine Be-
        arbeitung erst nach Abschluss der Personenstandsrechts-
        reform zu ermöglichen.
        Gabriele Fograscher (SPD): In der heutigen De-
        batte geht es um das Transsexuellenrecht. Damit greifen
        Bündnis 90/Die Grünen Forderungen des Lesben- und
        Schwulenverbandes in Deutschland für eine Reform des
        Gesetzes auf.
        Auch wenn dieses Thema nur wenige betrifft, so ist
        eine Novellierung des Transsexuellenrechts von 1980
        für die Betroffenen von erheblicher Bedeutung. Festzu-
        stellen ist, dass seit In-Kraft-Treten des Transsexuellen-
        rechts im Jahr 1980 neue wissenschaftliche Erkenntnisse
        gewonnen werden konnten. So wird zum Beispiel ein
        operativer Eingriff für die Änderung der Geschlechtszu-
        gehörigkeit in der Fachwissenschaft zunehmend als pro-
        blematisch beziehungsweise nicht mehr für haltbar er-
        achtet.
        Viele Transsexuelle wollen die Identität des anderen
        Geschlechts annehmen, scheuen aber die operative Ge-
        schlechtsangleichung und somit den Eingriff in ihre kör-
        perliche Unversehrtheit. Deshalb wählen sie die so ge-
        nannte „Kleine Lösung“, das heißt, sie lassen ihren
        Vornamen ändern und drücken damit die Zugehörigkeit
        zu dem Geschlecht aus, mit dem sie sich identifizieren.
        Damit beginnen die Probleme, denn eine Änderung
        des Vornamens beinhaltet nach geltendem Recht keine
        Personenstandsänderung. So findet sich zum Beispiel im
        Reisepass ein weiblicher Vorname zu einem männlichen
        Geschlecht. Das Problem ist deshalb akut, da zum Bei-
        spiel die USA keine vorläufigen Reisepässe, in denen
        das Geschlecht nicht angegeben war, nicht mehr aner-
        kennen. Hinzu kommt, dass vorläufige Reisepässe ohne
        Geschlechtsangabe seit dem 31. Dezember 2005 nicht
        mehr ausgestellt werden. Damit ist den Transsexuellen
        auch dieser Weg versperrt. Dieser Widerspruch in den
        Reisedokumenten kann bei der Grenzabfertigung zu Dis-
        kriminierungen und gegebenenfalls zu Einreiseverwei-
        gerungen des Betroffenen führen. Die Reisefreiheit der
        Transsexuellen, die die „Kleine Lösung“ für sich ge-
        wählt haben, wird in unzulässigerweise eingeschränkt.
        Aber auch in Hotels oder Banken, wo Ausweise vor-
        gelegt werden müssen, kann der Widerspruch zwischen
        Geschlecht, Vornamen und äußerem Erscheinungsbild
        zu großen Schwierigkeiten führen. Deshalb unterstützt
        die SPD-Bundestagsfraktion das Anliegen der Trans-
        sexuellen auf Ausstellung widerspruchsfreier Pässe bei
        der „Kleinen Lösung“.
        Da das Bundesinnenministerium bereits eine zeitnahe
        Änderung des Passgesetzes in Aussicht gestellt hat, in
        dem auch weitere Fragen behandelt werden sollen, greift
        der FDP-Gesetzentwurf zur Änderung des Passgesetzes
        einem umfassenden Gesetzgebungsverfahren vor und ist
        somit hinfällig.
        Aber auch in Deutschland gibt es Probleme: Heiratet
        ein Mann, der transsexuell ist und seinen Vornamen in ei-
        nem weiblichen geändert hat, eine Frau, so wird ihm der
        weibliche Vorname aberkannt, weil sonst eine gleichge-
        schlechtliche Ehe, nicht Lebenspartnerschaft, zugestanden
        würde. Damit werden seine Persönlichkeitsrechte verletzt.
        Dieses hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss
        vom 6. Dezember 2005 als verfassungswidrig eingestuft.
        Deshalb besteht hier Handlungsbedarf.
        Die weiteren Forderungen des Schwulen- und Les-
        benverbandes Deutschlands und von Bündnis 90/Die
        Grünen in dem vorliegenden Antrag sind unter anderen
        die Absenkung der Anforderungen für die so genannte
        „Kleine Lösung“, der Wegfall der Bedingung eines ope-
        rativen Eingriffs als Voraussetzung für eine Personen-
        standsänderung, die Anwendung des Transsexuellen-
        rechts auch auf alle Ausländer, die ihren Wohnsitz oder
        regelmäßigen Aufenthalt in Deutschland haben und die
        Umwandlung einer Ehe in eine Lebenspartnerschaft auf
        Wunsch der Eheleute bei einer Geschlechtsumwandlung.
        Diese Anliegen der Transsexuellen sind in einem anste-
        henden Gesetzgebungsverfahren eingehend zu prüfen.
        Deshalb fordern meine Fraktion und ich die Bundes-
        regierung auf, den notwendigen Gesetzentwurf zur
        Überarbeitung des Transsexuellenrechts unverzüglich
        vorzulegen, damit das geltende Transsexuellenrecht, das
        in Teilen vom Bundesverfassungsgericht als verfas-
        sungswidrig eingestuft wurde, an die neuen Anforderun-
        gen angepasst wird. Des Weiteren fordern wir die Bun-
        desregierung auf, die Ausstellung widerspruchsfreier
        Reisedokumente für Transsexuelle sicherzustellen.
        Da der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einem ge-
        ordneten und umfassenden Gesetzgebungsverfahren vor-
        greift, lehnen wir diesen Antrag ab.
        Jörg van Essen (FDP): Es ist lange her, dass sich
        der Deutsche Bundestag in einer Plenardebatte mit dem
        Transsexuellenrecht befasst hat. Es wäre der Sache sehr
        angemessen gewesen, wenn wir hierzu eine lebendige
        Debatte im Plenum gehabt hätten. Ich bedaure daher au-
        ßerordentlich, dass die Debatte an einem so ungünstigen
        und späten Termin stattfindet.
        Das Thema, mit dem wir uns heute zu befassen ha-
        ben, ist für die FDP keineswegs ein Randthema. Die In-
        teressen von transsexuellen Menschen sind für uns sehr
        wichtig. Es war daher auch die FDP, die zum Trans-
        sexuellenrecht in den vergangenen Jahren immer wieder
        parlamentarische Initiativen und Anfragen an die Bun-
        desregierung gestartet hat. Das Transsexuellengesetz ist
        seit dem In-Kraft-Treten am 1. Januar 1981 nicht mehr
        geändert worden. Es ist daher allgemeine Meinung, dass
        das Gesetz nun nach 26 Jahren dringend der Reform be-
        darf.
        In den vergangenen Jahren hat sich aufgrund von wis-
        senschaftlichen Untersuchungen und Erfahrungsberich-
        ten der Kenntnisstand über das Leben transsexueller
        Menschen wesentlich vergrößert. Das Transsexuellenge-
        setz ist daher in der Vergangenheit von den Verbänden,
        von Sachverständigen und Betroffenen oft kritisiert und
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4211
        (A) (C)
        (B) (D)
        Reformbedarf angemahnt worden. Insbesondere die
        lange Verfahrensdauer, Anzahl und Qualität der zu er-
        stellenden Sachverständigengutachten, aber auch die ge-
        richtliche Feststellung der Zugehörigkeit zum anderen
        Geschlecht und das Fehlen einer begleitenden psycho-
        therapeutischen Behandlung werden von den Betroffe-
        nen wiederholt als vorrangig reformbedürftig dargestellt.
        Hoffnung kam auf, als das Bundesministerium des In-
        nern im Jahr 2000 die Verbände der Betroffenen und
        Sachverständige um Stellungnahme zu den Erfahrungen
        mit dem Transsexuellengesetz gebeten hat. Mit Span-
        nung wurde die Auswertung dieser Befragung erwartet.
        Bis zum heutigen Tage liegt sie jedoch nicht vor.
        Die FDP-Bundestagsfraktion hat es immer außeror-
        dentlich bedauert, dass die rot-grüne Bundesregierung in
        den vergangenen sieben Jahren ihrer Regierungszeit un-
        tätig geblieben ist und keinerlei Anstrengungen unter-
        nommen hat, das Transsexuellengesetz zu reformieren
        und damit die Situation der Betroffenen erträglicher zu
        machen. Die Antworten der rot-grünen Bundesregierung
        auf die Anfragen der FDP waren stets ernüchternd. Die
        FDP-Bundestagsfraktion begrüßt es daher, dass bei
        Bündnis 90/Die Grünen endlich ein Umdenken stattge-
        funden hat, und sie mit ihrem Antrag zum Transsexuel-
        lenrecht nun auch Reform- und Handlungsbedarf erken-
        nen.
        Die FDP-Bundestagsfraktion legt zur heutigen
        Debatte einen Gesetzentwurf zur Änderung des Passge-
        setzes vor. Damit wollen wir erreichen, dass künftig si-
        chergestellt wird, dass bei Transsexuellen die Ge-
        schlechtsangabe in Reisepässen dem Geschlecht des
        Vornamens angepasst wird. Wir nehmen damit eine For-
        derung auf, die von transsexuellen Männern und Frauen
        in den vergangenen Jahren immer wieder erhoben wurde
        und von den Betroffenen als prioritär bezeichnet wurde.
        Transsexuelle, die sich für die so genannte kleine Lö-
        sung entschieden und keine Veränderung ihrer äußeren
        Geschlechtsmerkmale vorgenommen haben, können
        eine personenstandsrechtliche Änderung ihres Ge-
        schlechts nicht beantragen. Sie haben aber die Möglich-
        keit, ihren Vornamen ändern zu lassen. Dies führt dazu,
        dass Name und Geschlecht in Widerspruch zueinander
        stehen. Eine Identität zwischen Name, Geschlecht und
        äußerem Erscheinungsbild ist nicht gegeben. Dies führt
        immer wieder dazu, dass insbesondere bei Auslandsrei-
        sen Transsexuelle vielfältigen Diskriminierungen ausge-
        setzt sind, da in ihrem Pass ein Geschlecht angegeben
        ist, das nicht ihrer empfundenen Geschlechtszugehörig-
        keit entspricht. Dieser Zustand muss umgehend beseitigt
        werden.
        Das Bundesverfassungsgericht hat in einem beach-
        tenswerten Beschluss vom Dezember letzten Jahres ent-
        scheidende Vorschriften des Transsexuellengesetzes für
        verfassungswidrig erklärt und eine Reform des Trans-
        sexuellengesetzes angemahnt. In dem Beschluss hat das
        Gericht in beeindruckender Klarheit ausgeführt, dass
        sich die in dem Transsexuellengesetz zugrunde liegen-
        den Annahmen über die Transsexualität inzwischen in
        wesentlichen Punkten als wissenschaftlich nicht mehr
        haltbar erwiesen haben.
        Das Gericht kommt insbesondere zu einer Neubewer-
        tung der Situation von Transsexuellen, die sich für die
        „kleine Lösung“ entschieden haben. Das Gericht erteilt
        der These, wonach die „kleine Lösung“ für einen Trans-
        sexuellen nur ein Durchgangsstadium zur „großen
        Lösung“ sei, eine klare Absage. Das Bundesverfassungs-
        gericht sieht daher für eine unterschiedliche personen-
        standsrechtliche Behandlung von Transsexuellen mit
        und ohne Geschlechtsumwandlung keine haltbaren
        Gründe mehr.
        Zur Lösung des Problems legt das Gericht dem Ge-
        setzgeber ausdrücklich nahe, das Personenstandsrecht
        dahin gehend zu ändern, dass ein bei einer nachgerichtli-
        chen Prüfung gemäß den §§ 1 ff. des Transsexuellenge-
        setzes anerkannter Transsexueller ohne Geschlechts-
        umwandlung rechtlich dem von ihm empfundenen
        Geschlecht zugeordnet wird. Dies wird mit der vorge-
        schlagenen Änderung im Passgesetz erreicht. Auch die
        Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Kleine
        Anfrage erst kürzlich erklärt, dass Transsexuelle die
        gleichen Möglichkeiten zu Auslandsreisen ohne Diskri-
        minierungen erhalten müssen wie alle anderen Bürger
        auch. Erst vor wenigen Tagen hat sich auch der Peti-
        tionsausschuss des Deutschen Bundestages für eine ent-
        sprechende Änderung des Passgesetzes ausgesprochen.
        Wir möchten sicherstellen, dass Transsexuelle gesell-
        schaftlich und rechtlich entsprechend der neuen ge-
        schlechtlichen Identität behandelt werden. Die FDP
        weist ausdrücklich darauf hin, dass eine isolierte Ände-
        rung des Passgesetzes auf keinen Fall ausreichend ist. Pa-
        rallel hierzu brauchen wir eine Gesamtreform des Trans-
        sexuellengesetzes. Ich fordere die Bundesregierung auf,
        den Handlungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts
        ernst zu nehmen und dem Deutschen Bundestag umge-
        hend einen Gesetzentwurf vorzulegen. Äußerungen aus
        dem Bundesinnenministerium aus jüngster Zeit geben
        wenig Anlass zur Hoffnung, dass dieses Problem dort
        ernst genommen wird. Die Bundesregierung war bisher
        nicht bereit, einen Zeitpunkt zu nennen, wann mit einem
        solchen Gesetzentwurf zu rechnen ist. Die FDP-Bundes-
        tagsfraktion wird daher nicht nachlassen in ihrer Forde-
        rung nach einer Reform des Transsexuellengesetzes.
        Ich würde mich sehr freuen, wenn endlich auch die
        Koalitionsfraktionen bereit wären, anzuerkennen, dass
        der Gesetzgeber in dieser wichtigen Frage der Gesell-
        schaftspolitik nicht weiter untätig bleiben darf. Ich ap-
        pelliere an die anderen Fraktionen, dieses Thema nicht
        zum Gegenstand von parteipolitischen Auseinanderset-
        zungen zu machen. Das Thema und die berechtigten In-
        teressen der Betroffenen sind dafür zu ernst. Es wäre der
        Sache dienlich, wenn wir gemeinsam zu einer vernünfti-
        gen, sachgerechten und vor allem zeitnahen Lösung
        kommen würden.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Das Transsexuellenrecht muss grundlegend
        reformiert werden. Ziel der Reform muss sein, trans-
        sexuellen Menschen in Deutschland ein selbstbestimm-
        tes Leben in Würde zu ermöglichen. Es geht um eine
        kleine Gruppe von Menschen. Die Probleme, die ihnen
        das geltende Recht bereitet, sind dagegen ziemlich groß.
        4212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bei seiner Einführung 1981 hatte das Transsexuellenge-
        setz große Fortschritte gebracht. Viele seiner Regelungen
        entsprechen aber nicht mehr dem heutigen sexualwissen-
        schaftlichen Kenntnisstand. Auch das Bundesverfassungs-
        gericht hat im Dezember 2005 festgestellt:
        Die dem Transsexuellengesetz zugrunde liegenden
        Annahmen über die Transsexualität haben sich in-
        zwischen in wesentlichen Punkten als wissenschaft-
        lich nicht mehr haltbar erwiesen.
        Was ist zu tun? Die Zugangsvoraussetzungen für das
        Transsexuellengesetz müssen deutlich liberalisiert wer-
        den. Das gilt sowohl für die Annahme eines Vornamens
        des anderen Geschlechts, die so genannte kleine Lösung,
        als auch für die personenstandsrechtliche Änderung des
        Geschlechts, die so genannte große Lösung. Das auf-
        wendige Gutachterwesen muss reformiert, bürokratische
        Hemmnisse müssen beseitigt werden. Der Gesetzgeber
        darf transsexuelle Menschen für eine Personenstandsän-
        derung nicht mehr auf den Operationstisch zwingen,
        wenn sie darin für sich keine Notwendigkeit sehen. Das
        Recht muss Menschen unterstützen, selbstbestimmt ihrer
        Identität gemäß zu leben, anstatt sie in bürokratische
        Raster zu pressen.
        Ein weiterer wichtiger Bereich: Transsexuellen muss
        es ermöglicht werden, eine rechtlich abgesicherte Part-
        nerschaft mit der Partnerin bzw. dem Partner ihrer Wahl
        zu führen. Das hat das Bundesverfassungsgericht klarge-
        stellt. Es kann auch nicht sein, dass verheiratete Trans-
        sexuelle, die sich für eine personenstandsrechtliche Än-
        derung des Geschlechts entscheiden, von Staats wegen
        zur Scheidung gezwungen werden, wenn die Partner zu-
        sammenbleiben wollen. Uns müssen doch die Persön-
        lichkeitsrechte, der Schutz des Privatlebens dieser Paare
        wichtiger sein als Prinzipienreiterei.
        Zudem müssen auch Transsexuelle mit der kleinen
        Lösung die gleichen Möglichkeiten zu Auslandsreisen
        ohne Diskriminierungsgefahr erhalten wie alle anderen
        Bürgerinnen und Bürger. Das neuerdings geltende Pass-
        recht zwingt Transsexuelle, die ihren Vornamen nach
        dem Transsexuellengesetz geändert haben, mit einem
        Geschlechtseintrag im Reisepass zu reisen, der weder ih-
        rer Identität noch ihrem Erscheinungsbild entspricht.
        Damit sind entwürdigende Diskriminierungen bei
        Grenzkontrollen vorprogrammiert. Die Bundesregierung
        hat auf unsere Anfrage hin vage in Aussicht gestellt, hier
        irgendwann etwas im Passrecht zu tun. Übergangsrege-
        lungen hat sie aber abgelehnt.
        Aber was ist mit Menschen, die noch dieses Jahr eine
        Geschäftsreise unternehmen müssen? Was ist mit Men-
        schen, die in dringenden Familienangelegenheiten ins
        Ausland reisen müssen? Sollen sie warten, bis sich die
        Bundesregierung sich dazu bequemt, endlich die Hürden
        für Transsexuelle zu beseitigen? Oder sollen sie Gefahr
        laufen, bei der Einreise peinlich befragt oder gar am
        Flughafen zurückgewiesen zu werden? Hier muss sofort
        etwas geschehen.
        Es gibt mittlerweile eine ganze Sammlung von Ver-
        fassungsgerichtsurteilen, die für die Persönlichkeits-
        rechte der Betroffenen und gegen Restriktionen im
        Transsexuellengesetz Stellung bezogen haben. Eine wei-
        tere Entscheidung zum Scheidungszwang für verheira-
        tete Personen, die eine Personenstandsänderung vorneh-
        men wollen, steht an. Wir sollten als Gesetzgeber nicht
        immer auf das Verfassungsgericht warten, sondern nun
        selbst eine grundlegende Überarbeitung in Angriff zu
        nehmen.
        Der frühere Innenminister konnte sich für dieses
        Thema nie erwärmen und hat alle Reformvorstöße abge-
        wimmelt. Wir Grüne konnten bei der Einführung des Le-
        benspartnerschaftsgesetzes aber immerhin das Ansinnen
        des Bundesinnenministers abwehren, die vom Verfas-
        sungsgericht im Dezember 2005 hinsichtlich der Ehe für
        verfassungswidrig erklärte Regelung zum geänderten
        Vornamen auf das Lebenspartnerschaftsgesetz zu über-
        tragen. Das hat dann zumindest für heterosexuelle Trans-
        gender mit der kleinen Lösung einen gewissen Fort-
        schritt gebracht. Jetzt muss ein großer Wurf folgen, die
        umfassende Neugestaltung des Transsexuellenrechts.
        Die jetzige Bundesregierung sah sich auf unsere An-
        frage hin nicht in der Lage, einen Zeitpunkt für die Ein-
        bringung eines Gesetzentwurfes zur Änderung des
        Transsexuellengesetzes zu nennen. Begründet wurde
        dies mit der Belastung des zuständigen Referats im Bun-
        desministerium des Inneren mit der Reform des Perso-
        nenstandsrechts.
        Bei allem Verständnis für dessen Nöte: Es kann den
        transsexuellen Bürgerinnen und Bürgern doch nicht zu-
        gemutet werden, über die weitere Zukunft des Trans-
        sexuellengesetzes möglicherweise über Jahre hinweg im
        Unklaren gelassen zu werden. Es handelt sich hier
        schließlich für die betroffenen Menschen um lebensprä-
        gende Sachverhalte, die ihre Persönlichkeitsrechte im
        Kern berühren. Verzögerungen können für sie verlorene
        Lebensjahre bedeuten.
        Auch im Petitionsausschuss gibt es zahlreiche Einga-
        ben zum Transsexuellenrecht, die zeigen, wie notwendig
        eine Reform ist. Erst letzte Woche hat der Petitionsaus-
        schuss einstimmig zwei Eingaben von Transsexuellen
        zur Partnerschaftsregelung und zum Passrecht unter-
        stützt. Das ist ein wichtiges Signal. Ich hoffe sehr, dass
        wir im Parlament einvernehmlich zu einer raschen Re-
        form des Transsexuellengesetzes kommen. Mit unserem
        Antrag wollen wir hierzu den Anstoß geben.
        Anlage 29
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Entwürfe:
        – Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts
        – Erstes Gesetz zur Änderung des Unterhalts-
        vorschussgesetzes
        (Tagesordnungspunkt 26 a und b)
        Ute Granold (CDU/CSU): Wir haben bereits in der
        vergangenen Legislaturperiode über die Reform des Un-
        terhaltsrechts diskutiert. Wegen der vorgezogenen Neu-
        wahlen konnte aber der im Mai 2005 erstmals vorgelegte
        Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums nicht
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4213
        (A) (C)
        (B) (D)
        weiter verfolgt werden. Die Fraktionen von CDU/CSU
        und SPD haben sich im Koalitionsvertrag dazu ver-
        pflichtet, die Situation von Familien mit Kindern weiter
        zu verbessern. Kinder sollen beim Unterhalt an erster
        Stelle stehen. Die Eigenverantwortung nach der Ehe soll
        gestärkt und eine Harmonisierung der Steuer- und so-
        zialrechtlichen Bestimmungen angestrebt werden.
        Auf der Grundlage des Referentenentwurfs ist unter
        diesen Vorgaben der Entwurf für das Unterhaltsände-
        rungsgesetz erarbeitet worden. Die gesellschaftliche Re-
        alität von Ehe und Familie hat sich in den vergangenen
        Jahren, vor allem im großstädtischen Milieu, wesentlich
        verändert. Die Zahl der Scheidungen steigt von Jahr zu
        Jahr. Viele dieser Ehen werden schon nach relativ kurzer
        Dauer geschieden, etwa 50 Prozent davon sind kinder-
        los. Außerdem hat sich die Rollenverteilung in der Ehe
        mehr und mehr verändert. Immer häufiger bleiben beide
        Partner – auch nach der Geburt der Kinder – berufstätig
        oder nehmen ihren Job nach einer erziehungsbedingten
        Pause wieder auf.
        Doch neben dieser noch relativ „klassischen“ Famili-
        enstruktur haben sich zunehmend neue Familienformen
        herausgebildet. Immer mehr Kinder leben in nicht eheli-
        chen Lebensgemeinschaften oder bei einem allein erzie-
        henden Elternteil. So haben etwa ein Drittel der über
        zwei Millionen „ohne Trauschein“ zusammenlebender
        Paare Kinder. Da immer häufiger kurze Ehen geschieden
        werden, kommt es nach der Scheidung zur Gründung
        von „Zweitfamilien“, was durch die unzureichenden Re-
        gelungen des derzeitigen Unterhaltsrechts oft soziale
        Notlagen zur Folge hat.
        Mit diesem gesellschaftlichen Wandel ist auch ein
        Wertewandel verbunden: Der schon heute im Gesetz
        verankerte Grundsatz der Eigenverantwortung nach der
        Ehe stößt vor diesem Hintergrund auf eine immer grö-
        ßere Akzeptanz. Es besteht Konsens, dass die Kinder als
        „schwächstes Glied in der Kette“ eines besonderen
        Schutzes bedürfen, da sie, anders als Erwachsene, nicht
        selbst für ihren Unterhalt sorgen können.
        Vor diesem Hintergrund ergeben sich neue Herausfor-
        derungen und Zielsetzungen für den Gesetzgeber. Eine
        nachhaltige und verantwortungsvolle Familienrechtspo-
        litik muss sich sowohl den gesellschaftlichen Verände-
        rungen als auch den gewandelten Wertvorstellungen
        stellen. Leitlinien einer solchen Politik müssen zum ei-
        nen die verfassungsrechtlich gebotene Gleichberechti-
        gung von ehelichen und nicht ehelichen Kindern und
        zum anderen der durch unsere Verfassung garantierte be-
        sondere Schutz der Ehe sein.
        Zusätzlicher Handlungsdruck ergibt sich für den Ge-
        setzgeber aus der Tatsache, dass die Gerichte die Ge-
        setze bereits heute weit auslegen müssen, um in allen
        Fällen sachgerechte Lösungen zu finden. Die Rechtspre-
        chung, insbesondere auch die des Bundesverfassungsge-
        richtes, hat uns inzwischen eingeholt und eine Reihe
        wegweisender Urteile in Richtung der heute diskutierten
        Reform gefällt. So wird auch in Kürze damit gerechnet,
        dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber in
        der Frage der Benachteiligung von nicht ehelichen Kin-
        dern bei der Dauer des Betreuungsunterhalts zu Neure-
        gelungen verpflichten wird, da die bisherige Regelung in
        ihrer Reichweite wohl nicht verfassungskonform ist.
        Der jetzige Gesetzentwurf zur Neuregelung des Un-
        terhaltsrechts verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: die
        Förderung des Kindeswohls, die Stärkung der Eigenver-
        antwortung nach der Ehe und die Vereinfachung des Un-
        terhaltsrechts.
        Das Kindeswohl steht im Mittelpunkt der Reform und
        ist der Grund für die rechtspolitisch wichtigste Änderung:
        die Neuregelung der Rangfolge im Mangelfall. Künftig
        konkurrieren im ersten Rang die minderjährigen und auch
        die ihnen gleichgestellten, noch in der allgemeinen
        Schulausbildung befindlichen volljährigen Kinder nicht
        mehr mit den Ehegatten. Vielmehr hat der Kindesunter-
        halt Vorrang vor allen anderen Unterhaltsansprüchen. Da
        Kinder, anders als Erwachsene, keine Möglichkeit haben,
        selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, ist ihnen am wenigs-
        ten zuzumuten, auf ergänzende Sozialleistungen ange-
        wiesen zu sein.
        Im zweiten Rang finden sich dann alle Kinder betreu-
        enden Elternteile – unabhängig davon, ob sie verheiratet
        sind oder waren und ob sie das Kind alleine oder ge-
        meinsam erziehen. Durch diese Neuregelung werden
        demnach jeder Ehegatte und auch nicht verheiratete El-
        tern hinsichtlich ihres Ranges gleichbehandelt, sofern sie
        ein Kind betreuen.
        Ebenso schutzbedürftig ist aber auch der Ehegatte bei
        längerer Ehedauer im Hinblick auf seine weiteren Unter-
        haltsansprüche. Auch er findet sich daher im zweiten
        Rang. Dabei wird das Kriterium „Ehe von langer Dauer“
        bewusst nicht näher konkretisiert, um den Gerichten in
        kritischen Verteilungs- bzw. Konkurrenzfällen ein Kor-
        rektiv zur Verfügung zu stellen und damit eine Grund-
        lage für Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Weniger So-
        lidarität kann dagegen der Ehegatte verlangen, der nur
        kurz verheiratet war und keine Kinder zu betreuen hat.
        Folglich steht dieser entsprechend im dritten Rang. Bei
        der weiteren Rangfolge ergeben sich gegenüber dem gel-
        tenden Recht im Wesentlichen keine Veränderungen.
        Im Übrigen geht es bei der Neufassung auch darum,
        die mit der geltenden Rechtslage verbundene Benachtei-
        ligung der nicht ehelichen Kinder ein Stück weit abzu-
        bauen. Das in diesem Zusammenhang in Kürze erwar-
        tete Urteil des Bundesverfassungsgerichtes habe ich
        bereits erwähnt. Bisher wird den nicht ehelichen Kin-
        dern zugemutet, dass ihre Mütter bereits nach dem drit-
        ten Lebensjahr wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen
        müssen, während geschiedene Mütter ihre Kinder deut-
        lich länger betreuen können. Unter dem Aspekt des Kin-
        deswohls klafft hier die „Schere“ zwischen geschiede-
        nen und nicht verheirateten Elternteilen zu weit
        auseinander. Diese Schere gilt es im Interesse der Kinder
        ein Stück weit zu schließen.
        Eine weitere wesentliche Neuerung zum Wohl des
        Kindes ist die gesetzliche Definition des Mindestunter-
        halts minderjähriger Kinder. Durch die Bezugnahme auf
        den Kinderfreibetrag aus dem Einkommensteuerrecht
        wird nicht nur die dringend notwendige weitgehende
        Harmonisierung mit dem Steuerrecht erreicht, sondern
        4214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        auch die von Bundestag und Bundesverfassungsgericht
        geforderte Normenklarheit geschaffen. In einem paralle-
        len Gesetzgebungsverfahren wird das Unterhaltsvor-
        schussgesetz entsprechend angepasst werden. Die geän-
        derte Rangfolge und die Normenklarheit beim
        Mindestunterhalt sind zusammengenommen ein wichti-
        ger Schritt, um die Akzeptanz von Unterhaltszahlungen
        an die Kinder zu erhöhen und somit das zentrale Ziel der
        Reform zu erreichen.
        Die nacheheliche Eigenverantwortung wird durch den
        Entwurf ebenfalls in mehrfacher Hinsicht gestärkt. Das
        Unterhaltsrecht darf kein bestimmtes Ehebild vorgeben.
        Die Ehegatten sind in der Ausgestaltung der Ehe und der
        Wahl der Rollenverteilung frei und durch Art. 6 GG um-
        fassend geschützt. Aus diesem Grundgesetzartikel ergibt
        sich aber auch eine fortwirkende nacheheliche Solidari-
        tät, die sich im Unterhaltsrecht des BGB widerspiegelt.
        Dieser verfassungsrechtliche Rahmen lässt dem Gesetz-
        geber durchaus Spielräume, um gesellschaftlichen Ver-
        änderungen Rechnung zu tragen. In diesem Punkt sieht
        der aktuelle Gesetzentwurf eine wichtige Neuerung vor,
        der für die allgemeine Akzeptanz des Unterhaltsrechts in
        der Bevölkerung von großer Bedeutung ist. So fasst der
        Gesetzentwurf den Grundsatz der Eigenverantwortung
        neu und eindeutiger. Dies wird sich insbesondere auf die
        nun engere Auslegung der Unterhaltstatbestände und das
        bisher pauschal angewendete „Altersphasenmodell“
        beim Betreuungsunterhalt auswirken.
        Flankiert wird diese Maßnahme durch eine ver-
        schärfte Anforderung an die Wiederaufnahme einer Er-
        werbstätigkeit. Nach der geltenden Rechtslage kann es
        dem geschiedenen Ehegatten oft nicht zugemutet wer-
        den, in eine früher ausgeübte Erwerbstätigkeit zurückzu-
        kehren. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen
        Wandels ist dies gerade bei kürzeren Ehen für den Unter-
        haltspflichtigen nicht zumutbar. Trotzdem bleiben nach
        dem Gesetzentwurf die ehelichen Lebensverhältnisse als
        Korrektiv erhalten. Dem Richter bleibt also auch hier ein
        Spielraum, im Einzelfall die Zumutbarkeitskriterien für
        eine eigene Erwerbstätigkeit des geschiedenen Ehegat-
        ten höher zu setzen. Die nacheheliche Eigenverantwor-
        tung wird zusätzlich durch die Einführung einer neuen,
        alle Unterhaltsansprüche erfassenden Billigkeitsrege-
        lung gestärkt, nach der Unterhaltsansprüche in Bezug
        auf Höhe und Dauer beschränkt werden können. Um
        Härtefälle bei bereits geschiedenen Ehen zu vermeiden,
        sind entsprechende Übergangsregelungen vorgesehen.
        Der Grundsatz der Vereinfachung des Unterhalts-
        rechts ist bei der vorgesehenen Vereinfachung der Anre-
        chung des Kindergeldes besonders deutlich zu erkennen.
        Die neue Regelung der Kindergeldverrechnung weist
        das Kindergeld unterhaltsrechtlich dem Kind zu. Das
        Kindergeld wird also von vornherein bedarfsmindernd
        berücksichtigt. In der Folge erhöht sich dann durch das
        Kindergeld der Betrag, der zur Bedarfsdeckung zur Ver-
        fügung steht. Dies wird den künftig im zweiten Rang
        Berechtigten zugute kommen. Auf diesem Weg gelingt
        es uns, die negativen Auswirkungen auf das Realsplit-
        ting zum größten Teil zu kompensieren, die sich sonst
        aus der Neuordnung der Rangverhältnisse ergeben wür-
        den.
        Die weitere Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit
        dem Steuer- und Sozialrecht, die auch vom Bundesver-
        fassungsgericht eingefordert worden ist, muss nun in den
        nächsten Schritten erfolgen. Wir sollten die jetzige Re-
        form nicht überfrachten und zunächst das Wichtigste auf
        den Weg bringen. Das ist mit diesem Gesetzentwurf ge-
        währleistet.
        Vor diesem Hintergrund hoffe ich auf konstruktive
        Beratungen und vertraue darauf, dass es uns gelingen
        wird, diese für die Betroffenen so wichtige Reform zü-
        gig zu verabschieden.
        Christine Lambrecht (SPD): Das Recht des nach-
        ehelichen Unterhalts gilt seit 1977 fast unverändert. Es
        steht nun vor einer grundlegenden Überarbeitung, die
        vor dem Hintergrund sich seitdem rasant gewandelter
        gesellschaftlicher Verhältnisse dringend notwendig ist;
        denn es regelt einen zentralen Aspekt familiärer Verant-
        wortung. Steigende Scheidungszahlen, die vermehrte
        Gründung von Zweitfamilien nach einer gescheiterten
        Ehe und die zunehmende Zahl von Kindern, deren Eltern
        in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft leben oder
        allein erziehend sind, zeigen ein verändertes Bild fami-
        liärer Realität.
        Des Weiteren zeigen auch das geänderte Rollenver-
        ständnis und die steigende Zahl von Mangelfällen, in de-
        nen das Einkommen des Unterhaltspflichtigen nicht
        mehr für alle Unterhaltsberechtigten reicht, dass die Zeit
        für eine Überarbeitung des Unterhaltsrechts gekommen
        ist. Insbesondere ist dabei an die Situation der unter-
        haltsbedürftigen minderjährigen Kinder angesichts der
        alarmierenden Tatsache, dass heute fast 40 Prozent aller
        Sozialhilfeempfänger Kinder sind, zu denken. Eine Re-
        form des Unterhaltsrechts ist daher sehr zu begrüßen.
        Das Unterhaltsrecht muss aus den gesellschaftlichen
        Veränderungen Konsequenzen ziehen. Wir brauchen
        mehr Verteilungsgerechtigkeit im Mangelfall. Wir müs-
        sen die Abhängigkeit der Kinder von Sozialhilfe und an-
        deren staatlichen Transferleistungen verringern.
        Der Regierungsentwurf zur Änderung des Unterhalts-
        rechts sieht vor allem drei Ziele vor: Förderung des Kin-
        deswohls, Stärkung der nachehelichen Eigenverantwor-
        tung und Vereinfachung des Unterhaltsrechts. Zur
        Stärkung des Kindeswohls soll die unterhaltsrechtliche
        Rangfolge geändert werden. Dahinter steht zu Recht der
        Gedanke, dass die Akzeptanz der Unterhaltspflicht ge-
        genüber eigenen Kindern höher ist als die Akzeptanz
        von Zahlungen an den früheren Partner. So sieht das Ge-
        setz vor, dass der Kindesunterhalt zukünftig Vorrang vor
        allen anderen Unterhaltsansprüchen hat. Dies gilt für den
        Unterhalt von minderjährigen Kindern und von volljäh-
        rigen unverheirateten Kindern bis zu 21 Jahren, die im
        elterlichen Haushalt leben und noch zur Schule gehen.
        Im Interesse der Kinder stehen gleichfalls alle diejenigen
        Personen im zweiten Rang gleichberechtigt nebeneinan-
        der, die ein Kind betreuen und aus diesem Grunde unter-
        haltsbedürftig sind. Nur dann, wenn die Ehe von langer
        Dauer ist oder war, befindet sich auch der Ehegatte mit
        seinen sonstigen Unterhaltsansprüchen im zweiten
        Rang. Dies ist bedeutend, um Partner einer langjährigen
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4215
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ehe einen entsprechenden Unterhalt zu gewährleisten.
        Der Gesetzentwurf trägt damit zugleich auch dem
        Schutz der Ehe Rechnung. Die Zahl der Kinder, die so-
        zialhilfebedürftig sind, weil Erwachsene vorrangig un-
        terhaltsberechtigt sind, wird durch diese Neuregelung
        künftig sinken.
        Darüber hinaus soll auch die Situation der unter be-
        sonderer Belastung stehenden allein erziehenden, nicht
        verheirateten Eltern verbessert werden. Diese sollen den
        Betreuungsunterhalt unter leichteren Voraussetzungen
        auch noch über das dritte Lebensjahr des betreuten Kin-
        des hinaus bekommen. Auch im Interesse der Kinder
        würden damit nicht verheiratete Mütter besser als bis-
        lang gestellt.
        Der Mindestunterhalt soll zudem in Anlehnung an
        den steuerlichen Freibetrag für das sächliche Existenz-
        minimum eines Kindes gesetzlich definiert werden. Dies
        bringt zum einen Klarheit für die betroffenen Familien
        und führt zum anderen zu einer Harmonisierung von Un-
        terhalts-, Steuer- und Sozialrecht bei der Bestimmung
        des Mindestbedarfs von Kindern. Zusätzlich wird end-
        lich die unterschiedliche Höhe der Unterhaltsansprüche
        von Kindern in Ost und West abgeschafft. Die Neurege-
        lung der Kindergeldverrechnung, wonach das Kinder-
        geld bereits bei der Ermittlung des Bedarfs des Kindes
        berücksichtigt wird, ordnet die Kindergeldleistung im
        Ergebnis zweckentsprechend den Kindern zu und führt
        ebenfalls zu einer wesentlichen Vereinfachung der Un-
        terhaltsberechnung. Die Regelbetrag-Verordnung ent-
        fällt völlig.
        Der Entwurf stärkt schließlich die nacheheliche Ei-
        genverantwortung und verankert diese im Gesetz durch
        die Schaffung einer neuen, alle Unterhaltstatbestände er-
        fassenden Möglichkeit, Unterhaltsansprüche in Bezug
        auf die Höhe oder den Unterhaltszeitraum zu beschrän-
        ken. Dies gilt etwa dann, wenn der Unterhaltsberechtigte
        mit einem neuen Partner in einer verfestigten Lebens-
        partnerschaft lebt. Zugleich werden die Anforderungen
        an die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der
        Scheidung verschärft. Für Geschiedene soll damit darauf
        hingewirkt werden, dass sich diese nach der Scheidung
        selbst wieder eine neue Perspektive verschaffen. Ge-
        richte werden zugleich zur Abkehr vom starren Alters-
        phasenmodell durch die stärkere Betonung der Eigenver-
        antwortung im Hinblick auf den Betreuungsunterhalt des
        geschiedenen Ehegatten angehalten. Hierbei ist jedoch
        auch die konkrete Situation wie Ausbildung, Alter und
        Möglichkeiten im Erwerbsleben zu berücksichtigen.
        Um zu vermeiden, dass die notwendige Anpassung
        des Unterhaltsvorschussgesetzes an die Unterhalts-
        rechtsreform zu einem Absinken der Vorschüsse führt,
        sieht der Gesetzentwurf Mindestbeträge auf dem Niveau
        des bisherigen Unterhaltsvorschusses in den alten Bun-
        desländen vor.
        Ungeachtet aller Änderungen gilt aber: Das Unter-
        haltsrecht muss in besonderem Maße dem Einzelfall ge-
        recht werden und ein über Jahre gewachsenes Vertrauen
        in die nacheheliche Solidarität schützen. In diesem Sinne
        freue ich mich auf konstruktive Beratungen.
        Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
        Nicht nur aus Sicht der FDP, sondern auch nach den ei-
        genen Worten der Bundesregierung und ihrer Vertreter
        stellt die Reform des Unterhaltsrechts eine der wichtigs-
        ten und dringendsten rechtspolitischen Reformen dieser
        Wahlperiode dar. Nicht ohne Grund hat die FDP sowohl
        in dieser, als auch bereits in der vergangenen Wahlperio-
        de immer wieder auf diese wichtige Baustelle der
        Rechts- und Gesellschaftspolitik aufmerksam gemacht.
        Ich begrüße es, dass diese überfällige Reform nun
        auch endlich dem Bundestag zu den Beratungen vorge-
        legt wird. Umso enttäuschender und unverständlich ist
        es jedoch, dass die Koalition dieser Reform so geringen
        Stellenwert beimisst – oder wie erklären Sie sich die
        Uhrzeit, zu der die erste Beratung angesetzt ist?
        Hat nicht Herr Staatssekretär Hartenbach erst in der
        Sitzung des Bundesrates am 19. Mai – also vor gut ei-
        nem Monat – zu diesem Gesetzentwurf gesagt, dass
        diese Reform nur akzeptiert werden kann, wenn das
        neue Unterhaltsrecht von einer breiten Mehrheit getra-
        gen wird? Wenn Ihnen die Reform und ihre gesellschaft-
        liche Akzeptanz wichtig ist – warum scheuen Sie für die
        erste Debatte der Unterhaltsreform das Tageslicht und
        suchen die nachtschlafene Dunkelheit?
        Die geplanten Änderungen im Unterhaltsrecht stellen
        eine gute Grundlage für die parlamentarischen Beratun-
        gen dar. Es hat jedoch lange gedauert, bis uns dieser Ent-
        wurf nun zur Beratung vorgelegt wurde. Nach vielfachen
        Ankündigungen und mehrfacher Vorlage von Eckpunk-
        tepapieren aus dem Justizministerium zeigt sich, dass die
        Bundesregierung immerhin einige der vielen Vorschläge
        aufgegriffen hat, die wir als FDP bereits in der vergange-
        nen und auch in dieser Legislaturperiode diesem Hohen
        Hause vorgelegt haben:
        Stärkung der Eigenverantwortung nach der Ehe und
        das Kindeswohl in den Mittelpunkt der unterhaltsrechtli-
        chen Reformüberlegungen zu stellen – dies hat die FDP
        neben anderen Änderungen bereits 2004 vorgeschlagen!
        Und erst ein halbes Jahr nach unserer Großen Anfrage
        stellte Frau Zypries das erste Mal „ihre“ Eckpunkte zur
        Reform vor. Teilweise Ähnlichkeiten der Vorlage von
        Bundesjustizministerin Zypries zu unseren Initiativen
        sind zu erkennen. Scheinbar hat die Regierung erkannt,
        dass liberale Gedanken und Ansätze diese Reform ein
        gutes Stück voranbringen. Leider fehlen noch einige
        Punkte; dazu komme ich aber später.
        Es geht bei dieser Reform aber nicht nur um Ände-
        rungen, die an einigen Paragraphen des BGB vorgenom-
        men werden. Es geht um sehr viel mehr. Es geht auch
        um die Frage, wie der Gesetzgeber künftig seine Bilder
        von Ehe und Familie, Solidarität und Eigenverantwor-
        tung und dem Wohl von Kindern den gesellschaftlichen
        Wandlungen anpassen und in familienrechtlichen und
        gesellschaftspolitischen Entscheidungen Ausdruck ver-
        leihen will.
        Nehmen wir die Frage nach dem Bild der Ehe: Die
        Gründe für die Eheschließung haben sich in den vergan-
        genen Jahrzehnten gewandelt. Anfang des 20. Jahrhun-
        derts musste kaum zwischen den verfassungsrechtlich
        4216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        geschützten Institutionen der Ehe und der Familie unter-
        schieden werden. Kinder wuchsen vornehmlich in der
        Ehe auf. Der familiäre Verbund verschmolz in dieser
        Zeit über die Beziehungen zwischen Vater, Mutter und
        Kindern hinaus zu einer Erziehungs- und Wirtschaftsge-
        meinschaft. Ehe und Familie standen im Zentrum der
        Gesellschaft. Aus dieser Perspektive resultierte auch das
        unter liberaler Hand Mitte der 90er-Jahre abgeschaffte
        Stigma der Unehelichkeit. Vorher gab es nur schwarz
        oder weiß, ehelich oder unehelich. Als bürgerlich ange-
        sehen wurde nur, wer ehelich geboren war. Den außere-
        helich Geborenen haftete die gesellschaftliche Missach-
        tung an.
        Eine entsprechende Konsequenz in der Anpassung
        der Rechtslage an die tatsächliche gesellschaftliche und
        gesellschaftspolitische Entwicklung erwarte ich jetzt von
        der schwarz-roten Bundesregierung bei der Reform des
        Unterhaltsrechts! Denn es hat sich einiges getan:
        Die Ehe wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern
        nur noch als eine der vielen möglichen Formen des Zu-
        sammenlebens angesehen. Andere Lebensformen wie
        ein Zusammenleben und Füreinander-Einstehen ohne
        Trauschein in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft
        oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft sind
        heute gesellschaftlich akzeptiert. Fernbeziehungen über
        mehrere hundert Kilometer gehören gerade in Zeiten der
        Flexibilität am Arbeitsplatz zum Alltag vieler junger
        Menschen.
        Die Häufigkeit von anderen Lebensgemeinschaften
        als der Ehe lässt sich auch mit Zahlen belegen: Seit 1996
        ist die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften
        um ein gutes Drittel angestiegen. In demselben Zeitraum
        hat sich in den alten Bundesländern die Zahl der nicht-
        ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern um fast
        drei Viertel erhöht! Im März 2004 lebten in Deutschland
        2,5 Millionen Alleinerziehende mit Kindern – und das
        ist bereits jede fünfte Eltern-Kind-Gemeinschaft. Auch
        Familien sind deutlich kleiner geworden; in der Mehr-
        heit der jungen Familien leben ein oder maximal zwei
        Kinder.
        Das althergebrachte bürgerliche Modell der Ehe, bei
        dem es primär um soziale und wirtschaftliche Faktoren
        bei der Partnerwahl ging, hat ausgedient. Heute sind
        emotionale Aspekte bei der Partnerwahl entscheidend.
        Diese neue Partnerschaftlichkeit hat inzwischen auch
        weitgehend das patriarchalische Ehe- und Familienbild
        beseitigt. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist das
        Bild des bestimmenden männlichen Oberhauptes der Fa-
        milie überholt. Die vor allem von der Union häufig noch
        wiederholten und empfohlenen Rollenmuster und Auf-
        gabenverteilungen sind nicht mehr allgemeingültig!
        Die schwarz-rote Koalition wird sich mit diesen ge-
        sellschaftlichen Wandlungen auseinander setzen müs-
        sen! Es hilft niemandem, wenn an dem alten Bild der
        Ehe – wenn möglich auch noch der typischen Einverdie-
        nerehe – festgehalten wird. Nicht nur die gesellschaftli-
        che, sondern auch die Arbeitswelt ist mittlerweile eine
        andere. Nicht selten arbeiten beide Ehepartner, wenn
        auch zeitweise nur Teilzeit; Väter beginnen, sich um die
        Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Auch die Hausar-
        beit teilen sich bereits viele Paare – und das unabhängig
        davon, ob sie verheiratet sind oder in so genannter wil-
        der Ehe leben.
        Aus liberaler Sicht müssen die gesetzlichen Rahmen-
        bedingungen so ausgestaltet werden, dass jeder sein Le-
        ben in Gemeinschaft mit anderen so ausgestalten kann,
        wie er will. Kein Bürger darf in ein bestimmtes Modell
        gezwungen werden.
        Es ist zu begrüßen, dass sich in Parallelität zur Wand-
        lung der Institution der Ehe auch das Familienbild wan-
        delt. Denn Familie ist nicht nur in einer Ehe möglich.
        Familie ist vielmehr überall dort, wo Kinder sind. Dies
        muss auch der Schwerpunkt aller Überlegungen einer
        Unterhaltsreform sein. Wir Liberale haben dies bereits
        mit mehreren parlamentarischen Initiativen in der ver-
        gangenen und der jetzigen Legislaturperiode immer wie-
        der deutlich gemacht: Es darf in der anstehenden Reform
        nicht darum gehen, Erwachsene in und nach einer ein-
        mal „errungenen“ Ehe finanziell abzusichern. „Unterhalt
        bis ins Grab“ darf in der heutigen Zeit nicht mehr Folge
        des Jawortes bei der Eheschließung sein! In einer aufge-
        klärten und selbstständigen Gesellschaft trägt jeder Er-
        wachsene Verantwortung für sich und sein Tun. Dies be-
        deutet für jeden Ehepartner, die eigenen Ziele und
        Verantwortlichkeiten während einer Ehe nicht aus den
        Augen zu verlieren.
        Der Gesetzgeber ist nun gefordert, auf der einen Seite
        die Eigenverantwortung in und nach der Ehe zu stärken
        und auf der anderen Seite die Übernahme von Verant-
        wortung bei der Erziehung und Betreuung von Kindern
        zu fördern. Dies wird ein Schwerpunkt der Reform sein.
        Wichtig ist aber auch, die familiären Verantwortlichkei-
        ten von Alleinerziehenden, nicht miteinander verheirate-
        ten Eltern und der Sandwichgeneration zu prüfen und
        den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen anzu-
        passen. Eltern muss es stets möglich sein, der Betreuung
        von Kindern im erforderlichen Umfang einen wichtigen
        Stellenwert beizumessen und trotzdem ihr eigenes Leben
        weiterzuverfolgen. Hier werden wir insbesondere über
        die Unterschiede bei den Unterhaltsansprüchen von be-
        treuenden Elternteilen reden müssen; denn noch wird
        sehr deutlich danach unterschieden, ob die Eltern verhei-
        ratet waren oder ob das Kind aus einer nichtehelichen
        Beziehung stammt.
        Aus unserer Sicht ist die vorgeschlagene Gesetzesän-
        derung ausgiebig zu diskutieren. Es ist in unser aller In-
        teresse, und wir befürworten es, dass das Kindeswohl
        und somit auch deren Anspruch auf Unterhalt, an erster
        Stelle rangiert.
        Aber schon im zweiten Rang, der den Unterhalt der
        betreuenden Mutter sicherstellen soll, wird es unüber-
        sichtlich. Zwar werden auch hier die Interessen des Kin-
        des im Interesse einer erleichterten Betreuungsmöglich-
        keit durch die Mutter in den Vordergrund gestellt. Diesen
        gleichgestellt werden jedoch auch nur langjährig verhei-
        ratete Ehefrauen. Mal abgesehen davon, dass der zu ver-
        teilende Kuchen im zweiten Rang damit schon recht
        dünn wird, wird der zu findende Ausgleich zwischen der
        sich in Abhängigkeit befindlichen Ehefrau und dem Inte-
        resse einer ausreichenden Kindererziehung an dieser
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4217
        (A) (C)
        (B) (D)
        Stelle durch den Gesetzgeber nur unzureichend gefun-
        den. Denn auch der Gesetzesbegründung kann nicht hin-
        reichend konkret entnommen werden, was denn unter
        dem Gesetzeswortlaut einer „Ehe von langer Dauer“ zu
        verstehen ist. Die Leittragenden sind die Betroffenen,
        meistens Frauen, die zugunsten von Ehe und Familie
        oder im Hinblick auf die Rollenverteilung Karriereein-
        bußen hinnehmen mussten und deren Betreuungszeit
        vorüber oder deren Ehe nicht „lang genug“ bestand, aber
        auch die Rechtsprechung, welche diesen Konflikt jetzt
        wieder einmal alleine lösen darf.
        Auch wird es in der Praxis zu erheblichen Problemen
        bei der Ermittlung der jeweiligen Unterhaltsansprüche,
        vor allem im zweiten und dritten Rang kommen, da es
        kein entsprechendes Auskunftsrecht der beispielsweise
        unterhaltsberechtigten Exfrau gegen den neuen Ehepart-
        ner des in Anspruch genommenen Ehegatten gibt. Da
        der Unterhaltsverpflichtete jedoch daran interessiert sein
        wird, gegenüber der neuen Partnerin möglichst hoch ver-
        pflichtet zu sein, wäre ein Auskunftsanspruch des Be-
        rechtigten oder auch des jeweiligen Gerichts dringend
        notwendig.
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Kinderarmut in
        Deutschland hat viele Seiten: Sie manifestiert sich als
        Mangel an Bildung, Gesundheit, Mobilität, Freizeitge-
        staltungsmöglichkeiten, Kultur, ja sogar an gesunder Er-
        nährung. Der entscheidende Faktor ist dabei das tatsäch-
        lich verfügbare Einkommen.
        Etwa 1,7 Millionen Kinder befinden sich im Bezug
        von Sozialgeld und leben damit auf einem Einkommens-
        niveau, das sie von einer angemessenen sozialen und ge-
        sellschaftlichen Teilhabe ausschließt. Das Kinderhilfs-
        werk der Vereinten Nationen UNICEF hat festgestellt,
        dass die Kinderarmut in Deutschland seit 1990 im Ver-
        gleich zu anderen Industrieländern überdurchschnittlich
        stark angestiegen ist. Die sozialstaatlichen Antworten
        darauf sind alles andere als ausreichend.
        Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und
        Unterhaltsvorschuss sind in der gegenwärtigen Form als
        Leistungssystem zur Verhinderung von Kinderarmut
        völlig ungeeignet. Die Bedarfsgemeinschaft bleibt eine
        sozialpolitische Fehlkonstruktion, weil sie dem An-
        spruch, das Existenzminimum von Kindern eigenständig
        und unabhängig vom Familieneinkommen abzusichern,
        nicht gerecht wird. Darüber hinaus wird ignoriert, dass
        Kinder eine eigenständige Bevölkerungsgruppe mit ei-
        nem eigenständigen Anspruch auf einen Anteil an den
        gesellschaftlichen Ressourcen sind. Deshalb fordern wir
        eine Kindergrundsicherung als soziales Recht für jedes
        Kind, in Form eines individualisierten und existenzsi-
        chernden Anspruchs unabhängig vom sozialen Status
        der Eltern.
        Zur Existenzsicherung von Kindern Alleinerziehen-
        der gehören auch monatliche Unterhaltszahlungen. So-
        weit die Theorie. Wie viele Kinder ihren Unterhalt tat-
        sächlich erhalten, zeigen die Ergebnisse einer Studie zur
        Zahlungsmoral unterhaltspflichtiger Eltern. Danach er-
        halten etwa ein Drittel der Kinder den Unterhalt regel-
        mäßig und in voller Höhe. Ein weiteres Drittel erhält ihn
        unregelmäßig oder in zu geringer Höhe. Das letzte Drit-
        tel bekommt ihn selten oder nie.
        Wird der Unterhalt nicht gezahlt, geht der Staat aus
        der Unterhaltsvorschusskasse zunächst in Vorleistung.
        Hier wollen Sie Anpassungen vornehmen, vor allem
        durch die Anknüpfung der Unterhaltsvorschussleistun-
        gen an den gesetzlich definierten Mindestunterhalt. Wir
        begrüßen die Abkehr von der Ost-West-Differenzierung
        der Höhe des maximalen und minimalen Unterhaltsvor-
        schusses. Trotzdem kommt es – und nicht nur nach unse-
        ren Aussagen – zu keiner nennenswerten Erhöhung beim
        Unterhaltsvorschuss. Der Grund hierfür liegt in der vol-
        len Anrechung des Kindergeldes auf den Leistungsbe-
        zug, der bisher nur hälftig stattfand. Als Begründung
        stellen Sie fest, dass auch das Kindergeld eine Leistung
        ist, die der Existenzsicherung des Kindes dient. Eine
        Verbesserung für die Betroffenen bleibt damit jedenfalls
        aus, denn im Ergebnis bleiben die Leistungsbeträge auf
        dem gleichen niedrigen Niveau erhalten.
        Schade ist, dass gegenwärtig die Chance vertan wird,
        die zeitliche Befristung der Vorschussleistung auszudeh-
        nen. Zwar ist die überwiegende Zahl der Fälle von Un-
        terhaltsvorschussleistungen von kurzer Dauer, jedoch
        die Zahl der „Wiederholungsfälle“ eklatant. Im Hinblick
        auf die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation darf nicht
        übersehen werden, dass die Kinder aufgrund entstehen-
        der Arbeitslosigkeit des Barunterhaltsverpflichteten und
        der zeitlichen Befristung, die Leidtragenden sind.
        Wieder sind es die Kinder, die im Ergebnis die Zeche
        für eine verfehlte Politik zahlen müssen. Das muss sich
        ändern! Deshalb fordern wir die Aufhebung der Befris-
        tung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.
        Sie versprechen in der Öffentlichkeit, dass das Unter-
        haltsgesetz im Interesse des Kindes und zur Stärkung des
        Kindeswohls verändert wird. Tatsache ist: Sie zementie-
        ren auch in der Reform zum Unterhaltsrecht soziale Un-
        gerechtigkeiten und verfestigen das Armutsrisiko von
        Kindern und Alleinerziehenden. Und dies wird auch
        nicht durch die Änderung der Rangfolge im Unterhalts-
        recht geändert. Unter Zugrundelegung des existierenden
        Realsplittings, bei Berücksichtigung der steuerlichen
        Abzugsfähigkeit nach § 10 Abs. I Nr. 1 EStG für den
        Ehegattenunterhalt, wird nach dem Modell der Regie-
        rung das monatliche Einkommen bei den betreuenden
        Elternteil insgesamt geringer ausfallen, bei gleich blei-
        bendem Selbstbehalt des Verpflichteten. Die Kinder be-
        kommen vorrangig Unterhalt, die in der Regel betreu-
        ende Mutter fällt durch den Rost, wobei insgesamt
        wieder die Familie finanziell leidet. Die einzigen, wel-
        che Vorteile daraus ziehen, sind unter dem Strich die Fi-
        nanzämter. Hier wird wieder einmal den Familien in die
        Tasche gegriffen. Deshalb müssen Sie sich fragen lassen,
        wie ihre „Reförmchen“ zu einer nachhaltigen Bekämp-
        fung nicht nur von Kinderarmut in Deutschland beitra-
        gen können.
        Und wie ist die Reform gleichstellungspolitisch zu
        bewerten? Grundsätzlich ist der Aussage zuzustimmen,
        dass Erwachsene zunächst selbst für ihren Lebensunter-
        halt sorgen sollen, während Kinder dazu natürlich nicht
        in der Lage sind. Auf den ersten Blick ist daher eine
        4218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Veränderung der Rangfolge im Mangelfall – und nur da-
        rum geht es hier – zugunsten der Kinder überzeugend.
        Die Folge wird sein, dass geschiedene Frauen, die ihre
        Existenz nicht eigenständig sichern können, statt Unter-
        halt stärker auf Sozialleistungen angewiesen sein wer-
        den – wie der Gesetzentwurf auch einräumt. Wer aber
        nacheheliche Eigenverantwortung einfordert, muss sich
        allerdings fragen lassen, welchem Leitbild von ehelicher
        Arbeitsteilung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf
        gefolgt wird. Schlicht, Eigenverantwortung nach der Ehe
        zu fordern und die Möglichkeiten für Beschränkung der
        Unterhaltsansprüche zu schaffen, genügt unserer Ansicht
        nach nicht. Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt,
        schlechte Kinderbetreuungsinfrastruktur in vielen Bun-
        desländern, Entgeltdiskriminierungen und auch das
        Ehegattensplitting tragen nicht zu einem Leitbild der Ei-
        genverantwortung für Ehefrauen bei. Dies gilt es zu än-
        dern – aber nicht punktuell im Unterhaltsrecht!
        Wir fordern in diesem Zusammenhang: ein umfassen-
        des Konzept zur Bekämpfung der Kinderarmut in
        Deutschland; einen konsequenten Ausbau einer eltern-
        beitragsfreien flächendeckenden Kinderbetreuung, um
        lückenlose Erwerbsbiografien beider Elternteile zu ge-
        währleisten; eine Kindergrundsicherung in Form eines
        individualisierten Anspruchs unabhängig vom sozialen
        Status der Eltern.
        Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu
        nachtschlafender Zeit sollten wir nun eigentlich sehr auf-
        merksam sein: Die Änderung des Unterhaltsrechts be-
        trifft direkt oder indirekt alle: Schließlich sind wir alle
        Kinder auch wenn viele bereits erwachsen sind; ein
        Großteil der Bevölkerung sind Eltern – auch wenn die
        Zahl der Eltern zunehmend kleiner wird und viele Paare
        sind verheiratet. Was diese Rollen anbelangt, betrifft das
        Unterhaltsrecht jeden Einzelnen; denn es geht um das fi-
        nanzielle Einstehen füreinander.
        In der Diskussion über die notwendigen Änderungen
        im Unterhaltsrecht sind sich die meisten einig, dass die
        Förderung des Kindeswohls im Vordergrund stehen
        muss. Daran hat sich für mich auch nichts geändert. Was
        sich aber weiterhin ändert, sind die Familienverhältnisse
        in unserer Gesellschaft. Ich möchte nur einige Schlag-
        worte erwähnen: die hohe Scheidungsrate, die aufbre-
        chende Rollenverteilung, die neuen Familienformen und
        die Zunahme von „Zweitfamilien“. Vor diesem Hinter-
        grund muss man sich zu Recht die Frage stellen, ob das
        Familienrecht diesen Wandel reflektiert. Ich meine, das
        tut es in einem ganz wesentlichen Punkt, nämlich dem
        Unterhaltsrecht, nicht.
        Das Unterhaltsrecht geht davon aus, dass das Ein-
        kommen einer Familie in der Regel so hoch ist, dass im
        Fall einer Scheidung alle Familienmitglieder durch ei-
        gene Unterhaltsansprüche versorgt werden können. Die
        Realität ist aber leider eine andere. Immer mehr Unter-
        haltsprozesse drehen sich um den Mangelfall. In vielen
        Fällen werden die Zahlungen unregelmäßig oder gar
        nicht getätigt. Kinder sind häufig die Leidtragenden sol-
        cher Fälle, weil sie unter finanziellen Zwängen aufwach-
        sen, die ihrer Entwicklung nicht förderlich sind. Hier fin-
        den wir auch eine zentrale Ursache für die hohe Zahl der
        minderjährigen Sozialhilfeempfänger. Daher ist die Än-
        derung in der Rangstellung der Unterhaltsberechtigten
        ein richtiger Schritt, damit Kinder nicht leer ausgehen.
        Wenn Väter zudem das Gefühl haben, hauptsächlich
        für ihre Kinder zu zahlen, kann man vielleicht auf eine
        höhere Zahlungsmoral hoffen. Was diesen Punkt anbe-
        langt, bin ich gespannt, wie sich dies auf die Anwendung
        des Unterhaltsvorschussgesetzes auswirkt. Auch die An-
        näherung der Unterhaltsansprüche geschiedener und
        nichtehelicher Elternteile ist richtig. Besonders hart trifft
        es doch heute die unverheirateten Mütter oder Väter, die
        ihr Kind oder ihre Kinder betreuen. Nach geltender
        Rangfolge gehen sie häufig leer aus und erhalten keinen
        Betreuungsunterhalt. Die Schwelle für eine Verlänge-
        rung des Betreuungsunterhalts über die ersten drei Jahre
        hinaus sollte weiter abgesenkt werden, damit die Ge-
        richte zukünftig mehr Entscheidungsspielraum bekom-
        men, um dem Einzelfall gerecht werden zu können – im-
        mer davon ausgehend, wie sich die Situation für das
        Kind bzw. die Kinder darstellt.
        Auch die Stärkung des Grundsatzes nachehelicher Ei-
        genverantwortung finde ich grundsätzlich begrüßens-
        wert.
        Erfahrungsgemäß zahlen die Unterhaltspflichtigen
        „ohne Murren“ für ihre Kinder, mit dem Ehegattenunter-
        halt nach einer Scheidung ist dies aber tendenziell an-
        ders. Bei Ehen, die nur einige Jahre gehalten haben, ist
        dies auch irgendwie nachvollziehbar. Der oder die Ge-
        schiedene sollte dann irgendwann wieder für sich verant-
        wortlich sein. Allerdings sind in der heutigen Zeit der
        Eigenverantwortung von geschiedenen Müttern und Vä-
        tern Grenzen gesetzt. Ich möchte Sie nur daran erinnern,
        wie schwierig es in manchen Regionen ist, ein Kinderbe-
        treuungsangebot zu finden, das es einem ermöglicht, ar-
        beiten zu gehen. Auch und gerade bei Ehen, die lange
        gehalten haben, muss dem geschiedenen Partner ein Be-
        standsschutz gewährt werden.
        In seiner Grundrichtung entspricht der eingebrachte
        Entwurf dem grünen Prinzip, Kinder in den Mittelpunkt
        zu stellen. Dabei wissen wir sehr wohl, dass damit das
        Geld der betroffenen Familien nicht mehr wird, aber es
        wird transparenter, nach klareren Regeln und zeitgemä-
        ßer verteilt.
        Natürlich werden wir im weiteren Beratungsverlauf
        kritisch prüfen, ob es hier zu Folgewirkungen in anderen
        Rechtsgebieten kommt, die nicht in unserem Sinne sind.
        Gerade in Mangelfällen sollte es nicht dazu kommen,
        das der Mangel noch größer wird.
        Vor allem im Interesse der vielen betroffenen Kinder
        freue ich mich auf die weitere Beratung.
        Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Vor
        einer Woche wurde im Bundestag das Gesetz zur Ein-
        führung des Elterngeldes auf den Weg gebracht. Es wird
        dafür sorgen, dass junge Frauen und Männer ihren
        Wunsch nach Kindern und ihren Wunsch nach einem er-
        folgreichen Arbeitsleben künftig besser miteinander ver-
        binden können. Heute leiten wir ein weiteres wichtiges
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4219
        (A) (C)
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        Projekt unserer Familienpolitik ein: die Modernisierung
        des Unterhaltsrechts.
        Das Unterhaltsrecht entscheidet darüber, welches
        Maß an finanzieller Solidarität Familienangehörige von-
        einander erwarten können. Es regelt einen zentralen As-
        pekt familiärer Verantwortung. Mit unserer Reform sor-
        gen wir dafür, dass künftig das Wohl des Kindes im
        Mittelpunkt des Unterhaltsrechts steht. Unser Ziel ist es,
        die Situation der minderjährigen Kinder zu verbessern.
        Auf sie nimmt das geltende Recht zu wenig Rücksicht.
        26 Prozent aller Familien bestehen heute aus Alleiner-
        ziehenden und nichtehelichen Lebensgemeinschaften
        mit ihren Kindern. Dieser Tatsache müssen wir auch im
        Unterhaltsrecht besser Rechung tragen. Es ist schließlich
        ein erheblicher Unterschied, ob ein Kind in dem Be-
        wusstsein, von seinen Eltern versorgt zu werden oder
        aber von Sozialhilfe zu leben, aufwächst. Der Gesetzent-
        wurf stellt deshalb klar: In Mangelfällen hat der Kindes-
        unterhalt künftig Vorrang vor allen anderen Unterhalts-
        ansprüchen.
        Jeder weiß, dass die Kindererziehung häufig leidet,
        wenn die elterliche Betreuung zu kurz kommt. Wir wer-
        den deshalb auch die Unterhaltsansprüche von den El-
        ternteilen aufwerten, die ein Kind betreuen. Sie sollen
        künftig privilegiert im zweiten Rang stehen. Im Interesse
        der Kinder verbessern wir dabei auch die Stellung der
        Mutter, die nicht mit dem Vater verheiratet ist. Für die
        Kinder ist es egal, ob zwischen Mutter und Vater eine
        Ehe bestand oder nicht. Eine gute Betreuung brauchen
        sie in jedem Fall
        Ein dritter Aspekt des gesellschaftlichen Wandels auf
        den wir reagieren, ist die Scheidungsquote. Sie ist in den
        letzten Jahren beständig gestiegen. Andererseits gründen
        immer häufiger Menschen nach einer gescheiterten Be-
        ziehung eine neue Familie. Daraus entstehen die so ge-
        nannten Patchworkfamilien, die heute keine Seltenheit
        mehr sind. Auch diese neuen Familien brauchen finan-
        ziell eine Chance; deshalb können wir beim Unterhalt
        nach einer Scheidung nicht so weitermachen wie bisher.
        Wir müssen die finanzielle Eigenverantwortung nach ei-
        ner gescheiterten Ehe stärken und sie auch ausdrücklich
        im Gesetz verankern. Ich meine, das ist auch im Sinne
        der Betroffenen. Bei allen Schwierigkeiten, die es gibt:
        Eine klare Perspektive für die Zukunft bekommen die
        Betroffenen auch dadurch, dass sie so schnell wie mög-
        lich wieder auf eigenen Beinen stehen und nicht mehr
        von Unterhaltszahlungen abhängig sind. Durch eine Än-
        derung des Gesetzes wollen wir den Richterinnen und
        Richtern deshalb mehr Möglichkeiten geben, den Unter-
        haltsanspruch zu begrenzen – zeitlich und in seiner
        Höhe.
        Wir haben in der Vergangenheit häufig – oft einver-
        nehmlich – über die Notwendigkeit einer Reform des
        Unterhaltsrechts diskutiert. Viele Menschen warten da-
        rauf, dass der Gesetzgeber endlich handelt. Ich meine,
        mit dem Gesetzentwurf liegt jetzt eine solide Grundlage
        für die weiteren Beratungen vor. Ich würde mich freuen,
        wenn wir hier zu einer gemeinsamen Lösung kommen
        würden.
        Anlage 30
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
        setzes zur Regelung des Urheberrechts in der
        Informationsgesellschaft (Tagesordnungspunkt 27)
        Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Dass das
        Urheberrecht den veränderten Bedingungen der Infor-
        mationsgesellschaft weiter angepasst werden muss, ist
        unstrittig. Strittig aber ist, wie es dabei zu einem fairen
        Ausgleich der Interessen von Kreativen, Verwertern und
        Nutzern kommen kann. Der vorliegende Entwurf leistet
        dies unserer Auffassung nach nicht. Wir können ihm in
        der vorliegenden Fassung nicht zustimmen. Die Folgen
        für die verschiedenen Gruppen der Betroffenen müssen
        erneut bedacht und diskutiert werden. Darauf sind wir
        durch eine Flut von Stellungnahmen aufmerksam ge-
        macht worden. Besonders problematisch sind die Folgen
        für die Urheber. Wir halten deshalb eine Anhörung für
        dringend notwendig.
        Die Urheber müssen nun auch bei diesem Gesetzent-
        wurf, wie schon beim Folgerecht, gravierende Einbußen
        hinnehmen. Das ist nicht zu akzeptieren. Die vorgesehe-
        nen Neuregelungen zu den gesetzlichen Vergütungsan-
        sprüchen – §§ 54, 54 a RegE – und zu den unbekannten
        Nutzungsarten – § 31 Abs. 4 UrhG, §§ 31 a und 32 c
        RegE – führen zweifelsfrei zu einer Schlechterstellung
        der Kreativen. Wir erinnern daran, dass es ein Urheber-
        recht ist und auch bleiben sollte, um das es hier geht.
        Wir sehen in dem Entwurf einen enteignungsgleichen
        Eingriff in die Rechte der Urheber und ein Geschenk an
        die Geräteindustrie. Das Anliegen des Urheberrechtes,
        die Kreativen an der multimedialen Nutzungsmöglich-
        keit ihrer Werke zu beteiligen und ihnen eine angemes-
        sene Vergütung ihrer Leistungen zu gewährleisten, wird
        damit infrage gestellt.
        Mit diesen Regelungen wird unserer Auffassung nach
        ein „Systemwechsel“ im Urheberrecht eingeleitet. Das
        Urheberrecht, dass das Recht der Kreativen schützen
        soll, wird immer stärker den wirtschaftlichen Interessen
        der Kulturindustrie angepasst. Der Schutzgedanke des
        Urheberrechts wird aufgegeben und die Lösung des Inte-
        ressenkonflikts zwischen Urhebern, Verwertern und Ver-
        brauchern dem freien Spiel des Marktes überlassen.
        Dass die ökonomisch Schwächeren, die Kreativen, dabei
        verlieren müssen, liegt auf der Hand. Wir werden uns
        deshalb mit unserer Kritik und unseren Änderungsvor-
        schlägen insbesondere auf diese beiden Rechtskomplexe
        konzentrieren.
        Mit dieser Neuregelung zur Vergütungsabgabe wird
        das verfassungsrechtliche Gebot einer angemessenen
        Vergütung der Urheber und Leistungsberechtigten in
        sein Gegenteil verkehrt. Bei jedem Speichermedium
        muss zunächst nachgewiesen werden, dass zu mehr als
        10 Prozent urheberrechtsrelevante Kopien angefertigt
        werden, bevor eine Vergütungsabgabe überhaupt greift.
        Außerdem sind jahrelange Rechtsstreitigkeiten program-
        miert. Die Vergütung für eine zunehmende Zahl von
        Vervielfältigungen wird an sinkende Gerätepreise
        4220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
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        gekoppelt und damit beschränkt. Die Deckelung der
        Pauschalvergütung auf fünf Prozent des Speichermedi-
        umspreises führt zu einer deutlichen Schlechterstellung
        der Urheber. Wir werden die Bundesregierung deshalb
        auffordern, diese Regelung grundsätzlich zu verändern.
        Ebenso wenig können wir akzeptieren, dass zukünftig
        Verwertungsverträge über „unbekannte Nutzungsarten“
        geschlossen werden können und damit Urheber gezwun-
        gen sind, zu einer und derselben Vergütung auch neue
        Nutzungsmöglichkeiten abzutreten. Die Aufhebung des
        bislang in § 31 Abs. 4 UrhG geltenden generellen Ver-
        bots für die Einräumung „unbekannter Nutzungsrechte“
        ist ein schwerwiegender Eingriff in die ökonomische
        Entscheidungsfreiheit des Urhebers. Wir lehnen sie des-
        halb ab.
        Bei der Festlegung der Vergütungshöhe sehen wir den
        Staat nach wie vor in der Verantwortung, ein schnelles
        und klares Verfahren vorzuschlagen, das Rechtssicher-
        heit für die Rechteinhaber und Nutzer gewährleistet. Wir
        plädieren dafür, die Vergütungshöhe durch Gesetz oder
        Rechtsverordnung festzulegen. Die Höhe sollte jeweils
        den veränderten Bedingungen angepasst werden. Im
        zweiten Vergütungsbericht der Bundesregierung vom
        11. Juli 2000 wurde ausdrücklich auf die Notwendigkeit
        einer Anhebung der gesetzlichen Vergütungssätze hinge-
        wiesen.
        Zweifellos gibt es auch positive Punkte in diesem
        Entwurf. Die Privatkopie bleibt erhalten. Das ist uns
        wichtig. Allerdings nur bei nicht kopiergeschützten Wer-
        ken. Das Umgehen des Kopierschutzes bleibt verboten
        und strafbar.
        Wir werden uns als Fraktion in der nächsten Zeit auch
        intensiv mit den Folgen für die Nutzer und Nutzerinnen
        im privaten Bereich wie im Bereich der Bildung, Wis-
        senschaft und Kultur beschäftigen. Unser besonderes
        Anliegen ist es, einen sozial gleichen Zugang zu den mo-
        dernen Informations- und Kommunikationstechnolo-
        gien zu sichern. Gleicher Zugang und gleiche Teilhabe
        aller an Bildung und Informationen sind ein Menschen-
        recht. Sie sind auch Bedingung für Wissenschaftsent-
        wicklung. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme
        dazu eine Reihe von Empfehlungen gegeben, die wir in
        unsere Überlegungen einbeziehen werden. So hat er auf
        die Entfristung des § 52 a UrhG hingewiesen, die auch
        aus unserer Sicht dringend notwendig ist. Mit dem nun
        beschlossenen Folgerecht ist die Befristung bis 2008
        verlängert worden. Dann wird neu zu diskutieren sein.
        Wir sprechen uns mit Blick auf die wachsende Bedeu-
        tung der neuen Informations- und Kommunikationstech-
        nologien in den Schulen und Hochschulen für einen Er-
        halt dieser Regelung aus – ohne Befristung. Erforderlich
        aber ist auch, dass die zur Zahlung einer angemessenen
        Vergütung Verpflichteten dieser Pflicht tatsächlich nach-
        kommen.
        Wir übersehen also die positiven Punkte des Entwurfs
        nicht, können ihm aber vor allem wegen der gravieren-
        den Schlechterstellung der Urheber in seiner Gesamtheit
        nicht zustimmen.
        Anlage 31
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts
        (Tagesordnungspunkt 28)
        Kai Wegner (CDU/CSU): Das Gesetz zur Neurege-
        lung des Versicherungsvermittlungsrechts dient der Um-
        setzung der entsprechenden Richtlinie des Europäischen
        Parlaments. Das ist ein Thema, das die Bundesregierung
        bereits seit geraumer Zeit beschäftigt.
        Ziel dieser Richtlinie ist es, die Qualität der Beratung
        zu verbessern und somit die Interessen der Verbraucher
        durch eine Registrierpflicht der Vermittler und eine ein-
        heitliche Normierung der Informations- und Dokumen-
        tationspflichten zu stärken. Dies muss aber mit dem not-
        wendigen Fingerspitzengefühl geschehen, da die
        Vermittler für die Versicherungsbranche den bei weitem
        größten Umsatz erzielen. Weit über 90 Prozent des Um-
        satzes wird auf diese Art und Weise erzielt und das soll
        auch in Zukunft so bleiben. Dennoch besteht Handlungs-
        bedarf.
        Zurzeit unterliegt die Versicherungsvermittlung kei-
        ner Berufszugangsschranke. Sie ist lediglich eine ge-
        werbliche Tätigkeit im Sinne der Gewerbeordnung. Dies
        bedeutet, dass ein Versicherungsvertreter seine Tätigkeit
        nur gegenüber der zuständigen Behörde vor Ort, dem
        Gewerbeaufsichtsamt, melden muss. Ob er allerdings die
        fachliche Qualifikation dazu besitzt, auch eine ordentli-
        che Beratung durchzuführen, spielt dabei bislang leider
        keine Rolle. Dies wird sich mit der Umsetzung der
        Richtlinie ändern. Um zum Versicherungsvermittler zu-
        gelassen zu werden, müssen zukünftig entsprechende
        Fähigkeiten hierzu nachgewiesen werden.
        Was beinhaltet dieses Gesetz eigentlich? Hier die
        wichtigsten Punkte in Kürze:
        Wie bereits angeklungen, wird die Versicherungsver-
        mittlung in ein erlaubnispflichtiges Gewerbe umgewan-
        delt. Es wird in Zukunft nicht mehr ausreichen, sich ein-
        fach bei der zuständigen Behörde anzumelden. Die
        Industrie- und Handelskammern sollen künftig über ent-
        sprechende Anträge entscheiden müssen. Wer in Zukunft
        Versicherungen vermitteln will, der muss eine entspre-
        chende Qualifikation nachweisen. Dies wird zu einer hö-
        heren Qualität der Beratungen und damit zu mehr Ver-
        braucherfreundlichkeit führen.
        Durch die Normierung der Informations- und Doku-
        mentationspflicht des Vermittlers gegenüber dem Kun-
        den sollen möglichst einheitliche Standards auf diesem
        Sektor erreicht werden. Auch das wird in vielen Fällen
        die Qualität der Beratung erhöhen.
        Entscheidend für die Zulassung sind weiter geordnete
        Vermögensverhältnisse und ein guter Leumund sowie
        eine Berufshaftpflichtversicherung; denn gerade bei der
        Vermittlung von Versicherungen, was ein sehr komple-
        xes Thema ist, bei dem die meisten Verbraucher auf eine
        gute Beratung angewiesen sind, kommt es darauf an,
        dass man demjenigen, der einen berät, auch wirklich ver-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4221
        (A) (C)
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        trauen kann. Wie schnell ist ein Vertrag abgeschlossen,
        den man hinterher bereut, da entweder der Preis zu hoch
        oder die Leistung zu schlecht ist.
        Das Gesetz sieht zudem vor, so genannte Schlich-
        tungsstellen einzuberufen. Diese Stellen können vom zu-
        ständigen Bundesministerium der Justiz bestellt werden
        und dienen dazu, eventuelle Streitfälle zwischen Versi-
        cherungsvermittlern und Versicherungsnehmern außer-
        gerichtlich zu lösen. Dies beschleunigt die Verfahren un-
        gemein und senkt gleichzeitig die Kosten eines solchen
        Verfahrens.
        Natürlich ist eine Normierung für die Berater mit ei-
        nem höheren Aufwand verbunden. Allerdings muss auf
        der anderen Seite auch berücksichtigt werden, dass zum
        einen die Qualität der Beratungen und damit die Ver-
        braucher- und Kundenfreundlichkeit steigt, zum anderen
        Rechtsstreitigkeiten aufgrund der gestiegenen Qualität
        tendenziell eher vermieden werden, was auch zur Kos-
        tensenkung beiträgt. Von beidem wird letztlich die Bran-
        che selbst profitieren und ihren, zumeist zu Unrecht,
        ramponierten Ruf aufpolieren können.
        Unser Ziel ist die Stärkung der beiden Seiten: der Ver-
        sicherten und der Versicherer. In diesem Sinne ist es
        nicht zielführend, die Versicherungsvermittlungsbranche
        undifferenziert mit einer Erlaubnispflicht zu überziehen.
        Deshalb werden die so genannten gebundenen Vertreter,
        die mit einem Versicherungsunternehmen einen Agen-
        turvertrag haben, von der Erlaubnispflicht befreit, sofern
        das Versicherungsunternehmen die uneingeschränkte
        Haftung für sie übernimmt. Dies betrifft mit immerhin
        circa 400 000 Vertretern die weitaus größte Zahl der Be-
        troffenen.
        Um die mit jeder Erlaubnispflicht verbundene Büro-
        kratie so gering wie möglich zu halten, wird für Vermitt-
        ler von Versicherungen, die an ein bestimmtes Produkt
        gebunden sind, ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
        eingeführt. Dies gilt zum Beispiel für Kfz-Händler, die
        mit dem Auto gleich eine entsprechende Versicherung
        verkaufen. Hierdurch werden die Eingriffe in die beste-
        henden Vermittlungsstrukturen so gering wie möglich
        gehalten werden.
        Ich halte es für eine gute Entscheidung, den Industrie-
        und Handelskammern in Zukunft die Kompetenz über
        die Erlaubnisanträge zu übertragen. Zum einen können
        sie aufgrund ihrer dezentralen Struktur die Antragsstel-
        lung direkt vor Ort vornehmen. Zum anderen besteht
        eine erstklassige Vernetzung der einzelnen Stellen unter-
        einander, sodass sie zu einer zentralen Registrierung pro-
        blemlos in der Lage sind. Deshalb sind Überlegungen,
        die Berufszulassung könnte von einem branchenübli-
        chen Verein übernommen werden, verworfen worden.
        Aufgrund der Vielzahl der Interessen betroffener Ver-
        bände – Makler, Ausschließlichkeitsvertreter, Großban-
        ken etc. – erscheint es wenig aussichtsreich, die notwen-
        dige Neutralität einer solchen Fachaufsicht zu
        gewährleisten. Darüber hinaus sprechen ordnungspoliti-
        sche Bedenken dagegen.
        Das Ziel dieser EU-Richtlinie ist, eine möglichst ein-
        heitliche Reglung für die gesamte Europäische Union zu
        schaffen. Die Harmonisierung der Standards soll den
        grenzüberschreitenden Dienstleistungswettbewerb för-
        dern und das ist zu begrüßen.
        Ein Versicherungsvertreter, der in seinem Heimatland
        registriert ist, wird zukünftig problemlos seine Dienste
        in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
        anbieten dürfen. Gleichzeitig wird zum Wohle des Kun-
        den die Qualität und Kundenfreundlichkeit in Europa auf
        einem hohen Niveau angeglichen. So wird ein Kunde in
        Athen eine ähnliche Beratung erhalten wie einer in Ber-
        lin oder Amsterdam.
        Zusammenfassend lässt sich sagen: Der vorliegende
        Gesetzentwurf bietet sowohl für Kunden als auch für
        Anbieter Vorteile. Der Schlüssel dazu ist ein Zugewinn
        an Verbraucher- und Kundenfreundlichkeit. Die stei-
        gende Qualität der Beratungen wird nicht nur dem Kun-
        den dienen, sondern auch dazu führen, teilweise verlore-
        nes Vertrauen in die Branche wieder aufzubauen. Es
        wird Zeit, dass sich die Versicherungsbranche von ih-
        rem, in den meisten Fällen unverdienten, schlechten
        Image erholt.
        Durch die weitestgehende Angleichung in allen Mit-
        gliedstaaten der Europäischen Union erhalten die Versi-
        cherungsvertreter die Möglichkeit, auch in anderen Staa-
        ten ihre Dienste anzubieten. Dabei liegt es nicht in
        unserem Interesse, die Branche durch Überregulierung
        zu lahmen. Vielmehr sollten wir dieses Thema mit der
        nötigen Sensibilität und mit Augenmaß behandeln. Da-
        her halte ich es für sinnvoll, nach der Sommerpause eine
        Expertenanhörung durchzuführen, um die Interessen der
        Betroffenen entsprechend berücksichtigen zu können.
        Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte
        Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG
        des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. De-
        zember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die Richt-
        linie, die den Verbraucherschutz und die Harmonisie-
        rung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von
        Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um-
        gesetzt werden müssen, sodass nun Eile geboten ist. Zu
        der Verzögerung kam es vor allem durch den anhalten-
        den Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene
        Konzept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zei-
        gen sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte
        Grundkonzept zu akzeptieren, sodass wir nun doch zu
        einer hoffentlich zügigen Verabschiedung der Neurege-
        lung kommen werden.
        Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset-
        zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um
        Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die
        Registrierungspflicht und die Normierung der Informa-
        tions- und Dokumentationspflichten des Vermittlers ge-
        schützt werden – und darum, die deutschen Versiche-
        rungsvermittler fit zu machen gegen die europäische
        Konkurrenz. Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers
        in einem zusammenwachsenden Europa wird harmoni-
        siert, und grenzüberschreitende Vermittlungen werden
        vereinfacht.
        4222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf-
        liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher-
        geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum
        „schwarze Schafe“ aus diesem Gewerbe herauszufiltern.
        Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö-
        sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser
        Branche.
        Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der
        bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsver-
        mittlers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen,
        dass die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und
        Registrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragen-
        den Versicherungsvermittler werden. Damit einher ge-
        hen Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern,
        eine Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufs-
        haftpflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations-
        und Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden.
        Nach der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbe-
        ratungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das
        neu geschaffene System für Versicherungsvermittler zu
        integrieren. Das heißt, Versicherungsberater müssen sich
        ebenfalls registrieren lassen und bedürfen nun einer Er-
        laubnis der IHK, wobei die Anforderungen denen für
        Versicherungsvermittler entsprechen. Auch die für Ver-
        sicherungsmakler geltenden Berufsausübungsvorschrif-
        ten, insbesondere die Beratungs-, Dokumentations- und
        Informationspflichten, gelten entsprechend für Versiche-
        rungsberater. Bislang unterliegt die Versicherungsver-
        mittlung keinerlei Berufszugangsbeschränkungen. Er ist
        nur zur Anzeige seiner Tätigkeit gemäß § 14 Gewerbe-
        ordnung verpflichtet.
        Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor
        allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche-
        rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver-
        sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden
        bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be-
        schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver-
        braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft
        wahrt. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelungen ist.
        Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür-
        fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d
        der Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK
        und müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch
        für den Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung
        zuständig. Die IHKs bedienen sich für die Registerfüh-
        rung des DIHK als gemeinsamer Stelle.
        Versicherungsvermittler sind unter Bußgeldbeweh-
        rung verpflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen
        zu lassen. Außerdem werden die Versicherungsunterneh-
        men verpflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbei-
        ten, die in das Register für Versicherungsvermittler
        eingetragen sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuver-
        lässigkeit, Abschluss einer Berufshaftpflichtversiche-
        rung sowie Sachkundenachweis.
        Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prü-
        fung erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche
        etablierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/-
        frau des Berufsbildungswerks der Deutschen Versiche-
        rungswirtschaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK
        und BWV bereits einen Rahmenvertrag abgeschlossen.
        Gleichwertige staatliche Abschlüsse werden anerkannt.
        Versicherungsvermittler, die schon seit dem 31. August
        2000 tätig waren, genießen Bestandsschutz. Jeder Ver-
        mittler hat dafür zu sorgen, dass auch seine angestellten
        Vermittler angemessen qualifiziert und zuverlässig sind.
        Die circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich an
        ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so ge-
        nannte Ausschließlichkeitsvertreter –, können von der
        Erlaubnis befreit werden, wenn sie über eine uneinge-
        schränkte Haftungsübernahme des Versicherers verfü-
        gen. Die Verantwortung für die Zuverlässigkeit und die
        Qualifikation übernimmt dann der jeweilige Versicherer.
        Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel
        Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
        vorgesehen.
        Grundsätzlich muss ein Makler als Sachwalter des
        Kunden seinen Rat auf eine hinreichende Zahl von auf
        dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen und
        Versicherern stützen, die er im Wege einer objektiv aus-
        gewogenen Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Ver-
        tragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Informa-
        tions- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung
        für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermitt-
        ler, die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem
        Kunden die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten
        Versicherer anzugeben.
        Der Vermittler muss dem Kunden noch vor Beginn
        des Beratungsgespräches mitteilen, ob er als Versiche-
        rungsmakler, als Versicherungsvertreter oder Versiche-
        rungsberater tätig ist. Durch Normierung dieser statusbe-
        zogenen Informationspflichten in der Verordnung über
        die Versicherungsvermittlung soll dem Kunden schon
        vor Beginn der Beratung größtmögliche Transparenz er-
        möglicht werden. Grundsätzlich müssen Versicherungs-
        vermittler, die Zahlungen der Kunden annehmen, ohne
        dazu bevollmächtigt zu sein, in Anlehnung an die Mak-
        ler- und Bauträgerverordnung eine Sicherheit stellen.
        Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und
        Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds-
        leute schaffen, was ich sehr begrüße.
        Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset-
        zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches
        Recht mit geringstmöglichen bürokratischen Aufwand
        gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver-
        braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher
        unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die
        Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche-
        rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafen haben zu-
        künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das
        Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen
        wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da-
        mit die Versicherungswirtschaft europafest.
        Martin Zeil (FDP): Bislang kann sich jeder, der sich
        dafür interessiert und sich dies zutraut, in Deutschland
        Versicherungsvermittler bzw. -makler werden. Die EU-
        Richtlinie über Versicherungsvermittlung zielt darauf ab,
        dies zu ändern. Sie will dadurch den Verbraucherschutz
        stärken und eine Harmonisierung des EU-Vermittler-
        marktes erreichen. So weit, so gut Die Umsetzung der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4223
        (A) (C)
        (B) (D)
        Richtlinie durch die Bundesregierung bedarf jedoch
        noch einiger Nachbesserungen,
        Im Gesetzentwurf wird als Berufsvoraussetzung eine
        Sachkundeprüfung, der Abschluss einer Berufshaft-
        pflichtversicherung, eine Informations- und Dokumenta-
        tionspflicht für Beratungsgespräche sowie die Registrie-
        rung der Vermittler in einem zentralen Register
        gefordert. Das ist auf den ersten Blick alles vernünftig
        und einsehbar. Sieht man genauer hin, stellen sich aber
        einige grundsätzliche Fragen.
        Warum? Weil wichtige Vorschriften des Gesetzent-
        wurfs nur für die ungebundenen Vermittler und Makler
        gelten, die gebundenen aber aussparen. Das ist eine fak-
        tische Ungleichbehandlung, die so nicht akzeptabel ist.
        Dies würde den eigentlichen Zweck des Gesetzentwurfs,
        nämlich die Verbesserung des Verbraucherschutzes, kon-
        terkarieren. Es darf nicht sein, dass durch eine gesetzli-
        che Regelung, die erklärtermaßen den Verbraucher-
        schutz stärken will, gerade diejenigen benachteiligt und
        in ihrer Marktposition geschwächt werden, die objektiv
        sind bei der Versicherungsvermittlung, nämlich die
        Makler und ungebundenen Vermittler.
        Wenn der Bundesregierung tatsächlich an einer
        durchgreifenden Qualitätsverbesserung gelegen ist, dann
        sollte sie die geforderte Mindestqualifikation für alle
        Versicherungsvermittler verbindlich machen und nicht
        nur für die ungebundenen. Tut sie dies nicht, könnte sich
        zum Beispiel ein bislang ungebundener Vermittler einer
        Ausschließlichkeitsorganisation anschließen, um seine
        Kunden fortan ohne Sachkundenachweis zu beraten.
        Dieses Schlupfloch würde die angestrebte Qualitätssi-
        cherung ad absurdum führen.
        Ohne einheitliche Regeln kommt es darüber hinaus zu
        einer klaren Wettbewerbsverzerrung zulasten derjenigen,
        für die die Mindestqualität eine Markteintrittsbarriere
        darstellt. Das aber kann die Bundesregierung nicht wol-
        len! Zudem besteht die Gefahr, dass zahlreiche ungebun-
        dene Vermittler und Makler aufgeben müssen. In Groß-
        britannien sind nach der Umsetzung der Richtlinie rund
        zwei Drittel aller Vermittler vom Markt verschwunden.
        Eine derartige Ausdünnung des Angebots kann nicht im
        Sinne des Verbrauchers sein!
        Unverständlich ist zudem, dass sich die Inhalte der
        Sachkundeprüfung nahezu ausschließlich an der Qualifi-
        kation des Versicherungsfachmanns des Berufsbildungs-
        werks der Deutschen Versicherungswirtschaft, aber
        kaum an den Bedürfnissen der Makler orientieren, die ja
        von der Neuregelung besonders betroffen sind und deren
        Beratungsansatz zum Teil deutlich von dem der gebun-
        denen Versicherungsvertreter abweicht.
        Warum sich laut Gesetzentwurf die Prüfungskommis-
        sion ausschließlich aus Vertretern der Versicherungswirt-
        schaft zusammensetzt, bleibt ebenfalls ein Rätsel. Ange-
        messener und gerechter wäre es, sie paritätisch auch mit
        Versicherungsmaklern zu besetzen.
        Ohne eine Veränderung des Gesetzes in diesen beiden
        Punkten kommt es zu der absurden Situation, dass die
        Inhalte von nicht gebundenen Vermittlern sich am Be-
        rufsbild des gebundenen Versicherungsvertreters orien-
        tieren, der aber qua Gesetz von der Prüfung ausgeschlos-
        sen ist. Im Gesetz heißt es, dass ein erfolgreiches
        Studium an einer Hochschule oder Berufsakademie einer
        Sachkundeprüfung gleichkommt, wenn es von der IHK
        anerkannt wird. Praktikabler und daher sinnvoller wäre
        sicherlich eine bundesweit einheitliche Anerkennung al-
        ler akademischer Titel mit wirtschaftlichem und juristi-
        schem Hintergrund, weil eine Einzelfallentscheidung je-
        der IHK zu einem hohen bürokratischen Aufwand sowie
        zu großen regionalen Unterschieden führen würde.
        Überlegenswert ist auch, ob die Sachkundeprüfung
        statt über IHK bzw. DIHK nicht besser über ein unab-
        hängiges Gütesiegel geregelt werden sollte. Durch diese
        Art der Selbstverpflichtung, die sich im Immobilienbe-
        reich bereits bewährt hat, ist für den Verbraucher klar er-
        sichtlich, ob der Vermittler eine Sachkundeprüfung ab-
        solviert, eine Berufshaftpflicht abgeschlossen und im
        Auftrag des Kunden oder im Auftrag eines Versicherers
        als gebundener Vermittler tätig ist. Wichtig erscheint mir
        auch, eine flexible Regelung für die Anerkennung der
        teilweise hohen Standards der Sachkundeprüfung, die es
        heute schon gibt, zu finden.
        Systemfremd und daher kritikwürdig ist an dem Ge-
        setzentwurf die Einbeziehung des Berufs des Versiche-
        rungsberaters. Da seine Dienstleistung einzig und allein
        auf die Beratung und nicht, wie bei einem Vermittler, auf
        den Abschluss eines Vertrages ausgerichtet ist, hat er in
        einem Vermittlergesetz nichts zu suchen. Deshalb sollte
        die berufsrechtliche Verankerung des Versicherungsbe-
        raters auch künftig im Rechtsberatungsgesetz verblei-
        ben.
        Noch ein paar Worte zum Thema Registrierung, die
        zu begrüßen ist, weil sie den Markt vor schwarzen Scha-
        fen schützt. Nach den Plänen der Bundesregierung soll
        täglich eine Liste mit gelöschten Registrierungsnum-
        mern der Vermittler entstehen. Unverständlicherweise
        soll sie aber ausschließlich Versicherungsunternehmen
        zugänglich gemacht werden. Hier wird, wie bei der
        Sachkundeprüfung, ebenfalls mit zweierlei Maß gemes-
        sen und Makler sowie nicht gebundene Versicherungs-
        vertreter deutlich benachteiligt. Genauso wie die Versi-
        cherer können sie für die Qualität ihrer Vermittler nur
        dann garantieren, wenn sie Zugang zu den Daten des Re-
        gisters haben. Ich fordere daher die Bundesregierung
        nachdrücklich auf, dies durch das Gesetz sicher zu stel-
        len.
        Auch bezüglich der Haftpflichtversicherung ist der
        Gesetzentwurf nicht stimmig. So soll es gestattet sein,
        dass das Versicherungsunternehmen die Haftung für ei-
        nen Vertreter übernimmt. Kommt es tatsächlich zu einer
        Schadensersatzforderung, wird es für den Kunden aber
        unter Umständen schwierig, den Versicherer anstelle des
        einzelnen Vermittlers und dessen Berufshaftpflichtversi-
        cherung in Regress zu nehmen, zum Beispiel, wenn es
        sich um kleine Versicherer handelt, die sich in wirt-
        schaftlichen Schwierigkeiten befinden. Zudem stellt
        diese Regelung eine Wettbewerbsverzerrung dar, weil
        unabhängige Makler im Gegensatz zu einem Versicherer
        für jeden Vermittler die Prämie zur Berufshaftpflichtver-
        sicherung aufbringen müssen. Aus diesen Gründen wäre
        4224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        es angebracht, die Pflicht zum Abschluss einer Berufs-
        haftpflichtversicherung für jeden einzelnen Vermittler
        verbindlich vorzuschreiben.
        Zum Abschluss möchte ich noch auf das Thema Bera-
        tung eingehen. Laut Gesetzentwurf besteht die Möglich-
        keit, durch Vereinbarung auf die eigentlich vorgeschrie-
        bene Beratung und Dokumentation zu verzichten. In
        diesem Fall muss der Vermittler allerdings den Kunden
        ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass sich ein
        Verzicht nachteilig auf die Möglichkeit auswirken kann,
        Schadenersatz geltend zu machen.
        Die Intention des Gesetzgebers ist es, den Bürokratie-
        aufwand in Grenzen zu halten. Um dies zu erreichen,
        könnte die vorliegende gesetzliche Regelung noch etwas
        verschlankt werden. Damit der Beratungsverzicht effizi-
        ent und ohne großen Aufwand erfolgen kann, muss dies
        auch auf elektronischem Wege und als Bestandteil des
        Beratungsprotokolls möglich sein. Dass der Verzicht Ge-
        genstand einer gesonderten Vereinbarung in einem eige-
        nen Dokument sein muss, ist eindeutig überzogen.
        Der Regierungsentwurf sieht vor, dass gewisse Ver-
        mittlertätigkeiten aufgrund ihres unbeachtlichen Um-
        fangs, ihres geringen Risikos sowie der geringen Höhe
        der Versicherungsprämie, wie zum Beispiel durch Reise-
        kaufleute vermittelte Reiserücktrittsversicherungen, von
        der Berufszulassung ausgenommen sind. Nicht entbun-
        den sind sie laut Gesetz allerdings von der Pflicht zur
        Beratung und Dokumentation, also den zivilrechtlichen
        Pflichten des Gesetzes. Das ist ebenso unverhältnismä-
        ßig wie überflüssig und geht zudem auch klar über die
        Vorgaben der Richtlinie hinaus. Hier besteht im Gesetz-
        entwurf Änderungsbedarf.
        Da die praktische Umsetzung des Gesetzes nicht
        übers Knie gebrochen werden kann und viele bereits
        jetzt tätige Vermittler noch keine Sachkundeprüfung ab-
        gelegt haben und diese nachholen müssen, reicht die im
        Entwurf vorgesehene einjährige Übergangsfrist für das
        In-Kraft-Treten nicht aus und sollte auf zwei Jahre ver-
        längert werden. Insgesamt gesehen zielt der Gesetzent-
        wurf in die richtige Richtung, enthält aber eine ganze
        Menge Punkte, die überarbeitet und verbessert werden
        sollten.
        Ulla Lötzer (DIE LINKE): Das entscheidende Manko
        des durch die Bundesregierung vorgelegten Gesetzent-
        wurfs besteht darin, dass im Titel zwar von Neuregelung
        des Versicherungsvermittlerrechts die Rede ist, die Bun-
        desregierung offenbar im Wesentlichen aber bemüht ist,
        alles beim Alten zu lassen. An den bestehenden klein-
        gliedrigen Vertriebsstrukturen im Versicherungswesen
        soll im Kern nicht gerührt werden, obgleich diese Struk-
        turen sich in verschiedener Hinsicht als ineffizient und
        unwirtschaftlich darstellen. Sie sind maßgeblich dafür
        verantwortlich, dass viele Menschen und viele Familien
        erhebliche Schwierigkeiten haben, den für sie passenden
        Versicherungsschutz zu finden und nicht angemessen
        versichert sind. Für die betroffenen Verbraucher entste-
        hen so Jahr für Jahr Verluste in Milliardenhöhe.
        Es ist symptomatisch für die Politik der Bundesregie-
        rung, dass sie einerseits oftmals mehr Markt dort fordert
        und fördert, wo es weder im Interesse der gesellschaftli-
        chen Mehrheit noch ein Gebot gesamtwirtschaftlicher
        Vernunft ist, wie in der Bildung, der Daseinsvorsorge
        oder im Gesundheitswesen, und andererseits dort, wo die
        Schaffung von marktlichen Bedingungen tatsächlich ge-
        boten wäre, um faire Verhältnisse zu schaffen, konse-
        quent versagt. Aufgrund der hohen Intransparenz des
        Marktes und der Informationsasymmetrien zwischen
        Versicherungsanbietern und -nachfragern bestimmt bis
        heute vor allem die Höhe der durch die Unternehmen an
        die Vermittler gezahlte Provision die Beratung und den
        Absatz von Versicherungen. Der tatsächliche Bedarf der
        Kunden oder gar der Vergleich von Qualitäts- und Preis-
        standards der Versicherungsprodukte spielen nur eine
        unmaßgebliche Rolle. Die Verbraucherzentrale schätzt,
        dass den rund 200 tatsächlich unabhängigen und auf Ho-
        norarbasis arbeitenden Versicherungsberatern in
        Deutschland rund eine halbe Million Versicherungsver-
        mittler gegenüberstehen. Deren fachliche Qualifikation
        ist oftmals gering, zumindest aber sehr uneinheitlich.
        Vor allem aber berät und vermittelt ein großer Teil von
        ihnen zu Bedingungen, die überwiegend durch die Versi-
        cherungsunternehmen vorgegeben sind.
        Es geht hier folglich um Geld, um viel Geld. Das
        Geld, das die Verbraucherinnen und Verbraucher auf-
        grund der falschen Anreizstruktur für überteuerte oder
        unsachgerechte Versicherungsprodukte ausgeben, lan-
        det schließlich in den Kassen der Versicherungskon-
        zerne. So ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn
        diese Gesetzesvorlage vor allem Beifall vonseiten der
        Versicherungswirtschaft und ihrer offensichtlich ein-
        flussreichen Lobby bekommt. Verbraucherschutz ist
        aber durchaus auch eine Frage der Verlässlichkeit der
        Qualifikation derer, die als Makler bzw. als Anlaufstel-
        len für Kunden auf dem Markt agieren. Hier eine ange-
        messene Qualifizierung und vergleichbarer Standards zu
        gewährleisten, war eines der Kernziele der zugrunde lie-
        genden EU-Richtlinie. Mit dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf wird dieses Ziel jedoch in keiner Weise eingelöst.
        Die Frage, was als angemessen gilt, wird weder wirklich
        beantwortet, noch werden Regelungen getroffen, durch
        die die Unternehmen, die Vermittler einsetzen oder sich
        ihrer bedienen, eine der Verantwortung der Berufspraxis
        gemäße Qualifikation sicherstellen müssen.
        Während für die Ausübung vieler Berufe in Deutsch-
        land aus guten Gründen eine mindestens dreijährige Aus-
        bildung vorgeschrieben ist, sollen für die verantwortungs-
        volle und mindestens für die Kunden unter Umständen
        folgenreiche Tätigkeit der Versicherungsvermittlung
        222 Unterrichtsstunden à 45 Minuten ausreichend sein.
        Dies sind netto, auf einen Acht-Stunden-Tag gerechnet,
        knapp 21 Tage, die als ausreichender Qualifizierungszeit-
        raum gelten sollen. In die Hände einer solchen „Fach-
        kraft“ würde freiwillig wohl kaum jemand auch nur einen
        defekten Toaster legen. Die Chance, auf diesem Feld zu
        verbesserten Bedingungen zu kommen und sachgerechte
        Anforderungen an Qualifikation und entsprechende öko-
        nomische Anreize zu setzen, wird ebenso vertan wie die
        Chance zur Stärkung der anbieterunabhängigen Beratung.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4225
        (A) (C)
        (B) (D)
        Hier ist die Marktgläubigkeit der Bundesregierung
        dann offenbar wieder grenzenlos. Stattdessen wäre sie
        jedoch gefordert, erst einmal klare Rahmenbedingungen
        und Vorgaben zu setzen, damit ein funktionierender
        Markt überhaupt entstehen kann. Da er die mit dieser
        Gesetzesvorlage nicht bekommt, bleibt also alles beim
        Alten, zugunsten und zur Freude einiger weniger großer
        Versicherungskonzerne, die davon profitieren und zulas-
        ten der Privatkunden und Verbraucher. Einmal mehr
        werden die Möglichkeiten nicht genutzt, Mindeststan-
        dards im europäischen Rahmen zum volkswirtschaftli-
        chen Nutzen und zum Wohle der Mehrheit der Men-
        schen nach oben zu korrigieren.
        Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Mit den vom Bundesministerium für Wirtschaft und
        Technologie vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur
        Neuregelung der EG-Versicherungsvermittler-Richtlinie
        hat das Kabinett versucht, die Brüsseler Richtlinie in
        deutsches Recht zu gießen. Die Umsetzung war längst
        überfällig, scheiterte aber stets an den Abstimmungen
        mit den Ländern.
        Bisher mussten sich Verbraucherinnen und Verbrau-
        cher in Deutschland bei dem wichtigen Thema Versiche-
        rungen damit abfinden, dass viele Versicherungsvermitt-
        ler gar nicht ausreichend für eine Beratung qualifiziert
        waren; denn der Beruf des Versicherungsvermittlers war
        frei zugänglich und verlangte keine Qualifikationsnach-
        weise.
        Mit dem Gesetzentwurf soll nun der Beruf des Versi-
        cherungsvermittlers neu geregelt werden. Der Gesetz-
        entwurf sieht unter anderem vor, dass Versicherungsver-
        mittler zukünftig angemessene Qualifikationen
        nachweisen müssen, bevor sie den Verbraucherinnen
        und Verbrauchern Versicherungen empfehlen und ver-
        kaufen. Versicherungsvermittler müssen sich bei der In-
        dustrie- und Handelskammer registrieren lassen und
        über eine obligatorische Berufshaftpflichtversicherung
        verfügen. Außerdem haben sie bestimmte Beratungs-,
        Informations- und Dokumentationspflichten gegenüber
        ihren Kunden.
        Wir halten die Umsetzung der Versicherungsvermitt-
        ler-Richtlinie für dringend geboten, denn das bisherige
        Fehlen von Qualifikationsnachweisen, Beratungspflich-
        ten und Berufsausübungsschranken in diesem Berufsfeld
        hat dazu geführt, dass es unter den deutschen Versiche-
        rungsvermittlern schwarze Schafe gab, die ihre Versi-
        cherungskunden mangelhaft beraten und ihnen teure und
        oft überflüssige Versicherungen verkauft haben.
        Allerdings weist der deutsche Gesetzentwurf erhebli-
        che Mängel auf, die nach wie vor zulasten der Verbrau-
        cherinnen und Verbraucher gehen. Im Vergleich zur
        Brüsseler Vorgabe schränkt der deutsche Entwurf die
        Beratungspflicht dem Kunden gegenüber bedauerlicher-
        weise erheblich ein. Wichtige Fragen wie die Sachkun-
        deprüfung, die Haftpflichtversicherung und die Informa-
        tionspflichten werden gar nicht ausgeführt, sondern auf
        weitere Rechtsverordnungen vertagt. Insgesamt entsteht
        der Eindruck, hier wird eine EU-Richtlinie nur formal
        umgesetzt, die Verbesserung der Verbraucherrechte aber
        geschoben.
        Es kann nicht im Sinne der Verbraucherinnen und
        Verbraucher sein, dass sich die Beratungspflichten nach
        einem angemessenen Verhältnis zwischen Beratungsauf-
        wand und der vom Kunden zu zahlenden Versicherungs-
        prämie richten. Denn für den Kunden bedeutet das letzt-
        lich: Je niedriger die Versicherungsprämie, desto
        weniger Beratung! Die Bundesregierung geht hier irr-
        tümlicherweise davon aus, dass die größeren Risiken in
        den höheren Prämien liegen und berücksichtigt das ab-
        gesicherte Risiko nicht. Eine Privathaftpflichtversiche-
        rung mit einer niedrigen Jahresprämie unter 100 Euro
        versichert Schäden in Millionenhöhe. Wer hier die fal-
        sche Wahl trifft, bleibt unter Umständen auf einem Rie-
        senschaden sitzen.
        Zu viele Bundesbürger sind fehl- bzw. unterversi-
        chert. Deshalb müsste bei einer sinnvollen Beratung zu-
        nächst der Versicherungsbedarf geklärt und festgehalten
        werden. Anzustreben ist eine individualisierte Risiko-
        analyse des Kunden. Auch diese allgemeine Regel sieht
        der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Und
        im Gegensatz zur EU-Vorgabe soll es in Deutschland
        möglich sein, ganz auf den Schutzgedanken der Richtli-
        nie zu verzichten und die vorgesehenen Auskünfte nicht
        zu erteilen. Bei Falschberatungen hat der Kunde so
        nichts in der Hand und wird Schadenersatzansprüche
        kaum durchsetzen können.
        Bezüglich der Qualifikationsanforderungen an den
        Versicherungsvermittler gibt der Entwurf keine klare
        Definition vor. Er spricht hier lediglich von einer „ange-
        messenen“ Qualifikation, wie diese real auszusehen hat,
        bleibt aber einer weiteren Rechtsverordnung überlassen.
        Aus Verbrauchersicht besonders unerfreulich ist die feh-
        lende Erkennbarkeit und Zuverlässigkeit der Qualifika-
        tion. Je nachdem, ob der Vermittler angestellt, nebenbe-
        ruflich tätig oder selbstständig ist, werden
        unterschiedliche Anforderungen an seinen Sachkunde-
        nachweis gestellt. Die Sachkundeanforderungen sollten
        aber sowohl im Interesse der Vermittler als auch der Ver-
        braucher für jeden gleich sein.
        Auch die Haftpflichtschutzregelung der Versiche-
        rungsvermittler ist noch nicht geregeft. Die Versiche-
        rungsvermittler müssen zwar in Zukunft eine Berufshaft-
        pflichtversicherung abschließen, aber auch hier wird die
        genauere Ausgestaltung auf eine weitere Rechtsverord-
        nung verschoben. Angesichts der bereits in der Diskus-
        sion befindlichen und abzulehnenden marktüblichen Ri-
        sikoausschlüsse hätte die Bundesregierung hier für
        Klarheit sorgen müssen. Mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf bleibt also weiterhin offen, ob eine Haftpflicht-
        versicherung bei vorsätzlicher Falschberatung überhaupt
        haftet.
        Abschließend bleibt zu sagen, dass wir von dem Ge-
        setzentwurf zur Neuregelung des Versicherungsver-
        mittlerrechts mehr erwarten: Nämlich, dass er einerseits
        die Verbraucherinteressen umfassend berücksichtigt und
        andererseits den Versicherungsvermittlern ein einfaches
        und verständliches Regelwerk an die Hand gibt.
        4226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 32
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Reform des Personenstandsrechts (Personen-
        standsrechtsreformgesetz – PStRG) (Tagesord-
        nungspunkt 37 a)
        Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Mit dem
        Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. August
        2005 „Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Personen-
        standsrechts“ soll das geltende Personenstandsgesetz von
        1937 in der Fassung vom 8. August 1957 grundlegend re-
        formiert werden. Obwohl das deutsche Personenstands-
        wesen seit der Einführung der staatlichen Personen-
        standsbuchführung vor etwa 130 Jahren seinen Zweck
        vollauf erfüllt, wurde nunmehr von unterschiedlicher
        Seite am geltenden Recht zunehmend Kritik hinsichtlich
        des Beurkundungssystems, der Beurkundungsmedien,
        des Beurkundungsinhalts und der Voraussetzungen für
        Registerbenutzung geübt.
        Gesichtspunkte wie Deregulierung, Verwaltungsver-
        einfachung und Kostenreduzierung finden in dem Re-
        formgesetz stärkere Berücksichtigung, ohne dass da-
        durch die Personenstandsbuchführung an sich und ihre
        Servicefunktion gegenüber dem Bürger beeinträchtigt
        wird. So sieht der Gesetzentwurf vor, ein sehr kosten-
        trächtiges Personenstandsbuch, das „Familienbuch“, ab-
        zuschaffen und durch ein erheblich kostengünstigeres
        Angebot inhaltsgleicher Leistungen, das zudem alle Bür-
        ger erreicht, zu ersetzen. Die Schwerpunkte des Perso-
        nenstandsreformgesetzes sind die Einführung elektroni-
        scher Personenstandsregister anstelle der bisherigen
        Personenstandsbücher, die Begrenzung der Fortführung
        der Personenstandsregister durch das Standesamt und
        die Abgabe der Register an die Archive, die Ersetzung
        des Familienbuches durch Beurkundungen in den Perso-
        nenstandsregistern, die Reduzierung der Beurkundungs-
        daten auf das für die Dokumentation des Personenstan-
        des erforderliche Maß sowie die Neuordnung der
        Benutzung der Personenstandsbücher.
        Alleine die Tatsache, dass jährlich etwa 400 000 Ehe-
        schließungen einen Berg von Familienbüchern – die
        nicht mit den so genannten Stammbüchern der Familie
        zu verwechseln sind – ansteigen lässt, der auf 20 Millio-
        nen geschätzt werden kann, und zudem die fortschrei-
        tende Mobilität der Bevölkerung zur Folge hat, dass sich
        ein großer Teil der Familienbücher ständig auf dem Post-
        weg zu einem anderen, durch Wohnungswechsel zustän-
        dig gewordenen Standesbeamten befindet, zeigt deut-
        lich, dass dieses umständliche und kostenaufwendige
        Verfahren nicht mehr den heutigen Anforderungen ge-
        recht wird. Mit moderner Technik könnten die Abläufe
        schneller und kostengünstiger bewerkstelligt werden.
        Die Möglichkeiten der elektronischen Kommunika-
        tion gestatten es, dass mit großem Verwaltungsaufwand
        geführte Familienbuch abzuschaffen. Durch die Abschaf-
        fung des Familienbuches, das im Wesentlichen Beurkun-
        dungen enthält, die primär bereits in den Geburten-, Hei-
        rats- und Sterbebüchern enthalten sind, wird zudem kein
        Datenverlust eintreten.
        Auch sind die Beurkundungsmediern seit der Einfüh-
        rung der staatlichen Personenstandsregistrierung unver-
        ändert geblieben und zwingend vorgeschrieben. Dies
        beinhaltet, dass nur bestimmte Papiersorten und Schreib-
        mittel für die Personenstandsbuchführung benutzt wer-
        den dürfen, damit der vorgegebenen dauernden Aufbe-
        wahrung und der damit verbundenen Haltbarkeit der
        Personenstandsbücher Rechnung getragen wird. Nach-
        dem die elektronische Datenverarbeitung Einzug in die
        Standesämter gehalten hat, sind die Arbeiten im Zusam-
        menhang mit der Beurkundung eines Personenstands-
        falls so organisiert, dass alle erforderlichen Daten elek-
        tronisch erfasst werden und der Datenbestand für den
        Ausdruck des Eintrags, etwaiger Personenstandsurkun-
        den und Folgearbeiten – wie beispielsweise Mitteilungen
        an Behörden – genutzt wird. Da das geltende Recht ein
        „drittes Personenstandsbuch“ nicht zulässt, muss der Da-
        tenbestand, der bei weiterer Bereithaltung und Nutzung
        einem solchen „Buch“ gleichkäme, unmittelbar nach der
        Beurkundung gelöscht werden. Zu Recht wird diesem
        Verfahren kritisch entgegengehalten, dass vorhandene
        Datenbestände unnötig verloren gehen, also nicht ge-
        pflegt und weiter genutzt werden können.
        Beim Beurkundungsinhalt wurde seit längerer Zeit
        bemängelt, dass die Eintragungen nicht auf das für die
        Beurkundung erforderliche Maß reduziert seien. So sind
        zum Beispiel Angaben zum Beruf und zur Religionszu-
        gehörigkeit als nicht personenstandsrelevante Angaben
        aus dem Angabenkatalog zu streichen. Der Gesetzent-
        wurf sieht nunmehr vor, die Beurkundungsdaten auf das
        für die Dokumentation des Personenstandes unbedingt
        erforderliche Maß zu reduzieren. So wird künftig in al-
        len Registern auf die Angabe des Berufs-, im Heirats-
        und Geburtenregister auf die Angabe des Wohnortes der
        Eheschließenden bzw. der Eltern und im Geburten- und
        Sterberegister auf die Angaben zum Anzeigenden ver-
        zichtet.
        Der Gesetzentwurf sieht ferner vor, anstelle der bishe-
        rigen Personenstandsbücher elektronische Personen-
        standsregister einzuführen. Es wird somit eine Grund-
        lage für die Einführung der IT-gestützten Beurkundung
        von Personenstandsfällen geschaffen und der Verwal-
        tungsaufwand wird in den deutschen Standesämtern dau-
        erhaft reduziert. Dadurch können Personenstandsurkun-
        den künftig schneller ausgestellt und Register leichter
        eingesehen werden, auch der Service gegenüber dem
        Bürger wird verbessert. Die Bürger sollen dadurch, dass
        Urkunden nicht mehr nur von dem registerführenden
        Standesamt ausgestellt werden können, schneller als bis-
        her an benötige Personenstandsurkunden gelangen.
        Besonders begrüße ich, dass die Bundesregierung
        zwischenzeitlich die Gegenäußerung zur Stellungnahme
        des Bundesrates zum Gesetzesentwurf beschlossen hat,
        der unter anderem noch davon ausging, dass die Zustän-
        digkeit für die Begründung und die Beurkundung von
        eingetragenen Lebenspartnerschaften einheitlich beim
        Standesbeamten bzw. beim Standesamt liegen und die
        bisher unterschiedlichen landesrechtlichen Zuständig-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4227
        (A) (C)
        (B) (D)
        keiten entfallen sollen. Diese Regelung wurde zugunsten
        der landesrechtlichen Zuständigkeiten zurückgestellt, da
        sich die landesrechtlichen Regelungen zum Beispiel in
        Baden-Württemberg und in Bayern bewährt haben.
        In Bayern beispielsweise, wo durch das Gesetz zur
        Ausführung des Lebenspartnerschaftsgesetz die Zustän-
        digkeit für die Mitwirkung bei der Begründung und die
        Beurkundung von Lebenspartnerschaften auf die Notare
        übertragen wurde, unterstreichen rund 1 500 im Lebens-
        partnerschaftsbuch registrierte Lebenspartnerschaften
        und die durchweg positive Resonanz der Beteiligten die
        Akzeptanz und die Qualifikation der Notare. Die Kom-
        petenz der Notare bei der Beratung über Möglichkeiten
        und Folgen des Rechtsinstituts der Lebenspartnerschaft,
        insbesondere im Familien- und Erbrecht, werden von
        den künftigen Lebenspartnern besonders geschätzt, was
        sich nicht zuletzt an den Paaren aus anderen Ländern
        und auch aus dem Ausland zeigt, die die Begründung ih-
        rer Partnerschaft vor einem bayerischen Notar wün-
        schen. Viele Paare schätzen überdies die Diskretion der
        Notarlösung.
        Hinsichtlich der Kosten wird nach überschlägiger Be-
        rechnung die Einführung der Informationstechnik nach
        Abschluss der Umstellungsphase zu jährlichen Mehraus-
        gaben von rund 14 Millionen Euro führen. Dem stehen
        Einsparungen von ca. 18 Millionen Euro gegenüber, so-
        dass sich per Saldo ein jährliches Einsparvolumen von
        rund 4 Millionen Euro ergibt. Bei den Standesämtern ist
        langfristig mit einem jährlichen Einsparvolumen von
        rund 46 Millionen Euro zu rechnen.
        Das Personenstandsreformgesetz ist somit eine längst
        überfällige Maßnahme und ein weiterer wichtiger Schritt
        auf dem Weg zum Bürokratieabbau und zum modernen
        Staat.
        Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte
        Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG
        des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. De-
        zember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die Richt-
        linie, die den Verbraucherschutz und die Harmonisie-
        rung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von
        Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um-
        gesetzt werden müssen, sodass nun Eile geboten ist. Zu
        der Verzögerung kam es vor allem durch den anhalten-
        den Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene
        Konzept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zei-
        gen sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte
        Grundkonzept zu akzeptieren, sodass wir nun doch zu
        einer hoffentlich zügigen Verabschiedung der Neurege-
        lung kommen werden.
        Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset-
        zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um
        Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die
        Registrierungspflicht und die Normierung der Informa-
        tions- und Dokumentationspflichten des Vermittlers ge-
        schützt werden – und darum, die deutschen Versiche-
        rungsvermittler fit zu machen gegen die europäische
        Konkurrenz. Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers
        in einem zusammenwachsenden Europa wird harmoni-
        siert, und grenzüberschreitende Vermittlungen werden
        vereinfacht.
        Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf-
        liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher-
        geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum
        „schwarze Schafe“ aus diesem Gewerbe herauszufiltern.
        Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö-
        sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser
        Branche.
        Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der
        bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsver-
        mittlers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen,
        dass die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und
        Registrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragen-
        den Versicherungsvermittler werden. Damit einher ge-
        hen Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern,
        eine Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufs-
        haftpflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations-
        und Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden.
        Nach der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbe-
        ratungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das
        neu geschaffene System für Versicherungsvermittler zu
        integrieren. Das heißt, Versicherungsberater müssen sich
        ebenfalls registrieren lassen und bedürfen nun einer Er-
        laubnis der IHK, wobei die Anforderungen denen für
        Versicherungsvermittler entsprechen. Auch die für Ver-
        sicherungsmakler geltenden Berufsausübungsvorschrif-
        ten, insbesondere die Beratungs-, Dokumentations- und
        Informationspflichten, gelten entsprechend für Versiche-
        rungsberater. Bislang unterliegt die Versicherungsver-
        mittlung keinerlei Berufszugangsbeschränkungen. Er ist
        nur zur Anzeige seiner Tätigkeit gemäß § 14 Gewerbe-
        ordnung verpflichtet.
        Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor
        allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche-
        rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver-
        sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden
        bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be-
        schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver-
        braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft
        wahrt. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelungen ist.
        Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür-
        fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d
        der Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK
        und müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch
        für den Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung
        zuständig. Die IHKs bedienen sich für die Registerfüh-
        rung des DIHK als gemeinsamer Stelle.
        Versicherungsvermittler sind unter Bußgeldbeweh-
        rung verpflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen
        zu lassen. Außerdem werden die Versicherungsunterneh-
        men verpflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbei-
        ten, die in das Register für Versicherungsvermittler
        eingetragen sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuver-
        lässigkeit, Abschluss einer Berufshaftpflichtversiche-
        rung sowie Sachkundenachweis.
        Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prü-
        fung erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche
        etablierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/-
        4228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        frau des Berufsbildungswerks der Deutschen Versiche-
        rungswirtschaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK
        und BWV bereits einen Rahmenvertrag abgeschlossen.
        Gleichwertige staatliche Abschlüsse werden anerkannt.
        Versicherungsvermittler, die schon seit dem 31. August
        2000 tätig waren, genießen Bestandsschutz. Jeder Ver-
        mittler hat dafür zu sorgen, dass auch seine angestellten
        Vermittler angemessen qualifiziert und zuverlässig sind.
        Die circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich an
        ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so ge-
        nannte Ausschließlichkeitsvertreter –, können von der
        Erlaubnis befreit werden, wenn sie über eine uneinge-
        schränkte Haftungsübernahme des Versicherers verfü-
        gen. Die Verantwortung für die Zuverlässigkeit und die
        Qualifikation übernimmt dann der jeweilige Versicherer.
        Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel
        Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
        vorgesehen.
        Grundsätzlich muss ein Makler als Sachwalter des
        Kunden seinen Rat auf eine hinreichende Zahl von auf
        dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen und
        Versicherern stützen, die er im Wege einer objektiv aus-
        gewogenen Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Ver-
        tragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Informa-
        tions- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung
        für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermitt-
        ler, die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem
        Kunden die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten
        Versicherer anzugeben.
        Der Vermittler muss dem Kunden noch vor Beginn
        des Beratungsgespräches mitteilen, ob er als Versiche-
        rungsmakler, als Versicherungsvertreter oder Versiche-
        rungsberater tätig ist. Durch Normierung dieser statusbe-
        zogenen Informationspflichten in der Verordnung über
        die Versicherungsvermittlung soll dem Kunden schon
        vor Beginn der Beratung größtmögliche Transparenz er-
        möglicht werden. Grundsätzlich müssen Versicherungs-
        vermittler, die Zahlungen der Kunden annehmen, ohne
        dazu bevollmächtigt zu sein, in Anlehnung an die Mak-
        ler- und Bauträgerverordnung eine Sicherheit stellen.
        Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und
        Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds-
        leute schaffen, was ich sehr begrüße.
        Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset-
        zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches
        Recht mit geringstmöglichen bürokratischen Aufwand
        gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver-
        braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher
        unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die
        Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche-
        rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafen haben zu-
        künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das
        Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen
        wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da-
        mit die Versicherungswirtschaft europafest.
        Gisela Piltz (FDP): Die Reform des Personenstands-
        rechts ist ein Vorhaben, das schon seit langem in Angriff
        genommen werden sollte. Bereits im Jahre 1996 bat das
        Bundesministerium des Innern die obersten Landesbe-
        hörden um eine Stellungnahme zu einem Vorentwurf.
        Leider wurde das Vorhaben nach dem Regierungswech-
        sel 1998 erst einmal auf Eis gelegt. Seit vorgestern wis-
        sen wir nun, dass wir über einen Gesetzentwurf von über
        250 Seiten Umfang in der Nacht von Donnerstag auf
        Freitag debattieren dürfen.
        Leider zeigt diese kurzfristige Terminierung der ers-
        ten Lesung in der Nacht nur allzu deutlich, dass die
        große Koalition der Reform entweder keine große Be-
        deutung zumisst oder aber an einer breiten Diskussion
        nicht interessiert ist. Darüber hinaus ist es auch eine
        Missachtung der parlamentarischen Gepflogenheiten,
        ein so umfangreiches Gesetz mit einer derart umfassen-
        den Reform im Personenstandswesen erst zwei Tage vor
        der Sitzung auf die Tagesordnung des Parlaments setzen
        zu lassen.
        Selbst bei Hausdurchsuchungen und Vollstreckungs-
        handlungen wird dem Betroffenen eine Nachtzeit zuge-
        billigt, in der keine Handlungen ohne weiteres vorge-
        nommen werden dürfen. Dagegen soll der Deutschen
        Bundestag zur Nachtzeit und damit letztlich zur Unzeit
        wichtige Reformgesetze auf den Weg bringen. Wie passt
        das zusammen? Jedenfalls dürfte die Änderung vorkon-
        stitutionellen Rechts über Nacht – das Gesetz stammt im
        Kern aus dem Jahre 1937 – ein Novum in der Geschichte
        des deutschen Parlamentarismus sein. Frei nach dem
        Motto: Nachts werden die Faulen fleißig.
        Die Reform des Personenstandsrechts hätte wesent-
        lich mehr Aufmerksamkeit verdient. Denn mit dem vor-
        liegenden Gesetzentwurfsoll das Personenstandswesen
        nach über 50 Jahren bzw., bezogen auf den Zeitpunkt der
        ersten Verkündung, nach fast 70 Jahren grundlegend
        überarbeitet werden. Die FDP-Bundestagsfraktion be-
        grüßt grundsätzlich eine Vereinfachung und Modernisie-
        rung des Personenstandsrechts. Die technischen Mög-
        lichkeiten haben sich grundlegend verändert und die
        Anforderungen an die Aufbewahrung wichtiger Doku-
        mente unterliegen anderen Maßstäben. Allerdings ist
        fraglich, ob durch den vorliegenden Gesetzentwurf eine
        grundsätzliche Modernisierung geschaffen werden kann.
        Der Einzug der elektronischen Datenverarbeitung im
        Personenstandswesen hat bereits heute die Arbeiten im
        Zusammenhang mit der Beurkundung eines Personen-
        standsfalls deutlich verändert. Für den weiterer Einsatz
        und den Ausbau dieser Technik muss aber gelten: Der
        Einsatz von technischen Systemen muss transparent und
        unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Betrof-
        fenen erfolgen. Gerade das Recht auf informationelle
        Selbstbestimmung darf nicht durch technisch schnellere
        und vereinfachte Verfahren unverhältnismäßig einge-
        schränkt werden. Maßstab für die Liberalen ist es des-
        halb, Vereinfachungen und Verbesserungen für die Be-
        hörden und den Bürger zu schaffen, die sich an den
        Bürgerrechten orientieren und nicht umgekehrt.
        Der vorliegende Gesetzentwurf geht davon aus, dass
        die personenstandsrechtlichen Grundbeurkunden wie
        Geburt, Eheschließungen und Tod sowie die damit zu-
        sammenhängenden öffentlichen Beurkundungen und
        Beglaubigungen von einer Behörde befasst werden sol-
        len. Es muss aber auch sichergestellt werden, dass sen-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4229
        (A) (C)
        (B) (D)
        sible Personendaten nicht an andere Behörden ohne wei-
        teres weitergegeben werden dürfen. Mit der Erweiterung
        im Rahmen des Personenstandsregisters um das Gebur-
        tenregister sollen die technischen Voraussetzungen dafür
        geschaffen werden, dass später einmal persönliche Iden-
        tifikationsmerkmale an Neugeborene vergeben und ge-
        speichert werden können. Die FDP hat immer deutlich
        gemacht, dass sie dies ablehnt.
        Am Schalter einer Behörde ist die Sicherheit persönli-
        cher Informationen für den Bürger schnell feststellbar.
        Durch einen Blick nach rechts und links ist einfach er-
        kennbar, ob eine unberechtigte Person etwas hören oder
        sehen kann. Bei der Kommunikation über das Internet ist
        das nicht so. Gerade beim Umgang mit sensiblen Daten
        ist daher der umfassende Schutz, beispielsweise durch
        bestimmte Verschlüsselungstechniken, das A und O.
        Hier sehe ich im vorliegenden Gesetzentwurf nur den
        Hinweis, dass mit einer „dauerhaften überprüfbaren qua-
        lifizierten elektronischen Signatur“ die Beurkundung
        beispielsweise gesichert werden soll. Deshalb ist für
        mich nicht einsichtig, warum Einzelheiten über den Ein-
        satz und die Beschaffenheit der elektronischen Verfahren
        zur Führung der Personenstandsregister in einer Rechts-
        verordnung am Parlament vorbei geregelt werden sollen.
        Darüber hinaus möchte ich die Frage stellen, ob durch
        die Ermächtigungsgrundlage an die Landesregierungen,
        ein zentrales elektronisches Personenstandsregister und
        dessen Führung einzurichten, nicht die Gefahr besteht,
        dass diese sensiblen Daten schneller und einfacher miss-
        braucht werden können. Auch bei der dezentralen Ein-
        richtung eines elektronischen Personenstandsregisters
        können Daten in kürzester Zeit verschlüsselt übermittelt
        werden, ohne dass ein Direktzugriff anderer Behörden
        erforderlich ist. Bei einem zentralen Register ist auch der
        Druck zur Einrichtung automatisierter Abrufverfahren
        wesentlich größer als bei dezentralen Registern mit ei-
        nem entsprechend geringerem Datenbestand. Wir Libe-
        rale lehnen zentrale Auskunfteien ab. Auch die Diskus-
        sion um den elektronischen Pass hat deutlich gemacht,
        dass viele Fachleute ein zentrales Erfassen von Daten
        nicht wollen. Deshalb ist die Einführung eines zentralen
        Personenstandregisters durch die Hintertür für uns nicht
        hinnehmbar.
        Auch die Frage der einheitlichen Zuständigkeit der
        Standesämter bei den Lebenspartnerschaften ist ein wei-
        terer wichtiger Bereich, den die Bundesregierung offen-
        bar jetzt wieder kippen will. Die Bundesjustizministerin
        hat auf dem Verbandstag des Lesben- und Schwulenver-
        bandes in diesem Jahr noch angekündigt, die Vereinheit-
        lichung beibehalten zu wollen. Allerdings ist in der
        Gegenäußerung der Bundesregierung von dieser Verein-
        heitlichung nichts mehr zu lesen. Vielmehr soll einer
        Länderöffnungsklausel zugestimmt werden, die diesem
        widerspricht. Damit zeigt sich, dass es offenbar über-
        haupt keine grundlegende Abstimmung gegeben hat. Die
        FDP-Bundestagsfraktion hat eine Vereinheitlichung
        mehrfach angemahnt und wird dieses auch im weiteren
        Gesetzgebungsverfahren tun.
        Die Neuordnung des Personenstandswesens wird für
        die Standesämter der Kommunen einen großen organisa-
        torischen und finanziellen Aufwand bedeuten. In dem
        Gesetzentwurf sind diesbezüglich Angaben zu der Höhe
        der Kosten gemacht worden. Nach mehreren Jahren sol-
        len diese Kosten allerdings durch den Umbau des Sys-
        tems eingespart werden können. Die dargelegten Be-
        rechnungen bleiben aber das Geheimnis der Verfasser.
        Das kritisieren die Kommunalvertreter und dieser Kritik
        schließen wir uns an. Eine Berechung, die wir als Parla-
        mentarier nicht nachvollziehen können ist nichts wert
        und meistens wird es hinterher doch teurer. Alleine die
        elektronische Führung der Personenstandsregister und
        Personenstandszweitregister führt zu einem Kostenauf-
        wand für die Einrichtung, Pflege und Sicherung der Re-
        gister, der die kommunalen Haushalte in jedem Fall sehr
        stark belasten wird. Nach Expertenschätzungen sind die
        angegebenen Einsparungen in den kommenden 20 bis
        25 Jahren nicht zu erwarten. Politik sollte zwar in län-
        gerfristigen Zeiträumen denken, aber ob das in diesem
        konkreten Fall der Kommunen hilft, wage ich zu be-
        zweifeln.
        Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Debatte über
        die Reform des Personenstandswesens kritisch in den
        Ausschüssen und im Plenum des Deutschen Bundesta-
        ges begleiten und ich hoffe, dass das weitere parlamenta-
        rische Verfahren so nicht weitergeführt wird, wie es ge-
        rade begonnen hat.
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke im Bundestag
        begrüßt die Reform des derzeit geltenden Personen-
        standsgesetzes. Auch die – wenigstens angedeutete – all-
        gemeine Richtung der Reform – weg von einer Vor-
        schrift für bürokratische Datensammelwut hin zu einem
        bürgernahen und bürgerfreundlichen Gesetz – ist positiv
        zu bewerten. Leider folgt das Gesetz in der konkreten
        Ausgestaltung aber einer geradezu zur Mode geworde-
        nen Tendenz, das Recht auf informationelle Selbstbe-
        stimmung in ganz kleinen Münzen auszuzahlen. Zum
        Beispiel werden das problematische Melderechtsrah-
        mengesetz und das Justizmitteilungsgesetz zum Maßstab
        für zwischenbehördliche Datenübermittlung genom-
        men. Abzulehnen ist das Gesetz also, weil es unter dem
        Strich den gläsernen Bürger zur Folge hat. Es eröffnet
        die Möglichkeit der unkontrollierten Datenübermittlung
        zwischen den Behörden.
        Das bisherige Regelungswerk ist angefüllt mit Vor-
        schriften und Regelungen, die der heutigen Zeit und den
        heutigen Gegebenheiten schlicht und ergreifend nicht
        mehr gerecht werden. Ich möchte das an einigen Bei-
        spielen zeigen: Zum einen gibt es die Konstruktion des
        Familienbuches. Der Öffentlichkeit ist das weitgehend
        unbekannt. Nachfragen nach Urkunden aus diesem Fa-
        milienbuch sind selten. Dennoch führt gerade dieses
        Buch zu einem enormen Arbeitsaufwand in deutschen
        Standesämtern denn, das Familienbuch ist ein „wandern-
        des“ Buch. Das bedeutet, dass es bei einem Wohnort-
        wechsel an den neuen, zuständigen Standesbeamten wei-
        tergeleitet werden muss. Deshalb müssen, auch aufgrund
        der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung, ständig
        neue Verschickungen erfolgen. Eine Abschaffung dieses
        aufwendigen Buches wäre wünschenswert.
        4230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ein weiters Beispiel ist der Zwang, die Beurkundung
        auf Papier durchzuführen. Gleichzeitig darf nach gelten-
        dem Recht kein „drittes Personenstandsbuch“ geführt
        werden. Wenn bei der Bearbeitung eines Personen-
        standsfalls nun alle Daten elektronisch erfasst werden,
        so müssen diese nach Beendigung der Bearbeitung wie-
        der gelöscht werden, da eine Aufbewahrung einem drit-
        ten Buche entspräche. Das ist einfach nicht mehr zeitge-
        mäß. Eine ganze Reihe von Angaben in den
        Personenstandsbüchern ist schlicht und ergreifend nicht
        personenstandsbezogen, wie etwa Angaben über Beruf
        und Religionszugehörigkeit. Sie haben deshalb darin
        auch nichts zu suchen. Änderungen in diesen Punkten
        könnten wir durchaus zustimmen. Die Umstellung der
        Personenstandsregister vom papierenen auf das elektro-
        nische Medium ist ein sinnvoller Ansatz. Positive Erfah-
        rungen in benachbarten Staaten zeigen das. Auch die
        Minimierung des Registrierungsaufwandes durch Erset-
        zung des heutigen papiernen Zweitregisters durch ein
        elektronisches, nur zu Sicherungszwecken extra aufzu-
        bewahrendes, unterstreicht diesen Weg.
        Der künftige Verzicht auf das wenig genutzte Fami-
        lienbuch reduziert den Arbeitsaufwand genauso wie die
        vorgesehene Beurkundungsmöglichkeit bei im Ausland
        geschlossenen Ehen und die Beurkundung von Sterbe-
        fällen im Ausland. Die Reduzierung der Personen-
        standsurkunden um solche, die in Deutschland kaum
        notwendig sind, keinen Nutzen bringen und im Ausland
        zum größten Teil unbekannt sind, wird von uns ebenfalls
        positiv gesehen.
        Die wissenschaftsfreundliche Regelung eines erleich-
        terten Zugangs zu nicht mehr geführten Personenstands-
        registern ist zu begrüßen, sofern grundsätzliche daten-
        schutzrechtliche Vorschriften und Verfahrensweisen und
        die Rechte der Betroffenen eingehalten, angewendet und
        geschützt werden.
        Die Erweiterung der Möglichkeit zur elektronischen
        Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern ei-
        nerseits, Behörden und Gerichten andererseits ist eben-
        falls ein Fortschritt, wenn technische und rechtliche Si-
        cherungen vor unerlaubtem Zugriff gewährleistet
        werden. Auf die Sicherheit der Übermittlung derartiger
        sensibler Daten ist allerdings fortlaufend zu achten. Da
        es sich hier um sehr sensible Informationen handelt, ist
        ein hoher Schutz gegen unbefugten Eingriff ständig zu
        gewährleisten und dieser regelmäßig zu überprüfen.
        Die Datenübermittlung zwischen Behörden auf der
        Grundlage einer schlichten Ermächtigungsformel wie
        „soweit es zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig“ zu-
        zulassen, wird dem Recht auf informationelle Selbstbe-
        stimmung nicht gerecht. Im Zusammenhang mit der Vor-
        bereitung auf eine neue Volkszählung wird schon
        diskutiert, wie durch „Ertüchtigung“ der bei Behörden
        vorhandenen Registerdaten die schon existierende ein-
        heitliche Steuernummer erneut zu einer Personenkenn-
        nummer ausgebaut werden könnte. Eine solche Perso-
        nenkennziffer hatte das Bundesverfassungsgericht in
        seinem Urteil zur Volkszählung eindeutig verboten.
        Zusammenfassend: Maßstab für alle Gesetze müssen
        die Standards des Rechts auf informationelle Selbstbe-
        stimmung sein. Dazu gehören die Regelung von Aus-
        kunftspflichten, Einwilligungsregeln, Widerspruchs-
        rechte und ein Antragsrecht auf Löschung. Solche
        einschlägigen datenschutzrechtlichen Forderungen se-
        hen wir nicht eingelöst. Das Gesetz lehnen wir deshalb
        ab.
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Warum heute zur Geisterstunde dieser Ge-
        setzentwurf von der Großen Koalition eingebracht wird,
        erschließt sich mir aufgrund des Vorlaufes nicht. Es geht
        hier um die grundlegende Reform des aus dem Jahre
        1937 stammenden Personenstandsgesetzes in der Fas-
        sung vom 8. August 1957. Seit 2003 verhandelt eine
        Bund/Länder-Arbeitsgruppe über die Reform des Perso-
        nenstandsrechts. Der bereits von der rot-grünen Bundes-
        regierung in den Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf
        wurde über Monate beraten; an die 50 Änderungsanträge
        kamen aus den Ländern.
        Das Gesetzgebungsverfahren finde ich außerordent-
        lich interessant. Als Gesetzestext wird hier offensichtlich
        die rot-grüne Fassung eingebracht. Als Anlage erhalten
        wir die Änderungswünsche des Bundesrates und die
        Stellungnahme der jetzigen Bundesregierung, die in ei-
        nem entscheidenden Punkt das Gegenteil von dem for-
        dert, was vernünftigerweise im Gesetz steht.
        Der eingebrachte Entwurf eines Gesetzes der Bundes-
        regierung zur Reform des Personenstandsrechts sieht für
        eingetragene Lebenspartnerschaften bundeseinheitlich
        das Standesamt als zuständige Behörde vor. Das begrü-
        ßen wir; das ist eine sachgerechte und vernünftige Lö-
        sung. Eine einheitliche Behördenzuständigkeit schafft
        Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. In der Stellung-
        nahme der Bundesregierung zu den Änderungswünschen
        des Bundesrates stimmt die große Koalition einer Län-
        deröffnungsklausel zu. Das ist Unsinn. Damit würde die
        Zersplitterung der Zuständigkeit für die eingetragene Le-
        benspartnerschaft weiter zementiert.
        Fünf Jahre nach In-Kraft-Treten des Lebenspartner-
        schaftsgesetzes ist es Zeit, endlich zu einer Vereinheitli-
        chung zu kommen. Von der Standesamtslösung abwei-
        chende Länderregelungen werden von den Betroffenen
        zu Recht als Diskriminierung empfunden. Der Hinter-
        grund ist klar: Ihnen soll signalisiert werden, dass ihre
        Beziehung weniger wert ist als eine Ehe. Eine solche
        Haltung ist einer weltoffenen Gesellschaft nicht würdig.
        Die Zersplitterung hat sich, wie abzusehen war, auch
        verwaltungstechnisch nicht bewährt. Es gibt keine zu-
        verlässige Dokumentation der Lebenspartnerschaften in
        den Personenstandsregistern. Zuständigkeitsregelungen
        sind nicht aufeinander abgestimmt. Menschen, die sich
        eintragen lassen wollen, treffen mitunter auf Kommunal-
        beamte, die im Personenstandsrecht alles andere als
        sachkundig sind. Nur weil einige Länderregierungen
        weiter ideologische Vorbehalte gegen gleichgeschlecht-
        liche Paare haben, soll verwaltungstechnischer Wirrwarr
        fortgeschrieben werden. Dem viel beschworenen Büro-
        kratieabbau läuft das diametral entgegen.
        Die große Koalition veranstaltet hier ein nächtliches
        Gesetzesmarathon. Zwischen 20 Uhr und 3 Uhr sollen
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4231
        (A) (C)
        (B) (D)
        nach ihrem Zeitplan zwölf Regierungsgesetze vom Bun-
        destag behandelt werden. Offensichtlich scheuen Sie mit
        Ihrer widersprüchlichen Politik das Tageslicht. Wenn die
        Ziele der Gesetze im Dunkeln bleiben, kann man sie ja
        auch im Dunkeln beraten.
        Ich fordere die Regierungsfraktionen auf, dem vorlie-
        genden Gesetzentwurf zuzustimmen und nicht dem An-
        sinnen der Bundesregierung zu folgen, die Länderöff-
        nungsklausel im Nachhinein durch Änderungsanträge
        aufzunehmen. Dies wäre eine unsinnige Verschlechte-
        rung des Gesetzes und stünde den Zielen der Moderni-
        sierung und des Bürokratieabbaus diametral entgegen.
        Es kann doch nicht ernsthaft am Ende des Gesetzesver-
        fahrens ein elektronisches Personenstandsregister für die
        Ehe geben und einen Rückfall in das Wirrwarr der
        Kleinstaaterei für die eingetragene Lebenspartnerschaft.
        Das Parlament ist der Gesetzgeber und ich habe die
        Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Schmerz-
        grenze der Regierungsfraktionen gegenüber dem Murks
        der Bundesregierung irgendwann erreicht ist. In diesem
        Sinne wünsche ich uns eine vernunftgeleitete Debatte in
        den Fachausschüssen.
        43. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21
        Anlage 22
        Anlage 23
        Anlage 24
        Anlage 25
        Anlage 26
        Anlage 27
        Anlage 28
        Anlage 29
        Anlage 30
        Anlage 31
        Anlage 32