Anlage 8
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2745
(A) )
(B) )
für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates und Umschulung neue Perspektiven für Mitarbeiterinnen
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
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Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Arnold, Rainer SPD 06.04.2006
Bülow, Marco SPD 06.04.2006
Glos, Michael CDU/CSU 06.04.2006
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 06.04.2006
Griese, Kerstin SPD 06.04.2006
Heinen, Ursula CDU/CSU 06.04.2006
Heller, Uda Carmen
Freia
CDU/CSU 06.04.2006
Hilsberg, Stephan SPD 06.04.2006
Homburger, Birgit FDP 06.04.2006
Kortmann, Karin SPD 06.04.2006
Leutert, Michael DIE LINKE 06.04.2006
Michelbach, Hans CDU/CSU 06.04.2006
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.04.2006
Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 06.04.2006
Otto (Frankfurt), Hans-
Joachim
FDP 06.04.2006
Parr, Detlef FDP 06.04.2006
Schäffler, Frank FDP 06.04.2006
Schummer, Uwe CDU/CSU 06.04.2006
Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.04.2006*
Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 06.04.2006
(C
(D
Anlagen zum Stenografischen Bericht
nlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Gegen die Schließung
von 45 Standorten der Deutschen Telekom AG
(Tagesordnungspunkt 11)
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ie Einführung von Wettbewerb bei der Telekommuni-
ation hat die Voraussetzung für das Entstehen von Hun-
erttausenden neuen Arbeitsplätzen im Bereich der In-
ormations- und Kommunikationsdienstleistungen, der
euen Medien und des E-Commerce geschaffen. Wir un-
erstützen diesen Prozess und fordern faire Wettbewerbs-
edingungen für große und kleine Unternehmen.
Wer wie die PDS Staatsunternehmen erhalten will,
er verwehrt kleinen und mittleren Unternehmen den
arktzugang und verhindert so das Entstehen wettbe-
erbsfähiger Arbeitsplätze.
Die Deutsche Telekom AG als früheres Monopolun-
ernehmen hat einen schwierigen Anpassungsprozess zu
eistern. Sie muss unter Wettbewerbsbedingungen be-
tehen und sich auf neuen Märkten positionieren. Natur-
emäß muss sie Marktanteile an neue Wettbewerber
bgeben. Per saldo sind bei den Telekommunikationsun-
ernehmen seit der Liberalisierung 1998 neue Arbeits-
lätze entstanden.
Der Bund sollte seine Anteile kontinuierlich verkau-
en und die Mittel aus dieser Privatisierung in Bildung
nd Forschung investieren. Nur so können für die Zu-
unft Arbeitsplätze in Deutschland gehalten werden. Die
DS will an Staatsunternehmen festhalten und meint,
it Staatsunternehmen die Probleme strukturschwacher
egionen lösen zu können. Diese Versuche sind bereits
ehr oft gescheitert. Wir wollen strukturschwache Regio-
en mit Zukunftsinvestitionen und nicht mit Staatsunter-
ehmen unterstützen.
Unter anderem durch schwere Versäumnisse und Feh-
er des Managements ist es der Deutschen Telekom AG
icht gelungen, sich so auf dem Markt zu behaupten,
ass sie ohne Personalabbau auskommt. Wer aber will,
ass auch bei der Telekommunikation Wettbewerb
reift, der kann nicht ausschließen, dass auch bei frühe-
en Monopolunternehmen Personal abgebaut werden
uss. Andernfalls könnte auch bei den Wettbewerbern
ein Personal aufgebaut werden. Der Antrag der PDS
at mit der Realität nichts zu tun. Der Bund hält nur
och eine Minderheitsbeteiligung an der Deutschen Te-
ekom. Richtig ist, dass die Deutsche Telekom AG im
invernehmen mit dem Betriebsrat die Zahl der Callcen-
er von 91 auf 58 reduziert. Die Mitarbeiter in den zu
chließenden Callcentern erhalten Angebote, in anderen
allcentern zu arbeiten. Es gibt keine betriebsbedingten
ündigungen. Wir fordern die DTAG auf, für Härtefälle
oziale Lösungen zu suchen. Wir fordern die Deutsche
elekom auf, wo immer möglich durch Qualifizierung
2746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
(A) )
(B) )
und Mitarbeiter zu schaffen, deren Beschäftigung weg-
fällt. Netto werden im Konzern 19 000 Stellen abgebaut,
dabei werden 27 000 Stellen abgebaut, während 8 000
Stellen neu aufgebaut werden.
Wir halten auch nichts davon, der Deutschen Telekom
AG in neuen Bereichen Monopolstellungen zu gewäh-
ren. Bisweilen erweckt die DTAG ja den Eindruck, dann
auf Arbeitsplatzabbau verzichten zu können. Der Abbau
von Arbeitsplätzen bei Wettbewerbern wäre das Ergeb-
nis. EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hat in
einem Brief an die Bundesregierung festgestellt, das der
Entwurf zur Novelle des Telekommunikationsgesetzes
nicht mit dem europäischen Telekommunikationsrecht
übereinstimmt und ein Vertragsverletzungsverfahren
nach sich ziehen wird. Die Bundesregierung will die
DTAG für den Aufbau des VDSL-Breitbandes von der
Zugangs- und Preisregulierung durch die Bundesnetz-
agentur ausnehmen. Das würde der Deutschen Telekom
AG gestatten, ihre marktbeherrschende Stellung in einen
weiteren Bereich auszudehnen, denn Wettbewerber hät-
ten nicht die Möglichkeit, diese innovativen Dienste an-
zubieten. Der Regulierungsverzicht erhöht die Preise für
Verbraucherinnen und Verbraucher, innovative Anbieter
von Diensten und erschwert den Marktzugang für Wett-
bewerber. Durch dieses Vorgehen werden Unternehmen
wie zum Beispiel Arcor oder iesy benachteiligt, um
Marktchancen bei im neu entstehenden Triple-Play-
Markt – Fernsehen, Internet und Telefonie über eine Lei-
tung – beraubt.
Wir sind für faire Wettbewerbsbedingungen für alle
Unternehmen. Wir treten für soziale Schutzrechte für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein, die in allen
Unternehmen gleichermaßen gelten.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Voraussetzungen für
Entwicklung, Bau und Betrieb einer Europäi-
schen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch-
land schaffen – Deutsche Bewerbung vorantrei-
ben (Tagesordnungspunkt 15)
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Wir
alle wissen: Deutschland hat das Zeug, technologische
Spitzenleistungen in der wissensbasierten Wirtschaft zu
erbringen. Deshalb fangen wir jetzt damit an, ideolo-
gischen Ballast von sieben Jahren rot-grüner Bundesre-
gierung abzuwerfen. Die Entwicklung der letzten Mo-
nate unter kompetenter Führung der erfolgreichen
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel macht mir Mut,
dass es gelingen wird, viele Dinge in Deutschland wie-
der vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das betrifft insbe-
sondere auch die Haltung der Bundesregierung zur
Kernenergie bzw. zur Kernforschung, wo es gilt, sieben
Jahre Stillstand und Rückschritt wieder wettzumachen.
Unsere hoch geschätzte Bundesforschungsministerin
Dr. Annette Schavan hat hierzu Perspektiven aufgezeigt
und schnell und kompetent gehandelt.
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Hier haben sich bereits nach wenigen Monaten die
rsten Erfolge eingestellt. Es ist eine gute Entwicklung,
ass die Entsorgung spaltbaren Materials durch die
üngsten Gerichtsurteile neue Perspektiven erhalten hat.
enn die Verfahren zur Nutzung von Gorleben und des
chachtes Konrad jetzt zügig weiter vorangetrieben wer-
en, haben wir demnächst einen sicheren Entsorgungs-
eg für unser spaltbares Material. Damit war der Kampf
nseres geschätzten ehemaligen Kollegen Kurt-Dieter
rill erfolgreich – auch wenn das manchem hier nicht
chmecken mag.
Wir von der Union bekennen uns klar zu Forschung
nd technologischer Entwicklung und wollen eine kon-
istente innovationsförderliche Politik auch und gerade
m Bereich der Kerntechnik betreiben. Deshalb hat die
eue unionsgeführte Bundesregierung, haben Bundes-
anzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesforschungsmi-
isterin wichtige und klare Akzente im Forschungsbe-
eich gesetzt. Das neu aufgelegte Investitionsprogramm
tärkt die Spitzentechnologie und gibt eine Perspektive
endlich – für eine angemessene und verlässliche Fi-
anzierung unserer zukunftsweisenden Forschungsein-
ichtungen.
Im Bereich der Kernforschung geht es in der Tat da-
um, wesentliche Versäumnisse der Vergangenheit aus-
ugleichen. Deutschland muss auf diesem wichtigen
orschungsfeld verlorene Kompetenzen wiedergewin-
en. Wir wollen in der Kernforschung unseren Beitrag
ür einen fruchtbaren und ertragreichen gemeinsamen
uropäischen Forschungsraum leisten. Es ist doch offen-
ichtlich, dass ohne starken Beitrag Deutschlands
uropa im Wettlauf mit anderen dynamisch aufstreben-
en Regionen nur schwer bzw. nicht mithalten kann, wie
taatssekretär Rachel zu Recht unterstrichen hat.
Die Ergebnisse dieser Forschung müssen für die hei-
ische Anwendung und den wissenschaftlichen Aus-
ausch ebenso wie für einen nutzbringenden Export von
ütern und Dienstleistungen genutzt werden. Hierauf
aben Staatssekretärin Dagmar Wöhrl und unser Wirt-
chaftsexperte Laurenz Meyer immer wieder hingewie-
en. Das derzeit im deutschen Forschungsbereich vor-
andene Wissen muss erhalten werden. Die Weitergabe
es Know-hows an die folgende Generation von Wissen-
chaftlern ist zu garantieren.
Insofern begrüße ich ausdrücklich den Geist, der hin-
er dem Antrag der FDP-Fraktion zum Betrieb einer
uropäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch-
and steht. Wir müssen unsere Kräfte nutzen, ideologi-
chen Ballast abwerfen, wo er uns unnötig bremst, und
uch die Kernforschung so ausrichten, dass sie uns zu-
ünftig möglichst gut nutzbare Ergebnisse bringt.
erspektivisch erwähne ich die zukunftsträchtigen Be-
eiche der Kernfusion und der Transmutation im Bereich
er Energieforschung ebenso wie den Bereich der Neu-
ronenforschung und der Schwerionenforschung. Wir
ind uns doch einig: Hier werden die Grundlagen gelegt
nd die Technologien entwickelt, die in der Zukunft eine
ichere, wirtschaftliche, kostengünstige und umweltver-
rägliche Energieversorgung garantieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2747
(A) )
(B) )
Angesichts dieser Vielfalt an Forschungsfeldern und
Forschungsanlagen stellt sich die Frage, in welchem Be-
reich die Forschungsinfrastruktur sinnvoll weiterentwi-
ckelt werden kann und soll. Wir können das Geld nur
einmal ausgeben. Begrenzte Mittel sollen dabei einen
möglichst großen Nutzen erbringen.
Jetzt steht – mit dem Antrag der FDP – die Frage im
Raum: Brauchen wir derzeit eine neue Spallationsquelle
in Deutschland? Der Wissenschaftsrat hat diese Frage
geprüft mit dem Ergebnis, dass wir sie nicht dringlich
brauchen. In der Tat ist die Versorgung der Forschung
mit Neutronen in Deutschland im Moment gut und er-
heblich besser als in anderen europäischen Ländern. Erst
2004 ist in Garching eine neue Neutronenquelle in Be-
trieb genommen worden.
Der Wissenschaft in Deutschland stehen Forschungs-
reaktoren zur Verfügung in Grenoble mit der weltweit
intensivsten Neutronenquelle am ILL, an dem Deutsch-
land zu einem Drittel beteiligt ist, in München die zweit-
stärkste Quelle FRM II mit der modernsten Instrumen-
tierung, die seit 2005 im Nutzerbetrieb ist, in Berlin, der
BER 2 am Hahn-Meitner-Institut, HMI, in Geesthacht
der FRG-1 bei der GKSS. Außerdem gibt es noch For-
schungsmöglichkeiten am internationalen VIK in
Dubna, Russland, und an anderen europäischen Anla-
gen.
Der Wissenschaftsrat sah zum Beispiel für die Struk-
turforschung ein größeres wissenschaftliches Potenzial
in der Synchrotronstrahlung und der neuen, innovativen
Technik des Freie-Elektronen-Lasers FEL. Mit FEL
kann zum Beispiel eine enorme Verbesserung der Quali-
tät von Röntgenstrahlung erreicht werden. Wir öffnen
damit das Fenster zu völlig neuen Forschungsgebieten.
Dieses Projekt soll jetzt in Hamburg als europäische Ein-
richtung verwirklicht werden.
Was wir derzeit bei der Neutronenforschung als Deut-
sche dringlicher brauchen als neue Quellen, sind moder-
nere Instrumente, um vorhandene Neutronenquellen im
Dienste der Wissenschaft für Untersuchungen besser zu
nutzen. Hier sind wir auf einem guten Weg: Das For-
schungszentrum Jülich errichtet an der Spallationsquelle
SNS in den USA ein Instrument, zu dem deutsche For-
scher Zugang erhalten werden. Der neue Forschungs-
reaktor FRM II in München mit einer Außenstelle des
Forschungszentrums Jülich und Instrumenten anderer
HGF-Einrichtungen wird eine sehr moderne Instrumen-
tierung bieten, sodass es möglich sein wird, nach dem
Reaktor in Jülich 2006 auch den Reaktor in Geesthacht
bis Ende des Jahrzehnts außer Betrieb zu nehmen. Selbst
wenn keine neue Neutronenquelle gebaut würde, stün-
den nach 2020 deutschen Forschern zumindest der
FRM II und aus derzeitiger Sicht auch noch der Reaktor
in Grenoble zur Verfügung.
Aus Sicht unserer europäischen Partner stellt sich die
Situation anders dar. Als bedeutende nationale Quellen
existieren sonst nur noch der Forschungsreaktor LLB in
Frankreich und eine kleinere Spallationsquelle ISIS in
Großbritannien. Daher gibt es derzeit in mehreren euro-
päischen Ländern Bemühungen um den Bau von Spalla-
tionsquellen. Die Vision der Neutronenforscher ist
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nsgesamt eine Multi-Megawatt-Spallationsquelle, die
nternational führend ist, nicht eine kleinere Anlage.
Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfra-
trukturen ESFRI arbeitet derzeit an einer europäischen
oadmap für Forschungsinfrastrukturen. ESFRI hat
uch eine Expertengruppe für die Forschung mit Neutro-
en eingesetzt. In diese Expertengruppe ist auch der Vor-
chlag aus Sachsen-Anhalt eingebracht worden. ESFRI
ird sich aber ausdrücklich nicht mit Standortfragen be-
assen, sondern Projekte nach wissenschaftlichen und
echnischen Kriterien beurteilen. Außerdem werden in
SFRI keine Entscheidungen zu Großgeräten getroffen
nd keine Budgets verteilt. Dies ist Aufgabe der interes-
ierten Regierungen. Durch die Pläne der EU, sich im
. Rahmenprogramm an der Finanzierung des Baus
euer und des Ausbaus existierender Großgeräte zu
eteiligen, sind viele Erwartungen geweckt worden.
erzeit wird eine etwaige Beteiligung der EU an den
aukosten neuer Großgeräte von maximal 20 Prozent
iskutiert. Angesichts des begrenzten Budgets wird auch
ies nur in wenigen Fällen erreichbar sein. Es sind keine
bsichten der Kommission bekannt, sich in besonderem
aße an der Finanzierung einer ESS zu beteiligen. Eine
eteiligung der EU an den bereits beschlossenen Groß-
eräten XFEL und FAIR ist vorrangig.
Die Finanzierung der ESS wird – wie bei den anderen
roßgeräten der naturwissenschaftlichen Grundlagen-
orschung – zwischen den interessierten Ländern ausge-
andelt, wobei vom Sitzland ein besonderer Beitrag er-
artet wird. Bei einem Standort der ESS in Deutschland
it seiner großen Nutzergemeinde sind dies wohl min-
estens 50 Prozent. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart,
en Bau der beschlossenen Großgeräte XFEL und FAIR
uf eine sichere finanzielle Basis zu stellen. Ein weiteres
roßgerät würde einen erheblichen Zusatzbedarf im
aushalt des BMBF bedeuten.
Auch der Standort wird nicht von der EU entschieden,
ondern zwischen den an der ESS interessierten Ländern
erhandelt. Eine Standortbewerbung bei der Kommis-
ion ist daher gegenstandslos. Für XFEL und FAIR mit
tandorten in Deutschland erwarten wir bereits eine Be-
eiligung unserer europäischen Partner von über
00 Millionen Euro. Es ist daher nicht wahrscheinlich,
ass sich diese Länder für ein weiteres Großgerät mit ei-
em Standort in Deutschland einsetzen würden, insbe-
ondere wenn es eigene Standortinteressen gibt. Es ist
ielmehr damit zu rechnen, dass sie das BMBF auf eine
eteiligung an ihren Projekten ansprechen werden.
Der Antrag der FDP suggeriert, dass die EU eine we-
entliche Rolle bei der Finanzierung und der Standort-
ntscheidung einer ESS spielen wird. Dies ist jedoch
icht der Fall. Der Standort muss unter den interessierten
artnern verhandelt werden. Das Sitzland wird einen
esentlichen Finanzierungsanteil tragen müssen. Ein
eiterer deutscher Standortvorschlag würde erhebliche
usätzliche Mittel im BMBF-Haushält erfordern und
ahrscheinlich auch nicht von unseren europäischen
artnern unterstützt. Der Wissenschaftsrat hat 2002 die
SS nicht befürwortet und andere Prioritäten gesetzt.
en Wissenschaftsrat mit einer erneuten Begutachtung
2748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
(A) )
(B) )
zu beauftragen, sollte nur erwogen werden, wenn es Fi-
nanzierungschancen für diesen Vorschlag gibt. Zum jet-
zigen Zeitpunkt wird davon abgeraten.
Vor diesem Hintergrund sollten wir nach 2010 eine
Strategie für die langfristige Versorgung der Forschung
mit Neutronen entwickeln. Deutschland ist bisher seiner
Verantwortung für die Weiterentwicklung der Neutro-
nenforschung nachgekommen und wird es auch zukünf-
tig. Deshalb müssen wir in fünf Jahren mit dem Anlauf
für den nächsten Quantensprung für die Forschung nach
2020 in der Spallationsforschung beginnen. Dann – und
nicht heute – könnten wir beim Bau einer Spallations-
quelle der nächsten Generation auf die Erfahrungen aus
den USA und aus Japan bei der Lösung der schwierigen
technischen Aufgaben zurückgreifen. Erst dann stellt
sich auch die Standortfrage, wobei wir innerhalb
Deutschlands auf reichhaltige Erfahrungen an vielfälti-
gen kerntechnischen Forschungsstandorten, wie zum
Beispiel Darmstadt, Hamburg, Berlin, Garching, Greifs-
wald, Jülich oder Karlsruhe zurückgreifen können. Frau
Pieper ist mit ihren Kollegen herzlich eingeladen, sich in
die Entwicklung dieser Strategie einzubringen.
Thomas Oppermann (SPD): Wie im FDP-Antrag
zutreffend ausgeführt wird, stellte der Bericht des Me-
gascience-Forum der OECD von 1999 über die Zukunft
der Neutronenquellen fest, dass in einer globalen Sicht
die zum damaligen Zeitpunkt installierte Kapazität an
Neutronenquellen zwischen 2010 und 2020 auf ein Drit-
tel abnehmen werde. Die Arbeitsgruppe empfahl daher,
in jeder der drei Weltregionen Asien/Pazifik, Nordame-
rika und Europa innerhalb von 20 Jahren fortgeschrittene
Neutronenquellen zu installieren. Die USA und Japan
haben aufgrund ihres Bedarfs an neuen Quellen bereits
mit dem Bau von Spallations-Neutronenquellen begon-
nen.
Aus deutscher Sicht gibt es jedoch einen anderen
Zeithorizont, da die Versorgung der Forschung mit Neu-
tronen in Deutschland erheblich besser ist als in allen an-
deren europäischen Ländern. Erst 2004 ist mit dem
FRM II eine neue Neutronenquelle in Betrieb genom-
men worden. Der Wissenschaft in Deutschland steht
heute eine Vielzahl an Forschungsreaktoren zur Verfü-
gung. So in Grenoble am ILL, an dem Deutschland zu
einem Drittel beteiligt ist; in München mit der Quelle
FRM II, die „frisch“ im Nutzerbetrieb ist; immer noch in
Berlin mit dem BER 2 am Hahn-Meitner-Institut und
auch noch in Geesthacht mit dem FRG-1 bei der GKSS.
Der neue Forschungsreaktor FRM II in München mit
einer Außenstelle des Forschungszentrums Jülich und
Instrumenten anderer HGF-Einrichtungen wird eine sehr
moderne Instrumentierung bieten, sodass es möglich
sein wird, nach dem Reaktor in Jülich 2006 auch den Re-
aktor in Geesthacht bis Ende des Jahrzehnts außer Be-
trieb zu nehmen.
Den Vorschlag zum Bau einer ESS hatte das BMBF
zusammen mit acht weiteren Vorschlägen der Wissen-
schaft für neue Großgeräte der naturwissenschaftlichen
Grundlagenforschung dem Wissenschaftsrat vorgelegt.
In seinen Empfehlungen vom November 2002 hat der
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issenschaftsrat die ESS in die dritte Gruppe eingrup-
iert, das heißt sie zur Förderung nicht empfohlen und
ie Möglichkeit einer erneuten Vorlage zur Begutach-
ung eröffnet. Der Wissenschaftsrat sah für die Struktur-
orschung ein größeres wissenschaftliches Potenzial in
er Synchrotronstrahlung und der neuen, innovativen
echnik der Freie-Elektronen-Laser. Mit dieser Technik
ann eine enorme Verbesserung der Qualität von Rönt-
enstrahlung erreicht und damit das Fenster zu völlig
euen Forschungsgebieten aufgestoßen werden. Die
undesregierung hat sich dieser Empfehlung ange-
chlossen und 2003 den Bau des Röntgenlasers XFEL in
amburg als europäische Einrichtung beschlossen.
Nach 2020 werden den deutschen Neutronenfor-
chern zumindest der FRM II und aus derzeitiger Sicht
uch noch der Reaktor am ILL zur Verfügung stehen.
egen der langen Vorlaufzeit muss aus deutscher Sicht
ber nach 2010 eine europäische Strategie für die lang-
ristige Versorgung der Forschung mit Neutronen entwi-
kelt werden. Zu dieser Zeit könnte beim Bau einer
pallationsquelle der nächsten Generation auf die Erfah-
ungen aus den USA und aus Japan bei der Lösung der
chwierigen technischen Aufgaben zurückgegriffen wer-
en.
Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfra-
trukturen arbeitet derzeit an einer europäischen
oadmap für Forschungsinfrastrukturen. ESFRI hat
uch eine Expertengruppe für die Forschung mit Neutro-
en eingesetzt. In diese Expertengruppe ist auch der Vor-
chlag aus Sachsen-Anhalt eingebracht worden. ESFRI
ird sich aber ausdrücklich nicht mit Standortfragen be-
assen, sondern Projekte nach wissenschaftlichen und
echnischen Kriterien beurteilen. Außerdem werden in
SFRI keine Entscheidungen zu Großgeräten getroffen
nd keine Budgets verteilt. Dies ist Aufgabe der interes-
ierten Regierungen.
Derzeit sind im Übrigen keine Absichten der Kom-
ission bekannt, sich in besonderem Maße an der Finan-
ierung einer ESS zu beteiligen. Für das BMBF ist zu-
em eine Beteiligung der EU an den bereits
eschlossenen Großgeräten XFEL und FAIR vorrangig.
ie Finanzierung der ESS wird – wie bei den anderen
roßgeräten der naturwissenschaftlichen Grundlagen-
orschung – zwischen den interessierten Ländern ausge-
andelt, wobei vom Sitzland ein besonderer Beitrag er-
artet wird. Bei einem Standort der ESS in Deutschland
it seiner großen Nutzergemeinde sind dies wohl min-
estens 50 Prozent. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart,
en Bau der beschlossenen Großgeräte XFEL und FAIR
uf eine sichere finanzielle Basis zu stellen. Ein weiteres
roßgerät würde einen erheblichen Zusatzbedarf im
aushalt des BMBF bedeuten.
Auch der Standort wird nicht von der EU entschieden,
ondern zwischen den an der ESS interessierten Ländern
erhandelt. Eine Standortbewerbung bei der Kommis-
ion ist daher sinnlos. Für XFEL und FAIR mit Standor-
en in Deutschland erwarten wir bereits eine Beteiligung
nserer europäischen Partner von über 600 Millionen
uro. Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass sich diese
änder für ein weiteres Großgerät mit einem Standort in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2749
(A) )
(B) )
Deutschland einsetzen würden, insbesondere wenn es ei-
gene Standortinteressen gibt. Es ist vielmehr damit zu
rechnen, dass sie das BMBF auf eine Beteiligung an ih-
ren Projekten ansprechen werden.
Unter diesen Voraussetzungen erscheint eine Mitför-
derung durch die europäischen Partner der ESS an einem
deutschen Standort, egal ob West oder Ost, derzeit nicht
sehr realistisch. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich die
Mühe lohnt, ein derartiges Ziel anzustreben. Darüber
können wir im Ausschuss aber gern ausführlich diskutie-
ren und sorgfältig beraten.
Cornelia Pieper (FDP): Das Thema ist nicht neu
und doch hoch aktuell, hoch aktuell, weil es darum geht,
auf der einen Seite ein Versprechen der Bundesregierung
einzulösen, und eine Großforschungseinrichtung mit in-
ternationaler Strahlkraft in den neuen Bundesländern an-
zusiedeln – bislang konnten wir noch nicht in Erfahrung
bringen, woran die Bundesregierung dabei denkt – und
auf der anderen Seite, um im Zentrum Europas den For-
schern eine leistungsfähige Neutronenquelle zur Verfü-
gung zu stellen, die Deutschland zugleich interessant für
die Weltelite der Wissenschaft macht.
Das sieht allerdings nicht nur die FDP-Bundestags-
fraktion so. Die OECD begründete die Notwendigkeit
des Baus und Betriebs von Neutronenquellen im Mega-
watt-Bereich in den drei Weltregionen Asien, Nordame-
rika und Europa schon 1998. Deutschland hat sich 1999
dieser Auffassung angeschlossen.
Die USA sind dem Vorschlag bereits gefolgt, und
– wen wundert’s – deutsche Forscher haben bereits ei-
gene Geräte zur Nutzung dieser leistungsfähigen Neutro-
nenquelle entwickelt und gebaut. Sie werden künftig ein
Strahlungsrohr und Strahlungszeiten für ihre wissen-
schaftlichen Experimente an der SNS in Oak Ridge,
USA, nutzen können.
Die deutsche Position zu einer Europäischen Neutro-
nen-Spallationsquelle hat uns Frau Bundesministerin
Schavan gestern im Ausschuss mit glockenheller
Stimme verkündet: Wenn Brüssel das Projekt in das
7. EU-Forschungsrahmenprogramm aufnimmt, erfolgt
auch ein deutscher Beitrag! Welcher das ist, blieb ihr Ge-
heimnis.
Wir sind jedoch nicht allein in Europa. Ich weiß, dass
inzwischen Tony Blair, Großbritannien, den Auftrag er-
teilt hat, eine Standortbewerbung Englands zu prüfen.
Aus Jülich ist unter vorgehaltener Hand zu hören, dass
man eine Standortbewerbung Englands sogar unterstüt-
zen solle. Zu den weiteren Bewerbern zählen neben
Schweden übrigens auch Ungarn und Spanien.
Dieses Katz-und-Maus-Spiel muss ein Ende haben.
Deutschland sollte sich um den Standort für die ESS be-
werben. In Europa wird derzeit über 20 förderwürdige
Großforschungseinrichtungen bzw. Großgeräte verhan-
delt. Insgesamt sieben sollen über das 7. EU-FRP geför-
dert werden. Ob die ESS dabei ist, ist noch unklar.
Im Rahmen des spezifischen Programms „Kapazitä-
ten“ des 7. EU-FRP sollen in der Zeit zwischen 2007
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nd 2013 in Europa neue Forschungsinfrastrukturen ge-
chaffen werden. Das Europäische Strategieforum für
orschungsinfrastrukturen, ESFRI, hat der Kommission
ereits eine Liste der Möglichkeiten für benötigte neue,
roßmaßstäbliche Infrastrukturen vorgeschlagen, in die
uch die ESS an sechster Stelle aufgeführt ist.
Die ESS ist sicher nicht das einzige Projekt, was in
eutschland auf der Grundlage der Empfehlungen des
issenschaftsrats mit europäischen und nationalen Mit-
eln gefördert und gebaut wird. Die ESS könnte aber das
rste Großgerät sein, das auch eine nennenswerte Inves-
ition in den neuen Bundesländern bedeutet. Bislang
urden hier nur 24,5 Millionen Euro für das Hochmag-
etfeldlabor in Rossendorf bereitgestellt. Ein Linsenge-
icht im Vergleich zu den langfristigen Investitionen für
ie anderen Großgeräte in Hamburg, Darmstadt und
öln in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro.
Der mitteldeutsche Raum verfügt zusammen mit Ber-
in durchaus über das wissenschaftliche Potenzial, diese
ufgaben auch zu stemmen. Im Hahn-Meitner-Institut
nd an den Universitäten Berlin, Leipzig und Halle ar-
eiten exzellente Wissenschaftler, die durchaus willens
nd in der Lage sind, ihr Wissen und ihre Erfahrungen
ei der Projektentwicklung und später auch beim Bau
nd Betrieb einzubringen. Nicht zuletzt werden auch die
undesländer Sachsen- Anhalt und Sachsen einen nen-
enswerten Beitrag leisten. Die erforderlichen Flächen
ind bereits reserviert. Und noch etwas: Natürlich muss
er wissenschaftliche Antrag durch das ESS-Council
berarbeitet werden. Der Wissenschaftsrat jedenfalls hat
eine Bereitschaft erklärt, einen neuen Antrag zu bear-
eiten und zu bewerten. Einer Neuevaluation steht also
ichts im Wege.
Ich appelliere an Sie und die Bundesregierung: Neh-
en Sie das Thema nicht auf die leichte Schulter. Setzen
ie in Brüssel ein Signal, das der stärksten Wirtschafts-
acht in Europa Ehre macht.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
timmen sicher darin überein, dass Hochschulen und
orschungseinrichtungen wichtige Kristallisationspunkte
ür die Regionalentwicklung und damit auch ein Hoff-
ungsträger für Wirtschaft und Beschäftigung gerade in
en neuen Bundesländern sind. Dafür gibt es schon
eute viele positive Beispiele. Diese Cluster zu stärken,
ollte weiterhin eine gemeinsame Strategie sein. Ich
arne aber davor, aus parteipolitischen Gründen falsche
rwartungen zu wecken, gerade in den neuen Bundes-
ändern.
Es macht keinen Sinn, bisherige nationale Entschei-
ungen über Forschungsprioritäten zu ignorieren oder so
u tun, als hätten sie keine Konsequenzen für weitere
ntwicklungen.
Eine Entscheidung, die man zwar bedauern mag, aber
icht ausblenden kann, ist es gewesen, mit dem For-
chungsreaktor FRM II 2004 eine neue Neutronenquelle
n Deutschland in Betrieb zu nehmen. Uns Grünen wäre
ine Spallationsquelle als Neutronenquelle natürlich lie-
er gewesen als ein Forschungsreaktor, vor allen Dingen
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wenn man sieht, wie die Folgen der Kernforschung uns
heute teuer zu stehen kommen und Handlungsspiel-
räume für die Zukunft beschneiden.
Eine andere Entscheidung, zu der man aber heute ste-
hen sollte, ist die Entscheidung des Wissenschaftsrats
2002 über Großforschungsprojekte: Der Wissenschafts-
rat hat eindeutig das größere Potenzial für die internatio-
nale und europäische Forschungsgemeinschaft im so ge-
nannten TESLA-Projekt gesehen. Das heißt zum einen
in der Synchrotronstrahlung und dem Linear-Collider-
Projekt und zum anderen im Freie-Elektronen-Röntgen-
laser. Die Spallations-Neutronenquelle wurde nicht zur
Förderung vorgeschlagen. Dass mich als Hamburgerin
und ehemalige Wissenschaftssenatorin diese Entschei-
dung sehr gefreut hat, liegt auf der Hand. Diese Prioritä-
tensetzung hat uns aber auch in der internationalen For-
schungsgemeinschaft weit nach vorn gebracht und sich
dadurch als richtig herausgestellt. Dass Projekt Röntgen-
laser XFEL ist heute bereits ein europäisches Projekt mit
vielen europäischen Partnern und in der Vorbereitung
weit fortgeschritten. Ohne die Entscheidung und das na-
tionale Engagement der damaligen Bundesregierung
wäre dies nicht möglich gewesen. Der Linear-Collider
rangiert auf der europäischen Strategieebene inzwischen
unter den globalen Projekten. Es geht also um eine Infra-
struktur für eine weltweite Forschungsgemeinschaft.
Es trifft zu, dass eine europäische Spallations-Neutro-
nenquelle inzwischen vom europäischen Strategieforum
für Forschungsinfrastruktur in eine Möglichkeitsliste
von 23 Projekten aufgenommen worden ist. Dies sind
Projekte, für die eine Unterstützung nicht nur, aber auch
aus dem 7. Forschungsrahmenprogramm gegebenenfalls
in Betracht kommen könnte. Eine Absichtserklärung ist
dies nicht. Bestenfalls könnte daraus die Möglichkeit für
die jeweiligen Projektbetreiber erwachsen, leichter an
Darlehen heranzukommen. Klar ist aber, das Geld
müsste im Wesentlichen woanders herkommen.
Mit dem Röntgenlaser XFEL und mit FAIR haben wir
zwei Großforschungsprojekte von europäischer Dimen-
sion, die in Deutschland realisiert werden sollen. Wir
können aber nicht erwarten, dass alle Großforschungsin-
frastrukturprojekte unabhängig von ihrem nationalen
Realisierungsgrad in Deutschland angesiedelt werden.
Sinn einer gemeinsamen europäischen Roadmap für
Forschungsinfrastruktur ist doch gerade eine sinnvolle
Kooperations- und Arbeitsteilung. Dann müssen wir
aber auch zur Kenntnis nehmen, dass in anderen Län-
dern die Vorhaben für eine europäische Spallations-Neu-
tronenquelle deutlich stärker vorangeschritten sind, was
die Einbindung europäischer Partner und das nationale
Engagement angeht. Für Deutschland, aber nicht nur für
Deutschland gilt, dass nationale Anstrengungen auf eu-
ropäischer Ebene Früchte tragen, aber das die europäi-
sche Ebene nicht der Weg ist, nationale Prioritäten aus-
zuhebeln oder im Nachhinein zu korrigieren.
Wir sollten dafür werben, dass alle mit einer europäi-
schen Forschungsinfrastrukturpolitik am Ende mehr er-
reichen als jeder für sich. Wir sollten nicht so tun, als
könne man vom europäischen Wunderbaum alles Mögli-
che herunterschütteln, wenn man nur die politischen Är-
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el weit genug aufkrempelt. Sonst ist der weitere Ver-
auf leicht absehbar. Entweder Sie müssen behaupten,
ie Regierung habe auf der europäische Ebene zu wenig
rreicht, weil zu wenig geschüttelt, oder Sie müssten be-
aupten, die EU-Bürokraten seien mal wieder nicht ein-
ichtig genug gewesen. Beides trägt nicht dazu bei, den
lick für den realen Mehrwert einer gemeinsamen euro-
äischen Politik auch in den neuen Bundesländern zu
chärfen. Dass die Parteipolitik manchmal dazu neigt,
uf Kosten Europas zu Hause falsche Erwartungen zu
ecken, das gibt am Ende erfahrungsgemäß niemand
erne zu.
nlage 4
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset-
zes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
(Tagesordnungspunkt 16)
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
em vorliegenden Gesetzentwurf soll die EU-Richtlinie
ber das Folgerecht des Urhebers des Originals eines
unstwerkes umgesetzt werden. Grundsätzlich unter-
tützen wir selbstverständlich Maßnahmen zur Binnen-
arktharmonisierung. Dennoch stellt sich uns die Frage,
b die Regierung mit dem vorliegenden Entwurf ihre
estaltungsmöglichkeiten zugunsten der Künstlerinnen
nd Künstler bei der Umsetzung tatsächlich ausschöpft.
Natürlich ist es gut, Künstler auch in Zukunft an den
ertsteigerungen ihrer Werke zu beteiligen, wenn diese
uf dem Kunstmarkt mit Gewinn weiterverkauft werden.
e facto bedeutet die nun vorgesehene Regelung aller-
ings eine Verschlechterung für die Künstler: Der bisher
inheitliche Anspruch von 5 Prozent wird nun abhängig
om Kaufpreis degressiv gestaffelt – von 0,25 bis
Prozent bei einem Höchstbetrag von 12 500 Euro.
uch im niedrigen Bereich von 1 000 bis 50 000 Euro
ntstehen durch die Absenkung auf 4 Prozent spürbare
inkommenseinbußen. Zudem wird der Schwellenwert
on bisher 50 auf 1 000 Euro hoch gesetzt. Junge und
och nicht arrivierte Künstler, die darauf angewiesen
ind, viele kleine Arbeiten – zum Beispiel kostengüns-
ige Editionen – zu verkaufen, werden somit in Zukunft
eltener oder gar nicht mehr an den Weiterveräußerun-
en ihrer Werke beteiligt sein. Auch viele Drucke, Foto-
rafien bzw. Lichtbildwerke werden mit dem neuen
chwellenwert vom Folgerecht ausgeschlossen.
Die durch die geplante Gesetzesänderung entstehen-
en Einkommenseinbußen der Künstlerinnen und Künst-
er stehen in deutlichem Widerspruch zum Koalitions-
ertrag der großen Koalition. Dort heißt es wörtlich: „Im
ittelpunkt der Kulturpolitik steht die Förderung von
unst und Künstlern.“ Die durch das geplante Gesetz
ntstehende problematische Situation für viele Künstler
aschiert die Bundesregierung mit optimistischen Pro-
nosen im Erläuterungsteil des Gesetzentwurfes. Dort
ird beschwichtigend behauptet, die Einkommenseinbu-
en durch die neue Regelung könnten dadurch aufgefan-
en werden, dass deutsche Künstler nach der Harmoni-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2751
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sierung Einkünfte durch das Folgerecht in Ländern
erzielen könnten, die bisher kein Folgerecht kannten.
Außerdem werde Deutschland nun für den Kunsthandel
attraktiver, da bisher bestehende Wettbewerbsverzerrun-
gen wegfielen.
Dabei handelt es sich wohl um nicht viel mehr als
vage Hoffnungen, Wir fragen deshalb die Bundesregie-
rung: Auf welcher Datengrundlage und auf welcher
Analyse des internationalen Kunstmarkts beruhen diese
Voraussagen? Schließlich handelt es sich beim Kunst-
markt um einen der kompliziertesten Märkte überhaupt.
Deshalb wäre es redlich, in der Kunstszene keine fal-
schen Erwartungen zu wecken. Im Übrigen möchte ich
darauf hinweisen, dass die USA mit New York als wich-
tigstem Ort des internationalen Kunsthandels nach wie
vor kein Folgerecht haben. Es ist also schon mal nicht
davon auszugehen, dass Deutschland für US-amerikani-
sche Händler attraktiver wird. In Europa fehlt bisher nur
in den Niederlanden, in Portugal, England und Öster-
reich ein Folgerecht. Glauben Sie denn wirklich, dass die
massiven Einkommenseinbußen in Deutschland durch
die rechtliche Harmonisierung in diesen Ländern ausge-
glichen werden können? Damit ist wohl kaum zu rech-
nen! Wir wünschen uns für die weiteren Beratungen die-
ses Gesetzentwurfes, dass mit solideren und seriöseren
Prognosen gearbeitet wird. Die vielen bildenden Künst-
lerinnen und Künstler in unserem Land haben das ver-
dient – nicht zuletzt, weil sich viele von ihnen schon
jetzt in einem permanenten ökonomischen Überlebens-
kampf befinden.
Anlage 5
zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz ge-
gen den Iran
– Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt
über das iranische Atomprogramm – Demo-
kratische Entwicklung unterstützen
(Tagesordnungspunkt 17, Zusatztagesordnungs-
punkt 6)
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/
CSU): Die derzeitige Geschlossenheit der Sechs ist ein
klares Zeichen an den Iran, seinen Verpflichtungen ge-
genüber der internationalen Gemeinschaft endlich nach-
zukommen. Es unterstreicht ihren Willen, den Konflikt
auf diplomatischem Wege lösen zu wollen. Unserem In-
teresse an einer friedlichen Lösung dieser Krise ist nur
mit tatsächlicher und anhaltender Einigkeit gedient, die
in Ergänzung zu der präsidentiellen Erklärung des UN-
Sicherheitsrats zu sehen ist. Es liegt nun einzig an Tehe-
ran, weiterführende Schritte abzuwenden.
Welches Ziel verfolgen nun die vorliegenden An-
träge? Die sechs Außenminister haben vergangene Wo-
che deutlich gemacht, dass sie den Iran an den Verhand-
lungstisch zurückholen wollen – gleichzeitig spricht
insbesondere Die Linke fast ausschließlich von Militär-
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chlägen. Ein außerordentlich hilfreicher Ansatz, der in
etzter Konsequenz die Glaubwürdigkeit der internatio-
alen Gemeinschaft bezüglich ihrer Verhandlungsbereit-
chaft untergräbt. De facto erleben wir doch gerade ein
orbildliches multilaterales Vorgehen gegenüber dem
ran im Rahmen der Vereinten Nationen.
Daneben existieren Resolutionen der IAEO, denen
er Iran nicht nachgekommen ist. Offenbar reichte die
reativität der Verfasser der Anträge nicht aus, die mul-
ilateralen Prozesse, die ansonsten nicht vehement genug
ingefordert werden können, als logisch notwendige
extbausteine einzubauen. Als intellektueller Zwischen-
chritt wäre wenigstens die Kenntnisnahme, im besten
alle die Anerkennung dieser Vorgehensweisen zu be-
rüßen. Auch würde es der Substanz der Anträge nicht
chaden, die Forderungen der IAEO und damit die Re-
lität zu akzeptieren, wonach es im Kern um ein Fehl-
erhalten des Iran geht. Der Boden der Tatsachen ver-
ag in der Regel mehr Stabilität zu verleihen als das
chwankende Fundament hypothetischer Vorwürfe.
Es liegt nun am Iran, zu beweisen, dass er ebenfalls
n einer friedlichen und diplomatischen Lösung des Nu-
learkonflikts interessiert ist und die Situation, wie in
en letzten Monaten wiederholt geschehen, nicht erneut
skalieren lässt. Lediglich zur Klarstellung: Es ist der
ran, der bisher die Krise immer und immer wieder wei-
er verschärft hat. Es ist demzufolge verantwortungslos,
ndere als das iranische Regime als das eigentliche Pro-
lem in der Krise auszumachen. Die Linke sowie be-
timmte Teile der Grünen sollten zur Kenntnis nehmen,
ass die Bedrohung nicht von den Vereinigten Staaten,
ondern von den nuklearen Aktivitäten Teherans aus-
eht. Die USA unterstützen seit über einem Jahr den di-
lomatischen Ansatz der EU 3, wohingegen der Iran im
ergangenen August noch nicht einmal bereit war, über
as EU-3-Angebot überhaupt Gespräche zu führen.
Wir müssen uns nunmehr darauf konzentrieren, Tehe-
an zur Einhaltung seiner Vertragsverpflichtungen unter
em UN-Regime des Nichtverbreitungsvertrages zu be-
egen, statt gebetsmühlenartig populistisch vor Militär-
chlägen zu warnen. Wer die Vorzeichen der Bedrohung
mkehrt, verharmlost die Gefahr, die von iranischen Nu-
learwaffen auch für unsere Sicherheit ausgehen würde.
iese Gefahr wird von der Linken kaum zur Kenntnis
enommen. Ich glaube, Die Linke will nicht den Ein-
ruck erwecken, dass Ihr die iranischen Interessen näher
ägen als unsere eigene Sicherheit.
Niemand bestreitet, dass der Iran laut Nichtverbrei-
ungsvertrag das Recht hat, die Nuklearenergie friedlich
u nutzen. Andererseits hat die IAEO – wohlgemerkt:
in multilaterales Organ der Vereinten Nationen, was der
inken wohl erst zu verdeutlichen ist – wiederholt fest-
tellen müssen, dass der Iran die Zweifel, die die interna-
ionale Gemeinschaft bezüglich des rein friedlichen Cha-
akters des iranischen Nuklearprogramms auf der Basis
erschiedener Berichte der IAEO berechtigterweise hat,
ufgrund seiner unzureichenden Kooperation nie ausge-
äumt hat. Im Gegenteil: Iran hat durch das Überschrei-
en diverser roter Linien in den vergangenen Monaten,
icht zuletzt mit der Wiederaufnahme der Urananreiche-
ung – trotz des Pariser Abkommens –, unsere Sorge
2752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
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bezüglich eines militärischen iranischen Nuklearpro-
gramms wachsen lassen, nicht zu sprechen von den wei-
terhin unerträglichen und aggressiven Äußerungen des
iranischen Präsidenten gegenüber Israel.
Um es noch einmal zu verdeutlichen: Das iranische
Atomprogramm erfüllt uns deshalb mit berechtigter
Sorge, da das gesamte Programm bis 2002 geheim ge-
halten wurde. Die IAEO hat darüber hinaus seither wie-
derholt feststellen müssen, dass der Iran nicht ausrei-
chend kooperiert. Hätte der Iran nichts zu verbergen,
was dem Geist des NW, auf den sich die Linke so gern
beruft, widersprechen würde, wäre es mit Sicherheit
nicht zu den Äußerungen der IAEO gekommen. Zudem:
Würde der Iran die Nuklearenergie lediglich zivil nutzen
wollen, hätte er dies offen und transparent tun können,
nachdem der NW ihm genau dies zugesteht. Dann aber
ist zu fragen, weshalb Teheran das Programm solange
verheimlicht hat und weiterhin nicht zufriedenstellend
mit der IAEO bzw. den Vereinten Nationen kooperiert.
Die internationale Gemeinschaft und wir alle – was
eigentlich auch alle Parteien in diesem Hause mit ein-
schließen sollte – müssen weiterhin geschlossen verdeut-
lichen, dass wir eine nukleare Bewaffnung des irani-
schen Regimes nicht hinnehmen werden. Es liegt
nunmehr an Teheran, weiterführende Schritte, wie etwa
wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen, abzuwenden. Die
Befassung des Sicherheitsrats mit dem iranischen Nukle-
arprogramm bedeutet nicht das Ende der Diplomatie,
sondern zeigt im Gegenteil, dass die internationale Ge-
meinschaft weiter auf diesen Weg setzt. Das iranische
Regime sollte demzufolge die Entschlossenheit der in-
ternationalen Gemeinschaft nicht herausfordern. Die
russische und chinesische Bereitschaft, sich weiter eng
mit den EU 3 und den USA abzustimmen, demonstriert,
dass auch Moskau und Peking die nukleare Bewaffnung
Irans nicht zulassen werden.
Erfüllt der Iran innerhalb der gesetzten Frist die von
der IAEO geforderten Maßnahmen, sollten auch die
USA eine aktivere Rolle im Verhandlungsprozeß einneh-
men. Washington sollte signalisieren, dass es zu einer
Verbesserung der diplomatischen und wirtschaftlichen
Beziehungen zum Iran bereit ist, falls Teheran sich dem
friedlichen Charakter seines Nuklearprogramms nach-
weislich und dauerhaft voll verpflichtet fühlt.
Äußerungen, wie die von Oskar Lafontaine, die Iran-
Atompolitik des Westens sei völlig verlogen, unterwan-
dern offensichtlich zielgerichtet die Bemühungen der in-
ternationalen Gemeinschaft zu einer friedlichen Lösung
auf dem Verhandlungsweg. Darüber hinaus sind derar-
tige Verlautbarungen weder von Stilempfinden geprägt
noch im Hinblick auf diplomatische Umgangsformen
unter wesentlicher Beachtung der Kinderstube zustanden
gekommen. Die Linke ist dringend aufgerufen, sich in-
tellektuell und in der Opposition selbst zu ordnen, bevor
sie sich der Weltordnung zuwendet.
Dr. Rolf Mützenich (SPD): Als wir vor wenigen
Wochen über die beiden vorliegenden Anträge hier de-
battierten, erweckte der Redner der Fraktion Die Linke,
Herr Lafontaine, den Eindruck, dass demnächst mit Mi-
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itärschlägen gegen den Iran zu rechnen sei. Er wieder-
olte auch den Vorwurf, dass die Bundesregierung in ih-
er Haltung gegenüber der iranischen Atomkrise
erstritten sei. Beide Mutmaßungen waren nichts als
altlose Unterstellungen natürlich weil sie vorwiegend
nnenpolitisch motiviert waren. Das zeigt auch, wie Sie
it dem Thema umgehen: Sie verunsichern die Men-
chen, Sie senden missverständliche Signale an die Ver-
ntwortlichen im Iran und Sie schwächen die gemein-
ame Haltung in der iranischen Atomkrise. Und dann
ündigen Sie auch noch an, demnächst in den Iran reisen
u wollen, um dort zu vermitteln.
Vorweg: Jede Diskussion mit den politischen Ent-
cheidungsträgern im Iran ist sinnvoll. Der Dialog ist
ine Bedingung, um die Krise friedlich zu lösen. Aller-
ings ist es genauso wichtig, entschieden und unmiss-
erständlich aufzutreten. Deshalb stellen Sie bitte in Te-
eran klar:
Erstens. Die Internationale Atomenergiebehörde kann
och immer nicht bestätigen, dass die iranischen Aktivi-
äten allein nicht militärischen Zielen dienen. Iran muss
ndlich intensiv und offen mit den Inspekteuren zusam-
enarbeiten.
Zweitens. Voraussetzung der Vertrauensbildung ist
ie Suspendierung der Urananreicherung zum jetzigen
eitpunkt.
Drittens. Die ständige Leugnung des Holocausts, die
nfragestellung des Existenzrechts Israels und die militä-
ischen Drohungen gegen das Land sind inakzeptabel
nd zutiefst inhuman. Das sollten Sie als Vertreter des
eutschen Parlaments in Teheran deutlich machen.
Was ist seit unserer letzten Debatte geschehen? Das
erausragende Ereignis ist die einstimmige Feststellung
es Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, dass der Iran
u einer konstruktiven Zusammenarbeit zurückkehren
nd vertrauensbildende Schritte unternehmen muss.
leichzeitig unterstreicht dieser das Recht der friedli-
hen Nutzung der Kernenergie. Dieser Beschluss ist
ichtig und richtig. Er ist ein Kompromiss, was denn
onst? Aber er wurde von dem Gremium entwickelt und
ntschieden, dass für den internationalen Frieden eine
esondere Verantwortung trägt. Es ist gelungen – trotz
nterschiedlicher Interessen –, durch Kooperation und
ompromisse das gemeinsame und übergeordnete Ziel
er internationalen Gemeinschaft nicht aus den Augen
u verlieren: die friedliche Lösung der iranischen
tomkrise. Deutschland hat dabei eine wichtige und
rfolgreiche Rolle gespielt. Dass dies ohne formellen
tatus gelungen ist, unterstreicht die neuen Verhaltens-
öglichkeiten in der internationalen Politik.
Klar ist: In den kommenden Wochen muss Überzeu-
ungsarbeit geleistet werden, gegenüber dem Iran, aber
uch gegenüber anderen wichtigen Akteuren. Dazu ge-
ören in erster Linie die USA. Wir Sozialdemokraten
eilen die Hoffnung des deutschen Außenministers, dass
uch die Verantwortlichen in Washington ihre Ge-
prächskanäle gegenüber dem Iran für die Beilegung der
tomkrise nutzen. Ohne die Anerkennung der irani-
chen Sicherheitsinteressen, ohne die Herstellung gere-
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gelter Beziehungen und die Wiederaufnahme wirtschaft-
licher Kontakte wird es keine langfristige und belastbare
Lösung geben.
Kollegen aus der CDU und CSU, Herr von und zu
Guttenberg und Herr Polenz, sowie Vertreter aus der
SPD, unser früherer Kollege Dietmar Nietan und ich,
hatten bereits vor mehr als zwei Jahren eine Initiative
mit Repräsentanten des US-Kongresses und wissen-
schaftlichen Einrichtungen in Washington begonnen, um
ein amerikanisches Engagement für die Lösung des Iran-
konflikts zu initiieren. Damals verstärkte sich für mich
der Eindruck, dass die amerikanische Regierung über
keine schlüssige Iranpolitik verfügt. Diese ist vielmehr
überlagert von gefühlsbetonten, teilweise irrationalen
Haltungen und Handlungen. Gleiches gilt auch für die
Akteure in Teheran.
Allerdings sollten wir auch in Europa, vor allem in
Deutschland, Acht geben, dass sich die Politik gegen-
über Iran nicht nur auf die Bearbeitung der Atomkrise
reduziert. Unsere Iranpolitik muss natürlich auch den
dramatischen Wandel in den vergangenen Jahrzehnten
beachten: Dazu gehören aus regionaler Sicht der achtjäh-
rige Iran-Irak-Krieg, die Entwicklung in Afghanistan
und im Irak, die Auflösung der Sowjetunion mit ihren
Folgen für die Nachbarstaaten des Irans, die Nuklearisie-
rung des indisch-pakistanischen Verhältnisses ein-
schließlich der jüngsten indisch-amerikanischen Verab-
redungen und die Nachfrage nach Energieressourcen.
Aus innenpolitischer Sicht gehören dazu die Übernahme
politischer Verantwortung durch eine neue politische
Elite, die Verstetigung der religiösen Gruppen im politi-
schen und wirtschaftlichen Prozess, das endgültige
Scheitern eines Exports der islamischen Revolution und
der dramatische innergesellschaftliche Wandel.
Was wir also leisten müssen, ist eine umfassende
Iranpolitik: Selbstverständlich brauchen wir – wie es die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ausführt – einen
Dialog mit der Zivilgesellschaft. Aber das reicht nicht:
Wir müssen auch mit den Verantwortlichen in Teheran
sprechen. Wir müssen Kooperationsangebote unterbrei-
ten, Hilfen und Angebote zugunsten einer wirtschaftli-
chen, sozialen und kulturellen Beziehung zwischen Eu-
ropa und Iran anbieten. Und vor allem: Wir müssen
darauf dringen, dass der Iran eine verantwortliche, fried-
liche und transparente Politik im Mittleren und Nahen
Osten gestaltet. Das wäre zu unser aller Nutzen.
Harald Leibrecht (FDP): Der Atomstreit mit dem
Iran ist an den UN-Sicherheitsrat überwiesen worden.
Die iranische Führung hat es monatelang bewusst ver-
säumt, der IAEA die vollständigen Pläne ihres Atompro-
gramms offen zu legen. Jahrelang haben die Iraner die
Internationale Atomenergiebehörde – und somit die ge-
samte Staatengemeinschaft – über ihr Programm ge-
täuscht. Die Überweisung an den Sicherheitsrat ist somit
richtig und nur konsequent.
Doch diese Entscheidung ist nicht das Ende der Di-
plomatie. Es müssen weiterhin alle diplomatischen Be-
mühungen ausgeschöpft werden, bevor es zu weiteren
Schritten oder gar irgendwelchen Sanktionen kommt.
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as wir jetzt dringend benötigen, sind positive Signale
us Teheran. Die wiederholten Hasstiraden des irani-
chen Präsidenten gegen das israelische Volk müssen wir
rnst nehmen.
Was passiert denn, wenn der Iran tatsächlich sein mi-
itärisches Engagement verstärkt und den unsäglichen
rohungen seines Präsidenten gegenüber Israel Taten
olgen lässt? In solch einem Fall müssen wir handlungs-
ähig sein. Mit ihrem derzeitigen Militärmanöver und
en Tests von Tarnkappenraketen, die inzwischen eine
eichweite von bis zu 2 000 Kilometern haben, macht
ie iranische Führung deutlich, dass ihre Waffenpro-
ramme nicht nur auf die Selbstverteidigung der Landes-
renzen ausgerichtet sind. Iranische Raketen könnten
ald schon Europa und auch Deutschland erreichen.
ies alles sind deutliche Zeichen aus dem Iran, die nicht
uf die alleinige Nutzung des Atomprogramms für zivile
wecke schließen lassen. Es liegt jetzt am Iran, uns vom
egenteil zu überzeugen. Doch wie sieht nun der rich-
ige Umgang mit der iranischen Führung aus? Welche
aßnahmen können ergriffen werden, um einer Radika-
isierung des iranischen Volkes entgegenzuwirken – ei-
em Volk, das mehrheitlich seinem hetzerischen Präsi-
enten und dessen atomaren Plänen aus voller
berzeugung folgt?
Um es jedoch klar und deutlich zu sagen: Eine militä-
ische Option steht nicht zur Debatte. Der Sicherheitsrat
uss alle diplomatischen Alternativen ausschöpfen, um
ie iranische Regierung umzustimmen und zu einer voll-
tändigen Offenlegung ihres Atomprogramms zu bewe-
en. Hierbei wird es in erster Linie darum gehen Ver-
rauen und Glaubwürdigkeit zu schaffen.
Wenn es doch nichts zu verbergen gibt, verstehe ich
icht, warum Teheran der IAEA nicht alle Informationen
ber sein Atomprogramm gibt. Eine Offenlegung der
läne wäre eine echte vertrauensbildende Maßnahme.
Aber auch wir müssen überlegen, wie wir das Ver-
rauen des iranischen Volkes und seiner Führung gewin-
en können. Wir müssen uns enger mit den USA abstim-
en. Bislang scheint es, als stünde die EU im
erhandlungsprozess nur für so genannte Carrotts, und
ashington ausschließlich für die Sticks. Eine glaub-
ürdige, abgestimmte transatlantische Verhandlungs-
trategie muss Sticks und Carrotts so kombinieren, dass
ie transatlantischen Partner nicht gegeneinander ausge-
pielt werden können.
Die USA haben das Gesprächsangebot aus Teheran
ur Situation im Irak angenommen – ein wichtiger erster
chritt, den wir sehr begrüßen. Denn in einer Situation
er Gesprächslosigkeit, der absoluten Funkstille, lässt
ich Vertrauen ganz sicher nicht herstellen. Die USA ha-
en mit Nordkorea über Kim Jong Ils atomare Pläne ver-
andelt. Es wäre sicher hilfreich, wenn sie sich jetzt auch
it der iranischen Führung im direkten Gespräch ausei-
ander setzen würden.
Die Bemühungen der EU-3 in den Verhandlungen mit
em Iran, die auch eng mit den USA und Russland abge-
timmt waren, waren sehr wichtig. Nur so konnte man
em Iran im August 2005 ein Angebot für ein Langzeit-
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abkommen unterbreiten. Leider hat der Iran alles abge-
lehnt und zeigte sich wenig kooperativ. Darum ist es nur
logisch, dass diese Sache jetzt an den Sicherheitsrat
überwiesen wurde. Die fünf Vetomächte des Sicherheits-
rates und Deutschland handeln richtig, wenn sie nun den
Iran auffordern, sein Projekt zur Urananreicherung in-
nerhalb von 30 Tagen zu stoppen. Jetzt ist Teheran am
Zug.
Ich möchte hier aber auch ein weiteres, zentrales Pro-
blem ansprechen, wenn wir über eine atomwaffenfreie
Welt reden wollen. Wie glaubwürdig kann ein Atomwaf-
fensperrvertrag sein, bei dem einzelne Länder Atomwaf-
fen besitzen dürfen und andere nicht? Eine Eskalation im
Nahen und Mittleren Osten kann letzten Endes nur ver-
hindert werden, wenn die atomare Abrüstung in der Re-
gion und auch weltweit von allen Seiten vorangetrieben
wird. Das braucht Mut, Glaubwürdigkeit und neue Ini-
tiativen für die Abrüstung, auch von uns.
Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Vor Ihnen liegen
zwei Anträge mit dem gleichen Ziel. Es geht darum, die
Gefahr einer militärischen Intervention im Streit um das
iranische Atomprogramm zu bannen. Ein Ziel, in dem
– soweit ich sehe – wir alle übereinstimmen. In der letz-
ten Zeit habe ich kaum eine Stimme aus irgendeiner Par-
tei in diesem Haus vernommen, die eine Drohung mit
militärischen Sanktionen gegenüber dem Iran überhaupt
noch für sinnvoll gehalten hat. Im Gegenteil, die Ein-
sicht hat immer mehr Platz gegriffen, dass Verhandlun-
gen – zweiseitige oder multilaterale – der einzige realis-
tische Weg sind, der aus der Sackgasse herausfuhren
kann.
Ja, man könnte sogar fragen, ob die Angst vor der
Kriegsgefahr nicht gänzlich übertrieben ist? Die jüngste
Resolution des UNO-Sicherheitsrats spricht überhaupt
nicht mehr von Sanktionen. Sind die beiden Anträge
vielleicht schon überholt? Ich furchte: nein. Die US-
Administration hat ihre Pläne, im Iran einen Regime-
wechsel vorzunehmen, immer noch nicht aufgegeben.
Die USA sind nach wie vor zu einer Eskalation bereit,
und die könnte schon bald eintreten. Denn eines ist in
der Zwischenzeit mehr als deutlich geworden: Der Iran
wird nicht auf das Recht zur eigenständigen Urananrei-
cherung verzichten. Darin sind sich iranische wie inter-
nationale Kritiker der iranischen Entwicklung inzwi-
schen einig. Wer das nicht akzeptieren will – was bleibt
ihm anderes als die Rückkehr zur Drohung? Deshalb
plädieren wir für einen realistischen Umgang mit dem
Anspruch des Iran auf Urananreicherung, zu zivilen
Zwecken wohl bemerkt, so wie er auch völkerrechtlich
durch den Atomwaffensperrvertrag legitimiert ist.
Der jüngste russische Vorschlag zielt auf die Zulas-
sung einer Urananreicherung auf niedriger Stufe allein
zu Forschungszwecken unter strenger Kontrolle der
Atomenergiebehörde. Ein ähnlicher Vorschlag liegt von
der International Crisis Group vor. Die Iraner selbst ha-
ben vorgeschlagen, die Urananreicherung auf ihrem Ter-
ritorium einem internationalen Firmenkonsortium unter
ebenfalls strenger Kontrolle der Atomenergiebehörde zu
übergeben. Warum haben die USA beide Vorschläge ab-
gelehnt? Geht es ihnen vielleicht gar nicht so sehr um
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ie Atomwaffen als vielmehr um die Beseitigung eines
ür sie unerträglichen Regimes?
Wenn man diesem Verdacht nicht folgt, bleibt nur der
eg der Verhandlungen unter Verzicht auf jegliche Dro-
ung mit militärischer Gewalt. Wir begrüßen, dass der
undesaußenminister dies bei seinem Besuch in Wa-
hington auch öffentlich gefordert hat und ermutigen
hn, trotz der jüngst erteilten Abfuhr, in diesem Bemü-
en nicht nachzulassen.
Wir fordern in unserem Antrag ja nicht nur Verhand-
ungen und Gewaltverzicht. Wir fordern auch die irani-
che Regierung auf, ihre undiskutablen Drohungen ge-
enüber Israel einzustellen, und wir fordern alle Staaten
es Nahen und Mittleren Ostens auf, an der Einrichtung
iner atomwaffenfreien Zone mitzuwirken. Dies sind
orderungen, die sie alle hier im Haus unterschreiben
önnen.
Wenn Sie sich jedoch an dem Absender des Antrags
toßen, empfehlen wir Ihnen, den Antrag von Bünd-
is 90/Die Grünen zu unterstützen. Denn er fordert im
ern dasselbe wie wir. Er hat leider einen Fehler: Er
ann der Verlockung von politischen oder ökonomischen
anktionen nicht widerstehen. Diese lehnen wir ent-
chieden ab. Doch sind wir uns in der Abwehr militäri-
cher Mittel wenigstens in diesem Fall einig und können
eshalb auch diesem Antrag zustimmen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
er Wahl des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad
m Juni 2005 hat sich der Konflikt um das Atompro-
ramm des Iran verschärft: Der Bruch der Pariser Ver-
inbarung zwischen Iran und den E-3/EU – Deutschland,
rankreich und Großbritannien – mit der Wiederauf-
ahme der Urankonversion in Isfahan und die Weige-
ung, eine tragfähige Vereinbarung mit der internationa-
en Gemeinschaft auszuhandeln, geben großen Anlass
ur Sorge. Auch die neuerliche scharfe Unterdrückung
on Medien und Zivilgesellschaft im Iran sind alarmie-
end. Ebenso inakzeptabel sind die wiederholten Dro-
ungen des iranischen Präsidenten gegen Israel und
eine Leugnung des Holocausts. Diese Entwicklung se-
en wir mit großer Sorge und betonen die interfraktio-
ell geteilte deutsche Verpflichtung zur Unterstützung
es Existenzrechts Israels.
Dennoch muss klar sein, dass die Androhung bzw.
nwendung von Gewalt gegen das iranische Regime ein
normes Eskalationsrisiko bergen würde. Deshalb
öchte ich betonen, dass es keine Alternative zu einer
ivilen Beilegung des Konflikts gibt: Verhandlungen und
falls diese erfolglos bleiben – nicht militärische Sank-
ionen sind der einzige Weg, um doch noch zu einer
ompromisslösung zu kommen. Die Uneinigkeit in der
undesregierung und zweideutige Aussagen zu gewalt-
amen Maßnahmen sind nicht ausreichend. Vielmehr
uss die Bundesregierung gemeinsam mit den Partnern
n der EU, mit den USA, mit Russland und China dafür
intreten, einen Militäreinsatz eindeutig auszuschließen.
irekte Gespräche der USA mit der iranischen Führung
önnen hilfreich sein, um eine Lösung zu finden.
Es kann aber nicht sein, dass auch nicht militärische
anktionen ausgeschlossen werden, wie dies die Bun-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2755
(A) )
(B) )
destagsfraktion der PDS fordert: Gezielte nicht militäri-
sche Sanktionen stellen die einzigen Erfolg versprechen-
den Instrumente bei Scheitern einer Verhandlungslösung
dar. Die Überweisung an den Sicherheitsrat der Verein-
ten Nationen ist richtig, um die iranische Führung zur
Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bewegen. Wer
die Option von Sanktionen leichtfertig aus der Hand
gibt, verschlechtert die Verhandlungsposition im Atom-
streit mit Iran. Wir treten deshalb für die Entwicklung ei-
nes Katalogs von geeigneten abgestuften Sanktionsmaß-
nahmen ein.
Eine kommerzielle Urananreicherung muss unterblei-
ben, bis das internationale Vertrauen in die friedliche
Nutzung des iranischen Atomprogramms wieder herge-
stellt ist und alle Bedingungen der VN und der IAEO er-
füllt werden. Dabei sind in den Bereichen Urananreiche-
rung, Brennstoffproduktion, Wiederaufbereitung und
Abfallbeseitigung multinationale Lösungen sinnvoll,
wie sie jüngst der Generalsekretär der IAEO, al-Baradei,
bei seinem Besuch in Deutschland vorgeschlagen hat.
Wir sind der Meinung, dass die Bundesregierung
auch auf vielen anderen Ebenen Aktivitäten unterneh-
men sollte, wie es unser Antrag vorsieht: Die Bundesre-
gierung sollte gemeinsam mit ihren Partnern in der EU
darauf drängen, dass der Menschenrechtsdialog zwi-
schen der EU und dem Iran umgehend fortgesetzt wird.
Die Menschenrechtsverletzungen der iranischen Füh-
rung und der Druck auf die demokratische Opposition
sind in den letzten Monaten enorm gestiegen. Ein konse-
quenter Einsatz für die Freilassung politischer Gefange-
ner, die Achtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung
und politische Betätigung ist auf allen politischen Ebe-
nen notwendig.
Neben politischem Druck auf die iranische Führung
muss vor allem die iranische Zivilgesellschaft intensiver
unterstützt werden. Anders als in vielen anderen Län-
dern der Region ist die Zivilgesellschaft in Iran erstaun-
lich breit und vielfältig, sie hat aber auch besonders un-
ter der innenpolitischen Verschärfung der letzten Monate
gelitten. Die Bundesregierung muss intensiv die beste-
henden Kontakte pflegen und ausweiten. Zudem ist sie
aufgerufen, mit konkreten Projekten, zum Bespiel im
Medienbereich, die bedrängte Zivilgesellschaft und die
demokratische Entwicklung im Iran zu stärken. Nur mit
diesen zivilen Maßnahmen ist eine Beilegung der aktuel-
len Krise und eine langfristige Stärkung der demokrati-
schen Elemente im Iran möglich.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung der Europäischen Genossenschaft
und zur Änderung des Genossenschaftsrechts
(Tagesordnungspunkt 18)
Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Bundespräsi-
dent Roman Herzog hat 1998 ausgeführt: „Genossen-
schaften sind keine liebenswerten Reminiszenzen an ein
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aar interessante Männer des vergangenen Jahrhunderts,
ondern der Genossenschaftsgedanke ist heute so funkel-
agelneu wie vor 150 Jahren. Man müsste ihn erfinden,
enn er nicht bereits erfunden wäre.“ Der Einschätzung
nseres Alt-Bundespräsidenten muss man sich auch
eute voll und ganz anschließen.
Genossenschaften sind ein bedeutender Pfeiler der
eutschen Wirtschaft und werden gerade wegen ihrer re-
ionalen Verankerung in Zeiten einer immer umfassen-
er werdenden Globalisierung und einer ständig anstei-
enden weltweiten Marktkonzentration immer wichtiger.
nter diesem Bewusstsein debattieren wir heute Abend.
Mit der Einbringung des Gesetzes zur Einführung der
uropäischen Genossenschaft und zur Änderung des Ge-
ossenschaftsrechts soll das inzwischen über 100 Jahre
lte Genossenschaftsrecht modernisiert und an die An-
orderungen des internationalen Wettbewerbs angepasst
erden. Ziel dabei ist es, die genossenschaftliche Idee zu
tärken und ihre Attraktivität weiter zu erhöhen.
Genossenschaften sind in Deutschland in allen Sekto-
en des wirtschaftlichen Lebens verbreitet. 60 Prozent
ller Handwerker, 65 Prozent aller selbstständigen Steu-
rberater, 70 Prozent aller Einzelhandelskaufleute, 90 Pro-
ent aller Bäcker und Metzger und praktisch jeder Land-
irt ist Mitglied einer oder mehrerer Genossenschaften.
ohnungsbaugenossenschaften umfassen rund 3 Millio-
en Mitglieder und bewirtschaften etwa 10 Prozent der
ietwohnungen in Deutschland.
Und, last, but not least, stellen die Volks- und Raiffei-
enbanken mit rund 30 Millionen Kunden, 15,5 Millio-
en Mitgliedern, 168 000 Mitarbeitern, 15 000 Bank-
tellen und einem Marktanteil von 17 Prozent einen
ichtigen Faktor in der deutschen Kreditwirtschaft dar.
Bekanntlich wurden die Genossenschaften Mitte des
9. Jahrhunderts als wirtschaftliche Selbsthilfeeinrich-
ungen gegründet. Als es infolge der gesellschaftlichen
mwälzungen durch Industrialisierung und Landflucht
u Engpässen bei der Versorgung mit Wohnungen und
ütern des täglichen Bedarfs kam, schlossen sich Men-
chen zu Wohnungs- und Konsumgenossenschaften zu-
ammen und verteilten die Güter gerecht auf ihre Mit-
lieder. Auch die Kreditgenossenschaften funktionierten
ach diesem Prinzip. Dahinter stand – und steht – der
rundgedanke, dass es für ein einzelnes Mitglied Vor-
eile bringt, wenn bestimmte wirtschaftliche Funktionen
uf eine speziell dafür geschaffene Wirtschaftseinheit
usgelagert werden, die am Markt mehr Durchsetzungs-
raft hat als das Individuum selbst.
Das Motto seit jener Zeit war und ist: „Alle für einen –
iner für alle“. Dies gilt sowohl in einer großen Genos-
enschaft wie der DATEV in Nürnberg mit rund
0 000 Mitgliedern, wie auch in einer der kleinsten Ge-
ossenschaften wie der Sennereigenossenschaft Unter-
aiselstein im Allgäu mit nur elf Mitgliedern.
Dieser Grundgedanke soll durch den heute einge-
rachten Gesetzentwurf weiter gestärkt und ausgebaut
erden.
2756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
(A) )
(B) )
Beispielhaft möchte ich hier drei Schwerpunkte nen-
nen:
Erstens. Aus Sicht der Neugründungen und kleinen
Genossenschaften sind dabei folgende Punkte besonders
hervorzuheben: Künftig sollen statt bisher sieben bereits
drei Personen eine eingetragene Genossenschaft gründen
können. Damit würde nach dem Motto: „Alle für einen –
einer für alle“ der Einstieg in eine Genossenschaft er-
leichtert, Kooperationen von drei Handwerkern, Land-
wirten oder Genossenschaftsbanken ermöglicht und Sy-
nergien und Energien gebündelt.
Außerdem wird vorgesehen, dass bei eingetragenen
Genossenschaften mit bis zu 20 Mitgliedern nicht mehr
zwei Vorstands- und drei Aufsichtsratsmitglieder ge-
wählt werden müssen, sondern es soll nunmehr ein Vor-
stand genügen und auf den Aufsichtsrat kann völlig ver-
zichtet werden. Damit kann Bürokratie abgebaut und
können die Rahmenbedingungen vor allem für kleine
Genossenschaften verbessert werden.
Zweitens. Für Genossenschaften wiederum, die nach
den internationalen Rechnungslegungsstandards IAS bi-
lanzieren wollen, soll die Möglichkeit eröffnet werden,
ihre Satzung so auszugestalten, dass die Geschäftsgutha-
ben weiterhin als Eigenkapital ausgewiesen werden kön-
nen.
Drittens. Für grenzüberschreitende Kooperationen,
deren Mitglieder ihren Sitz in mindestens zwei EU-Staa-
ten haben, soll schließlich eine neue Rechtsform ge-
schaffen werden: die so genannte Europäische Genos-
senschaft oder Societas Cooperativa Europaea (SCE).
All diese Neuregelungen sollen zu einer flexibleren
Anpassung an das wirtschaftliche Umfeld der genossen-
schaftlichen Betätigung führen, ohne die Besonderheiten
der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft zu
zerstören.
Vor diesem Hintergrund wird der Gesetzentwurf im
weiteren Verfahren allerdings auch noch einmal genau
zu durchleuchten sein. Ich möchte hier nur zwei Bei-
spiele herausgreifen:
Nach der Vorschrift des neuen § 43 Abs. 7 des Ge-
setzentwurfs ist eine Generalversammlung zur Be-
schlussfassung über die Abschaffung der Vertreterver-
sammlung unverzüglich einzuberufen, wenn die von
mindestens 10 Prozent der Mitglieder oder mindestens
500 Mitgliedern beantragt wird. Dies bedeutet für eine
Genossenschaft wie die bereits angeführte DATEV mit
über 40 000 Mitgliedern, dass also lediglich 0,8 Prozent
genügen, um einen entsprechenden Antrag zu stellen
und damit eine derartige Mammutveranstaltung vorbe-
reiten und durchführen zu müssen. Nicht nur wegen der
zahlenmäßigen Dimension, sondern insbesondere wegen
der Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Vor-
stands und auf das Zusammenspiel zwischen dem Vor-
stand und den Mitgliedern der Genossenschaft, ist eine
solche Regelung nicht zielführend, denn sie verleitet ge-
rade zu einem Missbrauch des Antragsrechts und geht
weit über einen – sonst wichtigen und grundsätzlich an-
zuerkennenden – Minderheitenschutz hinaus.
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Das Gleiche gilt für die geplante Neuregelung des
45 Abs. 1 Genossenschaftsgesetz. Demnach muss die
eneralversammlung oder die Vertreterversammlung,
oweit diese besteht, unverzüglich einberufen werden,
enn mindestens ein Zehntel der Mitglieder oder min-
estens 150 Mitglieder die Einberufung unter Anfüh-
ung des Zwecks und der Gründe verlangen. Ich möchte
ier ein Beispiel einer genossenschaftlichen Bank aus
einem Wahlkreis mit rund 18 000 Mitgliedern anfüh-
en. Bei dieser Bank würden angesichts der vorgeschla-
enen absoluten Zahl von 150 weniger als 1 Prozent der
itgliedern genügen, um eine Vertreterversammlung
inberufen zu lassen. Dies würde zu immensem organi-
atorischen Aufwand und erheblichen Kosten führen –
nd ebenfalls eine nicht zu vertretende ständige Unsi-
herheit ins gesamte genossenschaftliche Lager tragen.
CDU und CSU werden sich deshalb in den parlamen-
arischen Beratungen dafür einsetzen, eine bessere Lö-
ung in Bezug auf den neuen Abs. 7 § 43 in Genossen-
chaftsgesetz zu finden.
Grundsätzlich ist der vorgelegte Gesetzentwurf zu be-
rüßen und positiv zu bewerten. Er stärkt die genossen-
ypischen Prinzipien der Selbstverwaltung und Selbst-
erantwortung. Im weiteren Verfahren wird die CDU/
SU-Bundestagsfraktion darüber wachen, dass der be-
onderen Stellung der Genossenschaften in Deutschland
m Sinne unseres geschätzten Alt-Bundespräsidenten
oman Herzog auch in Zukunft Rechnung getragen
ird.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Die Einführung der
uropäischen Genossenschaft sowie die Reform des
eutschen Genossenschaftsrechts sind sinnvolle Vorha-
en, die wir gerne und zügig umsetzen wollen. Innerhalb
er EU gibt es bereits seit Ende 2004 die Möglichkeit
ine europäische Aktiengesellschaft – nämlich die Euro-
äische Gesellschaft – zu betreiben. Es ist erfreulich,
ass es nun künftig in Europa auch die Möglichkeit ge-
en wird, eine Europäische Genossenschaft zu gründen,
ie über die nationalen Grenzen hinaus agieren kann.
enn in einem zusammenwachsenden Europa besteht
in praktischer Bedarf an beiden gesellschaftsrechtlichen
rganisationsformen.
Genossenschafter formulieren es so: Die Aktienge-
ellschaft möchte viel Geld einsammeln, um aus viel
eld noch mehr Geld zu machen. Naturgemäß ist dieses
iel für viele Menschen in Europa erstrebenswert und
eshalb ist es vernünftig, dass international agierende
nternehmen hierfür einen europäischen Rechtsrahmen
ählen können.
Die Genossenschaft möchte mit Dienstleistungen für
hre Mitglieder einen gemeinsamen Förderzweck verfol-
en. Auch hierfür gibt es innerhalb Europas einen Be-
arf, der die nationalen Grenzen überschreiten kann. Ich
enke hier an Handelsgenossenschaften, an Vermark-
ungsgenossenschaften etwa im landwirtschaftlichen Be-
eich, an Energieerzeugungsgenossenschaften und an
enossenschaftsbanken.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2757
(A) )
(B) )
Für die Europäische Genossenschaft liegt eine detail-
lierte EG-Verordnung vor, die ab 18. August in den Mit-
gliedstaaten unmittelbar gelten wird. Unsere Aufgabe ist
es, hierzu sinnvolle Ausführungsbestimmungen zu tref-
fen.
In den weiteren Beratungen werden wir uns vor allem
mit der Frage des Sitzes der Europäischen Genossen-
schaft befassen, Denn die Europäische Genossenschaft
darf selbstverständlich nicht dazu missbraucht werden,
dem Abtauchen der Genossenschaft vor den Gläubigern
bei drohender Insolvenz Vorschub zu leisten. Deshalb ist
bereits in der EG-Verordnung klar geregelt, dass der Sitz
der Europäischen Genossenschaft in dem Mitgliedstaat
liegt, in dem sich die Hauptverwaltung befindet. Sitzver-
legungen sind nur nach vorheriger Prüfung durch das
Registergericht möglich. Geprüft wird insbesondere, ob
die Interessen der Gläubiger, aber auch des Fiskus ange-
messen geschützt sind. In diesem Zusammenhang wer-
den wir uns mit der Anregung des Bundesrates auseinan-
der setzen, wonach Sitz und Hauptverwaltung am selben
Ort liegen sollten. Unser vorrangiges Ziel jedoch ist
größtmögliche Gestaltungsfreiheit, damit Deutschland
ein attraktiver Standort für künftige europäische Genos-
senschaften wird.
Auch im nationalen Genossenschaftsrecht wollen wir
die Genossenschaftsregeln für die heutigen Nutzer, aber
auch für künftige mögliche Nutzer dieser Gesellschafts-
form attraktiver gestalten.
Wir sind überzeugt, dass die Genossenschaft weiter-
hin gebraucht wird. Denn in Genossenschaften können
die Mitglieder die Prinzipien der Selbsthilfe und der
Selbstverwaltung, aber auch der genossenschaftlichen
Solidarität besonders erfolgreich zu ihrem jeweils eige-
nen Nutzen umsetzen.
Die Genossenschaft als Rechtsform war zu Beginn
der Industrialisierung eine Idee von Sozialreformern
– von engagierten Menschen aus dem sozialdemokrati-
schen, dem christlichen und dem liberalen Lager. Die
Idee war segensreich – und sie ist es bis heute. Genos-
senschaften agieren im Wohnungswesen, im Handel, in
der Landwirtschaft; die Genossenschaft ist eine Rechts-
form für Handwerker, die sich zusammenschließen, für
das Bankenwesen wie auch für Arbeitsloseninitiativen.
Genossenschaften können Zeitung machen – wie die
„taz“ – sie können Schulen betreiben und im Januar die-
ses Jahres lief das Biomasseheizkraftwerk im Bioener-
giedorf Jühnde an, das von einer Betreibergenossen-
schaft mit 180 Genossen betrieben wird. Die
Genossenschaften in Deutschland sind recht stabil und
wenig anfällig für Insolvenzen.
Allerdings müssen wir feststellen, dass die Genossen-
schaftszahlen zurückgehen – und zwar seit Jahren. Heute
haben wir in Deutschland jährlich mehr Löschungen als
Neueintragungen und insgesamt sind die Genossen-
schaften weniger geworden – waren es 1998 noch fast
10 000 Genossenschaften, sind es heute weniger als
8 000 Genossenschaften. Diese Entwicklung hängt da-
mit zusammen, dass die Genossenschaft in der Grün-
dung recht aufwendig ist; so ist beispielsweise bei der
Anmeldung zur Eintragung ein Gründungsgutachten des
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rüfungsverbandes beizubringen. Auch im laufenden
etrieb ist die Genossenschaft aufwendig. Alle Genos-
enschaften unterliegen bisher jährlich oder zweijährlich
er Jahresabschlussprüfung durch den Genossenschafts-
erband. Alle diese Prüfungen sind vor allem mit Kosten
erbunden. Deshalb ist es ein Ziel des Gesetzentwurfs,
rüfpflichten – soweit vertretbar – abzubauen. Nach
em Entwurf soll bei einer Bilanzsumme bis 2 Millionen
uro keine Jahresabschlussprüfung mehr gesetzlich vor-
eschrieben sein. Aus den Reihen der Prüfverbände ver-
ehmen wir, dass eine Grenzziehung bei 350 000 Euro
ilanzsumme besser sei. Aus den Reihen der Genossen-
chaften – gerade der kleineren Genossenschaften – wird
orgeschlagen, beim Abbau der Prüfpflichten noch wei-
er zu gehen und die genossenschaftlichen Prüfpflichten
ergleichbar dem GmbH-Recht erst ab 4 Millionen Euro
ilanzsumme beginnen zu lassen. Das werden wir uns
enau anschauen. Nach meiner Auffassung brauchen wir
ehr gute Gründe, wenn wir weiterhin die Genossen-
chaft gegenüber der kleinen Kapitalgesellschaft un-
leich behandeln und ihr einen größeren Prüfungsauf-
and abverlangen.
Auch an anderer Stelle sehe ich noch Beratungsbe-
arf. Viele Schreiben haben uns erreicht die sich mit
em vorgesehenen Recht der Mitglieder auf Einberufung
iner Generalversammlung befassen. Die Bedenken ge-
en ein zu kleines Mitgliederquorum für das Einberu-
ungsverlangen sind nachvollziehbar. Ich bin zuversicht-
ich, dass wir sachgerechte Lösungen finden werden, mit
enen auch Genossenschaften leben können, die Zehn-
ausende oder gar Hunderttausende Mitglieder haben.
m Ende unserer Beratungen wird ein erneuertes und
on unnötigem Ballast befreites Genossenschaftsrecht
tehen.
Mechthild Dyckmans (FDP): Europa wächst zu-
ammen – heute debattieren wir erneut, welche Voraus-
etzungen wir für dieses Zusammenwachsen selbst
chaffen müssen. Der uns von der Bundesregierung sehr
urzfristig vorgelegte Gesetzentwurf dient nicht nur der
msetzung von EU-Vorgaben zur Einführung der Euro-
äischen Genossenschaft. Mit dem zu beratenden Ent-
urf soll nach dem Willen der Bundesregierung auch die
ttraktivität der deutschen Rechtsform der eingetrage-
en Genossenschaft erhöht werden.
Zunächst möchte ich einige Worte zum Zeitablauf der
nstehenden Beratungen sagen: Für das In-Kraft-Treten
es Gesetzentwurfs ist durch die Umsetzungsfristen der
U der 18. August 2006 vorgesehen. Die Verordnung
nd die korrespondierende Richtlinie, die für die Euro-
äische Genossenschaft und deren Regelungen der Ar-
eitnehmerbeteiligung den rechtlichen Rahmen setzen,
urden vom Rat der EU bereits am 22. Juli 2003 ver-
ündet. Sie traten am 21. August 2003 in Kraft. Trotz-
em benötigte die Bundesregierung circa 32 Monate, um
en Entwurf vorzulegen. Und nun sind für die parlamen-
arischen Beratungen noch vier Monate mit gerade mal
ünf Sitzungswochen übrig. Ich hoffe, dass Sie – meine
erehrten Kolleginnen und Kollegen – zu sehr konstruk-
iven und weltoffenen Beratungen bereit sind, um die
tolperfallen dieses Gesetzentwurfs auszubessern!
2758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
(A) )
(B) )
Nun komme ich zum Inhalt des Gesetzes. Wie bereits
erwähnt, sind zwei große Themenkomplexe zu bespre-
chen: einmal die Einführung der Europäischen Genos-
senschaft und zum Zweiten die Novelle des deutschen
Genossenschaftsgesetzes – denn so soll das „Gesetz be-
treffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“
künftig genannt werden.
Zunächst einige Worte zum ersten Themenkomplex:
Die Europäische Genossenschaft soll unter anderem
dazu dienen, Anreize für ausländische Investitionen zu
setzen. Ob dies gelingt, wird die Zukunft zeigen. Durch
die für die Europäische Genossenschaften geschaffene
Möglichkeit, für die Unternehmensverfassung zwischen
dem monistischen und dem dualistischen System zu un-
terscheiden, erhalten Gründungs- und Verschmelzungs-
willige die Wahl zwischen dem Modell mit Aufsichtsrat
und Vorstand und dem Modell, das eher dem angelsäch-
sischen Board-System – hier nun Verwaltungsrat ge-
nannt – gleicht. Dadurch könnte grundsätzlich ein größe-
res Vertrauen entstehen, da einigen ausländischen
Investoren das monistische System bekannter ist.
Umso mehr erstaunt es, dass dieser Anreiz durch die
Regelungen zur Mitbestimmung im selben Federstrich
wieder zunichte gemacht wird. Denn die deutsche Mit-
bestimmung soll unverändert auf die Europäische Ge-
nossenschaft übertragen werden. Nach den Vorgaben der
EU soll die Gründung einer Europäischen Genossen-
schaft nicht zu einer Beseitigung oder Einschränkung
der Beteiligung von Arbeitnehmern in Organen der Ge-
nossenschaft führen. Diesem Gebot der EU fühlen wir
Liberale uns verpflichtet. Die Bundesregierung plant je-
doch eine Ausweitung der Mitbestimmung. Zur Verdeut-
lichung des Zusammenhangs: Bei der Übernahme der
deutschen Mitbestimmung in das dualistische System
gibt es keine erwähnenswerte Veränderung bezüglich der
Beteiligung der Arbeitnehmer. Die Übernahme der Mit-
bestimmung in das monistische System bedeutet jedoch
eine ernorme Ausdehnung der Mitbestimmung auf die
Leitung des unternehmerischen Geschäfts. Ist bisher
nach deutschen Gesetzen die Mitbestimmung auf das
Organ eines Unternehmens beschränkt, welches kontrol-
lierend und überwachend tätig ist – nämlich den Auf-
sichtsrat –, bleibt das Leitungsorgan mitbestimmungs-
frei. Im monistische System haben wir aber „nur“ den
Verwaltungsrat. Dieser erfüllt neben den Aufgaben der
Überwachung und Kontrolle auch die Aufgabe der Lei-
tung des Unternehmens. Damit plant die Bundesregie-
rung, die Mitbestimmung bis in das Leitungsorgan der
Europäischen Genossenschaft auszudehnen. Meine Da-
men und Herren von der CDU/CSU: Dies haben Sie vor
anderthalb Jahren bei der Einführung der Europäischen
Aktiengesellschaft noch zusammen mit uns heftigst be-
kämpft!
Und wer die Hoffnung hatte, die Bundesregierung
würde daraus lernen, dass die Europäische Aktiengesell-
schaft gerade wegen dieser Mitbestimmungsregelungen
nicht zu einem Investitionsschlager geworden ist, wird
wohl heute wieder eines Besseren belehrt. Wer sich von
den Schwierigkeiten der Gründung einer Europäischen
Aktiengesellschaft überzeugen möchte, dem empfehle
ich an dieser Stelle einen Artikel der „FAZ“ von gestern
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it dem Titel „Die Europa AG ist eine Mutprobe“, der
räzise die Schwierigkeiten bei der Umwandlung der Al-
ianz in eine Societas Europaea beschreibt.
Zurück zur Europäischen Genossenschaft: Die deut-
che Mitbestimmung ist kein Exportschlager; wenn wir
ie auf Leitungsfunktionen ausdehnen, wird dies auslän-
ische Investoren abschrecken, nicht aber zu Investitio-
en ermuntern. Wer Arbeitsplätze durch die Europäische
enossenschaft schaffen will, wird sich mit uns Gedan-
en darüber machen müssen, wie wir eine solche von der
U nicht geforderte Ausweitung der Mitbestimmung
erhindern!
Ich komme nun zu den geplanten Änderungen des
eutschen Genossenschaftsgesetzes. Genossenschaften
ind ein liberales Modell – sie verkörpern die Prinzipien
er Selbsthilfe, der Selbstverwaltung und der Selbstver-
ntwortung. Wir Liberalen haben daher ein großes Inte-
esse daran, die Attraktivität der Rechtsform der Genos-
enschaft zu erhöhen. Daher begrüßen wir ausdrücklich
ie Erweiterung des Förderungszwecks auf soziale und
ulturelle Zwecke.
In der ersten Lesung möchte ich nur einige Kritik-
unkte zu dem Entwurf ansprechen:
Über die Schwellenwerte zur Einberufung der Gene-
alversammlung zur Beschlussfassung über die Abschaf-
ung der Vertreterversammlung in § 43 a Abs. 7 GenG
nd zur unverzüglichen Einberufung zur Generalver-
ammlung in § 45 GenG müssen wir dringend reden. Es
ann nicht sein, dass zum Beispiel bei einer Genossen-
chaft mit 40 000 Mitgliedern bereits 0,38 Prozent der
itglieder die Einberufung der Generalversammlung er-
wingen können – dies entspricht den im Gesetzentwurf
orgesehenen 150 Mitgliedern. Und eine 40 000 Mit-
lieder starke Genossenschaft zählt nicht einmal ansatz-
eise zu einer der größten Genossenschaften in
eutschland – die größten Genossenschaften haben un-
er Umständen mehrere hunderttausend Mitglieder!
Ein anderer Punkt, der uns Liberale kritisch stimmt,
st die Streichung von fünf Worten in § 31 Abs. l Satz 2
enG. Hatte bisher ein Mitglied einer Genossenschaft
as Recht, eine Abschrift der Mitgliederliste „hinsicht-
ich der ihn betreffenden Eintragungen“ zu erhalten, soll
as Mitglied nun eine vollständige Abschrift erhalten
önnen. Bereits aus datenschutzrechtlichen Gründen
uss man dies kritisch beurteilen. Denn in dieser Mit-
liederliste sind nicht nur die Namen der Mitglieder auf-
eführt, sondern zum Beispiel auch die Anzahl der Ge-
chäftsanteile. Hier wird in den Beratungen das
rundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu
eachten sein.
Die Mehrstimmrechtsregelung in § 43 Abs. 3 GenG
edarf der Überarbeitung. So ist die Erweiterung für Un-
ernehmergenossenschaften zu begrüßen; nicht nachvoll-
iehbar ist dagegen, warum die bestehenden Regelungen
ür Nicht-Unternehmergenossenschaften oder Zentralge-
ossenschaften gestrichen werden sollen.
Auch über die Anfechtungsbefugnis außen stehender
itglieder (§ 51 Abs. 2 Satz 3 GenG) und die Grenzen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2759
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für die Befreiung von der Jahresabschlussprüfung (§ 53
Abs. 3 GenG) werden wir reden müssen.
Sie sehen, es gibt viel zu tun, damit aus diesem Ge-
setzentwurf noch ein rundum gutes, innovatives und
zielführendes Gesetz wird!
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Bundesregierung
schlägt Änderungen des Genossenschaftsrechts vor. Und
tatsächlich: Im Titel kommt es noch vor, das Wort Ge-
nossen. Ansonsten wird das Wort durch den Gesetzent-
wurf abgeschafft – rund 90-mal wird es explizit durch
das Wort Mitglieder ersetzt. Genossen haben nach Mei-
nung der Bundesregierung offenbar nichts mehr zu su-
chen in ihren Genossenschaften.
Das ist mehr als eine Formalie. Das Streichen der Ge-
nossen offenbart nämlich, was die Regierung unter Mo-
dernisierung des Genossenschaftsrechts eigentlich ver-
steht: Die Genossenschaften sollen kompatibel werden
mit dem globalisierten Kapitalismus. Es geht der Regie-
rung weniger um die Stärkung des Genossenschaftsge-
dankens, um Solidarität und innerbetriebliche Demokra-
tie. Es geht ihr zu allererst um die Wettbewerbsfähigkeit
von Genossenschaften in Konkurrenz zu anderen
Rechtsformen. Und diese Wettbewerbsfähigkeit soll
durch eine schleichende Angleichung des Genossen-
schaftsrechts an die Regeln für Kapitalgesellschaften ge-
schaffen werden.
Damit schließt sich die Regierung der Europäischen
Kommission an, die schon 2004 forderte, die Vorschrif-
ten für Genossenschaften müssten „auch ihren Bedürf-
nissen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen einer
modernen Marktwirtschaft“ gerecht werden. Aber die
wachsende Ähnlichkeit von Genossenschaften und Ak-
tiengesellschaften zeigt sich nicht nur bei der – mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf ja auch eingeführten –
neuen Rechtsform der Europäischen Genossenschaft.
Auch die Genossenschaften nach deutschem Recht er-
halten zukünftig Merkmale, die dem ursprünglichen
Charakter des Genossenschaftswesens zuwiderlaufen,
insbesondere: die Öffnung für investierende Mitglieder.
In § 8 Abs. 2 des neuen Genossenschaftsgesetzes soll es
zukünftig heißen: „Die Satzung kann bestimmen, dass
Personen, die für die Nutzung oder Produktion der Güter
und die Nutzung oder Erbringung der Dienste der Ge-
nossenschaft nicht infrage kommen, als investierende
Mitglieder zugelassen werden können.“ Damit wird der
Verwandlung von Genossenschaften in profitorientierte
Unternehmen Tür und Tor geöffnet.
Sicherlich, die Einführung von investierenden Mit-
gliedern ist eine Kannvorschrift. Auch sollen verschie-
dene Einschränkungen dafür sorgen, dass Investoren die
Entscheidungsfindung innerhalb der Genossenschaft
nicht zu sehr beeinflussen können. Dennoch: Wer wird
verhindern, dass finanzstarke Investoren den Genossin-
nen und Genossen ihren Willen aufzwingen oder durch
vermeintlichen betriebswirtschaftlichen Sachverstand
schmackhaft machen? Alleine die Bezeichnung „Inves-
tierende Mitglieder“ zeigt schon, worum es diesen Mit-
gliedern vor allem gehen wird: um eine ordentliche Divi-
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ende. Damit besteht die akute Gefahr, dass der
igentliche Zweck von Genossenschaften – die Förde-
ung der nutzenden Mitglieder – einem neuen Zweck
eichen muss: dem Wachstum des angelegten Kapitals
er investierenden Mitglieder. Genossenschaftsanteile
ichern den Genossinnen und Genossen dann mitunter
icht mehr eine angemessene Wohnraumversorgung,
ondern allenfalls eine marktübliche Verzinsung. Gerade
etzt sind Finanzinvestoren landauf, landab unterwegs,
m die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften zu
aufen. Jetzt sollen den Heuschrecken auch noch die Ge-
ossenschaften angeboten werden? Wo bleibt ihre Kritik
n der Heuschreckenplage, verehrte Kolleginnen und
ollegen der SPD? Und vor allem: Wo bleiben die Kon-
equenzen? Diese Änderung lehnen wir ab.
Auch in der Landwirtschaft gilt es, das Genossen-
chaftsmodell zu bewahren, das insbesondere in Ost-
eutschland stark verankert ist. Dieses Modell ist den
eränderungen durch die Agrarpolitik der EU und WTO
ut gewachsen. Eine Öffnung für nicht nutzende Inves-
oren oder gar die Einführung eines an die Höhe der Be-
eiligung gekoppelten Mehrstimmrechts, wie es von in-
eressierter Seite gefordert wird, wäre kontraproduktiv.
Sicherlich, Einzelpunkte des Gesetzentwurfs sind
uch zu begrüßen, etwa dass künftig nur drei anstatt sie-
en Mitglieder eine Genossenschaft gründen können
der die Erweiterung des Zwecks von Genossenschaften
m soziale und kulturelle Ziele. Auch dass Mehrstimm-
echte zukünftig nur bei Unternehmensgenossenschaften
öglich sind, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir wollen, dass der Genossenschaftsgedanke insge-
amt weiter gestärkt wird. Innerbetriebliche Demokratie
nd gleichberechtigte Kooperation in Genossenschaften
ind Werte, die wir verteidigen. Statt diese Werte im
inne der Konkurrenzfähigkeit abzubauen, müssen Ge-
ossenschaften endlich angemessen gefördert werden,
amit die Genossenschaft auch zukünftig eine Genos-
enschaft bleibt und nicht zu einer „Shareholderschaft“
utiert.
Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf zur Einfüh-
ung der Europäischen Genossenschaft und zur Ände-
ung des Genossenschaftsrechts erfährt grundsätzlich die
ustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das
orliegende Regelwerk ist gleichsam ein Schritt nach
orne für die bestehenden Genossenschaften und im
rinzip eine Existenzgründerinitiative wie auch ein
ichtiger Beitrag im Sinne des Corporate-Governance-
edankens der e. G.
Die Novellierung des Genossenschaftsgesetzes ist seit
angem von der Genossenschaftspraxis gefordert wor-
en. Sie ist gleichzeitig eine Modernisierung und eine
ückbesinnung auf den genossenschaftlichen Grundge-
anken. Die genossenschaftliche Rechtsform wird als
rganisationsform für die gemeinschaftliche Selbsthilfe
it den Neuerungen des deutschen Genossenschafts-
echts gestärkt.
2760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
(A) )
(B) )
Es werden gerade für Existenzgründer und -gründe-
rinnen neue Möglichkeiten über eine neue Rechtsform
geschaffen. Die geplanten Änderungen im Genossen-
schaftsrecht – „eingetragene Genossenschaft“, e. G. –
lassen für Firmengründer zukünftig eine interessante
weitere Alternative bei der Wahl der Rechtsform entste-
hen. Das ist einer der wichtigsten Neuerungen und das
gilt es zu unterstreichen und zu unterstützen.
Es ist gut, den Genossenschaftsgedanken zu stärken.
Genossenschaften hatten und haben eine besondere Be-
deutung als Instrument der Selbsthilfe. In letzter Zeit
werden verstärkt soziale Betriebe als Initiativen von Ar-
beitslosen in Form von Genossenschaften gegründet.
Die Eckpfeiler des Genossenschaftsprinzips, wie zum
Beispiel Dezentralität, Selbsthilfe, Selbstorganisation
und demokratische Selbstverwaltung finden ihre Ent-
sprechung auch in der Wirtschaft. Diese Prinzipien ha-
ben eine große Bedeutung für Bündnis 90/Die Grünen.
Genossenschaften sind die geeignete Rechtsform, um
unternehmerisches Handeln und soziale Verantwortung
zu verbinden.
Im Einzelnen bewerte ich die Gesetzesänderungen in
folgenden Bereichen wie folgt: Die Gründung von Ge-
nossenschaften soll erleichtert und die allgemeinen Rah-
menbedingungen gerade für kleine Genossenschaften
sollen verbessern werden. Zum Beispiel wird die Min-
destmitgliederzahl von sieben auf drei gesenkt. Die
Rechtsform der Genossenschaft wird auch für soziale
oder kulturelle Zwecke geöffnet. Besonders wichtig für
kleine Genossenschaften ist die Ausnahme von der Prü-
fung des Jahresabschlusses bei Genossenschaften mit ei-
ner Bilanzsumme bis zwei Millionen Euro.
Bemerkenswert ist außerdem, dass die Genossen-
schaft künftig auch soziale Förderzwecke verfolgen
kann. Bisher war die deutsche Genossenschaft wirt-
schaftlichen Zwecken vorbehalten. Bisher waren hier
unter anderem die Prüfungspflichten sehr umfangreich
und kostspielig. Das führte dazu, dass die vielen Grup-
pen, wie zum Beispiel Weltläden, Schulen und Arbeits-
loseninitiativen, diese Rechtsform nicht für ihre Organi-
sation gewählt haben. Mit der Novellierung bieten wir
diesen Organisationen und Einrichtungen die Möglich-
keit, anstatt eines Vereins eine Genossenschaft zu grün-
den. Die Prüfungspflichten von kleinen Genossenschaf-
ten – Jahresbilanz von 2 Millionen Euro – werden
reduziert. Wir begrüßen diese Reduzierung. Damit wird
insbesondere den Neugründungen von Genossenschaf-
ten ein Weg geebnet und die Gründungsvoraussetzungen
werden erleichtert. Die Kompensation der Einnahmever-
luste der Prüfungsverbände kann durch Übernahme der
operativen Buchführung kompensiert werden.
Für die Regelung der Prüfung ist entscheidend, ob
und in welchem Maße die Rechtsform der Genossen-
schaft sich tatsächlich für Neugründungen aus kleineren
Personenzusammenschlüssen eignet. Es ist entschei-
dend, dass aus der Sicht der Rechtsformnutzer den Grün-
derinnen und Gründern wegen unverhältnismäßiger
Kostenbelastungen keine Diskriminierung gegenüber
anderen Rechtsformen wie zum Beispiel der GmbH ent-
steht. Gerade in den ersten Jahren ist eine Belastung mit
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usätzlichen Kosten nicht vertretbar. Kosten für Prüfun-
en, die in keiner Relation zu dem oft nicht sehr hohen
igenkapital stehen, wirken sich für Neugründungen an-
ernfalls kontraproduktiv aus.
Dass Genossenschaften mit einer Bilanzsumme bis zu
Million Euro keine Prüfung des Jahresabschlusses
ehr brauchen, ist die richtige Richtung. Wünschens-
ert wäre es gewesen, dass die kleinen Genossenschaf-
en wie alle anderen Unternehmensrechtsformen nur den
rüfungsvorschriften des HGB unterliegen. Kleine Ka-
italgesellschaften gelten demnach als solche, die min-
estens zwei der drei Merkmale gemäß § 267 Abs. l
GB nicht überschreiten, das heißt, bei denen nicht
leichzeitig der Umsatz über 8 030 000 Euro, die Bi-
anzsumme nicht über 4 015 000 Euro und die Zahl der
eschäftigten unter 50 liegt. Genossenschaften in dieser
rößenordnung unterliegen weiterhin einer zweijährigen
rüfung von Vermögenslage, Geschäftsführung und Mit-
liederliste durch den Verband.
Ideen aus der im Aktienrecht geführten Corporate-
overnance-Diskussion werden auf den Genossen-
chaftsbereich übertragen. Dazu gehört zum Beispiel die
tärkung der Rolle des Aufsichtsrats oder die Verbesse-
ung der Informationsversorgung und der Einflussmög-
ichkeiten der Mitglieder, insbesondere wenn eine Ver-
reterversammlung besteht.
Die Stärkung der Informationsrechte der Mitglieder
st ein weiterer wichtiger Schritt, den Corporate-Gover-
ance-Gedanken in die Genossenschaften zu tragen und
ort zu verankern. Das Recht, das jedes Mitglied erhält,
n der Generalversammlung Einblick in das zusammen-
efasste Prüfergebnis zu nehmen, sollte auch bei Beste-
en einer Vertreterversammlung Gültigkeit haben.
Das Genossenschaftsrecht kann zum Schrittmacher
ei der Etablierung moderner Kommunikationsstruktu-
en werden. „Die Satzung kann zulassen, dass Be-
chlüsse der Mitglieder schriftlich oder in elektronischer
orm gefasst werden“. Das besagt der Regierungsent-
urf des neuen § 43 Abs. 7 GenG. In der Begründung
ird ausgeführt: Die Satzung „muss durch ein entspre-
hendes Regelwerk sicherstellen, dass die Rechte alter
itglieder gewahrt und die Ordnungsmäßigkeit der
timmabgabe gewährleistet ist. Unter diesen Vorausset-
ungen ist auch die Durchführung einer virtuellen Gene-
alversammlung per Internet denkbar; in der Praxis wird
ies aber derzeit nur in seltenen Ausnahmefällen, zum
eispiel bei einer Genossenschaft aus dem IT-Bereich,
n Betracht kommen“.
Im Aktienrecht wurde in den letzten Jahren viel er-
eicht (Dokumentation): Wenn die Satzung das vorsieht,
ann elektronische Bevollmächtigung stattfinden
§ 134 III 2 AktG), die Hauptversammlung kann in Ton
nd Bild übertragen werden (§ 118 III AktG), Aufsichts-
atsmitglieder können per Videozuschaltung teilnehmen
§118 II 2 AktG). Aber eine Abwicklung der Angelegen-
eit nur im virtuellen Raum ist wohl nicht möglich. Das
etzt zur Reform anstehende Recht der Genossenschaft
eht da einen wesentlichen Schritt weiter. Ich begrüße
as und bin gespannt auf die Entwicklungen in den Ge-
ossenschaften.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2761
(A) )
(B) )
Der Gesetzentwurf erleichtert die Kapitalbeschaffung
und -erhaltung bei Genossenschaften, zum Beispiel in-
dem eine Sachgründung zugelassen wird, ein Mindest-
kapital eingeführt werden kann und in dem rein investie-
rende Mitglieder zugelassen werden können.
Die neuen Regularien bieten Anreize für genossen-
schaftliche Neugründungen. Diese können und müssen
flankiert werden, indem hier in den ersten fünf Jahren
Unterstützungen gegeben werden. Dadurch kann sicher-
gestellt werden, dass die geringe Insolvenzzahl bei Ge-
nossenschaften weiterhin durch qualifizierte Beratung zu
erreichen ist. Wir brauchen Gleichbehandlung von Ge-
nossenschaften gegenüber anderen Unternehmensfor-
men, was zum Beispiel die Vergabe von Förderkrediten
angeht. Genossenschaften sollten bei der Förderung zum
Beispiel durch öffentliche Kredite der bundeseigenen
KfW gegenüber anderen Rechtsformen kleiner und mitt-
lerer Unternehmen nicht benachteiligt werden.
Schließlich ist das altehrwürdige Genossenschaftsge-
setz auch sprachlich zu modernisieren. Zum Beispiel
wird die Bezeichnung „der Genosse“ durch die ge-
schlechtsneutrale und schon jetzt in der Praxis gebräuch-
liche Bezeichnung „Mitglied der Genossenschaft“ er-
setzt. Diese Modernisierung auch und gerade im
Sprachgebrauch kann ich nachhaltig unterstützen.
Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus die erfor-
derlichen Regelungen für eine neue, supranationale
Rechtsform: die Europäische Genossenschaft. Grund-
lage sind zwei EU-Rechtsakte vom Sommer 2003: eine
Verordnung, die unmittelbar in den Mitgliedstaaten gilt,
und eine Richtlinie über die Beteiligung der Arbeitneh-
mer, die bis August 2006 in nationales Recht umzuset-
zen ist. Durch attraktive Ausführungsvorschriften im
deutschen Recht soll ein Anreiz geboten werden, dass
eine neu gegründete Europäische Genossenschaft ihren
Sitz in Deutschland nimmt. Wir erhalten damit eine neue
supranationale Rechtsform: die Europäische Genossen-
schaft. Bündnis 90/Die Grünen werden darauf achten,
dass die Europäische Genossenschaft in der Praxis nicht
dafür genutzt wird, Mitbestimmungsrechte auszuhebeln.
Abschließend und zusammenfassend will ich festhal-
ten, dass die Erleichterung der Prüfungspflichten für
kleine Genossenschaften zu begrüßen ist, weil sie die
Gründungsvoraussetzungen für Genossenschaften er-
leichtert. Die Minderheitenrechte zu stärken ist ein fol-
gerichtiger Schritt. Die Funktionsfähigkeit großer Wirt-
schaftsgenossenschaften wie zum Beispiel Volks- und
Raiffeisenbank wird gewährleistet.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Ihnen liegt heute zur
1. Lesung der Entwurf eines Gesetzes zur Einführung
der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des
Genossenschaftsrechts vor. Mit diesem Gesetz werden
die deutschen Rechtsvorschriften für eine neue Rechts-
form geschaffen: für die Europäische Genossenschaft.
Diese neue Rechtsform soll Genossenschaften in der EU
die grenzüberschreitende Betätigung erleichtern. Zur
Einführung der Europäischen Genossenschaft muss der
deutsche Gesetzgeber bis August 2006 Ausführungsvor-
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chriften zu der entsprechenden EU-Verordnung erlassen
nd die begleitende Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteili-
ung in deutsches Recht umsetzen.
Meine Damen und Herren – der rechtspolitische
chwerpunkt des Entwurfs liegt allerdings woanders,
ämlich bei den Änderungen des deutschen Genossen-
chaftsgesetzes. Ziel ist es, das Genossenschaftsrecht
nsgesamt moderner und attraktiver zu machen. Hier geht
s insbesondere darum, die Gründung von Genossen-
chaften zu erleichtern und die allgemeinen Rahmenbe-
ingungen gerade für kleine Genossenschaften zu ver-
essern. So wird zum Beispiel die Mindestmitgliederzahl
on sieben auf drei abgesenkt. Die Rechtsform der Ge-
ossenschaft wird geöffnet auch für soziale oder kultu-
elle Zwecke. Besonders wichtig für kleine Genossen-
chaften ist die vorgesehene Ausnahme von der Prüfung
es Jahresabschlusses bei Genossenschaften mit einer
ilanzsumme bis zwei Millionen Euro. Diese Grenze
ird teils als zu hoch, teils als zu niedrig kritisiert. Wir
erden, wie vom Bundesrat erbeten, prüfen, ob die Ab-
renzung nach der Bilanzsumme durch weitere Größen-
erkmale ergänzt werden sollte.
Weitere wichtige Änderungen betreffen die Übertra-
ung von Elementen aus der im Aktienrecht geführten
orporate Governance-Diskussion auf den Genossen-
chaftsbereich. Dazu gehört zum Beispiel die Stärkung
er Rolle des Aufsichtsrats oder die Verbesserung der In-
ormationsversorgung und der Einflussmöglichkeiten
er Mitglieder, insbesondere bei Bestehen einer Vertre-
erversammlung. Die hierbei vorgeschlagenen Minder-
eitenrechte für Mitglieder sind teilweise auf heftige
ritik gestoßen, weil ein rechtsmissbräuchliches Aus-
utzen dieser Rechte befürchtet wird. Ich möchte hier zu
iner sachlichen Diskussion aufrufen. Die Genossen-
chaft gehört den Genossen – bzw. den Mitgliedern, wie
ie zukünftig heißen werden – und deshalb halte ich es
ach wie vor für einen sinnvollen Ansatz, die Rechte
erjenigen, um deren Anteile es geht, zu stärken – auch
enn Vorstände und Vertreter das vielleicht nicht so
erne sehen. Ich bin offen dafür, dass hier auch nach Al-
ernativen gesucht wird. Denn es muss klar sein: die In-
ormations- und Teilhaberechte der Mitglieder dürfen
icht zu einer missbräuchlichen Verwendung verleiten
nd nicht zu unangemessenen Belastungen für die Ge-
ossenschaft führen. Lassen Sie uns gemeinsam darauf
inwirken, dass die Attraktivität der Genossenschaft ge-
tärkt wird und diese mehr in die öffentliche Wahrneh-
ung rückt. Denn gerade heute kann die Genossenschaft
bei der sich regelmäßig unternehmerische Initiative,
elbsthilfe und soziale Orientierung miteinander verbin-
en – für viele kleine Unternehmen die richtige Rechts-
orm sein. Zu Unrecht wird die Genossenschaft oft als
ltmodische, „verstaubte“ Rechtsform empfunden, und
eider ist die Anzahl der Genossenschaften seit Jahren
ückläufig. Ich wünsche mir daher, dass dieser Gesetz-
ntwurf deutlich macht: die Genossenschaft ist eine den
nsprüchen des modernen Wirtschaftslebens gerecht
erdende Unternehmensform. Und ich hoffe, dass der
esetzentwurf dazu beiträgt, dass bei Neugründungen
on Unternehmen künftig vermehrt die Rechtsform der
enossenschaft gewählt wird.
2762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
(A) )
(B) )
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Gegen rechtsstaatsfreie Räume – Sicher-
heitsüberprüfungen im Rahmen von Akkre-
ditierungsverfahren bedürfen einer Rechts-
grundlage
– Kein Generalverdacht bei den Sicherheits-
überprüfungen zur Fußballweltmeister-
schaft 2006
(Tagesordnungspunkt 20 a und b)
Beatrix Philipp (CDU/CSU): Die Fußball-WM 2006
ist ein Ereignis, auf das sich die Welt, zumindest die
„Fußballwelt“, besonders freut.
„Zu Gast bei Freunden“ – ein Motto, das bereits eine
positive Stimmung assoziiert: Freundschaftlich soll es
zugehen, Gäste sollen sich wohl fühlen, und als Gastge-
ber müssen wir alles tun, damit die Gäste sich auch wohl
fühlen können.
Aber neben der Freude ist mit diesem Großereignis
auch eine ungeheuere Verantwortung verbunden, die die
FIFA und auch wir als gastgebendes Land zu überneh-
men haben.
Um dieses Großereignis gegen alle denkbaren – und
möglichst auch gegen alle fast undenkbaren – Gefahren
abzusichern, laufen im organisatorischen und besonders
im sicherheitspolitischen Bereich seit langem die Vorbe-
reitungen auf Hochtouren.
Dabei muss im Bereich der Sicherheitsmaßnahmen
ein Maximum an Vorkehrungen getroffen werden und
zugleich ein Minimum an Belästigungen für die Gäste
gewährleistet sein.
Und dennoch wissen alle, dass es wahrscheinlich un-
vermeidlich sein wird, dass es zu Einschränkungen oder
auch Behinderungen kommen kann. Kurz: Alle werden
auf viel Verständnis bauen müssen und auf das Wissen,
dass es keine Alternativen gibt, wenn die Verantwortli-
chen das Gefühl haben wollen, alles Menschenmögliche
getan zu haben.
Wer die Verantwortung trägt, wird erst aufatmen kön-
nen, wenn die WM ohne große Zwischenfälle zu Ende
gegangen ist.
Jeder, der sich ein wenig mit dieser Problematik be-
fasst hat, wird wissen, dass die Fußball-WM ein Ereignis
ist, das mit bisherigen – und vielleicht auch zukünfti-
gen – nicht zu vergleichen ist: Es sind die Millionen von
Menschen, die kommen, es sind die Veranstaltungsorte
– die Stadien –, es sind die An- und Abfahrten, die Zu-
und Abgänge, die einer besonderen Aufmerksamkeit un-
ter Sicherheitsaspekten bedürfen. Diese Szenarien sind
uns aber geläufig und überschaubar.
Dies trifft aber überhaupt nicht zu für jede größere
Menschenansammlung, die erfahrungsgemäß vor unzäh-
ligen Großbildleinwänden beim – wie es so schön heißt
„
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public viewing“ – anzutreffen ist und die vielen Spon-
antreffen, von denen man ausgehen muss.
Das bedeutet, dass wenig planbar und sehr flexibel
uf solche Menschenansammlungen reagiert werden
uss.
Da, wo es Auflagen gibt, wie zum Beispiel am Breit-
cheidplatz, trifft man sehr schnell auf Unverständnis
nd heftige Reaktionen, wie man der heutigen Berliner
orgenpost entnehmen kann.
Die Zahl der notwendigen Sicherheitskräfte wird alles
isher Dagewesene in den Schatten stellen.
Und nur so – und nicht anders – war die ständige
ahnung unseres Innenministers Dr. Schäuble zu ver-
tehen, dass man auch an die Grenzen der eigenen Kapa-
ität stoßen und daher der Einsatz der Bundeswehr not-
endig werden könnte. Aber dieses Thema ist, wie man
o schön sagt, „durch“. Alle werden viel Verständnis
ufbringen müssen!
Wir befassen uns heute mit einem Teilaspekt dieser
icherheitsvorkehrungen, nämlich mit der Sicherheits-
berprüfung aller, die in irgendeiner Funktion Zutritt zu
en Veranstaltungsorten haben wollen. Darunter fallen
lle ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen der Hilfsor-
anisationen, die hauptberuflichen Sicherheitskräfte, die
ervicekräfte in der Gastronomie, die Mitarbeiter und
itarbeiterinnen der Reinigungsfirmen und schließlich
last, but not least – geht es auch um das Akkreditie-
ungsverfahren von Journalisten und Journalistinnen,
as kritisiert wird.
Es geht also nicht um die „Glücklichen“, die im Be-
itz einer Eintrittskarte sind.
Bei den Funktionsträgern handelt es sich um die nicht
eringe Anzahl von 220 000 bis 250 000, von denen je-
er Einzelne sicherheitsüberprüft wird. Dazu muss jeder
orab eine freiwillige Einwilligungserklärung unter-
eichnen, in der er sich mit einer Sicherheitsüberprüfung
inverstanden erklärt hat. Dieser Einwilligung muss eine
mfassende Information vorausgehen.
Zitat:
„Nach dem Bundesdatenschutzgesetz (§ 4 Abs. 1
und § 4 a Abs. 1) bzw. den entsprechenden landes-
rechtlichen Vorschriften ist die Erhebung und Ver-
arbeitung personenbezogener Daten unter anderem
dann zulässig, wenn der Betroffene seine Einwilli-
gung erklärt hat.
Vor der Erklärung der Einwilligung ist der Betrof-
fene über die Datenverwendung umfassend aufzu-
klären. Eine solche „informierte Einwilligungs-
erklärung stellt die rechtliche Grundlage für die
Erhebung und Verarbeitung der personenbezogenen
Daten im Rahmen des Akkreditierungsverfahrens
für die FIFA Fußball-WM 2006 dar.“
Dieser Auffassung der Bundesregierung, die sie im
ebruar 2006 bereits schriftlich in der Beantwortung der
leinen Anfrage zum Ausdruck brachte, schließen wir
ns vollinhaltlich an, ebenso den Antworten auf die vie-
en Fragen, die dort gestellt wurden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2763
(A) )
(B) )
Den Anforderungen des Datenschutzgesetzes ist die
FIFA in sehr umfassender Weise nachgekommen. Inso-
fern ist überhaupt nicht nachvollziehbar, – um es vor-
sichtig auszudrücken – wenn im Antrag der FDP von
„rechtsfreien Räumen“ und im Antrag der Grünen von
„Generalverdacht bei der Sicherheitsüberprüfung“ ge-
sprochen wird.
Wie gesagt, in einer eigens für die WM herausgege-
benen Datenschutzinformation der FIFA wird auf sechs
Seiten peinlichst genau darüber informiert, dass die er-
hobenen personenbezogenen Daten elektronisch erfasst
werden, dass sie spätestens im September 2006 gelöscht
werden und ausschließlich dafür verarbeitet und genutzt
werden, um über die Erteilung des Zutrittsrechtes und
dessen Umfang zu entscheiden und die Einhaltung der
entsprechenden Beschränkungen zu kontrollieren.
Auch da, wo sich der Deutsche Fußballbund externer
Dienstleister bedient, wird die Einhaltung des Daten-
schutzes vertraglich sichergestellt. Die Datenschutz-
rechte – insbesondere Auskunfts- und Berichtigungs-
rechte – sind ebenso gewahrt, wie die bis ins Detail
gehenden Informationen über die Verarbeitung der Da-
ten, die Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern,
dem Bundeskriminalamt, der Bundespolizei, dem Bun-
desamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrich-
tendienst, soweit es sich um ausländische Staatsangehö-
rige mit Wohnsitz im Ausland handelt.
Jeder findet in dieser Information der FIFA den Inhalt
der Zuverlässigkeitsprüfung, die Auflistung der Daten,
die zur Prüfung herangezogen werden, die Kriterien, die
für die Entscheidung maßgeblich sind und die Angaben
zum Verfahren bei etwaigen Bedenken.
Mehr Transparenz während eines solchen Akkreditie-
rungsverfahrens bei einer Größenordnung von circa
250 000 Menschen ist nicht denkbar.
Es ist selbstverständlich auch der Weg beschrieben,
der gegangen werden kann, wenn die Akkreditierung
nicht erfolgen sollte.
In den vielen vorbereitenden Sitzungen ist über die
Frage, ob nicht der Kreis der zu Überprüfenden kleiner
sein könnte, genauso gesprochen worden, wie über die
Gründe, die zu einer Ablehnung der Akkreditierung füh-
ren.
Das sind in der Hauptsache schwere Verstöße im
strafrechtlichen Bereich. Diese Verstöße müssen aber
eine Sicherheitsgefahr für das konkrete Ereignis Fuß-
ball-WM bergen, das heißt es erfolgt in jedem einzelnen
Fall eine Einzelabwägung!
Sehr schwerwiegend und mit hohem Gefährdungspo-
tenzial werden zum Beispiel solche Personen gewertet,
die im extremistischen Propagandabereich auffällig ge-
worden sind. Das ist eines der wenigen Kriterien, das re-
lativ sicher zu einem negativen Votum über die betrof-
fene Person führen wird, und das ist meiner Meinung
nach nachvollziehbar.
Ziel ist also eine effiziente Gefahrenabwehr, soweit
dies nach menschlichem Ermessen überhaupt möglich
ist.
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Wir müssen also abwägen zwischen dem Schutzgut
er öffentlichen Sicherheit, das bei einem Großereignis
ieser Art per se gefährdet ist, und etwaigen Grundrech-
en einzelner Betroffener, die durch das Akkreditie-
ungsverfahren von der Teilnahme im Sicherheitsbereich
usgeschlossen werden.
Bei einer Veranstaltung wie der WM ist für uns der
chutzpflicht des Staates – bei aller Abwägung – absolu-
er Vorrang einzuräumen.
In den beiden Anträgen ist immer wieder die Rede
on einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte, des
echts auf informationelle Selbstbestimmung und nicht
uletzt der Berufs- und – im Falle der Journalisten – der
ressefreiheit und von möglichen Nachteilen, die dann
ntstünden, wenn jemand seine Zustimmung nicht er-
eilt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein verantwor-
ungsvoll arbeitender Journalist oder eine ebensolche
ournalistin es nicht einsieht, dass das Bemühen um
rößtmögliche Sicherheitsbedingungen für die WM es
otwendig macht, dass sie die Einwilligung zur Erfas-
ung und Verwendung ihrer persönlichen Daten geben
üssen, um berichten zu können oder zu dürfen.
Wenn wir einen Vergleich zum politischen Journalis-
us, zum Beispiel für die Berichterstattung aus dem
eutschen Bundestag ziehen möchten: Auch hier sind
kkreditierungsverfahren gang und gäbe und automa-
isch mit der Entscheidung für die Arbeit in einem derart
icherheitsrelevanten Raum verknüpft. Auch daran hat
isher niemand Anstoß genommen. Bleibt also noch die
rage, ob der Bezug auf den § 4 und § 4 a ausreichend
st. Unabhängig davon, dass wir diese Frage bejahen,
ie ich bereits ausgeführt habe, würde mich interessie-
en, welche Vorteile man sich davon versprechen würde,
enn nun ein Gesetzgebungsverfahren in die Wege ge-
eitet würde, wie dies den Antragstellern wohl vor-
chwebt.
Im Endergebnis, also bei den Rechtsfolgen und insbe-
ondere bei der Betroffenheit etwaiger Grundrechte
ommt es nämlich nicht darauf an, ob die Sicherheits-
berprüfung aufgrund einer gesetzlichen Grundlage oder
ufgrund der Einwilligung der Betroffenen erfolgt. Aber
arüber sprechen wir dann noch im Ausschuss.
Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir also
u.
Wolfgang Gunkel (SPD): Die vorliegenden Anträge
on FDP und Bündnis 90/Die Grünen befassen sich mit
en Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen von Akkredi-
ierungsverfahren zur Fußballweltmeisterschaft 2006.
ie Antragsteller kritisieren die unzureichende rechtli-
he Grundlage und die praktische Ausgestaltung dieser
icherheitsüberprüfungen und fordern insbesondere, für
roßveranstaltungen dieser Art eine ausreichende ge-
etzliche Grundlage zu schaffen, sicherzustellen, dass
ie betroffenen Personen über das Überprüfungsverfah-
en – Ziel, beteiligte Dienststellen, Datengrundlage –
nd auch über das Ergebnis unterrichtet werden und
2764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
(A) )
(B) )
sicherzustellen, dass sich die Betroffenen an eine zen-
trale Beschwerdestelle wenden können.
Was findet nun im Einzelnen Eingang in die Sicher-
heitsüberlegungen der Veranstalter der WM und der ein-
zelnen Sicherheitsbehörden? Im Rahmen des so genann-
ten Akkreditierungsverfahrens werden bei der Fußball-
WM 2006 alle Medienvertreter, Mannschaften, Hilfs-
und Servicedienste usw. vorab einer Zuverlässigkeits-
überprüfung unterzogen. Ziel ist es, Gefährdungen bzw.
Störungen der Veranstaltungen von vornherein auszu-
schließen. Betroffen sind circa 250 000 Personen, deren
personenbezogene Daten mit polizeilichen Datenbestän-
den sowie mit den Erkenntnissen der Verfassungsschutz-
behörden und des Bundesnachrichtendienstes abgegli-
chen werden. Grundlage hierfür bildet gemäß § 4 und
4 a BDSG die Einwilligung der betreffenden Personen.
Diesem richtigen und notwendigen Verfahren stimmt
die SPD-Fraktion grundsätzlich zu, jedoch sind zu eini-
gen Verfahrensabläufen Anmerkungen zu machen. Nach
Ansicht des Bundesministeriums des Innern ist die
Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen zum Schutz
der so genannten Akkreditierungszonen in den Stadien
erforderlich, in denen sich die Personen ohne weitere
Kontrollen frei bewegen können. Als Grundlage für die
Sicherheitsüberprüfung im Rahmen des so genannten
Akkreditierungsverfahrens reicht nach Ansicht der Bun-
desregierung die so genannte informierte Einwilligungs-
erklärung aus. Dies findet auch die Zustimmung des für
das Organisationskomitee zuständigen Datenschutzbe-
auftragten beim Regierungspräsidenten Darmstadt.
Ferner sei nunmehr geklärt, dass sich betroffene Perso-
nen in Rechtsschutzangelegenheiten an das Landeskri-
minalamt ihres Wohnsitzes bzw. bei Wohnsitz im Aus-
land an das BKA und darüber hinaus auch an den
Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informations-
freiheit wenden könnten, soweit die teilweise Antwort
auf eine Kleine Anfrage der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen, Drucksache 16/248.
Ganz wesentlich anders sieht der Bundesdatenschutz-
beauftragte diese Sache. Er hält es für fragwürdig, ob
eine derartig breit angelegte Überprüfungsaktion auf Ba-
sis einer Einwilligung – also ohne konkrete gesetzliche
Grundlagen – erfolgen kann, zumal bereits an der tat-
sächlichen Freiwilligkeit Zweifel bestünden, denn ge-
rade Berufsgruppen wie beispielsweise Journalisten oder
auch Anbieter von Waren können dann nicht mehr tätig
werden, wenn sie eine Vorabüberprüfung ablehnen, das
heißt bei Nichteinwilligung erfolgt keine Akkreditie-
rung.
Insofern ist die Einwilligung unter Umständen wohl
nicht ganz freiwillig. Zudem fehle gemäß BfDI in den
Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder
sowie im Gesetz über den Bundesnachrichtendienst eine
Aufgabenzuweisung für die Mitwirkung der Nachrich-
tendienste an Zuverlässigkeitsprüfungen der vorliegen-
den Art.
Der hier angeführte Kritikpunkt ist deshalb besonders
wichtig, weil neben den Straftätern/Strafdatendateien,
den Staatsschutzdateien und der Datei „Gewalttäter
Sport“ als so genannte Verbunddateien noch zusätzlich
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ADIS, das Nachrichtendienstliche Informationssys-
em der Verfassungsschutzbehörden, herangezogen wird.
ei Ausländern werden Dateien über internationalen
errorismus und organisierte Kriminalität mit eingebun-
en.
Hier wird deutlich, dass gerade derjenige, der im In-
ern der Bundesrepublik Deutschland nationalen bzw.
nternationalen Terrorismus sinnvoll bekämpfen will,
ine solch konzentrierte Aktion der Sicherheitsbehörden
ur unterstützen kann, allerdings aus rechtsstaatlichen
ründen nur auf Basis einer gesetzlichen Grundlage,
ier die Aufgabenzuweisung im BND-Gesetz sowie in
en Verfassungsschutzgesetzen.
Weiterhin bemängelt der BfDI, dass eine vorherige
nhörung des Betroffenen nicht vorgesehen sei und Be-
roffene nur indirekt – häufig über den Arbeitgeber –
enntnis von möglicherweise sicherheitsrelevanten Be-
enken erhalten, wenn die Akkreditierung abgelehnt
ird. Kritisiert wird weiter, dass ungeklärt sei, ob und
ie die Betroffenen ihre Datenschutzrechte geltend ma-
hen bzw. gerichtlichen Rechtsschutz gegen das Votum
iner Sicherheitsbehörde erlangen könnten.
Dazu heißt es in der Datenschutzinformation der „Ab-
eilung Akkreditierung“ zur FIFA WM 2006:
Lehnt das Organisationskomitee Ihre Akkreditie-
rung wegen Zuverlässigkeitsbedenken der Sicher-
heitsbehörden ab, haben Sie (nicht jedoch Ihr Ar-
beitgeber) die Möglichkeit, sich wegen der Gründe
an das Landeskriminalamt Ihres Wohnsitzlandes
bzw. – soweit Sie Ihren Wohnsitz im Ausland
haben – an das BKA zu wenden. Dort können Sie
auch Ihre Einwände geltend machen. Ihre Eingabe
wird sodann ggf. an die ablehnende(n) Sicherheits-
behörde(n) weitergeleitet. Ihre Einwände werden
geprüft und die Empfehlung an das Organisations-
komitee gegebenenfalls korrigiert. Soweit Ihrer
Eingabe nicht abgeholfen wird, erhalten Sie einen
entsprechenden Bescheid. Ihre sonstigen Daten-
schutzrechte (insb. Auskunft- und Berichtigungs-
rechte), können Sie – soweit es um die Datenver-
arbeitung bei den Sicherheitsbehörden geht – in
entsprechender Weise geltend machen. Sie können
sich zur Ausübung Ihrer Datenschutzrechte auch an
die jeweils zuständige Landesdatenschutzbehörde
bzw. an den Bundesbeauftragten für den Daten-
schutz und die Informationsfreiheit wenden.
Das dargestellte Verfahren dürfte nach meiner Auffas-
ung ausreichend sein. Jedoch bleibt die Erlangung ge-
ichtlichen Rechtsschutzes unklar, zumal diese rechtli-
he Hilfe ohnehin zu spät käme.
Wie es dem allgemeinen Standard entsprechend in
mtlich üblichen Sicherheitsüberprüfungsverfahren ge-
acht wird, zeigt das Beispiel der Luftverkehrs-
uverlässigkeitsüberprüfungsverordnung (LuftVZÜV).
o ist gemäß § 6 Abs. 3 dieser Verordnung der Betrof-
ene über das Ergebnis und bei Ablehnung auch über die
aßgeblichen Gründe zu unterrichten, die ihm durch ei-
en schriftlichen, mit Rechtsbehelfsbelehrung versehe-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2765
(A) )
(B) )
nen Bescheid mitgeteilt werden. Dagegen kann er dann
gerichtlich vorgehen.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass FDP
und Bündnis 90/Die Grünen mit ihren Anträgen im We-
sentlichen die Bedenken des BfDI aufgreifen. Im Zen-
trum der Kritik steht nicht die Durchführung der Zuver-
lässigkeitsprüfungen, sondern eine unzureichende
gesetzliche Grundlage, eine unzureichende Unterrich-
tung der Betroffenen und die Frage des Rechtsschutzes.
Meinen Ausführungen können Sie entnehmen, dass
ich die Bedenken in einigen Punkten teile, in anderen
nicht.
Deshalb stimmt die SPD-Fraktion den Anträgen nicht
zu, sondern empfiehlt, den Sachverhalt einer gründli-
chen Erörterung im Innenausschuss zu unterziehen. Da-
nach wird man das erzielte Ergebnis neu beurteilen müs-
sen.
Gisela Piltz (FDP): Es ist keine Frage, dass bei be-
sonderen Veranstaltungen besondere Sicherheitsregeln
gelten. Wir mussten in der jüngsten Vergangenheit fest-
stellen, dass sich die Gefahren längst nicht nur auf staat-
liche Ziele beschränken. Wie die Bombenanschläge in
Madrid und London gezeigt haben, leben wir in einer
Zeit, in der mit terroristischen Angriffen gerechnet wer-
den muss, welche allein mit dem Ziel ausgeführt werden,
möglichst viele zivile Opfer zu treffen. Bei einer derart
erhöhten Gefahrenprognose ist es eine Angelegenheit
der Vernunft, gerade auch Großereignisse, bei denen
viele Menschen zusammenkommen, ausreichend vor
Anschlägen zu schützen. Dazu kann auch die Einrich-
tung von Sicherheitszonen um die Veranstaltungsorte
zählen. Wenn die Großveranstaltung – wie bei der Fuß-
ball-WM – von privaten Veranstaltern durchgeführt
wird, müssen auch diese die Möglichkeit haben, das von
den Zutrittsberechtigten zu den Sicherheitszonen ausge-
hende Gefahrenpotenzial durch Akkreditierungen zu
vermindern. Schließlich speichern wir von jedem Besu-
cher der Fußball-WM die Personalausweisnummer. Da
kann es nicht sein, dass der Würstchenverkäufer im Sta-
dion nicht überprüft wird. Die Frage ist allerdings, wie
und auf welcher Rechtsgrundlage.
Die Akkreditierung durch Private findet bereits statt.
Das Organisationskomitee Fußball-WM 2006 – OK
WM 2006 – hat alle Medienvertreter, Mannschaften,
Hilfs- und Servicedienste usw. vorab einer Zuverlässig-
keitsüberprüfung unterzogen. Betroffen sind circa
250 000 Personen, deren personenbezogene Daten nicht
nur mit polizeilichen Datenbeständen, sondern auch mit
den Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden und
des Bundesnachrichtendienstes abgeglichen werden. In-
halt der Mitteilungen der Behörden sind damit nicht wie
beim polizeilichen Führungszeugnis rechtskräftige Straf-
taten, welche zu einer Vorstrafe im Sinne des Strafrechts
führen und von denen der Betroffene naturgemäß auch
weiß, sondern darüber hinaus auch reine Verdachtsmo-
mente, nicht strafbare extremistische Aktivitäten oder
auch nur die Zuordnung zu einem solchen Umfeld. Denn
in den Dateien des Verfassungsschutzes geht es ja nicht
nur um strafbare Verhaltensweisen, sondern auch um
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loße Annahmen, zum Beispiel um die Annahme be-
enklicher politischer Bestrebungen, die zehn Jahre und
änger gespeichert werden können, ohne dass der Betrof-
ene etwas davon weiß. Daher kann er sich also auch
icht wehren. Diese Bedenken werden dem
K WM 2006 und auch dem Arbeitgeber ohne Anhö-
ung des Betroffenen mitgeteilt und führen in der Regel
u einem negativen Votum, welches für den Betroffenen
rnste Auswirkungen für seinen Arbeitsplatz und damit
ür den Erwerb seines Lebensunterhalts haben kann –
nd das ohne die Möglichkeit, zu erfahren, warum das so
st. Im Ergebnis bedeutet das, dass der Betroffene, seine
mgebung und seine Firma plötzlich erfahren, dass er
nter einem Verdacht steht, den er selbst nicht einmal
annte und der doch seine ganze Existenz in Gefahr
ringen kann.
Als Rechtsgrundlage für die Überprüfung wird von
em OK WM 2006 eine „informierte“ Einwilligung vom
etroffenen eingeholt. Die Information des Betroffenen
esteht dabei in der Beschreibung des Verfahrens der
uverlässigkeitsüberprüfung, Inhalt und Grundlagen der
berprüfung erfährt der Betroffene nicht. Die Freiwillig-
eit der Abgabe einer Einwilligung des Betroffenen zur
uverlässigkeitsüberprüfung muss dabei im Zusammen-
ang mit seinem existenziellen Interesse am Erhalt sei-
es Arbeitsplatzes gesehen werden. Das halten wir ohne
echte“ Rechtsgrundlage für mehr als bedenklich. Ange-
ichts der Vorbildfunktion dieses Großereignisses be-
teht die Möglichkeit, dass dieses Verfahren zur Akkre-
itierung auch bei anderen privat veranstalteten
roßereignissen und gegebenenfalls auch bei weit gerin-
eren Anlässen durchgeführt werden soll. Denn auch für
ndere Veranstaltungen besteht das Bedürfnis nach
chutz und Abschottung. So werden auch für Tätigkei-
en in Wachschutzunternehmen und bei Ähnlichem
chon heute anhand von polizeilichen Führungszeugnis-
en Überprüfungen durchgeführt. Hier muss festgestellt
erden, unter welchen Voraussetzungen die Abfrage der
taatlichen Stellen gegebenenfalls über das polizeiliche
ührungszeugnis hinaus ausgeweitet werden darf.
Es ist daher an der Zeit, die Grundlagen für dieses
kkreditierungsverfahren in einer Abwägung zwischen
efahrenprävention auf der einen Seite und Eingriff in
ie Persönlichkeitsrechte des Einzelnen auf der anderen
eite gesetzlich zu regeln. Dabei muss – wie sonst spe-
iell im Arbeitsrecht – auch die wirtschaftlich schwä-
here Position des von der Überprüfung betroffenen Ar-
eitnehmers im Auge behalten werden. Für vom
etroffenen freiwillig veranlasste Überprüfungen sollten
aher zum Schutz des Betroffenen klare Grenzen des
echtlich zulässigen Umfangs definiert werden. Insbe-
ondere dürfen nicht bloße Verdachtsmomente oder die
ugehörigkeit zu einer legalen gesellschaftlichen oder
olitischen Gruppierung von staatlichen Stellen an die
eranstalter und Arbeitgeber mitgeteilt werden. Zudem
üssen dem Betroffenen die erteilten Auskünfte sowie
eren Datengrundlagen zugänglich gemacht werden und
iese Auskunftsansprüche des Betroffenen müssen
echtlich durchsetzbar ausgestaltet sein. Nur so lässt sich
egonnener Wildwuchs auf dem Gebiet der Zuverlässig-
2766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
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keitsüberprüfungen beenden und lassen sich rechtsstaat-
liche Grundsätze verwirklichen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wenn die Welt als Gast zu
Freunden kommt, wie das offizielle Motto der Fußball-
WM lautet, dann hat sie es mit einem Gastgeber zu tun,
der voller Misstrauen ist und seine Gäste wie Schwerver-
brecher behandelt. Zwar werden drei Millionen Euro für
eine so genannte Freundlichkeitskampagne ausgegeben,
diese Schönheitskosmetik kann über den unfreundlichen
Umgang aber nicht hinwegtäuschen, den die Bundesre-
gierung mit den Bürgerinnen und Bürgern pflegt. Rund
eine Viertelmillionen Menschen werden einer rigiden Si-
cherheitskontrolle unterzogen. Bevor jemand eine Brat-
wurst verkaufen, eine Toilette reinigen oder ein Taxi fah-
ren darf, werden erst einmal der Verfassungsschutz, das
Bundeskriminalamt und die Länderpolizeien auf ihn an-
gesetzt.
Wir von der Linksfraktion wissen wohl besser als alle
anderen hier im Saal, wie ausufernd die Sammelwut der
Repressionsbehörden ist. Wir brauchen keine große Fan-
tasie, um uns vorzustellen, dass jemand, der vor zig Jah-
ren mal an einer Anti-Atomkraft-Demo oder unschuldig
in einem Polizeikessel gewesen ist, beim Verfassungs-
schutz als Gewalttäter und „Extremist“ geführt wird.
Wer will ausschließen, dass er nun deswegen nicht
zur WM darf? Es gibt ja keinerlei Rechtsgrundlage für
dieses Verfahren. Die Betroffenen haben keine Chance,
die Ergebnisse dieser Überprüfung nachzuvollziehen
oder rechtlich dagegen vorzugehen. Hier zeigt sich, jen-
seits aller Imagekampagnen, die hässliche Seite des Si-
cherheitsstaates!
Zu behaupten, wie es die Bundesregierung tut, die be-
troffenen Personen willigten freiwillig in diese Schnüf-
felmethoden ein, ist doch ein schlechter Witz. Welche
Alternative hat denn jemand, der von Arbeitslosigkeit
bedroht ist? Welche Chance, „Nein“ zur Überprüfung zu
sagen, hat jemand, dem das Jobcenter im Nacken sitzt,
jemand, der vom Armutsgeld, dem Arbeitslosengeld 2
lebt und auf einen Zuverdienst dringend angewiesen ist?
Was hier mit den Lohnabhängigen geschieht, ist die
schiere Nötigung und nichts anderes!
Offenbar leben die gutbetuchten Herrschaften in der
Bundesregierung und der FIFA in einer Parallelgesell-
schaft und können sich nicht vorstellen, wie es um die
Lebensrealität von Millionen Erwerbstätigen bestellt ist.
Aber auch den Kolleginnen und Kollegen von FDP
und Grünen, die hier diese Anträge eingebracht haben,
will ich einmal sagen: An diesem Zustand der Ausgelie-
fertheit und Alternativlosigkeit der Lohnabhängigen än-
dern Sie mit Ihren Anträgen gar nichts. Sie begnügen
sich damit, einem Skandal eine Rechtsgrundlage geben
zu wollen, anstatt den Skandal selbst anzugehen.
So absurd dieser ganze Sicherheitswahn anmutet, so
perfide ist die Absicht dahinter. Es handelt sich nicht nur
um eine Beschäftigungstherapie für offenbar unausge-
lastete Behörden. Es handelt sich vielmehr um einen gi-
gantischen Feldversuch in Sachen Kontrolle, Schnüffelei
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nd Repression, in dem Hunderttausende von Menschen
u Versuchskaninchen werden.
Denn das penible und undemokratische Akkreditie-
ungsverfahren ist eingebettet in einen Sicherheitsdis-
urs, der die Grundrechte einschränken will. Dazu ge-
ört, dass die Grenzkontrollen im Schengen-Raum
ieder hochgefahren werden; dazu gehört, dass Fans aus
slamischen Ländern wie selbstverständlich besonders
treng geprüft werden. Dazu gehört auch, dass die priva-
en Veranstalter von public viewings dazu angehalten
erden, sämtliche Zuschauer auf Video festzuhalten –
lso genau das, was zahlreiche Innenminister gerne tun
ürden, aber noch nicht dürfen. Dazu gehören auch die
estrebungen, die Bundeswehr im Inland einzusetzen.
Der Sicherheitsfanatismus der Bundesregierung, vor
em die Linksfraktion schon seit Monaten warnt, er-
eicht wieder einmal einen Höhepunkt. Und wie immer,
enn die Regierung von Sicherheit redet, bleiben Frei-
eitsrechte auf der Strecke.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN): Die Welt zu Gast bei Freunden – unter die-
em Motto findet die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in
eutschland statt. Eigentlich müsste ich ja sagen: FIFA
ußball-WM 2006. Ich lasse mir aber von Herrn Platter
icht vorschreiben, wie ich das sportliche Ereignis zu
ennen habe; wenigstens im Bundestag gilt hoffentlich
och das Recht der freien Rede. Wir alle freuen uns auf
ußball. Im Mittelpunkt steht der Sport, nicht die FIFA.
ch gewinne mehr und mehr den Eindruck, dass der Staat
ür diese vier Fußballwochen in eine Art Ausnahmezu-
tand gerät, mit der FIFA als oberstem Verfassungs-
rgan.
Auch wir wollen sichere Spiele. Wir sind allerdings
er Überzeugung, dass die Sicherheit im Rahmen der
eltenden Verfassung und auf der Grundlage klarer
echtsgrundlagen gewährleistet werden kann. Die abge-
ebenen Sicherheitsgarantien beinhalten nicht die Aus-
etzung der Bürgerrechte. Das von dem OK der FIFA
urchgeführte Akkreditierungsverfahren stellt gerade
iejenigen, die für den reibungslosen Ablauf in den Sta-
ien sorgen, unter einen Generalverdacht. Wer ohne Ti-
ket eine Zugangsberechtigung ins Stadium will, ganz
leich, ob als Nationalspieler, Polizist, Helfer, Journalist
der Würstchenverkäufer, wird sicherheitsüberprüft.
ies betrifft über 250 000 Menschen. Ich hoffe nicht,
ass die leidige deutsche Torwartfrage jetzt vom Verfas-
ungsschutz entschieden wird.
Wir hätten uns hier eine differenzierte Sicherheits-
berprüfung auf einer klaren rechtlichen Grundlage ge-
ünscht. Die Datenschutzbeauftragten haben ihre Kritik
rühzeitig deutlich gemacht. Eine „informierte Einwilli-
ungserklärung“ ist für uns keine hinreichende Rechts-
rundlage. Wir wissen auch, dass in den meisten Fällen
ie Datenschutzerklärung der FIFA weder ausgehändigt
och erläutert wurde. Von einer umfassenden Aufklä-
ung vor Unterzeichnung der Einwilligungserklärung
ann in den überwiegenden Fällen nicht ausgegangen
erden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2767
(A) )
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Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Satz zum An-
trag der FDP sagen. Wir unterstützen Ihr Ansinnen, dass
Zuverlässigkeitsüberprüfungen auf einer klaren gesetzli-
chen Grundlage stehen müssen. Angesichts der Zeitab-
läufe – die Akkreditierungsverfahren sind fast abge-
schlossen, es sind nur noch wenige Wochen bis zum
Beginn der WM – halten wir ein Gesetzesverfahren nicht
mehr für machbar. Wir sollten uns allerdings darauf ver-
ständigen, dass für zukünftige Ereignisse Zuverlässig-
keitsüberprüfungen nicht mehr auf der Grundlage von
freiwilligen Erklärungen erfolgen dürfen. Wie für Si-
cherheitsüberprüfungen ist auch für Zuverlässigkeits-
überprüfungen eine Rechtsgrundlage mit klaren daten-
schutzrechtlichen Regelungen zu schaffen. Ich bedaure
an dieser Stelle, dass die SPD-Fraktion unter Rot-Grün
ein Datenschutzaudit-Gesetz blockiert und verweigert
hat. Der Prüfsiegel eines Datenschutzaudit auf dem gan-
zen WM-Verfahren, vom Ticketverkauf bis zur Zuver-
lässigkeitsüberprüfung, hätte ich mir gewünscht. Viele
Diskussionen und viel Ärger wären allen Betroffenen
und Beteiligten erspart geblieben.
Wir haben in unserem Antrag „Kein Generalverdacht
bei den Sicherheitsüberprüfungen zur Fußballweltmeis-
terschaft“ eine bestimmte Berufsgruppe herausgegriffen,
bei der die Probleme der Akkreditierungspraxis beson-
ders deutlich werden. Es geht um diejenigen, die beruf-
lich über die Fußball-Weltmeisterschaft berichten. Sie
werden durchleuchtet und müssen sich einer umfängli-
chen Überprüfung ihrer Zuverlässigkeit durch BKA und
Verfassungsschutz unterziehen. Tun sie das nicht, kön-
nen sie ihren Beruf nicht ausüben. Im schlimmsten Fall
müssen sie mit einem Verlust ihres Arbeitsplatzes rech-
nen. Von einem „freiwilligen“ Einverständnis kann ge-
rade hier nicht gesprochen werden. Das ist in meinen
Augen eher Nötigung zum Verzicht auf Datenschutz-
rechte.
Die Praxis der Akkreditierung von Journalistinnen
und Journalisten wirft darüber hinaus auch für die Pres-
sefreiheit wichtige Fragen auf. Die Betroffenen sind
nicht allein über ihre Berufsausübung verfassungsrecht-
lich geschützt. Auch die Pressefreiheit ist ein hohes
Grundrechtsgut und keine wohlfeile Verfügungsmasse.
Zu Recht gibt es durchgreifende Vorbehalte, wenn die
Sicherheitsbehörden Überprüfungen vornehmen und
Daten sammeln, ohne dass dafür eine ausreichende
gesetzliche Grundlage vorliegt. Der Staat darf nicht so
freihändig in die Pressefreiheit eingreifen. In einer aus-
führlichen Stellungnahme hat das Unabhängige Daten-
schutzzentrum Schleswig-Holstein im Detail die ganze
Fragwürdigkeit der geltenden Praxis dargestellt. Ganz
besonders heikel ist dabei, dass bei der Durchleuchtung
des Einzelnen durch die Verfassungsschutzbehörde auch
so genannte Propagandaaktivitäten zur Ablehnung der
Akkreditierung führen können.
Bedenken bestehen auch gegen den mangelhaften
Rechtsschutz der Betroffenen. Es wird leider immer
mehr Mode, gerade auf internationaler Ebene, schwarze
Listen anzulegen. Wer dort verewigt ist, hat gravierende
Nachteile, ohne sich bei einem irrtümlichen Eintrag
wirksam zur Wehr setzen zu können.
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Wir fordern in unserem Antrag den Bundestag auf,
as von der FIFA vorgenommene Akkreditierungsver-
ahren zu missbilligen. Die Bundesregierung soll ferner
afür Sorge tragen, dass die Behörden gegenüber den
etroffenen wenigstens für mehr Transparenz sorgen
nd dass die Betroffenen sich an eine zentrale Beschwer-
estelle wenden können. Diese Aufgabe kann umgehend
em Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informa-
ionsfreiheit übertragen werden. Die Aufgabe des Daten-
chutzes zur Fußball-WM war ein unnötiges Eigentor.
nlage 8
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Kinderrechte in
Deutschland vorbehaltlos umsetzen – Erklä-
rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurück-
nehmen (Tagesordnungspunkt 21)
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die im Antrag der Frak-
ion der Grünen geforderte Rücknahme des Vorbehalts
egen die UN-Kinderrechtskonvention ist längst überfäl-
ig. Dieser Vorbehalt steht in seinem vierten Punkt einem
esentlichen Element von Menschenrechten entgegen:
iese gelten immer für alle Menschen gleich, egal wel-
her Hautfarbe, Religion oder Staatsangehörigkeit. Der
orbehalt formuliert dagegen an dieser Stelle, nichts
önne das Recht der Bundesrepublik beschränken, „Un-
erschiede zwischen Inländern und Ausländern“ zu ma-
hen. Dies ist der Rückfall in das 19. Jahrhundert, als
rundrechte nur den Staatsbürgern zuerkannt wurden.
ir halten dagegen daran fest: Die Nichtdiskriminierung
on eigenen und fremden Staatsangehörigen ist wesent-
icher Kern der Menschenrechte. Sie ist das Herzstück
es menschenrechtlichen Schutzsystems. Dass diese
ichtdiskriminierung ausgerechnet für Kinder nicht gel-
en soll, ist ein Skandal.
Abgesehen von dieser allgemeinen Feststellung inte-
essiert hier jedoch vor allem: Was ist die Folge dieses
orbehalts, was ist die Folge der insgesamt mangelhaf-
en Umsetzung der Kinderrechtskonvention?
Zunächst: Die Konvention definiert als „alle“ Men-
chen vor Vollendung des 18. Lebensjahres. Im Asyl-
echt und im Aufenthaltsrecht gelten Minderjährige aber
b Vollendung des 16. Lebensjahres als voll verhand-
ungsfähig; sie werden wie Erwachsene behandelt. Für
nbegleitete Minderjährige bedeutet dies eine besondere
ärte. Mit Vollendung des 16. Lebensjahres endet die
nterbringung im Rahmen der Jugendhilfe. Jugendliche
n einer schwierigen Phase ihrer Entwicklung werden in
ie üblichen Flüchtlingsheime gesteckt, wo sie nicht den
otwendigen Raum zur Entwicklung, erst recht keine
ezugspersonen oder angemessene Betreuung erfahren.
Auch das Verfahren zur Altersfeststellung selbst ist
ragwürdig. Die Behörden wenden oft Methoden an, die
ür die Betroffenen höchst entwürdigend und medizi-
isch äußerst fragwürdig sind. Diese Praxis muss been-
et werden.
2768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
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Nach einer Erhebung des Bundesinnenministeriums
vom Mai 2005 befanden sich viel mehr Minderjährige in
Abschiebehaft, als bis dahin angenommen. Allein 100
waren es 2002 bis 2004 durchschnittlich in Berlin. In
NRW befanden sie sich im Durchschnitt zwei Monate in
Abschiebehaft. Länder wie Bayern und Baden-Württem-
berg machten erst gar keine Angaben. Was haben Kinder
und Jugendliche in einem Knast zu suchen, deren einzi-
ges „Vergehen“ es war, in der Hoffnung auf den Schutz
ihrer Rechte in die Bundesrepublik zu fliehen?
Auch in vielen anderen Gesetzen ist abzulesen, dass
der Gesetzgeber Flüchtlingsabwehr und Abschreckung
über das Kindeswohl gestellt hat. Wir kritisieren schon
seit Jahren die verminderten Sozialleistungen für Asyl-
bewerber und Flüchtlinge, die Unterbringung in Sam-
melunterkünften, die Residenzpflicht, die völlig unzurei-
chende Gesundheitsversorgung, das Flughafenverfahren,
die Bedingungen der Abschiebehaft. Dies alles trifft
Kinder und Jugendliche noch härter als Erwachsene.
Dennoch hat keine Regierung seit In-Kraft-Treten der
Konvention Anstalten gemacht, hier zumindest für
Flüchtlingskinder Erleichterungen zu schaffen. Flücht-
lingskinder sind darüber hinaus noch weiteren Beschrän-
kungen unterworfen: In einigen Bundesländern wird ih-
nen das Recht auf Schulbesuch versagt. 16 bis 17-
Jährige erhalten keinen Vormund, der ihre Interessen
vertreten kann; sie gelten ja schon als „erwachsen“. Das
alles verletzt den in der Konvention festgelegten Vorrang
des Kindeswohls in allen Gesetzgebungs- und Verwal-
tungsmaßnahmen.
Um die Kinderrechtskonvention Zweck und Ziel nach
tatsächlich umzusetzen, muss es ein völliges Umdenken
geben. Der Schutzgedanke des SGB VIII muss Vorrang
vor den aufenthaltsrechtlichen Regelungen haben. Für
Gesetzgeber und Behörden darf es keine Rolle spielen,
ob ein Kind „Inländer“ oder „Ausländer“ ist. Darüber
hinaus fordern wir einige konkrete Schritte, die im Rah-
men der anstehenden Änderung des Aufenthaltsrechts
erfolgen können. Für unbegleitet ankommende minder-
jährige Flüchtlinge muss es ein bundesweit einheitliches
„Clearingverfahren“ geben, wie Fachverbände schon
länger fordern. Im Clearingverfahren soll geklärt wer-
den, wie dem Wohl des Kindes am besten gedient ist. An
dieser Stelle können wir von den Bundesländern lernen,
in denen es ein solches Clearingverfahren bereits gibt.
Außerdem muss es endlich Abschiebeschutz für Minder-
jährige aus Staaten geben, in denen ihnen die Zwangsre-
krutierung als „Kindersoldaten“ droht.
32. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8