Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An
keinem anderen Feld wird der Erfolg oder Misserfolg ei-
ner Regierung so festgemacht, wie an dem Feld Arbeit
und Soziales. Das galt für die abgewählte Bundesregie-
rung
und das wird auch für die neue Bundesregierung gelten.
Ich stimme dem Kollegen Brandner ausdrücklich zu:
Es kann nicht darum gehen, etwas schlecht zu machen
oder etwas schönzureden. Deswegen meine ich, dass
man sich zu Beginn dieser Legislaturperiode die Zahlen
und Fakten, mit denen wir es zu Beginn der Arbeit der
neuen Bundesregierung zu tun haben, einfach noch ein-
mal ganz nüchtern vergegenwärtigen muss.
Wir haben heute eine Million sozialversicherungs-
pflichtig Beschäftigte weniger und über 500 000 Ar-
beitslose mehr als noch vor drei Jahren. Trotz mehrerer
Nullrunden bei den Renten haben wir heute nur noch
etwa 1 Milliarde Euro in der Rücklage der gesetzlichen
Rentenversicherung, während es vor vier Jahren noch
14 Milliarden Euro waren.
Ich sage das nicht, um Vergangenheitsbewältigung zu
betreiben, sondern weil es einfach ein Unterschied ist, ob
man Rentenpolitik heutzutage mit einer Rücklage oder
ohne eine Rücklage macht. Wir beginnen die Arbeit der
großen Koalition in einer Zeit der Massenarbeitslosig-
keit und mit ausgezehrten Sozialkassen. Das ist die
Lage. Aus dieser Lage müssen wir gemeinsam, CDU/
CSU und SPD, nun das Beste für unser Land machen.
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Wir alle wissen: Die Arbeitsmarktpolitik allein ist
icht in der Lage, Beschäftigungsprobleme zu lösen. Die
mpulse für Wachstum und Beschäftigung müssen in
rster Linie aus der Wirtschafts- und Steuerpolitik und
us Forschung und Innovation kommen. Dennoch muss
nsere Arbeitsmarktpolitik natürlich daraufhin überprüft
erden, ob sie überall die richtigen Anreize setzt, um zu-
ätzliche Beschäftigung zu schaffen. Deswegen ist es gut
nd richtig, dass wir uns im Koalitionsvertrag darauf
erständigt haben, alle Arbeitsmarktmaßnahmen auf
en Prüfstand zu stellen. Was ineffizient und unwirksam
st, muss abgeschafft oder geändert werden; bewährte In-
trumente werden fortgeführt.
Uns ist auch das gemeinsame Ziel, auf das wir uns
erständigt haben, ganz wichtig, nämlich den Beitrags-
atz in der Arbeitslosenversicherung zu senken. Es ge-
ört zu den wenigen Punkten, über die quer durch die
arteien Konsens besteht, dass die Lohnnebenkosten in
eutschland zu hoch sind und dass zu hohe Lohnneben-
osten zu Arbeitsplatzverlusten führen. Deswegen ist es
in wichtiger Schritt, den Beitragssatz in der Arbeitslo-
enversicherung auf 4,5 Prozent zu senken. Es ist gut,
ass wir uns in der großen Koalition darauf verständigt
aben.
Wir müssen – es ist deutlich geworden, dass wir uns
uch hier einig sind – an das Thema Kombilohn heran-
ehen. Ich weiß, das ist ein schwieriges Feld. Aber ohne
ine intelligente Kombination aus Arbeits- und Transfer-
inkommen werden wir für viele Menschen in unserem
and keine Chancen auf Beschäftigung auf dem Arbeits-
arkt schaffen. Wir dürfen zwar nichts übers Knie bre-
hen, aber wir müssen dieses Thema in den nächsten
onaten entschlossen angehen.
Wir haben uns auch vorgenommen, das Thema Kün-
igungsschutz anzupacken. Dazu ist viel gesagt wor-
en. Ich stimme Minister Müntefering ausdrücklich zu.
an sollte nicht schon jetzt sagen, dass das dieses oder
enes Ergebnis haben wird. Vielmehr macht es Sinn, die
irkung dieser Regelung, auf die wir uns verständigt
aben, in Ruhe abzuwarten, nämlich die Wartefrist von
erzeit sechs auf 24 Monate zu verlängern und im Ge-
enzug die heutigen Möglichkeiten zur sachgrundlosen
efristung abzuschaffen. Von diesem Ergebnis kann
an sagen: Die Beschäftigten erhalten künftig wieder
nbefristete statt befristete Verträge und die Arbeitgeber
ehalten trotzdem die Flexibilität des heutigen Befris-
ungsrechts. Von daher ist das eine vernünftige Vereinba-
ung.
Natürlich hätten wir uns im Bereich betriebliche
ündnisse für Arbeit etwas anderes vorgestellt. Doch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2005 333
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Dr. Ralf Brauksiepe
lassen Sie mich, Herr Kollege Niebel, ein für allemal sa-
gen: Diejenigen, die mit betrieblichen Bündnissen für
Arbeit als Ziel in den Wahlkampf gegangen sind, haben
nicht die Mehrheit, um das umzusetzen. So einfach ist
die Sache.
Deswegen werden wir das machen, was politisch mög-
lich ist.
Ich erwarte allerdings auch, dass sich die Tarifpar-
teien entlang dessen, was es bereits gibt ..., auf be-
triebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen
Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht,
wird der Gesetzgeber zu handeln haben.
Die letzten beiden Sätze sind nicht von mir, sondern von
Gerhard Schröder bei der Vorstellung seiner Agenda im
Rahmen seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003.
Das Protokoll vermerkte damals: Beifall bei der SPD
und dem Bündnis 90/Die Grünen. – Wir werden uns also
noch aneinander zu gewöhnen haben. Aber das, was
Bundeskanzler Schröder in diesem Zusammenhang ge-
sagt hat, bleibt im Grundsatz richtig.
Wir werden uns bei den Hartz-IV-Gesetzen unter
Zeitdruck auf Reformen verständigen müssen. Wir ha-
ben uns vorgenommen, 3,8 Milliarden Euro einzusparen.
Mir ist aber auch wichtig, dass die Zusage eingehalten
wird, die wir den Kommunen gegeben haben und die wir
auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, dass
wir an der Entlastung der Kommunen um bundesweit
2,5 Milliarden Euro festhalten.
Es ist notwendig, das zu tun. Wir haben uns das vorge-
nommen und werden die entsprechenden Maßnahmen
dazu beschließen.
Wir bringen heute das Fünfte SGB-III-Änderungs-
gesetz in diese Debatte ein. Die Koalition hat sich damit
auf all das verständigt, was laut Koalitionsvertrag unbe-
dingt noch in diesem Jahr gemacht werden muss. Dazu
gehören vor allem die Verlängerung der Arbeitsmarkt-
maßnahmen für Ältere, die Verlängerung der Förderung
für Ich-AGs um ein halbes Jahr und die Verlängerung
der Übergangsregelung im Arbeitszeitgesetz.
Über die so genannten Hartz-Reformen ist viel disku-
tiert und gestritten worden. Manches davon war vernünf-
tig, anderes unvernünftig. Mein Vorgänger als Sprecher
für Arbeit und Soziales, Karl-Josef Laumann, hat in sei-
ner unverwechselbaren Art einmal festgestellt, dass wir
den „Hartz-Schrott“ – den es eben auch gibt – beseitigen
müssten. Das haben wir jetzt dankenswerterweise ge-
meinsam mit den Sozialdemokraten beschließen können.
So wird die Einrichtung von Personal-Service-Agentu-
ren ab dem nächsten Jahr nicht mehr zwingend sein. Die
Verlängerung der Ich-AG um ein halbes Jahr erfolgt nur
deshalb, um in dieser Zeit zu einer vernünftigen Neure-
gelung für die Förderung der Selbstständigkeit von zu-
vor Arbeitslosen zu kommen. Das ist eine vernünftige
Lösung. Die alte Ich-AG wird verschwinden. Damit ver-
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Wir haben uns auf die Einführung einer Übergangs-
egelung im Arbeitszeitgesetz geeinigt, um das Urteil
es EuGH vom September 2003 hinsichtlich der Bereit-
chaftsdienste in deutsches Recht umzusetzen. Den Ar-
eitgebern ist eine zweijährige Übergangsfrist einge-
äumt worden, um die Tarifverträge gemeinsam mit den
rbeitnehmervertretern anzupassen. Das ist bekanntlich
n vielen Bereichen bereits geschehen. In anderen Berei-
hen steht es aber noch aus. Ich habe Verständnis für den
nwillen all derer, die sich auf die veränderten Bedin-
ungen eingestellt haben und nun wollen, dass der Ge-
etzgeber entsprechend handelt. Wir müssen aber auch
ie Realitäten zur Kenntnis nehmen. Es gibt noch Über-
angsprobleme. Weil es also offensichtlich notwendig
st, haben wir uns darauf geeinigt, die Übergangsrege-
ung nochmals um ein Jahr zu verlängern. Es muss aber
lar sein, dass das Arbeitszeitgesetz ab 2007 ohne Ein-
chränkungen gilt.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen hat – das wissen
ir alle – auch grundlegende Bedeutung für die Finan-
ierung der sozialen Sicherungssysteme. Der Aderlass
ei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-
erhältnissen in den letzten Jahren hat bei allen Sozial-
assen zu massiven Beitragseinbrüchen geführt.
In Zukunft geht es insbesondere darum, dass wir alles
un, um die gesetzliche Rentenversicherung zu konso-
idieren und die Rentenfinanzen wieder auf ein sicheres
undament zu stellen. Das wird zu den Hauptaufgaben
er Rentenpolitik in dieser Legislaturperiode gehören.
ch meine, eine solche Herkulesaufgabe gemeinsam zu
eistern ist auch eine Rechtfertigung für eine große
oalition. Ich begrüße außerdem, dass wir uns darauf
erständigt haben, trotz der notwendigen Erhöhung des
esetzlichen Renteneintrittsalters denjenigen, die auf
5 Beitragsjahre kommen, die Möglichkeit zu bieten,
bschlagsfrei in Rente zu gehen, und damit deren Le-
ensleistung anzuerkennen.
Herr Minister Müntefering, lassen Sie mich zum Ab-
chluss gewissermaßen unter uns Westfalen noch ein
ersönliches Wort sagen.
ie haben Ihre Volksschulzeit im Sauerland angespro-
hen. Sie waren meines Wissens damals auch Messdie-
er. Ich kann Ihnen versichern: Sie werden in unserer
raktion – mich eingeschlossen – wahrscheinlich mehr
enschen als in jeder anderen Fraktion finden, die auch
u diesem Kirchendienst bestellt waren.
334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2005
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Dr. Ralf Brauksiepe
Sie haben sich dann für einen parteipolitischen Weg
entschieden, von dem Ihnen vermutlich die Mehrheit der
regelmäßigen Kirchgänger in Ihrer hochsauerländischen
Heimatgemeinde eher abgeraten hätte. Sie haben sich
dann nach 51 Berufsjahren entschlossen, gemeinsam mit
uns Deutschland voranzubringen. Sie haben das in den
letzten Wochen mit großem Einsatz und unter großen
persönlichen Opfern getan, Herr Minister. Wie Sie den
Parteivorsitz verloren und gleichwohl konzentriert und
zielorientiert mit uns weiterverhandelt haben, das war
schon stark. Das hat uns beeindruckt, Herr Minister.
Das Ausmaß an Pflichtgefühl, Verantwortungsbe-
wusstsein und Arbeitseinstellung, das Sie dabei gezeigt
haben, stößt in unserer Fraktion auf großen Respekt.
Sie werden es nie erleben, dass wir solche Charakterei-
genschaften als Sekundärtugenden verspotten, Herr Mi-
nister.
Sie haben Ihren guten Willen eindrucksvoll demons-
triert. Wir haben ebenfalls guten Willen. Lassen Sie uns
die Arbeit also im Interesse unseres Landes und seiner
Menschen gemeinsam angehen.
Vielen Dank.