Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den Stand der Debatte zum jetzigen Zeit-
punkt in einem Satz zusammenzufassen versucht, kann
man zumindest insoweit Konsens feststellen: Wir brau-
chen mehr Arbeitsplätze. Das sagen alle und das ist auch
richtig. Denn vollkommen klar ist doch: Mindestens so
lange, wie wir bei der Entwicklung der sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse keine Trend-
umkehr erreichen, können die Sozialsysteme in Deutsch-
land nicht als zukunftssicher gelten. Das allein wird
zwar angesichts der demographischen Herausforderung
nicht reichen, aber es ist die notwendige Voraussetzung,
ohne die alles Weitere nicht geht.
Herr Kollege Brandner, Tatsache ist: Wir haben – da-
für tragen zweifelsfrei Sie Verantwortung – zwischen
dem 30. Juni 2004 und dem 30. Juni 2005 pro Kalender-
tag durchschnittlich 900 Arbeitsplätze verloren und da-
mit eine entsprechende Zahl an Beitragszahlern. Gleich-
zeitig werden die Menschen, die ihren Arbeitsplatz
verlieren, oft selbst zu Leistungsempfängern der sozia-
len Sicherung. Damit wird das Problem bei den Sozial-
versicherungsträgern zusätzlich verschärft.
Deswegen warne ich sehr vor einer Selbstzufrieden-
heit, Herr Kollege Brandner, wie Sie sie gestern und
heute zur Schau gestellt haben. „Unsere Reformen zei-
gen Wirkung“, diese Äußerung von Herrn Brandner war
gestern im Ticker zu lesen. Selbst Herr Wissmann von
der Union sieht schon neue Zuversicht, die sich in den
Statistiken niedergeschlagen habe. Ich glaube, für solche
Äußerungen ist es noch etwas zu früh. Eine Trend-
wende ist noch nicht erkennbar.
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Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen
oalition, dürfen nicht glauben – nach dem, was ich von
errn Brandner, Frau Falk und Herrn Minister
üntefering gehört habe, meine ich, das sagen zu
önnen –, dass sich ein mittelständischer Unternehmer
adurch ermuntert fühlen könnte, auch nur einen zusätz-
ichen Arbeitsplatz zu schaffen. Davon sind sie weit ent-
ernt.
Ich will Ihnen an einigen Beispielen erläutern, was
ir in den nächsten Monaten zu erwarten haben. Begin-
en möchte ich mit einer Maßnahme, die im Sommer
etzten Jahres von Rot-Grün und Union, sozusagen im
orlauf der großen Koalition, auf den Weg gebracht
urde und deren Wirkung erst ab 2006 einsetzen wird
gerade deswegen darf sie bei der Beurteilung der Ar-
eitsmarktentwicklung nicht außer Acht gelassen
erden –, nämlich dem Vorziehen der Fälligkeit der
ozialversicherungsbeiträge.
Wir sprechen über einen Betrag von 20 Milliarden
uro, den die Unternehmen künftig 20 Tage früher zah-
en müssen als bisher. Weil so große Zahlen immer
chwer zu greifen sind, Herr Brandner, mache ich es et-
as anschaulicher am Beispiel eines Betriebes mit zehn
eschäftigten.
ieser muss bei einem Durchschnittslohn von
000 Euro pro Beschäftigten bei einem Beitragssatz von
2 Prozent ab Januar 12 600 Euro dauerhaft vorzeitig
bführen. Diesen Betrag muss er vorfinanzieren. Einige
on Ihnen sagen – das haben wir alles gehört –:
2 600 Euro sollten doch wohl kein Problem sein. Ich
age Ihnen: Das ist für viele Mittelständler ein Problem.
Seit 2001 gibt es pro Jahr etwa 40 000 Unterneh-
enspleiten; diese Zahl ist ziemlich konstant. Die Men-
chen gehen doch nicht aus Jux und Tollerei zum Amts-
ericht, um Konkurs anzumelden. Viele Unternehmer
erden in Zeiten von Basel II ein großes Problem be-
ommen, wenn sie im Januar zu ihrer Bank gehen müs-
en und die Kreditlinie erweitern wollen. Das wird häu-
ig nicht funktionieren.
Das haben Sie zumindest teilweise erkannt; denn Sie
aben eine Übergangsregelung in das Gesetz aufgenom-
en, nach der man den Beitrag für Januar auf die Mo-
ate Februar bis Juli verteilen darf. – Sie nicken so
elbstgefällig, Herr Grotthaus.
pätestens ab Juli müssen die Unternehmen die volle
elastung tragen. Dann muss das finanziert werden. Un-
ernehmer sind doch nicht so dumm, dass sie im Januar
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Dr. Heinrich L. Kolb
Menschen einstellen, wenn sie spätestens im Juli die
volle Belastung zu tragen haben.
Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich einige in der
Politik gerne in die Taschen lügen.
Es gibt noch weitere Beispiele, die ich anführen will.
Von der Bürokratie, die das Ganze mit sich bringt,
habe ich noch nicht gesprochen. Ich nenne nur die Stich-
worte „doppelte Beitragsabführung bei den Unterneh-
men“ und „entsprechende Arbeit bei den Krankenkas-
sen“; das ist wiederum ein anderes Thema. Die
Vermutung liegt nahe, dass die Bürokratie, die hier ent-
steht, deutlich größer ist als das, was Sie mit Ihrem
Small-Company-Act den Unternehmen an Entlastung
bringen können.
Der Small-Company-Act ist ein schönes Beispiel da-
für, dass Sie nicht die Sprache der Unternehmen in die-
sem Lande sprechen, zumindest nicht die Sprache der
mittelständischen Unternehmer. Darauf möchte ich hin-
weisen.
Zu dieser Vorbelastung kommt Anfang 2007 die
Erhöhung der Mehrwertsteuer hinzu. Herr
Müntefering, Sie als zuständiger Minister müssten ei-
gentlich auf die Barrikaden gehen. Denn je nachdem, ob
man die Mehrwertsteuer über die Preise weitergeben
kann oder nicht – vieles spricht dafür, dass man das in
der derzeitigen konjunkturellen Situation eher nicht kann
und dass das von den Unternehmen aufgefangen werden
muss –, werden Arbeitsplätze in erheblicher Größenord-
nung verlustig gehen. Es werden jedenfalls keine neuen
entstehen. Das gilt es hier festzuhalten.
Jetzt kommen Sie mir nicht damit, Sie hätten die Bei-
träge um 2 Prozentpunkte gesenkt. Bildlich kann man
das so beschreiben: Sie nehmen den Leuten die Sau vom
Hof und geben ihnen zur Beruhigung ein Kotelett zu-
rück. Eine echte Verbesserung der Situation der Unter-
nehmen erreichen Sie nicht.
All das zeigt – das geht an Herrn Brandner und auch
an die Adresse der Kollegen von der Union, die das frü-
her besser gewusst haben –: Sie haben nicht verstanden,
wie neue Arbeitsplätze entstehen. Die entstehen nicht
durch die Appelle des Kollegen Stiegler und des Minis-
ters Müntefering, die Wirtschaftsführer mögen jetzt doch
bitte dafür sorgen, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Sie
entstehen dann, wenn sich ein mittelständischer Unter-
nehmer Gedanken macht und am Ende zu dem Ergebnis
kommt, er könne einen solchen Arbeitsplatz – durchaus
auch mit Gewinn – auf Dauer errichten. Ich muss sagen:
Dass Sie von der CDU und der CSU das vergessen ha-
ben, finde ich schon enttäuschend.
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Herr Brandner, was Sie beim Kündigungsschutz getan
aben, ist vollkommen nachrangig. Die Unternehmer
üssen am Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass es
ich lohnt, Arbeitsplätze zu schaffen.
Das wird auch bei den geplanten Änderungen des
ündigungsschutzgesetzes deutlich. Herr Kollege
ofalla, den ich heute hier nicht sehe, hat davon gespro-
hen, dass das eine der größten Reformen des Kündi-
ungsschutzes überhaupt sei.
as ist wirklich nicht zu Ende gedacht. In der Praxis
eist das eine ganze Reihe von Problemen auf, die Sie,
err Brandner, aus der Gegensicht teilweise hier auch
ingeführt haben.
Es ist nämlich so: Eine sachgrundlose Befristung ist
iel flexibler; denn bei einer Befristung endet das Ar-
eitsverhältnis automatisch. Eine Kündigung muss dage-
en formal richtig geschrieben und zugestellt werden
nd der Betriebsrat muss angehört werden.
ie sehen schon an diesen wenigen Beispielen, dass das
lles in Zukunft wesentlich bürokratischer wird.
Zum Schluss will ich noch ein paar Sätze zur Rente
agen. Früher hatten die Bank von England und die deut-
che Rentenversicherung das gleiche Ansehen. Beide
alten als Hort der Stabilität und der Seriosität. Herr
randner, für die Bank von England gilt das heute noch
mmer, während es für die deutsche Rentenversicherung
ach sieben Jahren Rot-Grün leider nicht mehr gilt.
Die Rentenversicherung lebt von der Hand in den
und. Hatten wir 2001 noch eine Schwankungsreserve
on 13,5 Milliarden Euro, so beträgt sie heute unter dem
abel Nachhaltigkeitsrücklage gerade einmal noch et-
as weniger als 1 Milliarde Euro. Konnte man das frü-
er noch in Bruchteilen von Monaten ausrechnen, so
uss man das heute in Stunden tun, damit man das über-
aupt noch einigermaßen anschaulich darstellen kann.
In der Koalitionsvereinbarung arbeiten Sie weiter
ach dem Motto: Wir haben keine Lösung, also gibt es
uch kein Problem. Das ist Ihre politische Strategie, mit
er Sie hier an die Arbeit gehen.
Ich finde es schade – leider kann ich das hier nicht
änger ausführen –, dass sich die Kollegen von der
nion hier auf Verschiebebahnhöfe einlassen, zum Bei-
piel wenn es darum geht, die Beiträge für ALG-II-
mpfänger zu reduzieren, was die Rentenversicherung
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Dr. Heinrich L. Kolb
immerhin 2 Milliarden Euro kostet. Damit stehen hier
auch wieder 0,2 Beitragspunkte zu Kalkül.
Zum Schluss darf ich noch einen Satz von Frau
Engelen-Kefer zitieren:
Die in der Koalitionsvereinbarung getroffenen Fest-
legungen geben zu der Befürchtung Anlass, dass
die engen und komplexen Verflechtungen zwischen
Rentenhöhe, Beitragssatz und Bundeszuschuss in
den Koalitionsverhandlungen möglicherweise nicht
hinreichend berücksichtigt worden sind.
Ich gebe Frau Engelen-Kefer selten Recht, aber an dieser
Stelle muss und will ich es gerne tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.