Die Regierung bekennt sich in ihrem Koalitionsver-
rag dazu, die Fundamente der sozialen Marktwirtschaft
u stärken. Das ist lobenswert; nur so kommen wir zu
ehr Wachstum und Beschäftigung. Doch die Vorstel-
ungen, die die Regierung äußert, zeigen deutlich: Diese
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Rainer Brüderle
Absichtserklärung ist ein Lippenbekenntnis. Im Wahl-
kampf hat Frau Merkel die deutsche Maggie Thatcher
gespielt; jetzt spielt sie die Frau Holle, die überall weiße
Flocken auf die Problemfelder streut.
Wenn der Inhalt des Koalitionsvertrags umgesetzt wird,
wird die Marktwirtschaft nicht gestärkt, im Gegenteil:
Sie wird geschwächt. Die geplanten Steuererhöhungen
entspringen einer übertriebenen Staatsgläubigkeit. Haus-
haltssanierung ist nicht zu beanstanden, im Gegenteil:
Sie ist dringend notwendig. Aber die Bundesregierung
sollte auf der Ausgabenseite sparen, statt zusätzliche
Steuern wie die so genannte Reichensteuer zu erfinden.
Damit leistet sie nur der Kapitalflucht ins Ausland Vor-
schub. Das Geld brauchen wir aber in Deutschland, es
muss hier investiert werden.
Es gab doch einen ganz primitiven Kuhhandel: Gibst du
mir meine Mehrwertsteuer, bekommst du deine Reichen-
steuer; schluckst du meine Kröte, schluck ich deine.
Aber das ist keine Strategie für mehr Wachstum. Mehr
Steuern ist immer ein Weniger an Freiheit: weil ich we-
niger über die Verwendung dessen, was ich mir selbst
hart erarbeite, entscheiden kann, sondern andere an mei-
ner Stelle entscheiden, was damit geschieht. Das ist ein
Abbau von Freiheit und nicht ein Mehr an Freiheit!
Trotz der derzeitigen Staatsquote in Deutschland
maßt sich der Staat erneut an, dem Bürger tiefer in die
Tasche zu greifen. Wir müssten weniger statt mehr
Staatseingriffe haben. Die Erhöhung der Mehrwert-
steuer ist das Gegenteil. Herr Glos sprach von einer Of-
fensive für den Mittelstand. „Offensive“ bedeutet An-
griff – und das klingt nicht nur so: Die Erhöhung der
Mehrwertsteuer ist ein Angriff auf den deutschen Mittel-
stand.
Über die Verteilungswirkung der Mehrwertsteuer ist
viel gesagt worden; aber einen Aspekt hat man bisher
ausgeblendet, nämlich die Wirkung einer Mehrwertsteu-
ererhöhung auf die Preisstabilität und die Beschäftigung.
Wenn die Unternehmen die Steuererhöhung auf die
Preise aufschlagen können, handeln wir uns Zweitrun-
deneffekte ein: Die Gewerkschaften haben schon ange-
kündigt, höhere Löhne zu fordern, um kommende Preis-
erhöhungen zu kompensieren. Schon die Erwartung
einer höheren Inflation heizt Preissteigerungen an. Eine
Folge davon sind letztlich auch höhere Zinsen.
Ich kann, so wie Herr Juncker, die Bundesregierung nur
davor warnen, zu versuchen, Druck auf die Europäische
Zentralbank auszuüben.
Hält die gegenwärtige Konsumflaute an – das ver-
mute ich –, dann können die Unternehmen die Mehr-
wertsteuererhöhung nicht auf die Abnehmer abwälzen.
Dadurch verschlechtert sich die Gewinnsituation der Un-
ternehmen. Der Mittelstand hat aber keine Polster, über
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Die Freiheit der Unternehmen zu stärken, hieße,
üter- und Faktormärkte zu flexibilisieren, vor allem
en Arbeitsmarkt. Was Sie im Bereich des Kündigungs-
chutzes machen, ist Augenwischerei. Schon bisher
onnte die Probezeit bis zu 24 Monate dauern. Jetzt ge-
en Sie dem einen neuen Titel. Das ist faktisch keine
eränderung.
Die Philosophie dieser Regierung ist eher, Märkte ab-
uschotten, anstatt sie zu liberalisieren. Die Entsende-
ichtlinie auf Gebäudereiniger auszudehnen, ist ein Bei-
piel dafür. Die europäische Dienstleistungsrichtlinie
st der Koalition suspekt. Der europäische Binnenmarkt
önnte ja zu mehr Wettbewerb führen. Der SPD wäre
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Rainer Brüderle
eine Dienstleistungsverhinderungsrichtlinie lieber, sie
könnte auch gleich eine Wirtschaftsverhinderungsrichtli-
nie fordern. Als Exportweltmeister sind wir auf offene
Weltmärkte angewiesen. Diese nutzen wir gern. Wir
können uns aber nicht mit einer Dienstleistungsrichtlinie
von den Dienstleistungsmärkten abschotten.
Ebenso suspekt sind der Bundesregierung unter-
schiedliche Steuersätze in Europa. Gegenüber Län-
dern, die das marktwirtschaftliche Prinzip verstanden
haben, den Vorwurf des Steuerdumpings zu erheben, ist
absurd. Statt selbst besser zu werden, sollen andere
schlechter werden. Nein, wir müssen bei uns die Dinge
in Ordnung bringen, damit wir bessere Wettbewerbs-
chancen haben.
Dies alles atmet den Geist von Mindestlöhnen, Regle-
mentierung, Abschottung und Unfreiheit. Marktwirt-
schaft ist etwas anderes. Mehr Freiheit zu wagen, wie
die Bundeskanzlerin angekündigt hat, sieht anders aus.
Aber ihr fehlt es offenbar an marktwirtschaftlichen
Ideen. Für Anfang 2006, rechtzeitig vor den drei Land-
tagswahlen, wird ein Energiegipfel angekündigt; das ist
wahrscheinlich ein Beitrag zum Wahlkampf.
Wettbewerb ist anstrengend. Deshalb ist dieses
Thema im Koalitionsvertrag wohl auch mit keinem Ka-
pitel bedacht. Dass die CDU, die sich so oft auf Ludwig
Erhard beruft, darauf verzichtet, wundert mich. Mit dem
Bekenntnis zum Wettbewerb ist es im Koalitionsvertrag
nicht weit her. Wenn Sie von Wettbewerb sprechen, dann
meinen Sie Industriepolitik und Markteingriffe. Das gilt
für erneuerbare Energien, für den europäischen Binnen-
markt und natürlich für die Lex Telekom. Ich halte es für
skandalös, wenn der Telekom im Koalitionsvertrag ver-
sprochen wird, die vorhandenen und die noch zu erstel-
lenden Breitbandtelekommunikationsnetze für einen ge-
wissen Zeitraum aus der Regulierung herauszunehmen.
Dadurch wird ein Sonderkartellrecht geschaffen. Wo
sind wir denn? Bekommt jeder nach Hausmannsart was
gebacken? Morgen wird dem Nächsten eine Sonderposi-
tion von dieser Regierung gewährt.
Die Bundesregierung leidet an einer Machbarkeits-
illusion. Sie glaubt, sie könne den Erfolg für die Wirt-
schaft machen. Sie wissen offenbar genau, welche Bran-
chen Zukunftsbranchen sind, in denen künftig mehr
Geld verdient werden kann. Sie reden von den Leucht-
turmprojekten und hoch innovativen Bereichen. Das
muss über den Markt ermittelt werden. Das weiß der
Staat nicht besser als die Wirtschaftsunternehmen, die
jeden Tag draußen an der Front sind.
Sie sind auch nicht konsequent. Bei dem 25-Milliar-
den-Euro-Investitionsprogramm geht es in weiten Tei-
len um ganz andere Bereiche und kaum um Technologie-
förderung. Es geht um die steuerliche Absetzbarkeit von
Handwerkerrechnungen und haushaltsnahen Dienstleis-
tungen sowie um Gebäudesanierungsprogramme. Das ist
kein Beschäftigungsprogramm, das ist ein Besänfti-
gungsprogramm, um die Wirkung der katastrophal ho-
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Wir brauchen mehr Investitionen. Die staatliche In-
estitionslenkung passt nicht in den Instrumentenkasten
iner Marktwirtschaft. Monopole und Kartelle stehen
icht im Ruf, besonders innovativ zu sein. Im Bereich
er Energiewirtschaft hat Rot-Grün die Fusion von Eon
nd Ruhrgas genehmigt, deren Marktanteil nun 87 Pro-
ent beträgt. Dann beklagte sich der frühere Kanzler
uch noch darüber, dass die Gaspreise steigen! Bereits in
er zweiten Stunde der Einführung in die Volkswirt-
chaft wird an der Volkshochschule in Mainz-Süd ge-
ehrt, dass Monopolpreise höher als Wettbewerbspreise
ind. Hier liegt ein Teil der Schwierigkeiten. Die Mono-
olisierung und Kartellierung der deutschen Wirtschaft
ind falsche Wege; auf diesen kommen wir nicht voran.
Wir leben nämlich nicht primär von den Großkonzer-
en, sondern vom Mittelstand.
Sie wollen die Abschreibungsbedingungen für zwei
ahre verbessern. Das belebt die Konjunktur doch nicht
angfristig. Damit werden die Ausgaben jetzt von diesem
ns nächste Jahr geschoben und im nächsten Jahr vorge-
ogen. Das alles haben wir schon gehabt. Das ist doch
eine dauerhafte Politik. Das sind keine verlässlichen
ahmenbedingungen. Das ist auch kein Beitrag zum Ab-
au von Bürokratie, das ist ein Zuwachs an Bürokratie,
ine Verkomplizierung. Man muss über Zuschüsse und
bschreibungen strategisch entscheiden, anstatt nüch-
ern rechnen zu können. Das ist Ihr Fehler.
Auch der Sachverständigenrat sagt, dass eine umfas-
ende Unternehmensteuerreform, durch die Freiräume
eschaffen werden – nicht erst 2008, sondern jetzt –,
ine Reform des Arbeitsmarktes und die Umstrukturie-
ung der sozialen Sicherungssysteme nötig wären. Hier
achen Sie nichts. Zeitmangel war es nicht. Sie sind
ich nicht einig und wissen nicht, was Sie gemeinsam
ollen. Ich kann mir auch nur schlecht einen Kompro-
iss zwischen der Bürgerversicherung und der Kopf-
auschale vorstellen. Am besten wäre es, Sie würden un-
er Modell des Wettbewerbs nehmen, aber ich fürchte,
ass Sie dazu nicht den Mut haben.
Herr Minister Glos, Aufgabe eines Wirtschaftsminis-
ers ist es, das ordnungspolitische Gewissen einer Regie-
ung zu sein. Ludwig Erhard hat betont: Der Wirtschafts-
inister muss Mut zum Widerstand haben. Herr
inister Glos, diesen Mut werden Sie gegenüber Ihren
abinettskollegen ausgiebig gebrauchen müssen, wenn
hnen die deutsche Wirtschaft am Herzen liegt. Wenn
ie mutig sind, sind wir an Ihrer Seite. Als Girlande ei-
er falschen Politik geben wir uns nicht her. Ordnungs-
olitisch müssen Sie klotzen und nicht kleckern, sonst
leiben Sie unter der Aufbruchschwelle.
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Rainer Brüderle
Das merkelsche Trippelschritttheorem ist falsch.
Seit Paracelsus weiß man: Wenn die Dosierung nicht
stimmt, gibt es keine Wirkung. Deutschland darf kein
Versuchskaninchen für Trippelschritte sein, sondern be-
nötigt eine mutige Politik, durch die die Situation verän-
dert wird, damit sich die Wachstumsgeschwindigkeit er-
höht.
Unsere Probleme sind seit Jahren bekannt. Sie werden
nicht angepackt. Diese minimale Konsenslösung der
großen Koalition aus einer sozialdemokratischen Frak-
tion und einer sozialdemokratisierten Fraktion führt na-
türlich nicht dazu, dass es zu einem neuen Denken
kommt. Sie setzen die falsche Politik ein bisschen modi-
fiziert und rhetorisch breit gestärkt fort. Wenn wir nicht
den Mut zu Veränderungen haben, kommen wir nicht
voran.