Rede von
Andreas
Storm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Der Kollege Seehofer hat vorhin
in einer einzigen Rede mehr konkrete Vorschläge zur Ren-
tenpolitik gemacht als die Ministerin seit ihrem Amts-
antritt.
Bei der heutigen Haushaltsdebatte sollte es um Zahlen
und Fakten sowie um Klarheit und Wahrheit gehen. Aber
damit steht Rot-Grün auf Kriegsfuß. Im Juli dieses Jahres
versprach die Bundesregierung einen stabilen Renten-
versicherungsbeitrag für das nächste Jahr. Aber bereits
zu diesem Zeitpunkt hatten die Rentenversicherungsträ-
ger in Berlin massiv interveniert und gewarnt, dass nach
ihren Berechnungen der Beitragssatz auf mindestens
19,5 Prozentpunkte steigen werde. Wie sah die Reaktion
des Ministeriums aus? Unverantwortliches Gerede! Die
mehrfachen Warnungen wurden in den Wind geschlagen.
Die Dramatik liegt nun im Folgenden: Die Bundesver-
sicherungsanstalt für Angestellte, die gestern in Berlin
getagt hat, hat deutlich gemacht, dass die Daten der Bun-
desregierung aus Sicht der Rentenversicherungsträger wie-
derum geschönt sind.
Wenn man mit realistischen Annahmen rechnet, Frau
Ministerin, dann ergeben die Berechnungen der Renten-
versicherungsträger, dass wir im nächsten Jahr eine
Schwankungsreserve von einer halben Monatsausgabe
unterschreiten werden. Das ist ein Punkt, der in dieser
Haushaltsdebatte für die Öffentlichkeit klar gesagt wer-
den muss.
Noch bevor das Gesetz entgültig den Bundesrat pas-
siert hat, ist bereits klar, dass aus Sicht der Rentenversi-
cherungsträger der Rentenbeitrag im nächsten Jahr vor-
sätzlich zu niedrig angesetzt ist.
Von Ihnen, Frau Ministerin, gibt es dazu kein einziges
Wort.
Meine Damen und Herren, die Menschen in unserem
Land erwarten von der Regierung, dass Ihnen die Wahr-
heit über die Lage der Rentenfinanzen und des Gesund-
heitswesens gesagt wird. Sie erwarten dies vor allem vor
einer Bundestagswahl.
Frau Ministerin Schmidt, Sie haben eine besonders
perfide Art der Salamitaktik angewandt, um die tatsächli-
che Lage zu verschleiern. Noch am 3. September, also ge-
rade einmal drei Wochen vor der Bundestagswahl, als klar
war, dass die Krankenkassen im ersten Halbjahr ein De-
fizit von 2,4 Milliarden Euro eingefahren haben, erklärten
Sie, es seien keine Beitragserhöhungen auf breiter Front
zu erwarten.
Am gleichen Tag treibt die SPD ihre Realitätsverweige-
rung auf die Spitze mit der Behauptung: Finanzlage und
Beiträge der Krankenkassen sind stabil. – Frau Schmidt
erklärte wörtlich: Es gibt keinen Anlass, Panikmache zu
veranstalten.
Panik brach dann unmittelbar nach der Bundestagswahl
aus. In aller Eile haben Sie ein Vorschaltgesetz gezimmert,
mit dem Sie Beitragserhöhungen vermeiden wollten.
Als vor drei Wochen das Vorschaltgesetz im Deutschen
Bundestag verabschiedet wurde, haben Sie erklärt,
dass es plötzlich ein Defizit von 1,2Milliarden Euro gebe.
Zehn Tage später waren es 2 Milliarden Euro. Jetzt muss-
ten Sie einräumen, dass es mehr sind. Ich sage Ihnen vo-
raus: Noch vor Weihnachten werden wir feststellen, dass
in diesem Jahr die Krankenkassen mindestens mit einem
Defizit von 3 Milliarden Euro abschließen werden.
Meine Damen und Herren, die Konsequenz hieraus be-
deutet doch, dass die Beiträge im nächsten Jahr massiv
steigen werden, und zwar auf eine Größenordnung von bis
zu 14,5 Prozent. Das heißt, in einem Zeitraum von zwölf
Monaten steigen die Beiträge in der Amtszeit von Frau
Schmidt um mindestens einen Punkt.
Klaus Kirschner
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Andreas Storm
Das ist mehr als zuvor in einem Zeitraum von zwölf Jah-
ren.
Damit ist das Ziel des Vorschaltgesetzes, Frau Schmidt,
nämlich Beiträge zu stabilisieren, bereits gescheitert, be-
vor Ihr Gesetz in Kraft getreten ist.
Das hat einen einzigen Grund und dieser Grund liegt
darin, dass die Diagnose, die diesem Gesetz zugrunde
liegt, nicht stimmt. Deswegen kann auch die Therapie
nicht greifen. Ihre Diagnose lautet, dass es nicht ein Ein-
nahmeproblem sei. Die Sachverständigen – ich nenne
einmal den langjährigen Vorsitzenden des Sachverständi-
genrats im Gesundheitswesen, Professor Schwartz – sa-
gen Ihnen jedoch deutlich, dass es derzeit bei der Kran-
kenversicherung in erster Linie ein Einnahmeproblem
und nicht ein Ausgabenproblem gibt. Das hat vor allem
zwei Ursachen. Die eine Ursache ist die hochdramatische
Arbeitsmarktlage, die derzeit allen Zweigen der Sozial-
versicherung die Beitragseinnahmen wegbrechen lässt.
Das gilt im Übrigen nicht nur für die Kranken- und Ren-
tenversicherung, sondern in ähnlicher Weise auch für die
Pflegeversicherung, der die Rücklage in einer Weise da-
vonschwimmen wird, wie Eis in der Sonne schmilzt.
Meine Damen und Herren, nicht nur diese dramatische
Arbeitsmarktlage, sondern vor allem auch der gewaltige
Verschiebebahnhof verursacht die Probleme der Kran-
kenkassen massiv. Das Gutachten der Wirtschaftsweisen,
das vor wenigen Tagen der Bundesregierung überreicht
worden ist, macht deutlich, dass allein in den Jahren 2001
und 2002 die gesetzliche Krankenversicherung in einer
Größenordnung von 0,4 Beitragssatzpunkten belastet
worden ist. Das heißt, der Löwenanteil des Beitragssatz-
anstiegs in diesem Jahr ist auf den hausgemachten Ver-
schiebebahnhof dieser Regierung zurückzuführen.
Meine Damen und Herren, genau diesen gravierenden
Fehler setzen Sie nun fort. Denn am gleichen Tag, als im
Deutschen Bundestag das Vorschaltgesetz verabschiedet
worden ist, haben Sie mit der Verabschiedung des Hartz-
Gesetzes den Krankenkassen neue Lasten in einer
Größenordnung von 1,5 Milliarden Euro aufgebürdet.
Das bedeutet, dass die Kassen auf der einen Seite in einer
Dimension von 2,5 Milliarden Euro entlastet werden sol-
len und auf der anderen Seite mit 1,5 Milliarden Euro be-
lastet werden. Damit ist ganz klar: Die Kassen können gar
nicht anders als Beiträge zu erhöhen; anders können sie
Defizite in einer so gigantischen Dimension nicht bewäl-
tigen.
Es braucht ein gerüttelt Maß an Selbstüberschätzung
und Realitätsverlust, wenn man, wie es der Bundeskanz-
ler im gesundheitspolitischen Teil seiner Rede gestern ge-
tan hat, behauptet, mit diesem Vorschaltgesetz werde
eine Basis für weiter reichende Strukturreformen ge-
schaffen. Frau Schmidt, was ist es für eine Basis, wenn
den Krankenhäusern und Arztpraxen eine Nullrunde ver-
ordnet wird, mit dem Ergebnis, dass es zu Wartelisten für
Operationen kommen wird oder aber Mitarbeiter entlas-
sen werden müssen?
Was ist es für eine Basis, wenn Zehntausende Arbeits-
plätze in den Apotheken zerstört werden? Was ist es für
eine Basis, wenn zahlreiche kleine Apotheken schließen
müssen und die Versorgung der Patienten insbesondere im
ländlichen Raum massiv bedroht wird? Die Apotheken
sind angesichts einer Belastung von mehr als 1 Milliarde
Euro die Hauptleidtragenden dieses Notstandsgesetzes.
Dieses Existenzvernichtungsprogramm wird die Apothe-
kenlandschaft in den nächsten Monaten massiv umkrem-
peln.
Der rot-grüne Irrsinn wird aber beim Zahnersatz am
deutlichsten.
Oft wird behauptet, die Zahntechniker seien Preistreiber.
Das Gegenteil ist der Fall: Die Einkommens- und Preis-
entwicklung lag in diesem Bereich in den letzten Jahren
weit unter dem Durchschnitt der allgemeinen Preisent-
wicklung im Gesundheitswesen. Nun sollen die Preise der
Leistungserbringer per Gesetz um 5 Prozent gesenkt wer-
den.
Gleichzeitig wird die Mehrwertsteuer um 9 Prozent-
punkte erhöht. Am Ende werden die zahntechnischen
Leistungen teurer als vorher sein. Das Geld wird vom
Finanzminister kassiert und Arbeitsplätze fallen weg.
Eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus den
Reihen der Koalitionsfraktionen haben hierzu persönliche
Erklärungen abgegeben. Aber was nützen diese persön-
lichen Erklärungen,
wenn sie am Ende nicht die Konsequenz ziehen und zu ei-
ner solchen Gesetzgebung nicht Nein sagen? Absurder
und zynischer kann es nicht gehen.
Meine Damen und Herren, damit bleibt eines übrig:
Die finanziellen Probleme der Sozialversicherung sind
weit gehend hausgemacht. Sie entziehen der Sozialversi-
cherung mit der einen Hand Milliardensummen. Mit der
anderen Hand sammeln Sie dieses Geld zulasten der Pati-
enten und Beitragszahler und vor allen Dingen der Be-
schäftigten im Gesundheitswesen ein.
Was muss getan werden, um eine Entlastung der Bei-
tragszahler zu erreichen? Der erste Punkt: Es muss natür-
lich Schluss mit diesen Verschiebebahnhöfen sein.
Ohne diese Verschiebebahnhöfe wäre der Löwenanteil
des Beitragserhöhungspotenzials für das nächste Jahr be-
reits weggefallen. Der zweite Punkt: Es müssen Vor-
schläge für mehr Eigenverantwortung der Versicherten
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1091
gemacht werden. Warum verschließen Sie sich immer
noch dem Gedanken, einen Selbstbehalt einzuführen,
nachdem mit der TK die erste Kasse im nächsten Jahr ei-
nen entsprechenden Versuch machen wird?
Der niedersächsische Ministerpräsident – Kollege
Seehofer hat es bereits angesprochen – hat diesen Vor-
schlag ebenfalls unterstützt. Warum lassen Sie die Kassen
nicht einmal ausprobieren, wie das Ganze funktioniert?