Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Seehofer, Ihr Plädoyer eben habe ich eher als ein Plä-
doyer an die Adresse Ihrer eigenen Fraktion verstanden.
Es war ein Plädoyer für den Erhalt des deutschen Sozial-
versicherungssystems vor dem Hintergrund einer Diskus-
sion, die bei Ihnen permanent stattfindet.
Ich will dazu eine Bemerkung machen. Sie wollen das
Renteneintrittsalter auf 60 Jahre festsetzen. Als ehema-
liger Staatssekretär und Gesundheitsminister sollten Sie
wissen, dass dann bei Herausrechnung der Erwerbsmin-
derungsrenten das Rentenniveau bei 62,4 Prozent läge.
Das sind die korrekten Zahlen. Ich sage das, damit in der
Öffentlichkeit kein falscher Eindruck entsteht.
Dann möchte ich auf die Riester-Rente und die Be-
triebsrente eingehen. Es gibt 18 Millionen Berechtigte.
Ungefähr drei Millionen Verträge sind in diesem Zusam-
menhang von den Berechtigten abgeschlossen worden.
Wir schätzen – die genauen Zahlen kennen wir noch
nicht –, dass die Zahl der vertraglich vereinbarten Be-
triebsrenten zwischen 30 und 40 Prozent liegt. Die dies-
bezüglichen Tarifverträge sind im Sommer in Kraft getre-
ten. Nun sollten wir ehrlicherweise sagen: Wer vor der
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1087
Bundestagswahl zum Boykott der Riester-Rente aufgeru-
fen hat – Sie haben gehofft, dass es zu einem Regierungs-
wechsel kommt; das ist Ihr gutes Recht –, der darf sich
jetzt nicht beklagen, dass noch nicht ausreichend Verträge
abgeschlossen worden sind. Man sollte hier die Dinge
korrekt beim Namen nennen.
Lassen Sie mich etwas zum demographischen Faktor
sagen. Die Beitragssätze wären nach dem demographi-
schen Faktor der CDU/CSU- und FDP-Regierung 2015
auf 22 Prozent gestiegen. Das sollten Sie nicht ver-
schweigen. Das Rentenniveau wäre auf 64 Prozent ge-
sunken. Wir haben das verbessert – auch ohne Riester-
Rente. Wir haben eine Grundsicherung und die
Anrechnung von Kindererziehungszeiten eingeführt. Sie
müssen beides nebeneinander stellen. Dann werden Sie
zugeben müssen, dass bei Ihnen die Beitragssätze stärker
gestiegen wären und das Rentenniveau tiefer gesunken
wäre.
Ich möchte eine Bemerkung – das ist mir wichtig – zu
den Sozialhilfeempfängernmachen. Über sie wurde vor-
her schon gesprochen. Sagen Sie einmal, um welche
Sozialhilfeempfänger es geht. Auch hinsichtlich Ihrer
Forderung, die Budgets aufzuheben, besteht noch Klä-
rungsbedarf.
Wenn Sie die Budgets generell aufheben wollen – Sie
kennen doch die Zahlen so gut wie ich; tun Sie doch nicht
so –, wie wollen Sie dann noch die Kosten steuern?
Sie haben doch selbst seinerzeit die Budgets eingeführt.
– Sie haben sie eingeführt und später sind Ihnen
die Beitragssätze davongelaufen.
Ich komme später noch darauf zu sprechen.
– Warten Sie es ab, lieber Kollege Thomae.
Ich will an dieser Stelle eines feststellen: Sie erzählen
Märchen, lieber Kollege Thomae.
– Warum raten Sie mir zur Vorsicht? Sie wissen doch gar
nicht, was ich sagen möchte. Hören Sie doch erst einmal
zu! Sie sind ein Märchenerzähler.
Sie sagen, es komme durch die Budgetierung zu Leis-
tungseinschränkungen.
Tun Sie mir einen Gefallen und lesen Sie den jüngsten
Arzneiverordnungsreport! Sie müssen ihn nicht vollstän-
dig lesen; es reicht, wenn Sie das erste Kapitel und das
Kapitel 50 lesen. Den Autoren zufolge – dabei handelt es
sich um seriöse Fachleute, die Sie genau wie wir bereits
als Sachverständige im Ausschuss angehört haben; Frau
Kollegin Bender hat bereits darauf hingewiesen – sind
ohne Einschränkung der therapeutischen Qualität Ein-
sparungen in Höhe von 4,2 Milliarden Euro – das ist ein
Fünftel – möglich.
Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis! Es ist
doch eine Steuerung notwendig. Auch Sie müssten eine
Steuerung vornehmen oder wollen Sie alles freigeben?
Wie wollen Sie letzten Endes die GKV steuern, wenn Sie
auf der einen Seite die Stabilität der Beitragssätze für
wichtig halten, aber auf der anderen Seite das Budget nach
oben offen lassen wollen? Wollen Sie die Budgetierung,
beispielsweise im Bereich des ärztlichen Gesamthonorars,
aufheben?
Wollen Sie auch das zahnärztliche Budget und alles an-
dere durchweg aufgeben? Wenn das zutrifft, lieber Herr
Kollege Dr. Thomae, dann sollten Sie zumindest erklären,
warum die privaten Krankenversicherungen ebenfalls die
Beitragssätze bzw. die Prämien erhöhen müssen, und
zwar in viel stärkerem Maße und bei hoher Eigenbeteili-
gung.
In welcher Welt leben Sie eigentlich?
Es ist das gute Recht der Opposition, die Regierung zu
kritisieren. Das möchte ich nicht bestreiten.
– Das ist selbstverständlich und auch wir haben das sei-
nerzeit getan. – Aber zu dem Recht gehört auch die
Pflicht, eigene Vorschläge zu unterbreiten, lieber Herr
Kollege Seehofer. Ich habe Ihnen heute genau zugehört.
Können Sie mir sagen, wo Sie für den Bereich der ge-
setzlichen Krankenversicherung einen konkreten Vor-
schlag eingebracht haben?
Dass Sie zu den Grundprinzipien der GKV, dem Solidar-
prinzip und dem Sachleistungsprinzip, stehen, bestreite
ich nicht, sondern unterstelle ich sogar. Aber wenn Sie
dazu stehen, dann sollten Sie sich doch dazu äußern, wie
Klaus Kirschner
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Klaus Kirschner
Sie konkret mit den Instrumenten umgehen wollen, um
dies zu erhalten.
Wenn Sie sagen, die Budgetierung aufheben zu wollen,
dann sollten Sie auch erklären, auf welche Weise Sie eine
Steuerung vornehmen wollen. Wir haben im Bereich des
ärztlichen Gesamthonorars eine Budgetierung eingeführt,
die sich vertraglich an der Einnahmeseite orientiert.
Sie können durchaus feststellen, dass Sie das alles aufge-
ben würden. Wenn Ihnen aber die Beitragssätze davon-
laufen,
müssen Sie erklären, wie Sie damit umgehen wollen. Sie
wollen natürlich mit höheren Zuzahlungen gegensteuern.
Ich will nicht bestreiten, dass wir sowohl ein Einnah-
men- als auch ein Ausgabenproblem haben. Das ist unbe-
stritten.
Die hohe Arbeitslosigkeit, die abgekühlte Konjunktur und
auch die Umwandlung von großen Teilen des Lohnes – Sie
beklagen schließlich, dass Reformen in der Rentenversi-
cherung nicht im gewünschten Maße erfolgen – haben
Auswirkungen auf die Einnahmeseite der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Sie können nicht einerseits feststellen, dass die Riester-
Rente bzw. die betriebliche Rente nicht in dem Maße
nachgefragt wird, wie es eigentlich von der Regierung er-
wartet wird, ohne andererseits – schließlich sind Ihnen die
Konsequenzen, die sich daraus für die Einnahmeseite der
Sozialversicherungssysteme ergeben, bekannt – zu erläu-
tern, was Sie selber vorhaben.
Wenn Sie für die private Säule der Altersvorsorge sind,
muss Ihnen doch bekannt sein, mit welchen Auswirkun-
gen das verbunden ist.
Da die Ausgabenproblematik in der Tat besteht, steuern
wir gegen. Mit dem von uns beschlossenen Beitragssatz-
stabilisierungsgesetz
versuchen wir, die Ausgaben zu bremsen.
– Verehrte Frau Kollegin, Sie sollten wenigstens so ehr-
lich sein, zuzugeben, dass der Beitragssatz von 1992 bis
1998, also in der Zeit, in der der Kollege Seehofer als
Minister verantwortlich war, um 0,1 Prozentpunkte ge-
stiegen ist.
– Entschuldigung, ich meinte natürlich 0,91 Prozent-
punkte. Das ist fast ein Beitragssatzpunkt.
– Von 1992 bis 1998.
– Gut, wenn Sie alles abschieben wollen, dann war es
eben Ihre Vorgängerin Frau Hasselfeldt.
1992 lag jedenfalls der Beitragssatz im Jahresdurch-
schnitt bei 12,71 Prozentpunkten und 1998 lag er im Jah-
resdurchschnitt bei 13,82 Prozentpunkten. Das heißt, dass
der Beitragssatz in der Zeit, in der Sie die Verantwortung
hatten, um 0,91 Prozentpunkte gestiegen ist. Sie können
doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie beispiels-
weise 1996/97 – ich führe das deshalb an, weil Sie ja im-
mer darauf verweisen, wie großartig das Finanzergebnis
während Ihrer Regierungszeit gewesen sei – allein die
Zuzahlungen um 6 Milliarden Euro erhöht haben. Ver-
ehrter Herr Kollege Seehofer – das sage ich auch an die
Adresse Ihrer Kollegen –, dies entspricht einer Erhöhung
des Beitragssatzes um 0,6 Prozentpunkte. Das muss man
also noch hinzurechnen, wenn man wirklich wissen will,
wie Sie Ihr Finanzergebnis erzielt haben.
Ich möchte auch noch daran erinnern, dass während Ih-
rer Regierungszeit die Zuzahlungen mit 9, 11 und 13 DM
auf dem Höchststand waren. Wir haben sie auf 8, 9 und
10 DM zurückgeführt. Wir haben das getan, weil wir der
Meinung sind, dass die Menschen schon genügend durch
den hohen Beitragssatz, den Sie zu verantworten haben, be-
lastet sind. Sie haben ausschließlich die Kranken belastet.
– Verehrter Herr Kollege Dr. Thomae, wenn Sie schon ei-
nen Zuruf machen, dann tun Sie es laut und deutlich.
Ich möchte noch etwas zu der von Ihnen ständig wie-
derholten Forderung nach höheren Zuzahlungen sagen.
Sie wissen doch genau, dass 10 Prozent der Versicherten
über 80 Prozent der Leistungsausgaben verursachen.
– Das ist doch dummes Zeug. Das können Sie doch je-
derzeit in den Statistiken nachlesen. Sie sollten hier doch
nicht einzelne Experten diskriminieren, nur weil sie Ihnen
wegen ihrer politischen Ansichten nicht gefallen. Tun Sie
mir einen Gefallen und seien Sie etwas seriöser.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1089
– Herr Kollege Dr. Thomae, Sie können jeder Statistik
entnehmen, dass es 10 Prozent sind. Ich gebe Ihnen das
gerne schriftlich. Sie sollten nicht nur das lesen, was Ihre
Auffassung bestätigt, sondern ab und zu auch das, was
kritisch ist.