Rede von
Birgitt
Bender
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Seehofer, das ist das Schöne, manchmal auch das
Unangenehme am Regieren: Man muss immer das über-
nehmen, was schon da ist. Das ging auch uns 1998 so.
Deswegen hätten Sie ein Konzept für die Zeit nach dem
22. September dieses Jahres haben müssen und das habe
ich noch nicht erkannt.
Wenn man genauer hinsieht, gibt es auch jetzt bei Ih-
nen ein wüstes Durcheinander. Sie reden jetzt wieder vom
demographischen Faktor. Das kennen wir nun schon.
Sie sollten zumindest dazusagen, damit es die Leute ver-
stehen – Sie halten uns ja Leistungskürzungen vor, die gar
nicht stattfinden –,
dass der demographische Faktor zu niedrigeren Renten
führen würde. Das sollten Sie den Leuten einmal sagen.
So viel Ehrlichkeit sollte doch sein!
– Dann dürfen Sie uns aber nicht Leistungskürzungen
vorhalten. So funktioniert es nicht.
Sie leisten sich eine CDU-Wertekommission. Ihr sitzt
der Herr Christoph Böhr vor. Der hat jetzt wieder eine
neue Idee für Ihre Wohltaten. Er will Eltern mit Kindern
Gutschriften für die Rente geben und ihren Beitrag um
0,5 Prozentpunkte senken. Dann wüsste ich jetzt gern:
Soll das der Ersatz für die bisherige Unterstützung durch
Erziehungsleistungen sein, die wir mit Steuermitteln fi-
nanzieren? Oder soll das bedeuten, dass wir die Renten-
beiträge für kinderlose Menschen erhöhen? Oder soll das
vielleicht heißen, dass jetzt noch höhere Steuermittel in
das Rentensystem fließen? Man wüsste einfach gern ein-
mal, ob die Opposition entsprechende Konzepte hat und
zu welchem Preis das geschehen soll.
Man findet aber nichts. Sie sind gegen das Sparen, ob
es in der Rente die kurzfristigen Anpassungen sind oder
das Sparpaket im Gesundheitswesen. Von Lösungen hört
Birgitt Bender
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Birgitt Bender
man wenig. Ich wüsste gern, wie Sie sich angesichts des-
sen verhalten, dass wir jetzt in einem entsprechenden Ge-
setz Festbeträge für teure Analogpräparate bei Arzneimit-
teln vorgesehen haben. Das ist zustimmungspflichtig im
Bundesrat; da sind wir durchaus auf Sie angewiesen.
Diese teuren Analogpräparate verschlingen Geld, das für
tatsächliche Innovationen verwendet werden sollte. Des-
halb sehen wir jetzt Festbeträge vor. Ich wüsste gern, was
Sie dazu sagen und wie Sie überhaupt mit dem Problem
des Medikamentenverbrauchs in der Bundesrepublik um-
gehen.
Der neue Arzneiverordnungsreport besagt, dass es
ohne Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit ein
Sparpotenzial in Höhe von 4,2 Milliarden Euro gibt. Ich
frage Sie: Wollen Sie das nutzen? Wie gehen Sie eigent-
lich damit um, dass es in Hamburg in diesem Jahr vo-
raussichtlich einen Pro-Kopf-Arzneimittelverbrauch im
Wert von 400 Euro und in Nord-Württemberg von
290 Euro gibt? Das zeigt doch, dass hier Steuerungsbedarf
besteht. Erkennen Sie dies an? Wie wollen Sie das ma-
chen? Keine Antwort von der Opposition!
Was sagt die Opposition dazu, dass es in Sachsen-An-
halt pro 10 000 Einwohner etwas mehr als 70 Kranken-
hausbetten und in Baden-Württemberg etwas mehr als
60 Betten gibt und dass es insgesamt in der Bundesrepu-
blik Deutschland mehr Krankenhausbetten pro 10 000 Ein-
wohner gibt als im europäischen Ausland? Dafür haben
Sie keine Lösung. Sie haben auch keine Lösung für das
Problem, dass die Preise in den deutschen Krankenhäu-
sern bisher bei der Behandlung ein und desselben Krank-
heitsbildes um den Faktor drei auseinander liegen. Sie wa-
ren gegen die Einführung von Fallpauschalen.
Wir werden erstmals Transparenz schaffen.
Jetzt stehen Ihre Landesregierungen vor der Entschei-
dung, ob auch sie den Krankenhäusern die Nachmelde-
frist, die wir ihnen bis zum Ende dieses Jahres gewähren,
zugestehen wollen. Sie haben es zugegebenermaßen in
der Hand, das zu verhindern; das ist nämlich im Bundes-
rat zustimmungspflichtig.
Da will ich sehen, wie Sie Ihren Krankenhäusern erklären
werden, dass sie nicht bei dem Reformmodell mitmachen
können und dafür die Nullrunde tragen müssen. Ich wün-
sche viel Vergnügen!
Reden wir doch einmal über Reformen, wenn auch nur
noch sehr kurz!
Wie sagte Herr Koch noch in dem heutigen Interview?
Es gibt auch bei uns unterschiedliche Vorstellungen
etwa darüber, ob die Sozialsysteme künftig nur durch
Abgaben auf die Löhne finanziert werden sollen.
Diese unterschiedlichen Vorstellungen gestehe ich Ih-
nen durchaus zu. Auch in der Koalition gibt es dazu Dis-
kussionsbedarf. Dann sollten wir darüber einmal reden.
Ich sage Ihnen für die Grünen: Wir sind davon überzeugt,
dass es in einer Gesellschaft, in der nicht mehr der 45 Jahre
lang vollzeitig beschäftigte und einzahlende Facharbei-
ter – von den Frauen war ja eh nie die Rede – im Zentrum
steht, bei dieser Lohnzentriertheit der sozialen Siche-
rungssysteme nicht bleiben kann.
Das sind die Reformoptionen, über die wir werden re-
den müssen. Ihre Blockadepolitik, meine Damen und
Herren von der Opposition, trägt dazu nichts bei. Sie ist
lediglich ein Beitrag zur Politikverdrossenheit. Wenn Sie
diese aufgeben würden, so wäre das ein Dienst an der De-
mokratie.