Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/125, Einsetzung eines Untersuchungsaus-
schusses. Die Fraktion der CDU/CSU wünscht Abstim-
mung in der Sache, die Fraktionen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen beantragen Überweisung an den
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung. Nach ständiger Übung hat der Antrag auf Aus-
schussüberweisung Vorrang. Folglich lasse ich über die-
sen Antrag zuerst abstimmen.
Wer dem Antrag auf Überweisung zustimmt, den bitte
ich um das Handzeichen. – Wer stimmt gegen diesen An-
trag? – Wer enthält sich der Stimme? – Der Antrag auf
Überweisung ist mit den Stimmen der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der
fraktionslosen Mitglieder des Hauses angenommen wor-
den. Folglich stimmen wir über den Antrag auf Drucksa-
che 15/125 heute nicht ab.
Bevor ich den nächsten Geschäftsbereich im Rahmen
der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages aufrufe,
möchte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die die-
ser Debatte nicht folgen können oder wollen, bitten, den
Plenarsaal möglichst zügig zu verlassen, damit wir für die
folgenden Redner die nötige Aufmerksamkeit sicherstel-
len können.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Außer-
dem rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
von Fristen und Bezeichnungen im Neunten
Buch Sozialgesetzbuch und zur Änderung an-
derer Gesetze
– Drucksache 15/124 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Als erster Rednerin erteile ich der Bundesministerin
Frau Schmidt das Wort.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
Soziale Sicherung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las-
sen Sie mich vorab zwei Dinge klarstellen:
Erstens. Die deutsche Rentenversicherung steht nicht
vor dem Kollaps, auch wenn eine große Boulevardzeitung
das heute behauptet hat. Diese Behauptung ist unwahr;
Dr. Jürgen Gehb
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Bundesministerin Ulla Schmidt
diese Aussagen sind unverantwortlich. Sie haben nur ein
einziges Ziel: Ängste zu erzeugen und Menschen zu ver-
unsichern.
– Auch der Bundesrechnungshof hat das so nicht gesagt.
Die Rentenversicherung macht im Moment wie alle
anderen Sozialversicherungen konjunkturbedingt eine
schwierige Zeit durch. Die Einnahmen sinken und die
Ausgaben müssen ungeachtet dessen geleistet werden.
Unsere derzeitigen Schwierigkeiten sind aber beherrsch-
bar. Wir haben zu diesem Zweck in diesem Parlament ein
Beitragssatzsicherungsgesetz beschlossen. Wenn dieses
Vorhaben Gesetz ist, wird die finanzielle Situation der
Rentenversicherung auch in den kommenden Jahren gesi-
chert sein. Kein Rentner und keine Rentnerin muss sich
Sorgen machen; das deutsche Rentenversicherungs-
system ist sicher. Durch die notwendigen Anpassungen,
durch die notwendigen Reformen – Reformen sind immer
nötig – werden wir dafür sorgen, dass dies so bleibt und
dass die Auszahlung der Rente für alle gesichert ist.
Wir haben mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz –Anhe-
bung der Rentenbeiträge auf 19,5 Prozent und Verände-
rung der Schwankungsreserve – einen Finanzpfad aufge-
zeigt.
Der Haushalt, den wir heute beraten, sieht vor, dass
rund 77 Milliarden Euro in die Rentenversicherung
fließen. Dem liegt nicht der Gedanke zugrunde, dass die
Rentenauszahlungen nicht sicher sind; die Regierungsko-
alition hat vielmehr bewusst die Entscheidung getroffen,
die gesamtgesellschaftlich zu leistenden Aufgaben über
Steuermittel zu finanzieren, deren Finanzierung also
nicht den Beitragszahlern und Beitragszahlerinnen zu
überlassen.
Das, was wir über Steuermittel finanzieren, ist für uns
gesellschaftspolitisch wichtig. Durch die Finanzierung
über Steuermittel bringen wir zum Ausdruck, dass wir die
Lebensleistung von Frauen und Männern anerkennen.
Das gilt insbesondere für die Lebensleistung derjenigen,
die jahrelang erwerbstätig waren, aber immer nur wenig
verdient haben. Wir sichern diesen Menschen zumindest
eine Mindestrente.
Wir erkennen an, dass eine Person – vor allen Dingen
Frauen – in der Zeit, in der sie Erziehungsaufgaben nach-
gekommen ist, nicht erwerbstätig sein konnte. Wir haben
die Grundlage dafür gelegt, dass die Erziehung eines
Kindes im Hinblick auf die Höhe der Rente genauso be-
wertet wird, als hätte der- oder diejenige in diesem Zeit-
raum einen Durchschnittsverdienst erhalten. Das ist eine
große Leistung, der im Rahmen der Rentenversicherung
Rechnung getragen wird.
Damit sorgen wir auch dafür, dass Frauen im Alter nicht
von Altersarmut bedroht sind.
Darauf können wir alle gemeinsam stolz sein, weil die-
ser Weg immer gemeinsamer Konsens war. Ich bin stolz
darauf, dass wir in unserem Haushalt dafür Mittel haben.
Das macht deutlich, dass dieser Bereich dem Staat etwas
wert ist. Wir werden dafür sorgen, dass dies auch in Zu-
kunft der Fall ist.
Zweitens. In derselben Ausgabe der „Bild“-Zeitung
wird mein Kollege Herr Seehofer mit den Worten zitiert,
dass auch die gesetzliche Krankenversicherung ein
Riesenloch aufweisen werde. Ich habe schon in der letz-
ten Woche gesagt, dass wir aufgrund der konjunkturellen
Schwierigkeiten und der wegbrechenden Einnahmen
– über Verschiebebahnhöfe, Herr Zöller; könnten wir uns,
wenn ich mehr Zeit hätte, gerne unterhalten;
zwei Drittel aller Verschiebebahnhöfe fallen in Ihre Ver-
antwortung –
und trotz hoher Tarifsteigerungen in den ersten drei Quar-
talen dieses Jahres ein Defizit von 3,2 Milliarden Euro
hatten. Es ist davon auszugehen, dass wir bis Ende des
Jahres,
wenn die Einnahmesituation so bleibt, wie sie ist, von ei-
nem Defizit von bis zu 2,5 Milliarden Euro ausgehen
müssen.
– Nein, ich habe gesagt, dass wir auf der Grundlage der
Meldungen der Krankenkassen – Sie wissen ganz genau,
dass erst circa 75 Prozent der Kassen gemeldet hatten –
hochgerechnet haben und auf ein Defizit von knapp 3Mil-
liarden Euro gekommen sind. Jetzt liegen die Daten zu
100 Prozent vor. Für die ersten drei Quartale beträgt das
Defizit 3,2 Milliarden Euro. Ende des Jahres werden wir
ein Defizit von gut 2 Milliarden Euro haben. Auch nach
den Berechnungen des Schätzerkreises kann sich das De-
fizit zwischen 2 Milliarden Euro und 2,5 Milliarden Euro
bewegen. Es kommt darauf an, wie es mit dem 13. Mo-
natsgehalt aussieht
– schlecht, natürlich, das wissen wir alle –,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1077
und wie von der Möglichkeit der Entgeltumwandlung
Gebrauch gemacht wird.
Das Defizit, das wir haben, ist auch der Ausgabenseite
und nicht nur der Einnahmeseite geschuldet. Denn
während man im Juni und im September noch von einer
Ausgabensteigerung um 2,8 Prozent ausging, haben wir
jetzt eine Steigerung um 3,3 Prozent zu erwarten. Die
Ausgaben der Ersatzkassen für die Krankenhäuser zum
Beispiel sind überdurchschnittlich hoch. Auch die Ver-
waltungsausgaben sind sehr hoch.
Außerdem haben wir noch immer hohe Ausgaben im Arz-
neimittelbereich, weil es der Selbstverwaltung nicht ge-
lungen ist, das zu erreichen, was sie zu Beginn des Jahres
vertraglich vereinbart hat, nämlich einen Rückgang der
Arzneimittelausgaben um 4,9 Prozent.
Grund dafür ist auch etwas, was wir alle wollten und
auf den Weg gebracht haben, nämlich die Umsetzung des
Wohnortprinzips zur Angleichung der Honorare der Ärzte
und Ärztinnen in den neuen Bundesländern. Die Honorare
sind um 5,7 Prozent angestiegen. Die Betriebskranken-
kassen werden dadurch mit über 23 Prozent belastet, weil
wir durchsetzen, dass sie dort bezahlen, wo die Menschen
ihre Leistungen erhalten, und das Geld nicht in den Wes-
ten geben.
Das sind die Gründe. Wir haben Maßnahmen auf den
Weg gebracht, um das Defizit abzubauen. Wir haben ge-
plant, im kommenden Jahr an der Ausgabenseite anzuset-
zen und dafür zu sorgen, dass die, die Leistungen erbrin-
gen, mit dazu beitragen, dass wir stabile Beiträge
erreichen.
Vollständigkeitshalber sage ich, weil Sie eben über das
Defizit gelacht haben
– oder es Sie in Erregung versetzte –:
Das Defizit der GKV betrug 1991 1,5 Milliarden Euro,
1992 4,8 Milliarden Euro, 1995 3,8 Milliarden Euro und
1996 fast 3,6 Milliarden Euro. Wir haben auch in 2000
und im letzten Jahr ein Defizitgehabt und auch in diesem
Jahr werden wir ein Defizit haben.
– Nein, 1998 und 1999 gab es kein Defizit.
Dies ist alles beherrschbar. Wir haben einen anderen
Weg gewählt als Sie.
– Sie hatten 1998 kein Defizit, weil Sie den Patientinnen
und Patienten in die Tasche gegriffen haben, weil Sie
Leistungen ausgegrenzt haben. Wir gehen einen anderen
Weg.
Sie werden einen Unterschied zwischen Ihrer und un-
serer Politik sehen: Sozialverbände, Patientenorganisatio-
nen, Verbraucherschutzverbände, alle sagen,
dass das vorgelegte Maßnahmenpaket, das vorgelegt
wird, in Ordnung ist. Es ist eine Wende.
Es ist eine Wende, weil erstmals nicht bei den Kranken ge-
spart wird,
sondern weil von denen ein Sparbeitrag eingefordert wird,
die besonders verdient haben, von der Pharmaindustrie
und von anderen Leistungserbringern und -erbringerin-
nen.
Deshalb sage ich Ihnen: Es wäre sehr gut, wenn Sie
diesen Weg mitgehen würden,
damit wir gemeinsam mit der Strukturreform in der ge-
setzlichen Krankenversicherung beginnen können, die im
nächsten Jahr ansteht,
eine Reform mit den Schwerpunkten mehr Wettbewerb,
Qualität, Patientenorientierung, Verbraucherschutz und
mehr Prävention, die ja zu Ihrer Zeit völlig aus dem
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
gestrichen wurde.
Auf diesem Weg können wir unsere sozialen Sicherungs-
systeme fit machen für die Zukunft. Das gilt nicht nur in
Bezug auf die Krankenversicherung.
Man kann ja darüber lachen, Herr Seehofer. Ich finde,
dass wir auf sehr guten Fundamenten aufbauen.
In den letzten zehn Jahren sind über die Sozialver-
sicherungen fast 490 Milliarden DM von West nach Ost
Bundesministerin Ulla Schmidt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Bundesministerin Ulla Schmidt
transferiert worden, um zu einer Angleichung der Le-
bensverhältnisse zu kommen. Aber es wäre auch eine
Entscheidung möglich gewesen, die die Sozialversiche-
rungskassen entlastet hätte. Wenn man in den 90er-Jahren
den Mut gehabt hätte, dies über Steuern zu finanzieren,
wären alle daran beteiligt worden und nicht allein die Bei-
tragszahler und Beitragszahlerinnen.
Ich sage das hier, weil es ein Ausdruck für die Leistungs-
stärke unserer Sozialversicherungssysteme ist.
Unabhängig davon muss jeder von uns – unabhängig
davon, wer regiert – immer die veränderten gesellschaft-
lichen Bedingungen, die Veränderungen der Arbeitsver-
hältnisse und die Veränderungen der Einnahmesituation
berücksichtigen. Die sozialen Sicherungssysteme haben
über 50 Jahre zum sozialen Frieden in diesem Land bei-
getragen. Sie haben dafür gesorgt, dass jede Familie mit
ihrem Kind zu einem Arzt gehen konnte und dass nir-
gendwo eine Behandlung aufgrund der Einkommenssi-
tuation einer Familie verweigert wurde. Sie haben dazu
geführt, dass Menschen im Alter von ihrem Einkommen
leben können. Wir müssen diese sozialen Sicherungssys-
teme dadurch fit machen, dass wir sie den Organisations-
formen, in den Strukturen und auch in der Finanzierung
immer wieder an die neuen gesellschaftlichen Verhält-
nisse anpassen.
Wir haben im Gegensatz zu Ihnen zur Rente in der letz-
ten Legislaturperiode einen Entschluss gefasst, weil wir
erkannt haben, dass die umlagefinanzierte Rente als allei-
nige Lebensstandardsicherung im Alter für die jüngere
Generation nicht mehr ausreicht; deshalb bauen wir eine
zusätzliche kapitalgestützte Säule auf. Wir haben
dafür gesorgt, dass auch Menschen mit geringem Ein-
kommen ermöglicht wird, diese Säule aufzubauen. In der
Endstufe steht hierfür ein Fördervolumen von über
12 Milliarden Euro zur Verfügung. Darauf sind wir stolz,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Wir haben zweitens dafür gesorgt, dass mit der Ein-
führung dieser Riester-Rentemittlerweile 18,8Millionen
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über Tarifverträge
die Möglichkeit haben, Pensionskassen und Pensions-
fonds beizutreten.
Wir haben ein Drittes getan: Wir haben dafür gesorgt,
dass sich mit der Änderung der Anpassungsformel eine
geringere Belastung für die jüngere Generation durch eine
verringerte Erhöhung der Rente für die ältere Generation
ergibt. Dies führt zu mehr Generationengerechtigkeit.
Dies sind notwendige Reformen, die unsere sozialen Si-
cherungssysteme den neuen Herausforderungen anpassen
und sie fit für die Zukunft machen. Darauf bin ich stolz.
Lassen Sie mich kurz zitieren, was letztens im Bayern 2
Radio gesendet wurde. Dies hat mir so gut gefallen, dass
ich es gern meinen Freunden aus der bayerischen CSU
vorlesen möchte – ich zitiere –:
Es gibt da ein Land – es heißt Deutschland – und in
dem geht es ziemlich schrecklich zu.
Ein fürchterlicher Staat greift mit Krakenarmen nach
den unschuldigen Bürgern und saugt die letzten
Steuergroschen aus ihnen heraus. Für Kranken- und
Rentenversicherung müssen die Menschen Haus und
Hof verkaufen. „Wir schuften nur noch für den
Staat“, teilen uns die Schlagzeilenmacher mit und er-
klären im Übrigen, dass es furchtbar enden wird.
Aber da gibt es noch ein zweites Land. Es heißt
Deutschland. Und in diesem Land gibt es einen Le-
bensstandard, um den uns fast die ganze Welt benei-
det.
Ärztliche Versorgung und Renten sind auf hohem
Niveau, die Straßen sind so breit wie sonst nirgends
und die Menschen kaufen in Läden ein, in denen es
47 verschiedene Tiefkühlpizzen gibt...
Und wenn der Bund der Steuerzahler noch so oft vor-
rechnet, dass wir das halbe Jahr für „den Staat“ ar-
beiten würden, dann kann ich nur erwidern: Meine
Frau und ich empfanden es stets als ein hohes Maß
an Lebensqualität, dass wir für unsere Kinder einen
Arzt rufen konnten, wann immer es notwendig war,
und dass dieser Staat außerdem Schulen betreibt,
Feuerwehrautos und Theater, Sozialstationen, Poli-
zei, Sportplätze und vieles mehr.
Weil dieses mein und unser Deutschland ist, sage ich,
liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns wieder
alles vom Kopf auf die Füße stellen!
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir dieses
Deutschland so, wie es hier beschrieben ist, weiterent-
wickeln und das, was unseren Staat in den letzten 50 Jah-
ren ausgezeichnet hat – soziale Sicherung für unsere Bür-
ger und Bürgerinnen –, mit den notwendigen Reformen
zukunftsfest machen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass
dies erhalten bleibt! Ich lade Sie gerne dazu ein.
Vielen Dank.