Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Clement, in Ihrer Rede haben Sie vieles
schöngefärbt. Es wäre gut, wenn einiges von dem, wovon
Sie glaubten, es uns hier bereits sagen zu können, wahr
werden würde.
Zum Kollegen Stiegler möchte ich sagen – das gilt ins-
besondere in der Weihnachtszeit –: Immer schön bei der
Wahrheit bleiben!
Ich habe sehr wohl registriert, dass er für die falschen
Zahlen, die er uns an die Hand geben wollte, von der
linken Seite des Parlaments keinen Beifall bekommen
hat. Es kann nicht bestritten werden, dass es in der
Bundesrepublik Deutschland allein in diesem Jahr über
40 000 Konkurse gab, dass alle 15 Minuten ein Betrieb
Pleite geht
und dass – das kann man leider nicht wegdiskutieren – je-
den Tag 115 Betriebe „über die Wupper gehen“. Allein in
diesem Jahr sind es bereits 10 000 Betriebe mehr als im
Rekordjahr 2001 und doppelt so viele wie 1998.
Nicht nur das, was Herr Stiegler zu den Insolvenzen
gesagt hat, war falsch, sondern auch das, was er zu den
Selbstständigen gesagt hat.
Der Anteil der Selbstständigen in der Bundesrepublik
Deutschland ist nämlich rückläufig. Im Vergleich zum Jahr
2000 gab es im Jahr 2001 in der Bundesrepublik Deutsch-
land laut Statistischem Bundesamt – ich habe mir diese
Zahlen extra geben lassen – über 11000 Selbstständige we-
niger. Wenn Sie schon Zahlen nennen, dann bitte richtige!
Auch durch die heutige Diskussion hat sich das Thema
Hartz wie ein roter Faden gezogen. Mit dem Thema Hartz
– der Minister, der verehrte Kollege Dr. Wend, der Herr
Brandner und verschiedene andere haben es angespro-
chen – ist es wie mit einer Rakete: Erst knallt es – voll-
mundige Ankündigungen werden in die Welt gesetzt –,
dann zischt es – in einer Kirche wird eine riesengroße
Feier aufgezogen –, dann stinkt es – die SPD greift die we-
nigen entscheidenden Punkte, die es gab, auf, um sie dann
auf Druck der Gewerkschaften nicht umzusetzen – und
jetzt ist es dunkel.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1061
Von den Ankündigungen ist nur sehr wenig übrig geblie-
ben und die Arbeitslosen schauen sozusagen ins Ofenrohr.
So sieht es mit der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-
Kommission aus.
Wir sollten gerade die Jahreszeit nicht vergessen;
schließlich steht Weihnachten vor der Tür und in 26 Tagen
geht das Jahr zu Ende. Noch nie sind in der Bundesrepu-
blik Deutschland so viele betriebliche Weihnachts- und
Adventsfeiern abgesagt worden.
In vielen Betrieben musste das Weihnachtsgeld gestrichen
oder reduziert werden, weil die Betriebe es einfach nicht
mehr packen. Das kann doch nicht wegdiskutiert werden.
Viele Handwerks- und Mittelstandsbetriebe konstatie-
ren, dass das Geschäftsklima in den Sommermonaten
noch nie so schlecht wie in diesem Jahr war.
Im Durchschnitt waren 48 Prozent der Betriebe im Wes-
ten und 44 Prozent der Betriebe im Osten von Umsatz-
einbußen betroffen. Das bedeutet im laufenden Jahr einen
Verlust von 900 000 Arbeitsplätzen.
Die Bauwirtschaft und das Ausbaugewerbe sind da-
von besonders betroffen. Viele Betriebe – das berührt
mich am meisten – leben momentan von der Substanz.
Deshalb verstehe ich, dass die Baufirmen vor 14 Tagen
und vor vier Wochen hier in Berlin auf die Straße gegan-
gen sind, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Dahinter stehen jede Menge Probleme, von denen nicht
nur die Firmen, sondern auch die einzelnen Mitarbeiter be-
troffen sind, weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz haben.
In vielen Betrieben sind Frust und Aggression zu
spüren. Deshalb die klare und eindeutige Aussage von
uns: Die Wirtschaft und vor allen Dingen der Mittelstand
brauchen dringend eine verlässliche Politik, die wieder
Vertrauen schafft,
eine mittelstandsgerechte Politik, die die Mehrheit der Be-
triebe und der dort Beschäftigten wieder in den Mittelpunkt
stellt, eine Politik für die Leistungsträger unserer Gesell-
schaft, die diese motiviert, ihre Leistungsfähigkeit zu ent-
falten und neues Wachstum zu schaffen. Nur durch Wachs-
tum kann der Staat die Einnahmen erzielen, die er für die
Zukunftssicherung im Sinne der Solidarität braucht.
Leider, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat die
Fülle von wirtschaftspolitischen, steuerpolitischen und
vor allem sozialpolitischen Maßnahmen der Bundesregie-
rung in jüngster Zeit nicht dazu beigetragen, das notwen-
dige Vertrauen in eine Politik für den Mittelstand wieder-
herzustellen.
Das Handwerk meldet, dass nach dem Umsatzrück-
gang in diesem Jahr von rund 4,5 Prozent mit dem Verlust
von fast 300 000 Arbeitsplätzen im nächsten Jahr ein Mi-
nus von weiteren 3 Prozent mit einem zusätzlichen Ver-
lust von 100 000 bis 300 000 Stellen befürchtet wird. Herr
Bundesminister Clement, das berührt mich. Da können
Sie hier zehnmal sagen, der Export steige wieder. Wie
sieht es denn mit der Binnenwirtschaft aus? Auch diese
Betriebe ringen doch ums nackte Überleben. Für diese
Betriebe muss eine Politik gemacht werden, die in sich
schlüssig ist.
Ich meine auch, dass Bundeskanzler Schröder gestern
bei der großen Debatte hier im Bundestag wieder eine
Chance verspielt hat, gab es doch wieder kein Signal
dafür, dass die Bundesregierung gewillt ist umzusteuern.
Denn gerade der Mittelstand braucht dringend Korrektu-
ren, wie eine Unternehmensteuerreform, darüber hinaus
eine Verringerung der überhöhten Lohnzusatzkosten
durch Strukturreformen, ein Sozialversicherungssystem,
dass er tragen kann, und weniger Belastungen durch die
Bürokratie.
Herr Minister Clement, die Botschaft höre ich wohl:
Sie wollen die Bürokratie abbauen. Das hat Ihr Vorgän-
ger versucht und die Mittelstandsbeauftragte der damali-
gen Bundesregierung – sie sitzt ja heute unmittelbar hin-
ter Ihnen – ist mit dem hehren Versprechen angetreten,
dafür zu sorgen, dass Bürokratie abgebaut wird.
Geboren werden sollte ein großer Elefant, herausgekom-
men ist zu guter Letzt ein kleines Mäuschen. Wir werden
Sie in Bezug auf das, was Sie heute versprochen haben,
beim Wort nehmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Herr
Stiegler, der Sie ein so positives Bild der Lage des Mittel-
stands und der Wirtschaft gezeichnet haben: Es ist doch
alarmierend, wenn wir feststellen müssen, dass fast ein
Drittel der mittelständischen Betriebe ohne jeden Gewinn
arbeitet und mehr als die Hälfte der kleineren Mittel-
ständler mit einem Jahresumsatz von 5 Millionen Euro
überhaupt kein Eigenkapital mehr hat. Besorgt Sie das
nicht?
Da können Sie doch nicht sagen: Die Stimmung ist gut,
die Lage ist gut, wir brauchen nichts zu machen; man soll
das würdigen. Dazu sage ich: Das kann nicht ohne weite-
res hingenommen werden und das tun wir auch nicht.
Es ist höchste Zeit, dass auch Bundeskanzler Schröder
diese Probleme sieht. Anstatt sich den Problemen zu wid-
men, hat er gestern erneut von der Verrohung der Sitten
gesprochen und den CSU-Landesgruppenvorsitzenden,
Michael Glos, angegriffen.
Ernst Hinsken
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Ernst Hinsken
Wie ein Marktschreier
versuchte er, seine Ladenhüter an den Mann zu bringen.
Hat denn Schröder vergessen, dass er den Kanzlerkandi-
daten der Union, nämlich Herrn Stoiber,
als das eingestuft hat, was er selbst und nicht Stoiber ist:
unfähig, die Herausforderungen zu meistern und die Pro-
bleme zu lösen?
Hat nicht der Bundeskanzler die Arbeitgeber als fünfte
Kolonne und Kettenhunde der Opposition bezeichnet?
Ich frage mich schon, wer hier für die Verrohung der Sit-
ten verantwortlich ist, wenn man so vorgeht und dann mit
dem Finger auf andere zeigt.
Im Wahlkampf haben Sie auf Wahlplakaten und in Inseraten
mit Versprechen geworben, die Sie nicht einhalten können.
Es gibt das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, von
uns mit beschlossen, in dem es heißt: Irreführung des Ver-
brauchers ist verboten. Das Gesetz haben wir gemeinsam
beschlossen, aber Sie haben die Leute hinters Licht geführt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zurzeit erreichen
uns Abgeordnete viele besorgte Briefe. Mittlerweile ha-
ben viele Mitbürger Angst, ob die Zukunft bewältigt wer-
den kann.
80 Prozent sind mit der Arbeit der Bundesregierung un-
zufrieden.
Noch nie hat ein Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland nach Wahlen einen solch schnellen Vertrau-
ensverlust erlebt.
Sie, Herr Clement, und der Bundeskanzler schieben alles
auf die Weltwirtschaft. Ein Blick auf unsere Nachbarn
zeigt aber ein völlig anderes Bild.
Das Wirtschaftswachstum ist in diesem Jahr in Frankreich
– hören Sie gut zu – fünfmal so hoch, in Italien zweimal
so hoch, in Großbritannien achtmal so hoch
und in den USA zwölfmal so hoch wie bei uns. Bei uns
liegt es bei 0,2 Prozent.
– Diese Zahlen stimmen, Herr Kollege Stiegler, im Ge-
gensatz zu den von Ihnen vorgetragenen Zahlen. Ich habe
sie eruiert;
für sie stehe ich ein. Sie machen mich besorgt. In ihnen
kommt die falsche Politik dieser rot-grünen Regierung
zum Ausdruck, die auf Dauer gesehen für die Bundesre-
publik Deutschland unerträglich wird.