Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Menschen in Deutschland, die Unternehmer
und die Arbeitnehmer, warten mit großer Sorge auf mehr
Wachstum und Beschäftigung. Der Boden, der Humus,
auf dem dies gedeiht, heißt Vertrauen, langfristige Per-
spektiven und Berechenbarkeit.
Exakt dieser Humus wird durch diese Bundesregierung
Tag für Tag abgetragen. Sie erzeugen Angst, Unsicherheit
und produzieren letztendlich ein Untergangsszenario.
Ich nenne dafür ein paar Beispiele. Wann immer sich
Spitzen aus der Fraktion oder der Regierung äußern, er-
folgt Widerspruch.
Kein Mensch weiß, was nun wirklich gilt. Was bedeutet
die Äußerung Ihres Fraktionsvorsitzenden, Herrn Münte-
fering? Er erklärt: „weniger für den privaten Konsum –
und dem Staat Geld geben“. Gleichzeitig hat die Nürn-
berger Gesellschaft für Konsumforschung festgestellt,
dass das Konsumklima mittlerweile auf den tiefsten Stand
seit 1996 gefallen ist.
Selbstverständlich wird Herrn Müntefering aus Ihrer
Fraktion widersprochen, aber es fehlt ein entscheidendes
Machtwort. Der Kanzler hat in einem Machtwort erklärt,
die Kakophonie in den Reihen der Regierung müsse end-
lich beendet werden. Diese Worte haben aber wenig Wir-
kung.
Der Kollege Stiegler ist gerade nicht anwesend.
Aber er hat die Worte der Lichtgestalt Deutschlands, des
Kommissionsvorsitzenden Professor Rürup, als Professo-
rengeschwätz bezeichnet und gesagt, er „erwarte, dass die
Professoren wie Herr Rürup uns nicht länger mit ihrer
Ejaculatio praecox beglücken“.
Nun ist es immerhin interessant, dass Herr Stiegler ero-
tische Momente in der Politik entdeckt. Ich denke aber,
wir brauchen in der Politik keine Sexualberater, sondern
wir brauchen wieder mehr Glauben an die Zukunft und
die Gewissheit, dass endlich ein anderer Weg eingeschla-
gen wird.
Herr Minister Clement, die Durchschlagskraft der
Machtworte des Kanzlers haben offensichtlich in der ei-
genen Fraktion die Wirkung einer Schneeflocke im Hoch-
sommer.
Wenn Sie hier vortragen, die Probleme seien zwar schwie-
rig, aber die globale und internationale Entwicklung sei
dafür verantwortlich und dieser könne man sich nicht ent-
ziehen, dann ist das nicht richtig. Wenn das Handwerk in
einer schweren Krise ist und 300 000 Arbeitsplätze ge-
fährdet sieht, wenn im Mittelstand Pessimismus um sich
greift und 25 Prozent der Firmen in den kommenden sechs
Monaten mit Personalabbau rechnen, wenn die Menschen
in Deutschland von Tag zu Tag mehr Furcht vor Arbeits-
losigkeit haben, dann liegt die Hypothek für diese Ent-
wicklung bei Ihnen. Sie ist hausgemacht.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Seit 1998, seitdem Sie an
der Regierung sind, haben Sie über 300 zusätzliche Bun-
desgesetze und mehrere Tausend neue Verordnungen er-
lassen, die vor allem dem Mittelstand das Leben schwer
machen. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen müs-
sen sich heute mit einer Fülle von kritischen Schwellen-
werten herumschlagen, bevor sie zusätzliche Mitarbeiter
einstellen können, was wir alle wollen.
Ich nenne Ihnen einmal einige Zahlen: Erhöht ein Be-
trieb seine Mitarbeiterzahl von fünf auf sechs, greift das
Kündigungsschutzgesetz. Ab 16 Beschäftigten greift das
Recht auf Teilzeitarbeit. Ab 20 Mitarbeitern kommt es zu
einer dramatischen Erweiterung der Mitspracherechte. Ab
101 Mitarbeitern muss der Betriebsrat aus mindestens sie-
ben Mitarbeitern bestehen. Ab 200 Beschäftigten ist ein
Betriebsratsmitglied auf Kosten des Arbeitgebers voll-
ständig von der Arbeit freizustellen. – Meine sehr geehr-
ten Damen und Herren, das sind die Gründe, die in vielen
Fällen Neueinstellungen nicht begünstigen, sondern eher
verhindern.
Hinzu kommen die ständigen Änderungen in Ihrer Poli-
tik. Sie kennen sicherlich die Schröder-Witze, die zurzeit
Konjunktur haben. Einer dieser Witze lautet: Ein
Schröder ist die Zeiteinheit zwischen der Bekanntgabe ei-
nes Gesetzes und dessen Rücknahme. Leider stimmt das
mittlerweile.
Auch die versprochene Umsetzung des Hartz-Kon-
zepts ist nicht erfolgt. Die Kollegin Wöhrl und ich haben
Herrn Hartz einen Brief geschrieben und ihn aufgefordert,
seinen Namen von diesen verunstalteten Gesetzen
zurückzuziehen.
Herr Hartz hat erklärt – das können Sie überall nachlesen –:
Es wurde nicht 1 : 1 umgesetzt und es würde einer er-
heblichen Nacharbeit bedürfen, um dieses Manko
auszugleichen, so, wie diese Pläne derzeit aussehen,
wird es jedenfalls nicht möglich sein, 2 Millionen
Menschen einen neuen Arbeitsplatz zu verschaffen.
Die Unberechenbarkeit und die mangelnde Planbarkeit
sind das Kainszeichen, das diese Regierung auf der Stirn
trägt, und sie verhindern, dass Investitionsentscheidungen
getroffen werden, weil Ihnen kein Mensch mehr vertraut
und meint, sich auf Ihre Planungen verlassen zu können.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1057
Wir wollen aber nicht ausweichen, sondern selber Vor-
schläge unterbreiten. Kollege Laumann hat überzeugend
dargestellt, was wir wollen und wo unsere Schwerpunkte
liegen.
Lassen Sie mich in fünf Punkten erläutern, was wir für
notwendig halten:
Erstens. Sehr wichtig ist, dass die kleinen Jobs, die so
genannten Minijobs, mit mindestens 400 Euro gefördert
werden, und zwar ohne weitere Abgaben neben der Pau-
schalsteuer.
Dabei handelt es sich um ein Investitionsprogramm und
eine Konjunkturspritze, die nichts kosten, aber viel brin-
gen.
Zweitens. Wir wollen das Arbeitsrecht flexibilisieren,
das Günstigkeitsprinzip lockern und Entscheidungsbe-
fugnisse auf die Betriebsebene verlagern
– Sie müssen nicht schreien; Sie sind dadurch nicht eher
im Recht –, ohne dass dadurch die Möglichkeiten der Ta-
rifparteien entscheidend geschmälert werden.
Drittens. Wir wollen das Gesetz gegen Scheinselbst-
ständigkeit als eines der großen Hindernisse für die
Schaffung von Arbeitsplätzen abschaffen.
Viertens. Des Weiteren wollen wir ein Optionsmodell
einführen, das den älteren Arbeitnehmern – um die geht es
uns besonders – den Wiedereinstieg in die Beschäftigung
erleichtert.
– Reden Sie einmal mit älteren Arbeitnehmern über 50!
Ihre Vorschläge führen zu keiner Verbesserung der Situa-
tion.
Fünftens. Wir wollen fördern, aber auch fordern – inso-
fern haben wir eine ähnliche Formulierung gewählt wie
Sie –, allerdings mit Kombi-Einkommen und Einstiegs-
geld für Sozialhilfebezieher. Das ist in der Tat wichtig.
Derjenige, der arbeitet, muss immer mehr haben als derje-
nige, der nicht arbeitet. Das ist ein durchgehendes Prinzip.
Sie haben nach unseren Sparvorschlägen gefragt. Weil
wir uns in einer Haushaltsdebatte befinden, will ich die-
ser Frage auch nicht ausweichen. Wo kann gespart wer-
den? Sie können bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
men sparen, und zwar weniger in den neuen Bundesländern,
wo sie gebraucht werden, sondern vielmehr in den alten
Bundesländern, wo sie in ihrer bisherigen Form in vielen
Bereichen eine Ressourcenverschwendung darstellen.
Des Weiteren sind Einsparungen in Bereichen der
Fort- und Weiterbildungmöglich, in denen die notwen-
dige Qualität nicht gewährleistet ist. Ich möchte betonen,
dass die Fort- und Weiterbildung dringender denn je
benötigt wird. Aber wir brauchen eine qualitätvolle Fort-
und Weiterbildung. Deshalb muss die Spreu vom Weizen
getrennt werden. Der Bundesrechnungshof – wenn Sie
schon nicht auf uns hören, dann vielleicht auf ihn – hat in
einem internen Papier, das auch in Teilen der Presse ver-
öffentlicht worden ist, die Effizienz von Weiterbildungs-
maßnahmen der Arbeitsämter deutlich kritisiert. Es kann
nicht angehen, dass weder Lehrpläne noch Unterrichts-
methoden der Bildungsträger präzise geprüft werden und
Erfolgsbilanzen nicht in ausreichender Präzision vorge-
legt werden.
Wenn Sie über den Bereich der Fachpolitik hinausge-
hen, gibt es noch viele andere Möglichkeiten zu sparen.
Auch den Vertretern des Finanzministeriums sei dieser
Hinweis gewidmet. Schauen Sie sich einmal den Haushalt
der Europäischen Kommission an! Sage und schreibe
zum achten Mal hintereinander hat der Europäische Rech-
nungshof dem Haushalt der Europäischen Union das Te-
stat verweigert. Er will sich mit dem Haushaltsplan der
Europäischen Union nicht beschäftigen, weil er so viele
Unrichtigkeiten enthält. Ich meine, es dürfte für Sie – Sie
haben ja die EU-Kommissarin Schreyer gewählt – sehr
lohnend sein, den Hinweisen des Europäischen Rech-
nungshofs nachzugehen und zu fragen, warum er das Tes-
tat verweigert hat und wo die Milliarden geblieben sind,
die offensichtlich nicht entsprechend den Bestimmungen
ausgegeben worden sind. Hier haben Sie ein lohnendes
Gebiet. Wenn Sie sich darum kümmern, werden Sie ohne
Probleme einiges einsparen können.
Der durchgehende Faden meiner Rede ist ja mehr Ver-
trauen und Berechenbarkeit. Herr Minister Clement, viele
in diesem Hause, aber nicht nur hier rechnen damit, dass
Sie die Mehrwertsteuer nach dem 2. Februar 2003, wenn
die Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen vorbei
sind, entgegen Ihren jetzigen Beteuerungen erhöhen wer-
den.
Ich möchte Sie zum Schluss auffordern: Sagen Sie ohne
gedrechselte Formulierungen ganz klar, ob Sie die Mehr-
wertsteuer nach dem 2. Februar 2003 erhöhen wollen, Ja
oder Nein! Wenn Sie das täten, dann wäre das ein erster
Schritt hin zu mehr Glaubwürdigkeit und zu mehr Wirt-
schaftswachstum.
Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002