Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte
gerne zu dem eigentlichen Tagesordnungspunkt von heute
zurückkehren, nämlich zu der Frage des Flutopfersolida-
ritätsgesetzes.
Wir haben in Sachsen 18 schreckliche Tage hinter uns.
Vor nicht einmal drei Wochen erreichten mich am Mittag
des 12. August beunruhigende Nachrichten. Der mittlere
Erzgebirgskreis hatte nach stundenlangen schweren Re-
genfällen und der Überflutung von Ortschaften an der
böhmischen Grenze Katastrophenalarm ausgelöst. 16 wei-
tere Kreise sollten in schneller Folge folgen. Liebliche
Gebirgsbäche hatten sich in gewaltige Sturzfluten ver-
wandelt. Die Weißeritz, von der hier schon mehrmals die
Rede war, ein kleines Flüsschen, das in Dresden in die
Elbe mündet, führte so viel Wasser wie normalerweise die
Elbe im Sommer. Man muss sich das vorstellen: Eine sol-
che Wassermenge donnerte durch das Tal.
Die Mulde, ein im Unterlauf eigentlich träger Fluss,
vernichtete in den Zentren der Mittelstädte Döbeln,
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Bundesminister Joseph Fischer
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Grimma und Eilenburg in wenigen Stunden das Werk der
vergangenen zwölf Jahre. Gespeist durch verheerende
Regengüsse im Böhmerwald, also nicht in Deutschland,
weitergeleitet durch die Moldau, stieg in den folgenden
Tagen der Pegel der Elbe immer bedrohlicher, bis er
schließlich 9,40 Meter in Dresden, den höchsten Stand
seit tausend Jahren, erreichte.
Bei Torgau – auch das ist vielleicht interessant; denn
immer wieder erhalten wir von einigen Leuten auf den
Rhein bezogene Ratschläge – war die Elbe 15 Kilometer
breit. Insoweit hatte sie also offensichtlich genug Mög-
lichkeiten, sich auszudehnen. Allerdings waren bei dieser
hohen Pegelmarke auch dort Zerstörungen unvermeid-
lich.
Wir betrauern 21 Tote. Noch immer sind einige Men-
schen nicht wieder aufgetaucht, sodass wir damit rechnen
müssen, dass die Zahl der Toten noch steigt. Wir trauern
mit den Angehörigen.
Die ungebändigten Wassermassen verwüsteten allein
in Sachsen 20000 bis 30000 Häuser, 4 000Autos, 740 Ki-
lometer Straße und 538 Kilometer Eisenbahn. 180 Brücken
existieren nicht mehr oder sind unbenutzbar geworden.
Schulen, Alteneinrichtungen und eine Fakultät der Tech-
nischen Universität Dresden, Strom- und Gas-, Wasser-
und Abwasserleitungen sind weggerissen oder schwer
beschädigt worden. Wertvolle Kulturdenkmäler von euro-
päischem Rang standen tagelang unter Wasser. 10 000 vor-
wiegend kleine und mittlere Betriebe erlitten erhebliche
Schäden. 40 000 Arbeitsplätze sind dadurch tangiert und
teilweise gefährdet.
Hohe Schäden hat auch unser Nachbarland Sachsen-
Anhalt erlitten.
Die exakte Schadenssumme kennen wir alle noch
nicht. Dafür ist es noch zu früh. Aber allein für Sachsen
rechnen wir mit einem Schaden von bis zu 15 Milliarden
Euro. Das entspricht dem Volumen unseres Landeshaus-
haltes. Aus Sachsen-Anhalt hören wir Zahlen von 6 bis
8 Milliarden Euro.
Das ist die Bilanz der schrecklichsten Naturkatastro-
phe, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt
hat. Nur zum Vergleich: Bei der großen Flutkatastrophe in
Hamburg betrugen die Schäden 400 Millionen DM.
Natürlich muss man das umrechnen; die Werte haben sich
verändert. Das soll nur deutlich machen, mit welchen Di-
mensionen wir es heute zu tun haben. Diese Flutkatastro-
phe – da bin ich mir sicher – hat unser Land, hat Sachsen
und ganz Deutschland verändert.
Wir sind aber nicht nur von einer Welle der Vernich-
tung heimgesucht worden, sondern auch durch eine Woge
der Hilfsbereitschaft zusammengewachsen. Der Satz
„Wir sind ein Volk“ hat neue Bedeutung erhalten.
Aus allen Teilen des Landes kamen freiwillig Jung und
Alt, fragten nicht lange und packten mit an. Feuerwehren,
Hilfsorganisationen und Polizeien aus allen deutschen
Ländern sowie der Bundesgrenzschutz, die Bundeswehr
und das THW haben uns in Sachsen und unsere Nachbar-
länder in ihrer großen Not unterstützt. Für diese enorme
Anstrengung bedanke ich mich bei allen Helfern, die,
ohne zu fragen, dazu beigetragen haben, Schlimmeres zu
verhindern. Denn es hätte noch schlimmer kommen kön-
nen.
Meine Damen und Herren, diese Hilfe, diese überwäl-
tigende Mitmenschlichkeit werden wir in Sachsen nie-
mals vergessen.
Sie können sicher sein: Sollte einmal an Mosel oder Rhein
Vergleichbares geschehen, dann werden die Sachsen die
Ersten sein, die helfen; denn sie kennen das Problem.
Mein Dank richtet sich auch an den Bund. Der Bun-
deskanzler hat bei seinem Besuch in Grimma klar ge-
macht, dass es sich bei der Bewältigung der Schäden um
eine nationale Aufgabe handelt. Ebenso wie der Minis-
terpräsident unseres Partnerlandes Bayern, Edmund
Stoiber, haben sich der Bundeskanzler und eine Reihe von
Kabinettsmitgliedern vor Ort ein Bild von der Lage ge-
macht und uns Unterstützung zugesagt. Ich danke auch
dem Bundespräsidenten und dem Präsidenten der Euro-
päischen Kommission für ihren Besuch und ihre Soli-
darität. Alle diese Besuche haben uns Mut gemacht.
Große Sorgen machen uns jetzt die Wirtschaft, die klei-
nen und mittelständischen Betriebe, die Ladenbesitzer,
die Handwerker, unser noch kleiner Mittelstand, dessen
Existenz in den Flutgebieten bedroht ist.
Ich habe mich bei meinen vielen Besuchen in den Ka-
tastrophengebieten davon überzeugt: Unser Mittelstand
ist trotz großer Schäden bereit, weiterzumachen, neu an-
zufangen, wenn wir ihm dabei helfen. Ähnliches gilt für
die geschädigten privaten Hausbesitzer. Deswegen sind
jetzt Taten gefragt. Ich bin froh, dass das Flutopfersolida-
ritätsgesetz schnell verabschiedet wird, damit ein Rahmen
für die Hilfsprogramme geschaffen wird, bevor die letz-
ten Aufräumarbeiten beendet sind.
Ich will deutlich sagen: Die Frage, wie dieser Fonds
gespeist wird, beantworten wir mit der nächsten Bundes-
tagswahl. Heute haben wir darüber zu entscheiden, wie
dieser Fonds verwandt wird. Dazu möchte ich einige Aus-
führungen sagen: Ich bin sicher, dass die Solidarität auch
nach dem 22. September anhält und nicht von anderen
Motiven geleitet ist.
Noch ein Wort an Bundeswirtschaftsminister Müller:
Herr Kollege Müller, Sie haben uns vorgeworfen, Hilfs-
zahlungen zu verschleppen und Geld auf unseren Konten
einfrieren zu wollen. Ich habe die Angelegenheit über-
prüft und kann Ihnen versichern, dass Sie offensichtlich
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Ministerpräsident Dr. Georg Milbradt
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einer Fehlinformation aufgesessen sind. Wir wickeln das
15000-Euro-Programm, ein Bund-Länder-Programm, zu-
sammen mit unserem eigenen, schon vorher beschlosse-
nen Landesprogramm in einem Verfahren ab. Geld wird
ausgezahlt. Die Verwaltungsvereinbarung haben wir ges-
tern Abend erhalten. Wir schicken sie Ihnen heute unter-
schrieben zurück. Bundesgeld ist bis heute elf Uhr noch
nicht auf unseren Konten.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat sich aber schon
nach der Kontonummer erkundigt; deswegen bin ich si-
cher, dass das Geld auch kommt.
Ich weiß, dass bei allen Beteiligten die Nerven blank
liegen, und hoffe, dass das der Grund der Aufregung ist
und nicht der Wahlkampf, zumal die beiden beteiligten
Wirtschaftsminister parteilos sind.
Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass 15 000 Euro
pro Betrieb zwar eine erste Hilfe sind, aber keine Lösung
für ein Unternehmen, das eine beträchtliche Investition
über Kredit finanziert hat.
Lösungen sind wichtiger und ich glaube, Kollege Müller,
Sie sind damit einverstanden; allerdings sind sie schwie-
riger als Pauschalzahlungen. Überlegungen und Abspra-
chen gibt es. Jetzt müssen sie in ein Regelwerk umgesetzt
werden. Ich will ganz deutlich sagen: Gerade in der Wirt-
schaft brauchen wir keinen Aktionismus; vielmehr sind
klare Köpfe gefragt, die auch rechnen können.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den Banken ma-
chen. Die betroffenen Banken sind nicht die national und
international tätigen großen Kreditinstitute, sondern zu
mehr als 90 Prozent die örtlichen Sparkassen und die ört-
lichen Volksbanken.
Nach einer Pleite im Mittelstand können wir uns nicht
auch noch eine Pleite der regionalen Banken erlauben,
denn das würde den Aufbau in anderen Teilen gefährden.
Ich hoffe, dass es uns allen gemeinsam gelingt, eine ver-
nünftige Lösung zu finden, was natürlich bedeutet, dass
öffentliche Mittel in erheblichem Maße mobilisiert wer-
den müssen.
Sachsen braucht die Hilfe des Bundes und der Länder
mehr als je zuvor – ich spreche hier auch im Namen mei-
nes Kollegen Wolfgang Böhmer –, denn gemeinsam mit
Sachsen-Anhalt sind bei uns die mit Abstand schwersten
Schäden entstanden. Ich bin froh, dass Brandenburg,
Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Nie-
dersachsen mit einem blauen – um nicht zu sagen: mit
einem dunkelblauen – Auge davongekommen sind. Nie-
mand weiß zurzeit, inwieweit der Umfang des Solida-
ritätsfonds die Höhe der Schäden abdeckt. Eines steht
aber fest: Die Schäden werden sich nicht der Höhe der ge-
rade verfügbaren Mittel anpassen. Die Zerstörungskraft
einer Flutkatastrophe richtet sich nicht danach, welche
Einnahmemöglichkeiten sich gerade ergeben und wie ge-
mäß unserer Verfassung die Steueraufkommen zwischen
Bund und Ländern normalerweise verteilt werden.
Der Bundeskanzler hat erklärt: Keinem wird es nach
der Katastrophe schlechter gehen als zuvor. Nach unseren
Informationen stehen für die betroffenen Privathaushalte
und Unternehmen nach den Plänen der Bundesregierung
rund 2 Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist eine ge-
waltige Summe. Allerdings besagen die Schadenschät-
zungen, dass im Freistaat Sachsen bis zu 4 Milliarden
Euro Schaden allein im Bereich der Wirtschaft zu ver-
zeichnen sind. Ich will es einmal ganz vorsichtig formu-
lieren: Hier kann sich eine Lücke auftun. Auch darüber
müssen wir nicht heute, aber zu gegebener Zeit reden.
Wir werden sorgfältig darauf achten, dass der Bund zur
Begleichung seiner eigenen Schäden zunächst die an-
gekündigte Umschichtung im Verkehrsetat nutzt und erst
dann auf den Fonds zurückgreift und nicht umgekehrt.
Bei der Beseitigung der Schäden müssen alle Staats-
ebenen gleichmäßig berücksichtigt werden: Bund, Länder
und Gemeinden. Die Schadenshöhe und nicht die Steuer-
verteilung nach dem Grundgesetz ist ein Indikator für die
Höhe der Hilfe, die wir bekommen. Erst wenn alle betrof-
fenen Länder eine verlässliche Aufstellung über die Schä-
den nach einheitlichen Kriterien vorgelegt haben, kann
über einen endgültigen vertikalen, aber auch horizontalen
Verteilungsschlüssel sinnvoll entschieden werden.
Wir brauchen dringend eine Verbreiterung und Neu-
ausrichtung bestehender Programme, aber auch ganz
neue, speziell auf diese Situation zugeschnittene Förder-
programme. Die bisherigen Vorschläge sind gut. Sie
können aber nur eine erste Antwort sein; denn wir brau-
chen genügend Flexibilität, um die notwendige Pass-
genauigkeit zu bekommen. Ich könnte Ihnen eine ganze
Reihe von Schadensfällen nennen, die bisher nicht unter
die Kategorien des Programmes fallen. Ich bin mir aber
sicher, dass es uns gelingen wird, auch hierfür eine Lö-
sung zu finden.